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ZEITSCHRIFT
FÜR DIE GESAMTE
STAATSWISSENSCHAFT
In Verbindung mit
Oberbürgermeister a. D. Dr. F. ADICKES in Frankfurt a. M., Prof. Dr. G. COHN
in Göttingen, Ober-Verw.-Ger.-Rat Prof. Dr. F. v. MARTITZ in Berlin, Kaiserl.
Unterstaatssekretär z. D. Prof. Dr. G. v. MAYR in München, Prof. Dr. A. VOIGT
in Frankfurt a. M., Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. A. WAGNER, Exz., in Berlin, Dr. Freiherr
V. WEICHS, Ministerialrat am k. k. Handelsministerium in Wien.
HERAUSGEGEBEN '
VON
Dr. K. BÜCHER,
o, Professor an der Universität Leipzig.
Ergänzungsheft XLVIII.
Die Einkommensteuer in England.
Von
Dr. Friedrich Harzendorf.
ac5573
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TÜBINGEN
VERLAG DER H. LAUPP'SCHEN BUCHHANDLUNG
1914.
Die Einkommensteuer
in England
von
Dr. Friedrich Harzendorf
Tübingen
Verlag der H. Laupp'schen Buchhandlung
1914
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Inhaltsübersicht.
Seite
Einleitung i
I. Teil. Die Einkommensteuer in der englischen Finanzpolitik.
1. Kapitel. Das englische Finanz- und Steuersystem des
i8. Jahrhunderts.
§ I. Die Entwicklung der englischen Finanzwirtschaft im i8. Jahr-
hundert ; 4
§ 2. Die Entwicklungstendenzen lo
2. Kapitel. Die erste Einkommensteuerperiode
§ 3. Der Übergang zur direkten Vermögens- und Einkommens-
besteuerung 15
§ 4. Die Pittsche Einkommensteuer 21
§ 5. Die Geschichte der Einkommensteuer bis zum Jahre 1816 28
§ 6. Die finanzpolitische Wirkung der Einkommensteuer und ihr
Charakter in der ersten Existenzperiode 33
§ 7 Die Beseitigung der Einkommensteuer 1816 38
3. Kapitel. Die Reform der ind irekten Besteuerung.
§ 8. Reformmethoden bis 1836 42
§ g. Das Reformproblem 45
§ IG. Die Peel sehe Tarif reform von 1842 und die Wiederein-
führung der Einkommensteuer 51
§ II. Die Fortführung der Peelschen Tarifreforraen bis 185 1 ... 62
§ 12. Das Problem der direkten Besteuerung 69
§ 13. Das System der Freihandelsfinanz 82
4. Kapitel. Das moderne Steuersystem.
§ 14. Die Motive der neuen Entwicklung 93
§ 15. Die Entwicklung der direkten Besteuerung 100
§ 16. Der moderne Bedarf und die Lösung der Einkommensteuer-
frage HO
§ 17. Das Zukunftsproblem 125
II. Teil. Einkommensteuerorganisation und Einkommensteuerertrag.
Überleitung : Die finanzpolitische Bedeutung der Einkommensteuer-
organisation und des Ertrags iT
I. Kapitel. Die Einkommensentwicklung.
§ I. Die Bestimmung der subjektiven und objektiven Steuerpflicht
in der Pitt- und in der Peel-Steuer I34
— VI —
Seite
§ 2. Die begriffliche Fortentwicklung der objektiven Steuer-
pflicht 148
§ 3. Die Bedeutung und die Ursachen der Einkommensentwick-
lung 154
2. Kapitel. Die Entwicklung der Einkommensteuerorgani-
sation.
§ 4. Das Problem der Einkommensteuerreform 161
§ s. Das Abatementsystem und die Deklaration des Gesamt-
einkommens 167
§ 6. Differentiation und Super-tax 176
3. Kapitel. Die Ertragsentwicklung.
§ 7. Die Faktoren der Ertragsbildung 182
§ 8. Die Einkommensverteilung 190
§ 9. Ergebnisse ^94
Anhang
1. Quellen " ^97
2. Literaturverzeichnis 198
3. Übersicht über die englischen Finanzminister seit Pitt .... 201
Einleitung.
Eine vergleichende Betrachtung des enghschen Finanz-
und Steuerwesens der neuesten Zeit mit dem aus der Zeit,
die der Einführung der Einkommensteuer in England un-
mittelbar vorausgeht, läßt eine Entwicklungsreihe erkennen,
die sich in der Verschiedenheit der jeweils ausgeprägten finanz-
politischen Anschauung sowie in der Verschiedenheit der rein
äußerlichen Struktur des Verhältnisses der Einnahmezweige
unter sich und zum Gesamtbudget zeigt und die von einem
geschichtlich gegebenen Ausgangspunkt ausgehend eine wesent-
liche Umbildung des ganzen Systems bedeutet. Es bedarf hier
keiner ausführlichen Darlegung, daß diese Entwicklungsreihe,
die innerhalb der Gesamtentwicklung eines großen Staatswesens
verläuft, den allgemeinen Bedingungen dieser mit unterworfen
ist, daß sie in ihrem Verlauf und in ihrem endlichen Ergebnis
nur im Zusammenhang mit dieser begriffen und gewürdigt
werden kann. Noch deutlicher wird die Einsicht, daß die ganz
spezielle Entwicklung einer einzelnen Steuerart überhaupt nicht
aus dem allgemeineren Zusammenhang herausgerissen werden
kann, aus welchem sie erwachsen ist, von dem sie in jeder Phase
ihrer Entwicklung bedingt wird, auf den sie aber vermöge der
Tatsache ihrer Existenz selbst wieder bedingend zurückwirkt.
Greifen wir dennoch in der analytischen Methode geschichtlicher
Einzelbetrachtung einen gesonderten Zweig aus dem Gesamt-
verlauf einer umfassenden Entwicklungsreihe heraus, um deren
Ausgangspunkt, Verlauf und schließliches Ergebnis festzustellen,
so kann das eben nicht anders als unter steter Beachtung der
Gesamtentwicklung erfolgen, wenn die Untersuchung zu mehr
als einer chronologisch schematisierenden Fixierung des Ent-
wicklungsverlaufes gelangen will.
Diese Notwendigkeit wird besonders deutlich, wenn im
Rahmen einer finanzwissenschaftlichen Untersuchung eine ein-
Zeitschrift für die ges. Staatswissensch. Ergänzungsheft 48. l
zelne Steuer von einer so ausgeprägten Eigenart, wie sie der eng-
lischen Einkommensteuer zukommt, dargestellt werden soll. Die
bedeutsame Rolle, welche die Steuer in der englischen Finanz-
geschichte gespielt hat, und die stete Wechselwirkung ihrer
finanzpohtischen Wirkungsweise und ihrer steuertechnischen Or-
ganisation lassen schon deshalb eine genaue Darstellung des
finanzpolitischen Teils der Einkommensteuergeschichte nicht
vermeiden. Da aber das Verständnis für die technische Ge-
staltung der Steuer nur durch ihre Einordnung in das um-
fassendere Ganze, die Finanzgeschichte, gewonnen werden kann,
so mußte in der vorliegenden Arbeit die Darstellung der Politik
der Darstellung des Mittels, dessen sich diese bediente, voraus-
gehen.
Die allgemeinere Grundlage, auf der sich die allmähliche
Umwandlung des englischen Finanz- und Steuersystems im
19. Jahrhundert unter der Einwirkung eines bestimmt erkenn-
baren treibenden Moments (der Einkommensteuer) vollzieht,
bietet die Gestaltung des Finanzwesens unter dem Ministerium
William Pitts, die sich etwa bis zum Jahre 1798 als ein Produkt
verschiedenartigster historischer Faktoren herausgebildet hat.
Die am Schlüsse dieses Jahres dem Parlament vorgelegte Ein-
kommensteuer (income tax), stellt als das nun in die Entwick-
lung eintretende neue Moment dann den eigentlichen Ausgangs-
punkt dar. Dieser Versuch fand zwar im Jahre 18 16 einen vor-
läufigen Abschluß, so daß die Zeit von 181 6 bis 1842 (dem
Termin der Wiedereinführung der Einkommensteuer durch
Robert Peel) in ihrem finanzpolitischen Grundcharakter der
Zeit vor 1799 wieder wesentlich analog erscheint, während somit
der Umwandlungsprozeß, den wir eingangs festgestellt haben,
erst unter der Einwirkung der Einkommensteuer von 1842 sicht-
bar zutage tritt. Die Tatsache jedoch, daß bedeutsame Ver-
suche, selbst wenn sie gescheitert sind, in der Geschichte nie ganz
verloren gehen, daß sich vielmehr von ihnen aus deutliche Nach-
wirkungen ableiten lassen, rechtfertigt die Verlegung des Aus-
gangspunktes der zu untersuchenden Entwicklung vom Jahre
1842 auf das Jahr 1799 durchaus. Die Geschichte der nächst-
folgenden Zeit wird beherrscht durch das Problem der Tarif-
reform und die allmähliche Veränderung des Finanzsystems,
in welchem der Einkommensteuer zunächst noch ganz die Be-
deutung eines dem höheren Zweck untergeordneten Mittels zu-
kam. Mit dem Zweck, dem sie dienstbar gemacht wurde, än-
derte sich der finanzpohtische Charakter der Steuer, bis sie am
Ende ihrer langen Entwicklungsgeschichte in dem Finanzsystem
die Rolle einer selbständigen und grundlegenden Besteuerungs-
methode erlangte. Nach diesem Gesichtspunkte vollzieht sich
die Gliederung des finanzpolitischen Teils der Arbeit, an den
sich der speziellere, nach den für die innere Entwicklung der
Steuer charakteristischen Momenten geordnete zweite Teil der
Arbeit anschließt. Beide Teile stehen aber nicht unabhängig
neben- oder nacheinander, sondern bilden ihre wechselseitige
Ergänzung und Erläuterung.
I. Teil.
Die Einkommensteuer in der englischen
Finanzpolitik.
I. Kapitel.
Das englische Finanz- und Steuersystem des 18. Jahrhunderts.
§^-
Die Entwicklung der englischen Finanz Wirtschaft
im i8. Jahrhundert.
Die Feststellung der Grundlage, auf der sich und von der
aus sich die zu untersuchende Parallelentwicklung der Ein-
kommensteuer einerseits und der Umbildung des Finanzsystems
andererseits vollzogen hat, ist schwer durchzuführen, denn diese
Grundlage ist keine einheitliche unveränderliche Größe, sondern
setzt sich selbst wieder aus zahlreichen Komponenten zusammen,
die gesonderte Einzelentwicklungen darstellen. Wenn diese
auch Glieder einer sie alle in sich begreifenden allgemeineren
Reihe bedeuten und, nebeneinander herlaufend, auf ein gemein-
sames Ziel sich richten, so kann dieses Ziel doch nicht als gemein-
samer Schnittpunkt der einzelnen Entwicklungslinien in jeden
beliebigen Zeitpunkt verlegt werden. Besonderen Schwierig-
keiten aber begegnet der Versuch, für einen gewissen Zeitpunkt
eine einheitliche Grundlage zu finden, auf dem Boden finanz-
wissenschaftlicher Untersuchungen, wo der gesamte Tatsachen-
bestand in beständigem Fluß ist, und wo die einzelnen Erschei-
nungsreihen mit verschiedener Geschwindigkeit und oft auch in
entgegengesetzter Richtung verlaufen. Wenn dies die Schwierig-
keiten sind, die sich einer Charakterisierung der Finanzzustände
in England vor dem Jahre 1799 entgegenstellen, so bietet uns
doch wieder gerade für diese Zeit eine Tatsache einen festen,
ziemhch günstigen Stützpunkt, von dem aus die gesuchte Grund-
lage leichter gefunden werden kann. Diese Tatsache bilden die
— 5 —
von William Pitt in der Zeit seines ersten Ministeriums etwa
bis 1798 durchgeführten finanzpolitischen Maßnahmen, die sich
unter folgenden Punkten zusammenfassen lassen :
1. Herstellung des finanziellen Gleichgewichts zwischen Aus-
gabe- und Einnahmebudget durch Beseitigung des chronisch
gewordenen budget- und rechnungsmäßigen Defizits.
2. Ordnung der Schuldenpolitik.
3. Ordnung der Staatsausgaben.
4. Zoll- und Steuerreform und in Verbindung damit Ausbau
des Steuersystemsi).
Der Erfolg dieser Maßnabmen berührt uns hier nur insofern,
als dadurch eine gewisse Ordnung in die frühere, fast unüber-
sehbare Wirrnis der englischen Finanzwirtschaft gebracht wurde,
die es ermöglicht, die Gesamttendenz des Systems zu erkennen.
Die Grundlage der Finanzwirtschaft des Staates bildet im letzten
Grunde die Ausgabenentwicklung, indem die Bedarfsdeckung
sich notwendig an den gesteigerten Finanzbedarf anschließen
muß. Dabei wird die Bedarfssteigerung wesentlich durch Fak-
toren verursacht, die von dem Willen der Finanzleitung un-
abhängig sind, so daß sie also nicht nach freiem Ermessen, etwa
im Hinblick auf die in Aussicht stehenden Einnahmequellen,
eingeschränkt werden kann. Dieser Umstand tritt in England
im 18. Jahrhundert klar hervor, indem hier die Ursache der
Bedarfssteigerung vor allem in den kostspieligen Kriegen liegt,
die in diesem Jahrhundert zur Sicherung der politischen Vor-
machtstellung Englands gegen die damaligen kontinentalen
Großmächte geführt wurden. So sind es denn auch namentlich
die Ausgabeposten für Kriegszwecke, für Heer und Marine, die
den ordentlichen Bedarf immer höher anschwellen ließen, wäh-
rend diesen gegenüber sich die Ausgaben für Verwaltungszwecke
fast stabil hielten. Hier ist es nun überaus interessant zu sehen,
wie die finanzpolitischen Maßnahmen, die eine der Bedarfs-
steigerung entsprechende Steigerung der Staatseinnahmen zu
erreichen suchten, selbst wieder eine erhebliche Steigerung des
jährlichen ordentlichen Bedarfs zur Folge hatten.
Einen bedeutsamen Wendepunkt in der Geschichte der Ein-
nahmegewinnung in England bildet die große Revolution des
17. Jahrhunderts, die auch für die Finanzgeschichte den Ab-
I) S. Buxton, Finance. I, S. 2ff.
— 6 —
Schluß des Mittelalters und den Beginn der modernen Zeit mar-
kiert. In ihr liegen die Anfänge für die hauptsächlichsten Ein-
nahmezweige, die im Verlaufe des folgenden Jahrhunderts zur
Ausbildung kamen, der Finanzzöllc und der Verbrauchssteuern,
wie auch der direkten Landsteuer und der Stempelsteuer. Aber
auch ein anderer großer Zweig der Staatseinnahmen nimmt hier
seinen Anfang, die Staatsschulden, die nach anfänglich schüch-
ternem Gebrauch bald in ungeheurem Umfang zur Bedarfs-
deckung verwendet wurden. Während man sich einerseits
scheute, die direkte Vermögensbesteuerung umfassend auszu-
bauen, andererseits aber die mit der langsamen Entwicklung der
gesamten Volkswirtschaft zusammenhängende Starrheit und ge-
ringe Beweglichkeit der indirekten Besteuerung dem durch die
Kriege unverhältnismäßig gesteigerten Bedarf nicht entsprechen
konnte, boten die Anleihen ein überaus bequemes Mittel dar,
dringlich auftretende Finanzbedürfnisse zu befriedigen. Gleich-
zeitig fand man in der eben begründeten Bank von England
eine einfache Handhabe, Anleihen rasch und sicher unterzu-
bringen. So bewirkte jeder Krieg eine erhebliche Zunahme der
englischen Staatsschuld; je mehr aber von dieser Einnahme-
quelle Gebrauch gemacht wurde, desto deutlicher trat die Kon-
sequenz davon zutage in den steigenden Verzinsungssummen,
die nunmehr alljährlich als ordentliche Ausgaben in das Budget
eingestellt werden mußten und so ihrerseits die Steigerung des
Bedarfs immer höher trieben. Sobald sich die Schuldenlast in
dem raschen Anwachsen der zur' Verzinsung erforderlichen
Summen drückend bemerkbar machte, setzte natürlich auch
die Schuldentilgungspolitik ein, die dem entstehenden Dilemma
auszuweichen suchte. In dieser Hinsicht glaubte man durch die
Errichtung eines Tilgungsfonds, des von Walpole 1716 errich-
teten „Sinking fund", dem ein Teil der ordenthchen Einnahmen
zugewiesen wurde, eine automatische Reduktion der Staatsschuld
erreichen zu können*). Es war aber wiederum nur eine Folge
der unverhältnismäßigen Ausnutzung des Staatskredits, daß der
Tilgungsfonds die ihm zugedachte Aufgabe einer Schulden-
*) Der Walpolesche Tilgungsfonds wurde aus einem bestimmten Teil
der jährlichen dauernden Einnahmen gebildet, die aus den laufenden Ge-
samteinnahmen ausgeschieden und zur \'erzinsung und zur Tilgung der auf-
gelaufenen Staatsschuld verwendet wurden. Die so festgelegten Beträge
waren daher der Kontrolle des Parlaments entzosren.
/ —
tilgung wirksam nur durchzuführen vermochte, wenn er aus den
ordenthchen Einnahmen mit wachsenden Beträgen verstärkt
werden konnte, was ebenfalls nur möglich war, wenn die übrigen
Einnahmezweige derart ausgebaut wurden, daß ihnen diese Be-
träge entnommen werden konnten. In dieser Hinsicht hat die
englische Finanzpraxis zunächst einen Einnahmezweig zum Aus-
bau gebracht, für den sich in der älteren Finanzgeschichte ein
Anknüpfungspunkt finden ließ : die von der englischen Mer-
kantilpolitik eingeführten Ein- und Ausfuhrzölle. Diese ver-
lieren ihren bisherigen, fast ausschließlichen Charakter als
Schutzzölle, die nur der Förderung des heimischen Wirtschafts-
lebens dienten, und werden zu ausgesprochenen Finanzzöllen, als
das Revolutionsparlament in seinem Kampf gegen das Königtum
einer ergiebigen und hinreichend gesicherten Finanzquelle be-
durfte. Und diese fand das Parlament, das London und die
meisten der größeren Seehäfen beherrschte, eben in der Be-
lastung der hier ein- und ausgeführten Waren durch Zölle (Cu-
stom duties) 2).
Diesen Charakter bewahren die Zölle auch nach der Re-
stauration des Königtums, indem sie vom Parlament unter der
Bezeichnung „Old Subsidy" Karl II. auf die Dauer seiner Re-
gierungszeit als Einnahmequelle bewilligt wurden. Die Zu-
sammenfassung dieser Zölle in dem als „the Great Statute" be-
kannten Gesetz und die Festsetzung eines neuen, allerdings nach
verschiedenen Grundsätzen normierten Tarifs bilden die Grund-
lage für die Weiterentwicklung der Zölle, die in den nächst-
folgenden Jahrzehnten wesentlich in einer immer mehr Gegen-
stände des Verbrauchs erfassenden Ausbreitung lag. Die finan-
zielle Ergiebigkeit der Zölle war nicht übermäßig groß und die
vielfachen, nach den verschiedenartigsten Grundsätzen durch-
geführten teilweisen oder allgemeinen Erhöhungen hatten we-
niger eine Steigerung des Ertrags, als eine zunehmende Ver-
wirrung des Systems zur Folge. Hierin hat William Pitt eine
Reform durchgeführt, indem er 1787 alle bestehenden Zölle in
dem sogenannten „Customs Consolidation Act" zusammenfaßte.
Der Tarif, der etwa 1200 Artikel umfaßte, blieb trotz teilweiser
Reformen in seinem Charakter unberührt. Seit dieser Konsoli-
dierung erfahren die Zölle in den französischen Revolutions-
z ) Dowell, History. II, S. 6.
kriegen eine mächtige Ausdehnung, so daß sie am Ende des
Jahrhunderts im ordentlichen r^innahmebudget eine bedeutende
Stelking einnehmen.
In finanzieller Hinsicht winden die Zölle zunächst jedoch
überflügelt durch die ILntw i( klung des anderen großen Ein-
nahmezweiges, auf dem am Ende des i8. Jahrhunderts der in-
direkte Charakter des englischen Steuersystems wesentlich be-
ruhte. Wenn die Zölle bei ihrer Umwandlung in Finanzzölle auf
historische Tradition gegründet werden konnten, so stellen die
1643 nach holländischem Muster eingeführten indirekten Ver-
brauchsteuern (Excise duties) in England eine durchaus unge-
wohnte, der Tradition widersprechende Erscheinung dar, und wir
begreifen so den heftigen Widerstand, den die Bevölkerung fast
ein Jahrhundert lang ihnen entgegengesetzt hat. Die „Inland du-
ties", mit welcher Bezeichnung man die Verbrauchsteuern von den
Zöllen unterschied, wurden nach der Restauration in dem Umfange
beibehalten, den sie während der Revolution durch Ausbreitung
auf fast alle Gegenstände des täglichen Verbrauchs angenommen
hatten. Nur die schwer drückende Besteuerung der notwendig-
sten Lebensmittel, wie Fleisch und Brot, wurde aufgegeben. Die
weitere Entwicklung der „Excise duties" fällt zusammen mit
einer Ausdehnung der Steuer auf bisher steuerfreie Verbrauchs-
objekte und mit den immer wiederkehrenden Erhöhungen der
Steuersätze. Die Ertragssteigerung vollzog sich in stetiger, aber
starker Progression, so daß die Excise duties bald den Haupt-
zweig der ordentlichen Einnahmen darstellten.
Neben diesen beiden Haupteinnahmequellen, die dem eng--
lischen Steuersystem des 18. Jahrhunderts seinen ausgeprägt in-
direkten Charakter geben, ist eine ergänzende Besteuerung in
direktem Sinne nur in schwacher Weise durchgedrungen. Eine
168S eingeführte Vermögenssteuer 3), die das Grund- und Ka-
pitalvermögen sowie Einkommen aus öffentlichen Amtern treffen
sollte, verkümmerte bald zu einer Grundsteuer, der sogenannten
„Landtax", die 1698 in eine Repartitionssteuer umgewandelt
wurde und bald den Charakter einer auf dem Grundeigentum
liegenden Reallast annahm. Durch Pitt wurde die Steuer, die
sich das ganze Jahrhundert hindurch ziemlich stabil gehalten
hatte, in eine ablösbare Rente umgewandelt, doch wurde die
3) Manes, Einkommensteuer. S. 134.
— 9 —
Ablösung, deren Ertrag Pitt zu einer wirksameren Schulden-
tilgung zu verwenden hoffte, nur im geringen Umfang durch-
geführt, so daß sie bis heute noch nicht vollendet isf*).
Wenn die Landtax einen direkten Versuch darstellt, das Ver-
mögen nach seiner deutlich sichtbaren und bequem zu erfassen-
den Grundlage steuerlich zu belasten und dadurch die einseitige
Besteuerungsweise durch Zölle und Verbrauchsteuern zu er-
gänzen, so verfiel man in der gleichen Absicht auf eine neue
Steuergruppe, indem man das Kriterium für die steuerliche
Leistungsfähigkeit des Vermögens in dem Maße des damit ge-
machten Aufwandes zu finden glaubte. So gelangte man seit
der Mitte des i8. Jahrhunderts zu der Kategorie der Aufwands-
steuern (der sogenannten ,, Assessed taxes", d. i. Veranlagungs-
steuern), indem man den Aufwand dort besteuerte, wo er eben
besonders deutlich in die Erscheinung trat. Diese Steuern,
die nach einem gerade auftretenden Finanzbedürfnis in ziem-
lich willkürlicher Reihenfolge die einzelnen Gegenstände des
Aufwands erfaßten, tragen alle ein starkes Moment der Zu-
fälligkeit an sich, indem man bei der Suche nach neuen Ein-
nahmequellen immer dasjenige Objekt herausgriff, das dem
momentanen Bedürfnis am meisten zu entsprechen schien. Es
ist deutlich zu ersehen, wie diese Steuern im Grunde auf dem-
selben Gedanken beruhten, wie die indirekten Steuern, da sie
nicht aus einer einheitlichen Quelle schöpfen, sondern ein weit-
verzweigtes System umfassen, womit man die Steuer erträg-
licher zu machen meinte. Und hier wie dort glaubte man auch
den Grundsatz der Gerechtigkeit gewahrt zu haben, da alle diese
Steuern in gewissem Grade das Moment der Freiwilligkeit in
sich tragen, indem Aufwand und Verbrauch eingeschränkt
werden konnten, wenn die Steuerlast drückend wurde. Aus
diesem Grunde aber teilen die Assessed taxes mit der gesamten
indirekten Besteuerung die Eigenschaft einer gewissen Starrheit
und Unsicherheit, und beiden Arten ist auch das gemeinsam,
daß infolge der weitgehenden Zersplitterung der Ertrag zu den
Erhebungskosten oft in denkbar ungünstigstem Verhältnis stand.
Den so dargestellten Einnahmezweigen gegenüber haben
bis zum Ende des i8. Jahrhunderts die zahlreichen Stempel-
steuern finanziell nur geringe Bedeutung. Zwar gehören infolge
4) Manes, Einkommensteuer. S. 18 •
lO
einer Eigenlünilichkcil der englischen Steiier\er\valtung auch
die Erbschaftssteuern, die am Ende des Jalirhunderts in der
Form einer XerniiU hiiiissicuer eingeführt wurden, zu cHeser
Gruppe. Diese gelangen aber in der Periode, die unserer Unter-
suchung unterliegt, selbst erst zu vollkoninienerer Entwicklung,
während sie bis zur Einführung der ersten Einkommensteuer
als ergänzende Vermögenssteuern im indirekten System nur
wenig Gewicht hatten. Die Einkünfte aus den Domänen, der
Püstverwaltung und anderen Erwerbsanstalten waren meist so
geringfügig, daß sie in diesem Zusammenhang einer besonderen
Beachtung entbehren können.
Die budget- und rechnungsmäßige Zusammenfassung der
verschiedenen Einnahmezweige und bestimmter Ausgabeposten
wurde in jener Zeit bewirkt durch den sogenannten „Consolidated
fund", der in Verbindung mit den Konsalidationen der Zölle
und Verbrauchsteuern von Pitt errichtet worden war. Der Fonds
wurde mit jenen dauernden Ausgaben belastet, deren Höhe von
der jährlichen Bewilligung durch das Parlament unabhängig
war, da sie auf einer dauernden Verpflichtung des Staates be-
ruhten, wie die Schuldverzinsung und die Ausgaben der Zivil-
verwaltung. Zur Deckung dieser Ausgaben wurden dem Con-
solidated fund bestimmte Einnalimezweige oder Teile derselben
zugewiesen, so daß in diesem Fonds bis zu einem gewissen Grad
auch das Prinzip der Kasseneinheit zum Ausdruck kam. Im
Gegensatz zum Consolidated fund stand der sogenannte „/Vnnual
Supply", d. i. der Teil des jährlichenJ3edarfs, der vom Parlament
in seiner Höhe beeinflußt werden konnte, und deshalb der
jährlichen Neubewilligung durch dasselbe unterlag. Die Mittel
zur Deckung des Annual Supply wurden durch die jährlichen
Steuern sowie durch Zusatzsteuern, die im Bedarfsfalle auf
Zölle und Verbrauchsobjekte gelegt wurden, aufgebracht.
§2.
Die Entwicklungstendenzen.
Das markanteste Moment der englischen Finanzgeschichte
des i8. Jahrhunderts bildet das dauernde Mißverhältnis, in
w^elchem die Einnahmegewinnung zur Ausgabenwirtschaft sich
befand. Um diese Tatsache Avürdigen zu können, ist es durch-
aus notwendig, sich stets bewußt zu bleiben, daß sich die
— II —
Finanzentwicklung nicht unter den steten Bedingungen einer
dauernden Friedenszeit, sondern unter den wechselnden An-
forderungen langwieriger Kriegszeiten vollzog, in Jenen Eng-
land mehr als einmal um seine Lebensinteressen und um seine
Existenz zu kämpfen hatte. Die Aufrechterhaltung der natio-
nalen Ehre und Selbständigkeit ist für diese ganze Zeit der
Blickpunkt, der in allen Fragen, und in hohem Maße auch
in Finanzfragen, die Entscheidungen des Parlaments bestimmte.
Man war sich durchaus bewußt, daß die Selbständigkeit des
Landes nur mit den ungeheuersten Anstrengungen zu erhalten
sei, und diese Überzeugung verstärkte sich noch weit melir
in dem fast beis2)iellos zähen Kampf, den England mit der
französischen Republik und späterhin mit Napoleon führen
mußte. Das Finanzj^roblem gestaltete sich demnach so, daß
die Herstellung des finanziellen Gleichgewichts zwischen Ein-
nahme- imd Ausgabewirtschaft von vornherein nicht durch
eine Reduktion der Ausgaben, sondern durch eine mächtige
Steigerung der Einnahmen zu erreichen gesucht wird. Deut-
licher bestimmt wird dieses Streben durch die in den letzten
zwei Jahrzehnten des Jahrhunderts zunehmende Einsicht in
die Wirkung der bisherigen Schuldenjjolitik, die dadurch in
neue Bahnen gelenkt wird. Die Bedeutung der fundierten
Schulden für das Einnahmebudget und andererseits wieder
für das Ausgabebudget (infolge der wachsenden Verzinsungs-
summe) läßt zunächst das Problem der Staatsschuld in den
finanzpolitischen Erwägungen jener Zeit durchaus in den
Vordergrund treten. Theoretisch findet dieses Problem eine
umfassende Behandlung in einer kaum übersehbaren Flut
wissenschaftlicher und polemischer Abhandlungen, denen gegen-
über jede andere Finanzliteratur gänzlich in den Hintergrund tritt;
seine praktische Lösung versuchte William Pitt 1786 durch
die Neugründung des alten W a 1 p o 1 e sehen Tilgungsfonds. In-
dem man die Schulden als außerordentliche Deckungsweise
eines außerordentlichen oder eines die gegenwärtige Leistungs-
fähigkeit überschreitenden ordentlichen Bedarfs erkennen lernte,
durch welche die Bedarfsdeckung auf eine größere Reihe von
Jahren verteilt wurde, statt sie einem einzigen Finanzjahr auf-
zubürden, erkannte man auch die Notwendigkeit, nicht nur für
die Verzinsung, sondern auch für eine planmäßige Tilgung
der aufgenommenen Schuld zu sorgen. Diese Aufgabe wurde
— 12 —
dem Tilgungsfonds zugedacht, der durch einen bestimmten
Teil der jährlichen Einnahmen gespeist und durch wiederholte
außerordentliche Zuwendungen verstärkt wurde. Die ursprüng-
liche Absicht war, auf diese Weise Kapital anzusammeln, um
die Anleihepapiere nach und nach zurückzukaufen. A.uf dieser
Grundlage machte denn auch die Schuldentilgung sichere Fort-
schritte, bis sie durch die zunehmende Steigerung der mili-
tärischen Ausgaben im französischen Revolutionskrieg wieder
durch die Neuaufnahme von Schulden übertroffen wurde ^).
Ohne das im Tilgungsfonds ausgedrückte Prinzip zu ver-
lassen, ergänzte es Pitt nun insofern, als er für die Tilgung
der neuaufgenommenen Schulden und für deren Verzinsung
durch Steuererhöhungen und durch Zusatzsteuern, den soge-
nannten war-taxes, neue Quellen eröffnete. Damit tritt das
eigentliche Finanzproblem hervor, durch eine Steigerung der
ordentlichen Einnahmen das budgetmäßige Gleichgewicht her-
zustellen und die außerordentlichen Einnahmen durch ordent-
liche zu ersetzen.
Indem sich die Einsicht durchsetzte, daß die ordentlichen
Jahresausgaben möglichst durch laufende Einnahmen zu decken
seien, wurde damit in die Finanzpolitik der Grundsatz ein-
geführt, den Pitt mit einer stehenden Redewendung als ,,the
principle to raise within the year" bezeichnet. Seine natürliche
Folge bildet das andere, bei der Aufstellung des Budgets nun-
mehr zur Geltung kommende Prinzip, die aus Anleihen zu
gewinnenden Einnahmen immer m6hr einzuschränken, oder
doch durch eine bestimmte Steuer für die Tilgung der unum-
gänglich notwendigen Anleihen zu sorgen 6).
Die damit anhebende Fortentwicklung des englischen
Finanzwesens steht nun durchgehend unter der Einwirkung
des bestehenden Steuersystems, indem gerade hier die Wir-
kungsweise eines wesentlich auf indirekten Steuern ruhenden
Systems anschaulich hervortrat. Den durch die Kriegslage
bedingten Bedarfssteigerungen vermochten die Einkünfte aus
den indirekten Steuern infolge der diesen eigentümlichen ge-
ringen Beweglichkeit um so weniger zu entsprechen, als sich
5) In den Jahren von 1793/1802 wurde die Staatsschuld um rund
170 Milhonen £ vermehrt.
6) Vgl. dazu Pari. Hist. Vol. 33, col. 1036/1067 und vol. 34, col. i ff .
— 13 —
ihre natürliche Steigerungsfähigkeit, wie sie sich aus der Zu-
nahme des Volkswohlstandes und des allgemeinen Verbrauchs
ergibt, in ihr Gegenteil verwandelt, indem der hemmende Ein-
fluß eines opferreichen Krieges sich zuallererst in einer all-
gemeinen Einschränkung der Lebenshaltung bemerkbar macht.
Aus diesem Grunde fehlt einem indirekten System die not-
wendige Elastizität der Einnahmevermehrung oder -Vermin-
derung nach ^Maßgabe des Bedarfs, und es ist leicht zu er-
kennen, daß in diesem Mangel der tiefere Grund für die starke
Vermehrung der englischen Staatsschuld während der Kriege
des i8. Jahrhunderts liegt.
Eine Einnahmesteigerung bedeutete somit eine Zunahme
der steuerlichen Belastung durch Erhöhung der bestehenden
Steuern oder durch Erschließung neuer Steuerquellen. Beide
Mittel hat Pitt zur Durchführung seines Prinzips ,,to raise
within the year" zu ausgiebiger Anwendung gebracht. Dabei
aber ergab sich wiederum aus der Praxis eine Tatsache, die
sich schließlich als einfaches Rechenexempel bei jeder neuen
prozentualen Erhöhung der Zölle und Verbrauchssteuern fest-
stellen ließ. Indem diese nämlich eine Verteuerung der da-
mit belegten Gegenstände zur Folge hat, tritt damit auch
ein Rückgang im Konsum ein, der auf die Ertragssteigerung
der Steuern hemmend wirkt. Diese Tatsache trat in dem
französischen Revolutionskrieg trotz des stark gesteigerten ab-
soluten Ertrags der Zölle und der Verbrauchsteuern klar genug
hervor, um die Überzeugung zu wecken, daß beide Steuer-
quellen an der Grenze ihrer natürlichen Leistungsfähigkeit an-
gelangt seien. Wenn so die zur Gesundung des Finanzwesens
und zur Erhaltung und Stärkung des ohnehin angespannten
Staatskredits notwendige Einnahmeerhöhung durch eine noch
stärkere Ausnutzung der beiden Haupteinnahmequellen des
Staates nicht erreicht werden konnte, so war diese Möglich-
keit von vornherein auch bei der Landsteuer ausgeschlossen,
da der hohe Satz derselben eine weitere Einnahmegewinnung
ebenfalls unmöglich machte '').
So blieben zu einer Einnahmesteigerung innerhalb des
bestehenden Systems nur die Stempelsteuern und die Assessed
taxes übrig, und in diesen beiden Steuerkategorien Hegen denn
7) Vgl. Manes, S. 135 u. 1S5.
— 14 —
auch die wesentlichen Momente verborgen, die den Ausbau
des Systems in der für die gedeihHchc Fortentwicklung der
Finanzen notwendigen Richtung ermöglichten, die aber gleich-
zeitig damit die Umwandlung des einseitig indirekten Steuer-
systems in ein auf indirekter Verbrauchsbesteuerung und
direkter Vermögens- und Einkommensbcstcuerung gegründetes
gemischtes System einleiteten und bedingten.
Dazu komnu nun aber noch ein weiteres Moment für die
Notwendigkeit einer Systemänderung. Man konnte sich, je
mehr man sich bei der Unzulänglichkeit der bestehenden Ein-
nahmequellen nach neuen ergiebigeren Quellen umsah, doch
nicht der Tatsache verschließen, daß durch alle bestehenden
Steuerarten breite Vermögensteile nicht erreicht werden konnten,
die doch einer kräftigen Besteuerung gegenüber sich als
durchaus leistungsfähig gezeigt hätten. Wenn man auch mit
den Stempelsteuern Vermögensteile, soweit sie rechtlichem oder
handelsmäßigem Verkehr unterlagen, und durch die Assessed
taxes solche Vermögensteile traf, die ihre Leistungsfähigkeit
durch den mit ihnen gemachten Aufwand erwiesen, so gab es
in der Entwicklungszeit des modernen Kapitalismus doch Ver-
mögensteile genug, die von diesen Steuern nicht erreicht wurden
und deren Belastung durch die allgemeinen indirekten Ver-
zehrssteuern in keinem Verhältnis zu ihrer Leistungsfähigkeit
stand. Und da gerade in England der Grundsatz der Gleichheit
und Gerechtigkeit sowohl in der Theorie als auch längst schon
in der Praxis unbezweifeltes Geltungsrecht erlangt hatte, so
konnte die Einsicht nicht länger unterdrückt werden, daß bei
der schweren Belastung durch die Masse der indirekten Steuern
die reicheren und reichsten Kreise des Volkes über diese Be-
steuerung hinaus nach dem Grade ihrer Leistungsfähigkeit heran-
gezogen werden müßten. Dazu mußte aber ein neuer Be-
steuerungsmodus gefunden werden, der auf anderen Prinzipien
beruhte als die bisherigen Steuerarten, und der auch ein anderes
Erhebungsverfahren zur Anwendung brachte als das bisher an-
gewandte, wenn wirklich die Besteuerung nach dieser Richtung
hin erfolgreich ausgebaut werden sollte. Den Verlauf dieser
steuertechnischen Versuche und finanzpolitischen Maßnahmen
darzustellen, wird der Gegenstand der folgenden Unter-
suchung" sein.
2. Kapitel.
Die erste Einkommensteuerperiode.
Der Übergang zur direkten Vermögens- und Ein-
kommensbesteuerung.
Die machtvolle Entwicklung des englischen Wirtschafts-
lebens in dem Jahrzehnt, das zwischen der Beendigung des nord-
amerikanischen Unabhängigkeitskrieges und dem Beginn der
französischen Revolutionskriege liegt, hat trotz der Nachwir-
kungen des ungünstig verlaufenen Krieges auf die Finanzlage
Englands fördernd eingewirkt. Und nicht in letzter Linie ist
es dem Zusammentreffen der Pitt sehen Reformen mit der
allgemeinen wirtschaftlichen Aufwärtsbewegung (ein Umstand,
der für jede Finanzreform von größter Bedeutung ist) zuzu-
schreiben, wenn ein Erfolg derselben eintrat. Die günstige
Entwicklung schlug aber mit dem Ausbruch der Revolutions-
kriege in ihr Gegenteil um. In den Jahren von 1793 bis 1798
konnten zur Deckung der Gesamtausgaben von rund 235 Mil-
lionen £ aus den ordentlichen Einnahmezweigen nur 123,5 Mil-
lionen £ aufgebracht werden. So griff man in dieser Zeit wieder
in ausgedehnter Weise zur Schuldenaufnahme, so daß von
1794 bis 1798 die englische Staatsschuld sich um mehr als
1 1 5 Millionen £ vermehrte. Demgegenüber erscheint die Ver-
mehrung der dauernden Einnahmen durch fortgesetzte Aus-
dehnung und Erhöhung der indirekten Steuern und der Auf-
wandsteuern für die Beurteilung der Finanzlage kaum von Be-
lang, da die gleichzeitige Steigerung der jährlichen Ausgaben
sich weit rascher vollzog als die der Einnahmen. Das Wesent-
liche ist hier aber der Umstand, daß sich trotz der Erhöhungen
und Vermehrungen der indirekten Steuern der Ertrag derselben
doch nicht so steigern ließ, daß die Aufnahme neuer Anleihen
durch den Mehrertrag der Steuern hätte ersetzt werden können.
Infolge der Kriegslage verhielten sich die Zölle so überaus
schwankend, daß sie überhaupt keine verläßliche Einnahme-
quelle darstellten. Die Verbrauchssteuern aber zeigten von
1 793/1 798 wohl eine Ertragssteigerung von 3,5 Millionen £,
doch waren sie damit bereits an dem Punkte angekommen, wo
— i6 —
eine weitere Erhöhung notwendig zu einem Mißerfolg führen
mußte. Da so das indirekte Besteuerungssystem sich als unzu-
länglich erwies, den Grundsatz, einen möglichst großen Teil
des jährlichen Bedarfs durch Steuern innerhalb des Bedarfs-
jahres zu decken, durchzuführen, mußte der Gedanke durch-
dringen, durch eine Änderung im System selbst neue Einnahme-
quellen zu erschließen und dabei die wohlhabenderen Schichten
des Volkes über die Besteuerung durch die indirekten Ver-
brauchsabgaben hinaus stärker heranzuziehen. Wenn demnach,
wie Man es richtig hervorhebt^), durch die indirekten Steuern
der Einkommensteuergedanke auch nicht direkt gefördert wurde,
so drängte doch eben die Unzulänglichkeit der indirekten Be-
steuerung zusammen mit der Erschöpfung des Staatskredits auf
eine Ergänzung des Besteuerungssystems durch direkte Ver-
mögenssteuern hin.
Die beiden Einnahmezweige, deren Ausbau noch mög-
lich schien, und die bisher neben den Zöllen, den Verbrauch-
steuern und der Landsteuer nur eine geringe Bedeutung zu
erlangen vermocht hatten, waren die Stempelsteuern imd die
Aufwandsteuern. Die eigentlichen Stempelsteuern, die sich an
Verkehrsakte jeder Art anschlössen, waren einer erheblichen
Mehrbelastung kaum fähig, da bei einer allzu drückenden Be-
steuerung des Verkehrs die stempelpflichtigen Akte möglichst
vermieden und umgangen werden konnten, der Ertrag da-
durch also nicht der Erhöhung entsprechend gesteigert wurde.
Diejenigen Steuern jedoch, die eine wirksame Erhöhung zu
tragen vermochten, waren nur uneigentlich Stempelsteuern.
Sie schlössen sich an den wirtschaftlichen Verkehrsakt der
Vermögensübertragung an und sind so eigentliche Vermögens-
steuern, bei denen aber nicht das übertragene Vermögen einer
direkten Besteuerung unterworfen wurde, sondern vielmehr der
Akt der Übertragung, sofern er durch irgendeine amtliche
Bescheinigung faßbar wurde. Es sind das die ,, Probate and
administration duties", die bereits 1694 zum ersten Male unter
den Stempelsteuern auftauchten und im amerikanischen Un-
abhängigkeitskrieg durch die Einführung einer Wertskala des
testamentarisch übertragenen Vermögens schärfer ausgestaltet
wurden. Pitt ging durch Ausdehnung und weitere Diffe-
8) Manes, S. 112.
— 17 -
renzierung der Skala, die er mit einer Erhöhung der jewcihgen
Steuersätze verband, 1795 in dieser Richtung weiter ■>).
Neben diesen Steuern, die durch ihre Gebundenheit an
Stempelpapiere den Charakter von Stempelsteuern deutlicher
hervortreten lassen, kam seit 1780 unabhängig von diesen
eine andere Reihe von Steuern auf, deren erste die 1780 von
North eingeführte Vermächtnissteuer (Legacy duty) bildet.
Der Ertrag dieser Steuer blieb gering, und 1795 schlug Pitt
deshalb den Weg einer direkten Vermögensbesteuerung mit
der Vorlage einer Erbschaftssteuer (collateral succession duty)
ein, die aber im Unterhaus auf das bewegliche Vermögen be-
schränkt wurde, während das Grundvermögen frei ausging 10).
Damit war, wenn auch nur einseitig, in der Form der Nach-
laßbesteuerung die direkte Vermögensbesteuerung begonnen
und der Anfang zu den Erbschaftssteuern, die im nächsten
Jahrhundert umfassend ausgebaut wurden, gemacht.
Eine zweite Möglichkeit, innerhalb des bestehenden Systems
über dessen Wirkungsweise hinauszugelangen, boten die Auf-
wandsteuern dar. Diese beruhten in gewisser Hinsicht zwar
auf demselben Steuergedanken wie die allgemeine Verbrauchs-
besteuerung, andererseits lag in ihnen aber doch ein Moment,
das sie von jener unterschied. Während die allgemeine Ver-
brauchsbesteuerung gerade in ihren ertragsfähigsten Zweigen
sich an solche Verbrauchsobjekte anschloß, die als unent-
behrliche Bestandteile einer normalen Lebenshaltung betrachtet
werden mußten, schlössen sich die Assessed taxes an einzelne
Aufwandobjekte an, deren Gebrauch eine Steigerung, deren
Nichtgebrauch eine Minderung der Lebenshaltung offenbarte.
Damit lag in dem System der Assessed taxes das Prinzip einer,
allerdings freiwilligen und nicht allgemeinen, Progression ver-
borgen und von dieser faktischen Besteuerungsweise nach ver-
schiedenen Klassen der Leistungsfähigkeit (in den Assessed
taxes dargestellt durch die verschiedenen Aufwandobjekte) ist
der Fortschritt zu einer Erfassung abgestufter Vermögens-
klassen nicht mehr allzu groß. In der historischen Entwick-
9) Dowell, History. III, S. I39ff. Dowell gibt den Ertrag dieser
Steuer für 1805 auf 0,312 Millionen £, für 181 5 auf etwas über 1/2 Million
ü an.
10) Dowell, III, S. 149.
Zeitschüft für die ges. Staatswissensch. Ergänzungsheft 48. 2
— 18 —
hing schiebt sich aber als Zwischenghed ein eigenartiger Be-
steuerungsversuch ein, der von den Aufwandsteuern ausgeht
und in die Vermögensbesteuerung einlenkt. Dieser Besteue-
rungsversuch, der nur als Versuch zu betrachten ist, und als
selbständiges Besteuerungsverfahren einen vollen Mißerfolg
der Pitt sehen Finanzkunst bedeutet, ist das sogenannte
,,Triple Assessment" von 1/97, auf dessen Geschichte wir
hier näher eingehen müssen.
Der Gedanke, durch eine allgemeine Erhöhung der As-
sessed taxes die dauernden Einnahmen zu erhöhen, war nicht
neu und in den Debatten der letzten Jahre öfters hervor-
getreten. Und zwar war es gerade in diesem Fall ausdrücklich
der traurige Stand des Staatskredits, der seit Beginn des Krieges
ein so bedenkliches Niveau erreicht hatte, daß alle finanziellen
Bestrebungen notwendig auf eine Hebung' des Kredits abzielen
mußten, wenn die Zukunft der Staatsfinanzen nicht auf das
Schlimmste gefährdet werden sollte i^). Die Grundlage des
neuen Finanzplanes sollten die Assessed taxes bilden, und Pitt
hob deutlich die Gründe hervor, die ihn zwangen, zu dieser
Einnahmequelle seine Zuflucht zu nehmen. Es sind drei Prin-
zipien, die Pitt hier aufstellt, und wir werden in der späteren
Gestaltung der ersten Einkommensteuer dieselben Prinzipien,
wenn auch etwas modifiziert, wirksam finden: Erstens sollte
die neue Steuer so umfassend wie möglich sein; zweitens sollte
die Gestaltung der Steuer so gerecht und gleich sein, wie immer
nur möglich, und drittens sollte der Grundsatz der Leistungs-
fähigkeit so zur Geltung kommen, daß durch Gradabstufungen
und Steuerbefreiungen den minderbemittelten Schichten des
Volkes möglichst viel Erleichterung geboten werden könnte.
Die Möglichkeit, diese drei Leitsätze zu verwirklichen, fand
Pitt nur in den Assessed taxes gegeben. Nach ihren Objekten
zerfielen diese in zwei leicht zu trennende Kategorien. Unter
der einen Kategorie waren solche Steuern einbegriffen, die wie
die Häuser- und Fenstersteuer einer Vermögenssteuer ihrer
Wirkung nach sehr nahe kamen und einen notwendigen Auf-
wand besteuerten. Die andere Kategorie aber umfaßte eigent-
liche Luxussteuern, und diese waren es, die Pitt für geeignet
hielt, durch eine allgemeine Erhöhung ihrer bisherigen Ver-
ii) Manes, S. 184.
— 19 —
anlagung den erforderlichen Mehrertrag herauszuholen, wäh-
rend die Steuern der ersten Kategorie mehr durch eine ver-
hältnismäßige Modifikation der Steuersätze dem neuen System
angepaßt werden sollten 12). Die steuertechnischen Maßnahmen,
als deren Produkt die Gestaltung des ,,Triple Assessment"
zu betrachten ist, sind zweifacher Natur. Es trat erstens eine
allgemeine Erhöhung der Steuersätze um das Drei- bis Fünffache
ihres bisherigen Betrags (daher die Bezeichnung Triple Assess-
ment) ein, und zweitens wurde die Höhe der Steuerleistung
eines jeden Steuerpflichtigen derart abgemessen, daß die Steuer-
pflicht mit einem Einkommen von 60 £ begann und der Steuer-
satz sich nach Einkommensklassen prozentual abstufte, um bei
einem Einkommen von 200 £ den Höchstsatz von 10 0/0 zu
erreichen. Manes charakterisiert diese Steuern als eine Ab-
gabe, ,, welche nach Höhe des Einkommens in degressiver Weise
erhoben wurde, wobei jedoch dieses Einkommen nicht direkt,
sondern mittelbar durch Erfassung derjenigen Gegenstände,
für die es ausgegeben wurde, getroffen werden sollte" ^^). Deut-
licher als durch diese Definition wird der Charakter dieser
Steuer und ihr Zusammenhang mit dem bestehenden System
und der bisherigen Steuerpolitik durch die Erklärung, die Pitt
für sie gab, hervorgehoben, wenn er sie als ,,a tax on income,
on the visible criterion of the assessed taxes" bezeichnete. Denn
dieser Besteuerungsversuch ging, und Pitt hat das selbst
offen ausgesprochen, aus der Absicht hervor, das Vermögen
oder Einkommen zu treffen; doch fand man zur Erfassung des
Vermögens oder Einkommens kein anderes ,,visible criterion"
als die Vermögensverausgabung. Wenn man bedenkt, daß in
letzter Linie alle Steuern aus dem Einkommen bezahlt werden,
so tritt hier deutlich die enge Beziehung hervor, in der dieser
Versuch zum gesamten indirekten System stand. Das finanz-
politisch Neue und Fortwirkende liegt denn auch nicht in dem
steuertechnischen Modus der Erfassung des Steuer-
objektes, sondern in dem Modus der Bemessung
des Steuerbetrags nach Einkommensklassen.
Das Steuerobjekt stellt nichts Neues dar, sondern ist identisch
mit einem längst vorhandenen und steht so durchaus auf dem
12) Pari. Hist. Vol. 33, col. 1067.
13) Manes, S. 186.
— 20 —
allen BdcUmi. Die 1' o r l c n l u i < k 1 u n g gestaltet sich
aber so, cl a 13 dieses (J b j e k t einfach aufgegeben
und mit kühnem Griff die bisherige Bemessungs-
grundlage an seine Stelle gesetzt wird. Hierin liegt
finanzpolitisch nicht nur der Anfang des neuen, sondern auch
der Zusammenhang mit dem alten, so daß, historisch betrachtet,
die Kontinuität der Entwicklung gewahrt bleibt.
Außer diesem wesentlichsten Moment sind aber mit dem
Triple Assessment noch einige andere Momente verbunden,
die bei der Gestaltung der folgenden Einkommensteuer her-
vortreten werden. Das eine ist die Steuerfreiheit (exemption)
von Personen, die ein jährliches Einkommen unter 6o £ hatten,
sowie von einer Reihe von Anstalten mit gemeinnützigem Zweck.
Das andere ist die Gewährung von Steuernachlässen (abate-
ments) nach der Kinderzahl des Steuerpflichtigen. Außer
diesen Momenten aber ist die finanzpolitische Bestimmung,
die dem Triple Assessment zugeteilt wurde, für die Zukunft
höchst bedeutsam. Pitt umschreibt diese folgendermaßen:
,,Not only do I think that the principle is wise and the attempt
practicable to provide large supplies out of the direct taxes
of the year, but I think it to be equally wise and not less
practicable to make provision for the amount of the debt
incurred and funded in the year" i*). Darnach sollte der Er-
trag des Triple Assessment nicht nur eine Verminderung des
Anleihesolls ermöglichen, sondern es sollten durch seine Bei-
behaltung auch gleichzeitig die Mittel erlangt werden, die
in einem Finanzjahr kontrahierte Schuld über die Leistungs-
fähigkeit des sinking-fund hinaus zu verzinsen und zu tilgen.
Wenn eine Anleihe aufgenommen wurde, war damit durch die
Steuer, die ihr auf diese Weise zugeordnet wurde, auch für
ihre Tilgung gesorgt. Wir werden sehen, wie in dieser Be-
ziehung die Pitt sehe Einkommensteuer einfach an die Stelle
des gescheiterten Triple Assessment tritt.
Das Schicksal des Triple Assessment kann kurz geschildert
werden. Die Beredsamkeit P i 1 1 s hatte trotz heftiger Oppo-
sition die Annahme seiner Vorlage, gegen die fast alle er-
denklichen Einwände erhoben wurden, leicht gesichert. Den
14) Pitts Budgetrede vom 24. November 1797. Pari. Hist. Vol. 33,
col. 1053.
— 21 —
Ertrag der Steuer hatte Pitt auf Grund der bisherigen As-
sessed taxes auf ungefähr 7 MilHonen £ geschätzt. Das budget-
mäßige Defizit dieses Jahres beHef sich auf 19 Millionen £,
welches durch den Ertrag des Triple Assessment auf .12 Mil-
lionen herabgemindert werden sollte, während der Restbetrag
durch eine Anleihe,- deren Tilgung aber durch die Fortführung
des Triple Assessment gesichert werden sollte, aufgebracht
werden mußte. Der finanzielle Mißerfolg, der sowohl durch
absichtliche Steuerhinterziehung, als auch durch die Schwer-
fälhgkeit des ganzen Systems verursacht wurde, genügte, um
diese Steuer nach Jahresfrist wieder verschwinden zu lassen.
§ 4.
Die Pittsche Einkommensteuer.
Der finanzielle Mißerfolg des Triple Assessment hatte genügt,
die Unzulänglichkeit dieses Besteuerungsversuchs zu erweisen,
und Pitt zögerte nicht, die Steuer ohne Verteidigung aufzu-
geben, um eine wirksamere an ihre Stelle zu setzen. Die Fi-
nanzlage an sich war einfach genug ; den vorgesehenen Aus-
gaben des „annual supply", d. i. des jährlichen Bedarfs, der
nicht durch den Consolidated fund gedeckt werden konnte, in
Höhe von 29 Millionen £ konnte Pitt nach dem Wegfall des
Triple Assessment und infolge der Landsteuerablösung an or-
dentlichen dauernden Einnahmen nur etwa 1/5 dieser Summe
entgegensetzen. Sofern Pitt auf der Durchführung seines Fi-
nanzplaner, beharren wollte, stand er einfach vor der Notwendig-
keit, diejenige Form der Vermögensbesteuerung zu finden, die
eine derart wirksame Erfassung des leistungsfähigen Vermögens
sicherte, daß seine finanzpolitische Absicht verwirkhcht werden
konnte. So gelangte Pitt zu seinem Einkommensteuerprojekt,
das er dem Parlament in der Budgetrede vom 3. Dezember 1798
vorlegte. Zunächst erscheint dieser Übergang zu einem schein-
bar völlig neuen Besteuerungsprinzip unvermittelt genug, so-
bald man sich aber von unserem heutigen Einkommensteuer-
begriff freimacht und die Pitt-Steuer in ihrer Eigenheit zu er-
fassen sucht, wird man die Linien auffinden können, die vom
Triple Assessment zu ihr hinüberführten.
Dabei entsteht die Frage, wie weit der Einkommensteuer-
gedanke in England theoretisch vorbereitet war, als Pitt sein
Projekt vorlegte, und auf welche i)raktischen X^jraussetzungen
das Pitt sehe Projekt sich stiitzc n koUDte. Ik'iden Fragen ist
Manes in seiner, in der Festschrift für Lexis abgedruckten
Arbeit über „Die Einkommensteuer in der enghschen Finanz-
pohtik" nachgegangen!^). Soweit die theoretische Entwicklung
des Einkommensteuergedankens und der damit verbundenen
Steuergrundsätze in Frage kommt, ist für jene ganze Zeit der
Umstand zu beachten, daß der Begriff des Einkommens selbst
noch durcliaus nicht so feststehend war, daß unter ihm überall
dasselbe wäre verstanden worden oder daß aus ihm heraus
ohne weiteres eine für die Steuerpraxis taugliche Besteuerungs-
form hätte abgeleitet werden können. Diesen Umstand erwähnt
auch IManes, doch berücksichtigt er ihn in seiner historischen
Darstellung der Entwicklung des Einkommensteuergedankens
und der Einkommensteuerprinzipien so wenig, daß gerade hier-
über sich aus seiner Arbeit keine Klarheit gewinnen läßt. So
viel aber steht fest, daß etwa seit 1780 in Zusammenhang mit
den aus der Schuldenpolitik entstehenden Fragen auch eine
allgemeine direkte Vermögens- oder Einkommensbesteuerung in
weiteren Kreisen erwogen und zum Gegenstand zahlreicher theo-
retischer und polemischer Abhandlungen gemacht wurde. Um
das Jahr 1797 stand der Einkommensteuergedanke durchaus im
Mittelpunkt des öffentlichen Interesses, wie aus den zahlreichen
Petitionen, Denkschriften und ausgearbeiteten Projekten hervor-
ging, in denen dieser Besteuerungsgedanke Pitt nahe gerückt
wurde.
Auf Grund von Studien, die Manes im Londoner Staats-
archiv in den Akten des Pitt sehen Ministeriums vornehmen
konnte, berichtet er in seiner Arbeit auch über die praktischen
Vorläufer des Pitt sehen Einkommensteuerentwurfs. Interessant
ist, daß man sich schon vor der Einführung des Triple Assess-
ment mit einem Projekt beschäftigte, das deutlich die Momente
einer wirklichen Einkommensbesteuerung enthielt, wie aus einem
Manuskript hervorgeht, das sich in den Pitt- Akten befindet
und das Manes auszugsweise mitteilt. In dem Manuskript, das
vom 21. Dezember 1797 datiert ist, wird eine ausführliche
Tabelle mit Einkommensklassen, dem prozentualen Steuerfuß
i) Manes, S. 142 ff., über die Finanzliteratur, und S. 175 ff., über
die Einkommensteuerprojekte aus dem englischen Staatsarchiv.
— 23 —
und dem zu zahlenden Steuerbetrag gegeben. In einem zweiten
von Manes mitgeteilten Manuskript wird zwar das Triple Assess-
ment noch weiterhin als Grundlage beibehalten, doch fordert
der Verfasser einen genauer bestimmten INIodus zur Erfassung
der verschiedenen Einkommensarten, um die Steuer wirksamer
zu machen. Auf demselben Standpunkte verharrt auch der
Verfasser eines anderen Manuskripts, indem er zur wirksameren
Durchführung der Steuer nur die Aufstellung einer alle Ein-
kommensarten umfassenden Tabelle vorschlägt. Wichtiger als
diese Vorschläge ist ein Manuskript, das, von einem Steuer-
beamten herrührend, mit einem ausgearbeiteten Plane einer
wirklichen Einkommensteuer hervortritt. Der Verfasser hebt
zunächst die Gerechtigkeit der direkten Besteuerung und die
Zweckmäßigkeit einer Einkommens- oder Vermögenssteuer her-
vor, erkennt aber auch als Haupthinderungsgrimd ihrer Ein-
führung die Schwierigkeit einer gerechten V^eranlagung an.
Er tritt aber trotzdem für die Steuer ein, denn : ,,Never was there
a more urgent necessity for every one to contribute according
to his power, and for property to show itself worthy of the pro-
tection it seeks." Um eine gerechte und doch wirksame Ver-
anlagung zu ermöglichen, schlägt er die Verbindung einer eid-
lichen Selbsteinschätzung mit der kontrollierenden Einschätzung
durch Kommissare vor, wobei das Einkommen auf Grund
der drei letzten vorausgegangenen Jahre berechnet werden
sollte 16).
Aus allen diesen Vorschlägen und zahlreichen Petitionen
ging schließlich der ausführlichere Vorentwurf hervor, den
Manes im Anhang seiner Arbeit vollständig mitteilt i'). Wir
können hier daraus nur das Wesentlichste hervorheben, das in
dem Vorentwurf der Absicht entsprechend steuertechnischer
Natur ist. In Anmerkungen von Pitts Hand wird dem Entwurf
ein ausführliches Verzeichnis aller Personen beigegeben, die
unter die Steuer fallen sollen, und in den ebenfalls beigefügten
Listen werden die Einkommensquellen genau spezifiziert. Der
Entwurf sieht Einkommensdeklaration und Steuerfreiheit für
Einkommen unter 60 £ vor. Für die Einkommen über dieser
Mindestgrenze schlug der Entwurf eine Progression des Steuer-
16) Manes, S. 180.
17) Manes, S. 211 ff. Anhang.
— 24 —
fußes nach Jlinkoiiimensklassen derart vor, daß der Steuerfuß
bei dem Mindesteinkommen von 60 £ ^/^oo tlcs Einkommens
betragen imd sich von da von 5 zu 5 £ Alchreinkommcn bis zu
i/iQ des jährhchen Einkommens, welcher Satz mit 200 £ er-
reicht wurde, steigern sollte. Einkommen über 200 £ sollten
zu einem Betrag, der io<^/o des Gesamteinkommens nicht über-
steigen sollte, getroffen werden. In den Anmerkungen zum
Entwurf wird die I'Linkommenseinteilung in Klassen von 60
bis 100 £, IOC bis 150 £ und 150 bis 200 £ abgeändert.
In allen diesen Vorentvvürfen läßt sich leicht als Ausgangs-
punkt der Bemühungen, zu einer neuen wirksamen Steuer zu
gelangen, das Triple Assessment erkennen, und die Aufgabe, vor
die Pitt sich gestellt sah, war einfach die, den Bcstcuerungsmodus
so auf das Steuerobjekt einzustellen, daß er es seinem ganzen
Umfange nach auch wirklich erfassen konnte. Daran war ja
das Triple Assessment gescheitert, daß trotz der Einführung des
Einkommensmerkmals breite Vermögensteile überhaupt nicht
unter die Steuer fielen oder doch leicht ihrer Wirkung ent-
rückt werden konnten. So tritt in den oben erwähnten Vorent-
würfen schrittweise das Bestreben hervor, das eigentliche Steuer-
objekt genauer zu bestimmen. Dabei verlieren die Veranlagungs-
steuern immer mehr an Bedeutung, während das eigentliche
Steuerobjekt, das Vermögen oder Einkommen, zwischen denen
übrigens zunächst ein wesentlicher Unterschied noch nicht ge-
macht wird, immer deutlicher hervorgehoben wird. In dem
Vorentwurf zur Pitt-Steuer sind die Assessed taxes dann gänz-
lich verschwunden und das Vermögen ist zum alleinigen und
ausgesprochenen Steuerobjekt geworden. Zwischen Vermögen
und Einkommen besteht dabei die Beziehung, daß das Ein-
kommen zunächst nur als sekundäre Erscheinungsform des
Vermögens, das die eigentliche Grundlage bildet, angesehen
wurde. Da aber die Leistungsfähigkeit sich mehr aus dem
Einkommen, als aus dem Vermögen herleiten ließ, so gewann
das Einkommen damit die Eigenschaft als Bemessungsgrund-
lage, nach der das Vermögen getroffen werden sollte. Von hier
aus gelangte man aber rasch zu der Erkenntnis, daß auch das
nicht aus Grund- oder Kapitalvermögen stammende Einkommen,
das sogenannte unfundierte Einkommen, ebenfalls eine Quelle
steuerlicher Leistungsfähigkeit sei, und so wurde das Einkommen
selbst zum direkten Bcstcucrungsobjckt gemacht. Diese dop-
— 25 —
pelte Beziehung des Einkommens einmal in seiner relativen Höhe
als Bemessimgsgrundlage und dann in seinem absoluten Betrag
als Steuerobjekt, spiegelt sich in der dauernd gebrauchten und
oft synonym vertauschten Doppelbenennung der neuen Steuer
als „Property and income tax" wieder.
Wenn damit das Steuerobjekt und die Bemessungsgrundlage
gefunden war, so ergab sich hieraus auch die Organisation der
neuen Steuer selbst. Das Steuergesetz mußte so gestaltet wer-
den, daß einmal alle Personen, die Vermögen besaßen oder Ein-
kommen bezogen, erreicht werden konnten, und daß zum andern
alle Quellen, aus denen Einkommen irgendwelcher Art floß,
auffindbar und erfaßbar wurden : ,,Our leading principle should
be to guard against all evasion, to endeavour by a fair and strict
application, to realise that füll tenth, which it was the original
purpose of the measure of the assessed taxes to obtain." Diese
Aufgabe suchte Pitt zu erreichen einmal: „by a more specific
Statement of income than the loose scale of modification" und
dann: „by measures, which reach those resources which it is
impossible under the present System of the assessed taxes to
touch"i8). Die schärfere Bestimmung des steuerpflichtigen Ein-
kommens erfolgte in einer Aufstellung, die alle erkennbaren Ein-
kommensquellen unter vier großen Gruppen zusammenfaßte und
in 19 Einzelzweigen aufzählte ^9). Außer dem steuerpflichtigen
Vermögen oder Einkommen wurden in der Pittschen Vorlage
auch die steuerpflichtigen Personen genau umschrieben. Das
einfache Prinzip dafür ist, der Steuer jede Person und jedes
Einkommen zu unterwerfen, das überhaupt durch die englische
Souveränität erfaßt werden konnte. In seiner Anwendung auf
die Personen bedeutet dieses Prinzip, daß der Steuerpflicht alle
in England wohnenden Personen unterworfen waren, gleich-
gültig, woher ihr Einkommen stammte, ob aus England oder
aus dem Ausland ; und in seiner Anwendung auf das Einkommen
bedeutete es die Besteuerung aller Einkommen, die aus England
stammten, gleichgültig, an wen oder wohin sie gelangten. Das
Mittel, dieses vielspältige und oft kaum erkennbare Objekt zu
erfassen, fand Pitt in der Einkommensdeklaration, die nach
18) Dowell, Histon-, III, S. 106 und Dowell, Inc. tax Acts, In-
troduction.
19) Pari. Hist. Vol. 34, col. 4 u. 5 (1798)-
— 26 —
einem vorgeschriebenen Fornuilar von jedermann gefordert
wurde -"j.
Als Bemessungsgrundlage der steuerlichen Leistungsfähig-
keit kam das Einkomnien durch die T3ildung abgestufter Ein-
kommensklassen mit verschieden hohem Steuerfuß zur Geltung.
Die Steuerfreiheit der jährlichen Gesamteinkommen unter 60 £
ergab sich nicht allein aus der Schwierigkeit, die kleinen und
kleinsten Einkommen überhaupt ohne unverhältnismäßige
Kosten zu erfassen, sondern auch aus den theoretischen Er-
wägungen über die Notwendigkeit, ein sogenanntes Existenz-
minimum unbesteuert zu lassen. Die prozentuale Abstufung des
Steuerfußes nach Einkommensklassen wurde übrigens nur für
Jahreseinkommen zwischen 60 und 200 £ vorgesehen, während
alle Einkommen über dieser Höhe mit dem vollen Steuerfuß von
10 0/0 des Gesamteinkommens getroffen werden sollten. In er-
gänzender Berücksichtigung der Leistungsfähigkeit und der ge-
samten steuerlichen Belastung wurden Steuemachlässe nach der
Kinderzahl des Steuerzahlers und für Versicherungen in der
Höhe der gezahlten Prämie gewährt. Anstalten und Gesell-
schaften mit gemeinnützigem Charakter blieben wie beim Triple
Assessment steuerfrei. So treten hier in der Einkommensteuer-
vorlage Pitts alle jene Momente, die wir schon im Triple Assess-
ment fanden, in einfacher Übertragung auf das neue Steuer-
objekt wieder hervor vmd bezeugen damit wiederum die mannig-
fache Abhängigkeit der Vorlage vom Triple Assessment.
Die Verwaltungsorganisation dtr Einkommensteuer wurde
der Landsteuer angegliedert, indem aus der Zahl der Steuer-
kommissare der Landsteuer die Kommissare der Einkommen-
steuer gewählt wurden. Nur für die großen Städte und für
London wurden eigene Kommissariate errichtet. Die untere Ver-
waltung der Einkommensteuer, die sich mit der Veranlagung des
Steuerbetrags und mit dem Steuereinzug zu befassen hatte, lag
in den Händen der ehrenamtlichen Lokalbehörden, da gerade
die Veranlagung zu dieser Steuer eine genaue Vertrautheit mit
den örtlichen Verhältnissen bedingte. Die Einkommensteuer
wurde übrigens nur für England eingeführt, da im Jahre 1799
20) Ein Abdruck des Dcklarationsformulars findet sich bei Do well,
Histon', III, S. 109.
— 27 —
die Vereinigung von Irland mit Großbritannien noch nicht er-
folgt war und Irland bis 1817 getrennte Finanzverwaltung besaß.
Aber auch finanzpohtisch bedeutet die Pitt sehe Einkom-
mensteuer den einfachen Ersatz des Triple Assessment. Pitt
hatte das jährliche Gesamteinkommen der britischen Bevölke-
rung auf 102 Millionen £ veranschlagt und danach ursprünglich
den Ertrag einer loobigen Einkommensteuer auf rund 10 Mil-
lionen £ berechnet. Später hat Pitt diese Berechnung modi-
fiziert und den Ertrag geringer (auf 7,5 Millionen) angesetzt.
Genau wie das Triple Assessment diente auch die Einkommen-
steuer nach dem bekannten Finanzprinzip dazu, das Anleihe-
soll so gut wie möglich zu verringern. Indem aber durch die
Aufhebung des Triple Assessment die 1797 vorgesehene Schul-
dentilgung unmöglich geworden wäre, trat auch in dieser Be-
ziehung die Einkommensteuer für jenes ein. Aber außer den
Verpflichtungen, die der Einkommensteuer an Stelle des Triple
Assessment aufgebürdet wurden, wurde sie auch mit der Ver-
zinsung und Tilgung nach ihrer Einführung aufgenommener
Schulden belastet 21).
Wie einst beim Triple Assessment, so war es auch bei dieser
Einkommensteuervorlage nur der Persönhchkeit Pitts zu dan-
ken, wenn die Vorlage innerhalb kürzester Zeit im Parlament
zur Annahme gelangte. Die Diskussion über die Vorlage för-
derte wesentlich Neues kaum zutage, und wenn auch dabei eine
Fülle von wirtschafthchen Einzelkenntnissen hervortrat, so zeigte
sich doch, daß für diese meist der Orientierungspunkt, der sie
zu einer Einheit zusammengefaßt hätte, fehlte. So fand die Vor-
lage, obwohl sie scharf und von allen Seiten bekämpft wurde,
doch nicht den Gegner, der Pitt ebenbürtig gewesen wäre.
Meist beruhte die Gegnerschaft auf der Abneigung gegen jede
direkte Besteuerung überhaupt, obwohl der direkte Charakter
der Einkommensteuer in den Debatten nur wenig betont wurde.
Oft gab auch eine hausbackene Gewinn- und Verlustrechnung
den Ausschlag zugunsten der oder gegen die Maßregel. Auch
im Oberhaus traten in der Debatte keine besonderen Gesichts-
punkte hervor, so daß die Vorlage mit unwesentlichen Ände-
rungen schon am 8. Januar 1799 angenommen wurde. Zu dem
Einkommensteuergesetz wurde später noch ein Amendement
21) Vgl. Pari. Hist., vol. 34,, col. 1580.
- 28 -
liinzugefügt, in dem die Aufzählung der Einkoinmensarten ent-
halten war 22).
§ 5-
Die Geschichte der K i n k o m m e n s t e u e r bis zum
Jahre 1 8 1 6.
Bevor wir auf die Bedeutung und den eigentlichen Charakter
der Einkommensteuer in ihrer ersten Existenzperiode, die i8i6
mit der Aufhebung der Steuer endigte, eingehen, geben wir hier
den Verlauf ihrer äußeren Geschichte bis zu jenem Zeitpunkt
wieder. Die Pitt-Steuer erfüllte zunächst die Erwartungen, die
Pitt von ihr gehegt hatte, keineswegs, sondern blieb um etwa
iVo Millionen £ hinter dem geschätzten Ertrag zurück 23 j. Vor
allem aber traten die der Organisation der Steuer anhaftenden
Eigentümlichkeiten, wie sie mit der Deklarationspflicht ver-
bunden waren, in ihrem scharfen Gegensatze zu den indirekten
Steuern äußerst unbequem hervor und machten die Steuer, die
bald als „inquisitorial" verschrieen wurde, völlig verhaßt. Schon
im ersten Jahre nach der Einführung der Einkommensteuer
machten sich deshalb im Parlament Bestrebungen geltend, die
Dauer der Steuer so festzulegen, daß ihre Verwendung über die
Kriegszeit hinaus unmöglich gew^orden wäre, obwohl Pitt über
ihren Ertrag zur Verzinsung und Tilgung neu aufgenommener
Schulden auch über einen Friedensschluß hinaus auf Jahre ver-
fügt hatte. Der Friede von Amiens im Mai 1802 und der vor-
ausgegangene Rücktritt Pitts vorn Ministerium gab den Geg-
nern der Einkommensteuer leichtes Spiel, die verhaßte Steuer
rasch zu beseitigen. Als Grund der Aufhebung hob der Nach-
folger Pitts, Ad dington, hervor, daß die Steuer als Kriegs-
steuer eingeführt worden sei und als Mittel zur Deckung eines
kommenden Kriegsbedarfs in vorsichtiger Reserve gehalten
werden müsse. Zudem sei die drückende Last der Steuer nur
durch die außergewöhnlichen Anforderungen einer Kriegszeit
22) Die Benennung des Einkommensteuergesetzes ist Act. 39, Geo. III,
13, die des Amendements Act. 39, Geo. III, c. 22.
23) Die Erträge der Einkommensteuer waren :
1799 2.690 Millionen £,
1800 4,513
1801 5,804 „ „
— 29 —
zu rechtfertigen, während sie als dauernde Friedenssteuer un-
erträghch sei. Der durch die Aufhebung der Einkommensteuer
entstandene Eiimahmeausfall wurde durch eine Vermehrung
der Zölle und der Verbrauchsteuern sowie durch eine Erhöhung
der Aufwandsteuern ausgeglichen.
Schon im folgenden Jahr brach der Krieg zwischen England
und Frankreich aufs neue aus, so daß Addington sich ge-
zwungen sah, seine Zuflucht doch wieder zu einer Einkommen-
steuer zu nehmen, deren Steuerfuß allerdings auf 50/0 herab-
gesetzt wurde. Die Pitt-Steuer hatte jedoch zu große Gegner-
schaft gehabt, als daß Addington sie ohne weiteres wieder
in ihrer ursprünglichen Form hätte einführen können. Der
Haupteinwand gegen die Pitt-Steuer hatte sich gegen die
zwangsweise Deklaration des Gesamteinkommens gerichtet, die
dem freien Engländer als unerträgliche „disclosure" seiner pri-
vaten Verhältnisse erschien, und zweifelsohne war auch die De-
klarationspflicht wesentlich an den häufigen Steuerhinterziehungen
und dem dadurch verursachten Ertragsausfall mit schuld gewesen.
So ließ Addington die Deklarationspflicht fallen und führte
jenes Prinzip ein, das man als ,, Erfassen an der Quelle" (stop-
page at the source) bezeichnet. Dieses Prinzip bedeutet zunächst
nichts weiter, als daß das Einkommen nicht in seiner Vereini-
gung mehrerer Einkommenszweige zum Gesamteinkommen einer
Person veranlagt wurde, sondern daß jedes Teileinkommen mit
seinem Betrage dort erfaßt wurde, wo es zuerst entstand. In-
dem man aber dieses Prinzip auf die Pitt sehe Einkommensteuer
anwandte, wurde der Charakter derselben völlig verändert. Die
vorher durchaus einheitliche und durch die Ermittlung des Ge-
samteinkommens, an welches allein der Steuerfuß angelegt
wurde, in sich geschlossene Einkommensteuer, zerfiel jetzt nach
der Zahl aller möglichen Einkommensquellen in eine Reihe
von Einzelsteuern, die durch nichts als einige einheithche Be-
stimmungen, die für alle Teilsteuern galten, zusammengehalten
wurden. Steuergesetzlich fand diese Änderung in der Auf-
stellung der fünf sogenannten „schedules" ihren Ausdruck. In
der Pitt-Steuer diente die x\ufzählung der Einkommensarten
vornehmlich nur dazu, den Wirkungsbereich der Steuer zu um-
schreiben und die verschiedenartigsten Einkommensteile, die ein
Gesamteinkommen bildeten, ausnahmslos der Steuer zu unter-
werfen. Während so diese Aufzählung mehr einen beschreiben-
— 30 —
den Charakti-r trug, bedeuteten in dem neuen Steuergesetz die
,,schedules", obwohl bie inhaltlicii mit der alten Aufzählung fast
übereinstimmten, nunmehr in sich selbständige Teile des Stcuer-
gesetzes, die ihr eigenes Steucrobjekt hatten. Dabei erfolgte
gegenüber der Pitt-Steuer eine Ausdehnung der Steuerpflicht
auf eine Einkommensquelle, die man bisher von jeder Besteue-
rung ängstlich ausgenommen hatte. Es handelt sich hier um Ein-
k(»mmen, die sich aus der Kapitalanlage in Anlcihepapieren er-
gaben, denen bisher ausdrücklich Freiheit von jeder Besteuerung
zugesichert worden war, um die Unterbringung der Anleihen
sicher zu stellen. Ad dington hatte gleichzeitig mit seinem
Einkommensteuerentwurf eine zweite Vorlage eingebracht,
welche die Einkommen aus dieser Quelle einer gesonderten Be-
steuerung unterwerfen sollte. Dieser Zerlegung der Einkommen-
steuer in zwei auch äußerlich getrennte Steuern widersetzte sich
jedoch Pitt mit dem Erfolg, daß Addington diese Vorlage
zurückzog und zum Ersatz dafür in seiner Einkommensteuervor-
lage unter schedule C. nunmehr auch die Einkommen aus An-
leihepapieren der Besteuerung unterwarf. Ausgenommen wur-
den, und zwar wieder auf Pitts Anregung hin, von der Be-
steuerung nur die ausländischen, nicht in England lebenden
Inhaber englischer Staatspapiere, um die Unterbringung eng-
lischer Anleihen im Auslande nicht zu gefährden.
Durch die Einteilung der Steuer in die fünf schedules waren
die Teilsteuern zu einem guten Teil auch vom Personalmerkmal
unabhängig geworden, indem sie sich direkt an das Einzelobjekt
anschlössen, und dadurch verloren sie auch den Charakter einer
wirklichen Einkommensteuer und wurden zu einer Form der
Ertragsbesteuerung, wenn auch einzelne Einkommensteuer-
momente in der Gesamtsteuer noch erhalten geblieben sind. Der
Charakter als Ertragssteuer tritt besonders in jenen Einkommens-
gruppen hervor, die durch das Prinzip, das Einkommen an der
Quelle zu erfassen, von der Personalbeziehung fast völlig frei
wurden. Das ist besonders deuthch bei den Erträgen aus Grund-
und Hausbesitz, die unter den schedules A. und B. verzeichnet
waren und bei den unter schedule C. aufgeführten Kapital-
erträgen. Dagegen tritt die persönliche Beziehung und damit
auch der Einkommensteuercharakter bei den unfundierten Ein-
kommen unter den schedules D. und E. auch in der Fassung
des A dding t onschen Steuergesetzes deutlicher zutage.
— 31 —
Hergestellt wurde die Einheit der Gesamtsteuer erst wieder
durch die Deklaration des Gesamteinkommens für Einkommen
unter 60 £, denen Steuerfreiheit auf den Nachweis hin gewährt
wurde, daß das Einkommen aus allen fünf schedules zusammen"
die Summe von 60 £ nicht überstieg. Ebenso galt die Gesamt-
deklaration für Einkommen zwischen 60 und 1 50 £, für die eine
Steuerermäßigung vorgesehen war. Die Ermäßigung richtete
sich nach der Höhe des Einkommens und wurde derart be-
rechnet, daß ein Steuerfuß angelegt wurde, der bei dem Min-
desteinkommen von 60 £ 1^/4 0/0 betrug und bei 150 £ den vollen
Satz von 50/0 erreichte. Die Steuernachlässe nach der Kinderzahl
der Steuerpflichtigen wurden außerdem auch nach der Ein-
kommensgröße abgestuft.
Die Verhandlungen über die Vorlage Addingtons, die
am 13. Juni 1803 eingebracht wurde, bezogen sich wesentlich
auf die technische Gestaltung, während prinzipielle Gesichts-
punkte kaum hervorgehoben wurden, da die Steuer als Kriegs-
steuer, die man als notwendiges Übel anerkannte, von Ad ding-
ton gefordert wurde. Rein äußerlich trat der Umstand, daß
man die Steuer als Vermögenssteuer, die nur durch die Kriegs-
lage gerechtfertigt werden konnte, auffaßte, in der beharrlichen
Benennung der Steuer als ,,property tax" hervor, während die
Pitt-Steuer ihr als ,,income tax" in den Debatten gegenüber-
gestellt wurde. Eine Definition beider Begriffe, durch welche
die Gegenüberstellung gerechtfertigt worden wäre, findet sich
jedoch weder im Steuergesetz selbst, noch wurde sie in den De-
batten aufgestellt. Nach längeren Kommissionsberatungen
wurde die Vorlage am i. August 1803 angenommen 2^).
Der Ertrag der neuen Steuer war mit 4,5 Millionen £ in das
Budget eingesetzt worden. Ihr wirklicher Ertrag sank aber schon
im folgenden Jahr beträchtlich unter diese Schätzungsziffer
und Pitt erhöhte deshalb 1805 den Steuerfuß von 50/0 auf
öi/gO/o, ohne jedoch etwas an der Steuer selbst zu ändern.
Wesentliche Änderungen in der Organisation der Steuer er-
folgten dagegen im Jahre 1806 unter dem neuen Ministerium
24) Das neue Steuergesetz ist Act. 43, Geo. III, c. 122.
S. dazu Dowell, Inc. tax Acts, Introd., S. 51 ff.
History, III, S. iioff.
Publ. Inc. a. Exp. 1869. II, S. 425.
Pari. Hist. vol. 36, col. 1 595/16262,
— 32 —
Grrn\ illf clurt h cU-n I'iiianzinini^tcr Henry l'clty. Pcttys
finanzpolitischer Stancli)unkl war im ("irundc dem von l^iti \er-
trctencn durcliaus gleich. Im Ijesonderen aber diente der Stand
der Staatsschulden auch ihm als Orientierungsgrund. In seiner
Budgetrede vom 28. .März 1806 2^) brachte Petty seine Über-
einstimmung mit der von Pitt eingeschlagenen Schuldenpolitik
zum Ausdruck und schritt durchaus im Sinne der Pitt sehen
Finanzpolitik weiter, wenn er das Addingtonsche Steuer-
jgesetz durch neue Modifikationen wirksamer und die Steuer
durch eine Erhöhung des Steuerfußes auf loo/o ertragreicher zu
gestalten suchte. Demgemäß setzte er die Befreiungsgrenze
auf 50 £ jährlichen Gesamteinkommens herab und beschränkte
die Steuerfreiheit auf Arbeitseinkommen aus Tag- oder Wochen-
löhnen. Damit kam, wenn auch in enger und sehr schüchterner
Weise, ein Entwicklungsmoment zum Ausdruck, das auf der ver-
schiedenen Leistungsfähigkeit des fundierten und des unfun-
dicrtcn Einkommens beruht, das aber zunächst nicht zu weiterer
Durchführung gelangte. Das System der Steuerermäßigung für
Einkommen zwischen 50 und 150 C wurde ebenfalls abgeändert.
Die bisherige Einteilung in Einkommensklassen mit prozentual
abgestuftem Steuerfuß wurde aufgegeben und eine gleich-
förmigere Progression des Steuerbetrags in der Weise erreicht,
daß von dem Einheitssatz von loob für jedes £, um welches
das veranlagte Einkommen unter i 50 £ blieb, ein fester Steuer-
abzug von I sh gewährt wurde. Die Steuerermäßigung, welche
bisher den Steuerpflichtigen mit mehr als zwei Kindern gewährt
worden war, wurde auf alle Familien mit Kindern ausgedehnt,
dagegen wurden Steuerabzüge für Versicherungsprämien auf
Personen mit Einkommen unter 150 £ beschränkt-*^).
In dieser Gestaltung verblieb die Einkommensteuer, die
übrigens durch Petty den Namen property tax erhielt, unver-
ändert bis zu ihrer Aufhebung. Dagegen machte die Steuer in
den folgenden Jahren gewissermaßen eine negative Entwick-
lung durch, indem die öffentliche Meinung sich immer schärfer
und allgemeiner gegen sie richtete und auf ihre Abschaffung
25) Hansard, I. vol. 6, col. 565.
26) Act. 46, Geo. III, c. 65 (1806).
S. dazu Dowell, Inc. tax Acts, Intr. S. 55.
Hansard, I. vol. 6, col. 564ff. und vol. 7, col. 5off.
JJ)
drang. Im Parlament breitete sich die Gegnerschaft mit jeder
neuen Budgetdebatte weiter aus, und es waren einzig die dauernd
gesteigerten Bedürfnisse des langwierigen Krieges gegen Na-
poleon, welche diese Steuer, deren Ertrag doch nich^t entbehrt
werden konnte, am Leben hielten. Im folgenden werden wir
auf die finanzpolitische Wirkung der Steuer bis zu ihrer Ab-
schaffung, auf ihren Charakter während dieser Zeit und auf die
Gründe einzugehen haben, die schließlich ihre Abschaffung
herbeiführten.
§6.
Die finanzpolitische Wirkung der Einkommen-
steuer und ihr Charakter in der ersten Existenz-
p e r io d e.
Um die Grundzüge der Finanzentwicklung in; England
von 1798 bis 18 16 zu erkennen, bedarf es nur noch einmal der
kurzen Erwähnung, daß sie sich völlig in einer Kriegszeit voll-
zog, welche an die finanziellen Kräfte des Landes die größten
Anforderungen stellte. Während Napoleon aus seinen besiegten
Gegnern selbst wieder die Mittel herausziehen konnte, sie in
Abhängigkeit zu halten und neue Siege zu erringen, sah sich
England zeitweise nicht nur auf sich selbst dem großen Feind
allein gegenübergestellt, sondern befand sich oft auch in der
Lage, seine finanziellen Kräfte zur Stärkung seiner unterlegenen
Verbündeten anstrengen zu müssen. Es leuchtet demnach ohne
weiteres ein, daß den Grundzug der Finanzentwicklung in
dieser Zeit eine ungeheure Ausgabensteigerung bilden mußte.
Diese fällt denn auch mit ihrem weitaus größten Teil den
durch den Krieg hervorgerufenen Militär- und Flottenausgaben
zur Last. Aber auch die Wirkung der noch immer beträcht-
lichen Inanspruchnahme des Staatskredits zur Bedarfsdeckung
zeigt sich auch hier wieder in der erheblichen Zunahme der
durch den Schuldendienst erforderten Ausgaben. Demgegen-
über aber läßt sich als zweiter Grundzug der Finanzentwick-
lung in dieser Epoche auch eine der Bedarfsvermehrung ent-
sprechende Zunahme der ordentlichen Einnahmen feststellen,
und zwar gestaltete sich diese so, daß der Mehrbedarf voll-
ständig durch die Mehreinnahmen gedeckt wurde, wie aus der
folgenden Tabelle hervorgeht.
Zeitschrift für die ges. Staatswissensch. Ergänzungsheft 48. 3
— 34 —
Tab. 1. ibcrl)l)ck ülxr die Bedarfsdeckung wälirt-nd des fran-
zösisclun Kriegs.
In den
lo Jahren von
btlrugen die Ausgaben in
Millionen £.
Davon
gedeckt
wurden
durch
Un-
für Heer
und
Mari ne
für
Schuld. -
Dien.st
ins-
gesamt
dauernde
Ein-
nahmen
durch d.
Eink.-
Steuer
gedeckt
blieben
1797 — 1806
1807 — 1816
Zu- oder
Abnahme
283.5
505.5
-|- 222,0
162,5
231.0
+ 68,5
490,0
811,5
+ 321,5
306. 5
548,0
+ 241,5
25,0
122,0
+ 97.0
158,5
141,5
— 17.0
So wurde mit anderen Worten infolge der Anwendung
des Pitt sehen Finanzprinzips die Schuldenvermelirung zwar
nicht vermieden, aber doch auf ein normaleres Verhältnis redu-
ziert. Es ist klar, daß die Einnahmesteigerung, durch welche
dieser Erfolg erzielt worden war, nicht mit einer einzigen
Steuer erreicht werden konnte. Die Bedeutung der Einkom-
mensteuer für diese Zeit kann deshalb auch nicht die sein,
daß sie als sogenannte ,, Kriegssteuer" den durch den Krieg
hervorgerufenen Mehrbedarf allein oder auch nur zum größten
Teil aufgebracht hätte. Wesentlich ist vielmehr, daß die Ein-
kommensteuer als ein Teil der Einnahmengewinnung in das
Finanzsystem eingefügt wurde, der diejenigen Quellen steuer-
licher Leistungsfähigkeit erfaßte, die bisher in dem einseitig
indirekten System der Besteuerung entgangen waren. Erst in
zweiter Linie kommt dann der Umstand zur Geltung, daß eben
nur durch die Einreihung dieses* Gliedes das Besteuerungs-
system umfassend genug wurde, um die Verwirklichung des
Pitt sehen Finanzprinzips zu ermöglichen. Der wahre Cha-
rakter der englischen Einkommensteuer der ersten Periode
wird demnach nicht erfaßt, wenn man sie schlechthin als
,, Kriegssteuer" charakterisiert. Im Zusammenhang mit dem
ganzen Steuer- und Finanzsystem betrachtet, erscheint sie
wesentlich als Ergänzungssteuer und diesen Charakterzug trifft
Leroy-Beaulieu vollkommen richtig, wenn er ihn folgen-
dermaßen beschreibt: ,,L'imp6t sur le revenu est essentielle-
ment une taxe compl^mentaire, une taxe d'appoint et de com-
pensation, qui est destinee ä retablir la justice dans un Systeme
fiscal et ä demander aux classes aisees et riches un Supple-
ment de contribution, parce que ces classes ont ete trop mena-
J3
gees par les impots indirects" 27j, Freilich ist es nicht so, daß
die Einkommensteuer solchen Erwägungen ihre Einführung
verdankte, sie ist vielmehr, wie B a s t a b 1 e hervorhebt, wie alle
Steuern der Notwendigkeit entsprungen ^Sj. Das hindert aber
durchaus nicht, daß sie, sobald sie einmal in das System ein-
geführt war, als Ergänzungssteuer wirkte, und als solche die
Gesamtstruktur des Finanzsystems in dieser Zeit gegenüber
der Zeit ohne Einkommensteuer völlig veränderte. Die in-
direkten Steuern bilden zwar noch immer die Grundlage des
Steuersystems, daneben aber ist ausgleichend und ergänzend
die direkte Besteuerung getreten. Dabei tritt nun allerdings
jenes Merkmal an der Einkommensteuer hervor, das ihre
speziellere Bezeichnung als ,, Kriegssteuer" rechtfertigt. Die
Steuer wurde nicht als dauerndes Glied dem System einver-
leibt, sondern nur auf die Dauer des Krieges beibehalten. Es
verhält sich hier aber durchaus nicht so, als ob die Steuer
schon von Pitt ausdrücklich nur als Deckungsmittel des
Kriegsbedarfs eingeführt worden sei. Die finanziellen Funk-
tionen, mit denen Pitt die Steuer betraute, nämlich die
Deckung eines Teils des laufenden Bedarfs und die Verzinsung
und Tilgung neuer Anleihen, lassen vielmehr Pitts Absicht
vermuten, die Steuer dauernd beizubehalten ^9). Die Stellung-
nahme Pitts zur direkten Besteuerung überhaupt wird aus
einer Antwort erkennbar, die er in der Debatte vom 18. Fe-
bruar 1805 gab, als ein erheblicher Ausfall der Verzehrssteuern
zu der Vermutung Anlaß bot, daß diese an der Grenze ihrer
Ertragsfähigkeit angelangt seien: ,,With regard to direct taxes
certainly they are more inconvenient, but they are also more
economical than taxes upon consumption. The best writers
on the subject have said of direct taxes that they are more
inconvenient in the collection than doubtful in the principle;
and it would be most desirable to levy direct than indirect
taxes, if peculiar circumstances did not render that far from
practicable in the whole extension of a nation's wants"'^").
27) Lero y-Beaulieu, Finances, I. S. 442.
28) Bastable, Finance, S. 477.
29) Vgl. hierzu Pari. Hist. vol. 34, col. 15 19, wo die Befürchtung aus-
gesprochen wird, daß durch die Pittschen Maßregeln die Einlcommen-
steuer dauernd gemacht würde.
30) Hansard, I., vol. 3, col. 556.
3*
36 -
Aus diesen Worten klingt eine starke Neigung zur direkten
Besteuerung heraus, die es nicht als sehr wahrscheinlich er-
scheinen läßt, daß Pitt die Einkommensteuer so leichten
Kaufes wieder aufgegeben hätte. Dagegen ist die Steuer von
Addington durchaus in dem Sinne als Kriegssteuer auf-
gefaßt und behandelt worden, daß sie nur und ausschließlich
als Deckungsmittel des durch einen Krieg hervorgerufenen
Mehrbedarfs und als Ersatz der sonst zu diesem Zweck er-
forderlichen Anleihen Geltung hatte. Die Einkommensteuer
der ersten Periode war demnach nur ihrer äußeren Veran-
lassung nach eine Kriegssteuer. Finanzpolitisch ist sie als
Ergänzungssteuer zu betrachten, insofern sie bisher unberührte
Steuerquellen erschloß und eine gerechtere Verteilung der
steuerlichen Belastung herbeiführte. Rein finanziell betrachtet,
wirkte sie als eine Zusatzsteuer, durch welche der unzuläng-
liche Ertrag der übrigen Besteuerung erhöht und die Durch-
führung des Pitt sehen Finanzprinzips allererst ermöglicht
wurde.
Wie die Einführung der Einkommensteuer demnach durch
den Krieg nur veranlaßt, keineswegs aber einzig bedingt war,
so bildete auch die Beendigung des Krieges wiederum nur
den Anlaß zur Aufhebung der Steuer. Mit dem Aufhören des
Kriegsbedarfs und bis zur allmählichen Reduktion der Aus-
gaben auf einen normalen Friedensetat wurde natürlich all-
jährlich ein gewisser Betrag der dauernden Einnahmen frei,
der zur Erniedrigung oder zur Aufhebung drückender Steuern
verwandt werden konnte. Daß als erste aller während der
Kriegszeit eingeführten Steuern die Einkommensteuer fiel, wird
nun keineswegs dadurch erklärt, daß man die Steuer als Kriegs-
steuer betrachtet, denn diese Bezeichnung kann mit der glei-
chen Berechtigung von einer ganzen Anzahl anderer Steuern
gebraucht werden, die in der Zeit des großen Kriegs ein-
geführt wurden, ohne deshalb sofort nach seiner Beendigung
gleich der Einkommensteuer abgeschafft zu werden.
Ebensowenig wie in dieser rein äußerlichen Eigenschaft
der Einkommensteuer scheint der letzte Grund "zu ihrer Auf-
hebung in der Art ihrer Organisation zu liegen. Es ist zwar
klar, daß die innere Ungerechtigkeit und Ungleichheit der
Steuer schroff genug hervortraten, um eine Gegnerschaft gegen
diese Form der Einkommensbesteuerung zu begründen. Aber
— 37 —
diese Gegnerschaft konnte sich nicht wohl allein gegen die
Form der Steuer richten, denn das Parlament, welches die
Steuer einführte und wieder abschaffte, hätte auch eine gründ-
liche Reform der Steuer durchzuführen vermocht. Das psycho-
logische Motiv dafür, daß die in der Steuer liegenden Ent-
wicklungsmomente nur in der Richtung der Ertragssteige-
rung, nicht aber nach der Richtung eines auf den Forderungen
der Theorie beruhenden inneren Ausbaus zur Geltung kamen,
ist leicht zu erkennen. Das liegt einerseits darin, daß man
von der Steuer nur einen möglichst hohen Ertrag erwartete
und andererseits darin, daß man sie ähnlich wie die fran-
zösischen Zwangsanleihen ^i), als ein momentanes Opfer be-
trachtete, das in der Zeit höchster nationaler Not die reicheren
Schichten des Volkes dem Vaterland darbrachten. Von diesem
Gesichtspunkt aus läßt sich denn auch der wahre Grund da-
für, daß gerade die Einkommensteuer wieder fallen mußte,
erkennen. Das primäre Moment, gegen das sich die allgemeine
Gegnerschaft richtete, ist das von der Einkommensteuer er-
faßte Steuerobjekt selbst. Alle anderen Momente, die man
in der Debatte naturgemäß in den Vordergrund schob, weil
sie einen viel besseren Angriffspunkt boten, sind sekundärer
Natur. Die althergebrachten Besteuerungsgrundsätze, die sich
an das Ausgabeprinzip anschlössen und eine Ausdehnung der
Besteuerung auf möglichst viele Objekte forderten, waren noch
zu tief gewurzelt, als daß man das in der Einkommensteuer
verkörperte neue Besteuerungsprinzip nach dem Einkommens-
merkmal allgemein anerkannt hätte. Dazu kam die theoretische
Überzeugung der damaligen Nationalökonomie und Steuer-
lehre, daß eine Besteuerung des Vermögens oder des Ein-
kommens eine dauernde Verminderung des Nationaleinkom-
mens bedeutete, so daß man Einkommen und Vermögen über-
haupt nicht als steuerbares Objekt betrachten könne. Er-
gänzend wirkt in dieser Hinsicht noch der Umstand, daß im
englischen Parlament doch nur die wohlhabenderen Schichten
der Bevölkerung, die von der Einkommensteuer wie von einer
ihnen auferlegten Sondersteuer betroffen wurden, vertreten
31) Manes macht S. 205 ff. auf diese Analogie aufmerksam. Eine
direkte Abhängigkeit der englischen Einkommensteuer von den französi-
schen Zwangsanleihen ist aber nicht anzunehmen.
- 38 -
waren, während die unteren Schichten, die zwar zur J:Lin-
kommensteuer kaum beitrugen, dafür aber den Druck der
indirekten Besteuerung umso schwerer empfanden, im Parla-
ment überhaupt keinen EinfUiß hatten.
Schheßhch muß man sich auch hier von der Vorstellung
freimachen, als ob beim Eintritt einer neuen Idee diese in
voller Deutlichkeit, so wie sie sich am Ende einer langen Ent-
wicklung dem Beschauer enthüllt, auch denen vorgeschwebt
habe, die sie zuerst vertraten. Es sind die Ausnahmefälle in
der Geschichte und nur die Anfangspunkte ganz umfassender
Entwicklungsreihen, deren Idee überhaupt vorausgeschaut wird.
In allen anderen Fällen aber tritt das Neue in Abhängigkeit
vom Alten, längst Bestehenden und wirkt zunächst durchaus
in den Bahnen und Formen des Alten, um erst nach langer
Entwicklung über diese hinauswachsend in- der ihm eigentüm-
lichen Form erkennbar zu werden. So ist es mit der Ein-
kommensteuer gewesen, die sich zunächst im Triple Assessment
in die alten Formen hüllte und in der Pitt- Steuer noch in
starker Abhängigkeit von diesem stand. Die neue Idee, der
die alte Form unangemessen war, zeigte sich hier jedoch noch
zu schwach, um sich selbständig loszulösen, so daß ihre Ver-
wirklichung in dieser Periode scheitern mußte, und darin liegt
der tiefere Grund, der die Einkommensteuer zum Fall brachte,
nachdem die Notwendigkeit, die sie bisher allein stützte, mit
dem Friedensschluß in Wegfall kam.
§7.
Die Beseitigung der Einkommensteuer 1816.
Mit dem Jahre 181 5 hatte der große weltgeschichtliche
Kampf der europäischen Nationen durch die endgültige Nie-
derlage Napoleons seinen Abschluß gefunden. Auf dem Konti-
nent war damit das europäische Gleichgewicht in der Macht-
verteilung der führenden Staaten wieder hergestellt, für Eng-
land dagegen bedeutete der Sieg über Napoleon und über
Frankreich, den alten politischen und wirtschaftlichen Rivalen,
die Sicherung seiner absoluten Vormachtstellung in der Welt-
politik des 19. Jahrhunderts. Aber wie für die kontinentalen
Mächte war auch für England die erste Forderung des Tages
nicht die einer extensiven Machtentwicklung, sondern die einer
— 39 —
Festigung der durch die lange Kriegsdauer zerrütteten inneren
Verhältnisse. Freilich war England während des ganzen Krie-
ges von einer territorialen Verheerung verschont geblieben, da
der Feind englischen Boden nie betreten hatte. Auch die
innerstaatliche Entwicklung des Inselreichs war im Gegensatz
zu den kontinentalen Mächten durch den Verlauf und den
Ausgang des Kriegs wenig beeinflußt worden. Nur nach einer
Richtung hin brachten die folgenden Jahre eine innere Fort-
entv/icklung von höherer Bedeutung, die Parlamentsreform,
die den neuen Verhältnissen entsprechend eine Ausdehnung des
parlamentarischen Prinzips anstrebte und bis zum Jahre 1830 hin
einen bald mehr bald minder heftigen Kampf der Parteien ver-
ursachte. Daneben vollzog sich der riesenhafte Neubau des
englischen Wirtschaftslebens, durch den die politische Vor-
machtstellung Englands auch nach der wirtschaftlichen Seite
hin ausgedehnt wurde. Unter der Förderung der national-
ökonomischen Literatur begann die Freihandelsidee ihren neu-
gestaltenden Einfluß auf allen Gebieten des Wirtschaftslebens
auszuüben und im Zusammenhang mit dieser Entwicklung ge-
langte die sozialpolitische Gesetzgebung und die modernere
Ausgestaltung des Zivil- und Strafrechts zur Durchführung.
Die Fabrik- und Armengesetzgebung sind die bedeutsamsten
Ergebnisse dieser Entwicklung.
In steter und enger Wechselwirkung zu den hier ange-
deuteten Entwicklungsreihen steht die Fortbildung der eng-
lischen Finanzen nach der Wiederherstellung des Friedens.
Für die aligemeine Finanzlage im Jahre 18 16 bildet die dauernde
starke Erhöhung des Finanzbedarfs das wesentlichste Ergebnis
des fast 25 jährigen Kriegs. In den zehn Friedensjahren nach
dem nordamerikanischen Unabhängigkeitskrieg hatten die Aus-
gaben im jährlichen Durchschnitt 19 ^Millionen £ betragen.
Dieser Durchschnitt war in der ersten Hälfte des französischen
Kriegs auf 49 Millionen £ und in der zweiten Hälfte auf
81 Millionen £ gesteigert worden. Es ist klar, daß die Re-
duktion des Kriegsbedarfs auf einen normalen Friedensstand
eine Reihe von Jahren erforderte, da die Nachwirkungen des
Kriegs nicht sofort aufhörten. Immerhin aber betrugen die
durchschnittlichen jährlichen Ausgaben im ersten Jahrzehnt
nach dem Friedensschluß noch 61 Millionen £ und in den
beiden folgenden Jahrzehnten 53 Millionen £. Diese Steige-
— 40 —
rung drr dauernden Ausgaben ist sovvolil auf eine dauernde
Erhöhung der niiliiärischen Aufwendungen und derjenigen der
Zivilverwahung als auch auf die erhebhche Steigerung der
durch den Krieg vermehrten Schuldenlast zurückzuführen.
Von diesem Stand des jährlichen Staatsbedarfs muß man
ausgehen, um die Finanzpolitik zu verstehen, die nach dem
Frieden eingeschlagen wurde; denn der im Vergleich zur letz-
ten Friedensperiode ungewöhnlich hohe Friedensbedarf mußte
den Wunsch wachrufen, diesen Bedarf auf jede Art und Weise
zu verringern, um dadurch die drückende Schuldenlast zu er-
leichtern. Von Anfang an bestand nun im Parlament die
ausgesprochene Überzeugung, daß die Regierung zu einer Be-
darfsverminderung gezwungen werden könnte, wenn man ihr die-
jenigen Einnahmequellen verschloß, deren Ergiebigkeit und
leichte Ausnutzungsmöglichkeit zu weiterer Bedarfssteigerung
verleiten könnte. So stellte sich das Parlament auf den Stand-
punkt, daß eine Erleichterung in der steuerlichen Belastung
nur durch eine umfassende Steuerreduktion erreicht werden
könnte. Hierin liegt ein weiteres Motiv, das zur Aufhebung der
Einkommensteuer drängte, da diese als dauernde Finanzquelle
am leichtesten eine Politik der Ausgabensteigerung gestützt
hätte 32).
Die Regierung nahm einen entgegengesetzten Standpunkt
ein, obwohl auch sie die Notwendigkeit einer Bedarfsverminde-
rung durchaus anerkannte. Diese ließ sich aber nur auf zwei
Wegen erreichen: einmal indem durch eine wirksame Schul-
dentilgung die Schuldenlast verringert wurde, und zum andern,
indem das ganze Steuersystem einer durchgreifenden Reform
unterzogen wurde, durch welche die Erhebungskosten herab-
gemindert und der relative Ertrag der Steuern erhöht wurde.
Um die Durchführung dieser doppelten Absicht zu sichern,
forderte der Finanzminister V a n s i 1 1 a r t die Fortsetzung der
Einkommensteuer, indem er der Auffassung entgegentrat, daß
diese Steuer nur als Kriegssteuer mit der Verpflichtung, sie
nach der Beendigung des Kri-egs wieder abzuschaffen, ein-
geführt worden sei. Durch Verbesserungen des Einkommen-
steuergesetzes und des Veranlagungsmodus sollte übrigens den
Einwänden, die sich weniger gegen das Einkommensteuer-
32) Hansard, I., vol. 32, col. 389.
— 41 —
prinzip als gegen die bestehende Organisation der Steuer rich-
teten, wirksam begegnet werden.
Die Notwendigkeit, die Steuer beizubehalten, ergab sich
noch von einem anderen Gesichtspunkt aus. Als leitendes
Finanzprinzip stellte Vansittart die unbedingte Vermeidung-
neuer Anleihen auf, um eine allmähliche Erholung des fast
erschöpften Staatskredits zu ermöglichen. Da sich als Folgen
des Kriegs noch immer außerordentliche Ausgaben notwendig
machten, die nach Wegfall der Einkommensteuer durch die
verbleibenden dauernden Einnahmen nicht gedeckt werden
konnten, so machte sich die Fortsetzung der Steuer auch not-
wendig, um diesem zeitweiligen Bedarf begegnen zu können.
So gelangte die Regierung zu dem Antrag, die Einkom-
mensteuer zu dem Satz von 50/0 noch auf eine bestimmte Zeit
beizubehalten, und Vansittart faßte bei der Einbringung
dieses Antrags am 18. März 18 16 die dafür maßgebenden
Gründe folgendermaßen zusammen: ,,The passing of this bill
would facilitate most materially the Operations of the whole
financial machine of the country: while the property tax was
affording a temporary supply to a temporary want, that ma-
chine, of late years much desorganized and complicated, might
be put into a State of repair and activity, which would' facili-
tate the whole proceedings of the nation; with the property
tax the money-market would be relieved and he anticipated a
certain if not a rapid improvement in the public pecuniary
concerns" 33). In diesen Worten ist die auf die Einkommen-
steuer gestützte Finanz- und Steuerpolitik angedeutet, wenn
auch die einzelnen Züge einer auf diesen Grundsätzen sich
aufbauenden Finanzreform noch nicht hervortreten. Der Re-
gierungsantrag wurde jedoch mit geringer Majorität abgelehnt,
Damit war die Einkommensteuer gefallen und die Regierung
vor die Aufgabe gestellt, einen neuen Finanzplan auszuarbeiten.
^i) Hansard, I., vol. 33, col. 433.
— 42 —
3. Kapitel.
Die Reform der indirekten Besteuerung.
§8.
Reformmeth öden bis 1 836.
Die Entfernung der Einkommensteuer aus dem englischen
Steuersystem bedeutete keine einfache Wiederherstellung des
Systems, wie es vor der Einführung der ersten Einkommen-
steuer bestanden hatte. Die wesentlichste Änderung lag darin,
daß alle ordentlichen Einnahrnezweige eine derartige Steigerung
erfahren hatten, daß der Gesamtertrag der dauernden Steuern
zur Deckung des normalen Friedensbedarfs ausreichte, und An-
leihen also als Deckungsmittel des laufenden Bedarfs vermieden
werden konnten. Es war somit ein Einnahmezweig, der in den
Budgets einer früheren Finanzepoche den übrigen Zweigen fast
völlig gleichgeordnet war, ausgeschaltet worden, so daß nach
dem Wegfall der Einkommensteuer die überragende Stellung
der indirekten Steuern noch schroffer hervortrat als früher. Ob-
wohl von den direkten Steuern namentlich die Vermächtnis-
steuern und die Häuser- und Fenstersteuern eine erhebliche
Steigerung erfahren hatten, betrug doch im Jahre 18 16 nach
dem Wegfall der Einkommensteuer der Ertrag aller direkten
Steuern noch nicht einmal den fünften Teil des gesamten Steuer-
ertrags. Innerhalb dieses indirekten Steuersystems, das damit
seine äußerste Ausbildung erfahren hatte, bereiteten sich aber
die Momente vor, die zunächst eine Umbildung innerhalb des
Systems und späterhin die Umwandlung in ein gemischtes
System zur Folge hatten.
Die Verbrauchsbesteuerung, die in den letzten 20 Jahren
ungefähr eine Verdoppelung erfahren hatte, war infolge der häu-
figen Erhöhungen während des Kriegs zu einem äußerst kom-
plizierten System geworden, in welchem sich die einzelnen
Steuern vielfach gegenseitig Abbruch taten. Der -Zolltarif hatte
zwar seit den Pitt sehen Reformen in erster Linie fiskalischen
Charakter, doch wurde der Ertrag durch das Überwuchern pro-
tektionistischer und prohibitiver Rücksichten nach dem Frieden
wieder stark beeinträchtigt. Eine Reformation innerhalb des
bestehenden Steuersystems mußte sich somit wesentlich in der
— 43 —
Richtung einer allmählichen Vereinfachung desselben vollziehen,
durch welche der Reinertrag dieser beiden Einnahmezweige
gehoben werden konnte.
An diese Grundlagen war nun die Finanzpolitik der nächsten
Jahrzehnte gebunden. Sie entfaltete sich in deutlich erkenn-
barer Weise nach drei verschiedenen Richtungen. Einmal
richtete sie sich auf eine Reduzierung des Finanzbedarfs durch
eine weitgehende Sparsamkeitspolitik. Dieses Streben hatte den
Erfolg, daß der jährliche Bedarf in dem Jahrzehnt von 1825 bis
1834 dem vorausgegangenen Jahrzehnt gegenüber insgesamt um
80 Millionen £ abnahm. In dem folgenden Jahrzehnt erfolgte
zwar keine weitere Verminderung der Ausgaben, doch ist dieser
Umstand auf die außerordentlichen Ausgaben zurückzuführen,
welche die seit dem Jahre 1836 auf Staatskosten durchgeführte
westindische Sklavenbefreiung verursachte.
Die zweite Richtung, in der sich die Finanzpolitik nach 1816
bewegte, bezog sich auf die Schuldentilgungspolitik, deren Ver-
fahren eine völlige Umwandlung erfuhr. Indem seit der Be-
endigung des Kriegs die jährlichen Einnahmen die Ausgaben
überstiegen, wurde alljährlich ein Überschuß erzielt, der seit
dem Jahr 1828 zur Schuldentilgung verwendet wurde, womit
die alte Pitt sehe Tilgungspolitik verlassen und ein einfacher,
wenn auch nicht mit großer Schnelligkeit wirkender Tilgungs-
modus eingeführt war.
Die dritte Aufgabe der Finanzpolitik von 18 16 bis 1842
bildete schließlich die Reform des Steuersystems, die sich in
drei deutlich unterschiedenen Stufen vollzog. Solange eine Be-
darfsverminderung erreicht werden konnte, verwandte man zu-
nächst den Einnahmeüberschuß, der sich dadurch im Budget
ergab, zur Reduktion der am meisten drückenden Steuern.
Vor allem waren es die während des Kriegs eingeführten oder
erhöhten Aufwandsteuern und Verbrauchsteuern, die auf diese
Weise eine Herabsetzung erfuhren, während die Zölle ziemlich
unverändert blieben. Die Folge davon war, daß die Verbrauch-
steuern nach ihrem absoluten Ertrag hinter die Zölle zurück-
traten, die infolge der Ausdehnung des Wirtschaftslebens einen
stets steigenden Ertrag einbrachten. Allmählich gelangte man
durch die Steuerpraxis in bezug auf die Steuerreduktion zu be-
stimmten Erkenntnissen über deren Wirkungsweise, und daraus
ließen sich dann auch die Grundsätze ableiten, die bei einer
44 -
weiteren Hcrabscizung der Steuern bea( htet werden mußten.
Der wesentlichste Unterschied dieser zweiten Stufe der Steuer-
reduktionen gegenüber der ersten Hegt darin, daß eine weitere
Herabminderung des Bedarfs ohne Vernachlässigung wichtiger
Staatsaufgaben nicht mehr ermöglicht werden konnte, so daß
also ein Einnahmeüberschuß nur durch eine Steigerung der
dauernden Einnahmen erreicht werden konnte. Teilweise er-
gab sich diese durch die natürliche Ertragssteigerung der Zölle
und der Verbrauchssteuern infolge der Zunahme der Bevölkerung
und ihres Wohlstands. Eine weitere Steigerung des Ertrags
ließ sich aber auch vielfach durch eine Ermäßigung der Steuern
auf gewisse Verbrauchsgegenstände erreichen, indem der da-
durch hervorgerufene gesteigerte Konsum eine Ertragsvermeh-
rung bewirkte. In anderen Fällen konnte man diese durch die
Beseitigung solcher Steuern erwarten, die eine Verteuerung der
Produktion zur Folge hatten. Endlich gestaltete sich die wechsel-
seitige Abhängigkeit und Beziehung der einzelnen Steuerobjekte
auch so, daß die Erhöhung oder Verminderung einer bestimmten
Steuer eine Ertragssteigerung einer anderen Steuer verursachte.
Die Verwertung dieser Erkenntnisse, die sich aus der Steuer-
praxis ergaben, führte ungefähr seit dem Jahre 1830 zu einer
zielbewußteren Gestaltung der Steuerpolitik.
Es ist jedoch leicht ersichtlich, daß diese Grundsätze, soweit
sie eine Steigerung des Ertrags bezweckten, nur in beschränktem
Umfang Geltung behielten, da schließlich überall die Grenze
erreicht werden mußte, über die hinaus durch eine Herab-
setzung der Steuern eine Ertragssteigerung nicht mehr erwartet
werden konnte. Tatsächlich war diese Grenze auch bald erreicht
und jeder Versuch, sie zu überschreiten, führte zu einem Miß-
erfolg, der sich in einem Einnahmeausfall offenbarte.
Damit war aber gleichzeitig die Grenze erreicht, innerhalb
deren eine Reform des indirekten Steuersystems ohne die Unter-
stützung einer zeitweiligen Einnahmequelle, welche den durch
die Reform verursachten Ertragsausfall ausglich, ermöglicht
werden konnte. Wenn die Steuerreform deshalb nicht auf
halbem Wege Halt machen sollte, mußte eine neue Reformpolitik
eingeschlagen werden, deren Grundzüge Henry Parnell in
seinem Werk ,,On Financial Reform" klar vorgezeichnet hat.
Parnell weist zunächst die Notwendigkeit einer weiteren Fi-
nanzreform nach und zeigt den Weg, auf dem sie erreicht
— 45 —
werden soll. Er stellt in den Mittelpunkt die Forderung einer
1V2- bis 2 0oigen Einkommensteuer, mit deren Ertrag der durch
die Steuerreform entstandene Einnahmeausfall wett gemacht
werden sollte. Praktisch begann dieser Gedanke schon im Jahre
1830 hervorzutreten, und im Jahre 1833 kam er durch den
Finanzminister Lord Alt hör p, der sich selbst als einen Schüler
Parnells bezeichnete, seiner Verwirklichung sogar sehr nahe,
als die Abschaffung der Malzsteuer und der Fenstersteuer ge-
fordert wurde und Althorp als Ersatz dafür eine Einkommen-
steuer in Aussicht stellte.
Diesem vorgezeichneten und grundsätzlich allein gangbaren
Weg einer weiteren Reform folgte jedoch die Finanzpolitik erst,
als sie durch die finanzielle Notwendigkeit, die sich mit der Be-
darfssteigerung und der tatsächlichen Unzulänglichkeit der in-
direkten Steuern ergab, dazu getrieben wurde, und als der zu-
erst eingeschlagene Ausweg zu einem greifbaren Mißerfolg
führte.
§9-
Das Reform problem.
Die Grundtatsache, aus der heraus sich das Finanzproblem
in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre entwickelte, bildete die
Gestaltung des Bedarfs. Das Reformproblem war verhältnis-
mäßig einfach, solange das bestehende Einnahmesystem einen
genügend hohen Ertrag lieferte, um nicht nur die laufenden
Ausgaben, sondern auch die Kosten der Reformen zu decken.
Das traf bis zur Mitte der dreißiger Jahre zu, wenn auch die
Tendenz, die der Entwicklung der Ausgaben und der Einnahmen
innewohnte, einem Punkt zustrebte, an welchem sich die vor-
handenen Einnahmequellen zur Deckung selbst des abnehmen-
den Bedarfs als unzureichend erweisen mußten. Diese Tendenz
findet ihren Ausdruck in dem abnehmenden Prozentverhältnis,
in welchem der jährlich erzielte Überschuß zu den gesamten
Einnahmen stand, wie es durch die umstehende Tabelle ver-
anschaulicht wird.
Das Reformproblem mußte sich zu einem umfassenden
Finanzproblem auswachsen, sobald ein steigender Bedarf auf-
trat, dem das bestehende System der Einnahmegewinnung nicht
durch natürliche oder leicht zu bewirkende Ertragssteigerung
- 46 -
Tab. 2. ibt-rsicht über die ICiiiiiahim-fni\vi< klung 18J9 — 39.
Im jährlichen Durchschnitt l)(.triigen in Milhoncn £:
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liinuahmcn, absohit und in "„ der
Gesamteinnahmen
Überschuß
oder
Finanz-
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Fehlbetrag
gaben brauchs- 0
steuern
absolut
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/o
1819/20 — 23/4
1824/5—28/9
1829/30—33/4
1834/5—38/9
57.034
55.009
51,30c
54.172
41.336
41,024
37.309
37.035
69.3
72,2
71,3
72,7
14,770 24,7
12,582 22,1
12,502 23,9
11,342 22,2
1
4,508 |6,o
3.245 15.7
2.577 {4.8
2,617 15,1
59.614
56,851
52,388
50.994
100
IOC
IOC
IOC
+2,579
+ 1,842
+1,087
—3.178
4.3
3.2
2,1
6.2
ZU folgen vermochte. Die Bedeutung, welche der Bedarfs-
gestaltung im Finanzsystem eines Landes zukommt, liegt in
ihrer wesentlichen Unabhängigkeit von finanzpolitischen Er-
wägungen, da der Bedarf sich notwendig aus der gesamten
Staatstätigkeit ergibt, die nicht willkürlich durch Rücksichten
auf die augenblicklich zur Verfügung stehenden Einnahmen und
ohne Schädigung der inner- und außerpolitischen Machtstellung
des Staates beschränkt werden kann. Dabei zeigt sich immer
wieder, und in der Geschichte aufstrebender Staaten am deut-
lichsten, daß eine sog. Sparsamkeitspolitik als finanzpolitisches
Prinzip völlig untauglich ist, soweit sie auf eine Verminderung
des Bedarfs durch Beschränkung der inneren oder äußeren
Machtentfaltung des Staates abzielt. Im Sinne rein ökonomisch
sparsamer Finanzgebarung ist sie eine so selbstverständliche
Voraussetzung jeder gesunden Finanzwirtschaft überhaupt, daß
sie nur zu organisationstechnischen, nicht aber zu finanzpoliti-
schen Reformen Veranlassung geben kann. Daß die politische
Tätigkeit bis zu einem gewissen Grad durch die Finanzlage be-
einflußt werden kann und wird, ist klar genug, doch wird diese
Rücksichtnahme auf die Ergiebigkeit vorhandener Einnahme-
quellen nie eine dauernde Beschränkung wesentlicher Staats-
aufgaben bewirken können.
Erfassen wir so den Bedarf als schlechthin gegebene Größe,
so ergibt sich hieraus eine doppelte Anforderung an das Ein-
nahmesystem. Einmal erfordert die Notwendigkeit seiner
augenblicklichen Deckung in dem Finanzjahr, in welchem er
neu auftritt, eine Vermehrung der Einnahmen, zum andern
aber eine derartige Ausbildung der Einnahmequellen, daß sie
durch natürliches Wachstum oder leichte Vermehrbarkeit die
— 47 —
Deckung eines steigenden Bedarf s in kommenden Jahren sicher-
stellen.
Diese theoretischen Anforderungen werden nun aber ab-
geändert und in ihrer Durchführung bestimmt durch die Ge-
staltung und Wirkungsweise des bereits bestehenden Einnahme-
systems, da alle Teile desselben durch die Beziehung, die sie
zum Steuerzahler haben, in gegenseitiger Wechselwirkung stehen.
Die einheitliche Quelle, aus der alle Steuern bezahlt werden, ist
das Einkommen, und die Vielzahl der Besteuerungsweisen be-
deutet schließlich nichts als ebenso viele Mittel und Wege, die
vielfachen Erscheinungsformen aller Einkommensarten zu er-
fassen und der Besteuerung zu unterwerfen. Eine Einnahmen-
vermehrung kann daher nur erzielt werden, entweder durch eine
stärkere Belastung bereits erfaßter Einkommensteile im Ver-
hältnis zum jährlichen Einkommenszuwachs, oder aber durch
eine Erfassung solcher Einkommensteile, die bisher der Be-
steuerung entgangen waren. Da jede Steuerpolitik aber nach
den bekannten Grundsätzen der Gleichheit und Verhältnismäßig-
keit der Belastung in erster Linie auf die Heranziehung solcher
Teile gerichtet sein muß, so erkennen wir darin die dritte Grund-
forderung, der eine Finanzreform genügen muß.
Die tatsächliche Entwicklung der englischen Finanzen etwa
von dem Jahre 1836 an verlief so, daß alle drei Momente scharf
und deutlich in die Erscheinung traten. Die Wendung in der
Bedarfsentwicklung trat 1836 im Zusammenhang mit der Durch-
führung der westindischen Sklavenbefreiung und der Ent-
schädigung der Sklavenhalter ein. Außerdem aber erfuhr das
Ausgabebudget eine fortdauernde Zunahme durch die militäri-
schen Rüstungen, die sich in diesen Jahren durch das gespannte
Verhältnis zu Frankreich nötig machten. Ferner hatten die all-
gemeinen wirtschaftlichen Depressionen und wiederholte Fehl-
ernten nicht nur die Wirkung einer Ertragsverminderung ein-
zelner Einnahmequellen, sondern auch einer positiven Aus-
gabevermehrung, indem die Notlage der landwirtschaftlichen
und teilweise auch der industriellen Bevölkerung staatliche Unter-
stützungen erforderte. Wenn auch die meisten dieser Ausgaben
ihrer Veranlassung nach zeitweilig waren, so ergab sich schließ-
lich aus ihnen doch immer eine teilweise Erhöhung auch des
dauernden Bedarfs. Deutlich erkennbar ist dies bei den ge-
steigerten Ausgaben für Rüstungszwecke, da die Erhaltung des
- 48 -
Heeres und dcv Flotlc auf dein einmal «-rreic hteii Stand eine
dauernde Belastung bedeutete. Schließlich aber erfuhr das
jährliche Ausgabebudget eine zunehmende Steigerung durch
die mannigfachen wirtschaftlichen und sozialen Reformen, die
in diesen Jahren in Angriff genommen und durchgeführt wurden.
Diese Entwicklung des dauernden Bedarfs ging so weit,
daß die aus dem bestehenden System verfügbaren Einnahmen
nicht mehr zu seiner Deckung ausreichten, so daß die I-inanz-
jahre nach 1837 mit wechselnden, teilweise erheblichen Fehl-
beträgen abschlössen.
So betrug der rechnungsmäßige Fehlbetrag :
1837/8 0,726 Millionen £,
1838/9 0,344
1839/40 1,531
1840/1 1,560 ^ „
1841/2 2,086 „ „
zusammen 6,447 Millionen £.
Während aber einerseits trotz aller Sparsamkeitsbemühun-
gen, die in mehrfachen Resolutionen im Parlament zum Aus-
druck kamen, eine Bedarfsverminderung nicht erreicht werden
konnte, offenbarten auf der anderen Seite gerade in diesen kri-
tischen Jahren die Hauptzweige des Einnahmesystems ihre
starke Abiiängigkeit von der gesamten Wirtschaftslage in dem
geringen natürlichen Wachstum und dem Schwanken ihres
Ertrags. So fehlte in dem System ein Element, das von den
Verhältnissen der Konjunktur wesentlich unabhängig, diejenige
Elastizität der Ertragsvermehrung besaß, die in Zeiten steigen-
den Bedarfs notwendig ist. Die bisherigen Reformen hatten
zwar eine teilweise Vereinfachung des Zolltarifs und der Ver-
brauchssteuern bewirkt, ohne aber die Grundlagen des Systems
selber irgendwie zu verändern oder zu berühren. Der Grund
ihrer schließlichen Wirkungslosigkeit aber lag darin, daß diese
Reformen weder eine gerechte Verteilung der Steuerbelastung,
noch eine Ertragssteigerung zur Folge hatten, weil sie keine
wesentlich neuen Steuerquellen zu erschliefien vermochten.
Der Versuch, noch ganz auf der Grundlage des bestehenden
Systems das finanzielle Gleichgewicht zwischen Ausgaben und
Einnahmen herzustellen, wurde im Budget für das Finanzjahr
1 840/1 durch Prozentzuschläge zu den Zöllen, \'erbrauchssteuern
— 49
und Aufwandsteuern unternom-
men, führte aber zu einem vollen
Mißerfolg. Von vornherein lag es
in dem Wesen dieses Auskunfts-
mittels, daß seine Anwendung
keine Anpassung der dauernden
Einnahmen an den steigenden
Bedarf bedeuten, sondern höch-
stens die Mittel schaffen konnte,
die Ausgaben des Jahres zu
decken und ein erneutes Defizit
zu vermeiden. Aber selbst diese
Absicht wurde nicht erreicht, in-
dem der Ertrag der Zölle und
der Verbrauchssteuern wesentlich
hinter der Summe zurückblieb,
die nach dem Zuschlag von 50/0
hätte erwartet werden sollen,
und selbst die Aufwandsteuern
überstiegen erst im zweiten Jahr
nach der Erhöhung den veran-
schlagten Betrag.
Versuchen wir, die Ursachen zu
erfassen, die den Mißerfolg dieses
letzten Versuchs, allein mit dem
bisherigen System der Ein-
nahmegewir.nung auszukommen,
notwendig herbeiführten, so lie-
gen sie weniger in einer abso-
luten steuerhchen Überlastung,
da die Gesamtbelastung in den
Jahrzehnten nach den napoleoni-
schen Kriegen sowohl absolut als
auch auf den Kopf der Bevölke-
rung berechnet, durch den Weg-
fall der Einkommensteuer und
durch Reduktion der Verbrauch-
steuern erheblich vermindert
worden war, wie wir aus der
nebenstehenden Tabelle ersehen
Zeitschrift für die ges, Staatswissensch. Ergänzungsheft 48.
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— 50 —
können. Die Hauptursache lag \ielmehr in der immer schärfer
ausgeprägten Einseitigkeit des Steuersystems, das ungefähr 3/^
seines Ertrages aus der indirekten Besteuerung von Verbrauchs-
gegenständen gewann und darum im wesenlhchen nur diejenigen
Einkommensteile zu erfassen vermochte, die für den Konsum
solcher Gegenstände verausgabt wurden. Der hierfür verwend-
bare Betrag des jährlichen Volkseinkommens wächst zwar mit
der Zunahme der Bevölkerung und bewirkt so im Verhältnis
zu dieser das natürhche Wachstum der indirekten Steuern, er
nimmt aber infolge der langsamen Konsumsteigerung nur bis
zu einem gewissen Grad an der Zunahme des Gesamteinkommens
teil, so daß einem solchen System der indirekten Besteuerung
die jährlich zuwachsenden neuen Einkommensteile fast völlig
entgehen. Während so die Einseitigkeit des Systems eine im
Verhältnis zur Entwicklung des Volkswohlstands stehende Er-
tragsentwicklung verhinderte, führte die Besteuerung der haupt-
sächlichen Verbrauchsgegenstände zu einer unverhältnismäßigen
Belastung und zu mehrfacher Besteuerung der niederen und
mittleren Einkommensklassen, die eine durch Steuererhöhung
verursachte Preissteigerung durch Einschränkung des Konsums
auszugleichen gezwungen sind, wodurch die beabsichtigte Wir-
kung der Steuererhöhung für die Finanzen wieder ganz oder
teilweise aufgehoben wird.
Schließlich aber wurde die Wirkungsweise des ganzen
Systems in allen seinen Teilen sehr erheblich durch den Um-
stand beeinträchtigt, daß es sich hier nicht um ein rein finanz-
wirtschaftliches System der staatlichen Einnahmegewinnung
handelt, dessen Bau und Entwicklung nur durch finanzpolitische
Bedürfnisse und Erwägungen geregelt wurde. Vielmehr
brachten die protektionistischen und prohibitiven Absichten
und Zwecke, mit denen das ganze System durchsetzt war, den
rein fiskalischen Anforderungen wesentlich fremde und teil-
weise entgegengesetzte Wirkungen hervor und machten die
Ertragsentwicklung von Momenten abhängig, die außerhalb
finanzpolitischer Erwägungen standen und diesen nicht selten
zuwiderliefen 3i).
34) Nach dem „Report on Import Duties" von 1840 brachten 17 Artikel
des Zolltarifs 21,6 MilUonen £ des gesamten Ertrags der Zölle auf, während
851 Artikel zusammen nur 1,2 Millionen £ ergaben.
— 51 —
So ist die Erfolglosigkeit des Versuchs, das System vor-
wiegend indirekter Besteuerung dem steigenden Bedarf durch
einfache Erhöhung der bestehenden Steuern anzupassen, auf
drei Grundursachen zurückzuführen:
1. auf die Einseitigkeit des gesamten Steuersystems, dessen
Glieder die jährlich neu hinzuwachsenden und besteuerungs-
fähigen Einkommensteile nicht zu erfassen vermochten;
2. auf die Verteilung der Steuerbelastung innerhalb des
Systems, welche mit unverhältnismäßiger Schwere auf die
kleinen und vorwiegend stationären Einkommen drückte; und
3. auf die schutzzöllnerischen Momente, durch welche eine
rein fiskalische Handhabung des Systems verhindert wird.
Damit aber erhält das Finanzproblem, wie es durch die
Bedarfsentwicklung gestellt wurde, seine schärfere Bestimmung
in zweifacher Richtung: Die Unzulänglichkeit der verfügbaren
Deckungsmittel war eine Folge der Unzulänglichkeit der vor-
handenen Besteuerungsmethoden überhaupt und des indirekten
Steuersystems im besonderen. Daraus ergibt sich die Not-
wendigkeit, einmal einer Neugestaltung des indirek-
Steuersystems im besonderen. Daraus ergibt sich die Not-
wendigkeit einer Ergänzung der indirekten Be-
steuerung smethode. So zerlegt sich das allgemeine Fi-
nanzreformproblem in die zwei Teilprobleme der Tarif-
r e f o r m und der direkten Besteuerung, und die fol-
gende Finanzentwicklung stellt in den Grundzügen ihres Ver-
laufs nichts weiter dar als die Geschichte und allmähliche
Lösung dieser beiden miteinander allerdings eng verknüpften
Probleme.
§ lO-
Die Peelsche Tarifreform von 1842 und die Wie-
dereinführung der Einkommensteuer.
Den Anfangspunkt der Entwicklung des modernen eng-
Uschen Finanzsystems bildet das Budget des Jahres 1842, in-
dem es zwei neue Momente, Tarifreform und Einkommen-
steuer, einführte, die im Verlauf von rund drei Jahrzehnten die
vollständige Umwandlung des Steuersystems bewirkten. Das
Bedürfnis der Einnahmevermehrung, hervorgerufen durch
die anhaltend steigende Tenjienz des Ausgabebudgets, und
4*
— 52 —
das Scheitern des Versuchs, diesem Bedürfnis durch eine Er-
höhung der indirekten Steuern zu genügen, haben wir als die
beiden Grundursachen erkannt, welche die Frage der Tarif-
reform zur finanziellen Notwendigkeit machten. Wir ver-
suchen nunmehr in den folgenden Abschnitten, die Bedingungen
zu erkennen und die Einflüsse festzustellen, unter denen sich
die Durchführung und Gestaltung der Reform vollzog.
Das äußere Ereignis, das aber mit der finanziellen Lage
des Landes ursächlich verknüpft war und welches die neue
Finanzpolitik einleitete, war der Sturz des bisherigen hberalen
^Ministeriums Lord Melbournes durch Sir Robert Peel, der
nunmehr an die Spitze der Regierung trat. Die Bedeutung
dieses Systemwechsels, der in der inneren Politik in dem zeit-
weiligen Verschwinden der Chartistenbewegung zum Ausdruck
kam, ist auch finanzpolitisch zu verspüren, obwohl man sich
dabei hüten muß, die mit dem Wesen der heutigen englischen
Parteien untrennbar verbundenen Ziele und Forderungen auch
auf jene frühen Parteiansätze zu übertragen, denen man die-
selben Bezeichnungen zukommen läßt. Auch in dem 1832
reformierten Parlament waren die Whigs und T o r i e s nicht
die Vertreter des ganzen Volks und aller Klassen, sondern
gehörten nach wie vor fast ausschließlich der grundbesitzen-
den Klasse an. Die politischen Gegensätze, die in diesen Par-
teien zum Ausdruck kamen, deckten sich in keiner Weise mit
denen, die heute das trennende Merkmal der beiden großen
engHschen Parteien bilden. Die parteipolitische Erneuerung
im reformierten Parlament ging dagegen von einer kleinen
Gruppe radikal gerichteter Männer aus, die sozial-, wirtschafts-
und finanzpolitisch mit einem neuen Programm hervortraten,
das an sich sowohl mit der herkömmlichen Auffassung der
Whig-Partei als auch der Tory-Partei in Widerspruch stand.
Sozialpolitisch aus dem Gedankengehalt des Chartismus, wirt-
schaftspolitisch aus dem des Manchestertums erwachsen, ent-
hielt diese neue werdende Partei im Keim alle die Forderungen
in sich, die im Laufe des 19. Jahrhunderts die moderne Aus-
gestaltung der Fürsorge- und der Wirtschaftsgesetzgebung be-
stimmten. In ihrer Finanzpolitik wurde diese Parteigruppe na-
türlich von den Folgerungen geleitet, die sich aus einer Ver-
wirklichung des Manchestertums ergeben mußten. Diese Folge-
rungen richteten sich aber zunächst nur gegen jede weitere
i
— 53 —
Verbindung des Finanzsystems mit dem Wirtschaftssystem
durch das ^littel der Schutzzölle, ohne aber damit jede in-
direkte Besteuerung überhaupt abzulehnen. Eine Förderung der
direkten Besteuerung läßt sich im allgemeinen nur insofern
annehmen, als der Gedanke einer Vermögens- oder Einkom-
mensbesteuerung als gerechter Ersatz für die wegfallende in-
direkte Besteuerung mehr in den Vordergrund zu treten begann.
Die tatsächliche Bedeutung dieser kleinen Gruppe wurde je-
doch erst dadurch bestimmt, daß es ihr gelang, in der Bil-
dung der Mehrheiten im Parlament den Ausschlag zu geben.
So war es Peel nur mit der Unterstützung der radikalen
Tarifreformer gelungen, die zur Kabinettsbildung erforderliche
Mehrheit zu erlangen und das erste Zugeständnis, mit dem
Peel die Aufrechterhaltung seiner Regierung sichern mußte,
war die Einleitung der Tarifreform, mit deren Durchführung
die Partei der Tarif reformer anwuchs, bis sie in den Jahren
1853 und 1860 durch Gladstone als ein wesentlicher Be-
standteil der modernen englischen liberalen Partei zugeführt
wurde.
Inzwischen hatte sich die finanzielle Lage des Landes durch
den Krieg mit China, der erhebliche Kosten verursachte, und
durch die Unruhen in Afghanistan erheblich verschlimmert,
so daß Peel bei der Eröffnung des Budgets am 11. März 1842
sich einem voraussichtlichen Defizit für das kommende Jahr von
rund 2V2 Millionen £ gegenübersah, während die Summe der Fehl-
beträge der letzten fünf Jahre auf fast 7 Millionen £ angewachsen
war. Von vornherein wies nun Peel die Auffassung, als ob diese
wiederholten Fehlbeträge nur vorübergehenden Ursachen zuge-
schrieben werden dürften, von sich ab und verschloß sich damit
auch jedem finanziellen Auskunftsmittel, das nur eine augen-
blickliche Überbrückung, nicht aber eine dauernde Beseitigung
der Finanznot gewährt hätte, und erkannte so als leitendes
Finanzprinzip die Forderung an, den ordentlichen und
dauernden Bedarf nur durch ordentliche und
dauernde Einnahmen zu decken. Die Anerkennung
dieses Prinzips schloß aber als selbstverständliche Konsequenz
die Aufgabe in sich ein, die Einnahmequellen zu erschließen,
aus denen der gesteigerte Bedarf gedeckt werden konnte, und
hier ging Peels Politik einen Schritt über die bisher verfolgte
Finanzpolitik hinaus, indem er aus der Vergangenheit seine
— 54 —
Lehren zog: ,,I cannot assent to any proposals for increasing
taxation on the great articles of consumption by the labouring
classes of society. I say, moreovcr, I can give you conclusive
proof that you have arrived at the limits of taxation on articles
of consumption" -^^J. In gleicher Weise wie die Fruchtlosig-
keit einer allgemeinen oder teilweisen Erhöhung der indirekten
Verbrauchssteuern erkannte Peel aber auch die Nutzlosig-
keit der früheren Reformen, indem er einsah, daß die Elastizität
des indirekten Systems viel zu gering war, um durch eine Steuer-
reduktion eine sofortige Ertragssteigerung, die zur Deckung
des Ausfalls ausgereicht hätte, bewirken zu können. So ge-
langte Peel zu dem Schluß, der seine Finanzpolitik von der
seiner Vorgänger grundsätzlich unterscheidet. Ohne die Schutz-
zollpolitik, zu der er durch seine Parteizugehörigkeit verbunden
war, aufzugeben, erkannte er doch die Notwendigkeit, durch
eine umfassende Reform die schutzzöllnerischen Interessen so
mit den finanziellen in Einklang zu bringen, daß die Beseitigung
hemmender Einschränkungen eine Neubelebung von Handel
und Industrie und damit auch eine zunehmende Steigerung des
Ertrags der indirekten Steuern hervorbringen mußte.
Damit war das Problem der Tarifreform, die das Mittel der
allgemeinen Finanzreform bilden sollte, in den Mittelpunkt der
Betrachtung gestellt und aus seinem Wesen heraus entstanden
von selbst die beiden Fragen, nach welchen Grundsätzen die
Neugestaltung des Tarifs erfolgen und welches das Mittel sein
sollte, den augenblicklich entstehehden Einnahmeausfall auszu-
gleichen und unabhängig von dem Erfolg der Reform das
Gleichgewicht der Finanzen sicherzustellen. Der leitende Ge-
sichtspunkt für die Beantwortung der ersten der beiden Fragen
bildete die Wirkungsweise des Tarifs auf den ganzen Umkreis
industrieller und kommerzieller Unternehmungen, und hieraus
ergaben sich für Peel die folgenden Grundsätze:
1. Beseitigung aller absoluten Einfuhrverbote;
2. Herabsetzung prohibitiver Zölle auf eine derartige Höhe,
daß ohne Schädigung der heimischen Industrie doch ein
anregender Wettbewerb fremder Waren ermöglicht wurde;
3. Beseitigung oder Ermäßigung der Zölle auf Rohmaterialien
und Halbfabrikate, die in die heimische Produktion ein-
^^) Hansard, III, vol. 61, col. 431.
~ :>t) —
traten, in der Absicht, diese durch eine VerbilHgung der
Produktionskosten zu größerer Leistungsfähigkeit anzu-
regen; und
4. Herabsetzung der Zölle und Steuern auf die hauptsäch-
lichsten Gegenstände des Massenkonsums, um durch eine
Verbilligung der Lebenshaltung eine Steigerimg des Kon-
sums zu erzielende).
Die Durchführung dieser Grundsätze in der Tarifreform war
aber, so sehr sie zu einer schließlichen Steigerung der Zoll-
einnahmen zu führen versprach, doch gleichbedeutend mit einer
augenblicklichen Vergrößerung des veranschlagten Defizits, so
daß die Notwendigkeit, eine neue Einnahmequelle zu er-
schließen, noch deutlicher hervortrat: ,,If it be politic to abolish
altogether prohibitions, if it be politic to reduce prohibitory
duties, if it be politic to mitigate the duties upon certain articles
of consumption and upon certain raw materials, which enter into
every commercial enterprise, and if that policy be approved of
and adopted, a fresh addition must be made to the deficit of
the year" ^'').
Die Lösung der zweiten mit der Finanzreform verknüpften
Frage, eine neue Einnahmequelle zu finden, die dem anerkann-
ten Grundprinzip eines ausgeglichenen Budgets zu genügen ver-
mochte, war ihrer Richtung nach ziemlich genau bestimmt. Die
doppelte Aufgabe, das aus der Bedarfserhöhung und das aus
der Tarifreform erwachsene Defizit so lange zu decken, bis das
indirekte Steuersystem sich wieder genügend erholt hatte, stellte
zwei Anforderungen an die neu zu findende Steuer, einmal den
erforderlichen Ertrag zu liefern und zum andern von den in-
direkten Steuern deutlich genug unterschieden zu sein, um die
Tarifreform nicht zu beeinträchtigen. Diese zweite Bedingung
schloß von vornherein alle indirekten Steuern, sowohl die be-
stehenden, als auch die in der vorausgegangenen Periode auf-
gehobenen Steuern aus, da ihre Erhöhung oder Wiedereinfüh-
rung eine weitere Komplikation des Tarifsystems verursacht
hätte.
So enthielt das bestehende Steuersystem nur zwei Elemente,
die in Betracht kommen konnten, die Erbschaftssteuern und die
36) Hansard, III, vol. 63, col. 354.
^y) Hansard, III, vol. 61, col. 901.
- 56 -
Aufwandsteuern. Die Erbschaftssteuern waren jedoch durchaus
unentwickelt, so daß eine bedeutende Ertragssteigerung selber
wieder eine völlige Umgestaltung ihrer Urganisation erfordert
hätte. Die Assessed taxes aber zur Grundlage der Ertragsver-
niehrung zu machen, wäre wesentlich auf den Pitt sehen Ver-
such von 1797 hinausgelaufen, dessen Mißerfolg nicht zu einer
Wiederholung aufforderte. Beiden Steuern war übrigens das
eine gemeinsam, daß ihre Anwendung umfassende Änderungen
ihrer Organisation erfordert hätte, die sich im Hinblick auf die
beschränkte Dauer, für welche der Mehrertrag nötig zu sein
schien, nicht empfahlen.
Demgegenüber schien nun eine Einkommensteuer vom
finanzpolitischen Standpimkt aus allen Anforderungen genügend
zu entsprechen, um ihre zeitweise Wiedereinführung zu recht-
fertigen. Das ausschlaggebende Moment war vor allem ihre
Ertragsfähigkeit, die sie im französischen Krieg bewiesen hatte
und die infolge der Zunahme des Volkswohlstands einen noch
höheren Grad erreicht haben mußte. Verwaltungstechnisch ver-
ursachte ihre Wiedereinführung weder erhebliche Schwierigkeit
noch Kosten, da sich die Steuer leicht der Verwaltung der Auf-
wandsteuern und der Landsteuer, die ja auch eine Veranlagung
voraussetzten, unterordnen ließ. Schließlich aber ließ nicht
allein die wesentliche Verschiedenheit der Steuer von der in-
direkten Verbrauchsbesteuerung jede Beeinträchtigung der
Tarifreform als unwahrscheinlich erscheinen, sondern es kam
noch der weitere Umstand hinzu, daß die Verbilligung der
Lebenshaltung in letzter Linie auch dem Einkommensteuerzahler
zugute kommen mußte. So gelangte Peel zu dem Vorschlag,
die Einkommensteuer wieder einzuführen ,,for the purpose of
not only supplying the Deficiency in the Revenue, but of
enabling me with confidence and satisfaction to propose great
commercial reforms, which will afford a hope of reviving com-
merce and such an improvement in the manufacturing interests
as will react on every interest in the country; and by diminishing
the prices of the articles of consumption and the cost of living,
will in a pecunary point of view, compensate you for your pre-
sent sacrifices while you will be at the same time relieved from
the contemplation of a great public evil"38).
38) Hansard, III, vol. 61, col. 439.
— 57 —
Damit gab Peel den wesentlichen Inhalt eines Finanz-
programms wieder, das wir als das erste Beispiel einer vor-
sorgenden und umfassenden „Zukunftsfinanz" betrachten
können. Wenn wir uns den Charakter dieser noch einmal in
Kürze deutlich machen, um die Bedeutung zu erfassen, welche
der Einkommensteuer in dieser Finanzreform zukam, so er-
kennen wir als Grundabsicht die Herstellung des finanziellen
Gleichgewichts, mit der Nebenabsicht, dadurch nicht nur eine
fortgesetzte Schuldenwirtschaft zu vermeiden, sondern auch
durch die Erzielung eines jährlichen Einnahmeüberschusses,
der als Tilgungsfonds verwendet werden konnte, eine allmäh-
liche und mühelose Reduktion der Staatsschuld zu ermöglichen.
Als das diesem obersten Prinzip untergeordnete Mittel haben
wir die Tarifreform zu betrachten, durch welche das indirekte
Besteuerungssystem dieser Aufgabe angepaßt werden sollte. Da
aber die Wirkung dieser Reform nicht unmittelbar sein, sondern
erst nach einiger Zeit hervortreten konnte, so machte Peel
die Erreichung seiner Hauptabsicht durch die Einfügung einer
zeitweiligen Einnahmequelle von dem Erfolg der Tarifreform
völlig unabhängig, und so erhielt die Einkommensteuer in seinem
Finanzplan, um es mit Dowells Worten auszudrücken, die
Bedeutung eines ,,fund to secure a balance of income over ex-
penditure during these Operations" 39). Die Wiedereinführung
der Einkommensteuer war demnach nicht Selbstzweck, um durch
die Einfügung einer direkten Steuer eine gerechtere Verteilung
der Steuerbelastung zu erzielen, so sehr auch das endliche Er-
gebnis für diese Auffassung zu sprechen scheint. Wir dürfen
jedoch in der historischen Betrachtung nicht vergessen, daß die
Richtung einer Entwicklung durch Momente, die während ihres
Verlaufs eintreten, der ursprünglichen Absicht entgegen um-
gekehrt werden kann, das Motiv also nicht aus dem Erfolg ge-
schlossen werden darf.
Die tatsächlichen Vorschläge, die das Budget von 1842
enthielt, lassen sich nach der Darstellung der Finanzgrund-
sätze, deren Verkörperung sie waren, kurz zusammenfassen.
Das veranschlagte Defizit für das kommende Finanzjahr betrug
rund 2V2 Millionen £ und wurde durch die Kosten der Tarif-
39) Vgl. hierzu Dowell, History, III, S. 119; ferner Northcote, Policy,
S. 368 und Buxton, Finance, I., S. 51.
- 58 -
reform um 1.2 Millionen auf 2i'7 -Millionen Si erhöht. Der Tarif
wurde durchgehend neugestaltet, indem alle Ausfuhrzölle auf
britische Manufakturen beseitigt •'O) und die Einfuhrzölle von
76g Artikeln ermäßigt wurden. Die Gesamtzahl der zollpflich-
tigen Artikel erfuhr zwar infolge einer neuen Klassifikation eine
Erhöhung, so daß der neue Tarif insgesamt 1090 Gegenstände
umfaßte. Das Hauptmerkmal der Reform aber war die Ver-
einheitlichung und Vereinfachung des gesamten Zollgesetzes,
das seit der letzten Konsolidierung im Jahre 1825 in einen
ziemlich chaotischen Zustand geraten war. Diese neue Konso-
lidierung bildete die Voraussetzung jeglicher Reform, indem sie
allererst die Anwendung wissenschaftlicher Grundsätze und die
übereinstimmende Fortentwicklung der Reformen ermöglichte.
So bedeuten die in dem Budget 1842 enthaltenen Maßnahmen
keine Durchführung und Vollendung der Tarifreform, sondern
ihre Grundlegung und ihren Anfang, während Peel für den
vollständigen Abschluß seines Reformwerks, das er in zwei Ab-
schnitten zu Ende zu führen gedachte, eine Periode von fünf
Jahren voraussetzte.
Diese zeitliche Bestimmung der Finanzreform gab gleich-
zeitig die Begrenzung der Dauer, für welche Peel die Ein-
kommensteuer vorschlug. Doch beschränkte er seinen gegen-
wärtigen Antrag auf die Wiedereinführung der Steuer auf eine
Zeit von drei Jahren, um nach deren Ablauf eine freie Erörte-
rung und Entscheidung des Parlaments über den Erfolg seiner
Reformen zu ermöghchen. Die Steuer selbst übernahm Peel
fast ohne jeghche Veränderung in der Form, die sie 1806 er-
halten hatte und die sie bei ihrer Aufhebung 18 16 noch besaß.
Der wesentlichste Unterschied bestand in der Veränderung der
Befreiungsgrenze, die von 50 £ auf 150 £ jährlichen Gesamt-
einkommens heraufgesetzt wurde, und in der Einführung eines
ermäßigten Steuerfußes für die unter schedule B. veranlagten
Einkommen aus landwirtschaftlicher Erwerbstätigkeit, der für
England auf die Hälfte und für Schottland auf ein Drittel des
normalen Steuerfußes festgesetzt wurde. Den Ertrag der Steuer,
die sich nur auf Großbritannien, nicht aber auf Irland erstreckte,
berechnet Peel bei einem Steuerfuß von 7 d für jedes £ jähr-
40) Mit Ausnahme der Ausfuhrzölle auf Kreide, Kohle, Erze und Woll-
und Pelzmanufakturen.
— 59 —
liehen Einkommens (^d. h. annähernd 3O0) auf '}^,'j MiUionen £.
Da sich die Ausdehnung der Steuer auf Irland wegen der wirt-
schaftlichen Notlage dieses Landes nicht empfahl, so verband
Peel mit der Einführung der Einkommensteuer eine weitere
finanzielle Reform, die einen Schritt zur Vereinheitlichung der
britischen und irischen Steuern bildete, indem er die irischen
Branntweinsteuern durch Erhöhung den schottischen gleich-
stellte und durch eine Erhöhung der irischen Stempelsteuern
diese für alle drei Königreiche einheitlich machte. Der Gesamt-
ertrag der neuen Steuern wurde für das laufende Finanzjahr auf
4,38 Millionen £ veranschlagt, so daß für das Ende des Jahres
ein Überschuß von rund 1/2 Million erwartet werden konnte,
der aber möglicherweise einer Verringerung durch vermehrte
Ausgaben für die Chinaexpedition ausgesetzt war.
Wenden wir uns nunmehr der Aufnahme zu, welche das
Budget im Parlament fand, so wandte sich die ganze Opposition
fast ausschließlich gegen die Wiedereinführung der Einkommen-
steuer. Obwohl beide Parteien in dem Grundzug des Budgets,
der Herstellung des finanziellen Gleichgewichts übereinstimmten,
und die wesentlichen Momente der Tarifreform nur geringer
Kritik und kaum ernstlichem Widerstand begegneten, so wurde
von der Opposition unter der Führung Lord John Russeis
doch die Notwendigkeit der Erneuerung der Einkommensteuer
geleugnet und der Charakter dieser Steuer aufs schärfste an-
gegriffen. Unter diesen beiden Gesichtspunkten lassen sich
die Gegenargumente zusammenfassen, wobei die der ersten Art
von der Voraussetzung ausgingen, daß die Einkommensteuer
nur als Kriegssteuer oder doch nur als eine in Zeiten der größten
finanziellen Bedrängnis zu verwendende Steuer angesehen wer-
den dürfe. Die Gegengründe der zweiten Art stützten sich vor
allem auf die behauptete allgemeine Gegnerschaft gegen diese
Art der direkten Besteuerung, die inquisitorisch und ungerecht
sei und darum das Kapital aus dem Lande zu treiben drohe.
Schließlich traten auch die Befürchtungen gegen die Steuer ins
Feld, die in ihrer Wiedereinführung den Anfang der direkten
Besteuerung als Alternative der indirekten sahen, oder die in
der Leichtigkeit, mit der die Steuer erhöht werden konnte,
einen geheimen Antrieb zur Ausgabensteigerung, die ihrerseits
wieder die Beseitigung der Steuer unmöglich machen würde, zu
erkennen glaubten.
- 6o
War soniil die Ojjposiiion in der Ablehnung der Ein-
konnncnstcucr ziemlich einmütig, so gingen die Vorschläge für
den Ersatz, der ihre Stellung im Budget einnehmen sollte, um
so mehr auseinander. Soweit die Ciegnerschaft gegen die Ein-
kommensteuer einer Gegnerschaft gegen jede direkte Besteue-
rung ül3erhau])t entsprang, suchte man natürlich Peels Be-
hauptung, daß die indirekte Besteuerung an der Grenze ihrer
Leistungsfähigkeit angelangt sei, zu widerlegen oder forderte
eine Erneuerung der seit dem französischen Krieg aufgehobenen
Steuern. Andererseits wieder glaubte man durch eine umfas-
sendere und tiefer greifende Tarif reform, als Peel sie bot, eine
derartige Neubclcbung der ganzen Volks- und Finanzwirtschaft
bewirken zu können, daß der gesteigerte Ertrag der indirekten
Steuern nicht nur die Kosten der Reform, sondern auch das
Budgetdefizit decken würde. Diejenigen Gegner der Ein-
kommensteuer aber, die sich der Steuer nur ihrer inneren
Fehler wegen widersetzten, die direkte Besteuerung aber be-
günstigten, begnügten sich damit, statt ihrer irgendeine andere
Form der direkten Besteuerung, sei es eine Vermögenssteuer
oder eine ausgedehnte Nachlaßbesteuerung, vorzuschlagen, wäh-
rend die Gegner jeder Steuererhöhung überhaupt die Notwendig-
keit einer solchen durch eine weitgehende Kürzung der Aus-
gaben vermeiden zu können glaubten *i).
Die Stellungnahme des Oberhauses wurde dadurch aus-
schlaggebend bestimmt, daß die Ausgabenvermehrung, soweit
sie aus den militärischen Rüstungen entstanden war, als unum-
gänglich hingenommen und die Notwendigkeit einer Steuer-
erhöhung darum frei anerkannt wurde. Doch kam die be-
sondere Haltung eines Teils der Lords gegen die Einkommen-
steuer in einer Resolution zum Ausdruck, die LordBrougham
kurz nach der Eröffnung des Budgets einbrachte, und welche
die Einschränkungen und Bedingungen formulierte, denen die
Wiedereinführung der Steuer unterworfen sein sollte. Aus-
gehend von der Auffassung der Steuer als einem außerordent-
lichen Hilfsmittel, das für die Zeiten größter Not bereit gehalten
werden müßte, war es die Hauptforderung der Resolution, daß
eine solche Steuer auf keinen Fall ein ordentlicher Bestandteil
41) Hansard, III, vol. 61, col. 895/1192.
„ 62, „ 84/694.
— 6i
des Systems werden dürfe und wieder entfernt werden müsse
sobald die ordentlichen Einnahmequellen sich von ihrer zeit-
weiligen Depression erholt hätten. Andererseits aber ging die
Resolution darauf aus, die Anwendung der Steuer durch den
Wegfall jeder Befreiung durchaus allgemein, ihre Wirkung aber
durch Anerkennung des Prinzips einer Differenzierung fun-
dierten und unfundierten Einkommens gerechter zu gestalten 12)
Allen Einwendungen, Gegenvorschlägen und Argumenten
gegenüber aber wurde Peels Standpunkt immer wieder durch
das oberste Bedürfnis aller gesunden Finanzwirtschaft eine Be-
darfsdeckung aus den dauernden Einnahmen zu erlangen und
durch die Überzeugung bestimmt, daß die Erreichung dieses
Zwecks von dem Ausfall der Finanzreform völlig unabhängig
sein müsse. Diesem einen Bedürfnis ordnete sich so für ihn
jede andere Rücksicht unter, und obwohl er die gegen den
mneren Charakter der Steuer erhobenen Einwände offen zugab
so erschien es ihm doch die gerechtere und politischere Maß-
nahme zu sein „to meet the difficulty at once by proposing a
tax upon incomes, than by reviving indirect taxes, which entail
a heavy expense in collecting, and whtch cannot be imposed
without greatly disturbing the trade and manufactures of the
country"i3). AUen übrigen Gegenvorschlägen aber begegnete
er einfach und wirksam durch den Nachweis, daß keine der
in der Debatte erwähnten Steuern mit der Leichtigkeit den er-
forderlichen Ertrag zu bringen vermochte, wie es die Ein-
kommensteuer tat. Die Befürchtung aber, daß die Steuer zu
einer Abwanderung des Kapitals führe, konnte er durch den
Hinweis auf die mit ihrer Hilfe erreichte Verbilligung der
Lebenshaltung, die als Wirkung der Tarifreform erwartet werden
durfte, genügend beschwichtigen, und so konnte er am Schluß
der Hauptdebatte, die der Eröffnung des Budgets folgte, seiner
Überzeugung m machtvoller Zusammenfassung Ausdruck geben •
„My opinions may be overruled and yet I have a confident
behef - that after the lapse of a short time after making
ineffectual attempts to repair the deficiency by other means,
by resorting to indirect taxation, it will be ultimately acknow-
ledged that the measure which I now propose is founded on
42) Hansard, III, vol. 61, col. soSff. und vol. 64, col. 3ff.
43) Hansard, III, vol. 61, col. 1183.
— 62 —
reason and justice, aiul, ihuugh oncc rcjected, ought to bc
adopted" ^^).
Die Budgetresolution, welche die Wiedereinführung der Ein-
kommensteuer Aorschlug und auf welche sich das Einkommen-
steuergesetz gründete, wurde am 12. April mit einer Majorität
von 106 Stimmen angenommen, und am 31. Mai ging das Gesetz
nach dritter Lesung durch das Unterhaus mit derselben Ma-
jorität, nachdem die Zwischenzeit durch die erste und zweite
Lesung und durch die Kommissionsberatungen ausgefüllt worden
war. Die Tarifreform wurde in einer besonderen Bill verkörpert,
die am 28. Juni nach der dritten Lesung im ünterhause ver-
abschiedet wurde.
§ 1 1-
Die Fortführung der Peelschen Tarifreformen
bis 1851.
Die Finanzmaßnahmen des Budgets von 1842 bedeuteten
keine Durchführung und Vollendung der Peelschen Reform-
politik, sondern deren vorbereitenden und grundlegenden Be-
ginn. In der weiteren Fortführung dieser Reformen traten nun
aber bisher versteckt wirkende, und darum mehr oder weniger
unbeachtete Entwicklungsmomente hervor, die untrennbar mit
dem Wesen der beiden Grundzüge der Peelschen Reform ver-
bunden waren und in logischer Weiterbildung eine von der ur-
sprünglichen Absicht abweichende Entwicklung der Finanzen
bewirkten. Weniger deutlich tritT; dies zunächst bei der Ein-
kommensteuer hervor, die bei ihrer Wiedereinführung ohne
wesentliche Änderungen der Vorratskammer staatlicher Be-
steuerungsmöglichkeiten als fertiges Werkzeug, wie es in einer
früheren Periode geschaffen worden war, übernommen wurde,
ohne in ihrer Organisation der grundsätzlich veränderten Auf-
gabe angepaßt zu werden. Der Umstand, daß die Steuer
durchaus nur als zeitweiliges Mittel zur Durchführung der Tarif-
reform gedacht war, hob darum in der ersten Zeit, in der ihre
Beseitigung noch erwartet werden konnte, alle Motive ihrer selb-
ständigen Fortentwicklung fast völlig auf, so daß sie in ihrem
Charakter kaum eine Veränderung zutage treten ließ.
44) Hansard, III, vol. 61, col. 1196.
- 63 -
Anders verhält es sich dagegen mit der Tarifreform, deren
Entwicklung sich um so mächtiger durchsetzte, als ihr Erfolg
schon in ihren Anfängen deutlich hervortrat. Die Grundsätze
der Pe eischen Reform waren stark und begründet genug, um
von sich aus eine völlige Umgestaltung des bisherigen Systems
zu bewirken, da ihrer Anwendung, soweit sie auf eine Ertrags-
steigerung durch eine Neubelebung aller wirtschaftspolitischen
Faktoren abzielte, keine andere natürliche und logische Grenze
gesetzt werden konnte, als eben die Erreichung dieses vorge-
setzten Zwecks. Eine Beschränkung freilich war in der von
Peel eingeschlagenen Politik gegeben, die auf der grundsätz-
lichen Anerkennung der auf den Schutz der heimischen Pro-
duktion gerichteten schutzzöllnerischen Interessen beruhte. Ge-
rade hier aber setzte in dem historischen Verlauf der Entwick-
lung ein neues Moment ein, das auf die Beseitigung auch dieser
Beschränkung gerichtet war: die Freihandelsbewegung,
die damit aus ihrer theoretischen Sonderstellung heraustrat und
ihre praktische V^erwirklichung erstrebte. Zunächst jedoch be-
deutete die Einwirkung dieser Bewegung keinen Gegensatz zu
der von Peel befolgten Politik, sondern deren konsequente
Durchbildung bis zu dem Punkt, an welchem die protek-
tionistischen Interessen mit den rein fiskalischen in Widerspruch
geraten mußten. Erst von diesem Augenbhck an trat die Frei-
handelspolitik, die freihch schon in Einzelfragen zum Durch-
bruch gelangte, mit dem Ziel eines reinen Finanzzollsystems
zur Schutzzollpolitik in entschiedenen Gegensatz und führte
mit ihrer allmählichen Verwirklichung über das von Peel an-
gestrebte Ziel hinaus.
SchließHch aber beeinflußte noch ein weiterer Umstand
durch seine finanzielle Rückwirkung die Gestaltung der Peel-
schen Reformen und trieb diese weiter, als P e e 1 es hätte voraus-
sehen können. Indem durch das Mittelghed der Preisbildung
die im Inland erhobenen Verbrauchssteuern in starker Abhängig-
keit von den Zöllen standen, erforderte die Notwendigkeit einer
w^echselseitigen Übereinstimmung der von den beiden Besteue-
rungsweisen hervorgebrachten Wirkungen stets auch eine den
Zollermäßigungen entsprechende Änderung der Verbrauchs-
besteuerung, welche fast durchgängig in einer erheblichen Re-
duktion bestand. Galten auch hierfür die schon früher erkannten
Wirkungen, daß der durch die Minderung der Steuerbelastung
^- 64 -
zu crwarlcnde ICiuiiahmcaustall durch gesteigerten Konsum
wieder ausgeglichen werden konnte, so wurden doch zu jedem
einzehien Fall die augenblicklichen Kosten der Tarifrefcjrm auf
diese Weise vermehrt, so daß die Unterstützung der Reformen
durch einen Einnahmeersatz noch im verstärkten Maße not-
wendig wurde. Ferner aber äußerte sich dieses Abhängigkeits-
verhältnis unmittelbar in der Auswahl derjenigen Gegenstände,
bei denen sich die Wirkungen der Reform leicht und schnell in
der Preisgestaltung der zoll- und verbrauchssteuerpflichtigen
Artikel widerspiegelten und die darum dem fiskalischen Interesse
am meisten entgegenkamen. Alle diese Momente und Entwick-
lungsmotive aber wirkten endlich gemeinsam und sich gegen-
seitig fördernd, einschränkend oder abändernd auf die Gesamt-
entwicklung ein, deren Verlauf so von finanzpolitischen Er-
wägungen und Absichten zwar eingeleitet vvurdc, in letzter Linie
aber sich nach den Bedingungen und Notwendigkeiten richtete,
die in den einzelnen wirksamen Faktoren selber gegeben waren.
Wenden wir uns nun dem Verlaufe der Entwicklung selber
zu, so erfolgte die wesentliche Durchführung der Peelschen
Reformpolitik in dem Budget des Jahres 1845. Dieses baute sich
grundsätzlich auf dem Budget von 1842 auf und unterschied
sich auch nach der gesamten Finanzlage nur wenig von jenem :
Tab. 4. Vergleichende Darstellung der Bedarfsdeckung 1 841/2
und 1844/5.
An dauernden Einnahmen
Ohne die
Die
waren vorhanden:
Ein-
Der Er-
gesamten
Ausgaben
kommen-
trag der
Ein-
Steuern
steuer be-
betrugen
(ohne Ein-
Sonstiges
Ins-
trug der
kommen-
in ]\Iill. £
kommen-
gesamt
Fehl-
steuerwar
steuer).
betrag
184 1/2
54.314
50,285
1,940
52,225
2,091
—
1844/5
54,840
50,229
2,725
52.954
1,886
5.345
+0,526
— 0,056
+0,785
+0,729
— 0,205
—
Die Grundbedingungen und Anforderungen zum mindesten
waren fast genau dieselben : noch immer blieb, wenn wir den
Ertrag der Einkommensteuer außer Rechnung setzen, ein erheb-
licher Fehlbetrag bestehen, der durch die indirekten Steuern
nicht gedeckt werden konnte und noch immer bedurfte man
eines Ersatzes, durch den die Kosten einer weiteren Reform
- 65 -
gedeckt werden konnten. Im indirekten System selber war
freilich eine Änderung vor sich gegangen, indem durch den
Mehrertrag der Zölle und der Verbrauchssteuern die Kosten
der bisherigen Tarifreform wiederum gedeckt worden waren.
Gerade dieser Erfolg der Reform von 1842 aber trug in sich
selber das mächtigste Motiv, auf der eingeschlagenen Bahn fort-
zufahren und die 1842 aufgestellten Reformgrundsätze ihrer
Verwirklichung entgegenzuführen.
So war es denn 1845 genau wie früher die doppelte An-
forderung, die an die Einkommensteuer gestellt wurde, einmal
die Deckung des notwendigen Staatsbedarfs sicherzustellen und
zum andern die Fortführung der Tarifreform zu ermöglichen.
Die Reform selber aber wurde auch diesmal wieder in der Ab-
sicht unternommen, den Ertrag des indirekten Systems derart
zu steigern, daß er zur alleinigen Deckung des Bedarfs aus-
reichte, und schheßlich fand auch das schutzzöUnerische Interesse
noch immer uneingeschränkte Anerkennung. So strich denn die
Reform von 1845 nicht weniger als 430 Artikel, die einen kaum
nennenswerten Ertrag lieferten und fast durchweg Rohmate-
rialien betrafen, die in die heimische Produktion eintraten, aus
dem Tarif und beseitigte auch den 1842 noch beibehaltenen
letzten Rest der Ausfuhrzölle. Andererseits aber erfuhr der
Steuerzahler für die Last der Einkommensteuer einen bedeut-
samen Ausgleich durch eine erhebliche Reduktion des Zucker-
zolles und anderer Verbrauchssteuern ^^j. Die Einkommen-
steuer aber übernahm für eine weitere Periode von drei Jahren
genau dieselbe Funktion, die ihr 1842 zugewiesen worden war,
und wiederum wurde sie ohne jede Änderung ihrer Struktur
dem Finanzsystem als zeitweilige Ertragsquelle hinzugefügt.
Diese Entwicklung der Finanzreform ging in den folgenden
Jahren ihren vorgezeichneten Weg, und nur in einer, allerdings
bedeutsamen Beziehung erfuhr sie eine Erweiterung durch den
Einfluß der Freihandelsbewegung, indem 1846 die Kornzölle,
gegen die sich bisher die freihändlerisch gerichtete Theorie
als der typischen Erscheinungsform der Schutzzollpolitik fast
ausschließlich gewandt hatte, fielen und auf einen fast nomi-
nalen Betrag erniedrigt wurden.
45) Hansard, III, vol. •]•], col. 455/96.
Ferner Northcote, Policy, S. 41/66.
Zeitschrift tür die ges. Staatswissenscb. Ergänzungsheft 48.
- 66 —
Aber auch die MinkoiiiiiRiislcucr erfuhr in der Folgezeit
nach dem Abhiuf der zweiten Dreijahr])eriodc eine merkwürdige
Verschiebung ihrer Funktion imd der Stellung, die sie bisher im
Einnahmesystem besaß. Bis zum Jahre 1847 war die Finanz-
reform durch die normale Gestahung des Bedarfs, der in diesem
Jahre nur eine geringe Steigerung erfahren hatte, sehr begünstigt
worden, dagegen ließen sich die Jahre 1847 und 48 überaus
ungünstig an. Vor allem war es die furchtbare Hungersnot in
Irland, die an den Bedarf außerordentliche Anforderungen stellte,
und der verzweifelte und blutige Aufstand der Kaffern in Süd-
afrika erforderte zu seiner Unterdrückung ebenfalls einen außer-
ordentlichen Betrag für militärische Zwecke. So ergab sich
für das Budget von 1848 zum ersten Male wieder seit 1842 die
Forderung einer Steuererhöhung auf Grund der Bedarfsvermeh-
rung. Ihrer Veranlassung nach war diese aber durchaus zeit-
licher und Aorübergehcnder Natur, so daß sich eine Erhöhung
der dauernden Besteuerung keineswegs empfahl, und hier ist
es nun nicht nur charakteristisch für den Wandel der Anschau-
ungen, der sich inzwischen vollzogen hatte, sondern auch für
die Bedeutung der Einkommensteuer, daß das liberale Ministe-
rium Lord Russeis, der 1842 die Einführung der Einkommen-
steuer so energisch bekämpft hatte, nicht allein die Erneuerung
dieser Steuer einer Erhöhung der indirekten Steuern vorzog,
sondern, darüber hinausgehend, sogar die Deckung des entstan-
denen zeitlichen Mehrbedarfs durch eine Erhöhung der Ein-
kommensteuer auf 1 sh. vorschlug fc). Durch diesen Vorschlag
wurde zunächst ein Moment in den Vordergrund geschoben,
das einer Erweiterung der Funktionen gleichkam, welche die
Einkommensteuer in ihrer bisherigen Existenzperiode im eng-
lischen Finanzsystem ausgeübt hatte, indem sie nunmehr nicht
nur als Ersatz des infolge der Tarifreform verursachten zeit-
weiligen Einnahmeausfalls, sondern als selbständige Ein-
nahmequelle zur Deckung eines vorübergehenden Bedarfs ver-
wendet werden sollte. Wurde auch dieser Vorschlag der Re-
gierung abgelehnt und die Einkommensteuer in ihrer alten Höhe
von 7 d auf 3 Jahre einfach nur erneuert, so trat eben doch
damit eine Schwierigkeit hervor, die bisher zwar verborgen,
aber tatsächlich doch mit der Entwicklung der Finanzen seit
1842 bereits gegeben war.
46) Hansard, III, voL 96, col. 900/22.
- 67 -
Erinnern wir uns noch einmal kurz der leitenden Grundidee
der Finanzreform von 1842, durch eine Tarifreform das in-
direkte System zur Deckung des dauernden und eines steigenden
Bedarfs tauglich zu machen, so erkennen wir aus einer ver-
gleichenden Prüfung der Finanzen vor und nach der Reform,
daß diese Grundidee nicht verwirklicht worden war. Obwohl
die Tarifreform an sich durchaus erfolgreich war, so war es
doch nicht gelungen, eine absolute Ertragssteigerung der in-
direkten Steuern zu erlangen, mit welcher die finanziellen Ab-
sichten der Reform, Beseitigung des Defizits und Deckung des
steigenden Bedarfs, hätten erreicht werden können, wie aus
den beiden folgenden Tabellen 5 und 6 deutlich hervorgeht.
Tab. 5. Übersicht über die finanzielle Wirkung der Tarif reform
(1842/3— 50/1).
Zölle und Verbrauchssteuern
1842/3—44/5
1845/6—47/8
1848/9 — 50/1
Veranschlagter Ertrag bei
gleichbleibendem Steuersatz
und Konsum
114,762
111,214
109,234
\'eranschlagter Ertragsausfall
durch Steuerreduktion . . .
1,776
5.9SS
2,186
Veranschlagter Ertrag b. gleich-
bleibendem Konsum ....
112,986
105,229
107,048
Erzielter Ertrag
111,214
109,234
112,363
Absolute Ertragsverminderung
oder Vermehrung
— 3.548
— 1,980
+ 3.129
Ertragsausfall infolge vermin-
derten Konsums
1,772
—
—
Ertragssteigerung infolge ver-
mehrten Konsums ....
—
4,005
5,315
Das Mißverhältnis zwischen den dauernden Einnahmen und
Ausgaben, wie es bis 1842 bestand, war so in dem Jahrzehnt
der Peel sehen Reformen keineswegs beseitigt, sondern noch
gesteigert worden. Daraus aber erkennen wir nun deutlich
die Stellung, welche der Einkommensteuer für diese Zeit im
englischen Finanzsystem zukam, und die Funktionen, welche
sie tatsächhch ausübte. Indem sie nicht allein die Durch-
führung der Tarifreform und die Deckung des ursprünglich vor-
handenen Budgetdefizits sicherstellte, sondern auch die Deckung
des vermehrten Bedarfs und die Erzielung eines jährlichen
Überschusses ermöglichte, erfüllte sie die Aufgabe einer ordent-
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- 69 -
liehen Finanzquelle, die in dem bestehenden System nicht wieder
entbehrt werden konnte. Zahlenmäßig gelangen diese Fimk-
tionen der Einkommensteuer in der nebenstehenden Tab. 7
zur Anschauung.
Noch deutlicher wurde diese Tatsache, die so gewisser-
maßen das negative Ergebnis der Peel sehen Reformabsicht
darstellt, im Jahre 185 1, als die Erneuerung der Einkommen-
steuer wiederum das Hauptmerkmal des Budgets bildete. Auch
hier trat zwar das Reformmotiv Peels wieder hervor, jedoch
schon in einer deutlichen Modifikation, indem die Erneuerung
der Einkommensteuer nicht zur Durchführung weiterer Reformen
überhaupt gefordert, sondern geradezu als Ersatz der indirekten
aufgehobenen Steuern gerechtfertigt wurde. Aber das Grund-
motiv zur Beibehaltung lieferte doch die absolute Höhe des
Bedarfs, der sich nicht so weit zurückschrauben ließ, um durch
den Ertrag der indirekten Steuern, deren Erhöhung andererseits
als ungeeignet abgelehnt wurde, ausreichende Deckung finden
zu können. So verHeh einfach die Höhe ihres Ertrags der
Einkommensteuer ein natürliches Beharrungsvermögen, das sich
ihrer Beseitigung aus dem Finanzsystem widersetzte.
Indem sich damit aber die Unzulänglichkeit der indirekten
Besteuerungsmethoden, den Anforderungen der stets weiter um
sich greifenden und sich fortentwickelnden modernen Staats-
und Finanzwirtschaft zu genügen, erwies, schob sich das Problem
einer Ergänzung des indirekten Systems durch direkte Steuern
immer mehr in den Vordergrund. Es ist leicht ersichtlich, daß
damit aber auch das Problem der Einkommensteuer als einer
bereits bestehenden direkten Steuer aufs neue gestellt sein
mußte. Diesmal freilich von einem ganz anderen Gesichtspunkt
aus, als dem, von welchem aus Pitt 1798 und Peel 1842
die Einführung der Steuer für notwendig erachtet hatten.
§ 12.
Das Problem der direkten Besteuerung.
Die Peelsche Reformpolitik hatte ihre finanzielle Grund-
absicht, das indirekte System zur Bedarfsdeckung tauglich zu
machen, ohne es seiner wirtschaftspolitischen Nebenaufgabe zu
berauben, nicht erreicht. Ohne die Einkommensteuer bestand
das Mißverhältnis zwischen dem Bedarf und den zu seiner
70 --
Deckung verfügbaren dauernden Einnahmen fast mit demselben
Stärke fort, mit der es 1842 zur lunleitung der Tarif reform
getrieben hatte. Der Erfolg der I\eformi)()liiik bestand nur in
der allerdings wesentlichen Vercinfaclunig des Systems der in-
direkten Besteuerung und darin, daß die Kosten der Reform
durch die indirekten Steuern selber wieder aufgebracht worden
waren. Darin lag zweifellos ein stark wirkendes Motiv, die
eingeschlagene Bahn weiter zu verfolgen und durch eine Be-
seitigung der noch bestehenden Schranken und Hemmungen
auf die wirtschaftliche Entwicklung fördernd einzuwirken und
die Ertragsfähigkeit der indirekten Steuern so zu heben, daß
diese zur Deckung des Bedarfs genügten. Dieser Absicht gegen-
über aber mufite doch die Tatsache hervortreten, daß die in-
direkten Besteuerungsmethoden nicht ausreichten, um die der
modernen Volkswirtschaft entstammenden und in den kapita-
listischen Betriebsformen sich ansammelnden Einkommensarten
zu erfassen und in dem Maße der Besteuerung zu unterwerfen,
wie es ihrer Leistungsfähigkeit entsprochen hätte. Während in
der vorkapitalistischen Wirtschaftsperiode die Gleichartigkeit
der Einkommensgewinnung und die geringe Differenzierung
der Einkommensverteilung, die für breite Schichten der Be-
völkerung mit einer weitgehenden Übereinstimmung der Lebens-
haltung zusammenfällt, die Erfassung der wesentlichen Ein-
kommensarten und eine gewisse Verhältnismäßigkeit der Lasten-
verteilung durch ein rein indirektes Besteuerungssystem zu er-
möglichen scheint, wird dies um so weniger der Fall sein, je
mehr mit der Ausbildung der großkapitalistischen Betriebs-
formen die ungeheure Konzentration des Kapitals in den Händen
verhältnismäßig weniger Personen fortschreitet. Im selben
Maße, wie sich diese Anhäufung des Kapitals vollzieht, ver-
ringert sich im Gesamteinkommen eines Volks das Verhältnis
der Einkommensteile, die in irgend einer Form der persönlichen
Bedürfnisbefriedigung verausgabt und durch die indirekten Steu-
ern allein erfaßt werden können, zu jenem, die, aus der kapita-
listischen Betätigung stammend, zu fortgesetzter Kapitalsbildung
verwendet und einer gesteigerten Produktion dienstbar gemacht
werden und darum der indirekten Besteuerung fast gänzlich ent-
gehen. Auf diese Weise aber bildet sich auch eine immer
schroffer werdende Unverhältnismäßigkeit der steuerlichen Be-
lastung heraus, die noch verschärft wird, je mehr mit der Aus-
— 71 —
bildung des Freihandels der Umkreis der steuerpflichtigen Ob-
jekte auf Gegenstände des unmittelbaren Massenkonsums ver-
engt wird und die Befreiung der Rohmaterialien und Produk-
tionsstoffe auch die letzte Möglichkeit beseitigt, auf indirektem
Weg das in der Produktion arbeitende Kapital heranzuziehen.
Indem aber gerade durch die Entwickhmg der Volkswirtschaft
der staatliche Aufgabenkreis fortgesetzt erweitert und so der
Bedarf des Staats gesteigert wird, macht sich die Notwendigkeit
geltend, diese Einkommensarten der Besteuerung zu unterwerfen,
um so mehr, als deren Leistungsfähigkeit durch ihre ungeheure
Vermehrung offenbart wurde.
In England bestand diese Notwendigkeit schon seit der
Zeit, als die tatsächliche Aufwärtsbewegung der Volkswirtschaft
und die damit verbundene Kapitalkonzentration nach dem fran-
zösischen Krieg mit ihrer vollen Energie eingesetzt hatte, wobei
sie noch durch die mit der industriellen Entwicklung parallel
gehende Monopolisierung des Großgrundbesitzes verstärkt wurde.
Nach außen trat sie jedoch erst durch die eintretende Unzu-
länglichkeit der indirekten Steuern, den Staatsbedarf allein zu
decken, auch als finanzielle Notwendigkeit hervor, als der Peel-
sche Reformversuch eben in der Grundidee, diese Unzulänglich-
keit zu beseitigen, sich als machtlos erwies.
So war mit dem Ablauf der Peelschen Reformepoche das
alte Finanzproblem, das budgetmäßige Gleichgewicht zwischen
Einnahmen und Ausgaben sicherzustellen, dahin verschoben
worden, eine neue und dauernde Einnahmequelle, die eben nur
eine direkte sein konnte, dem Finanzsystem einzugliedern. Die
Unterfrage, welcher Art diese neu zu bildende Steuer sein
sollte, wurde nun aber durch das tatsächliche Dasein der Ein-
kommensteuer in einer ganz bestimmten Richtung beeinflußt.
Gerade der Umstand, daß man die Einkommensteuer in dop-
pelter Weise als äußerst wertvolles Finanzmittel zur Befriedigung
außergewöhnlicher Anforderungen (Kriegsbedarf) oder zur
Durchführung außerordentlicher Aufgaben (Finanzreform) er-
kannt hatte, schien von Anfang an eine Handhabung dieser
Steuer als ordentlicher Finanzquelle, mit der ihre Brauch-
barkeit zu anderen Zwecken aufgehoben worden wäre, völlig
auszuschließen. Dazu kam die fast allgemeine Überzeugung,
daß eine technische Reform der Steuer, welche ihre tatsächliche
oder vermeintHche Ungerechtigkeit und Ungleichheit beseitigt
72
hätte, unmöglich sei, so daß auch in dieser Hinsicht die Steuer
durchaus ungeeignet erschien, ein dauerndes GHed der Staat;
liehen Besteuerung zu bilden. Andererseits aber, und in der
Folgezeil wurde das wiederum zum ausschlaggebenden Moment,
machte sich die Beharrlichkeil der Einkommensteuer, die ihr
durch ihre Ertragsfähigkeit zukam, doch so sehr geltend, daß
ihre Verdrängung nur durch eine mindestens ebenso ertragreiche
Steuer ermöglicht werden konnte.
Demgegenüber bot sich nun aber ein Ausweg, indem durch
die Verschiedenheit der Erscheinungsformen, in denen das
leistungsfähige Kapital auftritt, eine Verschiedenheit der Be-
steuerungsmethoden nahegelegt wurde, um mit jeder Steuer eine
typische und einheitliche Form zu erfassen. Verzichtete man
auf die direkte Einkommenbesteuerung, so blieb noch immer
die Möglichkeit einer direkten Besteuerung der Grundlagen
der Einkommensgewinnung, einer Kapital- und Vermögens-,
oder einer direkten Objektbesteuerung. Theoretisch trat als
Ersatz der Einkommensteuer namentlich der Gedanke einer
Vermögenssteuer immer und immer wieder in den Debatten
des Unterhauses hervor und fand auch seine wiederholte For-
mulierung. Des weiteren machte sich aber auch der Gedanke
einer ausgedehnteren Nachlaßbesteuerung, die seit ihrer ersten
Einführung durch Pitt noch immer in ihren verkümmerten
Anfängen steckte, geltend, um so das angesammelte Kapital
bei seinem Übergang in andere Hände in einmaliger Besteuerung
zu erfassen. Die Objektbesteuerung fand ebenfalls in verschie-
denen Formen ihre Befürwortung und vor allem war es hier
die Form der Gebäudesteuer, deren Einführung als ein Glied
des direkten Besteuerungssystems aussichtsvoll und nützlich er-
schien. Von allen diesen Vorschlägen fand zunächst nur die
Gebäudesteuer ihre Verwirklichung, die 185 1 an die Stelle
der veralteten und wenig wirksamen Fenstersteuer gesetzt
wurde. Außerdem aber kam es in diesen Jahren zu keiner
weiteren bedeutenden Finanzmaßnahme, da die Unbeständig-
keit der Mehrheitsverhältnisse im Unterhaus seit der Ablösung
des Peel sehen Ministeriums (1848) eine entschiedene Politik
unmöglich machte.
Zunächst war es die konservative Partei unter der geistigen
Führung Benjamin Disraelis, die mit einem programma-
tischen Finanzplan sich die Möglichkeit zu sichern suchte, die
— 1?> —
Gestaltung der pülitischen Zukunft Englands durch eine neue
grundlegende Finanzreforni zu beeinflussen. An sich bestand
auf beiden Seiten des Unterhauses nur eine geringe Geneigt-
heit, die Einkommensteuer in ihrer vorhandenen Form dauernd
beizubehalten, und soweit demnach ihre Beibehaltung überhaupt
als wünschenswert erachtet wurde, hatte dieser Wunsch stets
die Forderung einer durchgreifenden technischen und orga-
nisatorischen Reform der Steuer zur Voraussetzung. So lehnte
das Unterhaus 185 1 die Erneuerung der Einkommensteuer für
drei weitere Jahre auf den Antrag Josef Humes ab, gewährte
die Steuer nur auf i Jahr und schloß sich auch dem weiteren
Antrag Humes an, zur Untersuchung der Einkommensteuer-
verhältnisse eine parlamentarische Kommission einzusetzen,
deren Aufmerksamkeit sich besonders denjenigen Fragen zu-
wenden sollte, von deren Beantwortung die Möglichkeit einer
Beibehaltung der Steuer wesentlich abhing 'i'^).
An eben diese Frage aber schloß sich auch die Finanz-
politik Disraelis an, der die Notwendigkeit einer Ergänzung
des Steuersystems durch irgendeine Form der direkten Be-
steuerung grundsätzlich zugab, aber mit der Forderung einer
möglichst weitgehenden Allgemeinheit jeder Steuer eine Um-
gestaltung der Einkommensteuer, deren Anwendung durchaus
nicht allgemein war, ebenfalls als notwendige Voraussetzung
ihrer dauernden Einfügung in das Finanzsystem anerkannte.
Das wechselseitige Verhältnis der indirekten und der direkten
Steuern aber bestimmte sich durch den weiteren Grundsatz, den
D Israeli als „the golden rule of all Chancellors of the Ex-
chequer" bezeichnete, daß keine Steuer ein Übergewicht über
die anderen erlangen sollte, der Gesamtertrag vielmehr aus einer
möglichst großen Zahl von Steuern mit annähernd gleichem
Ertrag gebildet werden sollte, um auf diese Weise alle Ein-
kommensquellen gleichmäßig zu erfassen. In seiner praktischen
Anwendung auf die Steuerpolitik bedeutete dieser Grundsatz
nicht nur eine Ablehnung einer einzelnen direkten Steuer mit
erheblichem Ertrag, sondern auch die bewußte Abkehr von der
Entwicklungstendenz, die sich auf eine Beschränkung der in-
direkten Besteuerung auf wenige Gegenstände des Massen-
47) Vgl. Northcote, Policy, S. 161 und Hansard, III, vol. 120,
col. 9 ff.
konsums richtete ^ö). So lehnte Disraeli die weitere Besei-
tigung indirekter Steuern mit geringem Ertrag ab, schlug viel-
mehr eine allmähliche Erleichterung der Malz-, Hopfen- und
Tccsteuer, und andererseits eine Erweiterung der Gebäude-
stcuer vor, während die Einkommensteuer durch Ausdehnung
auf Irland und Einschränkung der Befreiungsgrenze einmal in
ihrer Anwendung allgemeiner, durch eine ermäßigte Besteue-
rung der Arbeitseinkommen zum andern auch gerechter ge-
macht werden sollte ^^9). Das konservative Ministerium Lord
Derbys und Disraelis vermochte jedoch dieses Budget nicht
aufrecht zu erhalten und machte darum im Dezember 1852
dem Koalitionsministerium Lord Aberdeens Platz, in welchem
William Gladstone den Posten des Finanzministers über-
nahm.
Damit tritt ein neues Moment in die Entwicklung der
englischen Finanzwirtschaft ein, die Persönlichkeit Gladstones,
dessen tiefgreifende Wirkung aus dem Umstand schon er-
schlossen werden kann, daß dieser Mann in einem Zeitraum
von rund 40 Jahren seinen mächtigen Einfluß auf die Ge-
staltung des Finanzwesens teils unmittelbar als Finanz- oder
erster Minister, teils als Führer einer starken Opposition mittel-
bar geltend machen konnte ^'^j. Die besondere Haltung Glad-
stones zu der Kernfrage der Finanzpolitik ergab sich aus zwei
Ideenrichtungen, die in ihm ihre Vereinigung fanden. Als
Schüler Peels, zu dessen Verwaltung er gehört hatte, hielt
er durchaus an dessen Reformpolitik und Absicht fest, durch
eine auf Vereinfachung gerichtete Umgestaltung eine Ertrags-
steigerung der indirekten Steuern zu bewirken. Hier aber
übte die Freihandelstheorie ihren Einfluß auf ihn aus, so daß
er, ohne die von Peel noch aufrecht erhaltene Schranke des
Schutztarifs anzuerkennen, die Vereinfachung der indirekten
Steuern rein im fiskalischen Interesse erstrebte. W^ährend
Gladstone somit den Umfang der Tarif reform erweiterte,
unterschied er sich von Peel auch durch die klare Erkenntnis
der Unzulänglichkeit der indirekten Besteuerungsmethoden und
48) Vgl. Xorthcote, S. 167.
49) Vgl. Dowell, History, II, S. 319 und Hansard, III, vol. 123,
col. 836ff.
50) Vgl. über Gladstones Bedeutung als Finanzminister Sidney Bux-
tons „Gladstone as Chancellor of the Exchequer".
— j :> ^
erkannte darum die Notwendigkeit einer Ergänzung derselben
durch direkte Steuern an. Damit aber war auch für ihn die
Stellungnahme der Einkommensteuer gegenüber zur Kernfrage
der Finanzreform geworden.
Die unmittelbare Beseitigung der Steuer war trotz des
hohen Ausfalles von rund 51/2 Millionen £, den sie zur Folge
gehabt hätte ^i), an sich wohl möglich, da durch eine Grund-
und Häusersteuer, eine Gewerbelizenzsteuer und durch eine
Neugestaltung der Vermächtnissteuern ein entsprechender Er-
trag sicher hätte gewonnen werden können ^2^ Dadurch aber
wäre schließlich doch nur die eine Absicht verwirklicht worden,
direkte Steuern einzuführen, deren Ertrag zwar das Einnahme-
defizit gedeckt, nicht aber die Fortführung der Tarifreform
gesichert hätte. Erschien so die Beseitigung der Einkommen-
steuer im Hinblick darauf als unzweckmäßig, so mußte anderer-
seits doch wieder eine möglichst endgültige Entscheidung ge-
troffen werden, welche das Schicksal der Steuer bestimmte. Den
gewichtigsten Grund gegen eine dauernde Verwendung der Ein-
kommensteuer als ordentlichen Gliedes des staatlichen Be-
steuerungssystems bildete vor allem die tiefgewurzelte und weit-
verbreitete Abneigung, welche gegen die Steuer bestand und
die durch eine Reform der Steuer kaum beseitigt werden konnte.
Zudem aber war durch eine so tiefgreifende innere Umgestaltung
der Steuer, welche die gegen sie erhobenen Einwürfe wirklich
beseitigt hätte, zu befürchten, daß der finanzielle Ertrag beein-
trächtigt und die Möglichkeit ihrer Verwendung als außerordent-
liches Hilfsmittel in allerlei Notlagen aufs Spiel gesetzt worden
wäre. Für Gladstone wurde gerade diese Gefahr ausschlag-
gebend : „I believe it to be of vital importance, whether you
keep this tax, or whether you part with it, that you either
should keep it in a State, in which it will be fit for Service
on an emergency; and that it will be impossible to do it, if
you break up the basis of your Income tax" ^3). Entschied sich
51) Im Budget 1853/4 belief sich der Voranschlag der
Ausgaben auf 52,083 Millionen £,
Einnahmen (ohne Einkommensteuer) auf 46,733 „ „
Fehlbetrag auf 5,35o „ „
52) Hansard, III, vol. 125, col. 1359.
53) Hansard, III, vol. 125, col. 1384, ferner Northcote, S. 190.
76 -
(jlatUionc so gegen eine clanenule BciljehalUuig, so. wurde
d'w Notwendigkeit um so deutüchrr, den zeitlichen Charakter
der Steuer zu betonen, und durch Maßnahmen, welche ihre
Abschaffung in absehbarer Zeit ermöglichten, von vornherein
sicherzustellen. Und hierin nun bestand der Zug, der dem
Budget von 1853 sein besonderes Gepräge verleiht. Die Deckung
des Einnahmedefizits sollte zunächst wiederum durch die Ein-
kommensteuer erfolgen, aber darüber hinaus sollte sie auch
wieder die Weiterführung der Tarifreform ermöglichen, durch
welche die indirekten Steuern und Zölle weiter vereinfacht und
so zu erhöhter Ertragsfähigkeit angeregt werden sollten.
Der gewonnene Ertragsüberschuß aber sollte dann zu einer
planmäßigen und bestimmten allmählichen Reduktion
der Einkommensteuer verwendet werden, um nach der end-
lichen Beendigung der Reformen die Steuer entbehrlich zu
machen.
So dehnte Gladstone seinen Finanzplan auf einen Zeit-
abschnitt von sieben Jahren aus, während derer die Einkommen-
steuer zunächst zwei Jahre lang zu einem Steuersatz von 7 d
erhoben, für die nächsten zwei Jahre auf 6 d und für die nächsten
drei Jahre auf 5 d ermäßigt werden sollte, um dann am 5. April
1860 zu erlöschen ^^).
Ging Gladstone auf diese Weise der Frage einer durch-
greifenden Reform der Einkommensteuer auch aus dem Wege,
so war es im Hinblick auf die lange Dauer, welche der Steuer
noch beschieden sein sollte, doch 'nicht möglich, sie ohne jede
Veränderung fortzusetzen. Weniger im Interesse ausgleichen-
der Gerechtigkeit als dem einer Ertragssteigerung erfolgte die
Ausdehnung der Steuer auf Irland, welches bisher zwar an den
günstigen Wirkungen der Tarifreform teilgenommen, aber zu
ihrer Durchführung nur wenig beigetragen hatte, und die Herab-
setzung der Befreiungsgrenze auf 100 £ jährlichen Gesamtein-
kommens. Auf die Forderungen einer gerechten Lastenvertei-
lung wurde dabei aber insofern Rücksicht genommen, als die
nunmehr steuerpflichtigen Einkommen zwischen ioo und 150 £
für den ganzen Zeitraum nur zu 5 d besteuert werden sollten.
Zur tatsächlichen Beseitigung innerer Ungerechtigkeiten trug
54) Hansard, III, vo]. 125, col. 1387.
~ n —
jedoch nur die Erlaubnis, den Betrag der Lebensversicherungs-
prämie in Abzug zu bringen, und die Abänderung des Ver-
anlagungsverfahrens der beruflichen Einkommen bei, die nun-
mehr wie die gewerblichen nach dem Durchschnitt der voraus-
gegangenen letzten drei Jahre besteuert wurden ^äj.
Mit dem durch diese Ausdehnung gesteigerten Ertrag sollte
die Einkommensteuer die finanzielle Grundlage der Budget-
maßnahmen bilden, bis sie durch die Ertragssteigerung,
welche von der Tarifreform erwartet wurde, entbehrlich ge-
worden wäre.
Freilich ließ sich kein derartiges Wachstum der indirekten
Steuern erwarten, daß ihre bisherige Unzulänglichkeit völlig
ausgeglichen worden wäre. So bestand das Bedürfnis fort, die
dauernden Einnahmen durch eine Form der direkten Besteue-
rung zu vermehren. Hier bot die bestehende Nachlaßbesteue-
rung durch eine Ausdehnung der bisher nur vom beweglichen
Vermögen erhobenen Vermächtnissteuer auf unbewegliches Ver-
mögen nicht nur die Möglichkeit einer Ertragssteigerung, son-
dern auch eine sehr geeignete Form zur Ergänzung des in-
direkten Steuersystems durch eine entwicklungsfähige Form
der direkten Vermögensbesteuerung, während gleichzeitig da-
mit eine unberechtigte Anomalie beseitigt wurde, die in der
einseitigen Besteuerung des beweglichen Vermögens ge-
legen hatte.
Diese Finanzmaßnahmen aber bildeten nur die Vorberei-
tung und Grundlegung des eigentlichen Hauptzwecks, den das
Budget von 1853 zu erfüllen suchte, der Reform der indirekten
Besteuerung. Soweit diese in der Absicht unternommen wurde,
die Ertragsfähigkeit der indirekten Steuern zu heben, und, wenn
auch nicht jede direkte Besteuerung überhaupt, so doch die Ein-
kommensteuer nach und nach entbehrlich zu machen, stellt sie
die geradlinige Fortführung der Peelschen Reformpolitik dar.
Sie unterscheidet sich aber grundsätzlich von dieser in der
unbedingten Anerkennung der Freihandelsidee und durch die
Absicht, das reine Finanzzollsystem zu verwirklichen. Die
Freihandelsidee fand ihren Ausdruck in der Beseitigung
aller Fabrikat- und aller Differentialzölle, während die fis-
55) Dowell, History, II, S. 320.
— 7« -
kaiische Absicht in der weitgehenden Vereinfachung des Tarifs
und in der Beschränkung auf produktive Steuern sichtbar
wurde ^^).
i'berbhcken wir die Durchführung der Finanzreform von
1833, so wird uns die Tatsache ohne weiteres klar, daß das
eigentliche und bedeutungsvolle Problem der damaligen eng-
lischen Finanz, die Frage der ergänzenden direkten Besteue-
rung, in dem Budget von 1853 ihre Lösung nicht gefunden hatte.
Das ursprüngliche Verhältnis der beiden Besteuerungsmethoden
war zwar durch die Wohnhaussteuer und durch die Ausdehnung
der Vermächtnissteuer etwas zugunsten der direkten Steuern
verschoben worden und namentlich war mit der letzteren der
Keim einer nicht nur praktisch erfolgreichen, sondern auch
theoretisch leicht zu rechtfertigenden Form der direkten Ver-
mögensbesteuerung gegeben. Die Frage der Einkommensteuer
aber war nur scheinbar entschieden, so lange die beschlossene
Beseitigung der Steuer von dem Erfolg der Zoll- und Verbrauchs-
steuerreform abhing, und vor allem war das an der Wurzel aller
dieser Fragen liegende Problem, die zur Erfassung der aus der
kapitalistischen Produktion entstehenden Einkommensarten taug-
liche Besteuerungsform zu finden, durch die Vermeidung einer
Einkommensteuerreform fast völlig unberührt geblieben. An-
dererseits aber, und darin liegt die Zukunftsbedeutung der
Reform, war durch die Ausdehnung der Einkommensteuer auf
Irland und auf die niederen Einkommensklassen die Beharrlich-
keit dieser Steuer erheblich verstärkt worden, während durch
56) Hansard, III, vol. 125, col. 1417.
Das endgültige Budget von 1853/4 gestaltete sich folgender-
maßen:
Gesamtausgaben 52,183 Mill. £,
Einnahmen :
ursprünglicher \'oranschlag 52,990
Mehrertrag der Einkommensteuer 0,295
Nachlaßsteuern 0,500
Brennsteuern 0,436
54,221
davon ab: Kosten der Tarifreform 1,656
Für 1853/4 verfügbare Gesamteinnahmen 52,565 Mill. £.
Überschuß: 0,382 Mill. £.
— 79 —
die Neugestaltung der indirekten Besteuerung die Ergänzung
derselben durch direkte Besteuerungsmethoden geradezu heraus-
gefordert wurde. Die mit dem Budget von 1853 eingeleitete
planmäßige Fortentwicklung der Finanzen erfuhr jedoch durch
den noch im selben Finanzjahr ausbrechenden Krieg mit Ruß-
land nicht allein eine Unterbrechung, sondern eine tief umge-
staltende Beeinflussung, durch welche das Verhältnis der ein-
zelnen Einnahmequellen zueinander und ihre Stellung im Gesamt-
budget verändert wurde.
Die Kosten des Kriegs, der sich über die drei Finanzjahre
1854/56 erstreckte, beliefen sich annähernd auf 78 Millionen £.
Die Deckungsfrage konnte einem so hohen Betrag gegenüber
nicht auf die Vermehrung der Steuern beschränkt werden, um
so weniger als die im Laufe des Finanzjahrs allmählich einlaufen-
den dauernden Einnahmen für die Staatskasse nicht so zur Ver-
fügung gestellt w^erden konnten, als es den wechselnden und
meist dringlichen Anforderungen des Kriegsbedarfs entsprach.
So ließ sich schon aus rein finanztechnischen Gründen die Auf-
nahme kurzfristiger Anleihen, wie sie die Ausgabe von Kassen-
scheinen und Schatzanweisungen darstellt, nicht vermeiden. So-
weit aber die Deckung durch Steuererhöhung in Frage stand,
bot sich hier wieder die Einkommensteuer als williges Werkzeug
dar, zur Bedarfsdeckung verwandt zu werden, während Glad-
stone eine Erhöhung der indirekten Steuern für unzweck-
mäßig hielt, um den Erfolg der Reform des Vorjahrs nicht zu
gefährden. So erfuhr die Einkommensteuer zunächst für die
erste Hälfte des Jahres eine Verdoppelung, die aber infolge der
erhöhten Kriegsausgaben auf das ganze Jahr ausgedehnt wurde,
so daß die Einkommensteuer für 1854/55 zu einem Satz von
14 d erhoben wurde. Der Bedarf freilich überstieg den so er-
zielten Mehrertrag von 61/2 Millionen £ beträchtlich, so daß
sich eine entsprechende Vermehrung der indirekten Besteuerung
nicht umgehen ließ. Doch hielt Gladstone an seiner ur-
sprünglichen Finanzpolitik durchaus fest, indem er die Er-
höhung einigen wenigen Steuern aufbürdete, die ertragsfähig
genug erschienen, um keine Ertragsverminderung infolge einer
Einschränkung des Konsums befürchten zu lassen. Die Haupt-
last trug hierbei die Malzsteuer, während durch eine Erhöhung
der irischen und schottischen Brennsteuem und durch eine
Veränderung der Zuckersteuer ein weiterer Mehrertrag erzielt
- - 8o
wurde, wobei ungefähr zwei Drittel der ganzen Steuererhöhung
von der Einkommensteuer getragen wurden ''"i.
Im lanuar NS33 wurde das Ministerium Lord Aberdeens
durch Lord Palmers ton ersetzt. Der neue Linanzminister
Lewis wich nun von der Finanzj)olitik Gladstones erheblich
ab, indem er den Anleihen einen weit größeren Anteil an der
Bedarfsdeckung überließ. Die Einkommensteuer erfuhr zwar
wiederum eine Erhöhung um 2 d mit der Bestimmung, daß die
ganze während des Kriegs erfolgte Erhöhung von 9 d (the war
nine-pence) bis zur Beendigung desselben beibehalten werden
sollte. Von den indirekten Steuern wurden namentlich Zucker
und Tee sehr schwer belastet, aber auch Kaffee mit herange-
zogen und die Brennsteuern weiter erhöht. Während aber die
von Gladstone bewirkte Erhöhung der indirekten Steuern
den veranschlagten ]\Iehrertrag hervorgebracht hatte, versagten
diese im zweiten Jahre, indem durch Konsumverminderung der
tatsächliche Ertrag erhebhch unter den veranschlagten ging.
Wesentlich hierauf ist es zurückzuführen, daß Lewis im dritten
Kriegsjahr von jeder Steuererhöhung überhaupt absah und den
gesamten Bedarf, der die verfügbaren Einnahmen überstieg,
durch eine Anleihe deckte. Das finanzielle Ergebnis des Kriegs
war schließlich, daß von den rund 77V2 Millionen £ des durch
den Krieg verursachten Mehrbedarfs etwas über die Hälfte, näm-
lich 42I/0 Millionen £ oder 57 Oo durch Vermehrung der fun-
dierten und unfundierten Schuld Deckung fand, während die
erhöhten Kriegssteuern 32>^l2 Millionen £ oder 43 o/o aufbrachten.
Dabei entfielen allein rund 24 Millionen £ auf die Einkommen-
steuer, während alle übrigen Einnahmen zusammen nur etwa
9 Millionen £ zur Bestreitung des Kriegsaufwands beitrugen.
So war die Einkommensteuer wieder ihrer ursprünglichen Be-
stimmung gemäß zur Deckung einer außerordentlichen Kriegs-
last herangezogen worden und hatte ihre Brauchbarkeit hierzu
wiederum deutlich genug erwiesen. Denn während bei den in-
direkten Steuern die harte Belastung genau wie zur Zeit der
napoleonischen Kriege eine relative Ertragsverminderung zur
Folge hatte, zeigte die Einkommensteuer trotz des sehr hohen
Steuerfußes keinen Rückgang in der Ertragsentwicklung.
57) Hansard, III, vol. 131, col. 377.
„ 132, „ 1414/61.
Northcote, Policy, S. 243/263.
Außer der Vermehrung der Staatsschuld war nun aber das
Ergebnis des dreijährigen Kriegs eine ganz bedeutende Stei-
gerung des jährhchen Bedarfs, da die Aufrechterhaltung der
während des Kriegs erhöhten Kriegsbrauchbarkeit des Heeres
eine dauernde Mehrbelastung verursachte. Gegenüber dem Fi-
nanzjahr 1853/54 betrug die reine Ausgabenvermehrung 1857/58
rund 17 Millionen £, indem die Gesamtausgaben von 51 Milli-
onen £ auf 68 Millionen £ gestiegen waren. Mit dieser Erhöhung
der Ausgaben war aber die Wiederaufnahme und Fortführung
des 1853 aufgestellten Finanzplanes und die vorgesehene Re-
duktion der Einkommensteuer augenscheinlich zur Unmöglich-
keit geworden, um so mehr als die Tilgung der während des
Kriegs eingegangenen Schuldverpflichtungen für die nächsten
Jahre neue Mittel erforderte. Noch aussichtsloser gestaltete sich
die Finanzlage im März des Jahres 1857, als der Aufstand in
Indien ausbrach und neue Ausgaben notwendig machte. So
war durch, den Krimkrieg die Frage der direkten Besteuerung
wieder in den Vordergrund geschoben und durch die Schulden-
tilgungsfrage dringender als je geworden. Die Notwendigkeit
der letzteren wurde von Lewis klar erkannt, der mit rück-
sichtsloser Deutlichkeit die einzige Möglichkeit dazu aussprach :
„There is only one resource to which an honest legislature can
resort in our position : namely to raise a surplus revenue by
taxation and annually apply it to the extinction of the debt"^^).
Bot die überzeugungskräftige Einfachheit dieser Forderung
wenig Gelegenheit zu einer grundsätzlich verschiedenen Mei-
nung, so erhoben sich mit dem Problem, Gladstones Finanz-
plan trotz der Ausgabenerhöhung durchzuführen, alle Schwie-
rigkeiten und Streitfragen, die 1853 dauernd beseitigt erschienen,
mit erneuter Heftigkeit, und den Brennpunkt aller dieser Fragen
bildete wiederum die Einkommensteuer. Zu einer Entscheidung
in irgendwelcher Richtung kam es freilich zunächst nicht, so-
lange die noch völlig ungefestigten und ungeklärten Partei-
verhältnisse die reine Scheidung der beiden großen Parteien
unmöglich machten und darum keinem der zufällig zur Re-
gierung gelangenden Ministerien zu einer so sicheren Mehrheit
verhalfen, daß eine zielbewußte und von den Rücksichten des
Augenblicks unabhängige Finanzpolitik hätte durchgeführt wer-
58) Hansard, III, vol. 152, col. 358.
Zeitschrift für die ges. Staatswissensch. Ergänzungsheft 48.
— 82 —
den können. Fest stand dabei nur die eine Tatsache, daß eine
Reduktion der während des Kriegs erhöhten Steuern auf den
Stand, den sie nach Gladstones Finanzplan erreicht haben
soUten, unmöghch war. Die Steuern wurden zwar ermäßigt und
vor allem wurde die Einkommensteuererhöhung von 9 d (the
war nine-pence) aufgegeben, aber an eine Einhaltung des ur-
sprünglichen Plans war nicht zu denken. Die Ministerien wech-
selten und Lord Palmerston machte Lord Derby und Dis-
raeli Platz, die aber von vornherein über keine Mehrheit ver-
fügten. Disraeli setzte zwar dem Gl ads toneschen Finanz-
plan entsprechend die Einkommensteuer auf 5 d herab, ver-
mied aber ein Defizit nur dadurch, daß er die Schuldentilgung
für dieses Jahr (1858/59) einstellte.
Nach Jahresfrist gaben Lord Derby und Disraeli ihr
Amt wieder auf, und cndUch fand sich eine Parlamentsmehrheit
aus Liberalen, Freihändlern und Tarifreformern zusammen, die
imstande war, das neue Ministerium Lord Palmerstons, in
welchem Gladstone wieder das Finanzministerium übernahm,
in einer zielbewußten Finanzpolitik tatkräftig zu unterstützen.
Das nächste Jahr (1859) brachte wieder eine beträchtliche Er-
höhung des Flottenvoranschlags und ein Budgetdefizit von fast
5 Millionen £. Da aber das Finanzjahr bereits weit vorgeschritten
war, als das Budget eingebracht werden konnte, empfahl sich
eine tief ergreif ende Finanzmaßnahme nicht. So griff Glad-
stone zu zwei Auskunftsmitteln, die sich ihm bequem darboten:
durch den Einzug eines erst spätef fälligen Teils der Malzsteuer
und durch eine Erhöhung der Einkommensteuer auf 9 d half
er sich über die bestehende Schwierigkeit hinweg und sicherte
sich auf diese Weise wenigstens einen budgetmäßigen Über-
schuß. Der Plan von 1853 aber war gescheitert und das alte
Finanzproblem, das noch immer seiner Lösung harrte, mußte
so auf das nächste Jahr verschoben werden, während dem
diesmal begangenen Ausweg keine andere Bedeutung zu-
kommen konnte, als eben der bequemste zu sein.
§ 13.
Das System der Freihandelsfinanz.
Außer der günstigen innerpolitischen Lage, die mit dem
Antritt des neuen Ministeriums seit Peels Zeiten zum erstenmal
- 83 -
wieder eine Festigung erfahren hatte, wirkten eine Reihe von
Umständen zusammen, die das Jahr 1860 in seiner finanzhisto-
rischen Bedeutung vorausbestimmten. Zunächst war es das
Jahr, bis zu welchem sich der Finanzplan von 1853 erstreckte
und in welchem die gesetzliche Dauer der Einkommensteuer
und der während des Krimkriegs erhöhten Tee- und Zucker-
steuer zu Ende ging, so daß allein durch die Notwendigkeit, für
die damit wegfallenden Einnahmen einen Ersatz in irgend-
welcher Form zu beschaffen, das ganze Besteuerungsproblem
wieder aufgerollt wurde. Denn das war das finanzielle Ergebnis
des Krimkriegs, daß der Finanzplan von 1853 nicht nur seinen
Berechnungen nach vereitelt, sondern seiner eigentlichen Voraus-
setzung" einer normalen Bedarfsentwicklung nach überhaupt hin-
fällig gemacht wurde, indem die durch den Krimkrieg bewirkte
Ausgabensteigerung die Ertragsvermehrung der dauernden Ein-
nahmen weit überstieg. Statt mit einem ausgeglichenen Budget,
in dem die dauernden Einnahmen nach dem Wegfall der Ein-
kommensteuer zur Bedarfsdeckung gerade ausgereicht hätten,
wurde so das Finanzjahr 1860 mit einem Defizit von rund
9Y2 Millionen £ eröffnet.
Bildete mit diesem Fehlbetrag die Deckungsfrage in dem
Budget von 1860 den Mittelpunkt, so waren die Richtungs-
linien ihrer Lösung von außen her bereits durch den Handels-
und Zollvertrag mit Frankreich, der in diesem Jahre zum Ab-
schluß gelangen sollte, vorausbestimmt. Wenn auch die Ver-
pflichtungen, die England in zollpolitischer Hinsicht in diesem
Vertrag einging, zunächst nur dem anderen Vertragsgebiet,
Frankreich, gegenüber Geltung hatten, so war es doch im Cha-
rakter eben dieser Verpflichtungen gelegen, daß sie in ihrer
Durchführung auf Verallgemeinerung in doppelter Richtung
drängten. Denn wenn sich England Frankreich gegenüber zu
emer Beseitigung aller Manufakturzölle und des noch aufrecht
erhaltenen Differentialzolles auf Branntwein und zu einer Er-
mäßigung des Weinzolls verpflichtete, so war es schon im Inter-
esse einer einheitlichen Preisgestaltung geboten, diese Maßregeln
auch auf die Waren anderer Bezugsländer auszudehnen. Schließ-
lich aber bestand auch kein logischer oder durch die wirtschaft-
lichen Verhältnisse bedingter Grund, die in dem Handelsvertrag
mit Frankreich verkörperten Prinzipien auf die darin genannten
Objekte zu beschränken und nicht auch auf andere Gegenstände
- 84 -
anzuwenden. Ausschlaggebend kt)nnte dafür nur die finanzielle
Rückwirkung der Reformen sein, denn: ,,rhe real cjuestion is,
whether we ought ujwn this occasion to say our necessities are
too great, our means to narrow, to enable us to effect commer-
cial reforms" ^y). Und hier konnte doch der entscheidende
Einfluß, den die zweckentsprechende Ausgestaltung des Be-
steuerungssystems auf die Ertragsentwicklung ausübt, im Hin-
blick auf die Geschichte der bisherigen Reformen nicht ver-
kannt werden: „Our high taxation is not a reason for stopping
Short in our commercial reforms, it is a reason why we should
persevere in them. For it is by means of these reforms, that
we are enabled to bear high. taxation" ^'O).
Damit war die Fortführung der Tarifreform grundsätzlich
zugegeben und, indem diese über den Zollvertrag mit Frankreich
hinaus allgemein durchgeführt und auf alle Objekte ausgedehnt
wurde, auf welche die zollpoHtischen Grundsätze des Vertrags
Anwendung finden konnten, wurde der Tarif nicht nur von
den meisten Zöllen mit geringfügigem Ertrag befreit, sondern
erfuhr dadurch auch eine so wesentliche Vereinfachung, daß
damit die Ausbildung des reinen Finanzzollsystems,
wenigstens der Hauptsache nach, abgeschlossen war. Der
Tarif umfaßte nunmehr nur noch 48 Artikel (gegen 419 im
Jahre 1859), wobei die Ertragsfähigkeit des Systems nur auf
fünf Artikel (Tee, Zucker, Spirituosen, Wein und Tabak) auf-
gebaut war 61). So war nach einer fast 20 jährigen Entwick-
lung die Tarifreform vollendet und die indirekte Besteuerung
(denn die Umgestaltung der Inlandverbrauchsbesteuerung ging
entsprechend nebenher) auf wenige Gegenstände eines, teil-
weise entbehrlichen, Massenkonsums beschränkt, der aber all-
gemein genug war, um eine mit der Bevölkerung und ihrem
Wohlstand wachsende Ertragsentwicklung zu versprechen. So
stellte die indirekte Besteuerung die umfassende Fundamen-
tierung des Besteuerungssystems dar, indem sie in ihrer All-
gemeinheit die kleinen und kleinsten Einkommen, die durch
59) Hansard, III, vol. 156, col. 826, Gladstone, in der Budgetrede
vom 10. Februar 1860.
60) Hansard, III, vol. 156, col. 828.
61) 1860/1 brachten Zucker, Tee, Braruitwcin, Wein und Tabak zu-
sammen 90 0/0 des gesamten Zollertrags, Kaffee und Korn weitere 6 o/o und
nur 4 0/0 entfielen auf die übrigen Artikel.
- 85 -
die direkte Besteuerung nicht leicht erfaßt werden konnten, zur
Beitragsleistung mit heranzog. Andererseits aber, und das wird
in der Fortentwicklung der Finanzen bedeutungsvoll, konnte
die indirekte Besteuerung doch auch wieder nicht mehr sein, als
nur die Grundlage eines Besteuerungssystems, da sie nicht ge-
eignet war, die größeren Vermögen nach ihrer Leistungsfähig-
keit zu belasten, weil die Möglichkeit, den Konsum der für die
Besteuerung verbliebenen Gegenstände bei zunehmendem Wohl-
stand zu steigern, individuell doch sehr begrenzt war. .A.ber auch
die Möglichkeit, den absoluten Ertrag der indirekten Steuern
durch Erhöhung der Steuersätze zu steigern, war bei dieser Ge-
staltung des Systems beschränkt, da die Einkommensteile, die
für den Konsum verausgabt werden können, ebenfalls einer mit
der Einkommensverteilung gegebenen Beschränkung unter-
liegen. So machte diese Ausgestaltung des indirekten Systems
eine Erweiterimg durch direkte Steuern, die sich auf ihm gleich-
sam als seine progressive Ergänzung aufbauten, zu einer finan-
ziellen, aber auch steuerpolitischen Notwendigkeit, die allerdings
erst dann hervortreten konnte, wenn der Gesamtertrag der in-
direkten Steuern nicht mehr zur Bedarfsdeckung ausreichte.
Diese Notwendigkeit aber bestand gerade für das Budget
des Jahres 1860 zwingend genug, um neben der Tarif reform
die Frage der direkten Steuern und damit wieder die Ein-
kommensteuerfrage in den Mittelpunkt des Budgets zu stellen.
Denn wenn auch die Kosten der Tarifreform durch die Aufrecht-
erhaltung der erhöhten Tee- und Zuckerzölle aufgebracht werden
konnten, so bestand das ursprüngliche, aus der Bedarfsvermeh-
rung erwachsene Budgetdefizit unvermindert fort. Indem aber
der Fehlbetrag ziemlich genau einer Einkommensteuer von 10 d
(= 10,87 Millionen £) entsprach, gestaltete sich für Gladstone
die Lösung des Deckungsproblems einfach genug, indem er
die Einkommensteuer zu diesem Satz beibehielt, ohne damit
aber eine grundsätzliche Anerkennung der Einkommensteuer
als eines dauerndes Gliedes des staatlichen Besteuerungssystems
auszusprechen oder die Erwartung derer zu erfüllen, die gehofft
hatten, „that something would be done to place the System of
direct taxation, if not on a permanent, at least upon a less tem-
p>oray footing than at pressent''^^),
62) Hansard, III, vol. 156, col. 1535, Northcote, in der Budget-
debatte vom 21. Februar 1860.
— 86 -
ibcrblirkcn wir s(i nacli dem Budget von 1860 die Ge-
staltung des englisclicn Bcsteucrungssystems, so läßt sich trotz
des für eine normale Friedenszeit außerordentlich hohen Anteils
der Einkommensteuer am Gesamtsteuerertrag (für das Rech-
nungsjahr 1860/61 : 16,70/0 gegen 65,60/0 der indirekten Steuern)
doch die überragende Bedeutung der indirekten Steuern nicht
verkennen : denn die Frage der indirekten Besteuerung war
mit der Vollendung der Tarifreform grundsätzlich entschieden,
während das Problem der direkten noch seiner Lösung harrte.
Freilich war der finanzpolitische Charakter der Einkommen-
steuer in dem neugestalteten Finanzsystem völlig verändert,
da ihre Erneuerung nicht mehr zur Durchführung der Tarif-
reform notwendig geworden war, sondern einzig durch das finan-
zielle Bedürfnis der Bedarfsdeckung, die durch den Ertrag der
indirekten Steuern allein nicht erreicht werden konnte, bedingt
worden war. So hing die Fortdauer der Einkommen-
steuer von zwei Momenten und ihrer künftigen Ent-
wicklung ab: einmal von der Ertragsfähigkeit des freihänd-
lerischen Finanzsystems und zum andern von der Gestaltung
des Bedarfs.
Obwohl infolge der Ungunst der wirtschaftlichen Lage
(Baumwollnot in Lancashire, Hungersnot in Irland) die nächst-
folgenden Jahre nach beiden Richtungen hin durchaus ungünstig
verliefen, begann doch seit 1864 eine Zeit wirtschaftlichen Auf-
schwungs, die in dem fortgesetzt steigenden Ertrag der in-
direkten Steuern ihren finanziellen Ausdruck fand, während
gleichzeitig die Ausgaben eine allmähliche Verminderung er-
fuhren, so daß alljährlich ein erheblicher Teil der dauernden
Einnahmen aufgegeben und zur Herabsetzung der Steuerlast ver-
wandt werden konnte. In bezug auf die indirekte Besteuerung
war damit die Möglichkeit gegeben, die Ausgestaltung des
Freihandelssystems bis in die kleinsten Züge hinein zu vollenden
und abzurunden, und in einer Fülle von Einzelmaßnahmen
wurden in diesen Jahren all die Überbleibsel einer veralteten
Finanzpolitik beseitigt und die großartige Einfachheit des Sy-
stems sichergestellt 63^ So wurde diese Epoche einer der Glad-
63) So fiel 1861 die Papiersteuer, 1869 der letzte Rest der Kornzölle
und die Feuerversichcrungsstcuer, 1870 wurden die Assessed taxes aufge-
hoben und in Form von Lizenzen den Verbrauchsteuern zugewiesen, aber
bis auf wenige nach und nach ganz beseitigt. Der Tee- und der Tabakzoll
- 87 -
stoneschen Regicrungszeiten eine der inhaltsreichsten und be-
deutsamsten, aber auch der erfolgreichsten der enghschen
Finanzgeschichte. Buxton beschreibt sie als „a great epoch
in Finance, in which the coping stone was set to the edifice of
fiscal reform, and the whole financial System was placed on a
simpler and sounder basis" '^^).
Für die Einkommensteuer kam die Besserung der Finanz-
lage in einer wiederholten Herabsetzung des Steuersatzes zum
Ausdruck. Dabei aber trat das Bestreben hervor, über diese
Erleichterung hinaus, die allen Einkommensteuerzahlern zugute
kam, im besonderen auch die unteren Einkommensklassen, für
die neben der indirekten Besteuerung die Last einer direkten
Steuer am fühlbarsten war, zu begünstigen. In dieser Absicht
griff Gladstone auf ein Verfahren zurück, das in der Pitt-
Steuer seine Anwendung gefunden hatte, 1842 aber nicht wieder
aufgenommen worden war. Indem er die 1853 auf 100 £ jähr-
lichen Gesamteinkommens festgesetzte Befreiungsgrenze beibe-
hielt, gewährte er 1863 den unteren Klassen doch damit eine
Erleichterung, daß er ihnen einen Abzug von 60 £, der von dem
veranlagten Gesamteinkommen gemacht werden durfte, zuge-
stand. Damit war in die technische Organisation der Ein-
kommensteuer ein Entwicklungsmoment eingefügt, das trotz
seiner augenblicklichen Geringfügigkeit in späteren Jahren doch
eine auch finanzpolitisch bedeutsame Umgestaltung der Steuer
nach sich zog.
Wenn auch infolge der günstigen Finanzgestaltung der
Einkommensteuersatz bis 1866/67 auf 4 d herabgesetzt werden
konnte, so war der Ertrag der Steuer trotzdem noch immer
nicht völlig zu entbehren. In den nächsten Jahren, in denen der
Ausgabenetat infolge kriegerischer Expeditionen (Abessinien)
mannigfache Schwankungen zeigte, wurde der Steuer vielmehr
eine neue und eigenartige Aufgabe zugewiesen, die in ihrer
Organisation begründet war. Die Leichtigkeit, mit der die
Steuer ohne jede technische Veränderung und ohne jede Er-
höhung der Erhebungskosten herauf- oder herabgesetzt werden
konnte, ließ sie sehr geeignet erscheinen, dem augenblicklichen
Bedürfnis entsprechend, ohne Störung des Finanzsystems das
wurden 1863 und 1865 bedeutend herabgesetzt und 1874 wurde sogar die
ertragreiche Zuckersteuer aufgehoben.
64) Buxton, Gladstone, S. 25.
— 88 —
budgetmäßige Gleichgewiclu zwischen Einnahmen und Aus-
gaben sicherzustellen. Bei der umfassenden Rückwirkung, die
jede Veränderung der indirekten Steuern auf die Preisgestaltung
und damit auf die ganze Volkswirtschaft ausübt, ist eine der-
artige Anpassungsfähigkeit des Einnahmesystems an den ge-
gebenen Bedarf um so wünschenswerter, je häufiger und je
geringfügiger die Ausgabeschwankungen zu sein pflegen. Ge-
rade hierin aber mußte die Einkommensteuer doch bald einen
Mangel ihrer technischen Organisation in der Art, wie der
Steuersatz festgesetzt wurde, offenbaren. Seit 1842 hatte sich
der auf jeden Penny des Steuerfußes entfallende Ertrag bis
1870 mehr als verdoppelt, so daß die durch Erhöhung der Steuer
um I d erzielte Mehreinnahme (von etwa i^, o Mühonen £) den
augenblicklichen Bedarf oft weit überstieg, daß dem Steuerzahler
also ein größerer Betrag entzogen worden wäre, als das Be-
dürfnis des Staates erforderte. Da der jährlich erzielte Über-
schuß aber zur Tilgung der Staatsschuld diente, so wäre eine
derartige Verwendung der Einkommensteuer einer einseitigen
Belastung des Einkommensteuerzahlers im Interesse einer der
Gesamtheit zugute kommenden Schuldentilgungspolitik gleich-
gekommen. Aus diesen Erwägungen heraus gelangte der Finanz-
minister Lowe 1871 zu dem Vorschlag, den bisherigen Penny-
satz durch einen prozentualen Steuerfuß zu ersetzen, der eine
genaue Anpassung des Steuerertrags an den gegebenen Bedarf
ermöglicht hätte ^^). Obwohl es infolge des Vv'iderstands des
Unterhauses bei dem Vorschlag blieb, so beleuchtet er doch
die eigenartige Stellung, die der -Einkommensteuer nunmehr,
nachdem sie ihrer großen Aufgaben ledig war, im Finanzsystem
zukam. Sie war zwar noch immer kein anerkannt dauerndes
Glied der staatlichen Besteuerung, aber der mit ihr verbundene
Begriff einer nur außerordentlichen Zwecken dienenden Steuer
hatte mit der Veränderung eben dieser Zwecke selbst eine er-
kennbare Umwandlung durchgemacht. Der Gedanke, die Ein-
kommensteuer ganz zu entfernen, war in den Hintergrund ge-
treten und durch die Frage nach ihrer eigentlichen Zweckbestim-
mung ersetzt worden. In dieser einen Frage lagen freilich
alle die Probleme enthalten, die im Verlauf ihres Bestehens aus
ihrer technischen Gestaltung, ihrer Wirkung auf den Ein-
65) Hansard, III, vol. 205, col. 1416.
- 89 -
kommensteuerzahler und ihren Beziehungen zum gesamten
Steuersystem erwachsen waren.
So bildete die Einkommensteuerfrage in dieser ganzen
Periode die finanzpohtische Grundfrage, mit der sich nicht nur
rein finanzielle, sondern tiefgreifende soziale und wirtschaft-
liche und selbst moralische Probleme verknüpften und die mit
ihrer umfassenden Bedeutung die gewöhnlichen Steuerfragen
weit überragte: ,,It is in fact, a subject so large that it might
be made the foundation not only of a particular proposition,
but even of a policy"'^öj Eine indirekte Entscheidung durch
stillschweigende Duldung konnte schon darum nicht wünschens-
wert sein, und so bildete diese Frage den Mittelpunkt und
gleichsam das Losungswort des politischen Kampfes der Glad-
s t o n e - und D i s r a e 1 i -Parteien, der zwar die endgültige
Lösung noch immer nicht brachte, aber doch die Keime der
späteren Lösung hervortrieb.
Mit der Frage nach der Zweckbestimmimg der Einkommen-
steuer war aber die Vorstellung von dieser Steuer als eines
außerordentlichen Finanzmittels noch immer untrennbar ver-
bunden. Vor allem war es die große Tauglichkeit der Steuer,
in Zeiten finanzieller Bedrängnis mühelos große Summen aufzu-
bringen, die ihr eine dauernde Ausnahmestellung im Finanz-
system zu sichern schien. Es war aber klar, daß diese Tauglich-
keit mit dem Spielraum, der für eine Erhöhung des Steuer-
fußes gegeben war, wachsen mußte, und daraus ergab sich
die Forderung, die Steuer in gewöhnlichen Zeiten so niedrig
wie nur möglich zu halten. Andererseits freilich, und damit
wurde für diese Forderung eine Grenze gezogen, gestaltete sich
das Verhältnis der Erhebungskosten zum Ertrag um so ungün-
stiger, je niedriger die Steuer war, da die Verwaltungsorgani-
sation durch eine Herabsetzung des Steuerfußes kaum berührt
wurde und stets dieselben Kosten verursachte. Diese Politik
aber, welche die Einkommensteuer als ein für außerordentliche
Bedarfsfälle dauernd zur Verfügimg gehaltenes Rüstzeug der
staatlichen Finanz betrachtete und die Reduktion der Steuer
auf einen durch das Verhältnis des Ertrags zu den Erhebungs-
kosten bestimmten normalen Mindestsatz erstrebte, wurde in
ihrer Durchführbarkeit durch drei Momente bestimmt, von
66) Hansard, III, vol. 174, col. 584 (Gladstone).
_ 90 —
driH'ii wir das der Bedarfsgestallung^ und das andere der Er-
tragscntwickliniy; und Elastizität der indirekten Steuern bereits
dargestellt haben. Das dritte Moment war damit gegeben, daß
ein Teil des Einkommensteuerertrags noch immer für die Be-
darfsdeckung imentbehrlich war, daß also der Wegfall dieser
Einnahmen, soweit er durch die Herabsetzung der Steuer auf
einen Mindestsatz verursacht wurde, einen Ersatz durch eine
andere direkte Steuer verlangte, um der im Laufe der Zeit fast
zu einem finanzpolitischen Dogma gewordenen Forderung einer
gewissen Verhältnismäßigkeit der direkten und indirekten Be-
steuerung zu genügen. Nicht unmittelbar in dieser Absicht, aber
doch aus dem Bestreben heraus, die Einkommensteuer möglichst
niedrig zu haken, wurde in dem Budget von 1871 die Neu-
gestaltung der f>bschaftsbesteuerung durch eine Vereinheit-
lichung ihrer drei Formen (der probate-, legacy- und der suc-
ccssion duties) und durch Ausdehnung der Steuerpflicht durch-
geführt und damit die Entwicklungsfähigkeit der direkten Be-
steuerung gesichert.
Waren so alle Bedingungen erfüllt, damit der außerordent-
liche Charakter der Einkommensteuer gewahrt werden konnte,
ohne die Steuer ganz aufgeben zu müssen, so trat nun erst
recht die Tatsache hervor, daß die Steuer aus einer Zeit über-
nommen worden war, deren wirtschaftliche und soziale Ver-
hältnisse, auf welche sie zugeschnitten war, von den modernen
doch grundverschieden waren. Je mehr aber die Überzeugung
um sich griff und durch die tatsächlich befolgte Politik bestärkt
wurde, daß die Beseitigung der Einkommensteuer kaum mehr
ernsthaft angestrebt werde, desto stärker trat die Forderung
einer, den veränderten wirtschaftlichen Bedingungen angepaßten
Reform der Einkommensteuerorganisation hervor, welche bis-
her in der Hoffnung, die Steuer überhaupt entbehren zu können,
immer und immer wieder vertagt worden war. Am deutlichsten,
weil am fühlbarsten, trat dabei die Frage nach der durch die
Steuer bewirkten Belastung hervor, die durch die allgemeine
Verschiebung, welche die Umgestaltung der indirekten Be-
steuerung in der Lastenverteilung mit sich führte, seit 1842
eine allmähliche, aber um so tiefer gehende Wandlung erfahren
hatte. Durch die Einbeziehung der zwischen 100 und 150 £
liegenden Einkommensklassen waren seit 1853 der Wirksamkeit
der Einkommensteuer gerade diejenigen Schichten der Bevöl-
— 91 —
kerung unterworfen worden, die an dem Konsum der Artikel,
welche durch die indirekten Steuern belastet wurden, sehr er-
heblich beteiligt waren, so daß gerade hier das Bedürfnis nach
einer der Leistungsfähigkeit entsprechend abgestuften Verteilung
der Gesamtbelastung hervortreten mußte. Um dem entgegen-
zukommen, hatte Gladstone 1863 das Abatementsystem
wieder eingeführt, dessen Prinzip augenscheinlich einfach genug
war, um sich ohne jede Störung dem Gesamtorganismus der
Steuer einzufügen. Es ist aber auch leicht erkennbar, daß es
eine gewisse Willkürlichkeit in sich trug, da für die Beschrän-
kung des steuerfreien Abzugs kein natürliches Merkmal gegeben
sein konnte. In dieser Willkürlichkeit aber lag ein stark wir-
kendes Motiv, das Prinzip immer weiter auszudehnen, da schließ-
lich das Verlangen nach einer Steuererleichterung in allen
Klassen gleich verbreitet und begründbar zu sein pflegt. Und
so war ,,the protection of the lower classes of income tax payers"
der emzige Beweggrund, der 1872 die Erhöhung des steuerfreien
Abzugs auf 80 £ und die Ausdehnung dieser Vergünstigung auf
die Einkommen bis zu 300 £ veranlaßte^^). Dasselbe gilt auch
für die weitere Ausdehnung des Systems der ,,abatements" im
Jahre 1875, wenn auch die Begleitumstände sehr verschieden
waren. Während in den beiden ersten Fällen die Anwendung
des Prinzips mit einer Herabsetzung der Steuer verbunden war,
machte sich in diesem Jahr eine Erhöhung der Steuer um i d
notwendig. Da aber dadurch eine den augenblicklichen Bedarf
übersteigende Mehreinnahme erzielt wurde, so bot sich hier
eine gute Gelegenheit, 4en unteren Klassen der Steuerzahler eine
Erleichterung zu gewähren, indem die Befreiungsgrenze wieder
auf 150 £ hinaufgesetzt, der steuerfreie Abzug auf 120 £ erhöht
und auf Einkommen bis zu 400 £ ausgedehnt wurde ^^j.
So willkürlich die Anwendung dieses Prinzips erscheinen
mag und so wenig die Festsetzung der jeweiligen Höhe des ge-
währten Abzugs aus den besonderen Bedingungen der damit be-
günstigten Einkommensklassen begründet werden kann, so be-
deutsam wirkte der Grundsatz an sich auf die Einkommensteuer
selber ein, die damit den Charakter einer über der indirekten
Besteuerung, welche die kleinen und kleinsten und nur für den
67) Hansard, III, vol. 210, col. 624 (Lowe).
6S) Hansard, III, vol. 224, col. ii24ff.
— 92 —
Konsum \ crausgabien Kinkoimncn ertabte, aufgebauten Ergän-
zungssteuer erhirli, durch welclic die größeren Einkommen nach
dem Verhähnis ilirer die Befriedigung der unmittelbarsten
Lebensbedürfnisse übersteigenden Leistungsfähigkeit getroffen
werden sollten. So lag in dem Abatementsystem der Keim einer
beginnenden Entwicklung, der des kräftigsten Wachstums fähig
war und die Lösung der Einkommensteuerfrage in sich barg.
Eine Entscheidung dieser Frage war allerdings inzwischen
doch erfolgt, wenn auch nicht durch eine grundsätzliche und aus-
gesprochene Anerkennung der Einkommensteuer als dauernden
Gliedes des Steuersystems. Der günstige Stand der Finanzlage
hatte 1874 die Ermäßigung der Steuer auf 3 d ermöglicht, und
während die Ausgaben keine Tendenz zu einer Steigerung
zeigten, wiesen die Einnahmen ein die Bevölkerungsvermehrung
weit übersteigendes Wachstum auf. So schien die Möglichkeit,
die Einkommensteuer doch noch zu beseitigen, um so mehr in
greifbare Nähe gerückt, als auf die Auflösung des Parlaments
ein überaus heftiger Wahlkampf folgte, in welchem von beiden
Seiten die Aufhebung der Einkommensteuer als Siegespreis an-
geboten wurde. Gladstone unterlag und sein Widerpart
Disraeli trat im März 1874 an die Spitze der Regierung.
Wenige Wochen darauf, am 16. April, eröffnete Northcote,
der das Finanzministerium übernommen hatte, das mit großer
Spannung erwartete Budget mit einem veranschlagten Ein-
nahmeüberschuß von 5 1/2 Millionen £, einer Summe, die sich
genau mit dem Einkommensteuervoranschlag deckte. Aber
Northcote zögerte, das von Disraeli vor der Wahl gegebene
Versprechen einzulösen, und der Grund, den er dafür angab, war
schließlich triftig genug: ,,The whole position of the income
tax is one of such great magnitude not only financially but as
I may even say politically that it would be wrong and culpable
in US if on so short a notice we were to come forward with
a definite or decided proposition with respect either to the
absolute remission or the absolute perpetuation of that tax"^^^).
Und so bot er einfach eine Ermäßigung der Steuer auf 2 d
und eine entsprechende Erleichterung indirekter Steuern an,
wobei freilich die Beseitigung der Einkommensteuer für das
nächste Jahr zwar nicht versprochen, aber doch als möglich
69) Hansar d, III, vol. 218, col. 662.
— 93 —
in Aussicht gestellt wurde. Im nächsten Jahr war jedoch diese
Möglichkeit nicht gegeben, da der Einnahmeüberschuß durch
eine Ausgabenvermehrung aufgezehrt wurde. Und so forderte
Northcote wiederum die Erneuerung der Steuer zum Satz von
3 d, aber ,,with the hope and belief that it may be regarded as
a tax useful in point of amount, but as held in abeyance —
ready only for some great emergency and not to be called
upon for trivial occasions"'Oj.
War damit die Einkommensteuer auch noch nicht als
ordentliches Glied des Besteuerungssystems ausgesprochen an-
erkannt, so war doch die Frage ihrer Beibehaltung mit einem
niederen Steuersatz entschieden. Mit dem nächsten Jahr setzte
wieder eine Periode gewaltiger Ausgabevermehrung ein, welche
die Einkommensteuer allmählich in die Höhe trieb und ihren
finanzpolitischen Charakter und ihre Funktion im System ver-
änderte. Damit aber wechselte auch der Charakter des Be-
steuerungssystems, das von diesem Wendepunkt an eine all-
mähliche Umbildung erfuhr, bis es den einseitig indirekten
Charakter, der ihm bisher zukam und der im Gladstone-
schen Freihandelssystem seine schärfste Ausgestaltung erhalten
hatte, verlor. Die Darstellung dieses Umwandlungsprozesses,
aus dem das moderne englische Besteuerungssystem hervorging,
wird die Aufgabe des nächsten Kapitels sein.
4. Kapitel.
Das moderne Steuersystem.
§ 14.
Die Motive der neuen Entwicklung.
Das Jahr 1875/6 stellt den Wendepunkt in der englischen
Finanzgeschichte dar, von dem an die moderne Entwicklung
des englischen Besteuerungswesens sich durchzusetzen beginnt.
Bis zu diesem Jahr zeigt die Steuerentwickltmg ihr charakteristi-
sches Merkmal, das ihr während der ganzen früheren Zeit zu-
kommt, in scharfer Ausprägung: die Einseitigkeit des Besteue-
rungssystems, das fast ^/^ seines Ertrags aus der indirekten
Besteuerung zog. Aus den nachstehenden Tabellen wird der
Finanzzustand und der Charakter des Einnahmesystems im
") Hansard, III, vol. 223, col. 1043.
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- 96 -
Jahre 1S73 crkciniljar, sie zeigen al)er auch den Forlgang der
luit wickhing, so daß sie für die ganze folgende Darstellung als
Unterlage dienen.
Das indirekte System hatte frcilicli in den letzten drei Jahr-
zehnten eine vollständige innere Umwälzung erfahren, aber noch
immer beruhte das Steuersystem einseitig auf den indirekten
Steuern, während das Prozentverhältnis für die direkten Steuern
bis zum Jahre 1873 mit der Reduktion der I'Linkommensteuer
sich sogar fortwährend verringerte. Der Ertrag aller direkten
Steuern zusammengenommen war 1875 kaum wesentlich höher
als 1853, so daß also, soweit die Steuern in Frage kommen,
die Mehrausgaben fast vollständig von den indirekten Steuern
gedeckt wurden. Besinnen wir uns noch einmal auf das Grund-
problem, das den Anstoß zum Beginn der Peel sehen Tarif-
reform gab, durch eine Neugestaltung des indirekten Besteue-
rungssystems dieses zur Deckung des steigenden Bedarfs taug-
lich zu machen, so erkennen wir von hier aus den großen Er-
folg dieses Versuchs, der die Vorstellung seines Urhebers weit
übertraf. Vollständig war der Erfolg allerdings nicht, da die
Beseitigung der Einkommensteuer, nachdem sie die ihr ursprüng-
lich zugedachte Aufgabe erfüllt hatte, sich als unmöglich er-
wies. Das indirekte System aber erreichte im Jahre 1875 doch
seinen Höhepunkt, damit aber auch seinen Wendepunkt. Seine
Entwicklungsfähigkeit war zwar noch keineswegs erschöpft,
aber sie stand nicht im Verhältnis zu der allgemeinen Finanz-
entwicklung, die seit diesem Jahr einsetzte. Deren Merkmal
bildet so nicht das weitere Wachstum der indirekten Steuern,
sondern die mächtige Entfaltung der Kräfte, die bisher kaum
berührt in der direkten Besteuerung unentwickelt verborgen
lagen. Das Übergewicht der indirekten Steuern wird allmäh-
lich verdrängt, bis sich die direkten Steuern ebenbürtig neben
sie erhoben haben, um dann schließlich ihrerseits das Über-
gewicht zu erlangen und zur Grundlage des Besteuerungs-
systems zu werden. Den Mittelpunkt dieser Entwicklung aber
bildete wiederum die Einkommensteuer, deren Stellung und Be-
deutung sich so lange wandelte, bis sie zum Grundstein des
ganzen Besteuerungsgebäudes geworden war.
Zwei Momente sind es vor allem, welche die Richtung der
nach 1876 einsetzenden Finanzentwicklung bestimmten. Das
augenscheinhchste ist die Entwicklung des Bedarfs^ die sich
— 97 —
unter mannigfaltigen Einflüssen in mächtiger und kaum unter-
brochener Steigerung aufwärts bewegte und in weniger als
40 Jahren eine Verdoppelung der Ausgaben bewirkte. Bemer-
kenswert ist hier zunächst der Wechsel im Ministerium, der an
sich zwar vielleicht nur ein äußerliches Moment ist, das auf
die finanzielle Gestaltung einer Zeit keinen Einfluß zu haben
braucht. Soweit aber das konservative Regiment, dessen Macht-
periode mit dem Wechsel von 1874 einsetzte, die imperialistische
Politik Englands allererst zur Entfaltung brachte, wird auch
die finanzielle Bedeutung dieser innerpolitischen Wandlung in
der dadurch hervorgerufenen Steigerung der Staatsausgaben
deutlich. Vor allem sind es hier die Ausgaben für Rüstungs-
zwecke, für Heer und Marine, auf die der Hauptanteil an der
gesamten Bedarfsvermehrung entfällt. Und zwar waren es nicht
nur die kriegerischen Unternehmungen der 80er Jahre, in Süd-
afrika, Ägypten und Afghanistan, welche die Ausgabesteige-
rung verursachten, der größte Teil derselben ergab sich viel-
mehr aus dem einzigartigen Rüstungswettbewerb, in den die
europäischen Staaten etwa seit 1890 getreten waren, und dessen
schon an sich gewaltige Kosten mit dem raschen Fortschritt
der modernen Kriegstechnik, welche das vorhandene Material
in kürzester Frist veralten läßt, vervielfacht wurden. Seit 1905
etwa kommt dazu noch die Durchführtmg der sozialen Auf-
gaben, die bisher der privaten Tätigkeit überlassen worden war,
auf Kosten des Staats, wodurch der Etat der unproduktiven
Ausgaben der inneren Verwaltung in kurzer Zeit auf eine solche
Höhe anschwoll, daß er den Hauptausgabeposten des Budgets
darstellt. Es ist leicht ersichtlich, daß bei der Kürze der Zeit,
in welcher sich dieser Umschwung in der Bedarfsgestaltung
vollzog, das indirekte Besteuerungssystem, dessen Wachstum
an die Vermehrung der Konsumtionsfähigkeit durch Zunahme
der Bevölkerung und ihres durchschnittlichen Wohlstands ge-
bunden ist, nicht mit einer entsprechenden Ertragssteigerung
nachkommen konnte, so daß schon hieraus allein die Notwendig-
keit, neue produktive Ertragsquellen zu entwickeln, entspringen
mußte.
Das andere Moment, das die Richtung der Finanzentwick-
lung seit 1875 mitbestimmte, lag in der Gestaltung des indirekten
Steuersystems, wie sie sich als Ergebnis der abgeschlossenen
Tarifreformepoche darstellte. Die Beschränkung der indirekten
Zeitschrift für die ges. Staatswissensch. Ergänzungsheft 48. 7
- 98 -
Besteuerung auf eine geringe Zahl von Gegenständen eines
allgemeinen Massenkonsums gestattete zwar eine weit höhere
absolute Belastung dieser einzelnen Objekte, als es in dem
früheren System möglich gewesen war, da die relative Gesamt-
steuerbelastung dadurcli kaum erhöht wurde. Die Auswahl der
Objekte aber, die der indirekten Bestcucrimg unterworfen
blieben, trug die Tendenz einer Ertragsverminderung in sich,
die bei jeder Stockung des wirtschaftlichen Aufschwungs deut-
lich werden mußte und tatsächlich auch hervortrat. Nach dem
Wegfall des Zuckerzolls rührten etwa 80 o/o des ganzen Zoll-
ertrags von den beiden Gruppen ,, Tabak und Alkohol" und
etwa 180/0 vom Teezoll her. Die Ausdehnung, die der Tee-
konsum in England gewann und diesem Getränk den Charakter
eines entbehrlichen Genußmittels immer mehr nahm, ließ eine
fortgesetzte Reduktion des Teezolls, der namentlich die ärmsten
Schichten belastete, wünschenswert erscheinen. Die beiden an-
deren Objekte aber, auf denen so der Zollertrag ganz wesentlich
beruhte, tragen das Merkmal eines entbehrlichen Genußmittels
so offenbar an sich, daß sich nicht nur jedes wirtschaftliche
Ereignis, wie Krisen, Krieg oder namentlich auch Streiks, in dem
Ertrag dieser Zölle bemerkbar machen mußte, daß vielmehr
auch jede Zollerhöhung hier eine Konsumverminderung be-
wirkte, die den erwarteten Mehrertrag beeinträchtigte. Und
genau dasselbe gilt für die indirekten Inlandsteuern, an deren
Ertrag die Alkoholgruppe mit mehr als 820/0 beteiligt war
(vgl. hierzu die Tabelle 8 c). Dazu kam noch ein weiteres Motiv
der Ertragsverminderung mit der Ausdehnung der Mäßigkeits-
bewegung, deren Erfolg unter den alkoholkonsumierenden Ar-
beiterklassen in den letzten fünfundzwanzig Jahren doch auf
den Ertrag der indirekten Steuern einwirkte ''i). Wenn auch alle
diese Momente durch das Wachstum der Bevölkerung und durch
die Steigerung der Konsumtionskraft infolge des zunehmenden
Wohlstands der imteren Klassen teilweise wieder ausgeglichen
wurden, und finanziell ein Ertragsausfall durch schärfere Be-
lastung wett gemacht werden konnte, so haftete dem indirekten
System doch das Merkmal einer weitgehenden Unzuverlässig-
keit an, die gerade in Zeiten einer sprunghaften Bedarfsent-
wicklung störend auf die Finanzgebarung einwirkte und die in-
71) Vgl. auch Blunden, Econ. Journ., S. 639.
— 99 —
direkten Steuern zu weiterer Bedarfsdeckung wenig tauglich
machte.
Schheßhch aber kam noch ein Umstand hinzu, der die in-
direkten Steuern ungeeignet machte, die Deckung des ver-
mehrten Bedarfs allein auf sich zu nehmen, indem die steuer-
liche Belastung in einem so einseitig ausgeprägten System, wie
es das englische darstellte, nicht nach dem Maßstab der Lei-
stungsfähigkeit, sondern im Verhältnis zum Konsum verteilt
wird. Und hier ist es klar, daß die Fähigkeit, Tabak und
Alkohol oder Tee zu konsumieren, von einer gewissen Unter-
grenze an keineswegs durch einen wachsenden Wohlstand ge-
steigert wird, daß also die Entwicklungsmöglichkeit dieser Ein-
nahmegruppen nicht so sehr intensiv (durch Vermehrung des
individuellen Konsums), als extensiv (durch Erweiterung der
Untergrenze) sein kann. Um es anders auszudrücken, bedeutet
also eine indirekte Besteuerung dieser Art wesentlich eine Be-
lastung der vermögenslosen Volksschichten, die den Steuerbetrag
aus ihrem Arbeitseinkommen, das ihnen allein zur Verfügung
steht, aufbringen müssen, während die vermögenden Schichten
darüber hinaus, also mit den Vermögensteilen, auf denen ihre
Leistungsfähigkeit beruht, jeglicher Besteuerung entgehen. Da
nun durch jede Erhöhung der indirekten Steuern die Unter-
grenze, bis zu der die Konsumfähigkeit geht, verengt wird, so
liegt hierin ein weiteres Motiv, die durch die Bedarfsgestaltung
notwendig gewordene Vermehrung der Steuern nicht durch
die indirekten allein zu bewirken, sondern andere Besteuerungs-
möglichkeiten zu benutzen und auszubauen.
Aus der gemeinsamen Einwirkung aller dieser Momente
ging nun die Grundtendenz hervor, welche die Finanzentwick-
lung der neuesten Zeit charakterisiert: die Bestrebung, die
direkten Steuern zur Entwicklung zu bringen und als min-
destens gleichbeteiligtes Glied neben den indirekten dem Steuer-
system einzuordnen. Zeitweilig, und namentlich auch theo-
retisch, schloß sich dem eine auf die gänzliche Beseitigung
der indirekten Besteuerung gerichtete Bewegung an, die aber
praktisch keine Bedeutung erlangte. Werden damit wesent-
lich die Forderungen des politischen Liberalismus und Radikalis-
mus bezeichnet, so setzte sich dem die konservative Forderung
entgegen, durch eine Erweiterung der besteuerten Objekte das
Übergewicht der indirekten Besteuerung dauernd aufrecht zu
7*
— lOO —
erhalten. Diese beiden gegensätzlichen Tendenzen ringen nun
in der nach 1875 beginnenden Finanzentwicklung lun den Sieg,
bis dieser Widerstreit in der neuesten Zeit mit der l-Irrichtinig
des modernen, auf der Einkommens- und V'ermogensbesteue-
rung beruhenden, aber durch die indirekten Steuern nach
unten ergänzten Finanz- und Steuersystems eine vorläufige Ent-
scheidung fand. Vorläufig ist diese, weil sie von den augen-
blicklichen parteipolitischen Machtverhältnissen, die stetem
Wechsel unterworfen sind, abhängt, und am Schluß unserer
Darstellung werden wir die Bedingungen erkennen können, unter
denen sich eine Abänderung dieser Entscheidung vollziehen
wird.
§15-
Die Entwicklung der direkten Besteuerung.
Der historische Verlauf der Finanzentwicklung nach 1875
wurde im einzelnen bestimmt durch die Sprunghaftigkeit, mit
der sich die Ausgabegestaltung vollzog und aus der sich nicht
nur immer wieder eine dauernde Erhöhung des Bedarfs, son-
dern auch die Notwendigkeit ergab, für den zeitweiligen Mehr-
bedarf eine Deckung zu finden, die das Steuersystem wesentlich
unberührt ließ. Für diesen Zweck war die besondere Taug-
lichkeit der Einkommensteuer, durch eine einfache Erhöhung
ihres Steuersatzes den erforderlichen Betrag zu liefern, um so
vorteilhafter, je mehr die allgemeine wirtschaftliche Depression
am Ende der 70 er Jahre ungünstig auf den Ertrag der indirekten
Steuern einwirkte. Während aber durch die gelegentlichen
Zuschläge die Einkommensteuer immer höher geschraubt wurde,
machte die Erhöhung des dauernden Bedarfs eine Herabsetzung
auf ihren früheren Stand unmöglich, so daß die Steuer ganz
allmählich und kaum bemerkt an dem Gesamtsteuerertrag einen
steigenden Anteil gewann, der mit ihrem natürlichen Wachs-
tum noch zunahm und so die Stellung der Steuer innerhalb des
Systems immer mehr festigte"-). Auf diese Weise wurde es,
wenn auch nicht zu einem Finanzgrundsatz, so doch zu einer
72) Der Ertrag der Einkommensteuer betrug 1885/6 bei einem Satz
von 8 d 15,16 Millionen £, das sind 1,645 Millionen £ auf Jeden d des
Steuersatzes und 20,2 0/0 des Gesamtsteuerertrags und 6 sh 2 d auf jeden
Kopf der Bevölkerung.
— lOI —
Finanzgevvohnheit, jedem augenblicklich auftretenden Bedarf
durch einen Zuschlag zur Einkommensteuer zu begegn'en, so
daß ein erheblicher Teil der dauernd vermehrten Ausgaben
von dem Einkommensteuerzahler getragen wurde, während die
indirekten Steuern nur dann mit herangezogen wurden, wenn
der Bedarf zu hoch war, um die ganze Steigerung der Ein-
kommensteuer auf einmal aufzubürden. Einen Ausweg, um
diesen Gebrauch der Einkommensteuer zu vermeiden, glaubte
Northcote, der von 1874/80 P^inanzminister war, darin gefun-
den zu haben, daß er die Deckung des in einem Jahr entstehenden
außerordentlichen, d. h. anscheinend einmaligen Aufwands durch
Ausgabe kurzfristiger Schatzanweisungen, die nach und nach
wieder eingezogen werden sollten, auf eine Reihe von Jahren
verteilte. Dieser Versuch führte nur zu einer Erhöhung der
unfundierten Schuld, da bei dem anhaltenden Wachstum des
Ausgabenetats die zum Einzug der Anweisungen notwendigen
Beträge aus dem Budget nicht herausgespart werden konnten,
so daß schließlich doch kein anderer Weg übrig blieb, als eine
Steuererhöhung eintreten zu lassen, wenn man es nicht vorzog,
die aufgelaufene unfundierte Schuld durch Fundierung aus dem
Wege zu räumen. Dieser Deckungspolitik gegenüber betonte
Gladstone als obersten Finanzgrundsatz die Deckung des ge-
samten jährlichen Bedarfs durch ordentliche und dauernde
Einnahmequellen, die Notwendigkeit einer Schuldentilgung und
einer Ausgaben Verminderung "^3 j Soweit die Durchführung des
letzten Grundsatzes die Macht eines jeden Finanzministers über-
steigt, mußte der erste immer wieder zu der Forderung einer
Steuererhöhung führen, durch die der Ertrag der dauernden
Einnahmen der Höhe des dauernden Auf wands angepaßt wurde,
während darüber hinaus für die Einkommensteuer immer noch
genügend Spielraum gelassen werden sollte, um die außer-
ordentlichen Deckungsansprüche befriedigen zu können. Eine
Erhöhung der Tabaksteuer (1878) und die Umwandlung der
Malzsteuer in eine Biersteuer (1880), die in dieser Absicht unter-
nommen wurden, brachten den erwarteten Ertrag bei weitem
nicht auf, womit die Unzuverlässigkeit der indirekten Besteue-
rung nur wieder aufs neue bewiesen war. So beschränkte
sich die Möglichkeit einer Ertragsvermehrung auf die direkte
'3) Hansard, III, vol. 268, col. 1298.
— I02 —
Besteuerung luid hier auf ihre zwei Ilaupifonnen, die Nach-
laß- und Einkommensbesteuerung.
Es ist nicht schwer, die Hemmungen zu erkennen, die einer
Verwendung der Einkommensteuer in dieser Richtung wider-
streben. Einmal wirkte noch immer die Vorstellung von der
Einkommensteuer als eines außerordentlichen Finanzmittels zu
sehr nach, um ihre imbeschränkte Anwendung für den ordent-
lichen Etat zuzulassen, und zum anderen konnte auch nicht
verkamit werden, daß auf diese Weise die einzige Ertragsquelle,
die einer leichten Anpassung an vorübergehende Bedürfnisse
fähig war, in dieser Funktion sehr wesentlich beeinträchtigt
worden wäre. Dann aber bestand die alte Voraussetzung einer
möglichen Verwendung der Einkommensteuer als ordentlichem
Besteuerungsmittel in der Notwendigkeit einer durchgreifenden
Reform ungeschwächt und ungelöst fort. - Aus diesen Gründen
ließ man es in bczug auf die Einkommensteuer beim alten be-
wenden und wandte sich der Nachlaßbesteuerung zu, die durch
weitere xAusdehnung und Vereinheitlichung wirksamer und er-
tragsfähiger gestaltet wurde (1881). Eine Lösimg des Besteue-
rungsproblems war damit freilich schon deshalb nicht erzielt
worden, weil die auf eine Erweiterung der direkten Besteue-
rung gerichtete liberale Politik wieder durch die konservative
verdrängt wurde, be\or eine gründliche Reform versucht werden
kormte.
Freilich gelang es auch den Konservativen nicht, ihre
finanzpolitische Absicht auszuführ-en, durch eine Vermehrung
der indirekten Steuerobjekte das Übergewicht der indirekten
Besteuerung sicherzustellen. Trotz wiederholter Ankündigung
zögerten sie, ihr Steuerprogramm durchzuführen, und als 1889
durch die Überweisung eines Teils des Staatssteuerertrags an
die Gemeinden ein Budgetdefizit entstand, wandte sich der
konservative Finanzminister Goschen in erster Linie an die
direkte Besteuerung, indem er durch eine Erhöhung der Nach-
laßsteuern den Hauptteil des Fehlbetrags aufbrachte und von
den indirekten Steuern nur die Biersteuer mit heranzog. Der
Widerspruch, der darin lag, war allerdings nur scheinbar, da
die allgemein günstige wirtschaftliche Lage eine solche Zu-
nahme des Konsums bewirkt hatte, daß das treibende Motiv
der konservativen Steuerpolitik mit der wieder einsetzenden
Ertragssteigerung der indirekten Steuern für diese. Jahre auf-
— 103 —
gehoben wurde. Daraus erklärt sich auch, daß der budget-
mäßige Überschuß des folgenden Jahrs (1890/1) nur zu einer
Erleichterung der indirekten Steuern, denen der Mehrertrag
zu verdanken war, verwendet wurde, während der Einkommen-
steuersatz von 6 d aufrecht erhalten wurde.
Auf die günstige Entwicklung der Jahre von i886;'90 folgte
zwar ein allmählicher Rückgang, der die Frage der Steuerreform
wieder in den Vordergrund treten ließ ; soweit aber die in-
direkten Steuern keinen offenbaren Ertragsausfall aufwiesen
und die Notwendigkeit einer Steuererhöhung einzig den ver-
mehrten Ausgaben zugeschrieben werden mußte, war auch die
Dringlichkeit einer Reform der indirekten Besteuerung nicht
gegeben. Dagegen wurde durch die starke Inanspruchnahme,
welche die Nachlaßsteuer und die Einkommensteuer in den
letzten Jahren erfahren hatten, die Forderung begründet, diese
beiden Einnahmezweige durch eine innere Reform endlich ihrer
tatsächlichen Aufgabe entsprechend umzugestalten. Innerhalb
des Besteuerungssystems bestand diese Aufgabe für beide
Steuerformen in der Erfassung der leistungsfähigen Vermögen,
soweit diese nicht durch die indirekten Steuern mit heran-
gezogen wurden, wobei die Nachlaßbesteuerung an dem Gesamt-
vermögen bei seinem Übergang in andere Hände ansetzte,
während die Einkommensteuer einmal den aus dem Vermögen
fließenden Ertrag, und zum anderen die dem Vermögen zuwach-
senden Einkommensteile alljährlich der Besteuerung zu unter-
werfen suchte. Da aber beide Steuern fast ohne jede Berück-
sichtigung der individuellen Verhältnisse sich nur an den ab-
soluten Betrag des Steuerobjekts anschlössen und dieses mit
einem einheitlichen prozentualen Steuersatz belasteten, so ver-
letzten sie damit den allerdings mehr theoretisch anerkannten
als praktisch durchgeführten Grundsatz der Verhältnismäfiig-
keit. Die darin liegende Ungerechtigkeit war umso fühlbarer,
je höher der Steuerfuß stand, und je größer der Anteil der
direkten Steuern am Gesamtertrag wurde, so daß damit auch
das Bedürfnis wuchs, den weniger leistungsfähigen Vermögens-
und Einkommensklassen eine Erleichterung zu gewähren, wäh-
rend die mannigfachen Beziehungen, die zwischen den beiden
Steuerobjekten, dem Vermögen und Einkommen, bestanden, eine
gleichzeitige und auf diese Beziehungen Bedacht nehmende
Durchführung der Reform nahelegten. So kam in dem Ver-
— 104
langen nach einer Umgestaltung der direkten Besteuerung das
Bestreben zur Geltung, durcli eine Abstufung der relativen
Belastung die individuelle von der Höhe des Steuerobjekts ab-
hängige Steuerkraft zu berücksichtigen und zum Maßstab der
Steuerleistung zu machen.
Soweit dieses Prinzip der Absicht entsprang, den von den
beiden Steuern noch erfaßten unteren Klassen Erleichterung
zu bieten, hatte es in der Einkommensteuer seit der Einführung
des Abatementsystems durch Gladstone bereits seine, wenn
auch unvollkommene Anwendung gefunden, während die Idee
der Verhältnismäßigkeit der Steuerleistung darin kaum zum
Ausdruck kam. Ganz fremd, war aber auch diese Idee dem
englischen Besteuerungssystem nicht mehr, seit es in dem Budget
von 1890 für die Haussteuer durch einen nach unten abnehmen-
den oder degressiven Steuerfuß durchgeführt worden war. Ent-
sprach die Form der Degression in diesem Fall ganz dem Zweck,
die unteren Klassen zu erleichtern, so mußte das Prinzip der
abgestuften Steucrleistung in seiner Übertragung auf die Ein-
kommensteuer und die Nachlaßsteuern dadurch abgeändert
werden, daß durch die Ausgabeentwicklung die Notwendigkeit
einer Ertragsvermehrung der direkten Steuern bedingt wurde.
Der verhältnismäßig hohe Stand dieser belastete die unteren
Steuerklassen jedoch bereits so erheblich, daß eine Ertrags-
steigerung, ohne der Gerechtigkeit entgegen zu sein, nur durch-
geführt werden konnte, wenn die Mehrbelastung ganz oder
doch zum größeren Teil von den höheren und leistungsfähigen
Klassen getragen wurde. An sich war diese Absicht dadurch
zu erreichen, daß der bisherige Steuersatz für die Einkommen
bis zu einer bestimmten Höhe beibehalten und nur für die Ein-
kommen, welche diese Grenze überstiegen, dem Bedarf ent-
sprechend erhöht wurde. Eine andere Möglichkeit bot die An-
wendung eines nach der Größe des Objekts progressiv ge-
steigerten prozentualen Steuerfußes, der so bemessen wurde,
daß die Mehrbelastung erst von einer gegebenen Grenze an
eintrat. Beide Wege kamen aber für die Einkommensteuer
nicht in Betracht. Für sie und auch für die Nachlaßsteuer
empfahl sich der erste Weg nicht, weil durch die Anwendung
zweier verschiedener Steuersätze tatsächlich eine Zerlegung der
Steuern in zwei Teile bewirkt worden wäre, die zweite Möglich-
keit aber enthielt für die Einkommensteuer einen gewissen
— I05 —
Gegensatz zu ihrer technischen Organisation, der nur durch
ihre gänzUche Umgestahung aufgehoben worden wäre. Da-
gegen fügte sich die prozentuale Progression ohne weiteres in
die Organisation der Nachlaßsteuern ein, deren Steuerfuß be-
reits in einem Prozentbetrag des veranlagten Nachlaßvermögens
bestand. Eine bequemere Handhabe, das Prinzip der Gradation
für die Einkommensteuer ohne Gefährdung ihrer Organisation
und finanziellen Wirkung durchzuführen, bot das bereits be-
stehende System der Abatements, durch dessen weitere Aus-
dehnung ein von dem Normalsatz nach unten degressiv ab-
gestufter Steuersatz ermöglicht werden konnte.
Obwohl die Idee der Gradation aus der Steuertheorie her-
vorgegangen war und in der Literatur und im Unterhaus nur
im Interesse einer gerechten Verteilung der steuerlichen Gesamt-
belastung vertreten wurde, so zeigte sich doch auch hier wieder,
daß ihre praktische Verwirklichung nur unter dem Druck einer
finanziellen Notwendigkeit in /\ngriff genommen wurde. Als
nach 1890 die wirtschaftliche Aufwärtsbewegung sich wieder
verlangsamte und das Wachstum der indirekten Steuern zum
Stillstand kam, während andererseits durch die Neuorgani-
sation des Unterrichtswesens die Ausgaben stark in die Höhe
getrieben wurden, trat das Bedürfnis einer Einnahmevermehrung
wiederum hervor. Nach dem Wechsel im Ministerium, der auf
die Niederlage der Konservativen in den Wahlen von 1892 folgte
und Gladstone noch einmal an die Spitze der Regierung
brachte, konnte die Entscheidung, nach welcher Richtung hin
die Steuerreform erfolgen würde, um so weniger zweifelhaft
sein, als Gladstone durch eine 1888 von ihm durchgesetzte
Resolution auf eine Reform der direkten Besteuerung nach dem
Grundsatz der Gradation festgelegt war.
Die finanzielle Notwendigkeit, die hinter dem Reform-
problem als treibende und bestimmende Kraft stand, wurde
im Jahre 1894 erkennbar, als das Budget mit einem veran-
schlagten Defizit von fast 2I/2 Millionen £, das durch eine Er-
höhung des Ausgabeetats hervorgerufen war, eröffnet wurde.
Diesem Fehlbetrag konnte nur durch eine durchgreifende Maß-
nahme begegnet werden, für welche allein die einer erheblichen
Ertragssteigerung fähigen ,, staple branches" des Einnahme-
systems, in erster Linie also die beiden großen Formen der
direkten Besteuerung in Betracht kamen. Freilich war es nicht
— io6 —
allein die Höhe des augciil)lickliciien Bedarfs, welche eine
Reform der beiden Steuern forderte. Insbesondere bedurfte die
Nachlaßbesteuerung, deren fünf Zweige (Probate-, Account-,
Estate-, Succession- und Legacy-Duty) in wirrer Systemlosigkeit
sich im Laufe der Zeit aneinandergeschlosscn hatten, ohne in
ihrer Wirkungsweise einem gemeinsamen Besteuerungsgrund-
satz zu folgen, dringend einer durchgreifenden Neugestaltung.
Diese wurde dadurch bewirkt, daß die drei innerlich sich nahe-
stehenden Probate-, Account- und Estate-Duties durch eine
einzige Nachlaßvermögcnssteucr (Estate-Duty) ersetzt wurden,
die von dem Kapitalwert des nachgelassenen Vermögens er-
hoben wird, während die Erbschafts- und Vermächtnissteuern
(Succession und Legacy duties), die beide auf den Verwandt-
schaftsgrad des Erben Rücksicht nahmen, durch Vereinheit-
lichung des Stcuerfußes und durch Beseitigung einzelner Unter-
schiede in der Behandlung des Erbanteils praktisch in eine
einzige Steuer verschmolzen wurden.
War somit dieser Teil der Reform mehr technischer Natur,
so trat ihre finanzielle Bedeutung in der Frage nach der Be-
messung des Steuerfußes deutlich hervor, indem hier das Prinzip
der Gradation die Möglichkeit einer Ertragssteigerung gewährte,
ohne die unteren Vermögensstufen stärker zu belasten, als es
bisher der Fall war. Die Progression begann mit dem Satze
von lO/o und erreichte bei der Vermögensstufe von 25 oco £ den
bisherigen Einheitssatz von 40/0, um von da bis zu 80 0 des Ver-
mögenswerts anzusteigen, so daß "der veranschlagte Mehrertrag
von I Million £ ganz von den 23 000 £ übersteigenden Ver-
mögensstufen aufgebracht wurde, während die niederen sogar
eine Erleichterung erfuhren.
Genau wie bei der Nachlaßbesteuerung, die wir wegen ihrer
Bedeutung als Typus der rein prozentualen Progression ausführ-
licher darstellten, fand dieselbe finanzielle Grundidee in ent-
sprechender Übertragung auf den wesentlich verschiedenen
Organismus ihre Verwirklichung auch in der Einkommen-
besteuerung. Auch hier bildete den Ausgangspunkt die Ab-
sicht einer Ertragserhöhung, die jedoch nur von den höheren
Einkommensklassen getragen werden sollte: ,,If the Income
tax is to be maintained at a high figure, we should make some
attempt to adjust its pressure so as to make it less intolerable
— loy —
to those who are least able to bear it"^^). Während somit der
Normalfuß von 7 auf 8 d erhöht wurde, erweiterte der Finanz-
minister Harcourt die Befreiungsgrenze auf 160 £ und ge-
währte den Einkommen zwischen 160 und 400 £ einen steuer-
freien Abzug von 160 £ und den Einkommen zwischen 400 und
SOG £ einen Abzutr von 100 £.
Damit erhielt das Abatementsystem folgende
Gestalt:
Einkommens-
klasse
£
Abatement
£
Versteuerbares
Einkommen
£
Tatsächlicher
Steuerfuß
d
Steuerfuß
0 — 160
161 — 400
401 — 500
501 usw.
160
100
I — 240
301 — 400
501 usw.
4,8
6,4
8.0
2
2,6
3,3
So waren also auch die Einkommensklassen unter 500 £
von der Steuererhöhung nicht nur unberührt geblieben, son-
dern noch weiter erleichtert worden. Alit dieser Ausbildung
des Abatementsystems, das eine Zusammenfassung der Teil-
einkommen zu einem Gesamteinkommen voraussetzte, wurde
aber die Anwendung des Grundsatzes, das Einkommen an seiner
Quelle zu erfassen, erheblich beschränkt und die frühere Ein-
fachheit des Erhebungsverfahrens wesentlich verringert. In
diesem technischen Grund fand die Gradation der Einkommen-
steuer eine Begrenzung, die freilich nicht theoretisch festgesetzt
werden konnte, sondern praktisch herausgefunden werden
mußte.
Mit dieser grundlegenden Reform der beiden großen
direkten Besteuerungsformen und der Durchführung des Grada-
tionsprinzips war die Entwicklungsbasis, auf der sich die mo-
derne englische Finanz aufbauen konnte, geschaffen, und es
bedeutet dieser Neuordnung gegenüber wenig, wenn der augen-
blickliche Gesamtbedarf nicht dadurch allein gedeckt werden
konnte, sondern auch einen Beitrag der indirekten Steuern er-
forderte. Zudem fügte sich die Erhöhung der Alkoholsteuern
durchaus dem liberalen Finanzprogramm ein, das noch immer
nicht auf ein Übergewicht der direkten Besteuerung ausging,
sondern auf der Voraussetzung einer Gleichstellung der beiden
74) Hansard, IV, vol. 23, col. 500 (Harcourt).
— io8 —
Methoden berulite und insbesondere die schärfere Belastung
der entbehrlichen Cicnußmittel bis zur äußerst möglichen Grenze
als Forderung mit enthielt. Wesentlich ist dabei nur die finan-
zielle Bedeutung des Gradationsprinzips, das sich bei der ge-
gebenen Ausgabensteigerung früher oder später doch durch-
setzen mußte: ,,You have before you a future of ever increasing
expenditure, demands not only for the Army and Navy, but for
every kind of social reform. \'ou will have increased taxation
and you will find that these vast fortunes cannot refuse to
bear their share, proportionate to their ability to endure the
bürden"''^).
Der finanzielle Erfolg der Reform wird deutlich, wenn wir
die Finanzgestaltung der nächsten Jahre überblicken. Obwohl
die gesamten Ausgaben bis zum Jahre 1898/99 um den be-
trächtlichen Betrag von 13,7 Millionen £. gegenüber 1894/5 ge-
stiegen waren, konnte doch der ganze Mehrbedarf ohne jede
Steuererhöhung durch das natürliche Wachstum der Ein-
nahmen aufgebracht werden, wobei sogar noch ein Betrag von
etwa 3,3 Millionen £ durch Steuerreduktion aufgegeben worden
war. An der Ertragsvermehrung der Steuerquellen von rund
1 1 Millionen £ waren dabei die Nachlaßstcuern und die Ein-
kommensteuer zusammen mit mehr als 5 Millionen £, also nahezu
der Hälfte beteiligt, obwohl für die Einkommensteuer das Abate-
mentsystem im Budget von 1898 eine Erweiterung erfahren
hatte. Diese Ausdehnung der Gradation war diesmal zwar nicht
mit einer Erhöhung der Steuer verbunden, trat aber doch an
die Stelle einer geforderten Herabsetzung des Normalsatzes,
so daß sie durchaus der 1894 verfolgten Politik entsprach,
da der Ertragsüberschuß nur zur Erleichterung der unteren
Einkommensklassen verwandt wurde. Bis zur Einkommensstufe
von 400 £ wurde der bisherige Abzug von 160 £ beibehalten,
für die nächste Stufe von 400/500 £ dagegen von 100 auf i5o£
erhöht. Darüber hinaus wurden zwei neue Einkommensstufen
gebildet, indem für die Einkommen von 500/600 £ ein Abzug
von 120 £ und für die Einkommen zwischen 600- und 700 £ ein
Abzug von 70 £ gestattet wurde, während die volle Belastung
erst für die Einkommen über 700 £ eintrat. Darnach gestaltete
sich das ganze System nunmehr folgendermaßen:
7^) Plansard, 1\', vol. 24, col. 895 (Harcourt).
— I09
Einkommens-
Abatemcnt
Steuerpflicht.
Tatsächlicher
klassen
Einkommen
Pennysatz
Satz in %
£
£
£
d
0—160
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161 — 400
160
I — 240
4.8
2,0
401 — 500
150-
251—350
5,6
2.3
501 — 600
120
381—480
6,4
2,6
601 — 700
70
531—630
7,2
3,0
701 usw.
—
701 usw.
8.0
3.3
War damit eine Erweiterung der Gradation auf höhere
Einkommensklassen, deren Steuerkraft doch schon ziemhch
groß war, gegeben, so wurde durch diese Neuordnung auch
die Degression des Steuersatzes vom Normalfuß abwärts weit
mehr ausgeglichen, wenn auch die Sprunghaftigkeit, die ihr
bisher anhaftete, nicht völlig beseitigt war '^6). Ein Merkmal
blieb dabei allerdings doch erhalten: die Willkürlichkeit, die
in der Begrenzung der Einkommenstufen und in der Festsetzung
des steuerfreien Abzugs lag, so daß für die Tendenz einer Er-
weiterung des Abatementsystems kaum eine natürliche Beschrän-
kung gefunden werden konnte. Doch war damit innerhalb der
Einkommensteuerorganisation ein Moment erhalten geblieben,
das auf eine weitere Entwicklung hindrängte und gleichzeitig
die Richtung anzeigte, in der diese vor sich gehen konnte.
Überblicken wir von hier aus noc\ kurz die Gesamtvertei-
lung der Steuerbelastung, so wird uns der Umschwung deutlich,
der durch die Einführung des Gradationsprinzips in die direkte
Besteuerung bewirkt worden war. Während 1875/6 die direkten
Steuern insgesamt nur etwas mehr als den vierten Teil des
Steuerertrags aufbrachten, war im Jahre 1898/9 ihr Anteil auf
fast die Hälfte (44,20/0) gestiegen. Noch deutlicher wird uns
die Entwicklung der direkten Steuern, wenn wir uns vergegen-
wärtigen, daß von der Ausgabenvermehrung seit 1875 von rund
42 Millionen £ im Jahre 1898/9 zwei Drittel von den direkten
und nur je ein Sechstel von den indirekten Steuern und den
nichtsteuerlichen Einnahmen gedeckt wurden, so daß also weit-
. aus der größere Teil der Ausgabenvermehrung von den direkten
Steuern getragen wurde. So war das Schwergewicht der steuer-
lichen Belastung in dem Zeitraum von 25 Jahren immer mehr
nach der direkten Besteuerung- hin verschoben worden und
76) Hansard, IV, vol. 56, col. 687.
— 1 lO —
die Gestaltung des Finanzsystems völlig verändert worden.
Diese Entwicklung war aber noch keineswegs abgeschlossen
sondern wurde in den nächsten Jahren unter der Einwirkung
des südafrikanischen Kriegs über den 1899 erreichten Stand
so hinausgetrieben, daß die direkte Besteuerung nunmehr zur
Grundlage des Systems wurde.
§ 16.
Der moderne Bedarf und die Lösung der Ein-
komm e n s t e u e rf r a g e.
Der Umwandlungsprozeß, der 1866 einsetzte und bis zum
Jahre 1898/9 dem Ertrag nach fast zu einer Gleichstellung der
direkten mit der indirekten Besteuerung führte, stand im eng-
sten Zusammenhang mit der Bedarfsentwicklung. Die Ver-
schiebung in dem Verhältnis, das zwischen den Erträgen der
beiden Besteuerungsmethoden bestand, war nicht dadurch be-
wirkt worden, daß die direkten Steuern an die Stelle der in-
direkten gesetzt worden waren, sondern dadurch, daß ihnen
in stärkerem Maße, als es bei den indirekten Steuern der Fall
war, die Bedarfsvermehrung aufgebürdet worden war. Die
Verbrauchsbesteuerung erfuhr während des ganzen Zeitraums
nur eine geringe Ausdehnung, während die beiden großen
Zweige des direkten Systems, die Nachlaßsteuern und die Ein-
kommensteuer, zusammen über 60 0/0 der gesamten Bedarfs-
vermehrung deckten und von den Mehreinnahmen aus Steuer-
quellen 72,60/0 aufbrachten. Von hier aus aber wird uns auch
die finanzielle Bedeutung des Gradationsprinzips allererst deut-
lich, wenn wir bedenken, daß die unteren von der Einkommen-
steuer und von den Nachlaßsteuern erfaßten Einkommens-
und Vermögensklassen nur eine geringe Mehrbelastung er-
fahren hatten, während fast der gesamte Mehrertrag dieser
beiden Einnahmequellen durch schärfere Belastung der leistungs-
fähigeren Oberschichten gewonnen worden war. Um die Um-
wandlung in der Ertragsgestaltung der Einnahmezweige seit
1875 zu veranschaulichen, folgt hier die Tabelle 9. Die nächste
Tabelle 10 zeigt dagegen, wie in diesem Zeitraum die jeweilige
Bedarfsvermehrung durch die verschiedenen Einnahmearten
Deckung gefunden hat.
— III —
Auf diese Finanzent-
wicklung wirkte nun
aber seit dem Jahre
1899 ein äußeres Er-
eignis ein, durch wel-
ches die ohnehin
starke Bedarfsvermeh-
rung noch weiter an-
getrieben und das
Deckungsproblem
aufs neue in den Vor-
dergrund der finanz-
politischen Erwägun-
gen gerückt wurde.
Dieses Ereignis war
der südafrikanische
Krieg, dessen außer-
gewöhnlicher Verlauf
nicht nur eine außer-
gewöhnliche Bedarfs-
steigerung während
des Kriegs verur-
sachte, sondern auch
nach seiner Beendi-
gung einen derartig
hohen Stand der dau-
ernden Ausgaben zu-
rückließ, daß von den
Einnahmen, die wäh-
rend des Kriegs zur
Bedarfsdeckung er-
schlossen worden wa-
ren, nur ein kleiner
Teil, und auch dieser
nur vorübergehend,
wieder entbehrt wer-
den konnte. Es war
zwar bisher stets eine
Wirkung eines jeden
Kriegs gewesen, daß
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P 7
- I 1 3 —
sich die Ausgaben nach dem Krieg nicht mehr auf ihren früheren
Stand hatten zuri-ickführen lassen. Immerhin aber war es doch
bisher möghch gewesen, den größten Teil der während des
Kriegs erhöhten Steuern nach dem Friedensschluß wieder herab-
zusetzen. Das erwies sich nach dem südafrikanischen Krieg
jedoch als unmöglich, da die Gesamtausgaben nur um den Be-
trag vermindert werden konnten, der während des Kriegs durch
Anleihen Deckung gefunden hatte, so daß also eine Herab-
setzung der Kriegssteuern nicht durchgeführt werden konnte,
wenn der Grundsatz eines ausgeglichenen Budgets aufrecht
erhalten werden sollte. Aus dieser eigentümlichen Nachwir-
kung des südafrikanischen Kriegs aber ergeben sich zwei Fragen,
deren Beantwortung für die Gestahung der Finanzentwicklung
der folgenden Jahre von Bedeutung ist. Die eine Frage richtet
sich auf die Ursachen der außergewöhnlichen Bedarfssteigerung,
wie sie während des Kriegs hervorzutreten begann, und die
andere auf die Art und Weise, wie dieser vermehrte Bedarf
während des Kriegs seine Deckung gefunden hatte.
Hierbei darf nun nicht übersehen werden, daß nur ein Teil
der Ausgabevermehrung als eine direkte Folge des Kriegs
betrachtet werden kann, daß vielmehr während seines Verlaufs
Entwicklungstendenzen sich bemerkbar machten, die unab-
hängig von den durch den Krieg hervorgerufenen Ausgaben zu
einer Steigerung des dauernden Bedarfs führten. Außer acht
lassen können wir hierbei die Ausgabevermehrung der Post-
verwaltung, die durch die Ausdehnung des staatlichen Paket-
postverkehrs, durch die Verstaatlichung des Telegraphenver-
kehrs und durch die Übernahme des Fernsprechverkehrs ver-
ursacht wird, da diese durch entsprechende Einnahmesteige-
rung wieder ausgeglichen wird. Auch die Erhöhung der Schul-
denlast, die durch die Schuldenvermehrung während des süd-
afrikanischen Kriegs bewirkt worden war, fällt nur teilweise ins
Gewicht, da sie durch eine Herabsetzung der Tilgungsquote
(des New Sinking Fund) vermindert wurde ^7). Wesentlich auf
") Der New Sinking Fund stellt die Differenz dar zwischen der für
den Schuldentitel festgesetzten Gesamtsumme und den tatsächhch durch die
Schuldenverwaltung und Verzinsung verursachten Ausgaben. So betrug
für das Rechnungsjahr 1911/12 der Etat der Schuldenverwaltung 24,5 Mil-
lionen £, von denen aber nur 20,053 Millionen £ für Verwaltung und Ver-
zinsung verausgabt wurden. Die Differenz von 4,447 Millionen £ stellt
Zeitschrift für die ges. Staatswissensch. Ergänzungsheft 48. 8
- I 14
den südafrikanisclu-ii Kricj^ zurück/uführcn isi die dauernde
Erhöhung des Heeresetats, doch ist gerade diese keineswegs
ungewöhnHch zu nennen. Nach dem Krieg konnten die Aus-
gaben der Heeresverwahung soweit reduziert werden, daß sie
1908/9 nur 7 MiUioncn C höher waren als vor dem Ausbruch des
Kriegs. Seit diesem Jahr begimien sie zwar wieder infolge der
allgemeinen Soldcrhöhungen etwas zu steigen, doch nicht so er-
heblich, daß daraus allein der Umfang der modernen Bedarfs-
entwicklung erklärt werden könnte. Diese geht vielmehr fast
ausschließlich auf die beiden Etatposten der Marine und der
imieren Verwaltung zurück. Die Steigerung der Flottenaus-
gaben begann etwa seit dem Jahr 1895 mit dem Bau der großen
Schlachtschiffe, nahm aber ihren außerordentlichen Umfang erst
seit 1904 an, als mit dem Bau des Dreadnoughttyps die moderne
Entwicklungsphase der Großkampfschiffe allererst eingeleitet
wurde. So schwoll der Bedarf der Marineverwaltung in den
letzten Jahren mit einer Geschwindigkeit an, die keine Grenzen
zu kennen scheint. Während hier die Sicherung der englischen
Großmachtstellung die Veranlassung der Bedarfserhöhung
bildet, erwachsen andererseits aus der Durchführung der großen
sozialen Aufgaben des Staats, der Alters-, Invaliden- und Kran-
kenversicherung neue Ausgaben, die neben ihrer ungewöhn-
lichen Höhe mit den Flottenausgaben noch das gemeinsam
haben, daß sie keinen Höhepunkt, sondern einen Anfang be-
deuten, dessen weitere Entwicklung anmöglich vorausgesehen
oder gar berechnet werden kann. Wie gewaltig die Ausgaben-
steigerung unter diesen beiden Etatposten ist, geht aus der
folgenden Zusammenstellung hervor.
Die Ausgaben für die Flotte betrugen nämlich:
1894/5 I7Ö45 Millionen £
1898/9 24,068 ,, ,,
1908/9 32,188
191 2/13 (Budget) 44,085
Die Ausgaben für Civil Services betrugen:
1898/9 22,025 Millionen £
1908/9 32,338
19 12/13 (Budget) 49,800
den New Sinking Fund dar, der zur Schuldentilgung dient. Durch Herab-
setzung der Gesamtsumme wird natürlich die Tilgungsquote verringert.
— 115 —
In beiden Zweigen fällt nun der erste Teil der Ausgaben-
steigerung zeitlich mit dem südafrikanischen Krieg zusammen
und wurde darum in ihrer tatsächlichen Größe durch die Ge-
samtbedarfsvermehrimg während des Kriegs verdeckt, trat aber
dann nachher, als die eigentlichen Kriegsausgaben wegfielen,
umso schroffer hervor. Hier aber wird nun erst die finanzielle
Bedeutung des Burenkriegs ersichtlich. Diese liegt weniger
in einer Vermehrung des dauernden Bedarfs, als darin, daß
während seiner Dauer die Einnahmen ausgebildet worden waren,
die nach der Beendigung des Kriegs zur Deckung des aus den
oben erwähnten Ursachen heraus dauernd gesteigerten Bedarfs
bereitgestellt werden konnten.
Die Einnahmevermehrung während des südafrikanischen
Kriegs war jedoch nicht nur in der Absicht, einen zeitweiligen
Kriegsbedarf zu decken, erfolgt, sondern ging zu einem guten
Teil aus der klaren Erkenntnis der dauernd wirkenden Ursachen
hervor. Damit aber erhielt das dem lawinenartig anschwellen-
den Bedarf gegenüber dringlich gewordene, Deckungsproblem
die besondere Gestaltung, daß nicht nur für den augenblick-
lichen Kriegsbedarf die Mittel aufgebracht werden mußten,
sondern auch für den Teil der Ausgaben, der sich als dauernde
Vermehrung darstellte, daß es sich hierbei also nicht nur um die
Erschließung zeitweiliger, sondern auch dauernder Einnahmen
handelte, wobei die Höhe des durch neue Steuern aufzubringen-
den Ertrags die Absicht sehr nahe legen mußte, damit eine
gänzliche Umgestaltung des Besteuerungssystems zu verbinden.
So hing das Deckungsproblem von der Gestaltung des Steuer-
systems ab, und hier konnte der Umstand nicht übersehen
werden, daß sowohl die indirekte als auch die direkte Besteue-
rung auf einen Höhepunkt gekommen war, der innerhalb des
bestehenden Systems die Möglichkeit vermehrter Ertragsgewin-
nung nahezu auszuschließen schien, so daß damit wieder die
Forderung einer Erweiterung der Besteuerungsmöglichkeiten
gestellt war. Soweit die indirekten Steuern in Frage kamen, war
eine solche Möglichkeit nur in der Weise gegeben, daß die
Zahl der steuerpflichtigen Objekte vermehrt oder, wie das
parteipolitische Schlagwort lautete, ,,the basis of taxation" er-
weitert wurde, während eine Erhöhung der bestehenden in-
direkten Steuern einen nennenswerten Mehrertrag kaum mehr
erwarten ließ. Für die direkte Besteuerung bestand die Mög-
ii6 —
lichkcil ciiR-r i:nrag>vrrnicliri.nK aulAer in ciiu-r cinlariRMi l.r-
höhung der Steuersätze nur in d.r Weise, daß der (irundsatz
der Gradation noch weiter als bisher ausgedelint, oder aber
daß ganz neue Steucrobjekte, die bisher von keiner der direkten
Besteuerungsformen getroffen wurden, erschlossen wurden.
Im ersten Kriegsbudget (1900«, das noch auf der Voraus-
setzung beruhte, daß der entstandene Mehrbedarf überwiegend
nur dem Krieg zuzuschreiben sei, wurde eine über das be-
stehende System hinausgehende Erweiterung der Besteuerungs-
möghchkeiten nach beiden Richtungen hin abgelehnt'«). Von
den verfügbaren Stcuerquellen mußte aber die Emkommen-
steuer ihre Taughchkeit als „Kriegssteuer" trotz des hohen
Satzes von 8 d um so mehr erweisen, als durch eine Erhöhung
der Steuer um 4 d fast der doppelte Mehrertrag erzielt wer-
den konnte, als zur Zeit des Krimkriegs durch eine Erhöhung
um 7 d. So wurde die Einkommensteuer durch Erhöhung
auf I sh zur Grundlage der Ertragsvermehrung gemacht, wäh-
rend von den indirekten Steuern die beiden Gruppen Tabak
und Alkohol, aber auch Tee einer erheblichen Steuererhöhung
unterworfen wurden. Wie aber im weiteren Verlauf des Kriegs
die Tatsache hervortrat, daß die so gewonnenen Mehrem-
nahmen nicht ausreichten, um die vom Krieg unabhängige
dauernde Bedarfsvermehrung zu decken, war die Notwendig-
keit einer Erweiterung der Besteuerungsmöglichkeiten kaum
länger zu umgehen, und die Konservativen benutzten die Ge-
legenheit, wenn auch nur zögernd und widerstrebend, den Be-
reich der indirekten Steuern dadurch zu erweitern, daß sie den
von Northcote 1874 aufgehobenen Zuckerzoll, den Kohlen-
exportzoll (i 901) und die Kornzülle (1902) wieder einführten '9).
Doch wurde auch die Einkommensteuer in diesen Jahren weiter
auf 14 d (1901) und auf 15 d (1902) erhöht, da der durch
die indirekten Steuern erzielte Mehrertrag trotz der Vermehrung
der Zahl der Objekte nicht zur Bedarfsdeckung ausreichte.
Die finanzielle Umwandlung, die sich während der Kriegs-
jahre vollzogen hatte, wird in dem ersten Budget nach dem
Friedensschluß (1903) ersichtlich. Nach diesem betrug die Er-
höhung des dauernden Bedarfs rund 26 Millionen £, während
78) Hansard, W, vol. 80, col. 68 (Hicks-Bcach).
79) Hansard, I\', vol. 92, col. 624ff.
— 117 —
zur Deckung des Mehrbedarfs der jährliche Steuerertrag um
rund 36 AliUionen erhöht worden war, wovon auf die Ein-
kommensteuer allein über 17 Millionen £, auf die neuein-
geführten Steuern etwa 1 1 Millionen £ und auf die übrigen
erhöhten Steuern 8 Millionen £ entfielen. Nach diesem Vor-
anschlag wurden demnach Einnahmen im Betrage von 10 Mil-
lionen £ entbehrlich, die in erster Linie zu einer Herabsetzung
der Einkommensteuer auf 1 1 d und zur Aufhebung der Korn-
zölle, die von den neuen Steuern am meisten angegriffen worden
waren, verwendet wurden. Da aber die tatsächlichen Ausgaben
des Jahres den Voranschlag erheblich überschritten, so erwies
sich die Reduktion der Einkommensteuer als verfrüht, indem sie
im nächsten Jahre wieder auf den Satz von 12 d hinaufgesetzt
werden mußte, und auch die indirekten Steuern wieder eine Er-
höhung erfuhren.
Damit aber wird die Finanzgestaltung in ihren Ergebnissen,
die sich während der Kriegsjahre herausgebildet hatten, erst
recht deutlich. Die dauernde Erhöhung des Bedarfs hatte
nicht nur eine erhebliche Erhöhung der indirekten Steuern
notwendig gemacht, sondern auch zu einer Erweiterung der
Steuerobjekte (Ausfuhrkohle und Zucker) geführt. Anderer-
seits aber, und das ist für uns das wichtigste Ergebnis, war
die Einkommensteuer auf eine Höhe getrieben worden, wne
sie bisher in einer Friedenszeit nie erreicht worden war, und
dabei wiir nach dem ganzen Stand der Finanzen eine Herab-
setzung der Steuer selbst bei gleichbleibenden Ausgaben
nicht zu erwarten. Wenn auch infolge der Ausdehnung der
indirekten Steuern der Anteil der direkten am Gesamtertrag
zurückgegangen war, so hatte doch die Bedeutung und Stellung
der Einkommensteuer innerhalb des Systems eine völlige Um-
gestaltung erfahren, wie aus den beiden Tabellen 9 und 10 her-
vorgeht, x-lus einem ausgleichenden Faktor war sie in diesen
Jahren zu einem der hauptsächlichsten Glieder des Besteue-
rungssystems geworden, von dem die Deckung des fünften Teils
des gesamten Staatsbedarfs abhing.
Damit aber drängten alle Probleme der Einkommen-
steuerorganisation und ihrer technischen Wirkungsweise schon
während des Kriegs, besonders aber nach seiner Beendigung
wieder mit neuer Heftigkeit hervor. Es war zwar nicht zu ver-
kennen, daß die einzigartige Ertragsfähigkeit nicht allein auf
1 1 8 -
tlrr Lc'isiungsfähigkcii des crfabit-n Ol)jfkts. sondern zu einem
guten Teil auf der besonderen Art beruhte, wie die Einkommen-
steuerorganisation dieses Objekt zu erfassen imstande war, ohne
dabei dem Steuerzahler so unmittelbar und mit allen Härten
fühlbar zu werden, wie es sonst bei der direkten Besteuerung
zu sein pflegt. Andererseits aber konnte man sich doch auch
wieder der Einsicht nicht verschließen, dafi eben diese Organi-
sationsform in der ununterschicdenen Art, wie sie ohne Berück-
sichtigung persönlicher Momente das Einkommen rein als Objekt
seinen jeweiligen Teilbeträgen nach erfaßte, Härten und Un-
gerechtigkeiten in sich trug, die sich bei einer zeitweiligen Steuer
ertragen ließen, bei einer dauernden Steuer aber die Gefahr
einer Beeinträchtigung des Ertrags befürchten ließen. Im
Gradationsprinzip war die Berücksichtigung der objektiven
Leistungsfähigkeit, die an der Einkommensgröße gemessen
wurde, bereits erfolgt, während die subjektive Leistungsfähig-
keit, die von der wirtschaftlichen Lage des Einkommensteuer-
zahlers und den besonderen Bedingungen abhing, unter denen
das steuerpflichtige Einkommen erworben wurde, unberück-
sichtigt geblieben war. Sobald aber die Steuer ihren zeit-
weiligen Charakter zu verlieren begann, trat die Forderung, das
Prinzip der Leistungsfähigkeit in der Einkommensteuerorgani-
sation zu einheitlicher Durchführung zu bringen, immer dring-
hcher hervor. Das war schon 1853 der Fall gewesen und seit
1875, als die Beibehaltung der Steuer tatsächlich entschieden
war, wurde die Forderung bei jeder Gelegenheit wiederholt. Seit
aber die Einkommensteuer als dauerndes und unentbehrliches
Glied des Besteuerungssystems auch für den gewöhnlichen
Finanzbedarf anerkannt war, wurde die Durchführung der lange
hinausgeschobenen Reform zu einem finanziellen Bedürfnis, von
dessen Befriedigung die weitere Wirksamkeit und Ertragsfähig-
keit der Steuer abhing. Damit trat neben das Prinzip der
Gradation der Steuerleistung nach dem in der E i n -
kommensgrößc gegebenen Merkmal der Leistungsfähig-
keit das Prinzip der Differentiation der Steuerbe-
lastung nach der durch die Einkommensart bestimmten
Leistungsfähigkeit, die bei den beiden Hauptarten des fun-
dierten und unfundierten oder des Arbeitseinkommens und des
Renteneinkommens wesentlich verschieden war. Mit der Durch-
führung dieser Reform wurde die Einkommensteuerorganisation
— 119 —
ihrer tatsächlichen Funktion, die leistungsfähigen \^ermögen
und Einkommen über die Konsumtionsbesteuerung hinaus im
Verhältnis zur Steuerkraft heranzuziehen, allererst angepaßt und
eine Ungerechtigkeit beseitigt, die sich bei einer Steuer mit
dem Ertrag der Einkommensteuer auch nicht mehr aus finan-
ziellen Rücksichten, die früher ausschlaggebend sein mochten,
verteidigen ließ.
Die Möglichkeit, diese Einkommensteuerreform durchzu-
führen, wurde freilich durch den Umstand beschränkt, daß sie
verhältnismäßig kostspielig war und zeitweilig einen merkbaren
Ertragsausfall zur Folge haben mußte. Diese Schwierigkeit
wurde dadurch aufgehoben, daß seit 1905 in der Finanzlage
eine Besserung eingetreten war, die für 1907/8 einen erheb-
lichen budgetmäßigen Ertragsüberschuß, der zur Durchführung
der Reform verwendet werden konnte, hervorbrachte. So be-
stand für das in Finanzfragen radikal gerichtete neue liberale
Ministerium, das 1906 die Konservativen abgelöst hatte, kein
Hinderungsgrund mehr, die langgeforderte Reform endlich zur
Durchführung zu bringen. Vorbereitet wurde diese durch eine
parlamentarische Untersuchungskommission, die sich nach ein-
gehender Prüfung der ihr vorgelegten Frage für die Durch-
führbarkeit der Differentiation aussprach.
In dem Budget für 1907/8 brachte der Finanzminister
A s q u i t h die Vorlage zur Differentiation der Arbeits- und
Renteneinkommen ein, wobei er von der Doppelnatur der Ein-
kommensteuer, die sowohl eine Vermögenssteuer nach dem Ein-
kommensmerkmal als auch eine reine Einkommensteuer sei.
ausging. Indem er die Einkommensteuer ausdrücklich als dauern-
des Glied des staatlichen Besteuerungssystems anerkannte, be-
tonte er auch die Notwendigkeit einer Steuerreform ,,to remove
the anomaly and to arrive at some scheme, without destroying
the essential features or the productive character of the tax,
which differentiates incomes, not only as to the amount but
also as to the source whence they are derived and the con-
ditions under which they are enjoyed" 80). Durchgeführt wurde
die Differentiation in der Weise, daß für Arbeitseinkommen
ein besonderer Steuersatz von 9 d eingeführt wurde, der aber
nur dann zur Anwendung kam, wenn das jährliche Gesamtein-
80) Hansard, IV, vol. 172, col. 1202.
I 20 —
koinincn aus allen i^)iu'llen den lictrag von 2000 .C nicht über-
stieg. Die Ditterontiation war von den Ijishcr gewährten Ver-
günstigungen NÖUig unabhängig und trat neben diesen ein.
Der Ertragsausfall, den die Differentiation bewirkte, wurde auf
1,23 Millionen AI veranschlagt. Der tatsächliche Erfolg der
Reform, wie er am Ende des Jahres im Jünkommensteuerertrag
hcr\'ortrat, war selbst für die eifrigsten l:k'fürworter der Diffe-
rentiation überraschend, indem die Einkommensteuer am Schluß
des Jahres nicht nur keinen Ertragsausfall aufwies, sondern
sogar den Ertrag des Vorjahrs überstieg: ,,The mere offer of
the lower rate of tax has sufficed to increase the amount of
incomc submitted. Thus I may say, that differentiation has
worked not only a financial but moral reform" ^i). Es war
zwar nicht die Differentiation als solche, durch die dieses sonder-
bare Resultat bewirkt worden war, sondern die mit ihr verbun-
dene Deklarationspflicht, durch welche ein beträchtlicher Mehr-
betrag steuerpflichtigen Einkommens offenbart wurde. Wäh-
rend so mit der Durchführung der Differentiation keine Er-
tragsverminderung entstanden war, war andererseits doch die
Steuerorganisation von ihrem erheblichsten Mangel befreit und
für ihre endgültige Aufgabe, die Grundlage des Besteuerungs-
systems abzugeben, vorbereitet worden.
Hatte die Reform von 1907 weniger finanzielle als steuer-
technische Bedeutung, so war das Budget von 1909 wiedenmi
ganz von dem Deckungsproblem beherrscht, indem es einem
veranschlagten Fehlbetrag von rund lö'/o Millionen £ und
einem mit unheimlicher Geschwindigkeit anwachsenden Bedarf
gegenüber nur durch eine grundlegende und tiefgreifende Re-
form des Besteuerungssystems die Lösung des Problems be-
wirken konnte. Durch das Flottenprogramm, das den Bau von
8 Dreadnoughts vorsah, und durch das soziale Programm, das
die Durchfülirung der Altersrenten-, der Arbeitslosen- und der
Kranken- und Invaliditätsversicherung enthielt, war die Fort-
entwicklung des Bedarfs für die nächsten Jahre loereits vor-
ausbestimmt, so daß sich an das Budget von 1909 nicht nur
die Anforderung einer augenblicklichen Bedarfsdeckung, son-
dern auch die weitergehende Forderung ergab, für den zukünf-
tigen Bedarf die Dcckungsmittel bereit zu stellen. Daraus er-
;.) llansard, I\', vol. 18S, col. 451.
— 121 —
gaben sich die beiden Grundsätze, die der Finanzminister Lloyd
George seinem Besteuerungsplan unterlegte:
1. genügende Ertragsfähiglceit der neuen Steuern, um die
Deckung des augenblicklichen Bedarfs sicherzustellen;
2. Entwicklungsfähigkeit der neuen Steuern, imi die
Deckung des vorauszusehenden stark anwachsenden zu-
künftigen Bedarfs zu ermöglichen.
Darnach zerfiel das Plnanzproblem in zwei Teile, deren erster
eine Umgestaltung der bestehenden Steuern zur Aufgabe hatte,
um die Deckung des augenblicklichen F'ehlbetrags zu ermög-
lichen, deren zweiter aber eine Erweiterung der Besteuerungs-
möglichkeiten suchen mußte, um die ^Mittel zu einer Deckung
des kommenden Bedarfs zu gewinnen. Beide Teilfragen aber
wurden in ihrer Lösung dadurch bestimmt, daß die liberale
Finanzpolitik, der die Lösung dieser Fragen in die Hand ge-
geben war, in direkter Opposition zur konservativen Politik
ihren freihändlerischen Charakter nachdrücklich betonte. Aus
diesem Grunde war 1906 der Kohlenausfuhrzoll, der sich immer-
hin zu einer ertragreichen Einnahmequelle entwickelt hatte,
aufgegeben worden, und aus demselben Grund konnte die in-
direkte Besteuerung zu einer Einnahmenvermehrung nur so-
weit in Betracht kommen, als die vorhandenen Steuerobjekte
noch einer weiteren Belastung fähig waren, wobei aber die
beiden Artikel Zucker und Tee ausschieden, da sie als unent-
behrliche Konsumartikel mit dem liberalen Besteuerungsplan
nicht grundsätzlich übereinstimmten und darum 1906 und 19c 8
wesentliche Erleichterung erfahren hatten. So waren es nur
die Tabak- und Alkoholgruppen, die für eine Mehrbelastung
überhaupt verfügbar waren, aber ihrer hohen Gesamtbelastung
wegen, die ein Wachstum des Ertrags auszuschließen schien,
nur für die Deckung des augenblicklichen Bedarfs in Betracht
kommen konnten.
Konnte so aus der indirekten Besteuerung durch eine Er-
höhung der Tabakzölle und Brennsteuern, durch Einführung
der Motorspiritussteuern und durch die Neugestaltung des
Schank-Lizenzsystems nur ein Teil des augenblicklichen Fehl-
betrags gedeckt werden, so kam die zweite Maßnahme des
Budgets ausschließlich für die Sicherstellung einer zukünftigen
Bedarfsdeckung in Betracht, da die neuen .Landwertsteuern,
die als Erweiterung des direkten Systems eingeführt wurden,
— 122 —
erst für die Zykunft ihrem lCrtra}2:c narh von Bedeutung wer-
den konnten. Da die Landwertbesteuerung (Wertzuwachssteuer,
Heimfallsteuer und Landentwicklungssteuer) auf der Voraus-
setzung einer vollständigen Katastrierung des Grundbesitzes be-
ruhte, die bis dahin in England noch nicht unternommen worden
war. so mußte ihr Ertrag so lange unbedeutend bleiben, als
die Voraussetzung der Katastrierung fehlte und eine rück-
wirkende Kraft deshalb unmöglich wurde. So lange aber die
Katastrierung in England noch unvollendet ist (sie soll 191 4 ab-
geschlossen werden), ist es nicht möglich, über die Entwick-
lungsfähigkeit dieser Steuern ein Urteil zu bilden, wenn auch
gerade durch die Wertzuwachssteuer eine der Besteuerung bis-
her entgangene, aber äußerst leistungsfähige Form der Ver-
mögensgewinnung faßbar geworden ist.
War so weder durch eine Erhöhung der indirekten Steuern,
noch durch eine Erweiterung des Besteuerungssystems durch
neue Steuern das Deckungsproblem in seinen beiden Grund-
zügen gelöst worden, so blieb kein anderer Ausweg, als die
beiden großen Formen der direkten Besteuerung, Nachlaß- und
Einkommensteuern, wiederum zur Grundlage des Reformbudgets
zu machen. Der hohe Satz der Einkommensteuer von i sh
(= 500) ließ es freilich bedenklich erscheinen, diese Steuer noch
weiter zu erhöhen und dadurch ihre Tauglichkeit, in Zeiten
außerordentlicher Anforderungen hohe Erträge zur Verfügung
zu stellen, zu beschränken. Diesem Bedenken aber konnte durch
den Hinweis auf die mächtige Vermehrung des steuerbaren Ge-
samteinkommens und auf die Zunahme der Steuerkraft begegnet
werden, so daß trotz der Erhöhung der Steuer auf 14 d ihre
Fähigkeit, darüber hinaus im Bedarfsfall gesteigert zu werden,
nicht aufgehoben wurde. Freilich war für die Einkommen-
steuer die ,,in reality the centre and sheet anchor" des Finanz-
systems darstellte, auch die Zeit vorbei, in der durch eine ein-
fache Heraufsetzung oder Ermäßigung des Steuersatzes den
augenblicklichen Finanzbedürfnissen entsprochen werden konnte.
Waren die Grundsätze der Differentiation und der Gradation
für die Einkommensteuer bereits anerkannt, so machte doch
gerade der hohe Steuersatz eine Ausdehnung und Erweiterung
dieser Grundsätze notwendig. So wurde das Prinzip der Diffe-
rentiation auf die Arbeitseinkommen von 2 — 3000 £ ausgedehnt,
indem diese zu dem Satz von 12 d versteuert wurden, während
'- I 23 —
für die Arbeitseinkommen unter 2000 £ der ermäßigte Satz
von 9 d beibehalten wurde. Die Beziehungen des Einkommen-
steuerzahlers zur indirekten Besteuerung fanden ihre Berück-
sichtigung darin, daß für jedes Kind unter 16 Jahren ein be-
sonderer Abzug von IG C vom veranlagten Gesamteinkommen,
wenn dieses 500 £ nicht überstieg, gewährt wurde.
Mit diesen Reformen aber war ein Teil des durch die Er-
höhung um 2 d erreichten ÖMehrertrags wieder aufgezehrt wor-
den, und dem gegenüber mußte doch der eigentliche (}rund-
zweck des Budgets von 1909, eine wesentliche Ertragssteigerung
zu erreichen, betont werden. Dabei trat nun die finanzielle
Bedeutung" der Gradation von neuem in der Möglichkeit hervor,
durch sie eine schärfere Belastung der leistungsfähigen Ein-
kommensklassen zu bewirken und den Mehrertrag aus diesen
allein zu gewinnen. Hier aber entstand die Schwierigkeit, ohne
Gefährdung der Einkommensteuerorganisation das Gradations-
prinzip zu erweitern, da jede Ausdehnung des Abatements-
systems eine Einschränkung des Grundsatzes, das Einkommen
an der Quelle zu erfassen, bedeutete, der doch zweifelsohne
einen auch finanziellen Vorzug der Einkommensteuerorgani-
sation ausmachte. Aus diesem Grund aber war auch eine
entsprechende Durchführung des Gradationsprinzips, wie es in
der Nachlaßbesteuerung verwirklicht war, für die Einkommen-
steuer unmöglich, da sie außer einer verwaltungstechnischen
Organisationsänderung eben auch die Aufgabe jenes Grund-
satzes zur unausbleiblichen Folge gehabt hätte. So blieb unter
Beibehaltung der bestehenden Organisation nur eine Möglich-
keit durchführbar, die höheren Einkommensklassen stärker zu
belasten : eine Sonder- oder Zusatzsteuer (super-tax), wie sie von
der 1906 ernannten parlamentarischen Einkommensteuerkommis-
sion vorgeschlagen worden war, und die gewissermaßen die Um-
kehrung des Abatementssystems darstellt. Der Gedanke einer
solchen Zusatzsteuer ließ sich in dreifacher Weise durchführen :
1. Durch Anwendung eines einheitlichen erhöhten Steuer-
satzes auf alle Einkommen, die eine bestimmte Höchstgrenze
überstiegen :
2. durch Anwendung eines nach der Einkommensgröße ab-
gestuften Steuersatzes, wobei diese progressive Form der Gra-
dation erst von einer bestimmten Minimalgrenze an aufwärts
eintrat;
— 124 —
3- durth Anwendung eines cinhciiliclien Sat/.es, der aber
tür lunkoninien, die eine bestimmte Grenze überscliriitcn, zu
dem Nornialsatz, der lür alle I^inkoninicn galt, liinzugeschlagen
werden sollte.
Am leichtesten fügte sich von diesen drei Möglichkeiten
die dritte der Einkommensteuerorganisation ein, obwohl auch sie
die Zwangsdeklaration der Gesamteinkommen, die der Steuer
unterlagen, voraussetzte und eben darin die technische Schwie-
rigkeit ihrer Anwendung lag, daß die Deklaration keine Mr-
leichterung, sondern eine schärfere Belastung nach sich zog.
Diese Schwierigkeit war aber bei allen drei Möglichkeiten vor-
handen, wobei aber die dritte Form vor den beiden anderen
den Vorzug hatte, die Einheitlichkeit der Steuer wenigstens
bis zu einer gewissen Einkommenshöhe zu wahren, während durch
die beiden anderen Formen die Steuer in zwei nebeneinander-
stehende Teilsteuern zerlegt worden wäre. So wurden der
Zusatzsteuer (super-tax) alle Einkommen unterworfen, deren
Gesamtertrag 5000 £ jährlich überstieg. Erhoben wurde aber
der Zuschlag von 6 d schon von dem Teil des Einkommens,
der 3000 C überstieg, so daß also für alle Einkommen, die die
Grenze von 5000 £ überstiegen, der Steuersatz für den Ein-
kommensteil unter 3000 £ 14 d, für den Einkommensteil über
3000 £ aber 20 d betrug ^-).
Damit war der Grundsatz der Gradation wiederum aus der
Absicht einer Ertragssteigerung heraus, die jedoch nur von den
leistungsfähigen Klassen getragen werden konnte, für die Ein-
kommensteuer erweitert worden und hatte damit nicht nur eine
weitere Umwandlung der Steuerorganisation, sondern auch der
Stellung bewirkt, die der Einkommensteuer nunmehr im Be-
steuerungssystem zukam. Durch die Ertragserhöhung, die ihr
aus der Erhöhung des Normalsatzes um 2 d und aus der
Super-tax erwachsen war, rückte die Einkommensteuer an die
erste Stelle und wurde damit zur Grundlage des gesamten Be-
steuerungssystems. Zusammen mit der Nachlaßbesteuerung, die
durch eine Neugestaltung der Progression ertragsreicher ge-
staltet wurde, erlangte so die direkte Besteuerung im Einnahme-
system das Übergewicht, womit der Umwandlungsprozeß, der
1842 durch die Einführung der Einkommensteuer eingeleitet
82) Hansard, V, vol. 4, col. 507/511.
— 125 —
und seit 1875 durch die Erweiterung der direkten Besteuerung
nach dem Gradationsprinzip allererst gefördert worden war,
vollendet war.
Die Geschichte des Budgets von 1909 ist zu bekannt, um
hier einer Darstellung zu bedürfen. Der heiße und erbitterte
Kampf, in dem die liberale Regierung nach zwei Seiten zu
kämpfen hatte, dem Oberhause und der konservativen Opposition,
wurde zugunsten Lloyd Georges und seiner Finanzpolitik
entschieden. Eine Beurteilung dieser Finanzpolitik und des
endgültigen Erfolgs ist jedoch wegen der Verzögerung, welche
die Durchführung ihrer Maßnahmen erlitten, selbst heule noch
unmöglich. Eines aber bleibt als Ergebnis der ganzen Entwick-
lung seit 1875 bestehen, daß finanzpolitisch die Einkommen-
steuerfrage entschieden ist. Das heißt aber nicht, daß ihre
finanzpolitische Geschichte abgeschlossen sei, da ihre ungeheure
Ertragsfähigkeit, die sie aus einem untergeordneten Mittel der
Finanzpolitik zum Grundstock des Besteuerungssystems werden
ließ, noch immer unbeschränkt ist.
§ 17-
Das Zukunftsproblem.
Mit der Finanzreform vom Jahre 1909 ist die lange und
inhaltsreiche Entwicklung, die 1842 mit der ersten Peel sehen
Tarifreform eingeleitet worden war, zu einem äußerlichen Ab-
schluß gelangt. Die Umschichtung des Finanzsystems, die durch
die Umwandlung des Systems der indirekten Steuern und durch
die allmähliche Gleichstellung und schließlich durch die Über-
ordnung der direkten Steuern erfolgte, ist mit der Reform von
1909 soweit vollendet worden, daß die weitere Entwicklung
der Finanzen nur zu einer stärkeren Ausprägung des erreichten
Zustandes oder aber zu einer Rückbildung führen kann, die beide
aber an dem Gesamtcharakter des Finanzsystems in absehbarer
Zeit keine grundsätzliche Veränderung bewirken können. Die
Grundabsicht des bestehenden Besteuerungssystems ist es, jede
Steuerkraft im Verhältnis zu ihrer Leistungsfähigkeit, die an
der objektiven Größe des besteuerungsfähigen Einkommens
und an den persönlichen Bedingungen des Steuerzahlers be-
messen wird, zu erfassen und dem staatlichen Bedürfnis dienst-
bar zu machen. In dieser Hinsicht bilden die indirekten Steuern
— 126 —
die Cirundlage des Systems, indem sie es ermöglichen, aucli an
die kleinste Sleuerkratl durc h da> Mittel der Verbrauchsbesteue-
rung heranzugelangen, indem der K(jnsum entbehrlicher Genuli-
mittel sowohl subjektiv als auch objektiv eine gewisse, wenn
auch eng beschränkte Leistungsfähigkeit verrät. Dabei kann
freilich nicht verkannt werden, daß sich dem darin ausgedrück-
ten Grundsatz nur die beiden Verbrauchsgruppen Alkohol und
Tabak NÖllig unterordnen lassen, da diese wesentlich doch nur
für erwachsene Personen in Betracht kommen, die steuerliche
Belastung" also in diesem Fall ganz von dem Willen des Steuer-
zahlers abhängt und nicht durch die Größe der Familie, die
ohnehin schon eine Verminderung der Steuerkraft bedeutet,
erschwert wird. Dagegen können die beiden Artikel Tee und
Zucker wegen der in England vorherrschenden Konsumgewöh-
nung nicht mehr als entbehrliche Genußmittel betrachtet wer-
den, so daß in diesem Fall die Einschränkung des Verbrauchs
eine entschiedene Minderung der gesamten Lebenshaltung be-
deutet. Zudem bleibt bei diesen beiden Steuern auch das sub-
jektive Moment der Leistungsfähigkeit unberücksichtigt, da der
Verbrauch dieser Artikel im Verhältnis zur Größe der Familie
zuzunehmen pflegt, so daß die Steuerleistung statt eine Ver-
minderung eine Vermehrung erfährt.
Diese Besteuerungsmethoden bieten das einzige Mittel, die
Einkommen unter i6o £ zur Steuerleistung irgendwie heran-
zuziehen. Darüber baut sich nun für die höheren Klassen der
Steuerkraft die Einkommensbesteuerung auf, die der objektiven
Leistungsfähigkeit durch das Abatementsystem und durch die
Super-tax entspricht und die subjektive Leistungsfähigkeit in der
Differentiation und der Berücksichtigung der Kinderzahl des
Steuerpflichtigen anerkennt. Besondere Arten der Steuerkraft
werden dagegen erfaßt durch die Nachlaßbesteuerung und
durch die Landwertbesteuerung, von denen freilich die letztere
Gruppe ihres systematischen Ausbaues allererst noch bedarf.
Diesem Besteuerungssystem, dessen umfassende Ausdeh-
nung kaum mehr eine Erweiterung durch Einfügung anderer
Besteuerungsmethoden möglich erscheinen läßt, steht nun un-
abhängig die Bedarfsentwicklung gegenüber, durch welche der
Sollertrag der Steuern bedingt wird. Hierin aber liegen nun
zahlreiche Tendenzen, die eine fortgesetzte Steigerung des Be-
darfs bewirken und darum die Forderung, neue Einnahmen
— 127 —
zu erschließen, stets aufs neue wecken werden. Am schärfsten
ausgeprägt Hegt diese Tendenz in den beiden Ausgabeetats
der Marine und der inneren Verwaltung, die seit 1909 eine
weitere erhebliche Steigerung erfahren haben und für die näch-
sten Jahre erwarten lassen. Namentlich werden die mit der
Durchführung der sozialen Aufgaben verbundenen Ausgaben
noch eine Reihe von Jahren wachsen, bis sie einen gewissen
Höchststand erreicht haben, über den hinaus ihre Zunahme
langsamer fortschreiten wird. Dieser Höchststand wird aber
schon deshalb noch lange nicht erreicht werden, weil der Um-
kreis der sozialen Aufgaben sich fort und fort erweitern wird.
Eine Grenze hierfür anzusetzen, ist aber schlechterdings un-
möglich. In gleicher Weise scheint eine Begrenzung der Be-
darfsentwicklung des Flottenetats unmöglich zu sein, da eben
eine Einschränkung ihrer Veranlassung, der Flottenvermehrung,
in der heutigen politischen Weltlage als unmöglich bezeichnet
wird. Doch scheint sich hier ein Ausweg zu öffnen, der für
die Reichsfinanzen Englands eine Erleichterung herbeiführen
kann, indem durch eine Ausdehnung des in den letzten Jahren
in weitem Umfang durchgeführten Prinzips der Selbstverwaltung
den Kolonien auch die Selbstverteidigung aufgebürdet wird,
wie das gerade in der allerneuesten Zeit in bezug auf Kanada
und Australien versucht, später aber sicher auch auf Südafrika
und Indien ausgedehnt wird. Liegt darin zwar die Gefahr
einer völligen Loslösung der Kolonien vom Mutterland mit
verborgen, die aber durch die Verselbständigung der Kolonien
und durch Zusammenfassung des ganzen Weltreichs unter einer
bundesstaatlichen Verfassung sowohl in ihren politischen als
auch wirtschaftlichen Folgen unschädlich gemacht werden
kann, so erscheint damit aber doch allein die finanzielle Ent-
lastung des Mutterlandes, das jetzt die Kosten des militärischen
Schutzes der Kolonien zum größten Teil bestreitet, ermög-
licht zu sein.
In den übrigen Ausgabezweigen tritt die Tendenz einer fort-
gesetzten Steigerung weniger dringlich hervor, obwohl sie auch
hier nicht ganz fehlt. Die Ausgaben der Schuldenverwaltung
lassen sich durch die Fixierung der Etatsumme umso leichter
stationär erhalten, als durch das N o r t h c o t e sehe Schulden-
tilgungsverfahren eine allmähliche Verringerung der Schulden-
last und der Gesamtschuld erzielt wird. Der hohe Stand der
12S
Besteuerung, insbesoiulc-rr aber auch der Ilinkoinmeiislcuer, ver-
ringert dagegen die Möglichkeit, im Bedarfsfall erhebliche Be-
träge durch Sleucrirhöhungcn zu gewinnen, so daß in der
Zukunft die Schuldenaufnahnie eine viel größere Rolle spielen
wird, als es noch im Burenkrieg der Fall war. Aus diesem
Grund aber macht sich schon in Friedenszeiten die Not-
wendigkeit geltend, den Staatskredit auf jede mögliche Weise
zu kräftigen, eine Notwendigkeit, der in nächster Linie nur
durch eine vermehrte Schuldentilgung während des Friedens
entsprochen werden kann, so daß also auch von hier aus eine
Bedarfsvermehrung zu erwarten ist. Auch der Heeresetat läßt
eine mit der Zunahme der Friedenspräsenzstärke und der durch
die Erhöhung der allgemeinen Arbeitslöhne bedingten Erhöhung
der Besoldung der Truppen eine fortgesetzte Ausgabevermeh-
rung erwarten. Diese wird aber einen mächtigen Antrieb er-
fahren, sobald die bisherige Grundlage der Heeresverfassung
aufgegeben und durch die allgemeine Wehrpflicht, für die sich
eine stark um sich greifende Bewegung geltend macht, ersetzt
werden wird. Aus dem Zusammenwirken all dieser Tendenzen
wird sich aber das Ergebnis herausbilden, daß die Bedarfs-
vermehrung noch bei weitem nicht ihren Höhepunkt erreicht
hat und darum stets wieder zu der Forderung einer Erhöhung
des Steuersollertrags führen wird.
Dieser Aussicht gegenüber macht sich die Frage geltend,
wie das Besteuerungssystem dem wachsenden Bedarf angepaßt
werden kann. Bis zu einer gewissen Höhe kann hier zunächst
das natürliche Wachstum des Steuerertrags, das auf iV2bis2 0/o
jährlich berechnet werden kann, angesetzt werden und vor
allem werden hier die beiden Hauptformen der direkten Be-
steuerung: Nachlaß- und Einkommensteuer, den größten Anteil
der Vermehrung aufbringen können, während von den indirek-
ten Steuern eine bedeutendere Ertragssteigerung kaum mehr
erwartet werden darf. Über die Ertragsfähigkei.t der Land-
wertbesteuerung, die jetzt noch wegen der unvollendeten Kata-
strierung gehemmt ist, läßt sich eine auch nur einigermaßen
genaue Berechnung nicht anstellen. Macht sich aber darüber
hinaus eine weitere Erhöhung des Steuersollertrags notwendig,
so besteht eine Möglichkeit hierzu nur in doppelter Richtung:
einmal durch eine weitere Ausdehnung des Gradationsprinzips
in der Nachlaß- und Einkommensbesteuerung, oder aber durch
— 129 —
eine stärkere Heranziehung der Verbrauchsbesteuerung durch
eine Vermehrung der verbrauchssteuerpfhchtigen Artikel
Von diesen beiden Möghchkeiten ist namenthch die zweite
in den letzten Jahren immer und immer wieder in den Vorder-
grund des parteipolitischen Interesses gerückt worden \ller
dings, und das darf nicht übersehen werden, ist diese Fra-e
nicht mehr rein finanziell, sondern mit fremden Interessen ver
mengt, die mehr und mehr die Oberhand zu gewinnen suchen
Aus der rem finanzieUen Frage, in der Absicht einer ErtraL^s-
ste.gerung den Bereich der indirekten Steuern weiter auszu-
dehnen, ist wieder eine wirtschaftspolitische Tarifreformfra-e
geworden. Wir können hier nicht auf die parteipolitische B^e-
deutung dieser Frage eingehen, da für uns nur ihre rein finan-
zielle Wirkung in Betracht kommen kann. Der Ausgangspunkt
des Problems ist einfach und klar: Von Tee und Zucker ab-
gesehen, für welche die Notwendigkeit einer Reduktion von
allen Seiten zugegeben wird, beruht das gegenwärtige indirekte
System fast ausschließlich auf der Besteuerung der beiden
Artikel Tabak und Alkohol. Für beide aber trifft nun das eine
zu, daß Ihr natürliches Wachstum kaum so fortschreitet um
tur eine Ertragsvermehrung ins Gewicht zu fallen, daß beide
aber auch absolut so hoch belastet sind, daß eine weitere Be-
lastung beider zu einer Konsumverminderung führen kann
welche den durch die Erhöhung erwarteten Mehrertrag wieder
authebt. Zudem macht es auch die fortschreitende Abstinenz-
bewegung immer unwahrscheinlicher, daß durch diese beiden
Besteuerungsmethoden allein die Einkommensklassen, die unter
i6o £ hegen und darum von der Einkommensteuer nicht mehr
erfaßt werden, überhaupt noch zur Beitragsleistung mit heran-
gezogen werden können. An sich kann darum das Bestreben
die in dieser immerhin sehr erheblichen Unterschicht verborgene
bteuerkraft durch geeignete Besteuerungsmethoden zu er-
schließen, kaum abgelehnt werden. Die Schwierigkeit liegt
hier aber dann, daß die tatsächliche Belastung, die durch die
indirekten Steuern bewirkt wird, niemals auch nur mit einiger
Genauigkeit berechnet werden kann, da der Konsum bestimmter
Waren sich nicht nur nach dem Einkommen oder dem Ver-
mögen richtet, sondern durch das Lebensbedürfnis und vor
allem durch den Konsumentenkreis bestimmt wird, der von
einem bestimmten Einkommen lebt. Durch derartige Steuern
Zeitschrift für die ges. Staatswissensch. Ergänzungsheft 48.
— no —
werden so die kiiuleneicheii lamilien am härtesten getroffen,
sofern es sich um Objekte eines Familienkonsums imd nicht
eines individuellen und fast nur auf die männliche oder er-
wachsene Bevölkerung beschränkten Konsums i wie Tabak und
Alkohol handelt. Gerade diese Gefahr tritt aber bei der For-
derung der jetzigen englischen Tanfreformer. die eine Aus-
dehnung des Zolltarifs auf landwirtschaftliche und insbesondere
Molkereiprodukte verlangen, am schärfsten und unmittelbarsten
hervor, da eben diese Gegenstände durchweg zu den wichtigsten
Nahrungsmitteln gehören und in den Familienkonsum eingehen.
Dazu aber kommt noch der weitere Umstand, daß diese Artikel
eine allzu hohe Belastung nicht ertragen können, so daß also
auch der zu gewinnende Ertrag nicht sehr hoch veranschlagt
werden kann.
Erscheint so eine Erweiterung der Besteuerungsmöglich-
keiten in der von den Tarifreformern angedeuteten Richtung
vom finanziellen Standpunkt aus nicht wünschenswert, so bleibt
zur Erreichung einer Ertragssteigerung nur die andere Mög-
lichkeit, sie durch Ausdehnung des Gradationsprinzips inner-
halb der direkten Besteuerung zu bewirken. Daß diese Mög-
lichkeit noch bei weitem nicht erschöpft ist. wird deutlich
genug aus der Zunahme der höheren Einkommensklassen, die
stetig" fortschreitet. Andererseits aber ließe sich durch eine
Ausdehnung der Gradation nach unten hin, d. h. durch eine
Herabsetzung der Befreiungsgrenze: auch ein guter Teil der
in der Unterschicht liegenden Steuerkraft ohne allzu große
Steigerung der Erhebungskosten bewirken. Die Voraussetzung
dafür freihch ist die völlige Aufgabe des bisherigen Erhebungs-
verfahrens und die Umgestaltung der Einkommensteuerorgani-
sation durch durchgehende Verallgemeinerung der Zwangs-
deklaration, die bis jetzt nur für die Einkommen bis zu 700 £
und für die Einkommen über 5000 £ gilt. Hierin scheint die
letzte Entwicklungsmöglichkeit der Einkommensteuer zu hegen,
und es wird eine Frage der Zukunft sein, welche von den beiden
Besteuerungsmethoden den nächsten Sieg erringen wird, die
direkte oder die indirekte. Die Lösung dieser Frage hängt aber
von parteipolitischen Momenten so wesendich ab. daß die rein
finanziellen Bedingungen fast ausgeschaltet erscheinen, daß die
Entscheidung also auf einem Gebiet fallen wird, dessen eingehende
Betrachtung über den Rahmen dieser Arbeit weit hinausführt.
IL Teil.
Einkommensteuerorganisation und Einkommen-
steuerertrag.
Überleitung:
Die finanzpolitische Bedeutung der Einkommen-
steuerorganisation und des Ertrags.
In dem Verlauf der finanzpolitischen Entwicklungs-
geschichte der Einkommensteuer, deren Darstellung die Auf-
gabe des ersten Teils dieser Arbeit bildete, sind immer wieder
drei Momente hervorgetreten, die bald allein, bald zusammen-
wirkend, schwächer oder stärker die jeweilige Entscheidung
bestimmten, die im Verlauf dieser Entwicklungsgeschichte die
mannigfachen Änderungen des finanzpolitischen Gebrauchs, der
von der Einkommensteuer gemacht wurde, herbeiführte. Diese
drei Momente sind
1. der absolute Ertrag der Steuer;
2. ihr direkter Charakter;
3. ihre Tauglichkeit zu eigenartigen finanzpolitischen Auf-
gaben.
Diese drei Momente lassen sich freilich nicht so ganz scharf
voneinander scheiden, da insbesondere die Ertragsfähigkeit bei
allen Erwägungen, die die Steuer betrafen, den Ausschlag
geben mußte. Es lassen sich aber doch leicht und auf natür-
liche Weise die Zeitabschnitte bestimmen, in denen das eine
oder das andere Moment beherrschend hervortrat. So war
€s in der ersten Einkommensteuerperiode namentlich die Er-
tragsfähigkeit der Steuer, die ihre Einführung, Aufrechterhal-
tung während der Kriegszeit und schließlich ihre Beseitigung
veranlaßte, nachdem der Einkommensteuerertrag entbehrlich
geworden war. In der Peel sehen und Gl a d s t o n e sehen
Reformepoche dagegen war es die besondere Tauglichkeit der
9*
— J 3 2 —
llinkoininensteuer, den wechselnden Anlorderungen leicht und
ohne Störung des gesamten Steuerorganismus zu entsprechen,
durch welche die fortwährende Erneuerung der Steuer be-
gründet und notwendig wurde, während in den folgenden Jahren
vor allem der direkte Charakter der Einkommensteuer ihre
finanzpolitische Verwendung l^estimmte. Seit der Anerkennung
der Einkommensteuer als eines dauernden und ordentlichen
Glieds des Finanzsystems sind es nunmehr alle drei Momente,
die in ihrer Vereinigung zusammen die Steuer unentbehrlich
machen.
So bedeutsam für die finanzpolitische Geschichte der Ein-
kommensteuer aber ihre Fähigkeit, besonderen Aufgaben infolge
ihrer Organisation angepaßt werden zu können, war, und so
sehr auch die gegenwärtige Stellung, welche die Steuer im
englischen Finanzsystem einnimmt, durch ihren direkten Cha-
rakter ermöglicht wurde, so bildet doch in allen Fällen d i e
Grundlage der finanzpolitischen Gebrauchs-
fähigkeit der Einkommensteuer ihr Ertrag.
Dieser wird in doppelter Hinsicht bedeutungsvoll: einmal in
seiner absoluten Höhe, die durch den Steuersatz ohne Störung
des Steuerorganismus dem Bedarf angepaßt werden konnte,
dann aber auch durch das im Verlauf der Geschichte offenbarte
relative Wachstum, welches einen stets steigenden Ertrag ohne
entsprechende Erhöhung des Steuersatzes oder Vermehrung
der steuerlichen Belastung erzeugte', und auf der natürlichen
Vermehrbarkeit des erfaßten Steuerobjekts beruhte. Erweist
sich so der Einkommensteuerertrag als abhängig von der je-
weiligen Höhe des Steuersatzes und von der Entwicklungsfähig-
keit des erfaßten Objekts, so ist weiterhin auch klar, daß die
Steuerorganisation, vermöge deren das Objekt allererst erfaß-
bar wird, ebenfalls von hervorragendem F2influß auf die Ertrags-
gestaltung werden muß, und zwar wirkt die Steuerorganisation
wieder in doppelter Weise auf den Ertrag ein, indem einmal
durch eine möglichst wirtschaftliche Tätigkeit ' der Steuer-
erhebung der relative Ertrag gesteigert, und indem zum anderen
durch ihre Ausgestaltung nach theoretischen oder praktischen
Forderungen eine Beeinflussung des Ertrags verursacht wird,
die je nach den besonderen Bedingungen eine Steigerung oder
Minderung desselben bedeutet. So werden für die Ertrags-
entwicklung der Einkommensteuer vor allem die beiden Mo-
— ^33 —
mente der Einkommcnsentvvicklung und der Entwicklung der
Steuerorganisation bedeutungsvoll, indem durch die erstere der
ganze Umkreis der Ertragsmöglichkeit mit dem Wachstum des
Steuerobjekts fortgesetzt erweitert, durch die andere aber das
tatsächlich zu erfassende Objekt bestimrnt wird. Aus dem Zu-
sammenwirken beider Entwicklungsrichtungen ergibt sich dann
der tatsächliche Einkommensteuerertrag, der darüber hinaus
seiner Höhe nach durch den jeweiligen Steuersatz modifiziert
wird. So zerlegt sich der folgende Teil der Arbeit in die drei
Abschnitte über
1. Die Einkommensentwicklung".
2. Die Entwicklung der Einkommensteuerorganisation.
3. Die Gestaltung des Ertrags.
Tritt in der Darstellung der Ertragsentwicklung das grund-
legende Moment hervor, auf dem die finanzpolitische Bedeutung
der Einkommensteuer beruht, so findet in der Darstellung
der Einkommensteuerorganisation auch das zweite finanzpoli-
tische Moment der besonderen Tauglichkeit der Einkommen-
steuer zu eigenartigen Aufgaben seine Würdigung, indem die
Organisation der Steuer nicht allein auf den Ertrag einen Ein-
fluß ausübte, sondern vor allem auch auf ihre Gebrauchsfähig-
keit zu solchen Zwecken. Da es sich hierbei aber um eine nach
zweifacher Richtung gehende Wirkung der gleichen Organi-
sationsforni handelt, so konnten beide Momente nicht getrennt,
sondern nur gleichzeitig dargestellt werden. Denn mit den je-
weiligen Veränderungen und Umgestaltungen der Organisation
vollzog sich nicht nur die Beeinflussung des Ertrags, sondern
auch die allmähliche Veränderung der Gebrauchsfähigkeit der
Einkommensteuer zugleich.
Das dritte finanzpolitisch bedeutsame Moment, der direkte
Charakter der Einkommensteuer, ist schließlich aber mit dem
Objekt und der besonderen Art seiner Erfassung, also mit der
gesamten Einkommensteuerorganisation selber gegeben und be-
darf so keiner gesonderten Darstellung mehr, die über den
finanzpolitischen Teil dieser Arbeit hinausreichte.
— 134 —
I. Kapitel.
Die Einkonimensentwicklung.
Die Bestimmung der subjektiven und objekti\cn
Steuerpflicht in der Pitt- und in der Peel-Steuer.
Die Grundlage eines jeden Besteuerungsverfahrens bildet
ein dauerndes Objekt, an welches sich die besondere Art seiner
Erfassung anschließt und dessen begriffliche Abgrenzung die
objektive Steuerpflicht begründet. In diesem Sinn erscheint
das Steuerobjekt als die Bemessungsgrundlage, durch welche
die Steuerleistung ihrem Umfang und ihrem Grad nach genau
abgegrenzt wird. So bildet der Verbrauch eines Gegenstands
die Grundlage einer Besteuerungsform, bei welcher das be-
zeichnete Objekt den Eintritt der Steuerpflicht, die Quantität
des Verbrauchs aber den Umfang derselben bestimmt. Von
der Bemessungsgrundlage wesentlich verschieden ist die Steuer-
quelle, aus welcher tatsächlich der mit dem Objekt gegebene
Steuerbetrag bezahlt wird und die in letzter Linie mit dem
Einkommen identisch ist. Vermögenssteuern beispielsweise sind
nicht anders möglich, als daß das Vermögen nur die Bemes-
sungsgrundlage, nicht aber auch die tatsächliche Steuerquelle
bildet. Diese kann xielmehr stets nur der Vermögensertrag
oder das aus dem Vermögen fließende Einkommen sein, wäh-
rend ein diesen Ertrag aufzehrendes und übertreffendes Besteue-
rungsverfahren nie ein Glied eines dauernden Systems bilden
und darum nur als außerordentliches Finanzmittel in Frage
kommen kann. Da somit alle Glieder eines Besteuerungssystems
durch die Beziehung, in der sie zu dem Gesamteinkommen des
Steuerzahlers stehen, in ihrer Wirkung eng miteinander ver-
bunden sind, kann ein einzelnes Steuerobjekt nicht zur abso-
luten Bemessungsgrundlage der Steuerleistung geniacht werden.
Es muß dabei vielmehr jede Einzelsteuer als ein Teil des Systems
betrachtet und in ihrer Belastung in Beziehung zur gesamten
Steuerkraft des einheitlichen Steuerträgers gebracht werden,
so daß der ganze Umkreis der mit einem bestimmten Objekt
gegebenen Besteuerungsmöglichkeit stets durch diese Rücksicht
auf die gesamte Leistungsfähigkeit beschränkt wird. Wo die
indirekte Verbrauchsbesteuerung wie im englischen System die
— 135 —
Grundlage bildet, auf der sich die Vermögens- und Einkommens-
besteuerung ergänzend aufbaut, ergibt sich so für die ergänzen-
den Besteuerungsmethoden eine Berücksichtigung der durch
die indirekten bewirkten Belastung in der Anerkennung einer
Befreiungsgrenze, unter welcher die direkte Besteuerung nicht
eintritt.
Wird so der Umkreis der Besteuerungsmöglichkeit, die mit
einem an den Begriff des ,, Einkommens" sich anschließenden
Besteuerungsverfahren überhaupt gegeben ist, von vornherein
eingeschränkt, so macht sich doch stets darüber hinaus eine
genauere begriffliche Bestimmung des Objekts um so mehr
notwendig, als es sich nicht um einen greifbaren Gegenstand
handelt, der seiner Ausdehnung nach meßbar ist, sondern um
ein Objekt, das erst durch eine begriffliche Abstraktion ge-
wonnen wird. Der Verbrauchsbesteuerung und der direkten
Objekts- und Ertragsbesteuerung gegenüber macht sich in der
Einkommensbesteuerung die doppelte Schwierigkeit geltend,
daß der Begriff des „Einkommens" durchaus nicht so fest-
stehend und eindeutig bestimmbar ist, daß er ohne weiteres
zur Grundlage einer Besteuerungsmethode gemacht werden
könnte, und daß zum andern auch die Beziehung, auf welche
sich die subjektive Steuerpflicht gründet, keineswegs so offen-
sichtlich und leicht erkennbar ist, daß mit der Bestimmung des
Objekts auch die Erfüllung der Steuerleistung sichergestellt
wäre. So macht sich hier die Notwendigkeit geltend, aus dem
allgemeinen Einkommensbegriff das Steuerobjekt, an dem
die Steuerleistung bemessen werden soll, herauszugreifen und
andererseits auch den Steuerzahler und den Steuerträger ein-
deutig zu bestimmen.
Der Einkommensbegriff ist ein mit der Entwicklung der
Volkswirtschaft allmählich gewordener Begriff, der sich erst
in ziemlich später Zeit von seiner Unterlage, dem Wirtschafts-
ertrag, losgelöst hat und selbständig geworden ist^s). Zu Be-
steuerungszwecken verwendbar wurde er überhaupt erst da-
durch, daß er zu einem Allgemeinbesitz geworden ist, dessen
Verbreitung" allererst die Anwendung einer auf ihn gegrün-
deten Besteuerungsmethode ermöglicht.
83) Vgl. hierzu Karl Bücher, in der Festschrift zum Deutschon
Historiker-Tag 1894, p. 123.
— 136 —
Der allgemeinere Begriff, dem der lliiikommensbegriff
untergeordnet werden kann, ist der einer periodischen Ein-
nahme einer bestimmten Wirtschaftseinheit, wobei aber dem
Einkonnnen das einschränkende Merkmal freier Verfügbarkeit
zu einer Verausgabung, die den Ersatz der Gewinnungskosten
übersteigt, zukommt. Wird schon darin eine gewisse Leistungs-
fähigkeit sichtbar, die steuerlich ausgenutzt werden kann, so
wird diese Eigenschaft durch das andere Merkmal, das dem
Einkommensbegriff gegenüber dem Begriff der bloßen Ein-
nahmen zukommt, einer dauernden Bezugsquelle zu entspringen,
noch deutlicher, und vor allem wird allererst dadurch die
steuertechnische Möglichkeit gesichert, das Einkommen zur
Grundlage einer dauernden Besteuerungsmethode zu machen.
Indem aber das Einkommen stets an die subjektive Bedingung
einer bestimmten Wirtschaftseinheit gebunden ist, und nur für
diese allein eine steuerliche Leistungsfähigkeit voraussetzen
läßt, wird die Einkommensbesteuerung untrennbar mit der Wirt-
schaftseinheit, die das Einkommen bezieht, verknüpft. Darin
liegt das Personalmerkmal, durch welches die Einkommens-
besteuerung sich von der Ertragsbesteuerung unterscheidet.
Darin aber liegt auch die Eigentümlichkeit der Einkommens-
besteuerung, daß sie sich nicht allein nach der mit dem Objekt
gegebenen Leistungsfähigkeit richten kann, sondern auch auf
die subjektiven Bedingungen des Einkommenempfängers Rück-
sicht nehmen muß. Dazu kommt noch eines: Das Einkommen
stellt stets einen Abschluß dar, das letzte Ergebnis einer Ent-
wicklungsreihe, die mit der ursprünglichen Produktion beginnt
und irgendwo ein Einkommen erzeugt. So kann das Ein-
kommen auch nicht anders als in seiner letzten Gestaltung,
d. h. bei seinem Eintritt in die endgültige Wirtschaftseinheit
(in der es entweder zu freier Verausgabung verwendet, gespart
und zu Vermögen angesammelt, oder als Kapitalserhöhung
wieder der Produktion zugeführt wird) und auch hier nur in
einer Zusammenfassung aller Teileinkommen zu dem Gesamt-
einkommen der zur Steuerleistung herangezogenen wirtschaft-
lichen Einheit steuerlich erfaßt werden. Damit aber ist als
weitere notwendige Voraussetzung einer wirklichen Einkom-
mensbesteuerung die zwangsweise Deklaration des Gesamtein-
kommens gegeben, die so zu einem wesentlichen Zug jeder
direkten Einkommensteuer wird. So beruht die Einkom-
— 137 —
mensbesteuerung objekti\- auf dem Begriff einer
dauernden periodisch wiederkehrenden und ein
letztes wirtschaftliches Ergebnis darstellenden
Einnahme, subjektiv auf dem mit dem Einkom-
mensbegriff untrennbar verbundenen Personal-
merkmal, das in der Zusammenfassung der Teil-
einkommen zum Gesamteinkommen einer Wirt-
schaftseinheit hervortritt, und methodisch auf
der durch die zwangsweise Deklaration ermög-
lichten direkten Erfassung des Objekts bei dem
steuerpflichtigen, d. h. Einkommen beziehenden
Subjekt.
Diese drei Momente, das objektive, das subjektive und das
methodische, treten in der Fassung der ersten Pitt- Steuer
klar und deutlich hervor. Das Prinzip, auf das sich die sub-
jektive Steuerpflicht gründet, läßt sich so wiedergeben, daß
der Wirkung der Einkommensteuer alle Einkommensempfänger,
die durch die britische Souveränität erfaßt werden konnten,
unterworfen wurden. So sind einkommensteuerpflichtig zu-
nächst alle ,,residents", d.h. alle diejenigen, die ihren dauern-
den Wohnsitz in Großbritannien hatten, ohne Rücksicht auf ihre
Nationalität und ohne Rücksicht auf die Herkunft des Ein-
kommens. Die bloße Tatsache eines vorübergehenden Aufent-
halts in Großbritannien begründete jedoch eine Steuerpflicht
noch nicht. In zweiter Linie waren einkommensteuerpflichtig
alle „absentees", d. h. alle britischen Untertanen, die zeitweilig
oder dauernd, aber ohne ihre Nationalität aufzugeben, im Aus-
land lebten, doch bezog sich hier nach der genauen Konsequenz
des Grundsatzes die Steuerpflicht nur auf diejenigen Einkom-
mensteile, die aus Großbritannien stammten ^^).
Weniger einfach gestaltete sich die Abgrenzung der objek-
tiven Steuerpflicht, bei der die Schwierigkeit einer eindeutigen
Bestimmung des Einkommensbegriffs in der Klassifikation der
Einkommensarten hervortrat. Das Einkommen entstammt ent-
weder dem Vermögensertrag oder dem Arbeitsertrag oder stellt
ein Gemisch' beider dar, wobei aber die Trennung von Ertrag
und Einkommen nicht in allen Fällen begrifflich gesichert wer-
den konnte. Die darin liegende Schwierigkeit wurde durch
84) Do well, Inc. ta.K Acts, Intr., p. 49 ff .
- 138 -
eine .\ut'/.älilun«4 der Minkomnicnsarien unter \ier 1 i.iuptabtei-
lungen und 19 lünzelfällcn umgangen, wobei man den Kin-
kommcnsbegriff durch eine besondere Aufzählung allgemeiner
imd besonderer Abzüge, die von dem als ,, Einkommen" be-
zeichneten Objekt gemacht werden durften, zu wahren suchte.
\'on den \icr llauptgruppen des steuerpflichtigen Ein-
kommens, die in dem 1' i 1 1 sehen Einkommensteuergesetz auf-
gestellt wurden, geben nur die beiden ersten eine sachliche
Bestimmung des Steuerobjekts, während die dritte Gruppe alle
aus dem Ausland kommenden Einkommensarten unter sich be-
greift und die vierte Gruppe die sogenannte ,,sweeping clause"
des Gesetzes darstellt, durch welche alle nicht besonders auf-
gezählten Einkommensarten gesetzlich der Besteuerung unter-
worfen wurden. Die erste Gruppe umfaßt in 14 Unterabtei-
lungen die aus dem Grundbesitz oder der Bodenbewirtschaftung
fließenden Einkommensarten, in welchen die Ertragsmomente
den reinen Einkommenscharakter stark überwiegen, und auf
die daher die meisten der gestatteten Abzüge zugeschnitten
waren. In der zweiten Gruppe sind die aus dem Vermögen
oder der gewerblichen und beruflichen Tätigkeit fließenden
Einkommen aufgezählt, auf die der reine Einkommensbegriff
leichter anwendbar ist.
Die zur Feststellung des reinen Steuereinkommens gestat-
teten Abzüge zerfallen i. in allgemeine, d.h. solche, die von
dem Gesamtbetrag des Einkommens gemacht werden durften
(Lebensversicherungsprämien, Jahresrenten und Zuschüsse an
Kinder und Verwandte), und 2. in besondere Abzüge, die nur \on
einzelnen besonders aufgeführten Einkommensteilen gemacht
werden durften. Diese besonderen Abzüge lassen sich wieder
in zwei Arten zerlegen: a) in solche, die zur Vermeidung einer
Doppelbesteuerung gewährt wurden (Abzug des Landsteuer-
betrags, von Zehnten, kirchlichen Abgaben und des Betrags
der assessed taxes, soweit das veranlagte Einkommen auch für
diese Steuern als Bemessungsgrundlage gilt) und b) in solche
Abzüge, die zur Ermittlung des Steuereinkommens dienten (Ab-
zug von Renten, Dienstausgaben, Schuldzinsen und Kapitals-
ersatzkosten 8^). Die so objektiv bestimmte Steuerpflicht
wurde durch die Befreiungsgrenze, die auf 60 C jährlichen Ge-
85) Dowell, History, III, p. 103 ff.
~ 139 —
samteinkommens festgesetzt wurde, auf alle diejenigen Ein-
kommen beschränkt, welche diesen Betrag überstiegen, womit
nicht nur die durch das indirekte System bedingte Berück-
sichtigung der schwächeren Steuerkräfte durchgeführt, sondern
auch die verwaltungstechnische Schwierigkeit umgangen wurde,
welche in der Erfassung der kleinsten Einkommen lag. Das
methodische Mittel aber, die subjektive und objektive Steuer-
pflicht zu ermitteln, war mit der zwangsweisen Deklaration des
Gesamteinkommens, die von jedermann gefordert wurde, ge-
geben, so daß dadurch das ganze steuergesetzlich bestimmte
Objekt auch tatsächlich der Besteuerung unterworfen werden
konnte.
Eine statistische Erfassung der gesamten Steuerpflicht wird
nicht nur durch die Mangelhaftigkeit der damaligen statisti-
schen Aufstellungen erschwert, sondern durch den Umstand
fast unmöglich gemacht, daß 18 16 nicht nur die Einkommen-
steuer selbst, sondern auch das von ihr zeugende amtliche
Material auf einen Parlamentsbeschluß hin dem Widerwillen
der Mehrheit zum Opfer fiel. Für das Jahr 1 800/1 sind in
den Parlamentary Accounts von 1801 Angaben enthalten, die
auch für die anderen Jahre ein ungefähres Bild der Einkommens-
verteilung gewähren können ^'^).
Darnach betrug für die Einkommensklassen
unter 200 £ über 200 £ Insgesamt
die Zahl der Veran-
lagungen 2-51699 69060 320759
der Betrag des er-
faßten Einkommens 18,660 Mill.£ 56,oi6Mill. £ 74,676Mill. £.
Der ' hauptsächlichste Widerstand, welchen die P i 1 1 -
Steuer gefunden hatte, war gegen die zwangsweise Deklaration
des Gesamteinkommens und die dadurch verursachte Auf-
deckung der privaten Vermögenslage gerichtet. Bei der Wieder-
einführung der Einkommensteuer im Jahre 1803 sah sich daher
Addington gezwungen, dieses methodische Mittel, die sub-
jektive und objektive Steuerpflicht zu offenbaren und damit
eines der wesentlichsten Merkmale der Einkommensbesteuerung
fallen zu lassen. Da aber die Ertragsfähigkeit durchaus ge-
sichert werden mußte, wenn die Steuer aufrecht erhalten werden
86) The Parlamentary Accounts and Papers for the year 1801/02.
140 —
sollte, so ciuslaiul zunächst die Xolwcndigkcit, ein neues metho-
disches Mittel zu finden, (lur< h welches die Erfüllung der Steuer-
])flicht sichergestellt wurde und das doch die Notwendigkeit
luiiging, die gesamte Vermögenslage des Steuerzahlers vor den
Augen ehrenamtlicher X'eranlagungskommissionen aufzudecken.
Dieses Mittel fand Adtlington in der Zerlegung der bisher
einheitlichen Steuer in fünf xoneinander unabhängige Teil-
stcuern, in der Weise, dal5 nur für die unter jede derselben
fallenden lunkomniensteile eine Deklarationspfli* ht bestand inid
eine Gesamtdeklaration nur dann eintrat, wenn Anspruch auf
gänzliche Steuerbefreiung erhoben wurde. Unterscheidet sich
dieses Erhebungsverfahren nur wenig von dem in der P i 1 1 -
Steuer ausgeübten, so zog doch die Anwendung eines zweiten
Verfahrens, das damit \crbunden und überall dort, wo es
möglich war, durchgeführt wurde, eine gänzliche Umgestaltung
der bisherigen Steuerorganisation nach sich. Dieses zweite Ver-
fahren, das der englischen Einkommensteuer ihr eigenartiges
Gepräge verlieh, wird als , .Erhebung an der Quelle" (stoppage
at the source) bezeichnet und bedeutet, daß das Einkommen
ohne Rücksicht auf den schließlichen Empfänger dort erfaßt
wurde, wo es zuerst entstand. In bezug auf die subjektive
Steuerpflicht bedeutet dieses Prinzip, daß sie dem ursprüng-
hchen Einkommensempfänger zugeschoben wurde, der als
Steuerzahler funktionierte und durch ein System der Über-
wälzung einen Teil der Steuerleistung auf den sekundären Ein-
kommensempfänger ablud. Damit näherte sich das Erhebungs-
verfahren der Einkommensteuer dem in der indirekten Be-
steuerung angewandten und ordnete sich so methodisch mehr
dem das ganze Steuersystem beherrschenden Prinzip unter.
Die objektive Bestimmung der Steuerpflicht blieb in dem neuen
Steuergesetz im wesentlichen unverändert, erfuhr aber eine Er-
weiterung durch die Einfügung der Einkommensteile, die aus
der Kapitalsanlage in britischen Anleihepapieren flössen, die
bisher von jeder Besteuerung entsprechend einer Bestimmung
der .Anleihegesetze verschont geblieben waren. Dem neuen
Erhebungsprinzip gemäß wurde dagegen die Klassifikation der
Einkommensarten neu gestaltet und nach fünf Gruppen, den
sogenannten schedules ^^ ), angeordnet.
S7) Schedules ist die technische Bezeichnung der Anlagen, die einem
Gesetz beigegeben werden und hat auch hier in bezug auf die Einkommen-
— 141 —
In dem Einkommensteuergesetz von 1806 erfuhr die ob-
jektive Steuerpflicht eine weitere Ausdehnung durch die Herab-
setzung der Befreiungsgrenze auf 50 £ jährhchen Gesamtein-
kommens und durch die Aufhebung des Rechts, die Wiedcr-
herstellungskosten vom veranlagten Einkommen abzuziehen. .Mit
unwesentlichen Änderungen wurde das Einkommensteuergesetz
von 1806 bei der Wiedereinführung der Steuer durch
Sir Robert Peel in derselben Fassung übernommen, mit der
einen Ausnahme, daß die Befreiungsgrenze auf 1 50 £ hinauf-
gesetzt wurde. Diese Fassung ist die Grundlage aller späteren
Einkommensteuergesetze geblieben, und in der folgenden Dar-
stellung der objektiven und subjektiven Steuerpflicht, wie sie
durch diese Neuordnung bestimmt wurde, legen wir darum
das Gesetz von 1842 (5 a. 6 Vict. c. 35, 1842) zugrunde '^**j.
Die gänzliche Umgestaltung der Organisation der eng-
lischen Einkommensteuer in den Gesetzen von 1803, 1806 und
1842 ist die unmittelbare Folge der Aufgabe der Deklarations-
pflicht für das Gesamteinkommen. Die Wirkung dieser Verände-
rung machte sich nicht nur in der neuen Bestimmung der
subjektiven, sondern auch der objektiven Steuerpflicht geltend.
Das in der Pitt- Steuer ausgedrückte Prinzip der subjektiven
Steuerpflicht, nach welchem alle von der britischen Souveränität
überhaupt erfaßbaren Einkommensempfänger zur Steuerleistung
herangezogen wurden, behielt zwar seine grundsätzliche Geltung
auch in der neuen Organisation, es erfuhr aber eine von der
früheren völlig veränderte Ausdrucksweise, die in der allgemein
durchgeführten Trennung des Steuerzahlers vom endgültigen
Steuerträger hervortrat. Dabei wurde jedoch die subjektive
Steuerpflicht von dem Gesamteinkommen losgelöst und mit
dem Teileinkommen verbunden. So wird in der neuen Gestal-
tung der englischen Einkommensteuer die subjektive Steuer-
pflicht den einzelnen Einkommensquellen zugeordnet und ver-
liert ihre Bedeutung als ein selbständiges und wesentliches Merk-
mal der Einkommensbesteuerung. Im folgenden findet sie des-
steuer keine ändere Bedeutung. Die schedules werden fortlaufend
mit den Buchstaben des Alphabets benannt. In dem Einkommen-
steuergesetz hat sich die Anordnung der schedules erhalten und ihre Be-
nennung wurde zur Abkürzung auf die Einkommensarten übertragen, die
jeweils unter ihnen zusammengefaßt waren.
88) Vgl. hierzu DoweU, Incomc tax Acts, Introd.
— 142 —
h.ilb nur in X'crbinclunj; mit der objektiven Steuerpflicht nach
den Kategorien der lünt schedules ihre Darstelhmg.
Eine unmittell)are Schwierigkeit, die sich aus dem Wegfall
der allgemeinen Deklarationsjjflicht ergab, lag in der Offen-
barung der Steuerpflicht überhaupt, soweit sie durch das Merk-
mal des Einkommensbezugs bedingt wurde. Dieser Schwierig-
keit wurde dadurch begegnet, daß jedermann, der in irgend-
welcher Form an einen Dritten Einkommen auszahlte, xor allem
also Arbeitgeber, Rentenzahlungsstellen usw. auf Aufforderung
hin verpflichtet waren, diese Einkommensempfänger namhaft
zu machen. Dieselbe Pflicht bestand auch für Hausinhaber, die
eine Liste sämtlicher selbständigen Hausinsassen einzureichen
hatten, und für Grundbesitzer, die alle zu ihrem Besitz gehören-
den und verpachteten Gutsteile mit den Namen der Pächter
anzugeben hatten. Mit diesen Bestimmungen war die Mög-
lichkeit gegeben, den Umkreis der steuerpflichtigen Personen
auf indirekte Weise zu offenbaren und der Steuer zu unter-
werfen. Dazu kam noch die weitere Verpflichtung, die für
jedermann galt, ob er steuerpflichtig war oder nicht, auf Auf-
forderung der Veranlagungskommission hin eine Deklaration
abzuliefern ^9).
Dienten diese Anordnungen wesentlich nur als technische
Hilfsmittel, die der subjektiven Steuerpflicht unterliegenden
Einkommensempfänger überhaupt festzustellen, so wurde die
eigenthche Steuerpflicht nach den objektiven Merkmalen der
Einkommensart und den subjektiven des Einkommensbezugs
durch die unter den fünf schedules enthaltenen Bestimmungen
begründet. In dieser Beziehung liegt der Unterschied zwischen
den beiden Steuern darin, daß die kasuistische Aufzählung der
Einkommensteile in der Pitt- Steuer durch eine generelle Ein-
teilung der Einkommensarten in der Peel- Steuer ersetzt wurde.
Damit wurde in der Peel -Steuer nicht mehr das Gesamtein-
kommen in seiner Zusammenfassung bei der Einkommen be-
ziehenden Person besteuert, sondern es wurden die vonein-
ander unabhängigen Einkommensarten ohne Rücksicht darauf,
ob und wo sie schließlich zu einem Gesamteinkommen zu-
sammenflössen, dort besteuert, wo sie ursprünglich entstanden.
Damit aber war auch das Merkmal einer wirklichen Einkom-
S9) Vgl. Income tax Act 1842, sect. 48 und 50.
— 143 —
mensbesteuerung aufgegeben, daß das Einkommen begrifflich
einen letzten Abschluß darstellt, da die in den schedules zu-
sammengefaßten Einkommensarten gleichzeitig ursprüngliche
und abgeleitete Einkommen unter sich begriffen, die auf dem
Weg ihrer weiteren Verteilung sich erst nach der Besteuerung
trennten und dabei an verschiedene nicht durch die Einheit
der Person zusammengefaßte Wirtschaftseinheiten fließen konn-
ten. Damit war aber die reine Scheidung zwischen Ertrag
und Einkommen teilweise verwischt und eine klare Bestimmung
des ,, Einkommens" als dem der Besteuerung unterworfenen
Objekt unmöglich geworden, soweit der Steuerzahler in
Betracht kam. Fassen wir nur das Verhältnis dieses zu dem
besteuerten Objekt ins Auge, so stellt sich die jetzige englische
Einkommensteuer teilweise als eine besondere Art der Ertrags-
besteuerung dar, und erst am Abschluß des ganzen Besteuerungs-
Drozesses, also bei der Überwälzung der Steuerleistung auf den
eigentlichen Steuerträger, tritt das Merkmal des reinen
Einkommens wieder deutlich hervor. So zerfällt die englische
Einkommensbesteuerung in zwei nicht deutlich getrennte, aber
zeitlich doch aufeinanderfolgende Besteuerungsformen: ein-
mal in eine Form der direkten Ertragsbesteue-
rung bei dem Steuerzahler und zum anderen in
eine Form indirekter Einkommensbesteuerung
durch das Mittel der Überwälzung auf den Steuer-
träger. Darin liegt die charakteristische Art der englischen
Einkommensbesteuerung, wie sie mit der A d d i n g t o n sehen
Steuer von 1803 neu geschaffen wurde, und wir werden sehen,
daß der weitere Verlauf der inneren Entwicklungsgeschichte
der Einkommensteuer wesentlich in einer allmählich fortschrei-
tenden Rück- oder Umbildung dieser Form in die einer reinen
Einkommensbesteuerung bestand.
Die Zerlegung des Gesamteinkommens in seine ursprüng-
lichen Teile nach den möglichen Einkommensarten schloß sich
äußerlich an die kasuistische Aufzählung, wie sie die Pitt -Steuer
gab, an. Die erste Gruppe derselben, welche die Einkommen
aus Grundbesitz und Bodenbewirtschaftung umfaßte, zerlegte
sich dabei in zwei selbständige Teile, indem die aus dem Besitz
stammenden Einkommen fsched. A), von den aus der Bewirt-
schaftung sich ergebenden (sched. B) getrennt wurden, und
zwar auch dann, wenn Besitz und Bewirtschaftung bei ein und
— 144 —
derselben rcisoii vereinigt waren. Die dritte Ürupi)e (schud. C)
enthielt alle Einkommen, die aus der Kapitalsanlage in Staats-
papieren flössen und die aus der Staatskasse bezahlt wur-
den'"'). Die zweite Einkommensgruppe der Pitt -Steuer deckt
sich inhaUlich wii-drr mit di-n schedules I) und E, ist aber hier
in der Weise auseinander gelegt, daß die gewerblichen Ein-
kommen jeder Art (sched. D) von den beruflichen, soweit sie
aus der Staatskasse gezahlt wurden (sched. E), getrennt wurden.
Von diesen fünf Teilsteuern nehmen nun die beiden ersten
(^schedules A u. B) insofern eine Sonderstellung ein, als sie durch
die Bestimmung sowohl des durch sie erfaßten Objekts als
auch durch die Art der Steuerleistung eng miteinander ver-
knüpft erscheinen. Besteuerungsgrundlage und Steuerquelle sind
in beiden Teilsteuern wenigstens in weitem Umfang dieselben.
In beiden ist die objektive Grundlage der Grund und Boden mit
allem Zubehör, wobei nun unter sched. A die ßemessungsgrund-
lage das Merkmal des Besitzes, unter sched. B aber das Merkmal
der Bewirtschaftung bildet. Bei beiden Teilsteuern aber ist
auch die Steuerquelle genau dieselbe, nämlich der Bodenertrag,
der in seine beiden Bestandteile : Arbeitsertrag und Kapitals-
ertrag zerlegt wird. Die beiden hieraus stammenden Ein-
kommen, das Arbeitseinkommen und das Kapitalseinkommen,
erscheinen deshalb als die abgeleiteten Einkommensarten des
Bodenwirtschaftseinkommens, das ursprünglich nicht aus der
Tatsache des Besitzes, sondern der -Bodenbewirtschaftung ent-
springt. So wird hier das Prinzip der Erfassung an der Quelle
in der Weise anwendbar, daß die Pflicht der Steuerleistung
sowohl in bezug auf die unter sched. A veranlagten Besitz- oder
Kapitalseinkommen, als auch der unter sched. B veranlagten
Arbeitseinkommen auf ein und dieselbe Person, den Bewirt-
schafter, gelegt wird. Es werden hier also beide Teileinkommen,
die getrennt veranlagt wurden, zum Zweck der Besteuerung
wieder zu dem einen Bodeneinkommen vereinigt. Wo Bewirt-
90) Sched. C lautet in der Fassung des Einkommensteuergesetzes von
1842, sect. I : „Upon all profits arising from annuities, dividends and shares
of annuities, payable to any person etc. out of any public revenue etc.'
Dabei stellen die „annuities" die Verzinsung und die Rückzahlungsquoten
der fundierten Staatsschuld dar, während „dividends und shares of annuities'
Teilzahlungen der Annuitäten bedeuten. 1853 wurde vor „annuities"
noch das Wort „interest" eingeführt, womit die Verzinsung der unfundierten
Schuld (der Exchequer Bonds and Bills, Treasury Bills) erfaßt wird.
145 —
Schaffung und Besitz getrennt sind, Arbeits- und Kapitalsein-
kommen darum verschiedenen Wirtschaftseinheiten zufheßen
also in den Fällen, wo irgend eine Form der Pachtung besteht,'
tritt die Steuerüberwälzung in der Weise ein, daß der Steuer-
zahler (Bewirtschafter, Pächter) den auf das Kapitaleinkommen
entfallenden Steueranteil bei dem Grundbesitzer durch einen
Abzug von der für die Bodenbenutzung zu zahlenden Rente
(Pacht) in Anschlag bringt. Dabei bildet das Steuerobjekt unter
sched. A das volle aus dem Besitz stammende Kapitalsein-
kommen, das nach dem durchschnittlichen Betrag der in den
drei vorausgegangenen Jahren gezahlten Rente berechnet wird.
Das Prinzip, das Einkommen an der Quelle zu erfassen, tritt
auch hier wiederum hervor, indem keinerlei Lasten in Abzug
gebracht werden dürfen, die sich aus irgend einer Form der
Besitzbelastung ergeben. Wo eine solche stattfindet, steht dem
Besitzer die Überwälzung des entsprechenden Steueranteils durch
Abzug von der rechtlichen Verpflichtung zu.
Unter der sched. B ist das Steuerobjekt identisch mit dem
unter sched. A Veranlagten, mit dem einen Unterschied, daß
der Ertrag der nicht zur Bewirtschaftung gehörigen Wohnhäuser
von dem Gesamtertrag in Abzug gebracht wird. (Ökonomie-
gebäude dagegen sind mit eingeschlossen.) Dieses Objekt wird
als angenommener Maßstab des Bewirtschaftungsemkommens
der Besteuerung zugrunde gelegt und nicht der tatsächlich er-
zielte Ertrag. Doch wird im Gegensatz zu sched. A an dieses
Objekt nicht der volle Steuersatz, sondern ein ermäßigter Satz
angelegt, der 1842 für England auf 1/2 und für Schottland, wo
der Wirtschaftsertrag niedriger angesetzt wurde, auf V3 des
Normalsatzes festgesetzt wurde. Dasselbe Verhältnis wie für
Schottland wurde 1853 auch auf Irland übertragen. 1894 wurde
bei einem Normalsatz von 8 d der Satz unter sched. B mit
3 d für alle drei Länder vereinheitlicht. Durch das Finanzgesetz
von 1896 wurde diese Form der Veranlagung aufgegeben und
der Bewirtschaftungsertrag für sched. B auf 1/3 des unter sched. A
veranlagten Besitzertrags festgesetzt und der Normalsatz auch
auf die unter sched. B veranlagten Einkommen angewandt.
Diese eigentümliche Form der Berechnung des Steuerobjekts
hängt mit der allgemeinen Unzuverlässigkeit der landwirtschaft-
lichen Buchführung zusammen, die auch jetzt noch nicht über-
wunden ist und die genaue Berechnung des tatsächlichen Er-
Zeitschrift für die ges. Staatswissenschaft. Hrgänzungshcft 48. iq
— 146 —
Irags unint'tglich niaclu. Durch das P'inanzgcsciz \on 1887 wurde
die Wahl frcigt-gL-ljcii, dif aus der landwirtschafllichcn Tätigkeit
stanimeiiden Einkoniimii unter sclu-d. D nach den für die
gewerblichen Einkommen gehenden ßestimmungen zu ver-
anlagen. Daß von dieser Vergünstigung nur ein geringer Ge-
brauch gemacht wird, zeigt, wie wenig die dazu nötige Voraus-
setzung einer geregelten Buchführung auch heute noch vor-
handen ist^i).
Wenn sich unter den beiden schedules A und ß noch ein
mit der Deklaraiionsj)fiicht verbundenes besonderes \'eran-
lagungs\erfahren notwendig machte, fällt dieses bei der Eigen-
heit der hier erfaßten Einkommensart unter der sched. C völlig
weg. Da es sich hier ausschließlich um Einkommensarten
handelt, die durch amthche Zahlungsstellen zur Verteilung ge-
langen, läßt sich bei diesen Einkommen das Prinzip der Er-
fassung an der Quelle in seiner vollendetsten Einfachheit in der
Weise durchführen, daß der jeweils fällige Stcuerbetrag an den
Auszahlungsstellen einbehalten und auf dem Wege der Ab-
rechnung der Staatskasse zugeführt wird. Soweit diese Ein-
kommen solchen Empfängern zufließen, die Anspruch auf Steuer-
freiheit haben, weil ihr Gesamteinkommen unter der Befreiungs-
grenze bleibt, ergibt sich hieraus freilich eine Komplikation des
Systems, indem im Falle des nachgewiesenen Anspruchs die
einbehaltenen Beträge rückvergütet werden müssen.
Genau dasselbe gilt auch für die unter sched. E veranlagten
und vom Staat ausbezahlten Einkommensarten, bei denen der
Steuerbetrag ebenfalls vor der Auszahlung in Abzug gebracht
wird. Die Notwendigkeit der Rückvergütung tritt auch hier
hervor und wird noch seit der Einführung des Gradationssystems
vermehrt, indem der Anspruch auf einen Steuernachlaß ebenfalls
erst durch Bildung des Gesamteinkommens nachgewiesen werden
kann, so daß also auch hier die an einem Teil des Einkommens
vorgenommene Einziehung des Steuerbetrags durch Rückzah-
lung wieder vergütet werden muf3. So sind es vor allem diese
beiden schedules, die durch die Art ihres Erhebungsverfahrens
das Abatementsystem erschwert haben.
Die umfassendste und ihrem Ertrag nach entwicklungs-
fähigste aller Teilsteuern enthält sched. D. Die unter dieser
gl) Vgl. hierzu die Finanzgesetze von 1842, 1853, 1887, 1894 und 1896.
— 147 —
zusammengefaßten Einkommen sind unter sechs Fällen auf-
geführt, von denen aber nur die beiden ersten Bedeutung be-
sitzen, welche die gewerblichen und beruflichen Einkommen,
soweit sie nicht durch andere schedules erfaßt werden, enthalten.
Die objektive Bestimmung der unter dieser schedule veranlagten
Einkommen beruht auf der Deklaration des jährlichen Einkom-
mens, soweit es den aufgeführten Quellen entstammt und nach
den für die jährlich zu ziehende Bilanz geltenden Regeln festge-
stellt wird. Von den veranlagten Einkommen dürfen nur die
schlechten Schulden, nicht aber Ausgaben, die dem Erwerbs-
betrieb als solchem fremd sind, wie die Ausgaben für den Fa-
milienunterhalt, aber auch nicht Ausgaben für Kapitalsersatz,
Wiederherstellungskosten oder Schuldverzinsung in Abzug ge-
bracht werden. Dagegen ist auch wieder in allen den Fällen,
wo ein Teil des Einkommens infolge irgend welcher rechtlicher
Verpflichtungen, die auf dem unter dieser schedule veranlagten
Objekt ruhen, dem Empfänger wieder entzogen wird, die Über-
wälzung eines entsprechenden Teiles auf den endgültigen Ein-
kommensempfänger steuergesetzlich vorgesehen. Eigentümlich
ist dieser schedule eine Bestimmung, nach der in solchen Fällen,
wo eine Person gleichzeitig an mehreren Unternehmungen be-
teiligt ist oder sie ganz betreibt, die in einem Betrieb erlittenen
Verluste von den gesamten unter dieser schedule veranlagten
Einkommen in Abzug zu bringen, eine Bestimmung, durch
welche die Einheit des Einkommensempfängers für die hier
veranlagten Einkommen hergestellt wird und in welcher der
selbständige Charakter dieser Teilsteuer deutlich hervortritt.
Durch diese Gestaltung der subjektiven und objektiven
Steuerpflicht, wie wir sie jetzt dargestellt haben, und durch
welche die Einheit des Steuerzahlers sowohl als des Gesamt-
einkommens aufgegeben wurde, erscheint die Zerlegung der
früher einheitlichen Einkommensteuer in eine Gruppe von Teil-
steuern mit scharf gesondertem Objekt und ebenso scharf ab-
gesonderter subjektiver SteuerpfHcht in dem Einkommensteuer-
gesetz von 1842 so extrem durchgeführt, daß auch die zum
Nachweis der Steuerbefreiung geltende Zusammenfassung der
Teileinkommen zu dem Gesamteinkommen einer Wirtschafts-
einheit die tatsächliche Einheit der Besteuerung nicht herzu-
stellen vermochte. Dagegen trat von einer anderen Seite her
in die innere Entwicklung der Einkommensteuerorganisation
— 148 —
ein Monienl ein, das in seiner Fortbildung die xerloren ge-
gangene Verbindung der Teilsteuern zu einer einheilliciu-n Steuer
wieder herstellte und immer enger knüpfte. Dieses Moment ent-
stammte der mit dem Abatementsystem beginnenden Berück-
sichtigung der individuellen Leistungsfähigkeit, die in der Peel-
Steuer nur in der Befreiungsgrenze zum Ausdruck kam, die aber
in dieser Form nicht mehr genügte, als die stärkere Heranziehung
der Einkommensteuer zur Bedarfsdeckung zu einem finanz-
politischen und fiskalischen Bedürfnis wurde. So war mit dem
Abatementsystem das treibende Moment gegeben, das die sub-
jektive Einheit der Einkommensteuer wieder herstellte. Bevor
wir aber dieser Entwicklungslinie im einzelnen nachgehen, haben
wir uns den nach 1842 auftauchenden und mit der begrifflichen
Abgrenzung der Steuerpflicht verbundenen Fragen, sowie der
tatsächlichen Einkommensentwicklung als der Grundlage der
Ertragsentwicklung zuzuwenden.
§2.
Die begriffliche Fortentwicklung der objekti\-en
Steuerpflicht.
Die Abgrenzung der objektiven Steuerpflicht in dem P-in-
kommensteuergesetz von 1842 ist die Grundlage der Einkom-
mensentwicklung in der folgenden Zeit geblieben, ohne eine
grundsätzliche Abänderung zu erfahren. Freilich blieb diese
Bestimmung des Steuerobjekts nicht ganz unangefochten, und
vor allem waren es drei Fragen, die in dieser Beziehung schon
in den ersten Jahren nach der Wiedereinführung der Steuer auf-
tauchten und vor allem vor der Einkommensteuerkommission
von 185 1 und 1852 lebhafte, aber auch widersprechende Er-
örterung fanden ^2j j^ diesen Fragen waren zu einem guten
Teil die mannigfachen Gegengründe, die gegen die Steuer er-
hoben wurden, begründet und von ihrer Lösung hing so teilweise
zwar nicht die Existenz, aber doch die Ertragsfähigkeit der
Steuer ab.
Zunächst war es die Frage der Befreiungsgrenze, die in dop-
pelter, aber entgegengesetzter Richtung für eine Fülle von Be-
denken und Einwänden Anlaß und Gründe darbot. Soweit
92) Vgl. hierzu die beiden Reports of the Select Committee on Incomc
tax von 1852.
— 149 —
man die rein finanzielle Ertragsfähigkeit der Einkommensteuer
als Wertmaßstab anwendete, konnte man sich der Einsicht nicht
verschließen, daß die Aufrechterhaltung einer Befreiungsgrenze
überhaupt nicht nur einen erheblichen Teil des gesamten Volks-
einkommens von der Besteuerung befreite, sondern auch der
Möglichkeit einer unrechtmäßigen Steuerhinterziehung breiten
Spielraum gewährte. Die Versuchung, das Gesamteinkommen
unter die Befreiungsgrenze zu bringen, lag gerade für die
Einkommen, welche die Untergrenze nur wenig überschritten,
sehr nahe und führte auch tatsächlich in den ersten Jahren
nach der Wiedereinführung der Einkommensteuer zu einer zu-
nehmenden Verminderung des gesamten von der Steuer er-
faßten und deklarierten Einkommens. In dieser Hinsicht machte
sich darum das Bestreben geltend, die Befreiungsgrenze zwar
nicht völlig zu beseitigen, aber doch so weit herabzusetzen, daß
der Ertrag der Einkommensteuer durch unrechtmäßige Um-
gehung der Steuerpflicht wegen der Kleinheit der in Betracht
kommenden Beträge nicht mehr beeinträchtigt werden konnte.
Dazu aber kam der Umstand, daß durch das System der Er-
fassung an der Quelle zahlreiche Einkommensbeträge besteuert
wurden, bevor sie ihrem letzten Empfänger zuflössen, die ge-
leisteten Zahlungen also in den Fällen, wo das Gesamteinkommen
unter der Befreiungsgrenze blieb, wieder rückvergütet werden
mußten. Diese Komplikation des Erhebungsverfahrens mußte
um so größer sein, je höher die Befreiungsgrenze war, und
so wurde eine Herabsetzung der Befreiungsgrenze auf 50 oder
60 £ jährlichen Gesamteinkommens gefordert, und teilweise
kam Gladstone dieser Forderung 1853 auch entgegen, als er
die Steuerfreiheit auf Einkommen unter 100 £ beschränkte.
Andererseits aber ging aus den Fragen der allgemeinen
steuerlichen Belastung die Forderung hervor, die direkte Be-
steuerung erst von einer bestimmten Einkommensstufe an ein-
treten zu lassen, da die Leistungsfähigkeit der unteren Klassen
durch die bestehende indirekte Besteuerung hinreichend er-
schöpft wurde. Je mehr nun aber die durch die indirekte Be-
steuerung verursachte Gesamtbelastung anwuchs und je mehr
sich das ursprüngliche Verhältnis der beiden Besteuerungs-
methoden verschob, desto mehr trat auch wieder die Forderung,
die Steuerbefreiung zu erweitern, hervor und wurde durch die
gleichzeitige Verschiebung der Einkommensverteilung, durch
— ISO —
welche das Schwergewicht der direkten Besteuerung immer
mehr nach den höheren Einkommensklassen zu verschoben
wurde, unterstützt. So findet denn auch die Veränderung der
finanziellen Stellung der Einkommensteuer an den Wende-
punkten ihren Ausdruck in der Erhöhung der Befreiungsgrenze
auf 150 £ und auf 160 C (1876 und 1H94), womit allerdings auch
die Komphkation des Erhebungsverfahrens durch die Notwendig-
keit vermehrter Rückzahlungen wesentlich verstärkt wurde.
Die zweite umfassendere Frage, die sich aus der Bestim-
mung der objektiven Steuerpflicht ergab, bezieht sich auf die
Abzüge, die von den erfaßten Einkommen gemacht werden
durften, um das steuerpflichtige Reineinkommen zu ermitteln.
Auch diese Frage, die sich wesentlich auf die unter den sche-
dules A und D veranlagten Einkommensarten beschränkte,
hing eng mit dem Erhebungsverfahren an der Quelle des Ein-
kommens zusammen und spitzte sich schließlich zu der Streit-
frage zu, inwieweit die 1842 getroffenen Bestimmungen eine
Doppelbesteuerung des gleichen Einkommens in verschiedenen
Händen oder aber eine Besteuerung solcher Beträge nach sich
zogen, die nicht eigentlich als steuerpflichtiges Einkommen
gelten konnten. Diese Fragen fanden ihre Erörterung nament-
lich in dem Bericht der Einkommensteuerkommission von 1861
und führten in dieser zu dem Vorschlag, statt des Einkommens
den kapitahsierten Wert der Einkommensquelle zur Bemessungs-
grundlage für die Steuer zu machen, um damit einer durch die
Erzeugung des Einkommens hervorgerufenen Wertverminderung
der Einkommensgrundlage (wie dies beim Abbau von erdigen
und metallischen Bodenschätzen der Fall ist) Rechnung zu
tragen 93). Dieser Vorschlag, der einer völligen Aufgabe des
Einkommensmerkmals gleichgekommen wäre, und die Steuer
in eine Vermögenssteuer umgewandelt hätte, fand zwar keine
Zustimmung, doch blieb daneben noch immer die Frage offen,
inwieweit die .Abnutzung des Einkommen erzeugenden Kapitals
und der Ersatz von Kapitalsunkosten, dann aber auch Kapitals-
verluste in Abzug gebracht werden sollten, um die Besteuerung
des reinen und als solchen frei verfügbaren Einkommens zu
sichern. Diese Frage fand ihre Regelung erst im Jahre 1878
93) \^gl. hierzu den Report of the Select Conimittee on Incomc tax von
1861.
— 151 —
(und später 1907 wieder) durch die Erlaubnis, die Abnutzung
des stehenden Kapitals (depreciation by reason of wear and
tear) von dem veranlagten Einkommen in Abzug zu bringen.
Unter sched. A fand das grundsätzlich gleiche Problem, durch
Berücksichtigung der zur Einkommensgewinnung erforderlichen
Unkosten nur das frei als solches verfügbare Reineinkommen
zum Steuerobjekt zu machen, seine Lösung erst im Jahre 1894,
indem von dem unter sched. A veranlagten Einkommen für
landwirtschaftliche Betriebsgebäude i/g, für alle anderen Ge-
bäude dagegen ein ^/^ des veranlagten Einkommens als Ersatz
der erforderlichen Unkosten in Abzug gebracht werden durfte''*).
Die finanzielle Bedeutung dieser Bestimmungen geht daraus
hervor, daß im Jahre 1910/ 11 unter sched. A 42 Millionen £
und unter sched. D 25 Millionen £ von dem gesamten ver-
anlagten Einkommen in Abzug gebracht werden durften und
so der Besteuerung entgingen.
Eine V^erschiebung innerhalb der schedules, die aber keine
merkliche Beeinflussung der Einkommensentwicklung zur Folge
hatte, trat insofern ein, als 1866 die Einkommensarten aus
solchen Unternehmungen, die an einen bestimmten Standort
gebunden waren (wie Bergwerke, Steinbrüche, Eisenbahnen, Gas-
werke usw.) und deshalb bisher unter sched. A (Grundbesitz)
veranlagt worden waren, auf sched. D übertragen wurden.
Eine dritte Gruppe von Einwendungen gegen die objektive
Bestimmung der Steuerpflicht, wie sie 1842 gegeben worden war,
ergab sich aus dem Verfahren, nach welchem die gewerblichen
Einkommen unter sched. D nach dem Durchschnitt der letzten
drei vorausgegangenen Jahre berechnet wurden, statt mit dem
tatsächlichen Betrag des laufenden Jahres veranlagt zu werden.
In den Fällen, wo es sich um außerordentlich von Jahr zu Jahr
anwachsende oder zurückgehende Einkommen handelte, ergab
sich aus diesem Berechnungsverfahren entweder eine Benach-
teiligung der Staatskasse, indem das veranlagte Steuereinkom-
men unter dem tatsächlich erzielten Einkommen zurückblieb
oder andererseits eine Mehrbesteuerung des Steuerzahlers, wenn
das erzielte Einkommen des laufenden Jahres den Durchschnitt
der drei vorausgegangenen Jahre nicht erreichte. Dazu kam
94) Vgl. hierzu das Gesetz von 1878, 41/42. Vict. c 15, sect. 12;
ferner Finance Act 1894, sect. 35 und Finance Act 1907, sect. 13.
152 -
noch der weitere Umstand, dab in solchen l'ällen, wo auf eine
wirtschafthclie Hochkonjunktur ein plötzhcher und starker Rück-
schlag eintrat, das steuerpflichtige Einkommen also auf Grund
eines außerordentlich hohen Durchschnitts veranlagt wurde,
die Steuerleistung um so drückender empfunden wurde, je
heftiger der Rückschlag gewesen war. Andererseits aber lag
in dem System auch wieder insofern eine Benachteiligung der
Staatskasse, als sie von außerordentlich günstig verlaufenen
Wirtschaftsjahren nicht den gleichen Vorteil hatte, den die
Einkommensempfänger für sich in Anspruch nehmen konnten.
Das Ehikommensteuergesetz von 1842 sah zwar für den Ein-
kommcnsteuerzahler eine Erleichterung in der Weise vor, daß
auf den Nachweis hin, daß das erzielte . Einkommen eines
Jahres unter dem Veranlagungsdurchschnitt blieb, das Ein-
kommen des laufenden Jahren mit in die Durchschnittsbcrech-
nung eingesetzt und der Mehrbetrag der Steuer zurückerstattet
werden konnte. Diese Vergünstigung blieb einseitig auf den
Einkommensteuerzahler beschränkt, während der Fiskus keine
Möglichkeit hatte, in den Fällen, wo das erzielte Einkommen den
veranlagten Betrag überstieg, eine Nachzahlung zu fordern.
Diese Einseitigkeit wurde durch das Einkommensteuergesetz
von 1907 noch zugunsten des Steuerzahlers verschärft. Nach
dieser Neuordnung kann auf Antrag und den Nachweis hin,
daß das erzielte Einkommen den Dreijahrsdurchschnitt nicht
erreicht, die auf diesen gegründete Veranlagung vollständig
durch das tatsächlich erzielte Einkommen ersetzt werden. Da-
mit fällt nicht nur jede Benachteiligung des Steuerzahlers weg,
sondern verkehrt sich sogar in eine sehr wesentliche Begün-
stigung, da auch jetzt noch der Staat außerstande ist, das
tatsächlich erzielte Einkommen zu besteuern, wenn dieses den
durchschnittlichen Ertrag der letzten drei Jahre übersteigt 9^).
Finanziell bedeutet diese Regelung der Veranlagungsberech-
nung eine Beeinträchtigung des Einkommensteuerertrags, da
in günstigen Jahren das Einkommen nur nach dem Durchschnitt
der vorausgegangenen letzten drei Jahre berechnet wird, wäh-
rend in ungünstigen Jahren das tatsächlich erzielte Einkommen
zur Grundlage der Besteuerung gemacht wird. Damit wird aber
y?) ^ g'- Einkommensteuergesetz 1842, sect. 133 und Finance Act
1907, sect. 6. Ferner den Report of the Departmental Committee 1905.
— 153 —
in die Einkommensteuer ein höchst bedenkhches Moment ge-
tragen, durch das sie in hohem Maße den Kon j unkt urrück-
schlägen unterworfen wird, ohne aber jemals an dem wirt-
schafthchen Aufschwung den gleichen Anteil nehmen zu können.
Wenn man bedenkt, daß die Einkommen unter sched. D, die
hier in Betracht kommen, einen prozentual immer steigenden
Anteil an dem gesamten Steuereinkommen haben, und daß sie
einen großen Teil jener Einkommen umfassen, die sehr gegen-
sätzlichen Schwankungen unterworfen sind (man denke an den
spekulativen Handel mit allen Naturprodukten !), so wird die
finanzielle Bedeutung dieses Verfahrens klar, wenn sie sich auch
statistisch in keiner Weise erfassen läßt.
Auf dieser Grundlage nun, die durch die begriffliche und
tatsächliche Abgrenzung der objektiven Steuerpflicht gebildet
wird, hat sich seit 1842 die Entwicklung des von der Einkommen-
steuer erfaßten Einkommens vollzogen. Im ganzen genommen,
hat die objektive Steuerpflicht begrifflich keine Erweiterung,
sondern mehrfache Einschränkung erfahren. Ein Umstand frei-
lich kommt hier noch in Betracht, der die Wirkung hatte, die
tatsächliche Steuerpflicht zu erweitern, indem durch die weiter-
gehende Auslegung der begrifflichen Bestimmungen der ein-
zelnen Steuergesetze zahlreiche Einkommen der Besteuerung
unterworfen wurden, die ihr früher entgingen. Während noch
1869 für die steuergesetzliche Auslegung der Grundsatz aufrecht
erhalten wurde, daß das Steuergesetz nur insoweit Geltung habe,
als die Steuerpfhcht ausdrücklich durch den Buchstaben des
Gesetzes in jedem einzelnen Fall begründet sei, setzte sich nach
und nach die Anschauung durch ,,that the only safe rule is to
look at the words of the enactments and see what is the Inten-
tion expressed by these words", so daß die Steuerpflicht nicht
durch den Buchstaben allein, sondern vor allem durch die darin
ausgedrückte Absicht begründet wird 96). Daß diese Wandlung
in der Auslegung der Steuergesetze für alle strittigen Fälle von
großer Bedeutung sein mußte, und darum auch finanziell zum
Ausdruck kam, leuchtet ohne weiteres ein. Im nächsten Ab-
schnitt werden wir nun auf die tatsächliche Entwicklung des
erfaßten Einkommens eingehen, um daraus die Bedeutung zu
erkennen, welche dieser Entwicklung für die Ertragsgestaltung
der Steuer zukam.
96) Siehe Dowell, Inc. tax Acts, Introd., p. 70.
134 —
§3.
Die Bedeutung]: und die Ursachen der E i n k o ni m e n s -
en t w i ckl u n g.
Die Möglichkeit, ein Ubjekl zur Grundlage eines Besteuc-
rungsverfahrens zu machen, ist stets nur dann gegeben, wenn
ihm das Merkmal einer gewissen Dauerhaftigkeit zukommt, die
eine periodische Wiederholung der Ertragsgewinnung sichert.
Wo dieses Merkmal fehlt, können zur Deckung des dauernden
Bedarfs zwar trotzdem Mittel aufgebracht werden, etwa in der
Weise von Kontributionen, Zwangs- oder auch regelmäßigen
Anleihen. Da die Notwendigkeit der Bedarfsdeckung aber sich
aus einem dauernden Bedarf ergibt, der sich als die Folge der
ganzen umfassenden Staatstätigkeit darstellt, so empfehlen sich
diese Mittel ihres außergewöhnlichen Charakters wegen auch
nur zur Befriedigung außergewöhnlicher Anforderungen, sie
können aber um so weniger zur dauernden Form des Deckungs-
verfahrens werden, als sie durchweg Quellen entstammen, die
nur eine begrenzte Leistungsfähigkeit besitzen und einen dau-
ernden Ertrag nicht sicherstellen. Solche Mittel eignen sich
aber auch deshalb nicht zu ordentlichen Finanzmitteln, weil sie
eine nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der
Leistungsfähigkeit vorzunehmende Verteilung der Gesamt-
belastung ausschließen. So können zur Grundlage eines ge-
regelten und dauernden Systems staatlicher Einnahmegewinnung
eben nur solche Objekte gemacht werden, die alljährlich einen
bestimmten Ertrag zu bringen vermögen und dabei eine der-
artige Verteilung des Gesamtertrags auf die einzelnen Steuer-
zahler ermöglichen, daß der Grundsatz der Leistungsfähigkeit
zur Geltung kommt. Deutlich wird dieser Grundgedanke in
der indirekten Besteuerung, wo die periodische Wiederkehr des
Verbrauchs bestimmter Gegenstände auch einen periodischen
Ertrag der auf diese Gegenstände gelegten Steuern zur Folge
hat und wo gleichzeitig auch die Möglichkeit der Bedarfs-
einschränkung eine freiwillige Bestimmung der Steuerleistung
nach der individuellen Steuerkraft gestattet. Weniger deutlich
scheint das Merkmal der periodischen Wiederkehr in den Ob-
jekten zu liegen, die den Formen der Stempelsteuern, Nachlaß-
und Wertzuwachs- oder ähnlichen Steuern unterliegen, doch
wird hier das Merkmal der Periodizität vom eigentlichen Objekt
— 155 —
auf die an ihm oder mit ihm vorgenommene Handhmg über-
tragen, die bei ähnUchen Objekten in genügender Häufigkeit
wiederzukehren pflegt, um zur Grundlage eines Besteuerungs-
verfahrens gemacht werden zu können. Mit der begrifflichen
Bestimmung des Objekts direkt verbunden erscheint das Merk-
mal der periodischen Wiederholung aber bei all den Objekten,
die sich selber als das Ergebnis einer dauernden Grundlage
darstellen, und so werden von dem einen Gesichtspunkt einer
dauernden und regelmäßigen Einnahmegewinnung aus alle
Ertragssteuern zu einer sehr geeigneten Form der staatlichen
Besteuerung, und das um so mehr, als diesen Steuern und ihren
Objekten unter normalen Verhältnissen noch ein weiteres Merk-
mal zukommt, das den übrigen Objekten nicht oder doch nicht
im selben Grad eigen zu sein pflegt, das Merkmal der Wachs-
tumsfähigkeit. Zwar kommt auch der Verbrauchsbesteucrung
und der Verkehrsbesteuerung die Eigenschaft einer natürlichen
Wachstumsfähigkeit zu, es ist jedoch leicht erkennbar, daß diese
Fähigkeit nicht den untergelegten Objekten als solchen eigen-
tümlich ist, sondern sekundär durch eine Steigerung des Kon-
sums oder der Verkehrsakte infolge einer Zunahme der Be-
völkerung" und ihres durchschnittlichen oder absoluten Wohl-
standes gewonnen wird. Sie beruht also im letzten Grund auf
der umfassenden Steigerung und Vermehrung der gesamten
Volkswirtschaft, deren unmittelbare Erscheinungsformen aber
die Zunahme des Wirtschaftsertrags und des Einkommens sind.
Da aber diese Wirtschaftsergebnisse selbst zur Grundlage von
Besteuerungsmethoden gemacht werden können, so wird an
diesen Objekten auch das Merkmal der Wachstumsfähigkeit am
unmittelbarsten zum Ausdruck gelangen können.
Dieses zweite Merkmal aber ist finanzpolitisch und steuer-
theoretisch nicht minder bedeutsam als das erste der Periodizität,
denn auf ihm gründet sich die Möglichkeit, einen wachsenden
Bedarf ohne immer wieder sich wiederholende Reformen und
Ergänzungen des bestehenden Einnahmesystems notwendig zu
machen, und daraus ergibt sich das finanzpolitische Ideal eines
Besteuerungssystems, dessen Glieder eine der Bedarfsvermeh-
rung genau entsprechende Fähigkeit der Ertragsvermchrung be-
sitzen. Dieses Ideal hängt freilich nicht nur von der Tauglich-
keit der Objekte, die dem Besteuerungssystem zugrunde gelegt
wurden, ab, sondern auch von der Geschwindigkeit der Bedarfs-
150 -
verinchrung, dit' in cIlmi meisten Fällen größer sein wird als
die natürliche Ertragsvermehrung.
Gerade diese Eigenschaft aber, unabhängig von jeder Ver-
änderung der Steuerorganisation und des Steuersatzes, einen
stets wachsenden Ertrag zu liefern, war es, welche die Wandlung
der finanzpolitischen Bedeutung der Einkommensteuer und ihrer
Stellung innerhalb des Besteuerungssystems wesentlich bedingt
und hervorgerufen hat. Die Tatsache, daß das gesamte, von
der Steuer erfaßte Einkommen in einem Zeitraum von rund
70 Jahren (i 842/1 910) sich mehr als vervierfacht oder eine
Zunahme um 316,60b erfahren hat, veranschaulicht diese Be-
deutung am deutlichsten. (Nicht ganz so deutlich wird die
auf der Vermehrung des erfaßten Objekts- beruhende Ertrags-
steigerung aus der Zunahme des auf jeden Penny des Steuer-
satzes entfallenden Ertrags, der sich in der gleichen Zeit um
254,600 vermehrte, da in der Zwischenzeit die Einkommen-
steuerorganisation wesentliche Änderungen erfuhr, welche den
Ertrag beeinträchtigten.) Diese Entwicklungen können in ihrer
finanziellen und auch volkswirtschaftlichen Bedeutung nur an
der Hand der Statistik völlig deutlich veranschaulicht werden.
Die nachstehenden Tabellen dienen darum der ganzen folgenden
Darstellung als Unterlagen.
Fragen wir nach den Ursachen, welche die erhebliche Ver-
mehrung des Steuerobjekts verursacht haben, wie sie aus der
Tab. 1 1 a ersichtlich ist, so erkennen wir zunächst, daß sie eine
Erscheinungsform des gesamten Aufschwungs darstellt, den die
wirtschaftliche Entwicklung in England im Verlauf des 19. Jahr-
hunderts genommen hat und insofern auf denselben Bedingungen
beruht, aus denen heraus dieser entstanden ist. So wird die
wesentlich industrielle Entwicklung der Volkswirtschaft auch
in den unter den schedules D und E erfaßten industriellen Ein-
kommen sichtbar, auf die von der Vermehrung des gesamten
Einkommens allein 77,20/0 entfallen (vgl. Tab. 11). Soweit durch
die Bevölkerungsvermehrung die nationale Arbeitskraft gestei-
gert wird, entfällt auch auf diese ein Teil der Einkommens-
vermehrung, da sie sich wirtschaftlich in der erhöhten Fähigkeit,
Einkommen zu schaffen, äußern kann. Doch wird gerade die
absolute Zunahme der Bevölkerungsziffer nur vergleichsweise
herangezogen werden können, ohne aber die Tatsache der Ein-
kommensvermehrung im einzelnen zu erläutern, da die Ver-
— 157 —
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Gesamteinkommens.
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von 1842/3 unter den schedules.
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+ 5.7
+ 20,2
+ 4.5
1862/3
+ 46,4
+ 16,1
+ 9.8
+ 582
+ 115.9
+ 43.1
1872/3
+ 77.6
+ 26,9
+ 45,2
+ 189,9
+ 204.3
+ 104,7
1882/3
+ 118.5
+ 40,8
+ 44,1
+ 253,7
+ 272,2
+ 144.2
1892/3
+ 131.5
+23,2
+ 37.4
+ 356,0
+ 431.6
+ 183.7
1902/3
+ 176,1
— 62,5
+ 65,3
. +523.0
+ 749.7
+ 250,4
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+ 214,8
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+ 77.6
+ 639.0
+ 1133.8
+ 316.6
d) Prozentanteil der schedules an der gesamten Zunahme des erfaßten Ein-
kommens.
betrug unter den einzelnen sc
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gesamten Zunahme des erfaßten Einkoramens
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— 1,0
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+ 40.6
+ 17.3
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1852/3—62/3
+ 35,8
+ 7.8
+ 3.9
+ 42.7
+ 9.8
1862/3—72/3
+ 17,6
+ 3.2
+ 6,3
+ 67.4
+ 5.5
1872/3—82/3
+ 36.6
+ 6.6
—0.3
+ 50,8
+ 6.6
1882/3—92/3
+ 11.3
— 8,2
— 1.8
+ 83,2
+ 15.5
1892/3—1902/3
+ 23.3
—23.9
+ 4.6
+ 77.4
+ 18,6
1902/3 — 1910/11
+ 20,4
— 0,1
+2.1
+ 55.2
+ 22.4
1842/3 — 1910/11
i +23.6
- 3.6
+ 2,8
+ 63,4
+ 13.8
Anmerkung zu Tabellen. Die in dieser Tabelle unter den 5 sche-
dules angegebenen Beträge des gesamten erfaßten Einkommens sind nicht
— 159 —
teilung des Gesamteinkommens das Bild in einer Weise ver-
schiebt, die kaum einen zahlenmäßigen Ausdruck finden kann.
Im besonderen aber ist die Entwicklung des von der Steuer
erfaßten Einkommens wesenthch abhängig von der Organisation
der Steuer, durch welche das steuerpflichtige Einkommen seinem
Umfang nach bestimmt und der tatsächlichen Besteuerung unter-
worfen wird. Von entscheidendem Einfluß wird hierbei die be-
griffliche Bestimmimg des Steuerobjekts, das den objektiven
Untergrund der Steuerpflicht darstellt und die rechthche Fest-
stellung des Steuerzahlers, durch welche die Erfassung des Ob-
jekts allererst ermöglicht und die Leistung des Steuerbetrags*
sichergestellt wird. Ergänzend tritt hierzu die durch Zweck-
mäßigkeitsgründe bedingte Abgrenzung der Steuerpflicht, bei
der die Fragen der steuerlichen Gesamtbelastung, wie sie sich
aus dem ganzen System ergeben, und der individuellen Leistungs-
fähigkeit einen freiwilligen Verzicht auf einen Teil des Gesamt-
einkommens nahelegen, der nach der begrifflichen Bestimmung
der Steuerpflicht unterliegen würde. Indem die Schwierigkeit,
die kleinen und kleinsten Einkommen mit genügender Sicherheit
zu erfassen, kaum durch eine die Kosten übersteigende Ertrags-
vermehrung aufgewogen wird, und indem gerade die unteren
Einkommensklassen den Druck der allgemeinen und namentlich
der indirekten Besteuerung am meisten empfinden, gelangte
man hier zu der Festsetzung einer Minimalgrenze, unter welche
die Steuerpfhcht nicht ausgedehnt wird. Je nach der Höhe dieser
Minimalgrenze verändert sich der Gesamtbetrag des erfaßten
durchaus einheitlich. Die unter den scheduies A und B angegebenen Ein-
kommensziffern gelten für das jeweilige Gesamteinkommen einschließlich
der unter die Befreiungsgrenze fallenden Einkommen. Aus diesem Grund
verbessert sich der Prozentanteil dieser scheduies bei einer Erhöhung der
Befreiungsgrenze, da hier der Gesamtbetrag des aufgeführten Einkommens
keine Verminderung erleidet.
Durch das Finanzgesetz von 1866 wurden die aus Bergwerken, Stein-
brüchen, Eisenbahnen, Gaswerken usw. stammenden und bisher unter
sched. A. veranlagten Einkommen auf sched. D. übertragen. In der Ta-
belle sind die entsprechenden Beträge von 1842 an zu sched. D. hinzu-
gerechnet.
1896 wurde die Veranlagung unter sched. B. dahin verändert, daß das
veranlagte Einkommen zu einem Drittel des unter sched. A. veranlagten
Werts der landwirtschafthchen Güter (ausschließlich der Wohnhäuser) be-
rechnet wird, statt zum vollen Wert wie früher. Dagegen kommt jetzt
unter sched. B. der Normalsteuersatz zur Anwendung.
- i6o -
Einkommens, und es ist klar, daß bei einer Veränderung der
Befreiungsgrenze die Einkommensverteilung von größter Bedeu-
tung sein muß. Je nachdem der Anteil einer gewissen Unter-
schicht am Gesamteinkommen größer oder geringer ist, wird
der absolute Betrag des erfaßten Einkommens durch die unter
die Befreiungsgrenze fallenden Einkommen mehr oder weniger
verringert werden.
Schließlich kommt aber für die Einkommensentwicklung
auch die Organisation der Steuer insofern in Betracht, als es
durch das besondere Verfahren der Steuerveranlagung und der
Erhebung ermöglicht wird, das durch die Gesetzgebung der
Steuerpflicht unterworfene Einkommen zu entdecken und zur
Steuerleistung heranzuziehen. Hier sichert- die Methode, das
Einkommen an seiner Quelle zu erfassen, in weitem Umfang
die Aufdeckung der Steuerpflicht, soweit die Einkommensver-
teilung von staathchen oder öffentlichen Anstalten ausgeht. So-
weit sich die Anwendung dieses methodischen Mittels als un-
möglich erweist und dem Staat jede Kontrolle über den Ein-
kommensbezug fehlt, tritt ergänzend das methodische Mittel
der Einkommensdeklaration auch in der Peel -Steuer ein und
wird in dieser wirksam durch die örtliche Organisation der
Steuerveranlagung unterstützt, die in die Hände ehrenamtlich
wirkender und mit den örtlichen Verhältnissen genau vertrauter
und unabhängiger Personen gelegt ist. Da aber diesem System
die für jede staatliche Organisation notwendige Überlieferung
der Amtsgepflogenheiten und vor allem der Amtserfahrungen
abgeht, so wird auch dieses durch ein neben- und übergeord-
netes System staatlicher Beamter erweitert, deren Tätigkeit mehr
verwaltungsmäßiger, prüfender und überwachender Natur ist.
Wird so durch die ,,general commissioners", d. i. durch die
ursprüngliche Veranlagungskommission die Aufdeckung der
Steuerpflicht im bestmöglichen Umfang gesichert, so wird durch
die „special commissioners" und durch die ,,surveyors" die amt-
liche Überlieferung gewahrt und durch die ineinander greifende
und ergänzende Tätigkeit dieser verschiedenen Behörden eine
stets zunehmende Tauglichkeit des Erhebungs- und Veran-
lagungsverfahrens ermöglicht.
Alle diese Momente wirken nun auf die Entwicklung des
erfaßten Einkommens ein, aus dessen Zunahme aber sich die
Vermehrung des Steuerertrags ergibt. Dieser großen Entwick-
- i6i —
lungslinie läuft nun eine zweite entgegen, die zu einer Vermin-
derung des besteuerten Einkommens führt. Diese zweite Ent-
wicklungslinie, die im wesentlichen aus dem Abatementsystem
hervorgeht, werden wir im folgenden zu untersuchen haben.
2. Kapitel.
Die Entwicklung der Einkommensteuerorganisation.
§4.
Das Problem der Einkommensteuerreform.
Die mannigfachen Reformfragen, die sich aus der Objekts-
bestimmung von 1842 ergaben, hatten im Laufe der Jahre wohl
zu einer teilweisen Beeinträchtigung des gesamten Einkommen-
steuerobjekts geführt, ohne aber in den wesentlichen Grund-
zügen der Einkommensteuerorganisation eine merkliche Ver-
änderung zu bewirken. Die Zerlegung der Gesamtsteuer in
fünf fast unabhängig nebeneinander bestehende Teilsteuern mit
gesonderter Veranlagung und Erfassung, die ausgedehnte An-
wendung des Prinzips, das Einkommen an der Quelle seiner
Entstehung zu erfassen, statt es in seiner endgültigen Zusammen-
fassung bei einer letzten Wirtschaftseinheit zu treffen, und damit
die fast völlige Vernachlässigung der persönlichen Leistungs-
fähigkeit, waren die Merkmale, die der englischen Einkommen-
steuer ihr eigentümliches Gepräge gaben und ihre gesamte
Organisation bedingten. Das einzige Moment, das eine Berück-
sichtigung der individuellen Leistungsfähigkeit enthielt, lag in
der Anerkennung einer Befreiungsgrenze, doch haben wir ge-
sehen, daß gerade dieses Moment mehr aus allgemeinen steuer-
und finanzpolitischen Zweckmäßigkeitsgründen als dem Bedürf-
nis, die persönliche Steuerkraft zu berücksichtigen, entsprungen
war. Weit mehr als durch die Objektbestimmung und durch
das Erhebungsverfahren wurden aber die Ungerechtigkeiten
und Härten, die der Einkommensteuer von Anfang an zur Last
gelegt wurden, eben durch diese gänzliche Vernachlässigung
der persönlichen Leistungsfähigkeit des Steuerzahlers verursacht,
und es ist klar, daß alle diese Härten so lange mit der Natur
der Einkommensteuer untrennbar verbunden waren, als die
Zusammenfassung der Teileinkommcn zum Gesamteinkommen
einer Wirtschaftseinheit, das ist das Personalmerkmal einer
Zeitschrift für die ges. Staatswissenschaft. Ergänzungsheft 48. I i
l62 -
reinen Einkonnnenhbesleiierung, aufgegeben war. Machten sich
so trotzdem Bestrebungen geltend, das bestehende System der
enghschen Einkommcnsbesleuerung dadurch gerechter und er-
träghcher zu gcstahen, d:\iS die Steuerleistung eines Einkommen
beziehenden Subjekts nicht nur nach den einzelnen veranlagten
Teileinkonnncn bemessen wurde, sondern zum Gesamteinkom-
men in Beziehung gebracht und in ihrer Hohe \(jn diesem ab-
hängig gemacht wurde, so stielten alle diese Bestr(>bungen eben
immer wieder auf den einen l'mstand, daß nach dem bestehen-
den System dieses Gesainteinkommen nur dann ermittelt wurde,
wenn ein Anspruch auf Steuerfreiheit erhoben wurde. Eine ein-
heitlich durchgeführte und gleichmäßig ausgestaltete Bemes-
sung der Steuerleistung nach dem Gesamteinkommen und damit
nach der besonderen Leistungsfähigkeit des Steuersubjekts war
demnach nur zu erreichen, weim der eine Grundzug der Peel-
Steuer aufgegeben und die Zwangsdeklaration des Gesamtein-
kommens wiederum eingeführt wurde. Aus diesen Erwägungen
heraus machten sich deshalb schon vor der Untersuchungskom-
mission von 1852 Meinungen geltend, welche die Wiedereinfüh-
rung der Gesamtdeklaration forderten, ohne freilich die Zu-
stimmung der Kommission selber zu finden. Damit erstickte
der Gedanke einer Abstufung der Steuerleistung nach der Höhe
des Gesamteinkommens schon in seinem allerersten Keim, und
es ist dabei nicht zu verkennen, daß dieser Gedanke wesentlich
aus finanziellen Gründen heraus abgelehnt wurde, da man eine
wesentliche Beeinträchtigung des Steuerertrags sowohl unmittel-
bar durch das System der Gradation, das die unteren Ein-
kommensklassen niedriger besteuern mußte, als es bisher der
Fall war, als auch durch die Zwangsdeklaration des Gesamt-
einkommens befürchtete, da mit dieser die Versuchung zu be-
trügerischen Angaben weit stärker vorlag, als wenn nur die
Teileinkommen offenbart werden mußten.
In ähnlicher Weise scheiterte aber auch eine zweite Forde-
rung, die schon früh erhoben wurde und welche die unterschied-
liche Belastung der fundierten und der unfundierten Einkommen
verlangte, an der bestehenden Organisation der Steuer und an
finanziellen Erwägungen, obwohl die Gerechtigkeit dieser For-
derung von allen führenden Staatsmännern, von Peel, Glad-
stone und Disraeli, grundsätzlich anerkannt wurde. Hier
trat freihch auch die weitere Schwierigkeit hinzu, daß die
— i63 —
begriffliche Unterscheidung der Arbeitseinkommen und der
Kapitalseinkommen nicht so klar getroffen werden konnte, daß
nicht doch wieder zahlreiche Ungerechtigkeiten in der Folge
hervortreten mußten. So deutlich die unterschiedliche Leistungs-
fähigkeit der verschiedenen Einkommensarten in den entgegen-
gesetzten Fällen, also bei reinen Lohneinkommen und bei reinen
Renteneinkommen, hervortrat, so wenig läßt sich bei den Grenz-
fällen und bei den gemischten Einkommen die Trennungslinie
ziehen, die das ,, verdiente" Einkommen vom ,, unverdienten"
trennte. Diese Schwierigkeit trat äußerlich schon in der Mannig-
faltigkeit der Bezeichnungen zutage, die zur Gegenüberstellung
der Einkommensarten, die eine verschiedene Behandlung er-
fordern sollten, angewendet wurden. (Permanent and preca-
riüus incomes ; f unded and unf unded ; earned and uneamed ;
industrial and spontaneous; derived from investment and by
personal eff ort.) Schon aus einer oberflächlichen Prüfung dieser
Bezeichnungen geht hervor, wie wenig sie geeignet waren, einem
System der Differentiation unterlegt zu werden. Am schwierig-
sten war dabei wohl die Frage zu lösen, welcher Art die Ein-
kommen zuzuzählen seien, die aus ersparten, aber ursprünglich
durch eigene Arbeit gewonnenen Kapitalien flössen. Alle diese
Schwierigkeiten zusammen mit denen, die sich aus der bestehen-
den Einkommensteuerorganisation und aus den finanziellen Be-
fürchtungen heraus ergaben, erwiesen sich für die erste Zeit,
in der die Einkommensteuer bestand und nur als zeitweiliges
Finanzmittel betrachtet wurde, als schwerwiegend genug, um
jedem Reformversuch von vornherein die Aussicht auf Ver-
wirklichung zu benehmen.
Kleinere Fragen, die sich aus der Forderung, die persönliche
Leistungsfähigkeit des Einkommensteuerzahlers zu berücksich-
tigen, ergaben, berührten mehr besondere Fälle, denen eine
durchgängige Allgemeinheit nicht zukommen konnte und die
deshalb auch auf die Gesamtorganisation der Steuer kaum oder
doch nur gering einwirkten. Bei der weiten Ausbreitung, welche
die Lebensversicherung als eine Form der Hinterbliebenenver-
sorgung in England schon frühzeitig gefunden hatte, war es
hier zunächst die Frage, ob der für die Lebensversicherungs-
prämie gezahlte Betrag, der doch immerhin eine unumgängliche
und dauernde Verminderung des Gesamteinkommens bedeutete,
von dem veranlagten Einkommen in Abzug gebracht werden
— 164 —
dürtc oder nicht. In der Pitt Steuer und auch in dem \i\n-
kommensteuergesetz von 1806 war das Recht, den Betrag der
Lebensversichcrungsprämie in Abzug zu l^ringen, den Ein-
kummen unter 1 50 a: zugestanden worden, während das Cicsetz
von 1842 diese Berechtigung nicht enthielt. Da aber das Inter-
esse des Staats wie in vielen Fällen sich auch hier mit dem
seiner Glieder deckt, und eine ausreichende Sicherstellung der
Hinterbliebenen dort, wo die Familie fast ausschließlich auf
das Einkommen ihres Ernährers angewiesen ist, vom Staat
durchaus nicht beeinträchtigt werden darf, so fand diese Frage
ihre Regelung schon frühzeitig in dem Einkommensteuergesetz
von 1853, indem hier das Recht, die Prämie vom gesamten ver-
anlagten Einkommen in Abzug zu bringen, erneuert wurde, unter
der doppelten Voraussetzung, daß die steuerfreie Prämie Vg ^^^
Gesamteinkommens nicht überstieg und daß in den Fällen, wo
das Gesamteinkommen durch den Abzug der Prämie unter die
Befreiungsgrenze fiel, eine völlige Steuerfreiheit nicht begründet
wurde ^^).
Eine zweite Erleichterung des Steuerzahlers, die in der
Pitt-Steuer in weitestem Umfang vorgezeichnet war und auf
die Leistungsfähigkeit Bezug nahm, welche durch die Zahl der
von einem bestimmten Einkommen lebenden Personen abhing,
fand ihre Erneuerung erst in allerletzter Zeit in dem Einkommen-
steuergesetz von 1909, in welchem für jedes Kind unter 16 Jahren
ein Abzug von 10 £ v^om Gesamteiakommen gestattet wurde,
wenn dieses 500 £ nicht überstieg.
Schließhch ergab sich auch eine für weitere Kreise in Be-
tracht kommende Erleichterung der Steuerzahler dadurch, daß
in Übereinstimmung mit der entwickelteren Auffassung des
persönlichen Verhältnisses der Ehegatten die Ehefrau, die
eigenes Einkommen bezog, als selbständiges Steuersubjekt an-
erkannt wurde. In dem Gesetz von 1842 war das selbständige
Einkommen der Ehefrau noch als Teil des Einkommens ihres
Gatten betrachtet und veranlagt worden, so daß durch das Ein-
kommen der erwerbstätigen Ehefrau zahlreiche Einkommen
der Besteuerung unterworfen wurden, die für sich allein steuer-
frei gewesen wären. Dieser Zustand wurde 1894 und 1897
dahin abgeändert, daß in den Fällen, wo das gemeinsame Ein-
97) Vgl. hierzu Income tax Act 1853, sect. 54.
~ 165 -
kümmen die Summe von 300 JC nicht überstieg, für die Zwecke
der Steuerbefreiung, der Ermäßigungen und sonstiger Vergün-
stigungen beide Einkommen getrennt veranlagt und die ent-
sprechenden Abzüge und Befreiungen von jedem der beiden
Einkommen gemacht werden durften ^^^
Erreichten diese Reformen ihren Zweck, ohne die Grund-
lagen der Einkommensbesteuerung zu berühren, so war in der
Folge bei den beiden großen Reformfragen der Gradation und
Differentiation, deren Lösung im Interesse einer gerechten Aus-
gestaltung der Einkommensteuer notwendig v/ar, eine Änderung
dieser Grundlagen nicht zu vermeiden. Wir haben im ersten
Teil dieser Arbeit verfolgt, wie der Gedanke einer Gradation
der Einkommensteuer aus dem finanziellen Bedürfnis einer Er-
tragsvermehrung heraus auf das Abatementsystem hinführte,
mit dessen Anwendung sich eine Erhöhung der Steuer ermög-
lichen ließ, ohne die unteren Einkommensklassen über Gebühr
zu belasten. In diesen Anfängen seiner praktischen Verwendung
hat das Abatementsystem mit dem Gedanken einer durchgehen-
den Gradation der Einkommensteuer nichts gemein. Es ist
nichts weiter als ein methodisches Mittel, den finanzpolitischen
Zweck der Ertragssteigerung zu erreichen, ohne die gesamte
Organisation der Einkommensteuer den neuen Aufgaben durch
eine umfassende Reform anpassen zu müssen. Der Gedanke
der Gradation dagegen ist rein steuertheoretischer Natur, der
sich auch dem finanziellen Augenblicksbedürfnis gegenüber
durchzusetzen versucht und in den Vordergrund der Beurteilung
einer Steuer nicht ihren absoluten Ertrag, sondern die durch sie
bewirkte Belastung rückt. So war es kein steuertheoretisches
Prinzip, durch das bis zum Jahre 1894 hin die Festsetzung der
Abatements beherrscht wurde, sondern einfach ein finanzpoli-
tisches, das darauf Bedacht nahm, daß eine bestimmte Klasse
(und nur diese Klasse) unter dem doppelten Druck der zu-
nehmenden indirekten und der direkten Besteuerung nicht zu
sehr zu leiden hatte. So lag in der Bestimmung der Höhe
des Abatements und in der Begrenzung der Einkommensklasse,
welcher der Abzug zugute kommen sollte, eine gewisse Will-
kürlichkeit, die nur durch die ungefähren Vorstellungen be-
3^) Vgl. hierzu Finance Act 1894, sect. 34 und subsect. 2 und Finance
Act 1897, sect. y.
-- i66 —
schiäiiki wurde, die man sich ührr die ( ioaini^tcuerbclastung,
von der eine bestimmte Klasse getroffen wurde, maehte.
Von dieser finanzpolitischen Auffassung des Cjradations-
gedankens ist die steuerpohtische und theoretische Vorstellung
der Gradation als eines die gesamte Lastenverteilung nach der
persönlichen Leistungsfähigkeit regelnden (Grundsatzes durch-
aus unterschieden. Indem man nach den allgemeinen wirtschaft-
lichen Verhältnissen eines Landes, nach der sozialen Gliederung,
der Kaufkraft des Geldes und den herrschenden Lebensgewohn-
heilen für die nach Einkommensstufen eingeteilten Klassen eine
normale Lebenshaltung annimmt, ergibt sich hieraus die Folge-
rung, daß eine Steuerleistung um so härter empfunden wird,
je mehr durch sie das Verhältnis des frei verfügbaren Ein-
kommens zu dem Einkommensteil verringert wird, der für die
Aufrechterhaltung der angenommenen normalen Lebenshaltung
notwendig verausgabt werden muß. Indem sich dieser Grund-
gedanke etwa seit den 80 er Jahren durchzusetzen begann, ge-
wann die Forderung einer verhältnismäßigen Verteilung der
Steuerbelastung immer mehr Boden, bis sie 1894 sowohl für
die direkte Nachlaßvermögensbesteuerung, als auch für die
Einkommensteuer grundsätzlich anerkannt wurde. Während sich
aber die Gradation bei der Nachlaßbesteuerung durch die Be-
messung der Steuerlcistung nach einem mit den Vermögens-
stufen fortschreitenden Steuerfuß ermöglichen ließ, stieß der-
selbe Grundgedanke bei der Einkommensteuer auf die Schwie-
rigkeit, den für verschiedene Stufen des Gesamteinkommens ver-
schieden hohen Steuerfuß mit dem Grundsatz der Erhebung an
der Quelle in Einklang zu bringen, da die an der Quelle erfaßten
Teileinkommen nur nach einem einzigen feststehenden Satz
belastet werden konnten. Diese Schwierigkeit konnte nur da-
durch behoben werden, daß das bisher angewandte Erhebungs-
verfahren, das doch für etwa zwei Drittel aller veranlagten Ein-
kommen Geltung hatte, dem neuen Steuerprinzip zum Opfer
gebracht oder ein Ausweg gefunden wurde, der eine andere
Form der Gradation ermöghchte und doch die Aufrechterhaltung
des einheitlichen Steuersatzes und damit die Erhebung an der
Quelle zuließ.
Dieser Ausweg war in dem System der Abatements vorge-
wiesen und bei der Eigentümlichkeit des englischen Volks-
charakters, der stets an das Vorhandene und läqgst Bestehende
— 167 —
anzuknüpfen sucht, einen jähen Bruch mit der i'berüeferung
aber zu meiden strebt, ist es nicht vervvunderhch, daß man diesen
Ausweg wähhe. Zudem bestand die allgemeine Überzeugung
fort, daß die Ertragsfähigkeit der Einkommensteuer in erster
Linie auf dem angewandten Erhebungsverfahren beruhte, durch
das nicht nur für zahlreiche Einkommensarten eine Hinter-
ziehung der Steuer unmöglich gemacht wurde, sondern auch
die Versuchung einer betrügerischen Deklaration in weitem
Umfang ausgeschaltet wurde. In dem Budget von 1898 fand
die Gradation auf Grund des Abatementsystems in der bisherigen
Entwicklung ihren Abschluß, und wir werden in folgendem die
Wirkungen festzustellen suchen, welche diese Lösung der Re-
formfrage auf den Einkommensteuerertrag, den Charakter und
die Organisation der Einkommensteuer ausübte, um von da
aus die Bedingungen zu finden, welche im weiteren Verlauf
der Entrwicklung dazu führten, daß die Ausdehnung der Gra-
dation auf eine von dem Abatementsystem methodisch verschie-
dene Weise versucht wurde.
8 D-
Das Abatementsystem und die Deklaration des Ge-
samteinkommens.
Von allen \'eränderungen, welche die Einkommensteuer in
ihrer Entwicklung seit 1842 erfuhr, hat das Abatementsystem
am tiefgreifendsten auf die Gestaltung der Steuer eingewirkt.
Am leichtesten erkennbar ist die Beeinflussung der Ertragsent-
wicklung, der wir uns jedoch im Zusammenhang mit den übrigen
für diese bedeutsamen Fragen erst in einem späteren Abschnitt
zuwenden werden. Hier aber kommen für uns vor allem die-
jenigen Momente in Betracht, die mit dem Abatementsystem
in die Gesamtorganisation der Einkommensteuer eingeführt
wurden und für diese eine Entwicklung einleiteten, die bis
jetzt noch nicht zum Abschluß gelangt ist, die aber in wenigen
Jahren das Wesen der Peel- Steuer grundsätzlich verändert hat.
Im Rahmen der Gesamtorganisation der Peel- Steuer be-
trachtet, bedeutet das Abatementsystem einen Fremdkörper, der
sich nur widerstrebend der bestehenden Steuerform einfügte
und für diese zunächst mannigfache Hemmungen hervorrief.
Solange das Abatement auf eine einzige Einkommensklasse be-
— 168 —
schränkt blieb, waren die entstehenden Schwierigkeiten nicht
so groß, obwohl sie sich auch da geltend machten. Da zalüreiche
Einkommensteile von der Steuer getroffen wurden, bevor sie
dem letzten Einkommensempfänger zuflössen, bevor also der
Anspruch auf einen Steuerabzug durcii Deklaration des Gesamt-
einkommens begründet werden konnte, machte sich deshalb in
vielen Fällen eine Rückzjililung bereits gezahlter Steuerbeträge
notwendig, womit nicht nur eine finanzielle Benachteiligung
des betreffenden Steuerzahlers, sondern auch eine Erschwerung
und Verteuerung der Steuererhebung verbunden war, ein Nach-
teil, der sich freilich in ähnlicher Weise auch mit der völligen
Steuerbefreiung verband. Die statistischen Grundlagen für diese
Tatsachen sind sehr mangelhaft, doch läßt sich von dem Umfang
der Rückzahlungen ein ungefähres Bild aus den Angaben machen,
daß von 1893/94 bis 1910/11 der Betrag der für Abatements
geleisteten Vergütungen bereits erhobener Steuern von 100 000 £
auf 900000 £ anwuchs und im letztgenannten Jahr die Zahl dieser
Vergütungen 121 529 betrug, während unter dem Titel ,, Steuer-
befreiung" an 375508 Einkommensempfänger ein Betrag von
974000 £ zurückbezahlt wurde. In Betracht kommt dabei noch
der Umstand, daß die Zalil derer, die einen Anspruch auf Abate-
ments erheben, von Jahr zu Jahr nicht nur mit der Zahl der
Steuerpflichtigen überhaupt, sondern darüber hinaus mit der
sich ausbreitenden Vertrautheit mit ^dem Steuerverfahren und
mit der zunehmenden steuerlichen Gesamtbelastung wächst, bis
der Zustand erreicht ist, daß jeder Einkommcnsteuerzahler, der
einen gesetzlichen Anspruch auf die Ermäßigung hat, diesen
Anspruch auch tatsächlich geltend macht.
Wie sehr das Abatementsystem auf den tatsächlichen Steuer-
ertrag einwirkte, tritt in den nachstehenden Tabellen deutlich
hervor. Insbesondere zeigt die Tabelle 12 b wie groß der
Teil des erfaßten Einkommens war, der infolge des Abatement-
systems von der Steuerpflicht befreit wurde.
Erwächst hieraus eine zunehmende Erschwerung der tech-
nischen Handhabung der Steuer und eine Herabminderung des
relativen Steuerertrags durch eine Steigerung der Erhebungs-
kosten, so erfuhr die gesamte Einkommensteuerorganisation eine
Veränderung ihres früheren Charakters durch den Umstand,
daß die frühere leichte Anpassungsfähigkeit der Steuer an jeden
augenblicklichen Bedarf mit der Ausbreitung und Erweiterung
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7,2
1,4
20,3
des Abatementsystems mehr und mehr verloren ging. Freihch
gilt dies in weit höherem Maß erst seit der Durchführung der
Differentiation und der Einführung der super-tax, durch welche
neben dem Normalsteuerfuß noch drei von diesem verschiedene
Steuersätze zur Anwendung gelangten, so daß jede Erhöhung
oder Herabsetzung des Normalsatzes von einer entsprechenden
Veränderung der übrigen Sätze begleitet sein muß. Zum min-
desten erscheint aber eine Veränderung der Steuerhöhe auch
schon durch das Abatementsystem von 1898 sehr erschwert, da
mit der zunehmenden Gesamtbelastung sich auch die Verteilung
der Lasten auf die einzelnen Einkommensklassen ändert, eine
neue Festsetzung der Höhe und des Umfangs der Abatements
daher notwendig wird. So entsteht hieraus das Bedürfnis, den
früher aus finanziellen Gründen üblichen häufigen Wechsel der
Steuerhöhe zu vermeiden, womit aber der Einkommensteuer die
frühere Sonderstellung, die ihr im jährlichen Budget als dem
ausgleichenden Faktor zukam, verloren geht. Die Möglichkeit
jedoch, durch eine Erhöhung der Einkommensteuer einen erheb-
lichen budgetmäßigen Fehlbetrag zu decken, wird damit noch
nicht beeinträchtigt, wenn auch die Versuchung, jeden Fehl-
betrag auf diese Weise zu decken, durch die Notwendigkeit
einer umfassenden Neuregelung der Abatements und neuerdings
auch der vom Normalsatz abweichenden Steuersätze für die
Arbeitseinkommen und die super-tax vermindert wird.
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174 —
Außer (litst'ii Rütku irkungni dc^ AbaU-incmsystems, durch
die einmal ck-r rchiiixc Ertrag der Steuer und zum anderen ihre
finanzpolitische CTcbrauchsfähigkeit beeinflußt wurden, erwuchs
aus dieser Form der Gradation eine fortschreitende Umwand-
liuig der Grundsätze, auf welchen die Organisation der Peel-
Steuer beruhte. Der Grundsatz der Erfassung an der Quelle
konnte zwar bei der Form der Gradation, wie sie mit dem Abate-
mentsystem gefunden war. aufrecht erhalten werden, wenn er
auch in seiner praktischen Durchführung durch die Notwendig-
keit der Rückzahlungen eine Einschränkung erlitt. Da aber das
Anrecht auf die Abatements nur durch die Deklaration des Ge-
samteinkommens begründet werden konnte, so wurde mit der
Ausdehnung des Abatementsystems der Grundsatz, nur die ein-
zelnen Teileinkommen, nicht aber das Gesamteinkommen, durch
Deklaration festzustellen, schrittweise eingeschränkt. Dieser Vor-
gang" ist statistisch nicht vollkommen zu erfassen, da die eng-
lische Einkommensteuerstatistik die Zahl der Veranlagungen
und ihren Betrag unter den einzelnen Einkommensklassen nur
für die unter den schedules D und E veranlagten Einkommen
wiedergibt und auch hier keine völlige Einheitlichkeit in der
Zusammenfassung der Ziffern walten läßt. Der Umfang, den
die Deklaration des Gesamteinkommens infolge der Abatements
angenommen hat, läßt sich jedoch schätzungsweise ermitteln.
Die Zahl sämtlicher Abatements betrug im Jahre 1910/11 etwas
über 808000, während die Zahl sämtlicher unter den schedules D
und E erfolgten Veranlagungen rund 730000 betrug. Legt man
diese Zahl der Schätzung zugrunde, so läßt sich die Gesamtzahl
aller Einkommensteuerzahler unter den fünf schedules auf rund
I 300000 festsetzen, wobei die Zahl jedoch eher zu hoch, als
zu niedrig gegriffen ist^^). Darnach sind heute allein rund 65 »o
aller Einkommensteuerzahler gezwungen, eine Deklaration des
Gesamteinkommens abzugeben, wenn sie von der ihnen zukom-
menden Erleichterung Gebrauch machen wollen. Unsicherer als
diese Schätzung ist es, den Anteil des durch Gesamtdeklaration
offenbarten Einkommens an gesamten überhaupt erfaßten Ein-
kommen zu berechnen, da hier nur für die beiden schedules D
99) Nimmt man die Zahl der Einkoinmensteuerzahler mit i 300000 an,
so ergibt sich als durchschnittliches Einkommen ein Betrag von 800 £,
während unter sched. D das Durchschnittseinkommen 930 £ und unter E
340 £ beträgt.
— 175 —
und K die Einkommen ihrem Betrag nach ermittelt werden
können, welche unter die Abatementsgrenze von 700 £ fallen.
Macht man die Voraussetzung, daß von allen unter dieser Grenze
liegenden Einkommen die entsprechenden Abatements auch
tatsächlich in Abzug gebracht wurden feine Voraussetzung, die
jetzt wohl als erfüllt gelten darf), so betrug im Jahre 1910/1 i
das unter die Einkommensstufen von 160 bis 700 £ fallende
Einkommen absolut und in Prozente der entsprechenden Ge-
samtsumme
unter sched. D
(gewerbliche Einkommen) 73 Mill. £ =^ 14,60/0
unter sched. D
(Gehaltseinkommen) 22 ,, ,, = 88,0 „
sched. D insgesamt 95 Mill. £ = 18,00/0
unter sched. E 84 Mill. £ = 77,00/0.
Die gewerblichen Einkommen unter sched. D lassen sich
jedoch nicht leicht zum Maßstab der Einkommensverteilung
unter den übrigen schedules machen, da sich unter diesen Ka-
pitalskonzentrationen von dem Umfang, wie sie unter sched. D
durch die modernen Aktienunternehmungen ermöglicht werden,
nur selten vorfinden mögen. So läßt sich für die Gesamtsteuer
der Prozentanteil der unter das Abatementsystem fallenden und
durch Gesamtdeklaration erfaßten Einkommen auf etwa 25 bis
30 0/0 aller überhaupt erfaßten Einkommen festsetzen. Nimmt
man als durchschnittHches Einkommen unter jeder Abatements-
stufe nur die Untergrenze (etwa 200, 300, 400, 500 und 600 £),
so läßt sich aus der Zahl der Abatements ein Einkommensbetrag
von rund 200 Mill. £ errechnen, der etwa 20 0/0 des gesgjnten
erfaßten Einkommens darstellt, so daß also die Annahme von
25 — 300/0 wohl berechtigt erscheint.
So gelangen wir zu dem sehr wichtigen Ergebnis,
daß allein durch das Abatementsystem der eine
Grundzug der Peel-Steuer in weitem Umfang sowohl
in bezug auf die Zahl der Steuerzahler, als auch in
bezug auf den Einkommensbetrag seine Geltung
verloren hat und praktisch durch die früher stets
so energisch abgelehnte Deklaration des Gesamt-
einkommens ersetzt worden ist.
— 1/6 —
Dieses Ergebnis wurde nun aber nofh verstärkt durch die
Reformen von 1907 und 1909, welche die JCinkommensteuer-
organisation durch die Einfülirung der Differentiation und der
super-tax, die beide wiederum nur auf Grund der Deklaration
des Gesamteinkommens möglich wurden, noch weiter umge-
bildet haben. Diese abschliefienden Reformen und die von
ihnen eingeleitete, allmählich sich vollziehende Umgestaltung
der Einkommensteuer darzustellen, bleibt dem nächsten Ab-
schnitt vorbehalten.
§6.
Differentiation und S u ]) e r - T a x.
Der im Mai 1906 ernannten parlamentarischen Einkommen-
steueruntersuchungskommission war die Aufgabe gestellt wor-
den, die Möglichkeit und die Durchführbarkeit einer über das
bestehende Abatementsystem hinausgehenden Gradation der Ein-
kommensteuer und der Differentiation zu prüfen und durch prak-
tische Vorschläge den Weg zu ihrer Verwirklichung zu weisen.
Der von dieser Kommission im selben Jahr veröffentlichte Be-
richt 100^ stellt eine klare und umfassende Behandlung aller
Fragen dar, die mit den beiden großen Problemen der Gradation
und Differentiation verknüpft sind. Wir machen ihn deshalb
zur Grundlage der folgenden Darstellung.
Den breitesten Raum der Untersuchung nahm die Frage
einer Erweiterung der Gradation in Anspruch, die in der dop-
pelten Absicht, eine Erhöhung des Gesamtertrags der Steuer
und eine Erleichterung der unteren Einkommensklassen zu be-
wirken, gefordert wurde. Von den verschiedenen Möglichkeiten,
den Gradationsgedanken in der Einkommensteuer zu verwirk-
lichen, wurde das unmittelbare Verfahren einer progressiven und
auf der durchgehenden Deklaration des Gesamteinkommens be-
ruhenden Gradation nach dem Vorbild der Nachlaßbesteuerung
von vornherein abgelehnt, da man der Aufgabe der Erhebung
an der Quelle des Einkommens noch immer hartnäckig wider-
strebte und keinen Ausweg fand, diesen Grundsatz mit einer
von unten nach oben einheitlich durchgeführten Gradation zu
vereinigen.
100) Report from the Select Committec on Income tax. Pari. Papcrs.
Xov. 1906.
I
177 —
Aber auch gegen eine allzu weitgehende Ausdehnung der
Gradation in der f^orm des Abatementsystems machten sich
schwerwiegende Bedenken geltend, wenn auch eine Erweiterung
dieses Systems bis zu enier Einkommensgrenze von loco £ als
unbedenkhch in Vorschlag gebracht wurde. Den Ausschlag
gaben hier die finanziellen Erwägungen, die durch die Rück-
wirkung der Abatements auf den Steuerertrag nahegelegt wur-
den. Da die Gradation nicht auf Kosten des Ertrags durchge-
führt werden konnte, so machte jede Erweiterung des Systems
eme Erhöhung des Normalsteuersatzes notwendig. Die Folge
davon aber war ein weiteres Anwachsen der Beträge, welche an
der Quelle von solchen Einkommen erhoben wurden, die einen
Anspruch auf Abatements hatten, und in der Folge daher wieder
rückvergütet werden mußten. Gegen dieses System, durch das
den Steuerzahlern alljährlich erhebliche Beträge zeitweilig ent-
zogen wurden, auf die der Fiskus keinen Anspruch hatte, mußten
sich schwere wirtschaftliche Bedenken geltend machen, die um
so weniger außer acht gelassen werden konnten, als diese
Summen den weniger zahlungsfähigen Klassen entzogen wurden.
Durch eine, theoretisch zwar mögliche, Ausdehnung des Abate-
mentsystems bis zu den höchsten Einkommen hinauf, wurde aber
nicht nur dieser Übelstand ins Ungemessene erweitert, sondern
auch eine Steigerung der technischen Geschäftslast bewirkt, die
in kurzer Zeit zu einer Lahmlegung der ganzen Steuermaschine
fuhren konnte, da jeder einzelne Anspruch auf Ermäßigung be-
sonders behandelt werden mußte. Aber auch für die Steuer-
zahler ergab sich aus einem solchen System eine Fülle von
Hindernissen und Reizungen, die geeignet waren, die Steuer zu
emer der am unwilligsten ertragenen zu machen. So ergab
sich für das Abatementsystem eine Zweckmäßigkeitsgrenze, die
dann erreicht wurde, wenn der verursachte ErtragsausfaH zu
seiner Ausgleichung eine übermäßige Erhöhung des Normal-
steuerfußes notwendig machte und wenn die Summe der rück-
zahlbaren Steuerbeträge eine Höhe erreichte, die eine wirt-
schaftliche Gefahr in sich barg. Wo diese Grenze lag, konnte
freilich kaum anders als durch die Erfahrung ermittelt werden,
wenn auch von vornherein eine Erweiterung der Abatements
bis zu einer Einkommensgrenze von looo £ vorgeschlagen wer-
den konnte 101)
IUI) Vgl. hierzu den Report 1906, S. 12— 17.
Zeitschrift für die ges. Staatswissenschaft. Ergänzungsheft 48. 12
- 178 -
Wurde so eine durchgehende Gradation der Einkommen-
steuer von der Kommission sowohl in ihrer direkten und pro-
gressiven Form, als auch in ihrer indirekten und degressiven
l^orm abgelehnt, so ließ sich eine Erweiterung der Gradation
überhaupt nur noch durch ein drittes Mittel ermöglichen, das
sich als eine Verbindung der beiden andern Formen darstellt :
durch eine Zusatzsteuer (super-tax), die neben und über dem
für alle Einkommen geltenden Normalsatz mit einem besonderen
Steuersatz auf diejenigen Einkommen gelegt wurde, die man
durch die Gradation stärker zu belasten beabsichtigte. Dieses
x\uskunftsmittel ermöglichte die Beibehaltung des Normalsatzes,
der so für die Erfassung der Einkommen an der Quelle in An-
wendung kommen konnte, es machte aber für diejenige Klasse
\on Einkommen, auf -welche die Zusatzsteuer fallen sollte,
wiederum die Deklaration des Gesamteinkommens notwendig,
da der Zuschlag nur auf das Gesamteinkommen gelegt werden
konnte. Hierin aber lag ein sehr bedenkliches Moment, da die
Deklaration hier nicht in der Absicht einer Erleichterung, son-
dern einer schärferen Belastung gefordert wurde, womit die
Versuchung zu betrügerischer Deklaration doch überaus ver-
stärkt wurde. Indem als Untergrenze für die Zusatzsteuer
5000 £ in Vorschlag gebracht wurden, gestaltete sich darnach
die Gradation der gesamten Einkommensteuer in der Weise,
daß die Einkommen von 160 — 700 £ durch das Abatement-
system abgestuft, die umfangreiche Mittelstufe der Einkommen
\on 700 — 5000 •£ ohne jeden Abzug zum Normalsatz besteuert,
die Einkommen über 5000 £ aber außer mit dem Normalsatz
noch mit einem Zuschlag zu diesem belastet wurden. Das hatte
freilich zur Folge, daß damit die Deklaration des Gesamtein-
kommens auf mehr als 90 0/0 aller Einkommensteuerzahler mit
etwa 83 0/0 des gesamten erfaßten Einkommens ausgedehnt
wurde. So ließ die Kommission von 1906 den einen Grundzug
der Peel- Steuer um so leichter fallen und schlug die Einführung
der zwangsweisen Deklaration des Gesamteinkommens vor, als
nur auf diese Weise die super-tax sich erfolgreich und ohne
Gefahr umfangreicher Steuerhinterziehungen ins Werk setzen
ließ 102).
Die tatsächliche Einführung der super-tax erfolgte erst mit
dem Budget von 1909, doch erfuhr der Vorschlag der Kom-
102) Vgl. Report 1906, S. 7 — 11.
— 179 —
mission von 1906 eine Änderung insofern, als die Steuerpflicht
zwar erst mit einem Einkommen von 5000 £ einsetzte, die Zu-
satzsteuer aber in der Weise erhoben wurde, daß sie nur für
den Einkommensteil, der 3000 £ überstieg, fällig war 1^3) £)ie
Deklaration des Gesamteinkommens wurde für alle Einkommens-
empfänger zur Pflicht gemacht und so war die Veranlassung auf-
gegeben, die in der Ad ding ton- Steuer das methodische Mittel,
die Einkommen schon an der Quelle zu erfassen, notwendig ge-
macht hatte. Damit war die subjektive Einheit der Steuer
wenigstens der Form nach wieder hergestellt, wenn ihr auch
die Bedeutung nicht zukommen kann, daß siclj die Bemessung
der Steuerleistung durchgehend nach dem beim Steuersubjekt
zusammengefaßten Gesamteinkommen richtet. Doch war mit
der so erreichten Form der Gradation die Beziehung der unter
den fünf schedules veranlagten Teileinkommen zum Steuer-
zahler wenigstens für den größten Teil aller Einkommen wieder
hergestellt und zur Bemessungsgrundlage der tatsächlichen
Steuerleistung geworden. Auf diese Weise war aber das Wesen
der Peel- Steuer so grundsätzlich verändert, daß wir es mit
einer neuen Form einer Einkommensteuerorganisation zu tun
haben, die freilich in allen ihren Teilen von der Grundabsicht
beherrscht wurde, die direkte Erfassung des Einkommens beim
Einkommensempfänger zu vermeiden und das Steuerobjekt rein
als Objekt und ohne Beziehung zum Steuerzahler zu treffen. Daß
aber diese Grundabsicht in der modernen Gestaltung der Ein-
kommensteuer nicht verwirklicht ist, und nie verwirklicht sein
kann, liegt klar genug zutage. Darum kann auch heute dem
Grundsatz der Erfassung an der Quelle nicht mehr die Bedeutung
zukommen, die er in der Adding ton- Steuer angenommen
und in der Peel-Steuer bewahrt hat. Bei dem größten Teil
der Einkommen, die unter die Abatementsgrenze fallen, erfolgt
die Veranlagung und Erhebung in direkter Weise und ebenso
bei allen denjenigen Einkommen, die nur einer einzigen Quelle
entspringen. Aber auch die Veranlagung zur und die Erhebung
der super-tax erfolgt in direkter Weise, wenn auch der Normal-
satz dasselbe Einkommen schon an der Quelle treffen kann.
Damit ist die Anwendung der Erfassung an der Quelle als dem
einzig möglichen methodischen Erhebungsverfahren in weitem
103) Vg\. Finance Act 1910, Nr. i (for 1909).
i8o —
Umfang zurückgedrängt, so daß ihm für diejenigen Fälle, wo
der Grundsalz noch weiter Anwendung findet, keine andere Be-
deutung zukommt, als ein teclinisch abgekürztes Verfahren der
Steuerleistung darzustellen. Statt daß derjenige Kinkonimens-
teil, der als Steuerleistung dem Fiskus zukommt, t-rst dem Ein-
kommensempfänger zugeführt w ird, und von diesem dann wieder
an die Staatskasse ausgezahlt wird, wird der Steuerbetrag gleich
von den Auszahlungsstellen einbehalten und der Staatskasse
überschrieben. Auf diese Weise gewinnt der Grundsatz der
Erfassung einen ähnlichen Charakter, wie er allen jenen finanz-
technischen Operationen und Einrichtungen eigen ist, die auf
eine Abkürzung des Geldumlaufs und eine Vereinfachung wech-
selseitiger Finanzgeschäfte gerichtet sind. Diese Bedeutung des
„stoppage at the source"-Grundsatzes ist bei der Höhe des
dafür in Betracht kommenden Barbetrags nicht zu unterschätzen
und wird auch in jeder weiteren Umgestaltung der Einkommen-
steuerorganisation nie \ erloren gehen können.
Wenden wir uns nunmehr dem anderen Reformproblem,
mit dem sich die Einkommensteuerkommission von 1906 be-
schäftigte, der Frage der Differentiation, zu, so erkennen wir,
daß der praktischen Verwirklichung dieser Forderung weniger
die Schwierigkeit, sie dem bestehenden Steuerorganismus ein-
zugliedern, als die einer begrifflich klaren Bestimmung der
verschiedenen Einkommensarten entgegenstand. Diese Schwie-
rigkeit konnte freilich teilweise durch eine Beschränkung der
Differentiation auf die niederen Einkommensklassen etwa bis
zu einer Grenze von 3000 £ vermindert werden, da bei der Ein-
kommensgewinnung der Anteil der persönlichen Momente, der
Arbeitskraft, des Fleißes usw., bei den kleineren Einkommen
größer sein wird, während bei der Bildung der großen Ein-
kommen die Bedeutung des Kapitals zu überwiegen pflegt. Die
technisch einfachste Lösung der Differentiatioiisfiage lag in
der Anwendung eines besonderen gegenüber dem Normalsatz
ermäßigten Steuersatzes, der für den ,, verdienten" Teil des
Gesamteinkommens in Anwendung gelangen konnte. Dafür war
freilich wieder die unumgängliche Voraussetzung die direkte Ver-
anlagung und Erfassung des Gesamteinkommens, so daß auch
auf diese Weise die Tendenz der Einkommensteuerentwicklung
auf die Herstellung der subjektiven Einheit der Besteuerung
verstärkt wurde und das Erhebungsverfahren an der Quelle eine
- i8i —
weitere Einschränkung seines methodischen Charakters edittio*)
Durchgeführt wurde die Differentiation in den Budgets von
1907 und 1909 in der Weise, daß der Steuerfuß bei einem Gc
samteinkommen unter 2000 £ für „earned incomes" auf 9 d und
bei einem Gesamteinkommen bis zu 3000 £ auf 12 d herab-
gesetzt wurde lOö)
Mit diesen Reformen ist die moderne Einkommensteuerent-
wicklung zu ihrem vorläufigen Abschluß gelangt. Wir haben
nun gesehen, wie jede dieser Reformen schrittweise eine Ver-
änderung der Organisation der Einkommensteuer bewirkt und
ihren Charakter umgestaltet hat. Im Verlauf dieser Entwick-
lung sind die beiden Grundzüge der Peel- Steuer entweder ver-
loren gegangen oder derartig umgestaltet worden, daß ihnen
in der heutigen Einkommensteuer eine durchaus andere Bedeu-
tung zukommt, als bei der Wiedereinführung der Einkommen-
steuer im Jahre 1842. Versuchen wir die Grundtendenz dieser
Entwicklung in einem Satz wiederzugeben, so läßt sie sich dahin
bestimmen, daß sie darauf gerichtet war, das mit der Adding-
tonschen Einkommensteuer verloren gegangene Personalmerk-
mal der subjektiven Einheit der Einkommensbesteuerung wieder
herzustellen, und die Bemessung der Steuerleistung nicht von
dem Objekt allein, sondern auch von der persönlichen Leistungs-
fähigkeit des Steuerzahlers abhängig zu machen. Diese Ent-
wicklung ist noch keineswegs abgeschlossen, da die Gradations-
idee in der Einkommensteuer sich einer Form bedienen mußte,
die ihr nicht so angemessen ist, daß sie sich in ihr voll und frei
entfalten kann. In welcher Richtung sich diese Fortentwicklung
vollziehen wird, kann in dieser Arbeit nicht besprochen werden.
Daß sie aber als eine Folge der finanziellen und theoretischen
Anforderungen kommen wird, ist nur die einfache Folgerung
aus dem Verlauf der bisherigen Entwicklung.
Mit diesen mannigfachen Reformen aber hat sich nicht
nur die Organisation der Einkommensteuer, sondern vor allem
auch die finanzpolitische Verwendungsmöglichkeit dieser Form
der Ertragsgewinnung verändert. Der früher leicht zu hand-
habende und einfache Steuerapparat ist im Verlauf seiner Ent-
wicklung zu einem äußerst umfangreichen, darum aber auch
104) Vgl. Report 1906, S. 18 — 21.
105) Vgl. Finance Act 1907, sect. 19 und Finance Act 1910, Nr. i.
— l82 —
schwer beweglichen Organismus ausgewachsen, der nicht mehr
die Eigenschaft besitzt, allen Augenblicksforderungen gerecht
zu werden. Daß aber seine finanzpolitische Bedeutung darum
nichts eingebüßt hat, werden wir aus der abschließenden Dar-
stellung der Ertragsentvvicklung zu erkennen vermögen.
3. Kapitel.
Die Ertragsentwicklung.
§7.
Die Faktoren der Ertrags bildung.
Der Zweck eines jeden Besteuerungsverfahrens ist die Er-
zielung einer Einnahme, die für die Deckung des jährlich ent-
stehenden Bedarfs verwendet werden kann. Die Erreichung
dieses einfachen und selbstverständlichen Zwecks (der freilich
nicht zu allen Zeiten so einfach und selbstverständlich erschien
und vor allem in den mit dem Prämiensystem verbundenen
Schutzzöllen einen schroffen Gegensatz findet) ist bei jedem Be-
steuerungsversuch wesentlich von drei Faktoren abhängig, die
zur Bildung des Ertrags zusammenwirken müssen. Das grund-
legende Moment ist dabei mit dem Steuerobjekt selbst ge-
geben, an welches sich das Steuerverfahren anschließt und
welches den ganzen Umfang der Ertragsmöglichkeit
bestimmt. Das andere Moment ist die besondere Form der
Steuerorganisation, von deren Tauglichkeit zu einer mög-
lichst vollständigen Erfassung des Objekts die Sicherung
der Ertragsmöglichkeit abhängt, und das dritte ist der
jeweilige Steuersatz, der zur Anwendung gelangen soll und
der die Höhe der Steuerleistung bestimmt, die im Hinblick
auf den zu deckenden Bedarf von dem Steuerzahler gefordert
wird. Alle drei Faktoren sind nun aber selber wieder mannig-
faltig bestimmt und stehen vor allem gegenseitig in einem
engen Verhältnis in der Weise zu einander, daß mit der beson-
deren Gestaltung des einen auch die Form der anderen be-
einflußt wird, und daß der Ertrag stets als Produkt der drei
Faktoren erscheint. In der Tabelle 1 1 kommt die Bedeutung
des ersten dieser drei Faktoren zur Anschauung, während Ta-
belle 12 die hemmende Rückwirkung der Abatements auf den
Ertrag zeigt. In den folgenden Tabellen 13 a — e findet dagegen
i83
die tatsächliche Ertragsgestaltung, wie sie sich aus dem Zu-
sammenwirken aller Faktoren ergibt, ihre Darstellung.
Tab. 13. Die Ertragsentwicklung,
a) Der Pennyertrag.
Jahr
1 j Pennyertrag
Änderungen in der Einkommensteuer- Penny- in % des
Organisation ertrag ges. erfaßten
Einkommens
1842/3
> Keine
0,772
0,30
52/3
0,809
0,30
53/4
1 Herabsetzung der Befreiungsgrenze auf ; 1.004 j 0,32
/ ioo£ , Ausdehnung d. Steuer auf Irland 1,192 ' 0 3^
62/3
63/4
1 Abatements für Einkommen von 100 bis i 1.2 18 | 0,32
71/2
/ 200 £ im Betrag von 60 £
1,650 0,34
72/3
»
1 80 £ Abatements für Einkommen von
/ 100 — 300 £
1,724 0,33
75/6
J.935
0,33
76/7
Erhöhung d. Befreiungsgrenze auf 150 £ ;
Abatements für Einkommen von 150 bis
400 £
1,881
0.33
82/3
1,962
0,32
92/3
2,239
0,31
93/4
2,191
0,31
94/5
1 Erhöhung d. Befreiungsgrenze auf 160 £;
Abatements für Einkommen von 160 bis
1 400 £ (160 £) und von 400 — 500 £ (ioo£)
1,982
0,29
97/8
2,198
0,30
98/9
1 Abatements von 160, 150, 120 u. 70 £ für
Einkommen v. 160 — 400, 4 — 500, 5 — 600
' und 6 — -700 £
2,284
0,30
1902/3
2,535
0,29
lo/ii
1 Seit 1907 u. 1909 Differenzierung des
/ Steuerfußes für Arbeitsekn. (g und 12 d)
2,738
0,26
Um die Bedeutung zu verstehen, welche dem Steuerobjekt
in der englischen Einkommensteuer für die Bildung und Ent-
wicklung des Ertrags zukommt, muß man sich die Eigentüm-
lichkeit der englischen Einkommensteuer vergegenwärtigen, daß
es sich hierbei um zwei gegenläufige Entwicklungslinien handelt,
aus denen im Verlauf des Besteuerungsverfahrens das besteuerte
Objekt allererst hervorging. Zwar ist das gesamte von der
Steuer erfaßte Einkommen das eigentliche Steuerobjekt und
bildet so seinem Umfang nach die Grundlage der Ertragsbildung
und seiner Entwicklung nach auch die Grundlage der Ertrags-
i84
b) Die Verteilung des Pennyertraf^s auf die schedules.
Jahr
Steuer-
fuß
d
Von dem Gesamtpennyertrag entfielen auf schedules
Insges.
'842/3
52/3
53/4
62/3
63/4
71/2
72/3
75/6
76/7
83/4
92/3
93/4
94/5
97/8
98/9
; 902/3
10/11
15
14
0.345
0.385
0,459
0,579
0,589
0,594
0,600
0,639
0,671
0,731
0,686
0,705
0,594
0,596
0,622
0,647
0,665
0,046
0,043
0,056
0,067
0,068
0,077
0,076
0,075
0,073
0,058
0,037
0,036
0,023
0,019
0,019
0,018
0,014
0,116
0,107
0,114
0,128
0,131
0,161
0,168
0.174
0,165
0,170
0,160
0,159
0.157
0.146
0,147
0,173
0,184
0,233
0,238
0,312
0,394
0,417
0,788
0.857
1,009
0,953
1.050
1,203
1.1,39
1 ,044
1,228
1,299
1.538
1,682
0,039
0,048
0.057
0,081
0,081
0,105
0,106
0,1 16
0,101
0,123
0,153
0,152
0,138
0.157
0,168
0,201
0,194
0,779
0,821
0,998
1.249
1,286
1,725
1,807
2,013
1,963
2,132
2,239
2,191
1.956
2,146
2,255
2,577
2,739
c) Prozentanteil der schedules am Pennyertrag.
Jahr
Steuer-
fuß
In % des Gesamtbetrags betrug der auf die schedules
entfallende Pennyertrag unter
A
/o
B
C
0/
/o
D
Insges.
/o
1842/3 '
7
52/3
7
53/4 1
/
62/3
9
63/4
7
71/2
6
72/3
4
75/6
2
76/7
3
83/4
5
92/3
6
93/4
1 7
94/5
8
97/8
8
98/9
8
902/03
15
lo/ii
M
44.3
5.9
14.3
29,7
5.3
47.0
5.1
13.0
29,0
5.9
46,0
5.6
11,4
31.2
5.8
46,0
5.3
10,2
31.4
6,8
45,6
5.2
10,2
32,4
6,6
35.3
4.4
9.3
45.6
6,4
33,1
4.1
9,3
47.7
6,1
31.6
3.7
8,6
50,0
6,1
34.1
3.7
8,3
4S.5
5.4
34.2
2.7
7.9
49,2
6,0
30,0
1,6
7.1
55.2
5.5
32,1
1,6
7.2
51.9
7,2
30,3
i.i
8,0
53.6
7.0
27.7
0,8
6,8
57.2
7.5
27.5
0,8
6.4
57.6
7.7
25.1
0.7
6.7
59.7
7.8
24.3
0.5
6,6
61.3
7.3
entwicklung. Der tatsächliche Einkommensteuerertrag aber
wird erst durch die Gestaltung des Besteuerungseinkommens
bestimmt, das den Teil des Gesamteinkommens darstellt, der
nach Abzug aller Einkommensteile, die auf Grund irgend welcher
- i85 -
d) Zahl und Betrag der Steuerrückzahlungen für einzelne Jahre.
Jahr
1893/4
94/5
95/6
97/8
98/9
99/00
1910/1 I
Unter d. Be-
freiungsgrenze
Zahl
Betras
— 0,187
— 0,240
— I 0,289
— I 0,339
— I 0,372
— ! 0,379
375508 I 0,974
Unter
abatements
Unter
and. Titeln
Zahl 1^^^^^?
0,103
0,138
0,202
0,248
— 0,283
— 0,313
121529 0,907
Zahl
Betrag
£
Insgesamt
Zahl
0.235 173618
0,307 213074
0,332 256467
0,304 25021 I
0,322 ! 256419
— 1 0,326 I 278874
ri6,9i4| 1,069 ' 613951
Betrag
_£
0,525
0,685
0,823
0,891
0,977
1,018
2,950
e) Die Verteilung der Stcuereinkommen nach Einkommenstufen unter
sched. D.
Tahr
1 Es betrug in den angegebenen Jahren für die
Einkommen von
160 bis 400 bis 700 bis
400 £ 700 £ 5000 £
5000 £ Ins-
u. mehr gesamt
Der Gesamtbetrag
des Einkommens
43.748 19,936
1 ^
69,231
213.588 346,503
1898/9
Die Zahl der Ver-
anlagungen
223727 37308
41180
8247 310462
Derdurchschnittl.
Einkommensbetrag
195 £
534 £
1687 £
25898 £ II 16 £
Der Gesamtbetrag
des Einkommens
56,234
21,741
76,564
282,525
437.064
I 902/03
Die Zahl der Ver-
anlagungen
220786
40530
44446
9871
315633
Der durchschnittl.
Ei: kommensbetrag
254 £
536 £
1722 £
28624 £
1384 £
Der Gesamtbetrag
des Einkommens
50,488
22,544
86,319
1
342.223 501,574
IQIo/ll
Die Zahl der Ver-
anlagungen
209307
42634
49600
10918 314453
Der Gesamtbetrag
des Einkommens
241 £
529 £
1740 £
31396 £
1594 £
stcuergesetzlicher Bestimmungen von der Besteuerung befreit
wurden, verbleibt. Durch das Verhältnis dieser beiden Ent-
wicklungslinien, deren Entstehung und Fortbildung wir in den
vorausgegangenen Abschnitten verfolgt haben, wird der Ertrag
bestimmt, indem er mit dem Wachstum der Grundlinie der er-
faßten Gesamteinkommen relativ erhöht, durch die Gegen-
wirkung der Abzüge aber wieder gehemmt oder gar vermindert
werden kann. Überbhcken wir (nach der Tabelle 13 a) diese
doppelte Entwicklung, so erkennen wir zwar ein kaum unter-
brochenes Wachstum des auf die Einheit des Steuersatzes
— i86 —
entfallenden Ertrags, das durch die all^cniL-itu- Kinkommens-
ent Wicklung verursacht wurde. Bringen wir aber diesen Ertrag
in Beziehung zum gesamten erfaßten Einkommen, so läßt sich
doch auch die abnehmende Tendenz, die seit der Ausdehnung
des Abatementsystems zum Ausdruck gelangt, nicht übersehen.
Es ist nun aber klar, daß die finanzielle Rückwirkung der Abate-
ments und der anderen Abzüge wesentlich wieder \on der
Verteilung der Einkommen abhängt, da sowohl der Gesamt-
betrag der Abzüge als auch der Betrag des entfallenden Steuer-
anteiles durch die Verteilung des Einkommens nach seiner
Höhe und der Zahl der Einkommensempfänger bestimmt wird.
So bleibt hier vor allem diese Einwirkung auf den Steuerertrag
noch einer besonderen Untersuchung vorbehalten.
Die Beeinflussung des Einkommensteuerertrags durch die
Gesamtorganisation der Steuer und vor allem durch die Form
der Veranlagung und der Erfassung des steuerpflichtigen Ein-
kommens läßt sich statistisch in keiner Weise erfassen, obwohl
sie zweifellos vorhanden ist. Soweit die Form der Veranlagung
und der Berechnung des Steuerobjekts in Betracht kommt, haben
wir bereits den ertragsschädigenden Einfluß der Durchschnitts-
veranlagung unter sched. D gesehen. In ähnlicher Weise wirkte
aber auch die Bestimmung, nach welcher die Abschätzung des
Ertragswerts, welche zur Unterlage der Veranlagung unter
sched. A diente, nur aller drei Jahre einmal erneuert wurde.
So wenig jedoch wie diese doppelte Beeinträchtigung des Ertrags
irgendwie zahlenmäßig erfaßt und zur Anschauung gebracht
werden kann, ebensowenig lassen sich auch alle diejenigen
Faktoren berechnen, die mit der Fortdauer der Einkommen-
steuer die Erfassung des steuerpflichtigen Einkommens und
damit den Steuerertrag mehr und mehr sicherstellten. Einen
geringen zahlenmäßigen Anhalt hierfür könnte man gewinnen,
wenn sich der Pennyertrag in Beziehung zu dem für die Be-
steuerung verbleibenden Einkommen bringen ließe, indem eine
Zunahme des Prozentverhältnisses, in welchem der Pennyertrag
zum reinen Steuereinkommen steht, nur durch die wachsende
Tauglichkeit der Organisation erklärt werden könnte. Da aber
das besteuerte Einkommen in verschiedenen Jahren unter völlig
veränderten Bedingungen gebildet wird, erweist sich ein solcher
Versuch als unmöglich und wertlos.
In einer Beziehung allerdings tritt die Bedeutung der Ein-
- i87 -
kommensteuerorganisation für die Gestaltung des Ertrags deut-
licher hervor. Da die subjektive und objektive Steuerpflicht
auf dem Grundsatz beruht, alle Eilikommen und alle Einkom-
mensempfänger, welche durch die britische Souveränität er-
reicht werden können, der Einkommensbestcuerung zu unter-
werfen, so entsteht die Frage, in welchem Umfange es der
Steuerorganisation gelingt, diesen Grundsatz durchzuführen. So-
weit die Einkommen, die von England nach dem Ausland
fließen, in Betracht kommen, erscheint die Erfassung des Sub-
jekts durch die Deklaration der Teil- und Gesamteinkommen
imd die Erfassung des Objekts durch die Besteuerung der Ein-
kommen an der Quelle hinreichend gesichert. Weit weniger
aber scheint dies bei den Einkommen der Fall zu sein, die vom
Ausland nach England fließen. Soweit sich diese Einkommens-
teile überhaupt als aus dem Ausland stammend, feststellen
lassen, handelt es sich dabei um folgende Fälle:
1 . Bei Einkommen, die aus der Kapitalsanlage in aus-
ländischen oder kolonialen Staatspapieren stammen, und die
durch inländische Agenten ausgezahlt werden, erfolgt die Be-
steuerung in der Weise, daß der jeweilige Steuerbetrag durch
den Agenten vor der Auszahlung in Abzug gebracht und der
Steuerbehörde gegenüber verrechnet wird. Der auf diese Weise
erfaßte Einkommensbetrag belief sich für das Jahr 1910/11 auf
nahezu 35 Millionen £.
2. Dividenden ausländischer oder kolonialer Gesellschaften
und Korporationen, welche durch inländische Agenten aus-
gezahlt werden, trifft die Steuer in der gleichen Weise. (Ein-
kommensbetrag für 1910/11 = 24 Millionen £.)
3. In derselben Weise werden auch Coupons, die bei einer
inländischen Bank durch Verkauf realisiert werden, getroffen,
indem in solchen Fällen die Bank für die Steuerleistung haftet.
(Einkommensbetrag für 1910/11 = 16,7 Millionen £.)
4. Einkommen, die aus irgend welcher Kapitalanlage im
.A-usland stammen, aber nicht durch eine der genannten Formen
der Erhebung erfaßt werden, unterliegen der Deklarations-
pflicht. (Einkommensbetrag für 1910/11 == 9 Millionen £.)
5. Englische Eisenbahngesellschaften, die ihren Sitz und
ihre Leitung in England haben, die Bahnen aber im Ausland
betreiben, werden in England für das aus diesen Unterneh-
— i88 —
mungen fließende Kinkommcn zur Sicuer herangezogen, ohne
Rücksicht darauf, ob das Tunkommen tatsächhch nach ICngland
übermittelt wird oder nicht. (Einkommensbetrag für i(;io'i i
= i6 Millionen C.)
Während demnach die Besteuerung der unter den ersten
drei Fällen genannten Einkommen an der Quelle erfolgt, so
daß eine Umgehung der Steuerpflicht in größerem Umfang
ausgeschlossen erscheint, ist es bei den beiden anderen Fällen
augenscheinlich, daß hier die Erfüllung der Steuerpflicht nicht
in dem Maße gesichert ist, daß nicht doch eine Beeinträch-
tigung des Steuerertrags entstehen könnte. Da es sich ins-
gesamt um ein erfaßtes Einkommen von über loo Millionen £
(für 1910/11) handelt, von denen etwa der vierte Teil auf die
beiden letzten Gruppen entfällt, läßt sich eine ungefähre Vor-
stellung von der Bedeutung gewinnen, die in dieser Beziehung
der Steuerorganisation zukommt.
Außer diesen Einkommensarten, deren Herkunft aus dem
Ausland zu ermitteln ist, fließen aber noch zahlreiche Einkommen
aus dem Ausland, deren Umfang nicht festzustellen ist, aber
aus einer Aufzählung der verschiedenen Möglichkeiten erschlos-
sen werden kann:
1. Einkommen aus linternehmungen aller Art. wie Gas-
und Wasserwerken, Plantagen. Brauereien usw., die im Aus-
land betrieben werden, aber ilireu Sitz und ihre Leitung in
England haben.
2. Einkommen aus Unternehmungen, die gleichzeitig im
In- und Ausland betrieben werden. (Kabel- und Srhiffahrts-
gesellschaften. !
3. Einkommen aus Filialen aller Art im Ausland.
4. Einkommen aus ausländischen Hypotheken, Darlehen
und Depositen inländischer Banken, Versicherungs- und Hypo-
thekengesellschaften usw.
5. Einkommen aus Geschäften jeder Art, die durch m-
ländische Fabrikanten, Kaufleute oder Agenten im Ausland be-
trieben werden.
Alle diese Einkommensarten entziehen sich mehr oder
weniger der Kontrolle der Steuerbehörden, so daß eine Um-
gehung der Steuerpflicht, die in den meisten Fällen nur durch
Deklaration ermittelt werden kann, in weitem I7mfange mög-
— i89 —
lieh erscheinen muß, da die Erfassung an der Quelle nur in
seltenen Fällen durchführbar ist. Fehlt hierfür auch jeder
zahlenmäßige Anhalt, um sich ein Bild von dem Umfang der
hierher gehörigen Einkommensarten zu machen, so geht doch
schon aus der Natur dieser Einkommen die weittragende Be-
deutung hervor, welche der Steuerorganisation für die Erfas-
sung dieser Einkommen und damit für die Gestaltung des
Steuerertrags zukommt ^^ßj
Der dritte Faktor, von dem die Gestaltung des Ertrags
abhängt, ist der Steuerfuß, der den jeweiligen Betrag der
Steuerleistung bestimmt. Einfach als Multiplikator angesehen,
der angibt, wie viele Steuereinheiten erhoben, werden sollen
oder müssen, um den zur Deckung eines Bedarfs erforderlichen
Einnahmebetrag zu erzielen, kommt dem Steuersatz freilich
keine besondere Bedeutung für die Gestaltung des relativen
Ertrags zu; er bestimmt nur die Höhe des absoluten Ertrags.
Doch sind mit der wechselnden Höhe des Steuersatzes manche
psychologische Rückwirkungen auf den Steuerzahler verbunden,
die bei einem übermäßig hohen Satz einmal sich in dem Be-
streben äußern, alle Vergünstigungen, die auf Grund der Steuer-
gesetze rechtmäßig in Anspruch genommen werden können,
sich auch tatsächlich zu sichern, zum andern aber auch in
der zunehmenden Neigung zu unrechtmäßiger Steuerhinter-
ziehung ihren Ausdruck findet. Kann so namentlich in Krisen-
jahren der Steuerertrag eine wesentliche Beeinträchtigung er-
fahren i*^"), so fehlt andererseits bei einem niederen Steuersatz
für viele Einkommensteuerzahler der Antrieb, ihre gesetzlichen
Anrechte geltend zu machen, doch wird dieser Umstand nur
wenig ins Gewicht fallen, da der Gewinn für die Staatskasse
wegen des niederen Steuersatzes doch äußerst gering ist. So
bildet für die Ertragsgestaltung den ausschlaggebenden Faktor
doch die Entwicklung des Steuereinkommens und hier bleibt
uns noch die Frage zu untersuchen, inwieweit die Verteilung
der Einkommen einen Einfluß auf die Ertragsbildung ausübt.
io6j Vgl. hierzu den Inland Revenue Report 1912, S. 122 f.
107J Beispielsweise stieg der Betrag der Einkommen, für welche die
Steuer uneinbringlich war, in den Jahren 1901/05 um 8,7 Millionen £,
während er von 1905/09 um annähernd 10 Millionen £ fiel, um seit 1909
wieder um rund 22 Millionen £ zu steigen. (Inland Revenue Report 191 2.)
— 190 —
§8.
Die E i n k 0 m m u n s \' c r l c i 1 u n
to-
]unes der scliwierigsten, aber gleichwolil bedeutsamsten
Probleme der Besteuerungspolitik ist mit der Frage nach der
tatsächlichen Verteilung der durch eine bestimmte Einzelsteuer
oder durch die Gesamtheit aller Steuern bewirkten Belastung
der Steuerzahler gegeben. Da jede Steuerleistung an ein be-
stimmtes Steuerobjekt gebunden ist, so kann darum subjektiv
immer nur derjenige zur Steuerleistung herangezogen werden,
bei dem sich die objektiven Grundlagen der Besteuerung vor-
finden. Aus diesem Grund wui'de die Forderung einer möglichst
weitgehenden Allgemeinheit der Besteuerung schon früh zu
einem der Haujitgrundsätze der Steuertheorie erhoben, so daß
die ideale Form einer Steuer in dieser Beziehung diejenige wäre,
die sich an ein objektives Merkmal anschließt, das sich bei
jedermann vorfindet, das aber auch gleichzeitig geeignet wäre,
einen Maßstab für die Bemessung der Steuerleistung abzugeben.
Aus der Absicht heraus, die Besteuerung diesem freilich nur
selten klar erkannten Ideal anzupassen, entstammt die Methode
der indirekten Besteuerung, indem der Konsum gewisser Nah-
rungs- oder auch Genußmittel allgemein genug verbreitet schien,
um die Allgemeinheit der Besteuerung sicher zu stellen. Da
aber die absolute Ertragsfähigkeit der wenigen Steuern, die sich
in dieser Weise finden ließen, nicht immer dem Bedarf ent-
sprechend gesteigert werden konnte, machte sich die Ausdeh-
nung der Zahl der indirekten Steuern notwendig, wobei man bei
der Auswahl der neuen Steuerobjekte darauf Rücksicht nehmen
mußte, die Allgemeinheit der Besteuerung, die nun nicht mehr
mit einer oder wenigen Steuern erreicht wurde, durch mehrere
einander ergänzende Steuern 7Ai bewirken. So wurde beispiels-
weise eine weitgehende Allgemeinheit der indirekten Besteue-
rung in der Weise erzielt, daß man Wein, Bier und Branntwein
besteuerte, um die Gruppe der Alkoholkonsumenten zu erfassen
und weiterhin auch Tee, Kaffee, Kakao usw. belastete, um die
Gruppe der Abstinenten mit heranzuziehen. Gerade aus diesem
Beispiel (das sich doch fast in allen indirekten Steuersystemen
nachweisen läßt) wird aber auch deutlich, daß mit der Er-
reichung der Allgemeinheit der Besteuerung die Verteilung der
gesamten Steuerbelastung merklich verschoben wurde, da sich
— 191 —
die Steuerzahler eben nicht nach scharf abgesonderten Konsum-
gruppen einteilen lassen. Weiterhin kommt dazu der Umstand,
daß nicht jeder Konsument eines so besteuerten Objekts auch
die Fähigkeit zur Steuerzahlung besitzt, daß vielmehr in den
meisten Fällen mehrere Konsumenten zusammen (die Familie)
nur eine einzige Steuerkraft darstellen, so daß also auch hier-
durch die Verteilung der steuerlichen Belastung völlig unüber-
sichtlich wird. Man hat sich in der Finanzstatistik daran ge-
wöhnt, die Steuerbelastung durch eine Berechnung des auf den
Kopf der Bevölkerung entfallenden Steuerbetrags darzustellen.
Mag sich damit auch für die Darstellung einer Entwicklung eine
bildliche Vergleichsgrundlage gewinnen lassen, so ist dieses Bild
jedoch durchaus unwahr, wenn man es zur Veranschaulichung
der tatsächlichen Steuerbelastung gebrauchen will. Das einzige
Mittel, über die Verteilung der Steuerbelastung Klarheit zu
gewinnen, wäre mit einer allgemeinen Enquete über den Familien-
konsum in bezug auf die besteuerten Artikel gegeben. Daß
eine derartige Enquete bisher noch in keinem Staat durch-
geführt wurde, liegt an der Schwierigkeit, die genauen An-
gaben in einem solchen Umfang zu erhalten, daß sie für eine
finanzstatistische Untersuchung ohne allzugroße Fehlerquellen
die Grundlage bilden könnten.
In ähnlicher Weise ergibt sich auch ein völlig falsches Bild
der Verteilung der Steuerbelastung durch Berechnung des auf
den Kopf der Bevölkerung entfallenden Steuerbetrags für die-
jenigen Steuern, die wie Stempel- oder Nachlaßsteuern sich an
bestimmte Vorgänge anschließen, da hier die Steuerzahler doch
stets nur eine verhältnismäßig beschränkte Gruppe darstellen
und diesen Steuerformen von vornherein das Merkmal der All-
gemeinheit fehlt. Für die Einkommensbesteuerung trifft das
gleiche zu, doch wird hier die Verteilung der Steuerbelastung
noch durch ein anderes Moment mitbestimmt, das allerdings in
der indirekten Besteuerung ein Gegenstück in der relativen
Höhe des Konsums und in der Nachlaßbesteuerung in der Größe
des Steuerobjekts besitzt. Dieses Moment ist die Verteilung
des gesamten besteuerten Einkommens nach den unterschied-
lichen Einkommensstufen. Solange die Besteuerung nach einem
einheitlichen Steuerfuß alle Einkommen im gleichen Verhältnis
traf, besaß die Einkommensverteilung freilich nur für diejenige
Einkommensstufe eine Bedeutung, welche unter der Befreiungs-
192 -
grenze blich. Schon hic-rui aht-r wird auch che I>ccinlhissvinjjj
des Einkommensteuerertrags dur( li (he Vcrteihing der Kin-
kommen erkennbar, indem bei einer Erhöhung der liefreiungs-
grenze der Ausfall umso erheblicher wurde, je grölier die Zahl
tler Einkommensempfänger war, deren (jcsamteinkommen die
Grenze nicht überstieg (vgl. hierzu den Rückgang des gesamten
erfaßten und des Besteuerimgseinkommens in den Jahren 1876
und 1894 nach den Tabellen 11 a und 12a).
Von weit größerer Bedeutung aber wurde die Einkommens-
verteilung sowohl für die Verteilung der Steuerbelastung als
auch für die Gestaltung des Einkommensteuerertrags mit der
Einführung des Abatementsystems, der Differentiation und der
Super-tax, die alle drei mit der Einteilung der Einkommen nach
Stufen ihres Gesamtbetrags verbunden waren. Die statistische
Erläuterung dieser doppelten Einwirkung der Einkommensver-
teilung auf Belastung und Ertrag läßt sich allerdings nur an-
deutungsweise durchführen, weil die englische Einkommen-
steuerstatistik die Zahl der V^eranlagungen und der entsprechen-
den Beträge unter den Einkommensstufen nur für die beiden
sched. D. und E. und auch hier nicht immer völlig einheitlich
wiedergibt. Doch genügt das damit gegebene Material, um den
Vorgang, der für die ganze Einkommensteuer sich in allen
schedules wiederholt, zu veranschaulichen und zu erläutern
(vgl. Tabelle 13 e).
Die Vermehrung des Steuerobjekts erfolgt entweder in der
Weise, daß die Zahl der Einkommensempfänger zunimmt, das
Durchschnittseinkommen einer Stufe aber gleich bleibt, oder
aber daß bei gleichbleibender Zahl der Einkommensempfänger
das durchschnittliche Einkommen erhöht wird. Dabei kommt
praktisch auch der Fall vor, daß beide Faktoren, Zahl und
Einkommensbetrag, verändert werden, doch sehen wir da\on
ab, da sich diese Fälle rechnerisch stets auf die beiden Grund-
formen der Einkommensvermehrung zurückführen lassen. In
diesen beiden Fällen aber kommt eine Verschiebung der Ein-
kommensverteilung in der Weise zum Ausdruck, daß sich ein-
mal die durchschnittliche Höhe des unter eine bestimmte lun-
kommensstufe fallenden Einkommens verändert, oder daß der
Gesamtbetrag aller Einkommen unter dieser Stufe einen höheren
oder geringeren Anteil des Gesamteinkommens, das unter die
Steuer oder die einzelnen schedules überhaupt fällt, ausmacht.
— 193 —
Soweit sich diese Verschiebungen für sched. D. feststellen
lassen, vollzog sich die Änderung in der Einkommensverteilung
so, daß sich unter allen Einkommensstufen der durchschnittliche
Einkommensbetrag erhöhte, d. h. mit anderen Worten, daß die
Kapitalskonzentration rascher erfolgte als die Bildung neuer
Einkommen. Weitaus am stärksten war dies der Fall bei den
Einkommen über 5000 £, deren Durchschnittsbetrag sich von
1859 — 1910 um 1140/0 (von 14627 £ auf 31 396 £) hob. Ge-
ring war die Erhöhung des Durchschnittsbetrags bei den mitt-
leren Einkommen von 400 — 700 £, bei denen seit 1898 sogar
ein Rückschlag erfolgte. Nach der anderen Richtung hin kommt
die Verschiebung der Einkommensverteilung darin zumv Aus-
druck, daß sich der Anteil der unteren und mittleren Einkom-
mensstufen am Gesamteinkommen unter sched. D. prozentual
fortgesetzt vermindert hat. Während 1859/60 die Einkommen
bis zu 5000 £ noch über 750/0 des Gesamtbetrags umfaßten,
hat sich dieses Verhältnis bis 1910/11 fast umgekehrt, indem
nun auf die Einkommen über 5000 £ allein 68,40/0 des Gesamt-
betrags entfallen.
Die finanzielle Bedeutung dieser Verschiebungen wird deut-
lich, wenn wir uns ihren Einfluß auf die Gestaltung des Ein-
kommensteuerertrags klar zu machen versuchen. Das Abate-
mentsystem erstreckt sich über die Einkommensstufen bis zu
700 £ jährlichen Gesamteinkommens. Da es sich hier nur um
die unter sched. D. veranlagten Teileinkommen handelt,
läßt sich freilich die Zahl der Veranlagungen nicht der Zahl
der Abatementsempfänger gleichsetzen, doch wird sich der Be-
trag der Abatements doch in eine Beziehung zu der Zahl der
Veranlagungen in der Weise bringen lassen, daß mit der Zu-
nahme der Zahl auch der Gesamtbetrag der steuerfreien Abate-
ments zunimmt. Damit aber verringert sich auch das ver-
bleibende Steuereinkommen, so daß der Einkommensteuerertrag
infolge der Abatements verringert wird, wenn das Durchschnitts-
einkommen einer bestimmten Einkommensstufe sinkt. Freilich
wird dieser Vorgang in seiner Erkennbarkeit dadurch beein-
trächtigt, daß die unter den schedules erfaßten Einkommen nur
Teileinkommen sind, während die Abatementsberechtigung von
der Höhe der Gesamteinkommen abhängt.
In ähnlicher Weise beeinflußt die Einkommensverteilung
aber auch die finanzielle Wirkung der Differentiation, da auch
Zeitschrift für die ges. Staatswissensch, Ergänzungsheft 48. 1 3
— 194 —
hier der Ertrag gemindert wird, wenn die Zahl der Empfänger
von Arbeitseinkommen, die unter der Differenzierungsgrenze
von 2000 und 3000 £ Hegen, in stärkerem VerhäUnis zunimmt,
als der entsprechende Einkommensbetrag, d. h. wenn der Durch-
schnittsbetrag unter diesen Einkommensstufen kleiner wird,
während dessen Erhöhung die Kosten der Differentiation aus-
zugleichen strebt.
Soweit die Super-tax in Betracht kommt, läßt sich aus
dem Konzentrationsprozeß, der zu einer immer mächtiger wer-
denden Erzielung großer Einkommen führt, für die Zukunft
eine erhebliche Ertragssteigerung erwarten, da auch hier das
Besteuerungseinkommen umso größer wird, je höher das Durch-
schnittseinkommen sich über die Grenze von 5000 £ erhebt.
Da die Super-tax nur den Einkommenste.il trifft, der 3000 £
übersteigt, so wird der Einkommensbetrag, der von der Super-
tax freibleibt, umso geringer, je kleiner die Zahl der Steuer-
pflichtigen ist, so daß sich mit der zunehmenden Bildung außer-
gewöhnlich hoher Einkommen ohne entsprechende Vermehrung
der Zahl solcher Einkommen ein zunehmender Ertrag der Super-
tax ergeben wird, wenn auch der Umfang dieser Entwicklung
wegen des noch fast völlig fehlenden Materials nicht abgeschätzt
w^erden kann. Mit diesen Fragen sind wir am Ende vmserer
Untersuchung angelangt, deren Ergebnisse im nächsten Ab-
schnitt noch eine kurze Zusammenfassung finden sollen.
§9.
Ergebnisse.
Das am deutlichsten erkennbare Ergebnis der ganzen Ent-
wicklung, deren Darstellung unsere Aufgabe gebildet hat, ist
die Wandlung in der finanzpolitischen Bedeutung, welche der
heutigen Einkommensteuer in England gegenüber der Zeit ihrer
Einführung zukommt. Während der Einkommensteuerertrag
1842/3 nur etwa 90/0 aller Einnahmen darstellte, stieg dieser
Anteil bis 1911/12 auf nicht weniger als 290/0. Dieses hervor-
tretende Ergebnis ist nur teilweise auf eine absolute Erhöhung
des Steuersatzes zurückzuführen, obwohl der Normalsatz in der-
selben Zeit von 7 d auf 14 d erhöht worden war. Doch er-
streckte sich diese Verdoppelung infolge des Abatementsystems
nicht auf alle Einkommensstufen, wurde vielmehr für die nie-
— 195 —
deren Einkommensstufen sogar durch eine Herabsetzung des
Steuerfußes unter jenen Normalsatz von 7 d ersetzt. Im wesent-
lichen ist vielmehr die gewaltige Steigerung des Ertrags auf das
dem Einkommensteuerobjekt eigentümliche Wachstum des ver-
anlagten Einkommens zurückzuführen und darin finden wir
das andere Ergebnis der Einkommensteuerentwicklung, daß die
Ertragsgestaltung der Steuer wegen der Entwicklungsfähigkeit
des Objekts neben der Nachlaßbesteuerung am meisten dem
finanzpolitischen Ideal einer Steuer entspricht, die imstande ist,
einem wachsenden Bedarf ohne wiederholte Erhöhung des
Steuerfußes zu folgen. Dazu kommt noch, daß in der Ein-
kommensverteilung ^Momente verborgen liegen, die geeignet sind,
in der weiteren Entwicklung des Steuereinkommens die finan-
zielle Einwirkung der Gradation und Differentiation mehr und
mehr zu vermindern und die Ertragsfähigkeit der Steuer aufs
neue anzuregen. Insbesondere aber scheint in der modernen
Kapitalskonzentration, als deren Folge die Rieseneinkommen
zu betrachten sind, die Grundlage sich auszubilden, auf der
eine stärkere Belastung der hohen Einkommen nicht zu einer
Verminderung, wie es oft gefürchtet wird, sondern zu einer fort-
gesetzt sich steigernden Ertragsfähigkeit der Zusatzsteuer
führen wird.
So erscheint selbst in der Form der gegenwärtigen Ein-
kommensteuerorganisation die finanzielle Zukunft der Steuer
gesichert und aussichtsreich genug, um sie in noch weiterem
Umfang zu dem werden zu lassen, was sie seit der Reform von
1909 tatsächlich geworden ist: zum Grundstock der englischen
Staatsbesteuerung. Freilich, und hiermit gelangen wir zu einem
weiteren Ergebnis, kann die Entwicklung der Einkommensteuer-
organisation noch keineswegs als abgeschlossen angesehen
werden. Wir haben gesehen, wie die bisherige Entwicklung,
der Ausbau des Abatementsystems als Form der Gradation, die
Erhebung der Steuer an der Quelle, stets unter der hemmen-
den Wirkung der fehlenden Deklaration des Gesamteinkommens
und damit der subjektiven Zusammenfassung der Steuer gelitten
hat. Hier aber hat gerade die Entwicklung seit der Einführung
der Abatements zu einer fortschreitenden Erweiterung der Dekla-
rationspflicht des Gesamteinkommens geführt, die nun seit 1909
für alle Einkommen wieder allgemein geworden ist. Damit
aber ist die Bahn für eine freie Fortentwicklung der Steuerorgani-
13*
— 196 —
sation wieder geebnet und es ist nicht zu zweifeln, daß nicht
nur die Verteilung der steuerlichen Belastung durch eine Reform
der Steuerorganisation auf der subjektiven Grundlage gerechter
ausgestaltet würde, sondern daß auch die Ertragsgestaltung
nur günstig beeinflußt würde. Neben der Landwertbesteue-
rung, deren Grundlegung ebenfalls im Budget von 1909 voll-
zogen wurde, wird so eine reformierte Einkommensteuer für
die nächste Zukunft das wirksamste Gegenmittel gegen die
neue konservative Schutzzollpolitik, soweit sie auf eine Ände-
rung der Steuerbelastung durch Ausdehnung der indirekten
Konsumbesteuerung zugunsten der direkten Vermögensbesteue-
rüng ausgeht, bilden können.
Anhang.
I. Quellen.
a) The Parliamentary History from the earliest times to the year 1799.
(Zit. Pari. Hist. mit Angabe des Bandes und der Seitenkolumne.)
b) The Parliamentary Debates. Series I — V. (Nach dem ersten Heraus-
geber stets kurz zitiert als „Hansard" mit Angabe der Serie, des Bandes
und der Seitenkolumne.)
c) The Parliamentary Accounts and Papers.
Diese enthalten sämtliche Parlamentsdrucksachen, die einzeln ver-
öffentlicht werden. Eine Zusammenfassung sämtlicher Drucksachen
unter dem genannten Titel ist in der Bibliothek des „British Museum"
in London für die Jahre seit 1801 vorhanden. Die Drucksachen eines
jeden Jahres sind nach bestimmten Titeln zu Bänden zusammengefaßt
(Laws and Statutes, Bills and Bills amended, Reports, Finance etc.). Für
die vorliegende Arbeit kamen die Drucksachen namentlich zur Samm-
lung des in den Tabellen verarbeiteten Materials und für das Studium der
Gesetzesvorlagen sowie der Kommissionsberichte in Betracht. Im be-
sonderen wurden die Berichte der parlamentarischen Einkommensteuer-
kommissienen herangezogen, und zwar :
1. Report from the Select Committee on Income and Property tax.
1851 und 52.
2. Report etc. 1861.
3. Report of the Departmental Committee on Income tax. 1905.
4. Report from etc. 1906.
d) Finance Accounts of the United Kingdom of Great Britain and Ireland.
e) The Statistical Abstracts for the United Kingdom.
f) The Reports of the Commissioners of H. M's. Inland Revenue.
g) The Reports of the Commissioners of H. M's. Custom's Revenue,
h) Public Income and Expenditure. 2 vols. London 1869.
i) Public Income and Expenditure. London 1897.
Anm. Die im Text und in den Tabellen gegebenen zahlenmäßigen
Angaben beruhen durchweg auf dem in den genannten Quellen ent-
haltenen Material, das aber in seiner Zusammenstellung nicht durchaus
einheitlich ist. Es ist dabei zu beachten, daß in den amtlichen Ver-
öffentlichungen die Einnahmen in folgender Weise unterschieden werden :
— 198 —
1. Budgeteinnahmcn (Budget cstimates'). Diese stellen den veranschlagten
Betrag der Einnahmen dar, mit denen der Finanzminister für das kom-
mende Finanzjahr rechnet.
2. Kasseneinnahmen (Exchequer receipts). Sie stellen die innerhalb des
Finanzjahrs von den verschiedenen Einnahme Verwaltungen an die
Reichskasse abgeführten Beträge dar. Sie sind daher verschieden von
den
3. Roheinnahmen (Gross receipts), welche den Gesamtbetrag der von allen
Einnahmever^valtungen innerhalb des Finanzjahrs eingenommenen Gelder
ohne Abzug der Gewinnungskosten, Rückzahlungen und ohne Rücksicht
darauf, ob die betreffenden Einnahmen diesem Finanzjahr zugehören oder
nicht, bedeuten; aber auch von den
4. Reineinnahmen (Net receipts), welche denselben Gesamtbetrag, aber
nach Abzug der Rückzahlungen, Gewinnungskosten und dergl. bedeuten.
Diese beiden Arten sind wieder zu unterscheiden von dem
5. Ertrag der Einnahmequellen (produce), der diejenigen Einnahmen dar-
stellt, die gesetzlich in dem betreffenden Finanzjahr fällig waren, auch
wenn sie aus irgendwelchen Gründen erst in einem folgenden Finanzjahr
tatsächlich einliefen. Auch wird „gross und net produce" unterschieden,
je nachdem die Gewinnungskosten ein- oder abgerechnet sind.
In dem den genannten Quellen entnommenen Material herrscht in der
Wiedergabe dieser verschiedenen Formen keine Einheitlichkeit, und es hat
sich wegen der fehlenden Unterlagen als unmöglich erwiesen, diese Ein-
heitlichkeit durch Rechnung herzustellen. Die entstehenden Unterschiede
sind jedoch für die Endergebnisse ohne Belang.
2. Literatur,
a) Allgemeine Literatur.
Bastabi e, C. F., Public Finance. 3rd. ed. London 1903. (Zit. Ba-
stable, Finance.)
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Benda, K., R. Peels Finanzsystem. Berlin 1842.
Brassey, T., Sixty Years of Progress. London 1906.
Buxton, S., Finance. 2 vols. London. (Zit. Buxton, Finance.)
Mr. Gladstone as Chancellor of the Exchequer. London
1901.
Clapham, L H., Great Britain and Free-trade. London 1909.
Disraeli, B., Mr. Gladstones Finance. London 1862.
Doubleday, Political Life of Sir Robert Peel. 2 vols. London 1856.
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don 1884. (Zit. Do well, History.)
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— 199 —
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Paris 1888. (Zit. Leroy-Beaulieu, Finances.)
Lesli, CL, Die Reform der Finanzen. Übers, von Broemel. Berlin 1872.
Levy, Leo, History of British Commerce and the Economic Progress of
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Noble, J., Fiscal Reform. London 1865.
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Entwicklung. Leipzig 1876.
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1798. (British Museum.)
Observations etc. on an Act to grant etc. London 1798. (Bri-
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The Duty on Income. York 1799. (British Museum.)
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„ The Simplex Guide to Income tax. London 1908.
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Dowell, St., The Acts relating to the Income tax. 6. ed. London 1908.
(Zit. Dowell, Inc. tax Acts.)
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I. Minister
Pitt
Addington
Pitt
Grenville
Portland
Perceval
Liverpool
Canning
Goderich
Wellington
Gray und Melbourne
Peel
Melbourne
Peel
Finanzminister
Pitt
Addington
Pitt
Petty
Perceval
Perceval
Vansittart u. Robinson
Canning
Herries
Goulburn
Althorp
Peel
Rice und Baring
Goulburn
Eingebrachte Budgets
1783/1801
1802/1804
1805 und 1806
1807
1808/10
1811 und 1812
1812/26
1827
1828
1829 und 1830
1831/34
1835
1836/41
1842/64
— 202 —
1. Minister
j l'inanzministcr ^
tingfbrachte Budgets
Rüssel
Wood
•847/51
Derby
Disraeli
1852
Aberdeen
Gladstone
1853 und 1854
Palmerston
Lewis
1855/57
Derby
Disraeli
1858
Palmerston u. Rüssel
Gladstone
I 859/66
Derby
Disraeli
1867
Disraeli
Hunt
1868
Gladstonc
Lowe und Gladstone
1869/73
Disraeli
Northcote
1874/79
Gladstone
Gladstone u. Childers
1880/85
Salisbury
Hicks-Beach
1886
Gladstone
Harcourt
1886
Salisbury
Goschen
1887/92
Gladstone u. Rosebery
Harcourt
1893/95
Salisbury
Hicks-Beach
1 896/1 902
Balfour
Ritchie und Austen
Chamberlain
1 1903/05
Campbell-Bannerman
Asquith
1 1906/08
Asquith
Lloyd George
: 1909/12
^
ZEITSCHRIFT
FÜR DIE GESAMTE
STA ATS WI S S E N S C HA FT
In Verbindung mit
Oberbürgermeister a. D. Dr. F. ADICKES in Frankfurt a. M., Prof. Dr. G. COHN
in Göttingen, Ober-Verw.-Ger.-Rat Prof. Dr. F. v. MARTITZ in Berlin, Kaiserl.
Unterstaatssekretär z. D. Prof. Dr. G. V. MAYR in München, Prof. Dr. A. VOIGT
in Frankfurt a. M., Geh. Reg. -Rat Prof. Dr. A. WAGNER, Exz., in Berlin, Dr. Freiherr
V. WEICHS, Ministerialrat am k. k. Handelsministerium in Wien.
HERAUSGEGEBEN
VON
Dr. K. BÜCHER,
o, Professor an der Universität Leipzig.
Ergänzungsheft XLIX.
Literaturgeschichte der Handelsbetriebslehre.
Von
Eduard Weber.
TÜBINGEN
VERLAG DER H. LAUPP'SCHEN BUCHHANDLUNG
1914.
li
Literaturgeschichte "''z
der
Handelsbetriebslehre
Von
Eduard Weber
Tübingen
Verlag der H. Laupp'schen Buchhandlung
1914
/
Alle Rechte vorbehalten.
Druck von J. B. Hirschfeld (August Pries) in Leizig.
\ ,
Einleitung.
Die Entwicklung des kaufmännischen Unterrichtswesens war
in Deutschland bis in das letzte Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts
hinein weit hinter dem Aufschwung des Handels und der Industrie
zurückgeblieben. Um so lebhafter begann man nun um die^e Zeit
vor allem unter der tatkräftigen Führung des 1895 ins Leben ge'
tretenen Deutschen Verbandes für das Kaufmännische Unterrichts-
wesen, das Versäumte nachzuholen: die Zahl der kaufmännischen
Lehranstalten wurde außerordentlich vermehrt, dem gesamten kauf-
männischen Unterrichtswesen wurde ein organischer Aufbau ge-
geben, und der innere Unterrichtsbetrieb wurde den neuzeitlichen
Forderungen entsprechend umgestaltet und erweitert. Eine Frucht
dieser Reformbestrebungen ist unsere heutige Handelsbetriebslehre,
Ja unsere gesamte moderne Einzelwirtschaftsforschung. Von deren
jüngst herausgekommenen Hauptwerken soll in dem letzten Ab-
schnitt dieser Arbeit zusammenfassend die Rede sein.
Eine privatwirtschaftliche Forschung in der Art der heutigen
kannte man vordem fast gar nicht. Die Volkswirtschafder haben
selten spezifisch privatwirtschaftliche Arbeiten geliefert. Viel häufiger
ist dagegen zur Zeit der Kameralwissenschaft, der halbwissenschaft-
hchen Voriäuferin unserer Volkswirtschaftslehre, versucht worden,
einzelne Privatwirtschaftslehren zu schaffen. Das geschah besonders
in der Weise, daß man am Studiertisch systematische Darstellungen
und Kunstlehren schrieb — von einer wissenschafdichen Beob-
achtung und wirklichen Untersuchung der Einzelwirtschaften war
kaum etwas zu verspüren. Nur die Land- und die Forstwirtschaftslehre
standen von Anfang an besser da, und sie sind es denn auch, die
bis heute ununterbrochen weiter fortentwickelt sind. Die industrielle
Betriebslehre dagegen blieb in der Technologie stecken, und die Be-
triebslehre des Handels und seiner Tochtergewerbe wurde sogar
gänzlich wieder vergessen, nachdem sie eine Zeitlang eine recht
verheißungsvolle Entwicklung durchgemacht hatte.
Welches nun eigentlich die älteren Versuche zu kaufmännischen
Erwerbs- oder Betriebslehren sind, in welchem Zusammenhange sie
Zeitschrift für die ges. Staatswissensch. Ergänzungsfieft 49. 1
untereinander stehen, welche Bedeutung ihnen zu ihrer Zeit und
im X'ergleich mit den heutigen Arbeiten zuzuerkennen ist, das alles
ist bisher noch nicht untersucht worden. Vielleicht wäre die Ge-
schichte dieser interessanten Literatur schon längst geschrieben
worden, wenn man mehr Anhaltspunkte dafür gehabt hätte, daß
sie sich schon wegen der Menge des für sie vorhandenen Stoffes
lohnen würde. Das konnte man aber nach den wenigen bisher
bekannten Versuchen zu solchen Betriebslehren, die noch dazu nicht
einmal über die 1860er Jahre hinaus zurückreichen (Lindwurm,
Emminghaus), nicht vermuten, weil deren Verfasser selber die
ältere Literatur nicht erwähnt haben.
Trotz dieser ungünstigen Voraussetzungen haben doch einige
neuere Schriftsteller einen Teil jener längst vergessenen Arbeiten
gekannt, wenn sie sie auch nicht als Vorläufer der sich heute ent-
wickelnden Handelsbetriebslehre und anderer Privatwirtschaftslehren
erkannt und gewürdigt haben. Der zu früh verstorbene B. Zieger
streifte sie auf der Suche nach Material für eine Handelsschul-
geschichte ^), und J. Heilauer hat einige davon als Anläufe zu einer
Welthandelslehre bezeichnet-). Ein paar Studien von J. Schindler
dagegen sprechen ziemlich ausführlich von Nebensächlichem, über-
sehen aber die Hauptsachen ganz und haben in der Anlage über-
haupt kein rechtes ZieP). Demnach scheint die einzige Veröffent-
lichung, die sich bisher mit den älteren Werken der kaufmännischen
Betriebslehren als solchen befaßt hat, mein Aufsatz „Zur Geschichte
der Handelsbetriebslehre" in Jahrg. XIV, Nr. 3 bis 6, der „Zeitschrift
für das gesamte kaufmännische Unterrichtswesen" zu sein. Mit der
vorliegenden Arbeit komme ich nun auf Grund meiner weiteren
Nachforschungen zu einer erheblichen Erweiterung jener Skizze und
hier und da auch zu einer Berichtigung des damals Gesagten.
Wie schon in jenem Aufsatz, so bin ich auch heute noch, und
zwar trotz der inzwischen erfolgten Bereicherung unserer Fach-
literatur, in einer gewissen \'erlegenheit um hinreichend genaue
und anerkannte Fachbezeichnungen. Ich habe schließlich geglaubt,
mich in dieser Geschichte der älteren Fachliteratur des historischen
1) Zieger, Ein sächsischer Merkantilist über Handelsschulen u, handelswissen-
schaftl. Abteilungen an Universitäten. Leipzig o. J. — Ders., Lit. über das ges.
kfm. Unterrichtswesen ... Bd. 14 der Veröff. des D. V. f. d. K. U. u. Bd. 18,
Nachtrag dazu (1900 und 1901).
2) Hellauer, System der Welthandelslehre. 1. Bd. Berlin 1910.
3) Schindler, Zur Einführung in die deutsche Lit. über den Kaufmann.
Außig 1911, Fortsetzung ebenda 1912.
— 3 —
Ausdruckes Handlungs Wissenschaft bedienen zu sollen, eines
Ausdruckes, der noch im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts ver-
standen wurde. Bis dahin nannte man jede Unternehmung schlecht-
hin eine Handlung ^), so daß der Name Handlungswissenschaft für
eine kaufmännische Betriebslehre in der Tat recht zutreffend war.
Das nach der Handlungswissenschaft entstandene halb volkswirt-
schaftliche, halb juristische Handelsschulfach der Handelslehre
(Handelswissenschaft oder auch Handelskunde), das mit ersterer
fast nichts mehr zu tun hat, werde ich dagegen zur Vermeidung von
Verwechselungen ständig mit diesem heute gebräuchlichsten Namen
bezeichnen, während ich mich für den Inbegriff der neueren kauf-
männischen Erwerbslehren des dafür oft verwandten Sammelnamens
Handelsbetriebslehre bedienen werde. Die zu allen Zeiten
vorhanden gewesenen bloßen Beschreibungen von Zuständen und
Einrichtungen des Handels und des Verkehrs überhaupt, die auch
•dann, wenn sie nicht volkswirtschaftlich, sondern privatwirtschaft-
lich gerichtet sind 2), weder der einen noch der anderen der bisher
genannten literarischen Richtungen zuzuzählen sind, dürften am
besten als Hand eis künde bezeichnet werden können.
Ich unterscheide daher von der heutigen wissenschaftlichen
Handelsbetriebslehre und von ihrer wissenschaftlichen Vorläuferin,
der Handlungswissenschaft, zunächst die auf Verkehrsbeschreibungen
gerichtete Handelskunde und dann die der letzteren wieder ver-
wandte, aber nur in den Handelsschulen bekannte Handelslehre.
Die Handlungswissenschaft wird im Vordergrunde der Ausführungen
stehen, während die drei anderen Zweige unserer Fachliteratur nur
insoweit herangezogen werden sollen, als es das Hauptthema er-
fordert. Um Irrtümern vorzubeugen, will ich nochmals ausdrück-
lich bemerken, daß ich mit diesen Bezeichnungen nichts anderes
bezwecke, als historische Gruppen von Arbeiten festzustellen.
1) Daneben hieß auch die volkswirtschaftliche Massenerscheinung des Handels
lange Zeit ,die Handlung", Zu Handlung-Geschäft oder Unternehmung vgl. auch
Handlungsgehilfe u. ä.
2) Privatwirtschaftlich z. B, bei Heilauer a. a. O.
T.
Vorläufer der systematischen Versuche.
A. Allgemeines.
Bevor im 18. Jahrhundert in Deutschland die ersten syste-
matischen und darum wissenschaftlichen Bearbeitungen des Ge-
bietes der Handlungswissenschaft (Handelsbetriebslehre) erfolgten^
hat es sowohl hier als auch im Auslande nur unsystematische
und auch sonst nur halb hierher gehörende Arbeiten gegeben, die
zumeist ohne erkennbare Beziehungen zueinander hier und da auf-
tauchten. Je älter sie sind, desto mehr gehören sie zur bloßen
Handelskunde, und desto mehr berücksichtigen sie auch nur den
reinen Warenhandel. Letzteres ist ganz natürlich, denn in dem
Maße, wie der Warenhändler noch der einzige Unternehmer und
Kapitalist war, umschloß auch noch der Warenhandel alle einzelnen^
nach und nach in besonderen Unternehmungen verselbständigten
kaufmännischen Erwerbszweige, und erst einzelne Augen an dem
gemeinsamen Wurzelstock der Warenhandlung deuteten die später
abgetrennten Schößlinge des Verlags-' und des Fabrikgeschäfts, des
Bank-, des Versicherungs- und des Transportgewerbes usw. an^
kaum, daß sich gegen Ende des Mittelalters der reine Großhandel
aus dem bis dahin regelmäßig das Hauptgeschäft bildenden Klein-
handel loszulösen begann ^).
Als Verfasser der älteren Schriften, die wir als Vorläufer der
systematischen Handlungswissenschaft ansehen müssen, kommen
fast nur Kaufleute in Frage, die aus der Praxis für die Praxis Winke
erteilten wollten. Eine wissenschaftliche Stoffbehandlung lag ihnen
fern. Andere Schriftsteller kümmerten sich höchstens einmal um
die volkswirtschaftlichen Wirkungen der kaufmännischen Erwerbs-
tätigkeit, und zwar am häufigsten um die zutage tretenden Miß-
stände. An Ermahnungen an die Adresse der Kaufleute ließen sie
es in der Regel nicht fehlen. Von der Drohung mit Kirchen- und
1) G. V. Below, Großhändler u. Kleinhändler im deutschen Mittelalter in Jahrb.
f. Nat. u. Stat. III F. 20. Bd. von 1900.
— 5 —
Höllenstrafen ^) kamen sie allmählich auf den Nachweis, daß der
Warenwucher oder das schädliche „Monopolium", wie es später
hieß, dem Kaufmann selber schließlich schaden müsse 2). Auch auf
die Autoren aus dem Kaufmannsstande färbte natürlich die ältere
kanonische Auffassung von wirtschaftlichen Dingen ab, streifte hier
jedoch schon bald das theologische Gewand ab und trat darauf
mehr als Berufsethik hervor. Allmählich ist man dann auf dem
Wege über den stadtbürgerlich-zünftigen Begriff des „ehrbaren" zu
dem staatsbürgerlichen des „königlichen" Kaufmanns gekommen.
Zurückblickend finden wir, daß man zu allen Zeiten ^) von dem
Kaufmann (heute besser : von dem Unternehmer) verlangt hat, er solle
ein Diener am Gemeinwohl sein, daß aber alle diese Forderungen,
so gut sie auch gemeint sind, die kaufmännischen Betriebslehren
in keiner Weise gefördert haben. Sie stehen ja auch als Ausflüsse
der Sozialethik über den Betriebslehren, und nicht etwa ergeben
sie sich aus diesen oder im Zusammenhange mit einer einzelnen
von ihnen.
Es muß noch bemerkt werden, daß außer in der alten handels-
kundlichen auch in der übrigen alten handelsfachlichen Literatur
Spuren der späteren Handlungswissenschaft zu finden sind, sei es
in einzelnen Sätzen oder in ganzen Abschnitten. Reinliche Schei-
dungen, also Spezialarbeiten, kannte man noch nicht ; sie sind ja
überall erst ein Zeichen bereits entwickelterer Literatur.- Hier kann
und muß von den nur gelegentlich vorkommenden handelserwerbs-
politischen Erörterungen abgesehen werden. Die Arbeiten selber,
in denen sie vorkommen (Briefsteller, Handels- und Wechselrechts-
lehren, Rechen- und Buchhaltungswerke usw.), haben jedoch auch
dadurch eine Bedeutung, daß sie uns in ihrer viel lückenloseren
Aufeinanderfolge oft einen besseren Einblick in die Entwicklung
des (handeis-) privatwirtschaftlichen Denkens gewähren, als die zu-
nächst noch spärlichen eigentlichen Vorläufer der Handlungswissen-
schaft. Es sei nur daran erinnert, daß das kaufmännische Rechnen
und die Buchführung schon früh an typischen Geschäftsfällen ge-
lehrt worden sind, die also erst als typisch erkannt sein müssen ;
ferner sei darauf hingewiesen, daß gerade die Doppelbuchhaltung
auf scharfen Analysen und Abstraktionen beruht, hauptsächlich
1) Vgl. Luther, Von Kaufshandlung und Wucher, Wittenberg 1524.
2) So schon J.J.Becher, Politischer Discurs, zuerst Frankfurt/M. 1667.
3) Für unsere Zeit noch Schär, Allgemeine Handelsbetriebslehre, 1. Bd.
Leipzig 1911.
— 6 —
auf einem i,'ai- nicht so selbstverständlichen, abstrakten Kapital-
begriff *).
Was die Zahl der Veröffentlichungen auf dem Gebiete der
Handlungswisscnschaft anbelangt, so hat sie naturgemäß immer den
meisten anderen Zweigen unserer Fachliteratur den Vortritt über-
lassen müssen; am zahlreichsten sind die Schriften zur Handlungs-
wisscnschaft gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Nachdem zunächst
hauptsächlich^ kaufmännische Rechenwerke herausgekommen waren,
sind dann seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts die Buchhaltungs-
schriften weitaus an der Spitze geblieben.
B. Italienische Arbeiten bis Ende des 17. Jahrhunderts.
Bevor wir uns den deutschen Arbeiten zuwenden, müssen wir
noch einen Blick auf die vorhergehende oder gleichzeitige italienische
und französische Literatur werfen, die mehr oder weniger nach-
weisbar der unsrigen als Vorbild gedient hat, ja sie zunächst auch
wohl ersetzt hat. Besonders waren die Italiener lange Zeit die
Lehr- und Schulmeister der deutschen (vor allem der oberdeut-
schen) Kaufleute und Fachschriftsteller. Theoretisch verdanken wir
ihnen hauptsächlich Belehrungen und Anregungen auf den Gebieten
der Wechsellehre, des kaufmännischen Rechnens und der Buch-
führung. Die handlungswissenschaftlich gefärbten Arbeiten der
Italiener sind jedoch anscheinend von sehr geringem Einfluß auf
uns gewesen, und wenn sie hier mit genannt werden, so geschieht
es teils wegen ihrer offenbar vorhandenen Einwirkung auf das für
uns wieder sehr wichtige französische Hauptwerk und teils, weil sie
die ältesten Handelsfachschriften überhaupt sind, und weil sie in ihrer
Entstehung den ersten deutschen Schriften ganz ähnlich erscheinen.
Es ist nämlich eine Eigentümlichkeit der ältesten italienischen
wie deutschen Fachschriften, daß sie keine Bücher im heutigen Sinne
sind, sondern nur Niederschriften von Tatsachen und Erfahrungen,
die die Archive der betreffenden Kaufmannsfamilien bereichern
sollten, denen ihre Verfasser angehörten. In den mittelalterlichen
verkehrslosen oder doch verkehrsfeindlichen Zeiten waren vor allem
die als ^tarife" bezeichneten Verzeichnisse von Handels- und No-
tierungsgebräuchen, Umrechnungen von Münzen, Maßen und Ge-
wichten und dergleichen mehr ein sehr nötiges Mittel der Geschäfts-
führung, das vom Vater auf den Sohn und von diesem wieder
1) Darum hat auch bis in unsere Zeit hinein der „Buchhaltungsgeschäftsgang*
dem Fachunterricht so gute Dienste leisten können.
— 7 —
ergänzt und verbessert auf den Enkel vererbt wurde. Wahrschein-
lich waren die Tarife auch mit dem Schleier des Geschäftsgeheim-
nisses umgeben ; einige von ihnen, die späterhin auch gedruckt
wurden, haben schon zur Zeit ihrer Drucklegung nur noch für den
Forscher Wert gehabt. Das gilt z. B. für die italienischen Handschriften
eines F. B. Pegolotti (aus den Jahren von 1335 — 1345) und
eines G. A. da Uzzano (von 1442), die erst 1766 herausgegeben
wurden^). Pegolottis Handschrift besteht in einer großen Menge
von Notizen über Münzen, Maße, Gewichte, Warennotierungen,
Platzunkosten usw., alles geographisch geordnet, ferner aus Zeit-
tafeln, Zinstabellen usw. usw. Uzzano verfährt dagegen weniger
tabellarisch als erzählend und beratend, steht also unserem Fache
schon etw^as näher. Von deutschen Tarifen wird weiter unten die
Rede sein (S. 24 ff.).
Eine ziemlich umfangreiche und verhältnismäßig hochstehende
Reihe handlungswissenschaftlicher Ausführungen findet sich ferner
in der „Summa de Arithmetica, Geometria, Proportioni e Propor-
tionalitä" von L. Pacioli, die in Venedig 1494 zuerst gedruckt
wurde. Diese Arbeit ist vorwiegend mathematischer Natur. Für
uns kommt nur ihr neunter Abschnitt — von den Gesellschaften,
vom Warentausch, vom Wechselschließen und Zahlen überhaupt,
vom Gehalt usw. der Gehilfen, von der Buchhaltung usw. — in
Frage. Nach Rigobon^) ist dieser Abschnitt auf das 1481 voll-
endete Manuskript eines L. di Chiarini zurückzuführen, das
Pacioli vollständig übernommen haben soll. Dem Pacioli selber,
einem aus dem Kaufmannsstande hervorgegangenen Mönch, hat
man aber immer das 11. Kapitel jenes Abschnittes zugeschrieben,
das die älteste Druckschrift über die Doppelbuchhaltung ist und
Pacioli zu dem unverdienten Ruhme ihres „Erfinders" verholfen
hat. Von dem ganzen neunten Abschnitt ist bisher nur dieser Buch-
haltungstraktat in der deutschen Fachliteratur beachtet worden ^).
1) Von Pagnini del Ventura als Bd. 3 und 4 (380 und 284 S. 4*^) seines
Werkes: „Della Decima e di varie altre gravezze imposte dal Comune di Firenze,
della Moneta e della Mercatura dei Fiorentini fino al secolo XVI, Lisbona e Lucca.
Als Quellen für die Geschichte des Handelsrechts werden Pegolotti und Uzzano
von L. Goldschmidt, Handb. d. Handelsrechts, 2. Aufl. 1874, genannt. Nach ihm
war Pegolotti ein Faktor der Bardi (1317 in England).
2) P. Rigobon, Studii antichi e moderni intorno alla tecnica dei commerci,
Bari 1902. Teilweise deutsch in der Z. f. d. g. k. U. V, 12 und VI, 1.
8) C. P. Kheil, Über einige ältere Bearbeitungen des Buchhaltungstraktates
von L. Pacioli, Prag 1896. — Auch E. L.Jäger, Beiträge z. Gesch. d. Doppel-
buchhaltg., Stuttgart 1874. Ders., Lucas Pacioli und Simon Stevin, ebenda 1876.
Ihrer Entstehung, wenn auch nicht ihrer Drucklegung nach
noch älter ist eine Handschrift von B. Cotrugli aus Ragusa. Er
vollendete sie schon 1458 für das Archiv eines Handelshauses, für
das er zeitweise tätig gewesen war; gedruckt wurde sie aber erst
1573 zu Venedig unter dem Titel „Della Mercatura et del Mercante
perfetto". Das kleine, nur 110 Seitchen starke Buch enthält Be-
lehrungen über die Geschäftsführung und über die Moral des Kauf-
mannes in Haus und Beruf '). Erstere finden sich in dem ersten
der vier Abschnitte, in die die rund 50 Kapitelchen des Buches
eingeteilt sind. Sie handeln u. a. von dem Ursprung und der
Definition des Handelsgewerbes, von der Person des Kaufmannes,
vom Tauschhandel 2), vom Bar- und vom Zielverkauf, von der
Mahnung, der Zahlung, dem Depositum und Lombard (pegno), ja
sogar von der Buchführung und vom Versichern. Das kleine, in-
haltlich unbedeutende Buchhaltungskapitel ist als die ihrer Ent-
stehung nach älteste Erörterung der Doppelbuchführung bemerkens-
wert — als Druckwerk kam ihr die von Pacioli zuvor. Der
moralische Teil des Cotruglischen Büchleins ist übrigens auch
mit hauswirtschaftlichen Ausführungen durchsetzt; so findet sich
dort ein Kapitel vom Privateigentum (peculio)^).
Eine Neuauflage, Brescia 1602, mochte das Büchlein wohl eben-
sosehr seinem moralischen wie seinem handlungswissenschaftlichen
Teile zu verdanken haben. Einem erheblicheren geschäftlichen Be-
dürfnisse konnte es nach Umfang wie Inhalt wohl kaum genügen.
\^ielleicht fiel es als „etwas Anderes" gegenüber der wachsenden
Menge von Rechen- und Buchhaltungsschriften und Schreibvorlagen
jener Zeit auf und war auch wohl klein und billig genug, um
Käufer zu finden. Die Ausführungen von Chiari ni-Paciol i ver-
schwanden dagegen unter den vielen rein mathematischen Kapiteln
der „Summa de Arithmetica" und wurden in diesem Rahmen nur
unnötig verteuert. So war es möglich, daß Cotrugli von seinem
Herausgeber als ein in jeder Wissenschaft vortrefflicher Mann ge-
ll Ich folge in der Inhaltsangabe Kheil, Benedetto Cotrugli Raugeo,
Wien 1906.
2) Das Barattieren, Troquieren, Stechen = Warentauschen war bis zur Besse-
rung der Verkehrsverhältnisse im 19. Jahrhundert besonders auf den Messen sehr
häufig; am längsten hat es sich wohl im Buchhandel erhalten.
3) Vgl. damit den Schär-Ste rnschen Streit über die Einbeziehung des
Privatvermögens in die Bilanz des Einzelkaufmanns, teilweise dargestellt in Bd. 37
der Veröffentl. des D. V. f. d. K. U — Auch Jäger und Kheil a. a, O. geben uns
^vertvolle Aufschlüsse über die (wenigstens in der Auffassung) noch im 16. Jahrh. in
Italien bestehende Einheit von Haushaltung und Geschäft.
— 9 —
schildert wurde, „der über die Kunst des Handelsgevverbes (dell'
arte della Mercatura) schrieb, was niemand vor ihm getan" habe.
Heute erscheint uns das Werkchen auch noch zur Zeit seiner
115 Jahre späteren Herausgabe, nur als ein verfrühter Schmetterling.
Es wurde bald wieder vergessen.
Wie Cotrugli nichts von Chiarini-Pacioli gewußt hatte,
so wußte der nun folgende G. D. Peri, ein Genuese, wieder nichts
von seinem Vorläufer Cotrugli. Peris Werk heißt „II Negotiante";
es ist 1638 zuerst erschienen. Nach Peri waren bisher überhaupt
fast nur Rechenwerke herausgekommen, während sein eigenes Buch
der erste Wegweiser für die eigentliche Geschäftsführung sei. Seiner
Entstehung nach ist es mit den Schriften von Pegolotti, Uzzano,
Chiarini und Cotrugli nahe verwandt, denn sein Inhalt hatte
zunächst lediglich handschriftlich auf Peris Söhne kommen sollen,
ist dann aber für den Druck überarbeitet und ergänzt worden, so
daß es schließlich ein paar hundert Druckseiten umfaßte. Auch in-
haltlich übertrifft es seine Vorgänger bei weitem. Es ist ebenso
sehr die Frucht einer langen Geschäftspraxis („. . . was ich mich
durch die Praxis so vieler Jahre selber erst habe lehren müssen")
wie diejenige früherer philosophischer, theologischer und juristischer
Studien, über die Peri selber einiges berichtet. 1638 kam das
Buch wohl noch nicht in seinem späteren Umfange heraus, denn
die letzten seiner vier Teile haben nach den beigefügten Daten erst
1660 und 1665 die Zensur passiert. Der folgenden Inhaltsangabe
liegt eine (wievielte?) Venediger Ausgabe von 1682 zugrunde, die
rund 700 Quartseiten umfaßt.
Im ersten Teile spricht Peri von dem Ursprung der Kaufleute,
vom Rechnen mit arabischen Ziffern, vom Latein — das übrigens
noch manche Autoren des 18. Jahrhunderts den Kaufleuten
empfahlen — ferner vom Briefschreiben, von der Buchführung,
von den Arbeiten und Arbeitspflichten des Kassierers, des Korre-
spondenten usw. Er bringt weiterhin Beispiele der Geschäfts-
gründung und zusammenhängender Briefreihen. Die Neigung des
Verfassers, auf die rechtliche Seite der geschäftlichen Vorkommnisse
einzugehen, bekundet sich in den weiteren Beispielen für richtige
Vertragsschlüsse und dann in allen seinen weitschweifigen Aus-
führungen über Wechselsachen, die sich durch alle vier Buchteile
hindurchziehen. Im ersten Teile nehmen sie den größten Raum
in Anspruch; die Erklärungen erfolgen hier mit besonderem Hin-
weis auf die Gebräuche der berühmten Messen von Besan^on.
Im zweiten Teile folgen einer Einleitung über die „wahren"
— 10 —
Kaufleute und ilire Eigenschaften die Erörterungen der \'erkäufe
gegen bar und auf Ziel nebst der dazugehörigen Korrespondenz
und den Verbuchungen in einfachen und doppelten Posten '). Nach
weiteren über die kaufmännischen Rechtsgutachten und Schieds-
sprüche'^), ferner über die Möglichkeit des Zinses^), wird die Be-
trachtung der Wechsel fortgesetzt, die auch in diesem Teile den
meisten Platz beansprucht. Dabei geht Peri zugleich auf die Kurse
einer großen Anzahl von Handelsplätzen ein und beschreibt auch
diese Plätze kurz nach Lage, Handel und Gewerbe.
Im dritten Teile wird nun zunächst die doppelte Buchführung
etwas eingehender vorgenommen ; wie in den älteren Werken über-
haupt, werden selbst die Methoden des Fehlersuchens mit erörtert.
Nach Ausführungen zu den Kapiteln Zinsen, Geld und Fracht-
geschäft kehrt Peri wieder zu seinem Lieblingsthema, den Wechseln,
zurück. U. a. vertritt er hier gegenüber dem Rechtsgelehrten
A. Merenda seine Meinung über den Meßwechsel.
Der vierte Teil endlich macht mit seinem buntscheckigen Inhalt
ganz den Eindruck einer Nachlese. Die Einleitung bilden ein paar
Kapitel über die Notwendigkeit und Nützlichkeit des Handels und
über die Eigenschaften und Kenntnisse des Kaufmannes. Dann
folgen nacheinander solche über Kontokorrente, Partizipationen,
1) Diese pädagogische Behandlung des Stoffes ist sehr beachtenswert. Viel-
leicht ist sie nur ein Spiegelbild der Konzentration und Kombination, die im Unter-
richte der alten Schreib-, Rechen- und Buchhaltungsschulen gang und gäbe war. Wenn
wir nicht aus der späteren Zeit dieser Schulefü die deutlichsten Hinweise auf eine
solche Konzentration, ja die Beweise für sie hätten, so müßte es uns doch schoa
stutzig machen, daß in der frühesten Fachliteratur besonders Rechnen und Buch-
führung so oft in einem einzigen Buche behandelt werden. Für die Verquickung
mit dem Schreiben haben wir wohl nur darum weniger literarische Belege, weil
über dieses (abgesehen von Schreibvorlagen) fast nichts Theoretisches herauskommt.
Nach Kheil a.a.O. hat aber D. Manzoni einer Bearbeitung des Buchhaltungs-
traktates von Pacioli 1654 „eine Sammlung von zwölf hübschen . . . Schreibvor-
Jagen* beigefügt. Cotrugli beginnt sein Buchhaltungskapitel mit einem langatmige»
Lobe der Schreibkuost. Vielleicht war der Buchhaltungsunterricht damals häufig,
nicht mehr als ein angewandte? Rechnen und Schreiben; Rechnen und Schreibe»
aber waren damals sicher noch spezifische Berufsfertigkeiten. Vgl. dazu m. Aufs,
Zur Entstehung d. Handelsfächer u. ihres Konzentrationsunterrichts, Dt. Handels-
schul-Lehrer-Ztg. X, Nr. 2S, 29.
2) Sie waren bis zur Schaffung der neuzeitlichen Handels- und Wechselrechte
und der verbesserten Prozeßverfahren eine sehr nötige und überall verbreitete Ein-
richtung unter den Kaufleuten. Besonders als „Pareres" spielen sie in der ältere»
Literatur eine ziemliche Rolle. Sie bilden den Teil der S. 6 erwähnten kaufmänni-
schen Archive, der sich am längsten erhalten zu haben scheint.
3) Vgl. S. 5 über kanonische Anschauungen.
— 11 —
Wechselzahlungen, Akzeptationen, Avale, Zinseszinsen, kommandi-
tarische Beteiligungen '), Prokuren, Versicherungen, Zessionen und
Aufrechnungen, Darlehen, Depositen, Quittungen, Wechselpro-
teste usw. Vielfach bringen sie nur Ergänzungen und Erweite-
rungen der entsprechenden Kapitel der ersten Teile.
Peris Werk ist in seiner Vielseitigkeit eine reiche Fundgrube
des kaufmännischen Wissens seiner Zeit. Es mochte ihm wohl nur
an Systematik und hier und da an weiser Beschränkung des Stoffes
fehlen, um zu noch größerem Ruhme zu gelangen; so, wie es
schlief;}lich vorlag, war es als Selbstunterrichtswerk für die meisten
angehenden Kaufleute vielfach zu tiefgründig. Das mag ein Grund
mit gewesen sein, der verhindert hat, daß es ins Deutsche — an-
scheinend .auch nicht in andere Sprachen — übertragen wurde.
Natürlich waren die Kenntnis des Italienischen, die besonders bei
den oberdeutschen Kaufleuten häufig war, und die fast hoffnungs-
lose Zerrüttung aller deutschen Verhältnisse durch den Dreißig-
jährigen Krieg noch besonders wirksame Hemmungen. Da ferner
die französische Sprache schon eine große Verbreitung bei uns ge-
funden hatte, so wandte sich die Aufmerksamkeit dem 1675 zuerst,
also bald nach der Vollendung des „Negotiante" , erschienenen
„Parfait negociant" des J. Savary viel mehr zu, zumal dieses
Werk dem italienischen weit überlegen war. „II Negotiante" ist
eine erste Sammlung von Bausteinen zu einem späteren Lehr-
gebäude der Handlungswissenschaft — nur der Verlag und der
Ladenhandel fehlen anscheinend in ihm. Die Fragen der Kapital-
beschaffung und der Kredit- und Kassendisposition, der Personalbe-
schaffung und Arbeitsorganisation, der Verrechnung und manche
andere noch sind jedoch dort schon gestreift, aber gemäß den ein-
facheren Erwerbs- und Verkehrsverhältnissen nur erst wenig ent-
wickelt oder nicht klar begriffen. Ein leitender Gedanke fehlt dem
ganzen Werke wie seinen einzelnen Teilen, und diesen Mangel,
der sich aus seiner Entstehungsgeschichte erklärt, hat auch die vor
der Veröffentlichung offenbar erfolgte Überarbeitung nicht beseitigen
können.
Die Nichtberücksichtigung des Verlagsgeschäftes erklärt sich
wohl daraus, daß Peri darin keine Erfahrungen besaß und offen-
bar nur aus seiner eigenen Praxis heraus belehren wollte. Das
Fehlen des Ladenhandels hat wohl denselben Grund, aber sicher-
lich daneben auch den, daß man damals überhaupt nur die Groß-
1) Die offene Handelsgesellschaft, die stille Gesellschaft und eine Art Kom-
manditgesellschaft waren noch die einzigen dauernden Erwerbsgesellschaften.
— 12 —
liandlungen als kaufmännische Betriebe und nur die Großhändler
als Kaufleute ansah 'J ; der Ladenhandel hieü Kram, I lokcrci usw.,
und wer ihn betrieb, war ein Kramer, I lökcr usw., aber kein „Kauf-
und Handelsmann". Erst als auch der Ladcnhandel kapitalistische
Formen annahm, übertrug sich die Bezeichnung Kaufmann auch
auf die Kramer.
Wie überall am Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts,
so begannen jetzt auch in Italien unter dem befruchtenden Einfluü
der Merkantilisten die zu Nutz und Frommen des Kaufmanns er-
scheinenden Arbeiten mehr handelswissenschafdicher Art zahlreicher
zu werden. Aber dem Abflauen der deutsch-italienischen Handels-
beziehungen entsprechend fanden nur noch wenige Exemplare den
Weg zu uns. Eine.- von ihnen ist „II Mercaiite" von A. Nazari,
Brcscia 1685, 192 Seitchen. In einem runden Dutzend Kapitel
spricht es u. a. vom Kredit, vom Gewinn, von der Buchführung,
von Ein- und Vorkauf usw., ohne jedoch Vollständiges oder auch
nur Peris Ausführungen Erreichendes zu bieten. Ein genauer Ver-
gleich mag möglicherweise ergeben, daß dies Büchlein auf dem
größeren und umfassenderen Werke Peris aufgebaut ist.
C. „Le parfait negociant" des J. Savary.
Das Abflauen der deutsch-italienischen Handelsbeziehungen ge-
schah letzten Endes zu gunsten der flandrischen Städte. Eine
wichtige Zwischenstufe dieser geographischen Ablenkung waren die
Messen von Lyon, die ihre Blüte der Handelspolitik Ludwig XI.
verdankten 2). Die deutschen Kaufleute, die schon immer Wert
darauf gelegt hatten , daß ihre Söhne sich drau(3en umsahen,
schickten diese nun nicht mehr bloß nach Venedig, sondern auch
nach Lyon, Brügge und Antwerpen 3). Es darf aber wohl be-
zweifelt werden daß sie dort und besonders auch in Lyon, mit
anderen als* von Italien her beeinflußten Fachschriften bekannt ge-
worden sind. So gibt es z. B. eine französische Übersetzung des
1) Vgl. V. Below a. a. O., desgl. bei Peri selber die ersten Abschnitte des
zweiten Teils.
2) 1462 verbot Ludwig XI. seinen Untertanen den Besuch der Messen
von Genf.
31 B, Greiff, Tagebuch des Lucas Rem, Augsburg 1S61. — Zieger, Die
Vorbereitung für den kaufm, Beruf um die Wende des ausgehenden MA. D. H
L. Z. V, Nr. 19, 20 22. — Meine Aufs.: Der Kaufmann u. sein Fachunterricht Wi«
zum 18. Jahrb., Z. f. Handelswiss. u. Handelspraxis VI, Nr, 6, und Der Handlu
lehrling vor 200 Jahren, ebenda V, Nr. 2.
bis
ngs-
— 13 —
Cotr uglischen Büchleins von einem J. Boyron, L5-on 1582^).
Erst im Zusammenhange mit den merkantilistischen Maßnahmen
der Colbertschen Regierung entstand ein durch und durch fran-
zösisches Werk, eine hervorragende Handelskunstlehre, in „Le
parfait negociant ou instruction generale pour ce qui regarde le
commerce de toute sorte de marchandises ..." von Jacques
Savary, Paris 1675.
Diese erste Ausgabe ist mir nicht bekannt geworden. Die
zweite ist eine französisch -deutsche, Genf 1676, und sie ist viel-
leicht von Savary selber für das Elsaß und die Schweiz ins
Deutsche übertragen worden. Ihr deutscher Titel lautet: „Der voll-
kommene Kauff- und Handels-Mann ..." Sie ist die einzige vollstän-
dige Übertragung ins Deutsche geblieben, vielleicht weil das Werk in
vielen Teilen auf rein französische Verhältnisse zugeschnitten war,
und weil die deutschen Handelswissenschaftler, die nun auch auf-
traten, den heimischen Bedarf mit eigenen Erzeugnissen zu decken
suchten. Nur P. J. Marperger und C. G. Ludovici, von denen
noch die Rede sein wird, haben einiges aus dem „Parfait negociant"
übersetzt und bearbeitet. Eine dritte Auflage erschien sodann Paris
1679 nur in Französisch, und zwar sehr vermehrt und verbessert.
Die Hinzufügungen betreffen aber nur die handeis- und wechsel-
rechtlichen und die handelskundlichen Ausführungen in dem Werke.
Einer weiteren Auflage von 1688 hat Savary noch eine Sammlung
„Pareres '^) ou Avis et conseils sur les plus importantes matieres du
commerce" angehängt, die sich großer Beliebtheit erfreut haben.
Eine Menge weiterer Auflagen erschienen dann noch im 18. Jahr-
hundert, darunter waren solche in Holländisch, Englisch und
Italienisch ; die letzte, von der ich eine Erwähnung gefunden habe,
soll von 1800 sein.
Der deutsche Teil der Genfer Auflage von 1676, auf die sich
die folgende Inhaltsangabe stützt, hat zwei mit je einem Titelkupfer
geschmückte Abschnitte von zusammen etwa 700 Seiten 8". Ein
Anhang enthält u. a. die verschiedenen Ordonnanzen von 1673, die
die französischen Handelsverhältnisse neu ordneten und deren
geistiger Urheber unser Savary war^')- Ihre Berücksichtigung und
Erläuterung ist ein wesentlicher Zug des Buches, das vor allem
praktische Ziele verfolgte. Indem es die persönlichen Handels-
1) Nach Kheil, B. Cotrugli Raugeo.
2) Vgl. S. 10, Fußnote 2.
3) Daher auch „Code Savary" genannt. Vgl. dazu E. Levasseur, Histoiie du
Commerce de la France, Paris 1911.
— 14 —
erfahruiiu^cn seines Verfassers wiedert(ibt, hat es einige Verwandt-
schaft mit den schon genannten Schriften der Itahener, es ragt aber
sogar über Peri weit liinaus.
Sa Vary s Lebenslauf zeigt, daß es kaum einen geeigneteren
Mann geben konnte, um eine handlungswissenschafthche Kunstlehre
zu schaffen. Geboren 1622 und gestorben 1690, wurde er von
seinen Eltern zum Kaufmann bestinnnt. Er widmete sich dem Tuch-
handel und der Tuchfabrikation und war Händler, Verleger und
Fabrikant mit wechselndem Glücke. Von 1660 an, als es ihm zu
gewagt erschien, fernerhin Hab und Gut in den zurückgehenden
Handelsverhältnissen zu gefährden , vertrat er den Herzog von
Mantua in einer Art konsularischer Stellung in Frankreich; in dieser
Stellung hat er wahrscheinlich das Perische Buch, dem er offen-
bar manche Anregungen verdankt, genauer kennen gelernt. Schon,
vorher hatte ihn das große Vertrauen, das ihm seine Standes-
genossen bekundeten, indem sie ihn häufig als Gutachter und
Schiedsrichter in Anspruch nahmen, zu einem eingehenden Studium
der einschlägigen Gesetze, Gebräuche usw. veranlaßt. Dieses Studium
setzte er nun in seiner neuen Stellung eifrig fort. Als er späterhin
die Einsendung eines Gutachtens an die Regierung wagte, das die
Abstellung der vielfachen Mißstände und Mißbräuche im Handel
betraf, wurde Colbert auf ihn aufmerksam und machte ihn 1670
zum Mitgliede des Conseil de la Reforme. In dieser Eigenschaft
veranlaßte er die französische Handelsgesetzgebung von 1673, und
wurde er ferner der Verfasser des ,fParfait negociant".
Über die Entstehung dieses Buches sagt er selber, ihm hätten
bei Gelegenheit einer besonderen Sitzung „etliche aus den Rats-
gliedern, nachdem der Rat aufgestanden, aufgetragen, daß er etliche
Werke verfertigen sollte, deren sich junge Leute, so sich auf den
Kaufhandel zu legen vorhaben, mit Nutzen bedienen könnten" ^).
Auf die Bestimmung des Buches für den Selbstunterricht, die ja bei
dem Mangel an Fachschulen selbstverständlich ist, deutet noch die
besondere Erklärung des Verfassers hin, daß er zwar „niemals die
Grammatik noch andere Sachen, die insgemein denen, so die
lateinische Sprache verstehen, bekannt sind," gelernt habe, daß er
sich aber damit tröste, „daß eine so hohe Schreibart nicht nötig
gewesen" sei, und daß es ihm genüge, wenn „der geringste Lehr-
junge alle Sachen, die . . . fer) ihm vorgetragen, verstehen und
fassen und seine Hantierung (danach) recht lernen könne". Da
1) Vorrede zu „Der vollkommene Kauff- und Handels-Mann
— 15 —
■das Buch auch noch den besonderen Zweck verfolgte, die Kaufleute
mit der neuen französischen Handelsgesetzgebung und den Pflichten,
die ihnen dadurch auferlegt wurden, bekannt zu machen, so ergab
sich für Sa Vary die Notwendigkeit, sogar Muster von ordnungs-
mäßig ausgestellten Wechseln, abgeschlossenen Verträgen, ausge-
arbeiteten Inventaren und Geschäftsbüchern usw. in den Text mit
einzufügen, wo sie natürlich im ganzen etwas stören.
Was nun den handlungswissenschaftlichen Inhalt selber anbe-
trifft, so baut ihn Savary etwa so auf, wie er dem Kaufmanne
der Reihe nach als Lehrling, Gehilfen und selbständigem Geschäfts-
mann im Laden- und im Großhandel, diesen ohne und mit Gesell-
schaftern usw., vertraut wird. Da es zur Verbesserung der darnieder-
liegenden Handelsverhältnisse auf einen brauchbaren Nachwuchs
ankommt, so nimmt Savar}^ zunächst einen mit gesunden Leibes-
und Verstandeskräften und mit Lust und Liebe zum Handel aus-
gestatteten Lehrling an, der in ein Ladengeschäft eintritt. Er muß
bereits rechnen und schreiben können, und Kenntnisse in der
doppelten wie einfachen Buchführung sind erwünscht '), desgleichen
für den späteren Werdegang Sprachkenntnisse, aber von jungen
Leuten, die „ihre Rethorik und Philosophie studieret", verspricht
sich der Verfasser nur wenig (Kap. 1 — 5).
Der Lehrling des „Handkaufs" wird zunächst mit seinen Ver-
haltungs- und Arbeitspflichten bekannt gemacht, über die wichtigsten
Maße und Gewichte des In- und Auslandes belehrt und in der Waren-
kunde, besonders in derjenigen der dem Verfasser vertrauten Textil-
branche, unterrichtet (Kap. 6 — 17). Die Arbeitslehre für den Lehr-
ling wird sodann zu einer solchen für den Gehilfen, der bei einem
Großhändler arbeitet, erweitert (Kap. 18 — 29). Kommt es z. B. für
den Lehrling darauf an zu wissen, wie man Waren einwickelt und
in Kisten und Ballen verpackt, und wie man beim Verkaufe im
Laden mit Hand anlegen muß, und warum man endlich gerade so
und nicht anders arbeiten soll, so muß sich nun der Gehilfe merken,
wie man die Ware zweckmäßig lagert, wie man sie an Wieder-
verkäufer abgibt, wie man diese Leute mahnt und vor allem, was
•der Kaufmann in Wechselsachen als Trassant, Remittent und Trassat
zu beobachten, zu tun und zu lassen hat, um rechtlich und wirt-
schaftlich richtig zu verfahren.
Für die nun folgende Selbständigkeit als Kleinhändler muß
1) Diese Kenntnisse könnte der Junge von 14 Jahren doch nur in einer Schreib-,
Rechen.- und Buchhaltungsschule erlangt haben, die S. also vorauszusetzen scheint,
aber nirgends besonders erwähnt.
— 16 —
man die vorgeschriebenen Förmlichkeiten, seine eigene rechtliche
Stellung und seine Buchhaltungspflichten genau kennen ; die ein-
gefügten Buchführungsmuster geben typische Heispiele an die Hand.
Diesem Teile folgt sodann der Kern einer Kunstlehre für das Laden-
geschäft, im besonderen für das des Tuchausschnittes. Man soll
den Ort der Niederlassung den Umständen nach und vorsichtig
auswählen — besonders muß man auf die Art des einfallenden
Lichtes achten, damit jede Tuchfarbe zur richtigen Geltung kommt!
Der Laden muß zweckmäßig und geschmackvoll hergerichtet werden.
Bei den ersten Einkäufen muß man besonders vorsichtig sein, da-
mit man nichts Minderwertiges angehängt bekommt und seinen
Kredit nicht unnötig anspannt. Savary legt überhaupt großen
Wert auf ein vernünftiges Verhältnis zwischen festgelegten und
flüssigen Mitteln, vor allem auch zwischen den Aktiv- und den
Passivschulden. Ausführlich wird erörtert, warum sich der Klein-
händler besser steht, wenn er seinen Bedarf beim Großhändler deckt.
Sehr wichtig ist natürlich auch eine richtige Verkaufspolitik. Aus
mancherlei Gründen kann es z. B. klug sein, sogar unter dem
Selbstkostenpreise zu verkaufen, wie denn überhaupt der Satz gilt,,
„qu'il y a plus d'esprit ä savoir perdre qu'ä gagner" '). Beim
Kreditieren soll der Detaillist, wie umständlich der Reihe nach aus-
geführt und erläutert wird,
1. auf die Kreditfähigkeit der Käufer achten,
2. besonders Standespersonen ihre Rechnung mindestens all-
jährlich bezahlen lassen und ihnen nötigenfalls nichts mehr liefern
(er soll sie auch nicht als Kunden behalten, für die die minder-
wertigen Waren noch gerade gut genug sind), er soll ferner
3. sich nicht von solchen Leuten weiteren Kredit abschmeicheln
oder abdrohen lassen,
4. den Kreditnehmer nicht überteuern,
5. nicht aus Furcht vor Verleumdungen kreditieren (s. Nr. 3),.
6. unbekannten abholenden Boten einen Ausweis abverlangen
und das Abgeholte sogleich verbuchen,
7. abends mit den Angestellten zusammen das Tagebuch kon-
trollieren, und schließlich soll er noch
1) Es bezeugt den Mut des Verfassers, so offen für richtig zu halten, was
anderen damals als eitel Schlejderei gegolten hätte. Seine tiefe wirtschaftliche Ein-
sicht bekundet er allein schon mit dem von ihm geführten Nachweis, daß der Ein-
kauf beim Großhändler statt beim Fabrikanten häufig günstiger ist — eine solche
Ansicht lief der damals herrschenden merkantilistischen Anschauung von den Vor-
teilen des direkten Bezuges schnurstracks entgegen.
— 17 —
8. das Anmahnen regelmäßig betreiben und sich ein Verfall-
buch anlegen, um die ausstehenden Beträge besser überblicken zu
können.
Ferner wird dem Kaufmann eine Reihe von Grundsätzen für
das Mahnen, die Auswahl der zum Anmahnen ausgesandten Ange-
stellten usw. mitgeteilt, und zwar immer unter den Gesichtspunkten
des Nutzens bei ihrer Befolgung und des zu erwartenden Schadens
bei Nichtbefolgung. Die letzten Kapitel dieses Abschnittes (38, 39)
behandeln die von der neuen französischen Handelsgesetzgebung
geforderten Inventare und Bilanzen; die folgenden (40, 41) sprechen
dann über die Vereinigungen zu offenen Handelsgesellschaften,
Kommanditgesellschaften und Gelegenheitsgesellschaften und leiten
zur Erörterung des vornehmeren Großhandels hinüber, indem sie des
Langen und Breiten auf jede Einzelheit der entsprechenden Gesell-
schaftsverträge eingehen.
Der Großhandel ist nach Savary darum am besten Sache
einer Gesellschaft, weil er sich vor einer Aufgabe sieht, die nur
eine Vereinigung am Erfolg beteiligter Personen und Kapitalien gut
zu erledigen vermag. Ein harmonisches Zusammenarbeiten der
Gesellschaften ist natürlich notwendig, und seiner Erzielung gelten
viele wohlgemeinte und erprobte Ratschläge des Verfassers. Sehr
wichtig ist die Arbeit dessen, der die Kasse verwaltet, denn in
seinen Händen ruht die gesamte Kapitaldisposition und die eigent-
liche Geschäftsführung. Er muß dafür sorgen, daß jederzeit ge-
nügend Geld zur Bezahlung der fälligen Passivschulden vorhanden
ist, indem er nicht nur den Umlauf der Betriebsmittel überwacht,
sondern auch auf die allgemeinen Verhältnisse in Handel und Ge-
werbe achtet, also auf das, was wir heute die Konjunktur nennen.
Im Einkauf ist der Großhändler wegen seiner Kapitalkraft,
größeren Übersicht usw. dem Kleinhändler gegenüber im Vorteil.
Er kann den (von manchen Merkantilisten wie ein Dogma verehrten)
Satz vom Kauf aus der ersten Hand am ersten verwirklichen und
z. B. die Stoffe direkt vom Weber kaufen oder gar im eigenen
Verlag herstellen lassen. Für den Einkauf bei den Herstellern gibt
und begründet Savary die folgenden zehn Grundsätze:
1. Kaufe bei steigenden Preisen, aber richte dich auch vor-
sichtig nach den Ursachen des Aufschiagens,
2. tue nicht so, als habest du keinen Bedarf oder gar, als sei
die Ware nicht preiswert, wenn du damit bloß den Preis drücken
möchtest,
3. kaufe nicht bei fallenden Preisen,
Zeitschrift für die ges. Staatswissensch. Ergänzungsheft 49. 2
— 18 -
4. beachte den Kundenkreis, für den du einkaufst,
5. überlege, ob du nicht besser nach Gewicht als nach Ellen
kaufen würdest (Seide!);
6. in Zeiten geringeren Absatzes kaufst du am vorteilhaftesten,
ganz besonders bei kleinen Herstellern, die Geld gebrauchen,
7. eingekaufte Waren mußt du Ljlcich nachmessen, entdeckte
Mängel gleich rügen ;
8. die Billigkeit der Ware darf dich nicht zu übermäßigen Ein-
käufen verleiten,
9. darfst du dich keinem Einkaufskommissionär, der den Her-
stellern erst den Rohstoff liefert, anvertrauen, wie es denn
10. überhaupt besser ist, wenn ein Gesellschafter den Einkauf
besorgt und ständig an dem Orte der Manufaktur weilt.
Will man selber eine Manufaktur einrichten, so soll man Ober-
legen, ob es eine ganz neue oder eine nur nachgeahmte in- oder
ausländische ist. In letzterem Falle ist noch fünferlei zu beachten,
nämlich
1. ob die vorhandenen Rohstoffe zur Nachahmung auch taug-
lich sind,
2. ob die sonstigen Umstände günstig sind, sich z. B. das vor-
handene Wasser zum Färben und Walken gut eignet,
3. ob die Gesamtkosten (die mit von den Lebensmittelpreisen
des betreffenden Ortes abhängen !) bei den üblichen Verkaufspreisen
noch einen entsprechenden Nutzen lassen; es soll ferner
4. der Verleger erst eine genügende Menge von Ausfallmustern
herstellen, statt gleich an seine Massenproduktion zu denken, und
5. soll er sich nach geübten Arbeitern umsehen und solche
nötigenfalls aus dem Auslande heranziehen.
Für den eigentlichen Betrieb gelten folgende Maximen, die in
dem Satze: „L'ordre est l'äme d'une manufacture" wurzeln:
1. Man lege auf den Einkauf der Rohstoffe das größte Gewicht
und führe über ihn wie über alle anderen Vorgänge genau Buch,
vermerke auch, welches die brauchbarsten Materialien in der Ver-
arbeitung sind ;
2. man lasse es niemals an Rohstoffen mangeln ;
3. suche man die guten und die nachlässigen Arbeiter heraus-
zufinden,
4. eigne man sich selber eine genaue Kenntnis der Roh.stoffe
und ihrer Eignung an (vgl. 1),
5. sondere man die feinen Sorten von den gröberen ab'),
1) Grundsatz der Handelswertsteigerung durch Sortierung!
— 19 —
6. tue man dasselbe wieder bei den Garnen,
7. säubere man das fertige Gewebe,
8. lege man es kunstgerecht zusammen,
9. versehe man es mit den nötigen Schauzeichen, und
10. suche man überall den Betrügereien der Arbeiter (deren es
bei Textilwaren hauptsächlich zehn gibt) vorzubeugen.
Während dieses Kapitel in das Gebiet der Technik abschweift,
ist das folgende (47), das die Verkaufsmaximen usw. der Grossisten
behandelt, wieder rein handlungswissenschaftlich. Das natürliche
Arbeitsgebiet des Großhändlers ist die DetaiUistenkundschaft, denn
der Detaillist braucht den Kredit des Großhändlers, während er bei
■den Herstellern immer bar bezahlen muß ; er findet bei ihm auch
die bessere Auswahl, weil eben der Grossist für alle Hersteller der
beste Abnehmer ist, und schließlich kann auch ein Kleinhändler
gar nicht die nötigen Einkaufsreisen unternehmen, sondern sich
höchstens der zweifelhaften Hilfe der Kommissionäre bedienen,
wenn er an der Quelle kaufen will. Der Grossist soll vor allem
die Kreditwürdigkeit seiner Abnehmer richtig beurteilen, indem er
■darauf achtet, ob sie ehrlich sind, ihr Geschäft verstehen, sparsam
haushalten und nicht selber unvorsichtig kreditieren. Der Groß-
händler soll aber auch nicht zuviel auf eine Karte setzen und be-
sonders nicht auf eine Unterstützung seines Kunden durch Freunde
und Verwandte rechnen; zahlt der Kunde nicht, so muß man ihm
allerdings auch nicht gleich das Messer an die Kehle setzen oder
ihn gar bewuchern. Nicht einmal Pfandwucher soll man treiben,
wenngleich Entgegennahme von Faustpfändern, auf deren Güte
jedoch wohl zu achten ist, erlaubt ist. Natürlich soll auch der
Grossist, wie das schon früher dem Detaillisten geraten wurde, ver-
altete Waren rechtzeitig abstoßen und lieber ein wenig am Preise als
viel an Zinsen verlieren. Aber an Private soll er niemals verkaufen,
weil er sonst seine übrige Kundschaft leicht verliert.
Ein Kaufmann, der die Messen und Märkte mit Waren besuchen
will, muß sich auf seine Angestellten und Angehörigen, die ihn in-
zwischen zu Hause vertreten sollen, verlassen können. Er muß wissen,
ivelche Waren am Meßorte lohnenden Absatz finden, und besonders
muß er nicht solche dorthin schaffen, die in jener Gegend selber
schon hergestellt werden. Meßbesuchern vom platten Lande muß
man höhere Preise berechnen, weil sie gewöhnlich viel längeres
-Ziel beanspruchen. Ein ordentliches Verzeichnis der mitgebrachten
Waren und eine gehörige Anschreibung aller Geschäftsvorfälle
i\ährend der Messe sind sehr nötig. Zu dieser Ordnung gehört
2*
— 20 —
auch, daß man sich von denen, die später zahlen wollen, Wechsel
und dergleichen Urkunden unterzeichnen läßt; die Zahlungen er-
folgen dann meistens zur nächsten Messe, so daß jemand, der den
Meßbesuch einmal angefangen hat, ihn nicht leicht wieder aufgeben
kann. Erfolgt zur nächsten Messe, zu der man übrigens häufig
mit Glück eine Ware führen kann, die vorigesmal keinen Absatz
finden konnte, keine Zahlung, so muß man natürlich auch noch
das Meßgericht usw., mit dem man zu tun haben wird, kennen.
Wie der Meßhandel unbequem ist, so ist der unmittelbare Ver-
sand verlustreich; besonders der kommissionsweise Verkauf, auf den
der Verkäufer dann häufig angewiesen ist, ist eine Quelle großer
Verluste; „. . . . qui fait faire ses affaires par commission, va ä
l'höpital en personne". Die besonderen Maximen des Versand-
grossisten sind :
1. Die erhaltenen Aufträge sind peinlich genau auszuführen;
2. die Ausführungsanzeige hat die Mengen, Preise usw. genau
mitzuteilen ;
3. alle nötigen Notizen in den Papieren der Fuhrleute und in
den Geschäftsbüchern, dazu die Ausfertigungen der Zollpapiere^
haben sorgfältig zu geschehen;
4. fällige Zahlungen sind einzufordern, und zwar am besten
immer mündlich, da auf Briefe doch kein Mensch zurückkommt (1) ;
5. endlich soll man sich mit den einschlägigen Gerichtsver-
fahren usw. vertraut machen.
In den nun folgenden Kapiteln 48 — 55 bietet Savary eine Art
Handelskunde (Welthandelslehre; unter dem Gesichtspunkte des
französischen Außenhandels. Er bespricht jedoch das Ausland nur,
soweit er selber dessen Beziehungen zu Frankreich kennt, wie er
denn überhaupt bemüht ist, nur das zu sagen, was seine eigene Er-
fahrung ausmacht ',). Handlungswissenschaftlich wertvoller sind die
weiteren Kapitel 56 — 61 von den Kommissionären, Spediteuren,
Agenten und Maklern.
Die Kommissionäre müssen in den \'erträgen mit ihren Kom-
mittenten
1. die Höhe der Provision nach Art und Güte der Waren be-
stimmen,
2. die Übernahme des Delkredere und die Delkredereprovision
festsetzen,
3. sich über die Zahlungszeiten für die abzuliefernden Gelder^
i) In der Vorrede als Grundsatz ausgesprochen.
— 21 —
4. über die Art der Zahlungen,
5. über die Höhe der abzugsfähigen Unkosten und
6. über die Höhe der Verzugs- und Verrechnüngszinsen einigen.
Bei den \'erkäufen, die er besorgt, hat der Kommissionär sich
nach folgenden Grundsätzen zu richten:
1. soll er in allem Tun und Lassen auf den Vorteil seines
Konnnittenten bedacht sein, insbesondere
2. auch dann nur zahlungsfähige Abnehmer aufsuchen, wenn
er kein Delkredere übernommen hat,
3. soll er die limitierten Preise einhalten,
4. den Käufern keine ungewöhnlichen Abzüge bewilligen,
5. die Außenstände so eifrig wie für sich eintreiben,
6. dem Kommittenten von allen Zahlungen gleich Nachricht
geben, statt ohne dessen Wissen einen Zinsgenuß von den Geldern
zu haben,
7. bei Wechselzahlungen nur gute Papiere einsenden und am
Agio zu sparen suchen ;
8. soll er die Tratten des Kommittenten honorieren, aber dabei
doch auch
9. bei bloßen Ehrenakzeptationen und Ehrenzahlungen recht
vorsichtig sein. Ferner muß er
10. den Kommittenten über die Marktlage usw. der Kommissions-
waren auf dem Laufenden halten, aber uneigennützig und nicht
etwa, um jenen um der Provision willen zu weiteren Konsignationen
zu veranlassen; er soll weiterhin
11. über alle Vorfälle gehörig Buch führen und endlich
12. der Ordnung wegen mindestens alljährlich mit seinem Auf-
traggeber abrechnen.
So ähnlich sind auch die Ausführungen bei den Einkaufs-
kommissionären, den Wechselagenten, den Spediteuren und Lager-
haltern und allerhand Maklern gehalten. Immer wird ihnen gezeigt,
wie sie sich einen einmaligen Gewinn und wie sie sich dauernde
Auftraggeber sichern können.
In den Schlußkapiteln des Buches (62—67) behandelt Savary
noch die gerichtlichen und außergerichtlichen Konkurse nach ihrer
Erledigung durch den Schuldner wie durch die Gläubiger. Er zeigt
hier eine für jene Zeit wohl ungewöhnlich humane Auffassung über
das Verfahren gegenüber redlichen Gemeinschuldnern und über die
Behandlung des Frauengutes.
Wie aus dieser Inhaltsangabe wohl hervorgeht, ist Savary aller-
<lings noch nicht zu einer systematischen Handelsbetriebslehre durch-
— 22 —
gedrungen, wohl aber kommt er ihrer systematischen Kunstlehre
schon nahe. Die ideale Kopie des praktischen Werdeganges eines
Kaufmannes') führt Savary wenigstens äußerlich zu einer Art natür-
lichen Systems in der stofflichen Anordnung, die den Selbstuntcr-
richtszwecken des Buches entgegenkommt, indem sie im allgemeinen
ein zwangloses Fortschreiten vom Leichten zum Schweren gestattet;
Wiederholungen und Auslassungen werden außerdem bei diesem
kaleidoskopartigen Nacheinander fast gänzlich vermieden. Wenn
nun auch mit dieser Stoffverteilung kein nach sachlichen Gesichts-
punkten organisch aufgebautes System gewonnen wurde, so war
es doch w^enigstens eines, das in diesem Falle keiner besonderen
systematologischen und methodologischen Begründung bedurfte.
Gegenüber dem „Negotiante" des Peri, den Savary gewilJ
gekannt, wenngleich nirgends geradezu nachgeahmt hat, bedeutet
„Le parfait negocianf' sachlich und systematisch einen großen Fort-
schritt. Letzteres ist aus der Entstehungsgeschichte beider heraus
zu erklären. Sachliche Erweiterungen gegenüber Peri bilden der
Verlag und das Ladengeschäft, von denen aber besonders der
Ladenhandel von den späteren Schriftstellern wieder sehr vernach-
lässigt wurde. In der Herausarbeitung erwerbspolitischer Grund-
sätze und Erfahrungsregeln ist Savary meisterhaft. Sie gründen
sich auf seine feine analytische Beobachtung der einzelnen Geschäfts-
vorgänge, und sie sind häufig echt französisch pointiert, wie sich
denn überhaupt die lebensfrische, anschauliche und ungekünstelte
Darstellungsweise des Verfassers vorteilhaft von der vieler Späterer
abhebt. Savary s Regeln und Winke sind größtenteils auch heute
noch gültig, ja man darf ruhig sagen, daß wir seinem Buche, was
die praktische Brauchbarkeit anbetrifft, heute noch keine neuere
handelswissenschaftliche Kunstlehre als gleichwertig zur Seite stellen
können. Sein Einfluß auf die Literatur des 18. Jahrhunderts ist
denn auch ganz bedeutend.
Sämtliche Kapitel des „Parfait negociant", auch die rein handels-
technischen und handelskundlichen Inhaltes, sind eine Antwort auf
die immer wieder modifizierte Grundfrage: „Wie kann auf eine
redliche Weise dauernd der größte Gewinn erzielt werden?" und
auf die den Unterton dazu bildende volkswirtschafts-politische Frage:
„Wie kann durch eine Erziehung des Einzelnen zu einem guten
Wirtschafter und Staatsbürger eine Gesundung der darniederliegen-
den gesamten Wirtschaft herbeigeführt werden ?" Die praktische
1) Durch tinhaltung der Stufenfolge Lehrling — Gehilfe — Kaufmann.
— 23 —
Aufklärung und Belehrung, die wirtschaftliche Erziehung des Ein-
zelnen ist ja überhaupt ein recht wesentlicher Zug, wenn auch ein
oft übersehener, im Bilde des Merkantilismus : besonders der Handels-
mann, der alleinige Unternehmer und der Vollstrecker aller handels-
bilanzpolitischen Pläne, mußte in diesem Sinne zu einem tüchtigen
Wirtschafter und zu einem einsichtsvollen Staatsbürger erzogen
werden. Leider war die allgemeine wirtschaftliche Erkenntnis noch
nicht tief genug, als daß mit dauerndem Erfolge eine Erwerbswirt-
schaftslehre des Handels versucht werden konnte.
Es mag an dieser Stelle noch bemerkt werden, daß Savarys
Ausführungen mit zu den reichsten Fundgruben der allgemein- wie
der privatwirtschaftsgeschichtlichen Forschungen gehören, eine der
Fundgruben, deren die handelswissenschaftliche Literatur so viele bis-
her fast ganz unbeachtete bietet. Das gleiche gilt auch von dem be-
rühmten „Dictionnaire universel" der Söhne Savarys, von dem
noch im Zusammenhange mit den deutschen Lexika die Rede sein
wird. Möglicherweise ist dieses „Dictionnaire universel" schon von
unserem Jacques Savary geplant oder gar in Angriff genommen
worden; er starb aber 1690 darüber hinweg.
D. Die deutsche Fachliteratur bis zum ausgehenden
17. Jahrhundert.
Wie in Italien, so besteht auch in Deutschland die älteste ge-
druckte kaufmännische Literatur fast ganz aus Rechen- und Buch-
haltungsarbtiten *). Das erste unserer kaufmännischen Rechen-
vverkchen kam, soweit bisher bekannt ist, 1482 in Druck; es stammt
von dem Nürnberger Rechenmeister^) Ulrich Wag[ne'r. 'Die
älteste deutsche Abhandlung über die Buchhaltung verließ dagegen
erst 1523 zu Erfurt die Presse; sie ist ein Anhang des „Rechen-
büchlein 3), künstlich, behend vnd gewiß, auff alle kauffmanschafft"
von Henricus Grammateus (Heinrich Schreiber) und ist be-
1) Vgl. oben Peris Urteil über den Umfang der ital. Rechenliteratur.
2) Über die Nebeneigenschaft der Schreib- und Rechenmeister als Handels-
lebrer, Handlungsgehilfen, Stuhlschreiber usw. habe ich in m. Aufs. „Der Kfm. und
sein Fachunterricht bis zum 18. Jahrfa." Z. f. Handelswiss. u. Handelspraxis VI,
Nr. 6, Näheres ausgeführt, über ihre Zünfte in »Die Zünfte der Schreib- und
Rechenmeister" ebenda VI, Nr. 10. Eine kleine Literaturgeschichte des kfm.
Rechnens findet sich bei B. Penndorf, Methodik des kfm. R., Leipzig und Berlin 191Ü
Beiträge dazu von demselben in der Dt. Handelsschul-Lehrer-Ztg. V, Nr. 1 ff.
3) Vgl. Fußnote l auf S. 10.
— 24 —
titelt „Buchhaltcn durch das Zornal, Kaps '; und Schuldtbuch, auff
alle Kauffinannschafft".
Am Ende des 15. Jahrhunderts sind auch die ersten „Forinel-
bücher" gedruckt worden. Es sind das Beispielsanimlungen zur
Abfassung von allerhand Verträgen, Sendschreiben, Schuldbriefen,
Geleitsbricfcn, Rent- und Gültkäufen usw., die in den Ämtern und
Rechtskanzleien, von den Stuhlschreibern (= öffentlichen Schreibern)
und anderen gebraucht sein mögen. So umfangreich sie meistens
sind, so enthalten sie dennoch so gut wie gar keine kaufmännischen
Schriftstücke. Ich möchte sie daher nicht, auch wenn sie zuweilen
Anweisungen über die sach-, stil- und formgerechte Abfassung von
Schriftstücken enthalten, mit Penndorf-) als kaufmännische Korre-
spondenzwerke bezeichnen. Ihre X'erfasser waren außerdem meistens
Juristen , doch soll das älteste unserer gedruckten Formelbücher
(von 1477j einen Schulmeister namens Hu eher zum Verfasser
haben. Vielleicht war er ein Stuhlschreiber, der, wie es damals
sehr häufig war, nebenbei oder hauptsächlich im Schreiben, Rech-
nen usw. unterrichtete.
Die uns nur handschriftlich überlieferten Vorläufer der ersten
gedruckten Rechenbücher, Buchhaltungen und Formelbücher können
hier ganz übergangen werden. So viel bemerkenswerter sind dafür
die ersten ungedruckten handelskundlichen Arbeiten für uns, die
etwa mit denen des Pegolotti und Uzzano in Italien auf einer
Stufe stehen. Ich habe nach langem Suchen ein paar in der Bib-
liotheca Augusta zu Wolfenbüttel gejunden.
Die älteste dieser Handschriften (Aug. 18. 4. 4") ist von 1511.
Sie besteht in einem in Leder und Holz gebundenen Buche von
292 Quartblättern mit 21 meist ganzseitigen, mit Wasserfarben ohne
besondere Kunstfertigkeit ausgeführten Bildern, die regelmäßig einem
größeren Kapitel voranstehen. Der Verfasser ist unbekannt. In
Frage kommt ein Augsburger Kaufmann oder Handlungsdiener
(Faktor), der im Handel zwischen Augsburg und \'enedig (auch
Nürnberg, Frankfurt und Antorf) reiche Erfahrung hatte. Da sich
die Darlegungen des Unbekannten auf diese Orte beschränken, so
dürften weder Jakob Fugger noch sein belcannter Faktor
Matheus Schwarz die Verfasser sein, eher schon aus noch
1) Lies: Journal = Tagebuch oder Memorial, und für Kaps Hauptbuch (von caput).
Näheres bei Penndorf, Geschichte der Buchhaltung in Deutschland, Leipzig 1913;
bei Kheil, Jäger usw.
2) Penndorf, Die kaufm. Korrespondenz als Unterricbtsgegenstand in MA.
Dt. H. L. Z. V, Nr. 41, 42.
— 25 —
anzuführenden Gründen ein älterer Verwandter des Nürnbergers
Lorenz Meder, der 1558 ein Buch ähnhchen Inhaltes drucken
ließ. Genaueres kann wohl nur eine spätere Schriftvergleichung
feststellen.
Trotzdem die vorliegende Fassung der Handschrift darauf hin-
deutet, daß ihr Verfasser an einen größeren Leserkreis, also wohl
an ihre Drucklegung gedacht hat '), spricht doch alles auch dafür,
<laß die ihr zugrunde liegenden Aufzeichnungen zunächst zum
Nutzen des eigenen Betriebes gemacht worden sind. Die spätere
Zusammenstellung zu einem gemeinnützigen Buche ist glücklicher-
weise einer sehr zweckmäßigen systematischen Einteilung zugute
gekommen, so daß das Werk trotz seines hervorragend praktischen
Zweckes auch auf einer für diese Zeit überraschenden wissenschaft-
lichen Höhe steht — man sollte meinen, daß es irgend ein be-
sonderes (italienisches oder deutsches) Vorbild gehabt hätte, das es
nachgeahmt und vielleicht sogar übertroffen hat. Vielleicht gelingt
es weiteren Nachforschungen, derartige noch ältere Handschriften
zutage zu fördern.
Das Buch beginnt nach einem Titelbild, das drei Kaufleute auf
dem Rialto zu Venedig zeigt, so:
,.In dem namen Jesus xpi und der Hoch geloptten junckfraw
maria vnd aller heillige fach ich ann diz piechlin zu schreiben das
da ausweyset von der kauffmanschafft daß da einem jettlichenn
kauffman nüzlich vnnd gut zu wissen ist der von augspurg oder
nürnberg handttdiern wollt genn Venedig vnd gen franckfürtt das
er sich In seinem handel mit alle Dingen wiß zu bewarn vnd vil
Sachen damitt das er dester minder betrogen werde."
Der Autor will besonders die Kaufleute unterrichten, die noch
nicht in Venedig waren und, mit der Praxis im Deutschenhaus nicht
vertraut sind; im Offizio pflege man ihnen gern mehr anzurechnen,
als sie an Zöllen, Maklergebühr usw. schuldig seien. Den im
Rechnen wenig Bewanderten sollen außerdem die zahlreichen Aus-
und Umrechnungen („tariffa") dienen, die dem Texte eingefügt sind.
Allerdings, um das gleich hier zu bemerken, ist der Verfasser mit
ihrer Fertigstellung nicht ganz zu Ende gekommen; nur hier und
da hat er später noch ein paar Ausrechnungen an den leer ge-
lassenen Stellen nachgetragen und ein paar in blanco belassene
Notizen noch ausgefüllt. Die Hauptsache für uns, den Text, hat
er jedoch noch vollendet, bevor ihm dringendere Geschäfte, Krank-
1) Geschehen ist nichts Derartiges.
— 26 —
heit oder gar der Tod die Feder aus der Hand nahmen und ihn
scheinbar auch die Drucklegung wirklic h zu veranlassen verhinderten.
Abgesehen von den Tarifen ist der Inhalt fast ganz handels-
kundlich. Im besonderen ist er eine privatwirtschaftliche inter-
nationale Handelskunde und somit ein früher Vorläufer von
Hellauers „Welthandelslehre", im weiteren Sinne auch der Hand-
lungswissenschaft und der späteren Handelsbetriebslehre. Schon
das erste Kapitel ') bezeugt das ; seine Überschrift beginnt so :
„Ein gutte Regell vnnd Lere . . . (für den Kaufmann in Venedig)
wie er sich haltten soll vnd In ettlichen Dingen zu fragen von denn
leffen vnd was die Schiffung pringt und wann Si hinweg fartt auch
wan Si herwider kömptt."
Danach soll sich der Kaufmann rechtzeitig um alle Nachrichten,
die für die Marktlage (leffe = Läufe, d. h. Konjunkturen und auch
Kurse) wichtig sind, bekümmern ; er soll fortwährend beobachten
und erkunden, was die Schiffe mitbringen an Waren und Nach-
richten, welche Kaufleute kommen und aufbrechen, und mit was für
Waren sie das tun, welche Preise gezahlt werden, wie die W'echsel
auf die Hauptplätze Frankfurt, Brügge, Genf usw. bewertet werden,
ja schon in Deutschland soll er aufpassen, ob von England viel
Tuche nach Frankfurt kommen und von Polen viel Rauchwaren
nach Nürnberg. Er wird zu dem Ende genauer darüber belehrt,
welche Flotten nach Venedig kommen und von dort abfahren,
welche Waren und Nachrichten sie in der Regel haben usw. ; auch
von den Waren der Plätze Frankfurt, Js^ürnberg und Augsburg und
ihren Marktzeiten ist kurz die Rede.
Die folgenden KapiteP) handeln von Münzen, Maßen, Gewichten
und Zählmaßen, vom Agio, von Kursen und Umrechnungswerten
(mit zahlreichen Tarifen) und von den Waren, die an den einzelnen
Plätzen nach ihnen gemessen und gehandelt werden. Von der
Venediger Bankowährung wird nur kurz gesprochen. Bei den
Flüssigkeitsmaßen erfolgt auch eine Anweisung zum Visieren (Aus-
messen und Berechnen der Faßinhalte). Diese Kapitel sind zugleich
eine recht ausführliche Warenkunde anscheinend aller Artikel, die
in Venedig, aber auch an den süddeutschen Plätzen gehandelt wurden.
1) Voranstehendes Bild; zwei Kaufleute im Gespräch vor einem Schiffe.
2) Mit folgenden Bildern : bei einem Geldwechsler (auf dessen Tisch das
? . .
Zeichen /\ ); in einem lucbladen; beim Messen von Getreide; eine Flüssigkeit
probierende und ein Faß visierende Leute; Umfüllen einer Flüssigkeit; zwei Frauen (!;-
als Käuferin und Verkäuferin in einem Laden; Kaufszene in einem Gewürzladen.
— 27 —
Ein besonderes Kapitel spricht von der Münzmark ^) und dabei
u. a. auch von den Arten der Gold- und Silberprobe, wobei eine
Anweisung, Scheidewasser zu machen, nicht vergessen wird. Sehr
lehrreich ist das Kapitel von den Waren, die nach Stück, Dutzend,
Faß, Fardel, Ballen usw. gehandelt werden-), wie denn überhaupt
das ganze Buch die schönsten Einblicke in den damaligen süd-
deutsch-venetianischen Handel gewährt.
Die folgenden Kapitel handeln von dem (amtlichen) Probe-
nehmen und Taramachen der Gewürznelken, vom Wieger-, Ballen-
binder-, Träger-, Makler- und vom Schreiberlohn in Venedig-'). Die
Nelkenprobe und Nelkentara ist besonders ausführlich beschrieben:
man deckte über einen Haufen der Ware einen Mantel und griff
dann unter ihm eine Probe heraus, die in ein Stück Papier ein-
gebunden wurde und dem Käufer blieb. Die Kosten des Probe-
nehmens (16 /?) sollten beide Parteien zu gleichen Teilen tragen,
da aber der Verkäufer gewöhnlich nicht mit anwesend war, so
mußte der Käufer die ganze Gebühr auslegen, während der andere
sich um die Wiedererstattung seines Anteils herumzudrücken
suchte usw.
Übrigens waren manche Gebühren sogleich zu bezahlen, andere
aber erst bei der Abreise nach Maßgabe der Abrechnungen, die
im „Offizio" für den Kaufmann aufgestellt wurden. Nach dem
Werte der Warenrechnungen wurde der Schreiberlohn gezahlt.
Für das Nachprüfen einer Rechnung zahlte man eine feste Gebühr von
4 /?, für das Schreiben eines Briefes, das den Kaufleuten oft schwere
Not gemacht hätte, 12 ß.
Dem Venediger Zolltarif (mit Ausrechnungstafeln in Banko-
währung) folgen sodann die Zölle von Augsburg, Nürnberg und
Frankfurt, hauptsächlich aber eine Unterweisung „von dem Condra
pannda zu machenn", was besonders bei Ausfuhr von Seide aus
Venedig beliebt war. Dies ist das einzige Kapitel des Buches, mit
dessen sittlicher Auffassung man nicht einverstanden sein kann^j.
1) Bild: vor einer Münzerei.
2) Bild: Rauchwarenhandelsszene, in der Felle gezählt werden.
3) Bilder: Aussieben einer Waie; Leute an einer gr. Balkenvvage; Ballen-
binder bei der Arbeit; Träger unterwegs; ein Makler, zwischen zwei Kaufleuten
stehend, führt deren Hände zusammen; zwei versch. Darstellungen aus Schreib-
stuben, wohl im Deutschenhaus und Officio.
4) Nachträglich finde ich noch in den „Verbandsblättern" des Verb. D, Hdlgsgeh.
28. Jhg. Nr. 14 eine der Frankf. Ztg. entnommene Mitteilung über eine Handschrift:
„Allerhand Hantirungen für junge Laite, so sich der Kramerei und Handels be-
fleißigen ihun bei Kauff, Verkauf und Tausch bei Hause und Jarmarkf. Vcrteutscht
— 28 —
l"in weiteres Kapitel handelt von den noch nicht j,a-nannten
Unkosten für das Messen, Bleichen, Färben, Beschauen usw., so-
<.lann ein fols^^endes ') von dein Frachtlohn für die Beförderung auf
Wagen, Saumtieren und, soweit in('»glich, zu Schiff; auch die
Zölle usw. für die Etappen des Bozener und des Mailänder Weges
werden angeführt. Schließlich spricht noch ein Kapitel von den
Zehrungskosten, die heim Aufenthalt im Deutschenhaus zu Venedig
entstehen, und von den Mietpreisen einer Kammer dort'^).
Die weiteren Ausführungen des Buches müssen als ein Anhang
betrachtet werden. Zunächst kommen etwa 15 Blatt Ausrechnungs-
tafeln für Warenpreise, dann eine kurze Anweisung zum kauf-
männischen Rechnen 3), ein paar Schuldbrief-, Quittungs-, Fracht-
brief- und Zolldeklarationsbeispiele und das Muster eines Briefes,
der eine Warensendung anzeigt und um Weiterbeförderung nach
Verauslagung der Fracht bittet (es sind das die ältesten unserer
wirklich kaufmännischen Briefanweisungen, die ich kenne). Zu-
letzt erfolgt noch eine kleine Anweisung, wie man für sich oder als
rechnungspflichtiger Handlungsdiener oder Gesellschafter seine Ab-
rechnung machen soll — damit nichts vergessen Wird , werden
noch einmal alle Unkostenarten verzeichnet — eine eigentliche
Buchhaltungsunterweisung ist dies letzte Stück jedoch nicht.
Von der Nelkenprobe und -tara dieses Buches von 1511 habe
ich eine Abschrift vom Jahre 1528, lose in einer weiteren Quart-
aus dea wahrhaftigen Chronika seit die Welt stehet biß auf diß Jar, so man zält
146S nach Christo." Sie enthält fast nur Anweisungen zu unredlichen Handgriffen,
zum Umschmeicheln der Kunden usw. Mir sind „Betriebs"lehren dieser Richtung
sonst nicht vorgekommen.
1) Bild : ein Fuhrmann mit Wagen unterwegs. — Zwischen diesem und den
zuletzt genannten Schreibstubenbildern befindet sich eins, auf dem jemand von einer
Frau vor einer Krambude ein Band kauft; daneben schlägt ein anderer ein Faß zu,
Vielleicht soll der Einkauf eines Geschenkes dargestellt sein; zu dem Text des Buches
finde ich das Bild in keiner Beziehung.
2) Bild : Ein mit einem Packpferde ankommender Kaufmann kehrt in einer
Herberge (im Deutschenhaus?) ein und gibt einem vor ihr Sitzenden ein Almosen.
3) Zur Geschichte des kfm. Rechnens finden sich in Wolfenbüttei eine ganze
Anzahl Handschriften. Meistens sind es freilich bloße Preisaus- und Umrech-
nungen, also ,,Tarife". Die älteste Wolfenbütteler Anweisung zum kfm. Rechnen,
eine Art Lehrbuch des Linienrechnens, habe ich in einem Sammelband 16. 1. Astr. 4"
gefunden („Wiltu nach icklicher künst meistlichen lernen vberschlaen vnde rechen
durch eyn behendes vnd subtiles legen So mach zu dem ersln lingen uff eyne
disch . . ."). Die Handschrift ist von einem Unbekannten wohl um 1450 verfaßt
(eine andere dieses Bandes ist von 14S6) ; besonders bemerkenswert ist, daß sie
bereits nach den Spezies die Regeldetri, Gesellschaftsrechnung, verschiedene Waren-
rechnungen usw. erläutert. Auch die Bruchrechnung ist darin enthalten.
— 29 —
Handschrift (Aug. 13. 4. 4*^) der Wolfenbütteler Sammlung liegend
gefunden. Weiter lag diesem Bande eine kleine Anzahl kurzer
Notizen von Handelsgebräuchen bei, die ein Augsburger von 1561
bis 1569 aufgezeichnet hat; u. a. verzeichnet er die Manier einer
Preisauszeichnung mit Buchstaben, bei der die Ziffern 1 — 5 durch
die Buchstaben i — n und die von 6 — 0 durch b — f ersetzt werden.
Diese Einlagen, sowie der Band, in dem sie liegen, und ferner das
oben beschriebene Manuskript von 1511 sind von verschiedenen
Händen. Wie die betreffenden Schreiber miteinander in Beziehung
zu bringen sind, darüber läßt sich natürlich auf Grund der wenigen
vorhandenen Anhalte nichts weiter sagen. Die Handschrift Aug. 13. 4.
4^ selber ist kaum von Aug. 18. 4. 4** beeinflußt worden, es müßte
denn, was aber wenig wahrscheinlich ist, in ihren „Tarifen" eine
Fortsetzung der dort begonnenen erblickt werden.
Ms. Aug. 13. 4. 40 ist 1530 begonnen, in seinen letzten Blättern
aber erst 1537 vollendet worden. In seinem ungenannten Verfasser
kann wiederum nur ein Augsburger Kaufmann vermutet werden.
Die meisten Blätter enthalten nichts als „Tarife" über den Verkehr
zwischen Augsburg und Venedig. Der Titel (beginnend : „1530 Item
so ist zu wissen dise vorgeschriben Tariffa . . .") erklärt den Ge-
brauch der Tafeln. Diese enthalten nämlich förmliche Preisparitäten^
die durch Addition bestimmter Unkostensätze zu den umgerechneten
fremden Preisen gefunden sind. Wie weit man in der Kalkulation
bereits voran war, darauf deutet das letzte Blatt hin, auf dem eine
Sendung englischer Wolle von Calais über Antwerpen bis Venedig
berechnet wird; leider sind die Transportkosten Antwerpen — Venedig
in einem Posten angegeben, so daß diese Berechnung nicht ganz
so lehrreich ist, wie sie sein könnte.
Dies letzte Blatt beschließt eine Art Anhang der Tarife, in dem
fast nur von dem Einkauf englischer Wolle in Calais und ein wenig
vom Pfefferkauf in Lissabon die Rede ist. Daß die ganzen Auf-
zeichnungen nur für den Hausgebrauch des Schreibers bestimmt
waren, darauf deutet der Anfang des Anhanges hin, wo es heißt:
,, Memoria. Zu Callis ist unser Wirt vom Stapel Thomas de wain . . ."
Hier wird u. a. geschildert, zu welcher Mithilfe dieser Wirt beim
Wolleinkauf verpflichtet war. Für die Bestimmung der Wollsorten
hat der unbekannte Verfasser ein eigenartiges, kreisförmiges Schema
mit eingelegtem hohlarmigen Kreuz gezeichnet und dann in die
Zwischenräume die Sortenmerkmale geschrieben. Ich weiß nicht,
ob die Benutzung dieses Schemas sein besonderer oder ein allge-
meiner Gebrauch war.
— 30 —
Diese 1 land-seliiift hängt alxr nur durch ihre etwas ältere erste
Einlage von 1528 merklich mit unserm Buche von 1511 zusammen,
und ferner enthält sie nur wenige Schhiüseiten mit erzählenden
Ausführungen. Anders ist das mit einer weiteren Wolfenhütteier
Handschrift (20. Aug. Fol.), die das Original oder noch wahrschein-
licher die Abschrift einer nach 1537 entstandenen Zusammenstellung
handelskundlicher Aufzeichnungen ist; sie geht offenbar auf die
Handschrift von 1511 zurück und enthält schon darum eine ähn-
liche Handelskunde wie jene. AufJer ihr befinden sich in dem ge-
nannten Foliobande eine Anzahl medizinischer, chemischer u. ä.
Handschriften, so daß man wolil mit Recht vermuten darf, daß
sein früherer Besitzer (Erhard Leser oder Lesser) ein Apotheker
gewesen sei^).
Andererseits ist die für uns in Frage kommende Handschrift
ohne Zweifel das Original oder die Abschrift eines ersten Manu-
skriptes zu dem 1558 gedruckten ,, Handel Buch" von Lorenz
Med er, Nürnljerg. Um eigenhändige Aufzeichnungen Meders
dürfte es sich wohl nicht handeln, denn die in Wolfenbüttel befind-
lichen sind eigentlich eine Doublette von der nämlichen Hand, nur
daß das zweite Stück bloß bis zu Blatt 10 abgeschrieben oder mit
dem Rest verloren gegangen ist, während das erste 4ö Blätter um-
faßt. Demnach dürfte also eine bloße Schreiberarbeit (d. h. Abschriften
von Meders Manuskript) vorliegen, denn Meder selbst wird sich
wohl kaum der Mühe einer doppelten wörtlichen Abschrift unter-
zogen haben 2).
Wenn ich vorhin sagte, diese Handschrift ließe sich auf die
von 1511 zurückführen, so gilt das nur für die allgemeine Anregung
und für die mehr oder weniger unveränderte Übernahme einzelner
Kapitel, wie die oben beschriebene Nelkenprobe und Nelkentarierung.
Manche Kapitel der älteren Handschrift fehlen in der jüngeren und
1) Nachträglich finde ich einen Robert Leser 1502/04 als einen der Venediger
Vorsteher der Deutschen genannt bei G. M. Thomas, G. B. Milesios Beschreibg.
des Deutschen Hauses in Venedig (.'Xbh. d. k. bayer. Ak. d. Wiss. I. Cl. XVI, 11).
Dadurch werden die Vermutungen über den Verfasser der hier besprochenen Hand-
schriften auf eine deutlichere Spur gelenkt. •
2) Solcherlei Abschriften scheinen nicht ungewöhnlich gewesen zu sein. Veit
Konrad Schwarz, Sohn des bekannten Fuggerfaktors Matthäus Schwarz, hat, auf
dem Fuggerkontor beschäftigt, schon mit 13 Jahren solche Abschriften machen
müssen. Darüber sagt er in seinem „Trachtenbuch " (Besitz des Herzogl. Museums
zu Braunschweig): „. . . unter andern mußt ich den Fuggern . . . etliche Tariphe
und buchhahen (Buchhaltungsanweisungen? wohl eher eingesandte Abrechnungen
usw. der auswärtigen Faktoren) abschreiben."
— 31 —
in dem „Handel Buch" völlig und wieder andere sind nur in den
letzteren Arbeiten vorhanden, also Meders eigenes Werk.. Ein
Hauptunterschied liegt in der Gliederung: in der älteren Arbeit ist
alles nach sachlichen Gesichtspunkten geordnet, während in den
jüngeren die geographische Einteilung nach Ländern oder Handels-
plätzen gewählt ist. Der Unterschied ergibt sich daraus, daß dort
fast nur vom Handel mit Venedig die Rede ist, während bei Med er
fast alle damals wichtigen Handelsbeziehungen Süddeutschlands be-
rücksichtigt sind. — Alles in allem ist die Vermutung nicht zu ge-
wagt, daß die Handschrift von 1511 Meders Vater, der auch im
X'orworte des ,, Handel Buch" erwähnt wird, gehört hat, und daß
Lorenz Meders Aufzeichnungen zunächst nur den älteren archi-
valischen Familienbesitz mit Nachträgen und Zusätzen ergänzen
sollten. Da die ältere Schrift von 1511 offenbar von Augsburg
stammt, während Meder Nürnberger ist, kann als ihr Verfasser
auch ein Augsburger Teilhaber einer früheren Mederschen Gesell-
schaft in Frage kommen, wenn die Meder nicht vorher in Augs-
burg ansässig gewesen sein sollten.
Die Handschrift (Meders?) von 1530 hat folgenden Titel '): »In
Namen Der Hailigen Vntailbaren drifeltigkeit amen u. Hernach
Voigt ain schön Cöstlich vnnd Nutzbariich Puch Merla)- Landen
vnd Stet gebrauch der Kauffmanschafft so ainem Jedlichen Kauff-
man nützlich vnnd gut auch von nötten zu wissen." Da von einem
^Buch" die Rede ist, das „jedem Kaufmann" nützen könne, so darf
ich, wie bei der Handschrift von 1511 schon, wiederum vermuten,
daß die hier vorliegende Zusammenschrift der sonst wohl verstreuten
Notizen im Hinblick auf eine beabsichtigte Veröffentlichung geschah.
Allerdings ist dann bis zur Drucklegung des „Handel Buch" noch-
mals eine Umarbeitung erfolgt.
Der Text beginnt mit Ausführungen über Metalleinkäufe zu
Hall im Inntal nebst Angabe der Unkosten für die Verkäufe in
Augsburg, Frankfurt, Antwerpen, Wien, Venedig, Mailand, Genua
und Lissabon. Darauf folgt der Hauptteil der Arbeit, nämlich „viel
schöne Gebräuche von allerhand Kaufmannschaft der Stadt Venedig".
Diese Erläuterungen sind eine Bearbeitung und Ergänzung mancher
Teile der Handschrift von 1511; der Text ist hier knapper, aber
nicht immer klarer. Die vielen Rechentafeln und -tabellen sind
hierin ausgelassen. Dafür sind u. a. eine Anzahl guter Ratschläge
für junge Kaufleute hinzugekommen; so sollen sie sich über Kredit-
1) In den ersten Worten rot ausgemalt, was bei der weiteren zehnblättrigen
Abschrift nicht geschehen ist.
— 32 —
nehmer genau (.rkundigcn, sollen besonders den Angotelllcn im
Deutschenhaus nichts leihen usw. Bemerkenswertes bietet dann nur
noch die Aufstellung von Prcispaiitäten zwischen Venedig einerseits
und Augsburg, Nürnberg, Frankfurt, Kctln, Ulm und Antwerpen
andererseits, wobei alle Unkosten eingeschlossen sind. Auch deutsche
und englische Waren werden bis Venedig berechnet.
Nach den Gebräuchen der Mandel-, Oel- und Saffranmärkte
(hier Berechnungen für Versendung bis Posen und Danzig) folgen
sodann diejenigen der spanischen und portugiesischen „Handlung"'
(hier u. a. „von wexlen vnd Segurantz in Seuilla" und „wie einer
eine Pertita um Spezerei mit dem König von Portugal machen
soll"), der englischen Handlung (dabei „ein kleiner Bescheid des
Weges und Gebrauchs von Antorf ') nach England zu reisen") und
der Antorfer Handlung. Die dann noch folgenden Kapitel mit den
Gebräuchen von Augsburg, Nürnberg, Bozen, Bologna, Como, Florenz,
Genua, Mailand und Rom sind viel weniger umfangreich, was wohl
nicht allein auf die geringere Handelsbedeutung dieser Plätze zurück-
geführt werden kann.
Vergleichen wir mit dieser Handschrift das „Handel Buch" von
Lorenz Med er, Nürnberg 1558, 112 Seiten Folio. Sein voller
Titel heißt: „Handel Buch Darin angezeigt Wird, welcher gestalt
inn den fürnembsten Hcndelstetten Europc, allerley Wahren an-
fencklich kaufft, dieselbig wider mit nutz verkaufft, Wie die Wechsel
gemacht, Pfund, Ellen, und Müntz vberall verglichen, vnd zu welche
zeit die Merkte gewönlich gehalten .werden. Sampt anderen mehr
nutzungen darzu gehörig. Allen Hanthierern vnd Jungen Kauff-
leuten gantz nützlich vnd dienstlich. Mit einem Register." In der
Vorrede heißt es u. a., daß Meder auf häufigen Wunsch von
Gönnern und Freunden zur Veröffentlichung seiner Notizen schreite.
Daß die Bekanntgabe dieser „verborgenen Künste, so bisher noch
nie an den Tag gekommen und von niemand bis auf diese Stunde
klärlich durch den Druck an den Tag gegeben worden" seien, ihm
den Vorwurf des Verrates kaufmännischer Geheimnisse eintragen
werden, will er sich nicht weiter kümmern lassen, weil er der All-
gemeinheit zu nützen hofft, ja, die ängstliche Geheimhalterei für
schädlich hält. Heute würde man übrigens in den Med ersehen
Mitteilungen keine Geheimnisse erblicken, während es damals bei
den schlechteren Verkehrsmöglichkeiten welche* gewesen sein
mögen.
1) Ältere Bezeichnung für Antwerpen.
— sa-
uber den Inhalt ist wenig mehr zu sagen, als daß er bis auf
unerhebliche Umstellungen, unwesentliche Zusätze und ausführ-
lichere, deutlichere Fassung mancher Textstellen mit dem Wolfen-
bütteler Ms. 20 Aug. Fol. von 1537 übereinstimmt. Außer einigen
dort noch nicht genannten Handelsplätzen sind besonders die
Wechselgebräuche hinzugekommen; ein „Bescheid, wie man Vor-
teile in allerlei Wechselsachen suchen soll", gibt uns sogar einen
m. W. ersten Einblick in die damalige Arbitrage. Auf den letzten
Blättern sind die verschiedenen Ellenmaße durch Linien von ver-
hältnismäßiger Länge mit einander verglichen — ein Beweis, wie
sehr das Buch für den Handgebrauch im Kontor gedacht war. In-
wiefern es den Bedürfnissen seiner Zeit genügt hat, läßt sich
höchstens vermuten. Ich habe je ein Exemplar davon im Ger-
manischen Museum zu Nürnberg, in der Leipziger Stadtbibliothek
und in der Hamburger Commerzbibliothek gefunden. Wolfenbüttel
hat zwei Exemplare; einem davon und dem in Nürnberg ist noch
ein „Vndterricht eins gantzen Handelbuchs", Frankfurt/M. 1559,
Folio, angehängt, der nur die Buchhaltung umfaßt; den Verfasser
kennt man nicht. Ob Med er selber in Frage kommt?
Daß Notizen dieser oder ähnlicher Art, daß besonders aber
bloße „Tarife" ohne Text damals, wie in Italien, so auch bei uns
regelmäßig für den Hausgebrauch aufgezeichnet wurden, erhellt
aus einer ganzen Reihe weiterer Manuskripte der Wolfenbütteler
Bibliothek. Ein „tariff von dem silber" der Wiener Mark ist von
1547 (65. 1. Ms., 80). Eine „Intrada" betitelte sehr schöne Hand-
schrift (86. 1., Fol.) enthält Tafeln aller Venediger Abgaben und
Unkosten für Mengen von 1 — 1000 Ctr. ; sie dürfte aber nicht vor
Ende des 16. Jahrhunderts angefertigt sein. Eine „Buchführer
Taxa^), das ist Verzeichnis aller Bücher so in den 2 Frankfurter
und 3 Leipziger Messen verkäuflich gefunden werden .... Samt
zu Ende kurz angehängter Papierrechnung, beneben Vermeldung:
wie ein Buchhandel ordentlich und richtig anzustellen sei, also daß
sich auch dessen Unerfahrene leichtlich darein schicken mögen.
Mit Fleiß aus vielen Textbüchern und eigener Erfahrung zusammen . . .
gebracht .. . 1581 durch Martin Hecht, Heringensen" ist leider
nicht einmal in ihrem ersten Teil vollendet worden (Ms. 1117
Heimst.).
Dem Augsburger Philipp Hainhofe r, der als Faktor des
Herzogs August (Begründers der Wolfenbütteler Sammlungen)
1) Das Titelblatt dieser sauberen Handschrift ist farbig ausgemalt,
Zeitschrift für die ges. Staatswissensch. Ergänzungsheft 49. 3
— 34 —
seinem Auftraggeber wohl auch die ineisten der bisher genannten
Handschriften erworben hat, hat sodann ein Ms. 23. 22. Aug. gehört^
das „allerley dubia vnd strittige sachen, so sich so wol in wixlen
als kauffen vnd verkauffcn der wahren begeben" nach den von
verschiedenen Kaufleuten (darunter ein Welser und der Vater Hain-
hofers) abgegebenen Gutachten verzeichnet ; ferner stehen darin
Notizen über die Waren und die Wechselkurse zu Frankfurt 1599-
bis 1607, weiter der Anfang einer 1602 geschriebenen Handels-
kunde (das vorliegende Stück betrifft nur kurz ein paar italienische
Plätze und schließt mit einem italienischen Wechseltraktat) und zu-
letzt ein Verzeichnis der größten und bekanntesten Bankerotte, die
seit 1602 an verschiedenen Plätzen vorgekommen waren. Zwischen
den einzelnen Teilen sind noch viele leere Blätter; überhaupt sind
alle Teile so unfertig, daß sie uns wenig mehr besagen, als daü^
man auch noch im 17. Jahrhundert die Aufzeichnung solcher Daten
für notwendig hielt und daß sie hier auch auf kaufmännische Rechts-
gutachten ausgedehnt sind.
Von den zahlreichen Rechenbüchlein in Wolfenbüttel sei nur noch
Ms. 77. Aug. 8^ (16.' Jahrh.) genannt, das auch eine Anweisung zur
Visierkunst enthält. Im Germanischen Museum fand ich ebenfalls
„Ein Vnderricht für Einen der daß Vissiern Lernen will" i), der aber
nach den angehängten Bierbrauersatzungen späteren Datums auch
von Anfang an im Besitze eines Brauers oder im Besitze einer
Brauerzunft gewesen sein kann. Weitere Handschriften habe ich nicht
gefunden, sollte aber meinen, daß sich mit der Zeit noch mehr ent-
decken lassen.
Nach den bisherigen Anläufen und besonders nach der \'er-
öffentlichung des ..Handel Buchs" sollte man eine allmählich häu-
figer werdendeHerausgabe von handelskundlichen Schriften erwarten.
Aber fast das ganze 17. Jahrhundert ist für die Entwicklung der
Handlungswissenschaft unfruchtbar — wohl mit eine Folge des 30-
jährigen Krieges. Nürnberg 1645 erschien von G. N. Schurtz ein
Folioband „Buchhalten", in dem ein Gedicht eines M. Schirmer
angeführt wird, das „Erinnerungsregeln" für junge Kaufleute um-
faßt. Hier sind einige: „Dein Gläubiger gibt acht auf dich, ob du
dein Haus regierst mit Bedacht" — „Sortier fein ordentlich die
Waren ins Gesicht; es macht dem Käufer Lust und bringt dir
Schaden nicht" — „Wer was mit neu verkauft, dem trägt's zwar
1) Folio; wohl Anfang des 16. Jahrhunderts ; eine wunderhübsche Handschrift
mit farbigem Titel und einem weiteren farbigen Bialte, das die Tätigkeit des Vi-
sierens veranschaulicht.
— 35 —
wenig bei, doch tut er besser, als der was behält mit Reu." Viel-
leicht sind diese Regeln von Schirm er selber nur gereimt worden,
jedenfalls enthält ein fliegendes Blatt dieser (oder einer etwas spä-
teren) Zeit ') ihrer 44 ähnlichen oder gleichen Inhalts auch un-
gereimt.
Nürnberg 1672 erschien Schurtzens „Buchhalter" noch ein-
mal als Anhang zu einem dem „Handel Buch" ähnlichen Werke
des Genannten, das sich „New eingerichtete Material Kammer"
nennt. Ihren Titel „Material "-Kammer verdankt diese Arbeit ihrem
hauptsächlich waren- und usancekundlichen Charakter. Wenn sie
auch an Umfang und Bedeutung dem Med ersehen Buche weit
nachsteht, so berichtet sie doch wenigstens Tatsachen, die manchem
Kaufmann nützen mochten; ihren Ursprung mag sie ebenfalls in
für den eigenen Gebrauch gesammelten Notizen haben.
Etwas wertvoller ist für uns die ,,Idea Mercaturae Darinnen,
was von der kauf Leute Commercienj Credit und Glauben, Falli-
menten oder Banckrotten, W^exeln und dessen Rechte, Protesten,
Parere, Rescontreen, Kaufmanns-Messen, assecurationen, Buchhalten
und bilanciren, anzumercken und zu behalten, kurtz jedoch eigent-
lich beschrieben wird: Jungen und annoch ungeübte Kaufleuten
zum nothwendigen Unterricht . . ," von M. Wagner, anscheinend
einem Bremer Buchhalter und Schulmeister. Er gab das Buch zu
Bremen 1661 -) heraus und verteidigte seine Kühnheit ähnlich wie
Med er und noch viele Spätere mit dem inständigen Ersuchen et-
licher Lehrlinge und junger Kaufleute.
Die Kapitelüberschriften sind bei Wagner in Frageform ge-
kleidet. So heißt es da u. a. : Was ist der kaufmännische Kredit und
woher ist derselbe entstanden ? Wodurch verliert ein Kaufmann
seinen Kredit? Was ist ein Falliment? Wodurch wird ein Kauf-
mann zu einem Falliment oder Bankrott veranlaßt? Wodurch be-
kommt ein Bankrottierer ein freies und sicheres Geleit? Wie kommt
es, daß man sich manchmal mit 20 — 30 "^/'o begnügt? usw. usw.
Es folgen einander noch Fragen handeis- und wechselrechtlicher Art,
der Meß-, Markt- und Börsenskontration, der Versicherungen und
schließlich noch der Buchhaltung. Hier urteilt er auch sehr ab-
fällig über die bisherige Buchhaltungsliteratur, die statt auf das
1) Reproduziert bei G. Steinhausen , Der Kaufmann in der deutschen Ver-
gangenheit, S. 114. Zuletzt hatte sie J. M. Leuchs in seinem ,.System des Handels"
von 1S22 veröffentlicht und dabei angegeben, daß ein Nürnberger Kunsthändler
Johann Hoffmann ihr Verfasser sei.
2) 78 Seitchen.
3*
— 36 —
AVescntlichc mehr zu achten, sich „allein auf praxin gelegt". Leider
vermag Wagner selber nichts Besseres zu liefern, und überhaupt
faf3t das ganze Büchlein nirgends den Stoff herzhaft genug an, um
tiefer in ihn einzudringen.
Etwas später, 1709, machte sodann das „Gevvürzschauamt" zu
Nürnberg eine ,, Instruction oder Unterweisung" für die Gewürz-
kramerlehrlinge bekannt, die da besagt „Wie sich Jungen, so sich
zu dem offenen Spezere3'-riandel begeben, so wol in ihrer Herren
Haus, als auch in den Gewölben und Märckten verhalten, und was
sie wehrender ihrer Lehr-Jahre erlernen sollen" '). Als bloß auf
den Lehrling bezogen , liegen diese Vorschriften allerdings etwas
abseits von unserem Wege; im Verein mit den zuvor genannten
„Erinnerungsregeln" beweisen sie aber doch auch das Vorhanden-
sein von Strömungen, die geschäftstheoretischen Arbeits- und Wirt-
schaftsregeln günstig waren.
Demgegenüber bringt der „Deutsche Helleuchtende Kauff- und
Handels-Spiegel" des M. J. Schmal tz, der 1677 zu Altenburg
erschien, fast nur philosophische und allgemein-rechtliche Betrach-
tungen. Vom eigentlich Kaufmännischen hat der Verfasser, ,,Ka3'serl.
Geh. Hofpoet", wohl selber keine große Ahnung gehabt. Immerhin
versucht er einige allgemeine Grundsätze für das Handeln zu finden.
So verlangt er vor allem^ daß der Gelderwerb, die ,, causa efficiens"
des Handels, zum Nutzen der Allgemeinheit beitragen müsse, und
daß in allen Geschäften die ,, Ehrbarkeit" und die ,, Nutzbarkeit"
gleicherweise zu ihrem Rechte zu kommen hätten.
Auch „Das Interesse eines Gewisscnhafften Kauffmans", aus ver-
schiedenen englischen Büchern zusammengetragen, von J. D. Kassel
1674 in 120, enthält nichts für uns, indem es lediglich eine christliche
Morallehre sein will; bemerkenswert ist nur die Gründlichkeit, mit
der das Büchlein auf die einzelnen praktischen Fragen eingeht.
Später sind noch mehr solcher Übertragungen aus dem Englischen
erschienen. In die Gruppe dieser Bücher gehört auch ein noch
älteres: „Discurs vnd Rede von der Edlen vnd in der gantzen Welt
berühmten Mercanzy vnd Kauffmanschafft", Hamburg 1642, des
Mathematikers M. G. Schultz, eine Lobrede des Handels, die auf
eine Empfehlung der Mathematik und des Rechnens hinausläuft,
welche Kenntnisse besonders der Buchhalter haben müsse.
Sehen wir nun zu, was uns gegenüber dem ziemlich unfrucht-
baren 17. Jahrhundert das folgende gebracht hat.
1) Ebenfalls bei Leuchs a. a. O. wiedergegeben.
— 37 —
E. Paul Jakob Marperger und seine Zeitgenossen.
Noch im ganzen 17. Jahrhundert bestand unter den einzelnen
Schriften der deutschen Fachliteratur wenig Zusammenhang, und
darum ist auch bis dahin auf keinem ihrer Einzelgebiete ein nennens-
werter Fortschritt festzustellen. Am ehesten wäre noch das kauf-
männische Rechnen als in langsamer Entwickelung begriffen zu
nennen gewesen, in einer Entwickelung, die u. a. an einer gewissen
Pflege der welschen Praktik, der Arbitrage usw. zu erkennen war*).
Dagegen kam man in der Buchführung gar nicht recht voran, und
Korrespondenzwerke oder Briefsteller kaufmännischen Inhalts fehlten
immer noch 2), Eine Handelsgeschichte ^) gab es noch nicht einmal
dem Namen, geschweige denn dem Wesen nach, und die „Commerz-
geographie" entstand gerade erst in einigen Vorläufern, die hier
übergangen werden können. Die kaufmännische Rechts- und die
Wechselkunde steckte noch ganz in der juristischen Betrachtungs-
weise ^). Die Handelskunde und die Handlungswissenschaft endlich
hatten erst die wenigen Vorläufer aufzuweisen, von denen soeben
die Rede war. Mit dem beginnenden 18. Jahrhundert änderte sich
nun dieses Bild vollständig, indem auf all den genannten Gebieten
ein etwas regeres Schaffen einsetzte oder doch nachhaltige An-
regungen dazu erfolgten. Es geschah das hauptsächlich durch die
einschlägigen Veröffentlichungen des berühmten Polyhistors Paul
Jakob Marperger.
Marperger war 1656 zu Nürnberg geboren. Schon früh
wurde er nach Lyon in eine kaufmännische Lehre getan ^); später
war er in Norddeutschland, Schweden, Rußland und Schlesien-
Oesterreich tätig. Aus dem Kaufmann wurde allmählich der Ge-
1) Die immer zahlreicheren Tabellenwerke für das Rechnen waren meistens
das Ergebnis der Arbitragepraxis. Bemerkenswert erscheinen mir vor allem
J. F. Hoffmann, Blüender Wexels-Baum, Frankfurt/M. 1666 (dann 1690 deutsch-
französ.) wegen seiner einleitenden Anweisungen zur Arbitrage und von den spä-
teren J. Rademann, Der Stadt Hamburg stets Blühender Wexel-Baum, Hamburg
169S, der keine Tabellen, sondern Musterberechnungen enthält.
2) „Die Geheime Cassir- und Schreibstube", 16S8, mag ein Buch dieser Art
sein; ich kenne von ihm nur diesen Titel.
3) Marpergers Historischer Kauffmann, Lübeck u. Leipzig 1708, war wohl
einer der ersten Versuche.
4) So die auch den „Kauff- und Handels-Leuten" gewidmete Anleytung zu
gründlichem Verstand Deß Wechsel-Rechts von J. J. Heydinger, Frankfurt/M. 1676.
5) Vgl. Einleitung zu Abschnitt C. — Über M.'s Leben und Schriften siehe
G. H. Zincke in seinen Leipz. Sammlungen, Bd. II, ferner Allg. Deutsche Bio-
graphie, Bd. XX.
— 38 —
lehrte und Schriftsteller Marperger, der erste deutsche Handels
Wissenschaftler. Nachdem er es zu der Würde eines Mitgliedes der
Kgl. Preußischen Sozietät der Wissenschaften gebracht hatte, wurde
er 1712 als Hof- und Kommerzienrat nach Dresden berufen, wo er
1730 starb. Die Kärglichkeit seiner Besoldung sowohl wie auch
die Regsamkeit seines Geistes trieben ihn zu einer immer fieber-
hafteren Tätigkeit an. Zahlreiche X'eröffentlichungen meist kom-
merziellen und polizeilichen Inhalts und zahlreiche Eingaben und
Vorschläge an die Behörden zeugen davon. Sie sind ebenso oft
ganz selbständiger Art als zielsichere Ausarbeitungen und Fort-
setzungen von Gedanken anderer über die Hebung des Handels,
der Gewerbe und der öffentlichen Wohlfahrt überhaupt. Leider
geriet Marperger aber auch immer mehr, iiiehr jedenfalls, als in
der Gewohnheit seiner Zeit begründet war, in eine ermüdende Ge-
schwätzigkeit und damit in eine beklagenswerte Oberflächlichkeit
hinein 0- Eine große Menge seiner Schriften hat er im Selbstverlag
herausgeben müssen, und häufig sind sie ohne Angabe des Jahres
und des Druckortes erschienen, so daß schon bald nach seinem
Tode manche sehr schwer aufzutreiben waren.
Den Reigen seiner auch für uns bemerkenswerten Arbeiten
scheint Marperger mit seinem „Probirstein der Buchhalter oder
selbst lehrende Buchhalter-Schule'*, Ratzeburg 1701 (2. Aufl. Lübeck V)
eröffnet zu haben, ferner mit unserem ältesten kaufmännischen
Korrespondenz werke, genannt ,,Der allzeit fertige Handelscorrespon-
dent, worinnen die gantze Handelswissenschaft mit deroselben Scrip-
turen, Briefen und Cautelen, samt allerhand Arten Rechnungs-For-
mularen und andern Nothwendigkeiten enthalten, nach dem aller-
neuesten St}'!© vornehmer Kaufleute eingerichtet." Dies Buch
erschien zuerst wohl Hamburg 1705 oder 1706, in den nächsten
Auflagen vermehrt um einen dritten und vierten Teil mit dem be-
sonderen Titel „Kluger und wohlgeübter Kaufmanns-Secretarius",
der seinerseits noch 1764 zu Hamburg in fünfter Auflage erscheinen
konnte. Hierin befinden sich außer Ergänzungen der ersten Teile und
Marp ergers bisheriger Schriften überhaupt auch Anmerkungen und
Belehrungen über Einzelfragen des Geschäftsbetriebes, so im vierten
Teile sogar Gedanken über Einkaufsgenossenschaften der Kaufleute.
Wissenschaftlich im eigentlichen Sinne sind übrigens diese und
andere Bücher Marpergers nicht, auch wenn in ihrem Titel von
„Handelswissenschaft" die Rede ist; das Etikett ,, Wissenschaft"
1) W. Röscher in seiner Geschichte der National-Oekonomik in Deutschland
urteilt recht hart darüber.
— 39 —
diente ihm überall nur zur Empfehlung der kaufmännischen Wissens-
gebiete oder auch als bloßes Synonym für „Wissensgebiet" oder
^, Wissen und Können".
Der große und berechtigte Beifall, den die genannten Arbeiten
fanden, wurde nun von Marperger zu Gelde gemacht. Schon
-seine ,, Neu -Eröffnete Kauffmans- Börse, worin Eine vollkommene
Connoisance aller zu der Handlung dienenden Sachen und Merck-
würdigkeiten, auch Curieusen und Reisenden Anleitung gegeben
wird, was sie davon zu ihrem Vortheil auff Reisen zu bemercken*',
Hamburg 1705, enttäuscht durch die Dürftigkeit ihres Inhalts. Etwas
hesser ist nur das 3. Kapitel „Von den Maximen und Lehrsätzen,
welche Kaufleute, die ihren Handel und Wandel glücklich treiben",
•das aber auf Savary fußt. ,,Le parfait negociant^' hat unserem
Marperger öfter als Grundlage einzelner Abschnitte in seinen
Büchern gedient; wie weit er im allgemeinen durch jenes Werk,
das er vielleicht schon in L3'on kennen gelernt hat, angeregt worden
ist, läßt sich natürlich nicht mehr feststellen. Die zweite Auflage,
die die ,,Kauffmans-Börse" 1707 fand, kann, abgesehen von der
Zugkraft des Namens Marperger, nur aus der Bescheidenheit und
dem Lesehunger seines Leserkreises erklärt werden.
Ein paar Beiträge zur Handelskunde seiner Zeit lieferte Mar-
perger vor allem mit seinem ,,Moscowitischen Kauffmann*', Lübeck
1705 und 1723, seinem ,, Schwedischen Kauffmann", Wismar 1706,
und seinem ,,Schlesischen Kauffmann", Breslau 1714; andere, wohl
ähnliche Handelsbeschreibungen einzelner Länder plante er für
China (I), Italien, England, Frankreich, Dänemark und Holland 0,
-doch scheinen sie nicht herausgekommen zu sein. Die drei wirk-
lich gelieferten stehen auch handelskundlich nicht sehr hoch; am
besten von ihnen ist wohl noch der „Schlesische Kauffmann",
während in dem ,,Moscowitischen Kauffmann" nur ein von Savary
entlehntes Kapitel nennenswert ist. ,,Das Neu - Eröffnete Manu-
facturen-Hauß", Hamburg 1707, die ,, Ausführliche Beschreibung des
Haar- und Feder-Handels", Leipzig 1717, eine ,, Beschreibung des
Hanfes und Flachses" und auch wohl eine nur geplante ,, Beschrei-
bung des Hornhandels" bilden eine ebenfalls hierher gehörige
Gruppe von gleichfalls sehr dürftigem Inhalt. Übersetzungen und
freie Bearbeitungen aus dem Savary, nämlich seiner Pareres, haben
auch in dem ,,Neu-eröffneten Handelsgericht", Hamburg 1708, Auf-
nahme gefunden, das sonst teils handelspolitischen, teils handels-
1) Nach seinen eigeneu Angaben im .Ersten Hundert Gelehrter Kauffleute"
<100 Lebensbeschreibungen), Dresden u. Leipzig o. J., lt. Zieger a. a. O. von 1717.
— 40 —
rechtskundlicheii Inhaltes i<t. Seine handelspraktischen Kapitel
stellen es in eine Reihe mit dem „IVobirstein der Buchhalter" und
dem „Handelscorrespondentcn". Es scheint, als wenn Marper.i^er
in seinem „Handels-Gericht" zuerst die Errichtung eines Commerzien-
Collegiums befürwortet hat, einer Art Handelskammer mit weit-
gehenden handclspolizeilichen Befugnissen. Nebst anderen seiner
Lieblingsgedanken empfiehlt er auch diesen immer wieder zur Durch-
führung.
Von Leipzig 1711 datiert weiterhin die ,, Beschreibung der
Messen und Jahr-Märckte", in der Marperger Savarys knapp for-
mulierte Ratschläge für einen nutzbringenden Meßbesuch zu drei
langen Kapiteln (Nr. 7, 8 und 9) ausspinnt, in denen er sagt, was
der Kaufmann vor, während und nach der Messe zu tun habe ')•
Während sich, um ein Beispiel zu nennen, Savary mit der bloßen
Empfehlung einer Meßbuchführung begnügt, deren Aufgabe und
Anlage er kurz skizziert, trägt Marperger gleich das völlig durch-
und ausgeführte Muster einer solchen vor. Ähnlich verfährt er in
dem ,,\Vohl-unterwiesenen Kauffmanns-Jung", Nürnberg 1715 (eine
Neuauflage datiert von 1738) und in dem ,, Getreuen und Geschickten
Handels-Diener", Nürnberg und Leipzig 1715, der Fortsetzung des
vorgenannten Buches.
Diese beiden Bücher enthalten so ziemlich alles, was sich da-
mals unter ihrem Titel schreiben ließ, darunter auch die Arbeits-
lehren für Lehrlinge und Gehilfen, die Savary zu seiner Zeit auf-
gestellt hatte. Nur sind sie wiederum nicht einfach übersetzt,
sondern frei bearbeitet und ganz erheblich erweitert, vor allem sind
sie auch nach der moralischen Seite hin weiter ausgebaut. Mar-
perger fügt diesen Arbeits- und Morallehren ferner einen Pflichten-
kodex für die Prinzipale und für die Eltern der Lehrlinge hinzu,
damit jede der Parteien sich vor Schaden hüte und durch die
Heranbildung eines tüchtigen Nachwuchses dazu beitrage, daß der
Handel im ganzen blühe und gedeihe. Auch die juristische Stellung
der Lehrlinge und Gehilfen wird mit zahlreichen Hinweisen auf die
einschlägige Rechtsliteratur erörtert, so daß wir in jenen beiden
Büchern eine vortreffliche Fundgrube historischen Materials be-
sitzen-).
1) Vgl. S. 19 die Wiedergabe nach Savary.
2) Teilweise ist ihr Inhalt von mir in „Der Kaufmann und das Leben", Bei-
blatt zur Zeitschr. f. Handelswissenschaft und Handelspraxis V, 2 und 3, unter den
Überschriften .Der Handlungslehrling vor 200 Jahren" und „Der Handlungsgehilfe
vor 200 Jahren" wiedergegeben und besprochen worden.
— 41 —
Bis auf die Anregung selber und auf die Entlehnung einiger
äußerer Umrisse ist der „Kauffmanns-Jung" wie der „Handels-
Diener" Marpergers eigenes Werk, nur im „Handels-Diener" be-
findet sich ein aus dem „Parfait negociant" bloß übersetzter Ab-
schnitt ') über die Vorarbeiten zur Selbständigmachung. Er gehört
natürlich schon mehr in die eigentliche Handlungsvvissenschaft hinein.
Mit dieser stehen im übrigen beide Bücher nur insofern im Zu-
sammenhang, als der Kaufmann in seiner Rolle als Lehrherr und
Brotgeber behandelt wird, aber gerade diese Ausführungen sind es
auch, um die Marperger die Handlungswissenschaft Savarys vor-
angebracht hat.
Marperger hat sich anscheinend eine Zeitlang mit dem Ge-
danken getragen, auch noch diese Handlungswissenschaft seines
französischen Vorbildes auf deutsche Verhältnisse zu übertragen. Es
liegt ja so nahe, nach den Arbeitslehren für Lehrlinge und Gehilfen
auch eine für den Kaufmann selber zu schaffen, zumal bei einem
so ausgezeichneten Vorläufer. Dennoch ist unser Verfasser an-
scheinend niemals damit herausgekommen. Zuerst kündigte er sie
im ,, Kauffmanns-Jung" zusammen mit dem dann auch bald nach-
folgenden ,,Handels- Diener" als ,,Der Gelehrte Kauffmann" an.
1717 nennt er letzteren in seinem ,, Ersten Hundert Gelehrter Kauff-
leute" mit unter seinen ,,aufs Neue unter der Preß oder doch zum
Druck mehrenteils fertig liegenden" Schriften und bezeichnet ihn
als ,,Der Gelehrte Kauffmann, welcher gründlich anweiset, was vor
Studia und Wissenschafften zur Kauffmannschaft erfordert werden,
wenn man solche in allen Stücken vollkommen, und nicht auf einen
bloßen Hazard oder nach hergebrachter Gewohnheit tractiren will."
Auch in der ,, Beschreibung der Banquen" (Girobanken), Leipzig
und Halle 1723, gehört er noch zu den ,,zum Druck fertig liegen-
den Büchern", ohne einen Verleger finden zu können. Daß aber
Marperger schKeßlich doch nicht mehr an die Schaffung einer
Handlungswissenschaft unter diesem Titel gedacht hat, erhellt aus
der letzten Erwähnung des Manuskriptes in der „Ausführlichen Be-
schreibung des . . . Eibstroms", Dresden o. J., denn dort heißt das
Werk ,,Der Gelehrte Kauffmann, welcher ausweiset, was ein Kauff-
mann von Rechnen, Schreiben, Buchhalten, Waaren-Kenntniß, von
Manufacturen und Müntz -Wesen, von der Mechanic, und andern
Stücken der Mathesin, it. von fremden Sprachen, und denen Civil-
Rechten, von der Philosophia, Geographia, Historia, Politica, von
1) Hier wie bei seinen sonstigen Entlehnungen ist M. ehrlich genug, seine
Quelle zu nennen — sehr im Gegensatz zu vielen späterea Handelswissenschaftlern,
— 42 —
der Red-Kunst, dem Jure Publice, Cambiali & Mercantili, von der
Seefahrt, und endlich auch von der Morale wissen müsse." Es
dürften überhaupt, so zahlreich seine Schriften auch sind — er gab
eine Zeitlang monatlich ein Stück heraus und bekam für jedes
Exemplar von seinen festen Abnehmern , deren er mehr als 700
hatte, zwei Groschen') — viele der von ihm geplanten Arbeiten
unvollendet geblieben oder später umgearbeitet oder überhaupt nicht
einmal begonnen sein. Zu ihnen gehören auch ,.Der kluge Cam-
bist", der mit im ,, Ersten Hundert" genannt wird, dann mehrere
Buchhaltungsarbeiten, eine ,, Einleitung zur Wissenschaft der See-
rechte" usw.
Von seinen sonstigen Schriften haben für uns, abgesehen von
seinem noch im Zusammenhange mit anderen zu nennenden Waren-
lexikon, nur noch diejenigen Interesse, die einzelne Gedanken zur
Hebung von Handel und Gewerbe unter Mitteilung mannigfacher
handelskundlicher Daten aufgreifen und erläutern. Dahin gehören
ein , .Vorausgefertigter Entwurf des künfftig zu erwartenden voll-
kommenen Commerzien-Raths" (wohl vor 1710), die ,,So nöthig
als nützlichen Fragen über die Kauffmannschafft", Leipzig und
Flensburg 1714, die ,, Erste Fortsetzung" dazu, ebenda 1715-), dann
die ,,Montes Pietatis, oder Leyh-, Assistentz- und Hülffshäuser,
Lehn-Banquen und Lombards", Leipzig 1715, und endlich das , »Tri-
folium mercantile aureum", Dresden und Leipzig 1723. Durch die
,, Fragen" und das ,, Trifolium" — die im „Ersten Hundert" an-
gekündigte ,,Neu-eröffnete Kauffmanns-Akademie, wie und in was
vor Wissenschaften die zur Kauffmannschafft gewidmete Jugend in
solcher anzuführen, und woher der Fundus solche zu unterhalten,
genommen werden könnte", ist wohl auch ausgeblieben — kamen
die Handelsschulgedanken-') in Fluß, die ein Menschenalter nach
Marp ergers Tode erst anfingen, verwirklicht zu werden. Als
Vater dieser Gedanken hat Marperger auch mittelbar einen An-
teil an der weiteren Pflege und Entwickelung der Handelsfächer,
besonders an der Schaffung der Handelsbetriebslehre des 18. Jahr-
hunderts, der ,, Handlungswissenschaft".
1) Nach seinen eigenen Angaben in einigen der 14 Stücke, die Leipzig und
Rudolstadt IT33 als „Auserlesene kleine Schriften" noch einmal herauskamen.
2) Zieger a.a.O. sagt, er habe die „Erste Fortsetzung" — eine weitere ist
übrigens nicht erschienen — in keiner deutschen Bibliothek auftreiben können. Ich
selbst habe sie in der Herzogl. Bibliothek zu Wolfenbüttel gefunden, wo man aller-
dings von ihrer Seltenheit noch nichts wußte.
3) Vgl. Zieger, Ein sächs. Merkantilist, dann Leipz. Sammlungen usw.
— 43 —
Die Arbeiten der Marp erger sehen Zeitgenossen sind bis auf
eine Ausnahme recht unbedeutend. Immerhin sind sie weniger, als
man denken sollte, bloße Nachahmungen von Marpergers Schriften.
Der schon vor Marperger genannte J. Rademann ^) kam in Ham-
burg 1714 mit seinem ,, Handelsmann und Buchhalter" heraus, und
ebenda scheint 1728 auch sein ,, Blühender Wechsel-Baum" eine
nochmalige Auflage erlebt zu haben. Von einem (J. H.) Spe rander
besitzen wir den , (Vollkommenen Kauf- und Handels-Mann", zuerst
wohl 1712, dann Frankfurt und Leipzig 1729, und einen ,, Sorg-
fältigen Negotiant und Wechsler". Dies letzte Buch, das ich nicht
gefunden habe, dürfte dem Rademannschen ,, Wechsel-Baum" und
•dergleichen Arbeiten ähnlich sein. Das erstere ist im ganzen mer-
kantilistisch, enthält aber auch einen Abschnitt über ,, Gewisse Re-
quisita, welche zu einem vollkommenen Kauff- und Handels-Mann
erfordert werden", auch etwas über die Düppelbuchführung und,
in der zweiten Auflage, den Text der Hamburger Bankordnung.
Besser und auch praktisch brauchbarer als diese Bücher war
„Des sorgfältigen Kauffmanns Handels-Memorial" von G. C. Bohn,
Hamburg 1717, eine hauptsächlich handelskundliche Arbeit. Von
ganz ähnlichem Inhalte ist sein ,, Wohlerfahrener Kaufmann", dessen
erste Auflage 1719 mir nicht bekannt geworden ist. Eine Ergän-
zung fand dies zweiteilige Werkchen in ,,Des Wohlerfahrenen
Kaufmans Dritter Theil. Oder: Die allzeit wohlbestallte Schreib-
Stube", von G. G. Heyne, Hamburg 1727, herausgegeben, der im
Auftrage Bohns gehandelt haben will. Das Buch enthält aber
keine Kontororganisationslehre, sondern nur Buchhaltung, Brief-
wechsel und Zugehöriges, und es ist seiner ganzen Anlage nach
■ein Vorläufer der späteren „Kontorwissenschaft". Der „Wohler-
fahrene Kaufmann" hat übrigens noch weitere Auflagen erlebt, zu-
letzt wohl eine fünfte Hamburg 1789 in einer Bearbeitung von
C. D. Ebeling und P. H. C. Brodhagen. Heyne, der Heraus-
geber des dritten Teiles von 1727, ist auch selbständig mit seinem
Büchlein „Der mit Nutzen klüglich handelnde neue Handelsmann",
Frankfurt und Leipzig 1727, herausgekommen, dessen lockender
Titel aber nur einer Warenkunde für Lederhändler und dergleichen
Torgesetzt ist.
Eine sehr umfangreiche -) Arbeit ist sodann des bayerischen Hof-
rats und Advokaten J. J. Pock ,, Hochschätzbarer Ehren -Crantz
•der Kauffmannschafft", München 1726. Sie ist eine in einem sehr
1) Vgl. Fußnote 1, Seite 36 . .
2) Zwei Quartbände von zusammen rund 1750 Seiten!
— 44 —
altertümlichen Stil geschriebene Handelskunde, die stark theologisch
gefärbt ist. Auch ein paar handelswissenschaftliche Fragen werden
darin erörtert. So heißt es da u. a. im zweiten Titel des zweiten
Teiles, daß ein Kaufmann außer sonstigen Kenntnissen auch solche
der ,,nothwendigcn Maximen und Lehrsätze" für das Kaufen und
Verkaufen haben müsse. Über die Frage ,,Wie weit ein gott-
seeliger tiandelsmann , im Verkauf seiner Waaren, mit gutem Ge-
wissen steigen, und wieviel er über seine Unkosten darauf schlagen
dürfe?" ist dagegen mit Recht keine handlungswissenschaftliche,
sondern nur eine theologische Antwort versucht worden und zwar
durch Heranziehen der entsprechenden Schrift eines Lübecker Geist-
lichen. Nach ihm darf man soviel Gewinn nehmen, wie man vor Gott
und seinem Gewissen und mit Rücksicht auf seine Mitbürger und
die bei ihnen geltenden Begriffe der Ehrbarkeit und Rechtlichkeit
verantworten kann. Eine bessere Antwort dürfte sich auch heute
noch nicht finden lassen.
Etwas viel Brauchbareres lieferte sodann ein Praktiker E. B. A.
mit seinem Buche ,,Der in allen Vorfällen vorsichtige Banquier",
Frankfurt und Leipzig 1733. Zwar enthält es nicht, wie man nach
dem Titel vermuten könnte, eine Bankgeschäftslehre, sondern nur
eine stark auf das Wechselrechtliche i) gerichtete Bankkunde, aber
diese ist dafür recht gründlich ausgefallen. Sie ist, wie unsere
frühesten handelswisscnschaftlichen Arbeiten, zunächst nur eine No-
tizensammlung für den Gebrauch des Verfassers selber gewesen.
Als E. B. A. sie — wieder auf Anraten von dritter Seite — ver-
öffentlichen wollte, hat er sie wohl überarbeitet und ihr ein paar
Kapitel über die wissenschaftliche Seite des Wechselhandels hinzu-
gefügt, die aber recht dürftig geraten sind. — Dieses mehr als
1400 Quartseiten dicke Werk ist dasjenige, welches allein unter allen
sonstigen dieser Zeit den besseren Arbeiten Marpergers zur Seite
gestellt werden kann.
Ebenfalls von einem Unbekannten kam um diese Zeit zuerst
(eine verbesserte Auflage ist Leipzig und Halle 1738 datiert) „Der
allzeit fertige Meß- und Marckthelffer" heraus, ein Rechentabellen-
werk, das ich nur darum erwähne, weil es die oben-) genannten
44 Nürnberger Kaufmannsregeln, um einige vermehrt, seinem Haupt-
inhalte voranstellt. Im übrigen ist es eins der gewöhnlichen Kontor-
hilfsbücher jener Zeit.
1) Bankgeschäft und Wechselhandlung waren damals noch dasselbe, der
Bankier hieß darum auch häufig Cambist.
2) S. 34.
— 45 —
Hilfsbücher und Nachschlagewerke für den kaufmännischen
Gebrauch entstanden jetzt überhaupt immer zahlreicher und unter
den verschiedensten Namen. Wegen der Vielseitigkeit seines In-
haltes nenne ich noch den ,, Fertigen und hinlänglichen Unterricht
vor Handlungs-Befließene", Leipzig 1748/49 (zwei Teile) von
F. Stäps(en), einem Schreib- und Rechenmeister. Das Buch ent-
hält ein kleines kaufmännisches Wörterbuch, eine Aufstellung der
regelmäßigen Bezugskosten über Hamburg — Leipzig, ein Verzeichnis
der üblichen Gewichte von mancherlei Waren in ihren gewöhnlichen
Verpackungen, eine kleine Abhandlung über das Buchhalten, dann
Tabellen über Münzen, Maße, Gewichte, Wechselkurse und Frachten,
schließlich noch Muster von Geschäftsbüchern usw. usw. Die etwas
späteren Hilfsbücher mit speziellerem Inhalte waren übrigens weit
besser. So seien gleich hier erwähnt ein vorzügliches Handbuch
für den Wechselverkehr, nämlich der „Allgemeine und beson-
ders hamburgische Contoirist", Hamburg 1753 (zuletzt 1808) von
J. E. Kruse und das „Allgemeine Taschenbuch der Maß-, Ge-
wichts- und Münzkunde, der Wechsel-, Geld- und Fondcourse" von
J. C. Nelkenbrecher, das seit 1762 bis auf den heutigen Tag
in zahlreichen Neubearbeitungen herauskommen konnte — kein
anderes kaufmännisches Buch hat bisher eine solche Lebensdauer
aufzuweisen gehabt.
Von größerem Werte für die weitere Ausbildung einer Hand-
lungswissenschaft hat sich keines der seit Marp erger genannten
Bücher erwie--en, so daß alle soeben genannten Schriften lediglich
der Vollständigkeit wegen und um ein Bild des aufblühenden fach-
literarischen Schaffens jener Zeit zu geben, hier angeführt worden
sind. Nur die kameralistisch - handelsfachlichen Schriften , die un-
mittelbar zur Schaffung der ersten systematischen handlungswissen-
schaftlichen Arbeiten führten, fehlen noch in diesem Bilde. Von
ihnen soll jetzt die Rede sein.
II.
Systematische Versuche unter der Kameral-
wissenschaft.
A. Kameralistische Anfänge der Privatwirtschaftslehre.
Die bisher besprochene Handelsliteratur ging fast ganz von
Handelspraktikern und den ihnen nahe stehenden oder aus ihnen
hervorgegangenen Halbgelehrten aus. Dieser handelspraktischen
steht nun eine sozusagen akademische Literatur gegenüber, die ein
Teil der kamerahvissenschaftlichen ist. Die Kameralwissenschaft,
die Vorläuferin unserer Volkswirtschaftslehre, zerfiel in drei be-
sondere "Wissensgebiete. Dieses waren einmal die Kameralwissen-
schaft im engeren Sinne, die etwa der heutigen Finanzwissenschaft
entspricht, sodann die Lehre von der polizeilichen Ordnung und
Verwaltung („Polizeiwissenschaft" I und schließlich noch die Summe
der Privatwirtschaftslehren, die Haushaltungslehre mit inbegriffen.
Die zuletzt genannte Gruppe war aber das Stiefkind der Ka-
meralisten, denn die Privatwirtschaftslehren waren eben nicht Selbst-
zweck, sondern nur eine Art Hilfswissenschaften für die zuerst ge-
nannten Hauptgebiete. ^) Immerhin war wenigstens in der Idee die
Einheit der gesamten damaligen Wirtschaftswissenschaften vor-
handen, und sie wurde auch zuweilen in entsprechend weit gefaßten
Lehrbüchern zum Ausdruck gebracht.-) Aber die einzelnen Zweige
der Privatwirtschaftslehrc kamen dabei regelmäßig schlecht weg,
indem sie nicht privatwirtschaftlich, sondern bloß wirtschaftskund-
lich und oberflächlich einführend behandelt wurden.
Ehe jedoch die Zeit für derartige Darstellungen reif war, tauchten
besonders in den Lexika wirtschaftlichen oder gar speziell kauf-
männischen Inhaltes hier und da Werke auf, die ersteren mehr oder
weniger als Grundlage dienten. Schon 1659 ist zu Frankfurt a. M.
1) Sehr deutlich gesagt in dem „Versuch einer Grundlehre sämtl. Kameral-
wissenschaften" %-on J. H. Jung, Lautern 1779.
2) Bei E. Baumstark, Kameral'st sehe Encyklop ädie, Heidelberg und Leipzig
1835, sind die Hauptwerke aufgezählt.
— 47 —
eine Übersetzung von Th. Garzonis „Piazza Universale: Das ist
Allgemeiner Schauplatz, Marckt und Zusammenkunfft aller Pro-
fessionen" herausgekommen; das eigentliche Zeitalter für kauf-
männische Wörterbücher ist aber erst das 18. Jahrhundert.
Marperger scheint auch hier den Reigen eröffnet zu haben
und zwar mit seinem kleinen und hauptsächlich warenkundlichen
Lexikon, betitelt „Das in Natur- und Kunstsachen eröffnete Ma-
gazin", Hamburg 1708, das dann noch öfter, zuletzt wohl ebenda
1765, herauskam ')• Sodann war auch der zweite Teil von Bohns
„Wohlerfahrener Kaufmann" ein kleines Warenlexikon. Doch stehen
Wörterbücher dieses Inhalts etwas abseits, und so mögen sie denn
hier nur genannt sein, weil sie eben auch kaufmännisch sind. Im
eigentlichen Sinne gehören hierher zunächst zwei von einem
J. Hübner. Nachdem dieser schon 1709 ein '„Reales Staats-,
Zeitungs- und Konversationslexicon" herausgegeben hatte, veröffent-
lichte er Leipzig 1712, 1727, 1741 (und öfter?) sein „Curieuses und
reales Natur-, Kunst-, Berg-, Gewerck- und Handlungs-Lexicon."
Ferner erschien in dieser Zeit, von einem R.Beier herausgegeben,
ein ähnliches „Allgemeines Handlungs-, Kunst-, Berg- und Hand-
wercks-Lexicon", Jena 1722.
Die diesen Lexika folgenden stützen sich mehr oder weniger
auf das umfangreiche, tiefgründige und zuverlässige „Dictionnaire
universel de commerce, d'histoire naturelle, d'arts et metiers",
Paris 1723—1730 zuerst 2), das von den beiden Söhnen J. Savarys-^)
bearbeitet wurde, aber, da der eine von ihnen starb, nur von dem
überlebenden J. Savary des Brulons herausgegeben werden
konnte. Zunächst stützte sich, wenn auch zu seinem Nachteil nicht
allzuviel, „Die Allgemeine Schatzkammer Der Kauffmannschafft
Oder Vollständiges Lexicon aller Handlungen und Gewerbe" (fünf
Teile), Leipzig 1741 — 1743, darauf. Den Plan dazu hatte C. G. Lu-
dovici entworfen, der jedoch zur weiteren Mitarbeit keine Zeit fand,
weil ihn die Vollendung des großen Zedier sehen Universallexi-
kons noch beschäftigte. Mit diesem 1750 fertig geworden, machte
er sich selber daran, ein kaufmännisches Lexikon zu schaffen, das
dann auch 1752—1756 zu Leipzig als die , Eröffnete Akademie der
1) Es mag wohl darum zu seiner Zeit recht wertvoll gewesen sein, weil M.
darin fast nur eigenes, gründliches Wissen vorbrachte. Im .Handlungs-Diener" er-
zählt er u. a. darüber, daß er seit Jahren eine fast vollständige Warensammlung
besitze, die er selber angelegt habe und noch immer ergänze.
2) Zuletzt Kopenhagen und Genf 1759—1766.
3) Vgl. S. 23.
— 48 —
Kaufleute: oder Vollständiges Kaufiiianns-Lexicon" erscheinen konnte.
Von diesem besten unserer kaufmännischen Wörterbücher aus dem
18. Jahrhundert wird noch wegen seines dreifachen Anhanges aus-
führlicher die Rede sein.
Welch hoher Wertschätzung sich solche Wörterbücher bei den
Kamcralisten erfreuten, geht aus einer Besprechung der „Allgemeinen
Schatzkammer" hervor^), in der der hcrüiimte G. 1 1. Zincke u. a.
folgendes ausführte: „Solche Lexica, und zwar dergleichen voll-
ständige, sind gleichsam die Vorratsbehältnisse aller ersinnlichen
Baumaterialien, die man . . . sonderlich zu einer ordentlichen syste-
matischen Einleitung in die Kommerzien-W^issenschaft, daran es uns
noch fehlet, brauchen kann. Marperger und andere haben zwar
schon sehr viel Baumaterialien zu einem so nöthigen Lehrgebäude
in ihren Schriften zusammengeführet. Allein bis jetzo hat sich
dennoch niemand gefunden, welcher eine vollständige und ordent-
lich zusammenhängende Einleitung gemachet, oder ein solches ge-
lehrtes Lehrgebäude in dieser weitläuftigen, schweren und so vor-
trefflichen Wissenschaft aufgerichtet hätte, obgleich unterschiedliche
Grundlagen dazu vorhanden .... Vielleicht hat es nur daran ge-
fehlet, daß man jede Art von Materialien nicht so leicht und ohne
viele Mühe finden und übersehen könne, da dieselben so zerstreuet
in so vielen Büchern zu finden, gleichwohl aber von so ungemeiner
Menge sind ..."
So ähnlich spricht sich Zincke auch in einem Aufsatze über
Marpergers Leben und Schriften?) aus, wenn er sagt: „Wer sich
auf die Handlung legen und ein wenig gründlich und nicht nur
Pfennig-Krämer-haftig die Theorie zugleich mit der täglichen Aus-
übung der Geschäfte im Gewölbe und Kontor verknüpfen will,
kann diese (M ar per g ersehen) Schriften nicht entbehren, zumal
wir sonst nichts Rechtes von Handlungssachen in deutscher Sprache
haben . . . Mit einem Wort, sie enthalten den zusammengetragenen
Stoff und die Baumaterialien in sich, von der Handlungswissen-
schaft ein vollständiges und ordentlich zusammenhängendes Lehr-
gebäude aufzurichten und diese so weitläuftige Wissenschaft in
einen gründlichen Lehrbegriff zu bringen."
In diesem zeitgenössischen Urteile, das neben Marperger nur
noch die Lexika als brauchbare Beiträge zur Handlungswissenschaft
gelten läßt, liegt zugleich eine Verurteilung der sonstigen im vorigen
Kapitel aufgezählten Schriften, die wir uns zu eigen machen müssen:
1) Leipziger Sammlungen I, S. 179.
2) Leipziger Sammlungen II, S. 422.
49 —
es war wirklich außer den Marpergerschen Sachen nichts Rechtes
bei uns vorhanden, und auch diesen fehlte es noch wie bereits
gesagt meistens an der nötigen Kürze, Ordnung und Gründlich-
keit. Zincke stellt damit aber auch in lobenswerter Bescheiden-
heit seine eigenen Versuche einer systematischen Einführung in
die .Handlungswissenschaft" in den Hintergrund, die in diesem
Zusammenhang mit besprochen werden mögen
Vor Zincke scheint nur J. J. BecheV dieses Gebiet einmal
berührt zu haben, nämlich in seinem „PoHtischen Discurs" Frank-
furt 1667 und öfter. In dessen zweitem Teile handelt nämlich das
dritte Kapitel „Von den Kaufmanns-Compagnien und Gesellschaften
auch vom Unterscheid des Handels quoad subjectum in genere"'
und ferner spricht das vierte Kapitel u. a. davon, „Wie man han^
dein soll oder von dem Unterscheid des Handels quoad subjectum
der Commerzien, das ist von der Wissenschaft des Kaufhandels"
Hier bringt Becher auf etwa zwanzig Seiten eine große Anzahl
^'t , r ^^""^^'"'''^Seln. Sie werden meistens bloß aufgezählt,
wohl deshalb weil sie an sich einleuchtend genug sind. So heiß;
es da u. a daß es am vorteilhaftesten sei, bar einzukaufen und bar
ni verkaufen, im Aktiv-, wie im Passivkredit recht vorsichtig zu
sein nur gute Waren und nur zu angemessenen Preisen abzugeben
auch beileibe keine Monopolstellung zu erstreben, weil sonst de;
Zusammenbruch hinterher um so ärger sein würde usw. Eine be-
ondere Rolle spielt dort auch schon die Empfehlung des Kaufes
aus der ersten Hand, der vielen Kameralisten - wir sahen, daß
offener'; ' w" ""u"'" ^"'"'''"^ - ^^^°^^ ^"^ P^i^^^^- -- i-
öf entliehen Wirtschaftsleben als das Ideal erschien^). Einen großen
Te I cles „Pohtischen Discurs« nehmen sodann wirtschaftskundliche
Beschreibungen der wichtigsten Handelszweige ein. Diese fürs er.te
ganz hübschen Anfänge blieben jedoch ebenso wie Savarys und
Marpergers Beiträge zunächst unbeachtet, und erst Zincke war
es, der sie wieder aufgriff und auf die dem klassischen Kameralis-
mus eigentümliche Weise weiter zu entwickeln bemüht war.
sPh ^•^:^'^'^^ S^^ s^it 1742 die bedeutendste der kameralisti-
und r ;;^!o^ ""'"' ^'" ^'''^ .Leipziger Sammlungen" heraus,
^^nc^Leipzig 1742 erschien auch sein „Grundriß einer Einleitung zu
1) Vgl. S. 16.
nauer r ° . ^"'^ "' "'"' "" '°^'''' " '^° Privatwirtschaften ge-
äkturnc'r ' ^; " "'" "°'' -ancbeHandelskon^pagnie und n^anche Manu-
Zeit ch . r? " -'"— en, die nachher wieder zu Grunde ging.
Zeitschrift für die ges Staatswissensch. Ergänzungsheft 49. 4
— 50 —
den Cameralwissenschaftcn" zuerst, der dann ebenda 1755 noch
einmal erweitert und verbessert als „Anfangsgründe der Cameral-
vvissenschaften" erschien. Mit den „Anfangsgründen" hängt der
„\'erbesserte Becher" eng zusammen, auf den Zincke in jenem
Buche oft verweist. Es ist das eine Neuausgabe der Hauptteile des
„Politischen Discurs" von J. J. Becher, die von Zincke mit An-
merkungen versehen wurden.^) In den „Anfangsgründen" entwickelt
nun Zincke sein System der Wirtschaftswissenschaften, nach dem
allen ihren Zweigen eine Generalökonomie für die theoretisch-wirt-
schaftlichen und eine Generalpolizeiwissenschaft für die praktisch-
verwaltungspolitischen Ausführungen übergeordnet wird. Diese
Generalwissenschaften sollen die allgemeinen Grundsätze für die
speziellen Teile entwickeln. In der Generalökonomie geschieht das
auf Grund einer Einteilung aller wirtschaftlichen Maßnahmen in
„Erlangungs-, Bewahrungs- und Anwendungsgeschäfte". Die spezi-
ellen Erörterungen folgen einer Einteilung des Stoffes nach den
kameralistischen Kategorien der Landwirtschaft (= Inbegriff der auf
dem platten Lande ausgeübten Tätigkeiten einschließlich des Berg-
baues) und der Stadtwirtschaft (= Inbegriff der regelmäßig in den
Städten getriebenen Beschäftigungen). Jeder Erwerbszweig wird
wiederum erst ökonomisch und sodann „polizeimäßig" betrachtet.
So findet sich denn unter den Betrachtungen der stadtwirt-
schafdichen Gewerbe auch ein 15. Kapitel ,.Von den Handlungs-
und Kramgeschäften". Der „Verbesserte Becher" enthält sogar
eines von dem städtischen Grundstückliandel, das für jene Zeit, in
der dieser Handelszweig doch erst in den ersten Anfängen steckte,
sehr merkwürdig ist. Leider sind Zinckes Ausführungen auch in
diesen Kapiteln viel zu allgemein gehalten, um von größerem Werte
zu sein. Man kann wenig mit der Erkenntnis anfangen, daß der
Kaufmann diese und jene Kenntnisse je nach seinem besonderen
Geschäftszweige haben müsse, daß er seine Stellung zwischen Pro-
duktion und Konsumtion als erste oder zweite Hand beachten müsse
usw. Am besten ist wohl noch der im Zusammenhange mit den
Grundsätzen der Generalökonomie sich ergebende Satz, daß die
nicht ins Geschäft gesteckten Vermögensteile als Reserven anzusehen
sind, und daß diese Reserven im richtigen Verhältnis zum Geschäfts-
kapital und seiner Gefährdung vermehrt werden sollten.
Beinahe wichtiger als dieser erste Versuch selbst, im Rahmen
einer Art System der Wirtschaftslehre auch die Gewerbelehre des
1) Frankfurt und Leipzig 1754.
— 51 —
Handels mit unterzubringen und abzuhandeln, ist der scharfe Hin-
weis Zinckes auf die Verschiedenheit der letzteren von der „Staats-
kommerzienwissenschaft" . Das „allgemeine und große Welt- und
Staatskommerzien- oder Handelswesen" dürfe ja nicht mit dem
„partikularen Stadthandlungs- und Kramwesen" verwechselt werden,
das eben von einer besonderen Wissenschaft, die unser Autor bald
Handlungswissenschaft, bald Handelswissenschaft und sogar Com-
merzienwissenschaft nennt, erfaßt wird. Im „Verbesserten Becher"
werden als ihre Hauptstoffgebiete die Negotien, die Manufakturen
und Fabriken*) genannt, die damals noch alle drei als Handels-
unternehmungen angesehen wurden und daher allzusammen auch
Handlungen genannt werden mußten. Neben Waren-, Manufaktur-
und Fabrikhandlungen sprach man natürlich auch von Bank-, Spe-
ditions- und Assekuranzhandlungen, bis die Sprache in den Aus-
drücken „Unternehmen" oder „Unternehmung" und „Geschäft" neue,
passendere Grundwörter herausgebildet hatte-).
Um die Zeit, als der „Verbesserte Becher" und die „Anfangs-
gründe" erschienen, begegnen wir auch schon dem ersten Versuch
einer S3^stematischen Behandlung der Handlungswissenschaft (wie
wir ebenfalls die damalige Gewerbelehre des Handels oder die da-
malige Handelsbetriebslehre nennen wollen) , der außerhalb des
Rahmens eines wirtschaftswissenschaftlichen Gesamtsystems gemacht
wurde. Er ist von einem Unbekannten Frankfurt und Leipzig 1755
in einem nur 48 Oktavseiten starken Büchlein unternommen worden
und nennt sich „Versuch eines Sistems der Handlungs- Wissenschaft,
entworffen von einem Kauffmann". Der sichtlich von kameralisti-
schen Schriften angeregte Verfasser erweist sich als ein sehr feiner
Beobachter wirtschaftlicher Erscheinungen, aber als ein unbedeu-
1) Man unterschied damals die Fabrik von der Manufaktur, indem man viel-
fach unter Fabrik nur solche Unternehmungen verstehen wollte, die mit Hammer
und Feuer arbeiteten. Mir scheint aber, man hatte mehr das dunkle Gefühl, daß
in den Fabriken etwas wirtschaftlich und nicht etwas technisch Besonderes und
Neues aufgekommen war, denn eine Manufaktur betrieb man damals meistens im
Verlag, zu dessen Begriffsinhalt die Fabrik allerdings nicht gehören konnte.
2) Im Anfang des IS. Jahrhunderts wurde der Handel noch vorwiegend „Kauf-
mannschaft" genannt, insofern er als private Erwerbstätigkeit gemeint war, während
er als Gegenstand der Staatsfürsorge regelmäßig Commerz oder Commerzien ge-
nannt wird. Dafür kamen dann die Ausdrücke Handlung (= Kaufmannschaft) und,
mehr gegen Ende des Jahrhunderts, Handel (^ Commerzien) auf, doch fehlt es
nicht an zahlreichen Beispielen eines geradezu umgekehrten Gebrauches. Zincke
ist, wie wir sahen, einer von denen, die wohl den Begriffsunterschied erfaßt haben,
aber ihre Bezeichnungen nicht konsequent anwenden.
4*
— 52 —
tendcr Systematiker: Die gehabte Mühe und Gefahr, die Dienst-
leistung für den Käufer, sämtliche Unkosten und gewöhnlichen Ein-
bußen, die Kosten einer standesgemäßen Haushaltung, die Zahl
usw. der Käufer und Verkäufer usw. usw. wirken bei der Preis-
gestaltung mit. Der Kaufmann muß es verstehen, ein gewinn-
bringendes Geschäft ausfindig zu machen und sich diesen Gewinn
2U sichern; die genaueste Kalkulation, Überwachung der Außen-
stände, Inventarisierung und Bilanzierung ist daher erforderlich —
der erzielte Gewinn vermehrt das Kapital oder wird im Haushalte
verbraucht oder erspart. Sehr wichtig ist das richtige Arbeiten und
Arbeitenlassen, wofür der Verfasser Regeln angibt. U. a. meint er,
man solle bei einer Arbeit bleiben, sie durch „etwas dazu anrei-
zendes Schöne" angenehm machen, wenn sie es sonst nicht ist,
„sollte es auch nur Spielwerk sein" (!); man soll nicht Hand- und
Kopfarbeit zugleich leisten, sondern das Diktieren bevorzugen usw.
Er verlangt weiterhin keine Warenkunde im landläufigen Sinne,
sondern eine nach den Gebrauchszwecken gruppierte Warenlehre.
Soweit geht der erste Teil, der „Die Handlung" überschrieben
ist. Der zweite nennt sich „Das Geschäft der Handlung und ihre
Schreibere3-en" und zerfällt in die Abschnitte über die Geschäfts-
leitung und über die Kontortechnik, zu welch letzterer der Verfasser
aber das Entwerfen von Briefen und Verträgen nicht rechnet. Die
Wiederholung einer Geschäftsmaßnahme nach erprobten Grund-
sätzen gehört jedoch schon wieder zu den mehr mechanischen Ar-
beiten und nicht zur Geschäftsleitung. Den Schluß des Büchleins
machen Ausführungen über die Forderungen, die die Handlungs-
wissenschaft an die Buchführung stellen muß. Von erkennbarem
Einfluß auf die weitere Entwicklung der Handlungswissenschaft ist
es nicht gewesen, da es sich zwischen den „Anfangsgründen"
Zinckes nnd den gleich nachfolgenden Arbeiten Ludovicis zu
unbedeutend ausnehmen mußte; die Späteren haben es wohl kaum
dem Namen nach gekannt.
B. Das „Kaufmanns-System" des C. G. Ludovici und seine
„Anfangsgründe der Handlungswissenschaft".
A. Carl Günther Ludovici (in früheren Jahren auch Ludwig)
wurde 1707 in Leipzig geboren und starb dort 1778. Seit 1726
gehörte er zum Lehrkörper der Universität Leipzig; sein Fach war
die „Vernunftlehre" (= praktische Philosophie), doch scheint es
nicht, als hätte er kameralwissenschaftliche Vorlesungen gehalten.
Seine Einzelarbeiten, die nicht sehr zahlreich waren, sind meistens
— 53 —
rein philosophischen Inhaltes. Die Anregung zu seinem großen
handlungswissenschaftlichen Werke hat er wahrscheinlich während
seiner Mitarbeit an den Encyklopädien seiner Zeit, von der weiter
oben die Rede war, empfangen; jedenfalls ist er dadurch wohl erst
näher mit den Marp erger sehen und sonstigen handlungsliterari-
schen Arbeiten, vor allem auch mit dem „Dictionnaire universel"
und dem „Parfait negociant" bekannt geworden. Natürlich hat er
auch die kameralistische Literatur genau gekannt, und es ist wohl
nicht zu gewagt zu vermuten, daß das bereits angeführte Urteil
Zinckes über die damaligen Wirtschafts Wörterbücher und die Mög-
lichkeit eines systematischen Lehrgebäudes der Handlungswissen-
schaft ihn hauptsächlich zum Schaffen auf diesem noch brachliegen-
den Felde ermuntert haben. Jedenfalls ist es eine Tatsache, daß
er an keiner der bereits vorhandenen Sammlungen von „Bausteinen"
zu diesem Lehrgebäude vorübergegangen ist, und daß er sie mit
seinem eigenen „Kaufmanns-Lexicon" um die beste deutsche Samm-
lung seiner Zeit selber noch vermehrt hat.
Dieses Lexikon kam 1752 — 1756 als die „Eröffnete Akademie
der Kaufleute: oder vollständiges Kaufmanns-Lexicon" heraus. ^
Eine buchhändlerische Ankündigung des Werkes findet sich in den
Leipziger Sammlungen, Bd. VIII. Es heißt darin u. a., daß die bis-
herigen deutschen Lexika, auch die „Allgemeine Schatzkammer",
nicht an das „Dictionnaire universel" heranreichten, indem sie er-
hebhche Lücken aufwiesen und mehr für Laien als für Kaufleute
geschrieben seien. Manche seien zu kompendiös, andere wieder zu
umfangreich. Das von Ludovici und seinen Verlegern geplante
Werk solle auf vier Teile bemessen werden. 2) Als Quellen wolle
man nicht nur die Arbeiten der Savary benutzen, „sondern
auch alle in die Handlung einigermaßen einschlagenden Schriften,
beides unserer Landsleute als der Ausländer, soviel deren mit vielen
Kosten und Bemühungen aufzutreiben gewesen, .... und nichts
darin enthaltenes Nützliches und Nötiges übersehen . . ." Im ein-
zelnen sollten das Lexikon oder seine Anhänge enthalten:
1. Eine gründliche Anweisung, wie die Kaufmannschaft in
jedem Orte zu treiben ist, Waren mit Nutzen ein- und zu ver-
kaufen, Wagen und Schiffe zu befrachten, Wechsel zu schließen
sind usw.;
2. eine richtige Beschreibung aller Seehäfen, Städte und übrigen
1) 1795/98 ist es, aber ohne die Anhänge, noch einmal von J. C. Schedel in
keineswegs verbesserter Bearbeitung herausgegeben.
2) Es sind aber mit den drei Anhängen fünf Bände &" geworden.
— 54 —
vornehmsten Handelsplätze mit iliren Merkwürdigkeiten, die den
Kaufleuten zur Handlung untl allen I landlungsvcrwandten auf Reisen
zu wissen nötig sind ;
3. eine ausführliche Erklärung aller Arten der Handlung in
Groß und Klein, als der Kommissions-, Kompagnie-, Wechsel-, Ju-
welen-, Gold-, Silber-, Blech-, Wein-, Korn-, Buch-, Tuch-, Seiden-,
Leder-, Leinwand-, Spezerei- und überhaupt aller Land- und See-
handlungen, wie eine jede gehörig zu etablieren, mit Nutzen fort-
zusetzen und ohne Schaden zu erweitern ist;
4. eine hinlängliche Nachricht, von Handlungsbedienten, als
Buchhaltern, Unterhändlern, Maklern, Dienern und Jungen;
5. einen nötigen Unterricht von Handelsrechnungen, Handels-
büchern und -Briefen, wie solche geschickt anzufertigen und zier-
lich zu schreiben sind;
6. eine sichere Anweisung zur Erkenntnis des Postwesens . . ,
und was für ein Gewinn daher zu ziehen ist;
7. ein vollständiges Verzeichnis aller Arten der rohen und ver-
arbeiteten Waren usw. ;
8. einen kurzen Bericht von Künstlern, Fabrikanten und Hand-
werksleuten usw. ;
9. einen umständlichen Bericht von Kommerzienkollegia, Han-
delsgerichten usw.;
10. eine genaue Anzeige aller Rechte und Privilegien der Kauf-
mannschaft ;
11. eine deutliche Erklärung aller' im Handel usw. gebräuch-
lichen Wörter und Redensarten;
12. eine getreue Anleitung für Kaufmannsdiener;
13. die Anfangsgründe aller kaufmännischen Wissenschaften und
14. eine „Handlungshistorie".
Dieser großen Aufgabe hat sich nun Ludovici mit einem
wahren Bienenfleiße gewidmet, und er hat sie fast gänzlich dem
Plane gemäß wie niemand vor und nach ihm gelöst. Das „Kauf-
manns-Lexicon", unter welchem Titel das Gesamtwerk schließlich
herauskam, enthält nämlich zunächst das versprochene Wörterbuch,
das etwa 4V2 der fünf starken Bände, auf die es schließlich an-
wuchs, in Anspruch nimmt. Ihm ist sodann ein „Grundriß eines
vollständigen Kaufmanns -Systems, nebst den Anfangsgründen der
Handlungswissenschaft, und angehängter kurzen Geschichte der
Handlung zu Wasser und zu Lande, woraus man zugleich den
gegenwärtigen Zustand der Handlung von Europa, auch bis in die
andern Welttheile, erkennen kann, zum Dienste der Handlungs-
— 55 —
beflissenen entworfen", angehängt, der in drei getrennten und selbst-
ständigen Abhandlungen die Zusammenfassungen enthält, die Lu-
dovici gegenüber den bloßen Einzelausführungen des Wörterbuches
für am dringendsten nötig hält'). Sie stehen mit diesem und unter-
einander durch zahlreiche Hinweise in Verbindung, so daß in ge-
wissem Sinne das Gesamtwerk ein organisches Ganzes bildet. Die
einzelnen Artikel des Lexikons sind leider nicht mit Literatur-
angaben versehen, vielmehr plante Ludovici die Schaffung einer
besonderen Literaturübersicht, die aber niemals erschienen ist.
Da der Verfasser als Nur-Gelehrter allein auf das Zusammen-
tragen und systematische Aufbauen des Stoffes und nur in geringem
Maße auf die Hinzufügung eigener Meinungen und Erfahrungen
sein Augenmerk richten konnte, so erfüllte ihn denn auch diese
damit erstmalig geleistete Arbeit mit nicht geringer Genugtuung.
„Ich glaube nicht", so schreibt er in der Vorrede zum Grundriß,
„daß mir jemand das Vergnügen streitig machen kann, daß ich
der erste sei, welcher die so wichtige als höchst nötige Kaufmann-
schaft, insofern dieses Wort für eine Wissenschaft der Kaufleute ge-
nommen wird, in ein ordentliches und nach der Kunst abgefaßtes
System gebracht hat. Niemand vor mir hat überdacht, (aus welchen
Teilen sie) bestehe. Niemand vor mir hat den Unterschied der
Handlungswissenschaft oder der Wissenschaft, die Handlung ordent-
lich zu treiben, von der Handlungspolitik oder der Regierungskunst
des Staates, das ist der Wissenschaft, wie die Handlung in einem
Staate zu ihrer Vollkommenheit und in den besten Flor zu bringen
sei, beobachtet. Niemand vor mir hat alle einem Kaufmanne nötigen
oder doch nützlichen Wissenschaften in zwei Klassen aufgestellt,
deren die erstere die eigentliche Kaufmannschaft . . ., die letztere
aber die angewendete Kaufmannschaft ... in sich faßt.
Es hat auch endlich niemand vor mir den (wichtigsten) Teil
der kaufmännischen Hauptwissenschaften, nämlich die Handlungs-
wissenschaft, in eine systematische Ordnung gebracht und derselben
Anfangsgründe in solcher Ordnung wirklich geliefert. Was nun
diesen letzten Punkt anbetrifft, so räume ich gern ein, daß man
von dem Herrn Savary und einigen anderen in Kaufmannssachen
erfahrenen Männern schon vorher, ehe ich mich mit den kauf-
männischen Wissenschaften zu beschäftigen angefangen habe, gründ-
liche Ausarbeitungen im Druck gehabt habe, welche einem Handeis-
manne gar dienliche Anleitungen geben, wie man die Handlung
1) Dieser dreifache Anhang ist noch einmal für sich allein 176S aufgelegt
worden. In der ersten Auflage bildet er die zweite Hälfte des fünften Lexikonbanr'es.
— 56 —
mit Vorteil treiben könne und solle. Ich gestehe auch \villi<,f zu,
daß ich ohne solche Schriften nicht würde im Stande gewesen sein,
meinen Grundriß eines vollständigen Kaufmannssystems, nebst den
Anfangsgründen der Handlungswissenschaft, . . . der Presse zu über-
geben. Allein durchlieset man jene Bücher, so wird man gar bald
entdecken, daß sie nicht in einem systematischen Zusammenhange,
wenigstens doch nicht in derjenigen Ordnung abgefasset sind, nach
welcher ich meine Anfangsgründe der Ilandlungswissenschaft ge-
schrieben, als in welchen ich die genaue Verknüpfung der Kapitel
und Materien vermittelst Anführung der Paragraphen, worinnen
dasjenige bereits abgehandelt ist, was den Grund und Urstoff des
Nachfolgenden enthält, allenthalben angemerkt habe." Auch für
das Studium der Handlungspolitik ist es nötig, die davon ganz
verschiedene „Lehre, wie man eine Privathandlung zur Erreichung
des vorgesetzten Zweckes regieren soll", zu kennen, „daher ein
Lehrer der Handlungspolitik von seinem Zuhörer nicht ohne Grund
fordern kann, daß er schon Vorlesungen über die Handlungswissen-
schaft gehört habe."
Bis auf Ludovicis Meinung, er erst habe auf die Unterschiede
dieser beiden Disziplinen hingewiesen — wir sahen bereits, daß
Zincke ganz dasselbe schon vorher getan hatte — kann man
alles das, was er hier als sein Verdienst in Anspruch nimmt,
wohl unterschreiben. Im „Grundriß" selber setzt er übrigens seine
Ausführungen zugunsten der Handlungsw^ssenschaft fort. Daß noch
kein System davon, wie es sein eigefies „Kaufmannssystem" ist,
aufgestellt worden sei, käme wahrscheinlich mit daher, daß „man
diese Wissenschaft bisher verächtlich, und sonderlich Prinzen und
adhger Personen, ja überhaupt der Beschäftigung eines Gelehrten
unanständig gehalten hat, wo man doch billig hätte einen Unter-
schied machen sollen zwischen 1) selbst handeln, 2) die Handlungs-
wissenschaft und die . . . Handlungspolitik vortragen und 3) den
Handel eines Staates regieren." Die Notwendigkeit eines Systems
werde aber weiterhin auch durch gute Lexika nicht aufgehoben,
denn es könne sich ja auch niemand von einer Uhr einen Begriff
machen, wenn er nur die Kenntnis ihrer auseinander genommenen
Teile habe, aber das Werk in seiner Zusammensetzung nicht ge-
sehen haben sollte.
B. Das Kaufmannssystem ist nun für Ludovici der Inbegriff
aller kaufmännischen Wissenschaften nach ihrer natürlichen Ver-
bindung untereinander oder auch der natürlich zusammenhängende
Inbegriff aller kaufmännischen Wissenschaften. Es zerfällt in die
— 57 —
kaufmännischen Haupt- und in die unentbehrlichen und die bloß
nützlichen Nebenwissenschaften; die Hauptwissenschaften ihrerseits
zerfallen wieder in die Warenkunde, die Handlungswissenschaft und
die Buchhaltung. Demnach ergibt sich folgendes Bild^) der Ein-
teilung des Gesamtgebietes:
Kaufmannssystem
(Systema scientiae rei mercatoriae)
A. B.
Kaufmännische Hauptwissen- Kaufmännische Nebenwissen-
schaften Schäften
(Kaufmannschaft oder Kaufmannswissen- (Angewendete Kaufmannschaft, — Merca-
schaft — Mercatura pura, seu proprietalis) tura mixta, seu applicata)
1. Warenkunde 1. Unentbehrliche Hilfswissenschaften
2. Handlungswissenschaft 2. Nützliche Hilfswissenschaften.
3. Buchhaltung.
Abgesehen von der Handlungswissenschaft, deren Anfangs-
gründe Ludovici in dem zweiten Teile des Anhanges zu seinem
„Kaufmannslexikon" darlegt — der erste von nur 30 Seiten gr. 8^
ist der „Grundriß eines vollständigen Kaufmanns -Systems", der
dritte die „Geschichte der Handlung zu Wasser und zu Lande"
mit 256 Seiten, während die „Anfangsgründe der Handlungswissen-
schaft" 335 Seiten beanspruchen — entwickelt er die übrigen Glieder
seines Kaufmannssystems nur in ganz allgemeinen Grundzügen.
Was die W^arenkunde anbelangt, so verweist er für sie auf sein
„Kaufmannslexikon", und das Buchhalten ist nach seiner Meinung
schon von anderen so hinlänglich vorgetragen, daß er sich auf
folgende Systematisierung dieser Gebiete beschränken kann:
Warenkunde Buchhaltung
I. Allgemeine Warenkunde I. Von den Handlungsarten
1. Einteilungen der Waren 1. Proprehandlung
2. Ihre Gewinnung und Herstellung 2. Kommissionshandlung
3. Ihre Eigenschaften 3. Kompagniehandlung
4. Prüfungs- und Untersuchungsarten II. Von den notwendigen Büchern
5. Sortierung und Auslese 1. Memorial
6. Preise und Preisarten 2. Journal
7. Arten und Ursachen des Verder- 3. Hauptbuch
bens in. Von den Nebenbüchern
8. Verpackung und Lagerung IV. Von der Führung der Bücher
9. Auffrischung und Verbesserung 1. Inventur
1) Die folgenden Übersichten sind erst von mir zusammengestellt.
— 58 —
10. Aufmachung und Ausputz 2. Grundrechnungen und Journalisie-
11. Verfälschungen und ihr Nachweis rung
12. Nutzen und Gebrauch der Waren 3. Übertragungen
II. Besondere Warenkunde 4. Saldieren und Vortragen
1. Naturerzeugnisse 5. Bilanzieren
2. Gewerbs- und Fabrikserzeugnisse Ct. Korrigieren
V. Von den Konten
1. Hauptkonten
2. Nebenkonten
Eine Warenkunde oder eine Buchhaltung in der Art dieser
Grundrisse ist m. W. niemals versucht worden, obwohl offenbar
mancher gute Gedanke damit verwirklicht worden wäre. Wie der
unbekannte Verfasser des oben genannten „Versuchs eines Systems
der Handlungswissenschaft", so legt auch LudQvici u.a. Wert auf
eine Gruppierung der Waren nach ihren Gebrauchszwecken, die
aber erst in neuerer Zeit wirklich versucht wurde. Was die
Buchhaltung anbetrifft, so läßt sich nach der Auffassung, die Lu-
dovici von ihr bekundet, vermuten, daß er heutzutage wohl nicht
sie, sondern die sogenannte „Verrechnungswissenschaft" als dritten
Teil des „Kaufmannssystems" bezeichnen würde. Die Warenkunde
dagegen können wir heute überhaupt nicht mehr zu den kaufmänni-
schen Hauptwissenschaften rechnen, schon darum nicht, weil wir
heute im Gegensatz zu früher eine Menge Geschäftszweige haben,
für die sie keine Bedeutung besitzt.
Einen großen Teil der Handelskunde hat Ludovici, wie noch
gezeigt werden soll, in seiner Handlungswissenschaft mit unterge-
bracht, den Rest dagegen verteilt er auf die verschiedenen Neben-
wissenschaften. Er zählt zunächst zu den notwendigen das
kaufmännische Rechnen und Schreiben, die Münz-, Maß- und
Gewichtskunde, die Kaufmannsgeographie, das Kaufmannsrecht,
(Jurisprudentia mercatoria), die Korrespondenzlehre und besondere
kaufmännische Wortkunst, die Warenzeichenkenntnis und die Kunst,
Warenpreise mit Buchstaben u. dgl. anzugeben („Cryptographie"),.
und endlich die Manufakturen- und Fabrikenkunde.
Die Korrespondenz zählt Ludovici ganz richtig hier mit auf,
insofern sie nach Aneignung der Handlungswissenschaft kein be-
sonderes Hauptgebiet der kaufmännischen Wissenszweige mehr sein
kann. Die Kaufmannsgeographie, eine Vorläuferin unserer Wirt-
schaftsgeographie, sollte nach damaliger Auffassung u. a. auch
darum Produktionsgeographie sein, damit der Kaufmann wisse, wo
er aus erster Hand, also vermutlich am vorteilhaftesten, kaufen
könne, und welches die nächstgelegenen Produktionsstätten seien.
— 59 —
Sie sollte ferner eine Konsumtionsgeographie sein, damit der Kauf-
mann seine Waren dorthin führen könne, wo er die höchsten Preise
erhoffen dürfe usw., und ferner war sie als Verkehrsgeographie im
Hinblick auf die Wahl der vorteilhaftesten Verkehrswege gedacht.
Es ist aber m. W. keine Geographie erschienen, die diesen theore-
tischen Forderungen in einer für die kaufmännische Praxis verwert-
baren Weise gerecht zu werden versucht hafte, und sie wird auch
wohl nur schwer geschrieben werden können. — Die Warenzeichen-
lehre ist eine Vorläuferin der neuerdings geforderten Firmenkunde;
sie war aber von Ludovici, wie einige andere Neben -„Wissen-
schaften" auch, nicht gerade als ein besonderer Gegenstand einer
wissenschaftlichen Darstellung gedacht, sondern sollte wohl nur
einen gewissen Kreis praktischer Kenntnisse des einzelnen Kauf-
manns andeuten. — Die Manufakturen- und Fabrikenkenntnis ist
nach ihm dagegen die Kenntnis technischer Produktionsverfahren,
die teils zur Unterstützung der Warenkunde, teils als Grundlage
eigener Verlags- und Fabrikationsversuche den Kaufleuten nötig ist.
Als bloß nützliche Nebenwissenschaften bezeichnet Ludovici
schließlich noch die Handelspolitik der Staaten, die Wappenlehre zur
Unterstützung der Münzkunde, die Naturlehre und die Mechanik als
Ergänzung der Warenkunde, die Visierkunst für Inhaltsberechnungen,
das Zeichnen zwecks Herstellung von Mustern, Plänen, Grundrissen
usw., die Vernunftlehre des Wahrscheinlichen und schließlich die
„schönen" Wissenschaften zur Vertiefung der Allgemeinbildung.
Letzterer dienen auch einige der schon genannten Fächer, wie die
Kaufmannsgeographie; sie wird nötig, weil es „für einen Handels-
mann allezeit rühmlich ist, von seiner Gewerbs- und Lebensart
gründlich reden zu können." — Die Vernunftlehre des Wahrschein-
lichen ist dem Kaufmann sehr nützlich, weil ihm „so gar viele Fälle
in Ansehung des Gewinstes und Verlustes vorkommen, die er alle
nach den Graden der Wahrscheinlichkeit beurteilen muß ..." Es
ist verwunderlich, daß erst ein Menschenalter später J. M. Leuchs
auf den Gedanken kam, die Regeln dieser Wahrscheinlichkeitslehre,
die für die kaufmännische Unternehmung in Betracht kommen, wirk-
lich herauszuarbeiten.
Unter den „Neben Wissenschaften" mag man vielleicht die Sprach-
kenntnisse und die Handelsgeschichte vermissen. Beide gehören
nach Ludovici aber mehr zu den bloßen Mitteln, die Kenntnisse
in den bisher genannten Wissensgebieten zu vermehren und zu
vertiefen. Sie stehen in einer Reihe etwa mit dem Zeitungslesen,
das der Verfasser sehr empfiehlt, ferner mit dem Nutzen der Kauf-
— 60 —
mannsakademien und tlcr handlungswissenschaftlichen Univcrsitäts-
vorlesungen nach Marpcrgerschem Muster, dann mit tlein Nutzen
von Warensainmlungcn und Kaufinannsbibliothcken. Dergleichen
Bibliotheken müßten nach Ludovici in eine historische und eine
dogmatische Abteilung zerfallen. „Das Verzeichnis historischer und
dogmatischer Schriften, so zur Kaufmannschaft gerechnet werden
können, sollte die gelehrte Handelshistorie (Ilistoria htteraria com-
merciorum) aufweisen, die jedoch annoch unter die nötigen Wünsche
gehört.'' Leider hat Ludovici seine Absicht, selber eine solche
Bücherkunde zu liefern, nicht mehr verwirklicht, sondern diese
Arbeit ein paar späteren Schriftstellern überlassen. Es wird davon
noch die Rede sein. Auch eine Warensammlung, die er sich zu
einer Art Kaufmanns-, Geschäfts- und Handelsmuseum ausgebaut
denkt, ist zu seiner Zeit nirgendwo zu finden gewesen, und auch wohl
so, wie er sie sich dachte, bisher noch nirgends eingerichtet worden.
Die Zusammenstellung der Aus- und Fortbildungsmittel und
der Nebenwissenschaften, wie sie sich so im ..Grundriß " vorfindet,
ist aber doch wohl nicht so scharf durchdacht, wie es die übrigen
Teile dieses Anhanges sind. Die Einteilungsgründe müßten m. E.
aus der Erkenntnis des Zweckes, des Baues und des Lebens der
Erwerbswirtschaften des Handels entspringen, wozu denn freilich
vorweg eine genaue Begrenzung u. a. der Begriffe Handel und Er-
werbswirtschaft nötig wäre. Jedenfalls kann die Warenkunde nicht
als eine der kaufmännischen Hauptwissenschaften gelten, wenn, wie
hinterher in Ludovicis „Anfangsgründen", Warenhandlungen,
Bank-, Versicherungs- und Transportunternehmungen usw. in einen
Topf geworfen werden. Aber diese Bemängelung ist auch wieder
insofern unerheblich, als die hier gebotene analytische Entwicklung
der Handlungswissenschaft und der Handlungswissenschaften nicht
nur als die erste ihrer Art bemerkenswert ist. Wenn wir auch das
aufgestellte System mit Hei lau er als verfehlt bezeichnen müssen,
so ist es dennoch zum mindesten lückenlos und in seiner Dreiteilung
der „Hauptwissenschaften'' (Warenkunde, Handlungswissenschaft,
Buchhaltung) für jene Zeit, in der der Warenhandel noch so gut
wie alle kaufmännische Tätigkeit umfaßte, immerhin verständlich.
Die Abtrennung der ,.Nebenvvissenschaften" weist mit Recht einer
Reihe von Kenntnissen nur untergeordnete Bedeutung zu. Vor allem
aber ist wichtig, daß Ludovici das Haupt- und Kerngebiet des
für den Kaufmann wertvollen privatwirtschaftlichen Wissens der
Handlungswissenschaft zugewiesen hat, die er überhaupt so auffaßt,
daß sie unserer wissenschafdichen Handelsbetriebslehre entspricht.
— 61 —
C. Seine Auffassung dieses Kerngebietes unserer Fachdisziplinen
erhellt am besten aus den von ihm selbst gleich gelieferten „An-
fangsgründen der Handlungswissenschaft", dem zweiten Teile des
Anhanges zu seinem Lexikon, das wir nun noch betrachten wollen.
„Die Handlungswissenschaft ... ist eine Wissenschaft, die
Handlung gehörig zu treiben", heißt es dort im ersten der 732 Para-
graphen der „Anfangsgründe". „Solchemnach muß sie alles das-
jenige lehren und erklären, was überhaupt von der Handlung, an
und für sich betrachtet, und insonderheit von ihrer gehörigen Trei-
bung, einem Kaufmanne zu wissen sowohl nötig als nützlich ist.
Weil nun die Treibung der Handlung vermittelst gewisser Personen
geschieht, und diese sich dabei verschiedener Hilfsmittel bedienen,
so muß die Handlungswissenschaft die Treibung der Handlung
dergestalt abhandeln, daß sie zuvörderst die Personen und sodann
die Hilfsmittel zu ihrem besonderen Gegenstande hat. Kurz: es hat
die Handlungswissenschaft zu ihrem Augenmerke 1. die Handlung
an und für sich, 2. die zu ihrer Treibung erforderlichen Personen
und 3. die zu eben diesem Ende nötigen und dienlichen Hilfs-
mittel."
Nach dieser Erklärung sollte man meinen, daß im ersten Teile
die allgemeinen Grundlagen der Handlungswissenschaft und eine
S3'stematische Einführung in sie geboten würde, während der zweite
Teil die Grundzüge der Arbeitsorganisation und der dritte Teil end-
lich diejenigen der Kapitalsorganisation darlegen müßte. Das ist
jedoch nicht der Fall, vielmehr kommt Ludovici im ersten Teile,
„Von der Handlung an und für sich", zu folgenden Kapiteln:
Einleitung (wie vorhin) §§ 1—4
1. Von der Handlung überhaupt §§ 5—25
2. Von dem Preise oder Werte .......§§ 26—35
3. Von den Münzen überhaupt und von dem Gelde
insonderheit §§ 36 — 58
4. Von dem Maße, der Wage nebst Gewicht, der
Zahl und Nummer §§ 59—82
5. Von dem Kredite, der Schuld, der Zahlung und
von den Bankrotten §§ 83 — 116
6. Von der Warenhandlung überhaupt . . . . §§ 117 — 127
7. Von dem Tausch- und Kaufhandel §§ 128—144
8. Von dem Einkaufe der Waren ......§§ 145 — 171
9. Von dem Verkaufe der Waren §§ 172—196
10. Von dem Rabatte, der Tara und dem Gutge-
wicht §4j 197—215
— 62 —
11. Von Scliließun«^ und Bindigkeit eines Waren-
handcls ^4j 216—220
12. \'on dem Versenden, Einpacken, Bezeichnen und
Auspacken der Waren, wie auch von Waren-
ahgaben (Zöllen) 4}S 221—238
13. \'on der Grosso- und der Kramhandlung, auch
von der Kramerei und dem Ilandwerk.skrame . §{j 239 — 271
14. Von der Handlung zu Wasser und zu Lande . §§ 272 — 287
15. Von der in- und ausländischen Handlung . . §§ 288 — 294
16. Von der Assekuranz und Großavanturhandlung §§ 295 — 326
17. \'on der Wechselhandlung überhaupt und von
dem Geldwechsel und Aktienhandel insbesondere §§ 327 — 360
18. Von der Wechselhandlung im besonderen . . §§ 361—430
19. \'on der Kommissions-, Kompagnie- und Spe-
ditionshandlung 4j§ 431—472
Der zweite Teil, „Von den Handlungsfähigen und von den zur
Handlung erforderlichen Personen", zerfällt in die folgenden acht
Kapitel:
1. Von den handlungsfähigen Personen . . . . ij>:j 473 — 481
2. \'on den zur Handlung erforderlichen Personen
überhaupt §§ 482—493
3. Von dem Handeismanne §§ 494 — 511
4. Von dem Handelsdiener i?§ 512—533
5. Von dem Handelsjungen §§ 534 — 545
6. Von dem Mäkler §§ 546 — 554
7. Von den öffentlichen Handlungskompagnien . $$ 555 — 557
8. Von den Handels- und Wechselgerichten, auch
von guten Männern (Schiedsrichtern) ...•§§ 558 — 568
Der dritte Teil endlich, der „Von den Hülfsmitteln zur Trei-
bung der Handlung", hat neun Kapitel, nämlich:
1. \'on den Hülfsmitteln zur Treibung der Hand-
lung überhaupt §§ 569 — 576
2. Von den Handels-, Stapel- und Niederlagsstädten §§ 577 — 595
3. Von Häfen und Gestaden §§ 596 — 615
4. Von den Niederlagen, Gewölben und Kramläden §§ 616 — 621
5. Von den Messen und Jahrmärkten §§ 622 — 640
6. Von der Schiffahrt §§ 641—693
7. Von dem Fuhrwerke und dem Postwesen . . §§ 694 — 709
8. Von den Giro- und Lehnbanken §§ 710 — 725
9. Von den Pflanzstätten (Kolonien) §§ 726—732
— 63 —
Aus dieser Inhaltsübersicht läßt sich schon entnehmen, daß
Ludovici reichlich viel Handelskunde mit in die „Anfangsgründe"
hineingenommen hat; besonders aber besteht der dritte Teil fast
ganz aus Kapiteln, die in dieses Fach gehören. Während dieser
Teil auf Grund von Quellen entstanden ist, die nicht mehr im
einzelnen nachzuweisen sind, beruht der erste fast ganz auf dem
„Parfait negociant" und der zweite auf Marpergers „Kaufmanns-
jung" und „Handels -Diener", also mittelbar auch mit auf J. Sa-
varj's Werk. \'on Darlegungen, die ausgesprochen auf eine Ent-
wickelung der Grundzüge der Arbeits- und Kapitalorganisation
hinausgehen, ist daher in den „Anfangsgründen" nichts zu finden.
Desto mehr finden sich die Sa vary sehen Analysen, Regeln und
Leitsätze (wie man am vorteilhaftesten handeln könne und solle)
hier wieder und zwar vielfach weiter ausgeführt, erläutert und er-
gänzt, ja hier und da sind auch ganz neue Stücke hinzugekommen,
die vielleicht Ludovici selber zu verdanken sind.
Das erste Kapitel (§§ 5 — 25) spricht fast nur von dem Nutzen
des Handels, das zweite dagegen von den Preisarten und den Ur-
sachen der Preisschwankungen, die der Kaufmann beobachten und
ausnützen muß. Die beiden folgenden Kapitel sind handelskund-
lichen Inhalts und nur durch ihre Vollständigkeit bemerkenswert.
Das fünfte gibt u, a. die wichtigsten Regeln für die Kreditgeber
und -Nehmer, ist aber im übrigen eine bloße Klassifizierung der
Schulden, Zahlungsarten usw.; dasselbe gilt von dem nächsten in
Bezug auf die Feststellung der einzelnen Handelszweige und von
dem siebenten in Bezug auf die Kaufarten. Dagegen enthalten das
achte und neunte Kapitel ausführliche Darstellungen der „Pflichten
und Behutsamkeitsregeln" des Käufers und des Verkäufers; letz-
terem wird auch gesagt, wie er seinen Verkaufspreis zu ermitteln
und seine Waren auszuzeichnen habe, wie er sie vertreiben und
nur bescheiden loben solle, und ferner, daß er über sein Lager
richtig disponieren und nach jedem Verkaufe das Ordnen, An-
schreiben usw. nicht vergessen soll. Über die Lage und die Be-
schaffenheit des Ladens und des Lagers berichtet der Verfasser aber
erst im dritten Teil, Kapitel 4 (§§ 620, 621). Das zehnte Kapitel
ist wiederum rein handelskundlicher Art, das elfte dagegen geht
auf den Kaufvertrag als Rechtsgeschäft ein. Auch das zwölfte ist
in eine Reihe mit den früheren nur berichtenden und klassifizieren-
den Kapiteln, wie etwa das vorhergehende zehnte es ist, zu stellen.
Im 13. Kapitel erfahren wir die besonderen Grundsätze, die die Groß-
händler und die Kramer beachten müssen, letztere z. B. inbetreff
— 64 —
der Wahl ihiL-r Lieferanten (erste und zweite Hand usw.), im 14.
dagegen diejenigen, die für den Seehandeltreibenden hinzukommen.
Kapitel 15 spricht nur im allgemeinen vom Binnen- und Außen-
handel, Kapitel 16 dagegen von der Seeversicherung, nämlich von
ihrer Abwickelung und von den Grundsätzen, nach denen der Ver-
sicherer zu arbeiten hat; die gleichfalls darin berührte „Großavantur"
wird nur erläutert. Die Landtransportversicherung kommt nach
unserm Verfasser nur dann vor, wenn geschmuggelt oder verbotene
Ware eingeführt werden soll.
Im siebzehnten Kapitel ist, anscheinend zum ersten Male in
der deutschen Literatur, der Aktienhandel mit besprochen und zwar
auf Grund holländischer Quellen: die Aktienpreise steigen und fallen
je nachdem, ob eine Gesellschaft vom Glück begünstigt ist, ihren
Kredit verliert, ob sie an guten oder bösen Nachrichten aus den
Kolonien oder über Krieg und Frieden interessiert ist, ob ihre
Waren gut oder schlecht verkauft werden, oder ob viel oder wenig
„Geld auf dem Platze'' ist. In Holland ist der Aktienhandel schon
so bedeutend, daß es dort eine Menge Leute gibt, die — man denke'.
— bloß von ihm leben und reich werden. Das folgende Kapitel
enthält eine zwar umfangreiche, aber vorzügliche W^echsellehre;
leider erfahren wir hier nichts über die Grundsätze des Wechsel-
handels. Das den Schluß des ersten Teiles bildende 19. Kapitel
enthält hauptsächlich die Savary sehen Geschäftsregeln für die
Kommissionäre, die Spediteure und die Teilhaber einer Handels-
gesellschaft.
Im zweiten Teile finden sich zunächst nur Übersichten über
die Arten und Eigenschaften der Kaufleute und dergleichen mehr.
§ 505 enthält eine Erörterung der Frage, ob der Kaufmann speku-
lieren (hazardieren) dürfe*), eine Frage, die ich bei anderen, auch
bei Savary, vorher nicht behandelt gefunden habe. Ludovici
sagt dazu : „Wenn ein Kaufmann nicht mehr hazardiert, als die
Klugheit erlaubt, so ist solches an ihm mehr zu loben als zu tadeln.
Es sind aber drei Fälle, in welchen die Klugheit solches erlaubt.
1. Wenn das anzuwendende Mittel kein Geld, sondern bloße Be-
mühung kostet; 2. wenn das Mittel zwar Geld kostet, aber nicht
mehr, als man leicht verschmerzen kann, und der Gewinn gleich-
wohl um ein Ansehnliches größer als der Aufw^and ist, und 3. wenn
Wahrscheinlichkeit da ist, daß die Sache gut gehen werde. In
Ansehung des letzten Punktes hat man die Gründe für und wider
1) Vgl. S. 59.
— 65 —
die Hoffnung reiflich zu überlegen und gegeneinander zu halten,
um die Grade der Hoffnung bestimmen zu können. Ist nun das
Mittel in Ansehung unseres ganzen Vermögens von sehr hohem
Werte und wir haben den stärksten Grad der Hoffnung vor uns
oder ist das Mittel von sehr schlechtem (geringem) Werte und die
Hoffnung auch in einem schlechten Grade, so ist es in beiden
Fällen zu hazardieren erlaubt, wenn der gesuchte Nutzen sehr groß
ist. Hingegen, ist die Hoffnung schlecht und die Mittel sind sehr
kostbar, so darf man sich dem Hazarde nicht aussetzen, gleichwie
es auch nicht ratsam ist, sein ganzes Vermögen an Absichten zu
wagen, wenn auch die Hoffnung und der gehoffte Nutzen noch so
groß wären, weil es gleichwohl nur Hoffnung und keine Gewißheit
ist. Manche Kaufleute haben ihre besondere Hazardkasse."
§ 507 enthält die Regeln usw., die der Kaufmann bei der An-
legung einer neuen Handlung, § 508 die, die er bei Übernahme
einer schon bestehenden Handlung zu beobachten hat, §§ 509 und
510 ebenso diejenigen für die Annahme von Gehilfen und Lehr-
lingen. Sie finden sich sämtlich schon bei Savary oder Mar-
p erger und sind vielfach nicht besonders tiefgründig. Die fol-
genden beiden Kapitel enthalten einen Auszug aus Marpergers
„Handels-Diener" und „Kaufmanns-Jung". Das sechste Kapitel
bringt eine Einteilung der Mäkler und dann, nach Savary, die
Arbeitslehre für diese. Die letzten beiden Kapitel enthalten nur
Handelskundliches. Ebenso enthält, wie schon oben gesagt wurde,
der ganze nun folgende dritte Teil fast nur Handelskunde. Aus-
genommen sind nur die schon genannten §§ 620 und 621 und
dann die §§ 632 ff. über die Pflichten usw. des Kaufmannes, der
die Messen erfolgreich besuchen will, endlich auch noch Teile des
sechsten Kapitels, die über die Arbeitspflichten des Schiffers sprechen.
Alle übrigen Erläuterungen und Zusammenstellungen sind zwar an
sich und auch als die ersten systematischen sehr verdienstlich, aber
doch für die Kenntnis vom Bau und Leben der Handelsunternehmung
und für die Entwicklung von Organisations- und Betriebsgrundsätzen
von nur geringem Werte. Sie gestatten nur einen Blick in die
Technik der damaligen Geschäfts- und Verkehrsabwickelung und
auch das noch bloß lückenhaft und mittelbar.
Mit Ludovici hatte die Entwickelung der Handlungswissen-
schaft insofern einen gewissen Abschluß erreicht, als nach der
Periode unsystematischer Einzelarbeiten nun eine solche systema-
tischer, wissenschaftlicher Zusammenfassungen der zerstreuten Ein-
Zeitschrift für die ges. Staatswissensch. Ergänzungsheft 49. 5
— 66 —
zelcrkenntnisse einsetzte. Nach nicht allzu zahlreichen, sporadisch
entstandenen Schriften mit handlungswissenschaftlicher Färbung
entstand der „Parfait negociant" von J. Savary, der wohl nur
von G. D. Paris ,.Negotiante" beeinflußt war, als das erste Glied
einer von da an fortlaufenden Kette weiterer, besonders deutscher
Arbeiten. P. J. Marperger war es, der, mächtig angeregt von Sa-
vary (und auch Perij, bei uns den Anstoß zu einem lebhafteren
Aufschwünge der gesamten kaufmännischen Literatur gab und uns
auch das eine oder andere Kapitel aus dem „Parfait ndgociant"
übersetzte oder bearbeitete. Auch in seiner Eigenschaft als halb
kaufmännisch-praktischer, halb gelehrter Schriftsteller steht er auf
der Schwelle der neuen Zeit, die vorwiegend die Tätigkeit der Kamera-
listen auf dem Gebiete der Handlungswissenschaft bringen sollte.
Immer klarer hatte sich aus den merkantilistisch-kameralistischen
Grundgedanken heraus die Notwendigkeit und Möglichkeit einzelner
Privatwirtschaftslehren ergeben, darunter auch die der Handlungs-
wissenschaft, deren Eigenart von G. H. Zincke und C. G. Ludo-
vici besonders klar erfaßt wurde. Ludovici, der Stubengelehrte,
machte sich nun daran, auf Grund der in- und ausländischen Einzel-
schriften älteren und neueren Datums und auf Grund der vorhan-
denen lexikalischen Materialsammlungen seine eigene Sammlung,
die beste bisherige überhaupt, zu schaffen und deren vereinzelte
Ausführungen in den „Anfangsgründen der Handlungs Wissen-
schaft" systematisch zusammenzufassen. Er ging sogar noch weiter
und brachte die Gesamtheit der dem Kaufmann nötigen und nütz-
lichen Kenntnisse in seinem „Grundriß" in ein System, so daß die
zentrale Stellung der Handlungswissenschaft im Kreise der kauf-
männischen Wissensgebiete gebührend hervorgehoben wurde.
Bemerkenswert ist die Plötzlichkeit, mit der diese jüngste Ent-
wickelung einsetzte, indem nämlich Zinckes undLudovicis ein-
schlägige Arbeiten und das „Sistem" jenes unbekannten Praktikers
ungefähr gleichzeitig in den ersten 1750er Jahren herauskamen.
Es wäre aber verfehlt, daraus auf ein entsprechend stark ent-
wickeltes kaufmännisches Bedürfnis schließen zu wollen. Soweit
nicht überhaupt nur kameralwissenschaftliche Strömungen zu gründe
lagen, war das kaufmännische Interesse immer noch überwiegend
auf das Handelstechnische gerichtet, wenn man überhaupt daran
dachte, den Handelserwerb über das Hergebracht-Handwerksmäßige
hinaus zu entwickeln. Ihn auf eine wirklich gediegene wirtschafts-
wissenschaftliche Grundlage zu stellen, das war damals wie heute
noch nur Wunsch und Bedürfnis einer sehr dünnen Oberschicht
— 67 —
von Kaufleuten, die eine entsprechende Anlage und Neigung zum
Theoretisieren besitzen und dem spekulativen Denken neben dem
praktischen Erfahren eine praktische Verwertbarkeit zuerkennen.
C. Der „Versuch" von J. K. May.
Wenige Jahre nach dem Erscheinen der Arbeiten von Ludo-
vici kam zu Altona und Lübeck 1762 der „Versuch einer all-
gemeinen Einleitung in die Handlungswissenschaft" von J. K. May,
einem praktischen Kaufmann i), heraus, ein Buch, das mehrere Neu-
auflagen, so 1770, 1786 (und noch 1817?) erlebte. Ich halte mich
im folgenden an die wesentlich vermehrte und verbesserte Auflage
von 1786, die Frankfurt und Leipzig erschien und in zwei Bänd-
chen zusammen 820 Oktavseiten umfaßt. Die Arbeit ist ganz in
der hier und da vorhandenen kameralistischen Anschauung befangen,
nach der unter Handlung der gesamte volkswirtschaftliche Verkehr
zu verstehen ist, der von irgend welchen Erwerbswirtschaften aus-
geht, gleichgültig, ob es sich um solche des Warenhandels oder
der Gewerbe, der Schiffahrt oder der Landwirtschaft usw. handelt 2).
Da der Verfasser alle diese Wirtschaftsarten in seine Handlungs-
wissenschaft hineinbeziehen möchte, seine eigenen Kenntnisse und
Erfahrungen aber zur Ausfüllung eines so weit gesteckten Rahmens
nicht ausreichen, so ist nur ein Teil der Arbeit voll befriedigend
ausgefallen. Es hat sogar den Anschein, als wenn May in be-
wußtem Gegensatz zu Ludovici seiner Handlungs Wissenschaft so
weite Grenzen gibt, und als wenn er sich zu seinem „Versuch"
auf Grund von ein paar praktischen Unrichtigkeiten, die er bei
jenem gefunden zu haben glaubt, entschlossen haben könnte.
Da der „Versuch" besonders zur Einführung junger Kaufleute
bestimmt war, so mag er wohl schon deshalb von der tiefgründigen
und auch etwas hölzernen Tonart der Ludovici sehen Arbeiten
abweichen. Mit Bezug darauf sagt May selber 3): „Diejenigen, für
die ich eigentlich nicht schreibe, werden einige Nachsicht gegen
meine Arbeit haben, wenn sie das vermeintlich GründUche und
Gelehrte, welches sie suchen, vielleicht nicht finden. Ich schreibe
als ein Handelsmann ..." May ist auch der Erste, der auch an
die im Handel tätigen Frauen gedacht hat. Er sagt nämlich u. a.:
1) Lt. Meusel geb. 1731, gest. 1784. Nach 1780 machte er in Kassel „Ent-
würfe zu einer Art Handelsschule." Viele Auflagen und Übersetzungen erlebte sein
„Vers, in Handlungsbriefen . . . nach Gellertschen Regeln", Altona 1756.
2) Ähnlich heute bei Schär a. a. O.
3) Vorrede zur ersten Auflage.
5*
— 68 —
„Diejenigen, die ihrem Stande nach, es sei durch die Geburt oder
durch Verheiratungen, mit der Handlung verbunden sind, und die
etwas WesentUches den Beschäftigungen der Eitelkeit vorziehen,
werden Gelegenheit haben, aus diesem Werke einen richtigen Be-
griff von dem Wesen der Handlung und von den Handlungs-
geschäften zu erlangen, ohne nötig zu haben, sich der gewöhn-
lichen niederen Lehrart zu unterwerfen. Den Nutzen dieser Kenntnis
werden die gewiß finden, die das Unglück trifft, in den Witwen-
stand zu geraten und nicht genugsam mit getreuen Leuten zur Fort-
setzung ihrer Handlung versehen sind."
Die hier ausgedrückte Meinung, als könne die theoretische
Ausbildung die praktische ganz ersetzen, ist für einen Praktiker,
noch dazu vor 150 Jahren, jcdenfalLs recht ungewöhnlich. Sie wird
von May noch einmal ausdrücklich betont, indem er sagt, es sei
„ein ungegründetes Vorurteil, wenn man glaubt, daß die Handlung
nicht anders als durch Übung und Erfahrung erlernt werden könne.
Wahr ist es, daß diese Meinung auch durch die mehresten Handels-
leute unterstützet wird; allein wahrscheinlich muß man eben darin
die Ursache suchen, warum so viele Handelsjungen unwissend aus
der Lehre treten ..."
Nach dem Vorgange kameralistischer Arbeiten, wie der von
Zincke z. B., unterscheidet nun Mays „Versuch" einen all-
gemeinen oder theoretischen und einen besonderen oder praktischen
Teil der Handlungswissenschaft. Die Theorie des ersten Teiles
soll „die Ursachen des Wachstums und Verfalls eines Handels ein-
sehen" lehren und „einen allgemeinen Begriff von den Triebfedern
und Hülfsteilen (der Handlung) im ganzen" geben; man lernt aus
ihm „Unternehmungen mit Überlegung anfangen und ausführen,
aus den Zeitläuften einen Vorteil ziehen usw. Die Praktik (im
zweiten Teile) lehret das letztere nicht minder, sie läßt sich aber
hauptsächlich auf jeden besonderen Teil der Handlungsarten und
Geschäfte herab und bemerket Kleinigkeiten, welche die Theorie
übersiehet"').
Vorausgeschickt werden der ganzen Arbeit noch eine allgemeine
vorläufige Einleitung und Begriffsbestimmung, eine Geschichte des
Handels und der Schiffahrt und eine Erklärung kaufmännischer
Fachausdrücke; der besondere Teil wird noch einmal durch be-
sondere Vorbemerkungen über die Unterschiede zwischen den theo-
retischen und praktischen Teilen und dergleichen eingeleitet. Das
1) Vgl. damit die Unterscheidung einer allgemeinen und einer speziellen Volks-
wirtschaftslehre.
— 69 —
bemerkenswerteste Stück von den eben genannten ist die Handels-
geschichte, die aber Anlehnungen an Lud o vi ci zeigt, nur ist auch
hier der Stil flüssiger und die Darstellung lebensvoller als bei je-
nem. Das war ihr großer Vorzug, denn damals — wie heute noch —
fehlte es an einer, die der Kaufmann hätte gern lesen müssen. Na-
türlich hätte sie an dieser Stelle, ebenso wie die Terminologie, vom
Standpunkte der Handlungswissenschaft aus gesehen, auch überhaupt
fehlen dürfen. — May kommt nun zu folgender Gesamtdisposition:
Handlungs Wissenschaft
Allgemeiner Teil Besonde re r Teil
A. Vorläufige Einleitung usw. A. Über Theorie und Praxis usw.
B. Geschichte des Handels und der Schiff- B. Praktische Einleitung in die Handlungs-'
Wissenschaft.
III.') Von der Land- und Stadtwitrt-
schaft oder von den Holzungen, von
dem Land-, Feld- und Bergbau und
von den Manufakturen und Fabriken
IV. Von der Schiffahrt und der Fische-
rei, von den Befrachtungen und
vom Versicherungswesen
Von den "Waren-, Wechsel-, Kom-
missions- und Speditionsgeschäften
1. Von der Warenhandlung
a) Von dem gewöhnlichen Ein-
und Verkaufe
b) Von dem öffentlichen Ein-
und Verkaufe
c) Von den Spekulationsgeschäf-
ten
a) Ein- und Verkäufe auf
Lieferung
ß) Ein- und Verkäufe auf
Mutmaßung
y) Prämiengeschäfte
d) Von den Maßen, Gewichten
und Abzügen und von der Aus-
fertigung der Rechnungen
2. Von den Wechsela
3. Von den einzelnen WechseK
geschaffen
4. Von den Kommissions- und Spe-
ditionsgeschäften
5. Von den Kalkulationen
VI. Anhang: Von den Fallimenten und
fahrt
C. Kaufmännische Terminologie
D. Theoretische Einleitung in die Hand-
lungswissenschaft
I. Von der Handlung, den Manufak-
turen, den Fabriken, der Schiffahrt
und ihren „allgemeinen Hülfsteilen"
überhaupt
1. Von der Handlung ganz allge-
mein
2. Von Handelsfreiheiten und Ge-
setzen
3. Vom Kredit
4. Von den Zinsen
5. Vom Gold und Silber und den
Münzen daraus
6. Von den Banken
7. Von Pari, Agio und Wechsel-
kursen
S- Vom Verdienst und Gewinn
9. Vom Verlust und seinen Folgen
II. Von den Eigenschaften eines Han-
delsmannes, von seinen allgemeinen
Verrichtungen, von den Handels-
gesellschaften und den Mäklern
1. V^on den Eigenschaften und
Pflichten eines "Lehrlings, Ge-
hilfen und Kaufmannes
2. Von den allgemeinen Kenntnissen
und Arbeiten eines Handels-
mannes
3. Von der Einrichtung und Lei-
V
1) Diese fortlaufende Nummerierung entspricht der von May angewendeten.
— 70 —
tung eines Kontors und von den Bankrotten und der Verwaltung und
Arbeiten der dort erforderlichen Ausschaltung der Massen.
Personen
4. Von den Handlungsbflchern
5. Von den Handeisgesellschaften
6. Von den Mäklern.
Aus dieser Übersicht erhellt schon, daß Abschnitt I der theo-
retischen Einleitung und Abschnitt III, IV der praktischen Einleitung,
sowie die Abschnitte II und V hüben und drüben einander ent-
sprechen. Der erste kennzeichnet sich als allgemein volkswirtschaft-
lich, der zweite als allgemein handlungswissenschaftlich, wenn auch
nicht in so ausgesprochenem Maße. Der dritte und der vierte Ab-
schnitt schweifen beide mehr oder weniger in das Technische der
dort behandelten Erwerbszweige ab, statt daß sie uns etwa so, wie
es die heutige praktische oder spezielle Volkswirtschaftslehre tut,
mit ihren rein wirtschaftlichen Besonderheiten bekannt machten.
Die Abschnitte II, V und VI sind am besten, weil hier der \'er-
fasser aus der Fülle seiner praktischen Erfahrungen schöpfen konnte,
aber auch der erste Abschnitt ist davon sehr zu seinem Vorteil
beeinflußt worden. So erkennt May schon die Bedeutung der
Wechsel für die Zahlungsbilanz, die Ursachen des Steigens und
Fallens des Zinsfußes, des Agios und der Wechselkurse usw. U. a.
ist er auch für die Schaffung einer Einheitswährung und -münze
in Deutschland^).
In den letzten Kapiteln des ersten Abschnittes, in denen vom
Gewinn und Verlust die Rede ist, bekundet May eine gesunde
Auffassung von dem Reingewinn, der je nach den Haushaltsauf-
wendungen mit beurteilt werden muß. Die ersten Kapitel des zweiten
Abschnittes gehen vielfach auf Ludovici , Marpergcr und Savary
zurück. Hier und da bietet May aber auch Eigenes darin, so in den
§§ 420 — 448 allgemeine Grundsätze der Bekanntmachung und des
Betriebes eines Geschäftes. Neu sind auch seine Ausführungen über
die Einrichtung und Führung eines Kontors — die früheren Autoren
hatten, wie Boh n-Heyne-), unter dieser Überschrift entweder nur
die technische Seite einzelner Kontorarbeiten behandelt oder hatten
1) Die merkantilistisch-kameralistischen Schriftsteller und ihr Gefolge verfielen
öfter auf dergleichen Gedanken, denn ihre Wirtschaftsphilosophie erforderte praktisch
einen zentral organisierten, machtvollen Staat. Becher a. a. O. war bereits für die
Schaffung eines Einheitsheeres eingetreten, andere forderten eine Vereinheitlichung
des Rechtswesens, nach Marperger sollten sich Preußen-Deutschland für einen
Kanal vom Schwarzen Meere nach Königsberg einsetzen usw. usw.
2) Vgl. S. 42, 43.
— 71 —
versucht, das Notwendigste aus der Kontorarbeitslehre mit in den
Arbeitslehren für die Angestellten (Savary-Ludovici) unterzu-
bringen; eine Ausnahme machte davon wohl nur der unbekannte
Verfasser des „Sistems". — In den letzten Kapiteln dieses Teiles
weiß May freilich nichts Neues zu sagen, es sei denn einiges über
die Aktiengesellschaften.
Dem ökonomisch-technologischen nächsten Abschnitt, dem
schon mehrfach genannten ersten der praktischen Einleitung, läßt
sich nur wenig (über die Ortslage von Manufakturen, über Befrach-
tung von Schiffen) für uns entnehmen ; bei der Erörterung der Ver-
sicherung kommt der Verfasser auch kurz auf die Lebens- und
Viehversicherung, während bis dahin allein die Transportversiche-
rung in der handlungswissenschaftlichen Literatur erwähnt wurde
(Ludovici). In dem folgenden fünften Abschnitt ist May ganz
in seinem Elemente. Besonders bemerkenswert ist hier seine aufs
Wesentliche gerichtete Einteilung der einzelnen Kaufarten. Der
Auktionshandel und einige Spekulationskauf arten werden hier zum
ersten Male in der Handlungswissenschaft erwähnt. Spekulations-
geschäfte waren mehr oder weniger der Kauf auf Lieferung, vor
allem aber der Kauf „auf Mutmaßung" und der „auf Prämien", die
wir heute als Differenzgeschäfte bezeichnen würden. Den Effekten-
handel erwähnt May aber noch nicht bei diesen Kaufarten; es
kommt ihm nur darauf an, ihr Wesen im Warenhandel zu erläutern.
Von den übrigen Teilen dieses Abschnittes sind nur die beiden
letzten über die Kommissions- und Speditionsgeschäfte und über die
Kalkulationen von Belang; sie führen aber nicht über das schon
bei anderen Autoren zu findende hinaus.
Im Anhange ist wiederum ein neuartiges Kapitel dasjenige von
der Verwaltung der Fallitmassen durch die Gesamtheit der Gläu-
biger oder einen Beauftragten. Wie schon Savary eine milde
Auffassung zu gunsten des Gemeinschuldners vertritt, so gelangt
May sogar zu der Ansicht, man solle den ehrlichen Schuldner mit
seinem Kapitalbetrage wie einen Gläubiger an der Masse teilhaben
lassen. Die Trennung von Unternehmung und Haushalt ist damit
so scharf wie nur irgend möglich aufgefaßt.
Die Verdienste der May sehen Arbeit liegen zunächst in einer
Erweiterung des handlungswissenschaftlich erfaßten Gebietes und
dann in einer Popularisierung der Handlungswissenschaft selber, die
u. a. aus den wiederholten Auflagen des Buches hervorgeht, während
es die Anhänge von Ludovici „Kaufmannslexikon" nur auf eine
zweite, die von 1768, brachten. Der Praktiker jedenfalls, der über-
liaiipt für Arbeiten dieser Art Interesse hatte, bevorzugte die von
May, die zwar nicht so anatomisch subtil, dafür aber auch nicht
ganz so nüchtern und pedantisch-gelehrt anmutete. Als Systema-
tiker kann man May allerdings nicht so zu seinem Vorteil mit Ludo-
vici vergleichen — der Versuch, einen theoretischen und einen prak-
tischen (allgemeinen) und besonderen Teil der I landlungswissenschaft
zu konstruieren, ist zwar ein großer Fortschritt, den aber auch wieder
die allzu weite Fassung des Begriffes Handlung beträchdich hemmt.
Im ganzen wird man May wohl am ehesten gerecht, wenn man
seinen „Versuch" als eine Ergänzung zu den Abhandlungen Ludo-
vicis betrachtet, als ein frisches, grünes Reis von des Lebens gol-
denem Baum, das geeignet war, die etwas stubenfarbene Ludo-
vicische Behandlung der Handlungswissenschaft vor der Ver-
knöcherung zu bewahren.
D. Das „Lehrbuch" von J. H. Jung.
Da sich die Arbeiten von Ludovici und May so gut ergänzen,
so sind sie auch von einigen nachfolgenden Schriftstellern, die nichts
Besseres zu sagen wußten, aus- und abgeschrieben worden. Hält
man sich an diejenigen Nachahmer, die wenigstens versuchten, die
Handlungswissenschaft durch einen neuartigen Aufbau als wissen-
schaftliches System zu fördern, so fällt zunächst das „Gemeinnützige
Lehrbuch der Handlungswissenschaft für alle Klassen von Kauf-
leuten und Handlungsstudierenden " von J. H. Jung auf, das Leipzig
1785 erschien*) und 445 Seiten 8^ umfaßt. Jung war zunächst
Handlungsgehilfe und dann Arzt (I) gewesen-^), ehe er Professor
der Gewerbewissenschaften an der Kurpfälzischen Kameralhochschule
zu Lautern wurde. Außer dem genannten Lehrbuch hat er je einen
Versuch zur Forstwirtschafts-, zur Landwirtschaftslehre und zur
„Fabrikwissenschaft" herausgegeben-'). Er ist darin aber nicht viel
über das Technische der betreffenden Gewerbe hinausgekommen,
denn nach ihm wird ..die Wissenschaft, Güter, mithin auch Waren,
zu erzeugen oder zuzubereiten, ... in der Landwirtschaft und
Fabrikwissenschaft gelehrt ..."
1) 2. Aufl. 1799.
2) Vorrede zum j^Lehrbuch". Später wurde er gar noch Theologe,
3) Im .Lehrbuch" § 125. Die Technologie war den Kameralisten überhaupt
sehr wichtig. Ich habe eine zweite Auflage Nürnberg 1794 seines .Versuchs eines
Lehrbuchs der Fabrikwissenschaft" gefunden, das rein technologisch ist.
— Za-
uber Ludovici und May, die von Jung recht unverschämt
ausgeplündert werden, fällt er selber folgendes Urteil: »Als ich zum
ersten Male die Handlungswissenschaft lehren sollte, so glaubte ich,
Herrn Carl Mays Einleitung in dieselbe sei recht brauchbar dazu;
allein ich betrog mich; zu akademischen Vorlesungen hat dies Werk
weder System noch Anlage, hingegen zum häuslichen Gebrauch
für Anfänger mag es recht gut sein. Herr May ist ein Sachver-
ständiger und hat dabei in rebus agendis mein völliges Zu-
trauen.
Daß man Herrn Ludovicis System der Kaufmannschaft noch
weniger brauchen kann, ist gar keine Frage; bei aller Ordnung
fehlen wesentliche Sachen, z. B. die Warenkunde und das Buch-
halten, und dann wiederholt er sich oft und ist überhaupt für ein
Compendium zu weilläufig. Indessen, wie sehr auch Herr May
diesen Schriftsteller heruntermacht, so übertrifft er jenen doch bei
weitem in der Genauigkeit und Ordnung. Ludovicis Werke sind
mit allen ihren unleugbaren Unrichtigkeiten unentbehrlich, und ihr
Verfasser ist mir sehr verehrungswürdig."
Mir — um das gleich hinzuzufügen — ist diese letzte sauer-
süße Verbeugung sehr verdächtig, nämlich im Hinblick darauf, daß
Jung so sehr viel aus Ludovici und auch aus May „entlehnt"
hat. Daß sich bei Ludovici erhebliche Unrichtigkeiten oder gar
Wiederholungen finden, ist ebenso wenig wahr, wie daß May, in-
dem er ein paar Stellen bei diesem auf Grund seiner Kenntnis be-
richtigt, ihn „heruntermacht". Die Beurteilung der Brauchbarkeit
beider Werke in Bezug auf ihre Verwendung in kameralistischen
Vorlesungen mag dagegen im allgemeinen wohl richtig sein, wenn
man freilich auch die Warenkunde und das Buchhalten nicht für
so wesentlich halten wird, wie Jung. Er hat diese von ihm so
vermißten Teile auch nicht etwa selber geliefert, so daß man meinen
sollte, er habe eben bloß nörgeln wollen, um sich selber so viel
gewichtiger erscheinen zu lassen — sind doch die Gründe Ludo-
vicis für seinen Verzicht auf eigene Darstellungen dieser beiden Ge-
biete triftig genug').
Das eigene Verdienst Jungs liegt nun, wie gesagt, vor allem
in der Systematik. Zunächst bringt er die Ausführungen seiner
Vorgänger über den Kaufmann, Gehilfen usw. in einem „Vorbericht
von den Handelspersonen" unter und erledigt sodann alles Übrige
nach folgendem Schema, das er selber entwickelt und so aufstellt:
1) Vgl. s. 57.
ir.
rt
tfj
C
o
3
^
c
t/5
05
X
.—
i
— 74 —
I Warenkunde
('icldkundc
Ilandclskunde
(Frachtkunde
Zahlungskunde
Kontorkunde
Der Gedanke, diejenigen Kenntnisse, die vor und bei dem Ab-
schluß eines Kaufvertrages („Tausch") nötig sind, von denen zu
trennen, die auf die bloße Erfüllung der beiderseitigen Verbindlich-
keiten Bezug haben („Expedition"), hat etwas Bestechendes, weil
dieses einen auch praktisch vorhandenen Intervall zwischen beiden
Tätigkeitsgebieten ausdrückt. Die Kontorkunde gehört aber offen-
sichtlich zu beiden oder zu keiner der beiden Gruppen, indem sie
— oder doch die unter ihrem Namen zusammengefaßten Tätig-
keiten — nämlich beiden zugute kommt. Sie kann auch unter der
Überschrift „Verwaltungsarbeiten-' und mit den Organisationsarbeiten
(Gründung, Aufbau, Abbruch, Umbau der Unternehmung) zusammen
den Betriebs-(Erwerbsverkehrs-jarbeiten gegenüberstehen, als welche
man dann die „Handels-, Fracht- und Zahlungskunde" Jungs zu-
sammenfassen könnte. Aber auf Organisationsfragen einzugehen,
daran dachte man eben noch nicht.
Die ersten beiden Abschnitte unter „Tausch" sind handlungs-
wissenschaftlich ohne Bedeutung; erst in der ., Handelskunde" bietet
Jung in dieser Beziehung einiges, das aber auf Ludovici und
May zurückzuführen ist. Wie sehr aber Jung Kameralist ist, zeigt
sich selbst in den wenigen hier vorkommenden Handelsgrundsätzen:
der Kauf aus erster Hand ist ohne weiteres der beste, und eine
Vervielfältigung und Beschleunigung des Umsatzes, deren Nutzen
erkannt zu haben vielleicht Jungs eigenes Verdienst ist, wird vor
allem darum empfohlen, weil der Kaufmann die Allgemeinheit auf
diese Weise billiger versorgen könne!
Auch unter „Expedition" merkt man, wie sehr Jung bei Ab-
fassung seines Buches an seine „Handlungsstudiercnden" dachte,
nämlich an diejenigen Kameralisten, die auch Handlungswissenschaft
hörten. Unter Frachtkunde erklärt er, ganz im allgemeinen — er
hält sich in allen Darstellungen sehr an der Oberfläche — was
man unter Versendungen, Schiffahrt, Rhederei, Versicherung, Fuhr-
und Postwesen, Spedition, Stapel usw. zu verstehen hat, und unter
Zahlungskunde ist ebenso von Schulden, Kredit, Zinsen, Zahlungen,
Pari, Agio, Wechseln und selbst vom Aktienhandel und von den
-- 75 —
Banken die Rede. Die Kontorkunde endlich vereinigt mit Aus-
führungen über die Einrichtung eines Kontors (nach May), solche
über die Buchführung und sogar über die Bankrotte, die ganz gewiß
nicht dahin gehören. Die für die Handlungswissenschaft wesentliche
Frage nach dem Vorteil oder Nachteil wird fast überall von Jung
nur gestreift.
Jungs Arbeit ist insofern ein Rückschritt, als sie gar zu sehr
an äußeren Erscheinungen hängen bleibt, statt die ihnen zugrunde
liegende Erwerbsabsicht, das Zweckhandeln des Kaufmannes, in
erster Linie zu erläutern und als in diesen Äußerlichkeiten wirksam
nachzuweisen. Ein Fortschritt dagegen ist die Einfachheit und
Klarheit des „S3-stems", nach dem sie ihren Stoff gruppiert, eine
Klarheit, die noch dadurch erhöht wird, daß fast alle Nicht -Waren-
handlungsgeschäfte fortgelassen sind. Am glücklichsten ist wohl
die Dreiteilung der eigentlichen Betriebsarbeiten nach den Gesichts-
punkten Handel {= Abschluß von Kaufverträgen), Verfrachtung
und Zahlung, aber freilich auch bloß diese Teilung und nicht auch
die Ausarbeitung jeden Teiles selber kann als verdienstlich an-
gesehen werden.
E. Das „System des Handels" von J. M. Leuchs.
Wesentlich besser als Jungs „Lehrbuch" waren die Arbeiten
des Nürnberger Kaufmanns, Verlegers und Handelsakademieleiters ^)
J. M. Leuchs. Leuchs ist geboren 1763 und gestorben 1836. Er
gab zunächst Nürnberg 1791 ein Büchlein von nur 110 Seiten 12*>
heraus, das sich „Allgemeine Darstellung der Handlungswissenschaft,
nebst einer Anzeige der damit verbundenen Kenntnisse und einige
Gedanken über kaufmännische Erziehung" benannte. Es sollte außer
den Gedanken des Verfassers über die Erziehung des jungen Kauf-
mannes seinen Plan zu größeren handlungswissenschaftlichen Ar-
beiten bekannt machen. Dieser besteht im allgemeinen nur aus
der folgenden, genau nach dem Original wiedergegebenen Über-
sicht (siehe S. 76).
Dieser Plan, der in der „Allgemeinen Darstellung" nicht weiter
erläutert wurde, erfuhr erst mehr als ein Jahrzehnt später seine Aus-
führung in einem Leuchsschen Buche, das zuerst Nürnberg 1804
unter den Titeln „Vollständige Handelswissenschaft" und „S3'stem
1) Nach einer Mitteilung, die ich Herrn Robert Leuchs, Charlottenburg, ver-
danke, wurde die 1795 gegründete Handelsschule bald wieder aufgegeben, „weil
ihr mit wenig Ausnahmen nur verlorene Kinder reicher Häuser zuströmten" (I)
— 7Ü —
- I
Waren-
lehre
Geld-
lehre
zum
Geldumsatz
Übersicht allcrTeile der Handlungs wissen schaft ') und
ihrer Verbindung.
I Rohe Waren desPlanzea-, Tier- u. Mineralreiches
Verarbeitete Waren der Manufakturen, Fabriken
und Laboratorien
Münzen
Papiergeld
Banknoten
l Wertbestimmung
( Preisbestimmung
' Handel überhaupt
Einkauf
Verkauf
Zahlung
Versendung
Buchhaltung
Briefwechsel
Aufsätze und schriftliche Ausfertigungen
( Banken
Wechsel
Aktien
zum ) Niederlagen, Faktoreien, Messen,
Warenumsatz l Kompagnien, Assekuranzen usw.
zur Aufrecht- j Handlungsgerichte, Handlungsrechte,
erhaltung der ( Seerechte, Bankordnungen, Haverei-
Handlung^) [ Ordnungen, Fallitenordnungen
Preisveränderungen
Kursveränderungen
Assekuranzgeschäfte
Manufakturen usw.
oder der verarbeitenden Anstalten
I zu einzelnen Volksklasseu
lehrt die Verhältnisse der Handlung-) 1
[ zum Auslande
j äußere Kennzeichen
\ Gattungen und Arten
Münz-, Maß- und Gewichtskunde
delsgebräuche
Handelsanstalten
Handlungsgeographie
i der Handlung an sich: Geschichte des Handels
Handlungsgeschichte \ ihrer Darstellung: Geschichte und Literatur der
Handlungs Wissenschaft
Tauschmittelieb re
Verhältnislehre
Handelslehre <
Kontorwissenschaft
Beförderungsmittel-
lehre oder Anstalten-
lehre; enthält die
Anstalten
Mutmaßungslehre oder
Spekulations Wissenschaft ;
enthält das
Wahrscheinliche der
Staatshandlungswissenschaft;
Warenkunde
Handelskunde
["Münz
J Hanc
1) Später sagte Leuchs Handelswissenschaft.
2) Lies: des Handels (vgl. S. .51, Fußnote 2).
— 77 —
des Handels" herauskam; es wurde 1816 noch einmal vermehrt und
zuletzt 1822 mit einer weiteren Anzahl von Zusätzen herausgegeben.
In dem Vorbericht der ersten Auflage heißt es über den Zweck des
Werkes, es solle ein „Lehrbuch für Akademien und höhere Lehr-
anstalten und, mit den Zusätzen, für den eigenen Unterricht sein.
Es soll aber das Vorhandene, innerhalb der seit Peri und Savary
geschlossenen Schranken, nicht wiedergeben; es soll die Handels-
wissenschaft, dem Gehalte und dem Umfange nach, weiterbringen
und somit eine freie Produktion sein, die nicht unter aufgeschla-
genen Büchern ähnlichen Inhalts vor sich gehen konnte. ... So
sind die Warenlehre, die Wertbestimmungslehre und die Lehre des
Wahrscheinlichen neue Teile; so sind in der Lehre des Buchhaltens,
der Staatshandelswissenschaft u. a. neue Ansichten eröffnet, und
selbst die Rechte, die nur wiedergegeben werden konnten, in eine
bessere wissenschaftliche Übersicht gebracht und noch vollständiger
abgehandelt, als man sie außerdem finden wird ..."
Und über den Vortrag in seinem Buche sagt Leuchs weiter-
hin in der zweiten Auflage: „Man wird ihn . . . (knapp, aber) so
deutlich finden, als es bei einem wissenschaftlichen (nicht diskur-
siven, erzählenden) möglich ist. Erklärungen, richtige, vollständige,
den Begriff erschöpfende, sind das Wichtigste einer Wissenschaft.
Auf sie ist sehr gesehen worden . . . Für den Handel als Geschäft
waren oft eine Menge Forderungen aufzustellen, zur Übersicht zu
bringen und anzugeben, was alles getan werden soll. Solche Im-
perativen bilden allerdings keinen schönen Vortrag, aber sie ge-
währen eine leichte Übersicht ..."
Es muß vorweg bemerkt werden, daß Leuchs, wie das auch
schon aus der vorstehenden „Übersicht" hervorgeht, die Handels-
wissenschaft im weitesten Sinne des Wortes, nämlich sowohl volks-
wirtschaftlich als privatwirtschaftlich, zu erfassen suchte, daß er
also ein noch weiter gefaßtes System aufstellen möchte, als Ludo-
vicis „Kaufmannssystem" es ist. Er hält nun zwar beide Gesichts-
punkte richtig auseinander, aber er unterscheidet sie nicht durch
einen präzisen und konsequenten Gebrauch der Ausdrücke Handel
und Handlung, die doch dafür recht gut geeignet sind. Er bevor-
zugte später immer mehr das Wort Handel, erklärte aber noch in
der Einleitung zum ,, System" den Handel begriffsmäßig als Kol-
lektivum für W'arenumsatz im allgemeinen, die Handlung dagegen
als ein bestimmtes Gewerbe. Die beiden Hauptteile seines „Systems"
unterscheidet er äußerlich als Bürgerliche (in der ersten Auflage
Privat-) Handelswissenschaft und Staatshandelswissenschaft. W'äh-
— 78 —
rcnd crstere hauptsächlich unsere Ilandluugswissenschaft umfaßt,
ist letztere eine Handelskunde und kaufmännische Rechtslehre.
Die erste Auflaije beschränkte sich überhaupt auf diese beiden
Teile. Die zweite und dritte dagegen entwickelten aus einem bloßen
Anhang in der ersten einen neuen Teil als „Die Forderungen der
Mandelskunde, die Erziehung, das kaufmännische Leben und die
Bücherkenntnis enthaltend". Auf diese Weise und durch zahlreiche
Anmerkungen und Zusätze zum Text der beiden ersten Teile
wurden denn auch aus den beiden Bändchen von 1804 mit zu-
sammen 592 Seiten 8^ schließlich (1822) 1625 Seiten in drei Bänden.
Ich halte mich im folgenden an diese letzte Ausgabe.
In der ihr voraufgehenden „Ableitung der Hauptteile der
Ilandelswissenschaft" scheidet Leuchs das Gesamtgebiet in die
Handelskunde oder den geschichtlichen, beschreibenden Teil und
in die Handelswissenschaft, den eigentlich wissenschaftlichen, d. h.
den das Allgemeingültige und Grundsätzliche erforschenden Teil.
Letzterer zerfällt wieder in die Tauschmittellehre, die Wertbestim-
mungslehre, die Handelslehre, die Kontorwissenschaft, die Speku-
lationswissenschaft und in die Beförderungsmittellehre oder Staats-
handelswissenschaft. Dagegen umfaßt die Handelskunde die Waren-
kunde, die Handelsgeographie und die Handelsgeschichte mit
Einschluß der Handelsliteraturgeschichte. Der Hauptteil hat dem-
nach gegenüber dem Plane von 1791 eine geringe Änderung er-
fahren, die in der Zusammenlegung der Beförderungsmittellehre und
der dort besonders abgeteilten „Staatshandlungswissenschaft" be-
steht. Offenbar ist das eine Verbesserung, denn beide Gebiete
hatten schon nach dem Plane von 1791 viel Gemeinsames. Es ist
auffällig, daß Leuchs beide nicht ohne weiteres seiner Handels-
kunde zuzählt, der sie doch viel näher stehen, als der „Handlungs-
wissenschaft im engeren Verstände" seines früheren Planes oder
seiner wissenschaftlichen Handelswissenschaft im „System". \'on
diesem logischen Fehler abgesehen, ist es aber sein großes Ver-
dienst, überhaupt und zuerst die bloß beschreibenden Kapitel von
den grundsätzlichen getrennt zu haben.
Leuchs versteht nun unter ^ Tauschmittellehre-' die Lehre von
den Waren und vom Gelde. Die „Warenlehre" ist keine Waren-
beschreibung oder Warenkunde, sondern eine Lehre, die die For-
derungen aufstellen soll, ,.die an Waren gemacht werden können"*,
sie muß also „die Eigenschaften angeben, die sie haben müssen,
wenn sie zu einem bestimmten Zwecke angewendet werden sollen".
Da von dem Grade der Zweckmäßigkeit, den eine Ware besitzt.
— 79 —
ihr Wert abhängt, so kann man die Warenlehre die Wissenschaft
nennen, welche die Eigenschaften, die die Waren haben sollen, und
die Grade ihres Wertes aus der Brauchbarkeit zu den Zwecken
ihrer Anwendung bestimmen lehrt. Leuchs führt also denselben
Gedanken, der schon dem unbekannten Verfasser des „Sistems"
und Ludovici vorschwebte, hier an und stellt dann selber die
Forderungen auf, die an die Eßwaren, die Waren zur Bekleidung
und ein paar andere gestellt werden müssen. Er scheint sich nicht
bewußt geworden zu sein, welch praktische Schwierigkeiten der
Ausbau einer solchen Lehre zu überwinden hätte, und wie fraglich
ihr Nutzen sein müßte, sobald sie, wie nötig, eben bloß allgemein
gehalten bliebe. Außerdem kommt es für den Kaufmann in erster
Linie auf die richtige Beurteilung des Marktwertes und nicht des
Nutzwertes einer Ware an. Die Warenlehre würde, wenn man
sie überhaupt ernstlich in Angriff nehmen wollte, w^ohl am besten
als der allgemeine Teil einer bloßen Warenkunde aufzufassen und
darzustellen sein ; als System für sich ist sie trotz der gegenteiligen
Meinung von Leuchs etwas gesucht.
Weniger gilt das von seiner „Geldlehre". Das, was Leuchs
zu ihr auszuführen wünscht, sind wir aber heute im Rahmen der all-
gemeinen Volkswirtschaftslehre behandelt zu sehen gewohnt, ferner,
soweit es sich um die praktische Wertbestimmung der Münzen usw.
handelt, im kaufmännischen Rechnen. Somit muß, von unserm
heutigen Standpunkte aus gesehen, die ganze Tauschmittellehre als
selbständiger, wenn auch nebensächlicher Teil ausscheiden.
Sehr wichtig ist dagegen die „Wertbestimmungslehre", auch
als teilweise Grundlage der nachfolgenden Handelslehre und der
Wahrscheinlichkeitslehre. Sie könnte auch als Kalkulationslehre
bezeichnet werden, weil die Fabrikations-, Bezugs- und Verkaufs-
halkulationen *) von ihr ihre Grundsätze entnehmen. Sehr viel Wert
legt Leuchs auf eine richtige Verteilung der Unkosten und Zinsen
und selbst auf die Berücksichtigung der Haushaltskosten.
Die nun folgende „Handelslehre" umfaßt nachstehende fünf Ab-
schnitte: l. Vom Handel überhaupt und von seinen Zweigen ins-
besondere, 2. Einkaufslehre, 3. Verkaufslehre, 4. Zahlungslehre und
5. Versendungslehre. Im ersten Abschnitte werden die allgemeinen
privatwirtschaftlichen Grundlagen der verschiedenen Handelszweige
und Handelsarten festgestellt. So heißt es da vom Warenhandel,
daß er nach Maßgabe der Feststellungen, die in der Einkaufs- und
1) Andere führt Leuchs hier nicht an.
— 8U —
Verkaulslelire, in der Wertbcstimniungslehic und in der Spekulations-
wissenschaft gewonnen werden, zu verfahren hat. Der Wechsel-
handel erfordert umfangreiche Verbindungen, großen Kredit, viel-
fältige Aufrechnungsniüglichkeiten zur Vermeidung von Barsendungen,
Kenntnis der Geld- und Wechselkurse und der Verhältnisse des
Geldmarktes an den verschiedensten Plätzen. Beim Kommissions-
geschäft müssen Kommittent wie Kommissionär eine Anzahl von
Grundregeln beachten, wie sie sich schon bei Savary ähnlich finden.
Im Handel auf Lieferung hat der Käufer zu erwägen und festzu-
setzen: die Menge und Beschaffenheit der Ware, die Lieferzeit und
-Art und den Preis nebst den Zahlungsbedingungen. Der Verkäufer
hat dagegen zu überlegen, ob er die Ware gewiß herbeischaffen
kann, ob er es auch zur rechten Zeit kann und welchen Preis er
schließlich fordern könnte. Über diesen Handel auf Lieferung und
den auf Prämien weiß Leuchs nur wenig zu sagen, weil er sie
praktisch nicht recht kennt.
Im Handel mit Aktien muß man die Grade der Sicherheit des
Aktienunternehmens, die Grade der W^ahrscheinlichkeit und der
Größe seines Gewinnes beachten und ferner die Flüssigkeit usw.
des Geldmarktes, der vielleicht eine andere Kapitalanlage lohnender
macht. Der Handel mit Staatspapieren, den Leuchs zuerst bei
uns erwähnt, beurteilt seine Objekte n^ch folgenden Gesichts-
punkten: eine Schuldverschreibung ist unter sonst gleichen Um-
ständen mehr wert, wenn sie von selten der Gläubiger kündbar
ist (I), in kürzester Zeit nach der Kündigung zahlbar ist, das Geld
in ihr sicherer angelegt ist, die Zinsen höher und die Zinszahlungen
richtiger und ordentlicher sind, und wenn sie einen willigeren Markt
findet. Beim Buchhandel muß man folgendes beachten:
1. Werke, die ein Gesamtgebiet umfassen, finden im allge-
meinen einen größeren Absatz, als solche über einzelne Gegenstände;
2. Bücher, die faßlich, deutlich und in einer leicht übersehbaren
Ordnung geschrieben sind, werden mehr gesucht als ganz tiefsinnige
Werke,
3. Bücher von Autoren von Ruf mehr als die von unbekannten;
4. Werke von Umfang, zu deren Bearbeitung viele Kenntnisse
und viel Zeit erforderlich sind, haben einen länger dauernden Ab-
satz als solche, deren Ausarbeitung und Verlag mehreren möglich
ist; dasselbe gilt für
5. Werke, die dem gleichzeitigen Untersuchungsgeiste und der
Mode entsprechen, mehr als für die übrigen, und schließlich ist noch.
— 81 —
6. das Verhältnis der Menge von Büchern eines Faches zu den
Bedürfnissen, zu der Bildungsstufe und den Fortschritten der Wissen-
schaften in Anschlag zu bringen.
Nach kürzeren Ausführungen über die wesentlichen und die
nur gebräuchlichen „Bedingnisse" beim Kaufabschlüsse — sie hätten
teilweise besser in die Kalkulationslehre gepaßt — kommt der Ver-
fasser nun zur Einkaufslehre. Er entwickelt und erklärt hier fol-
gende Einkaufsgrundsätze:
1. Man kaufe so wohlfeil als möglich und
2. bei gleichen Preisen die marktgängigere Ware; jedoch
3. nur so viel, als man bald wieder absetzen kann, es sei denn,
die Preise wären im Steigen;
4. bewillige man den geringsten Gegenwert;
5. kaufe bei sonst gleichen Bedingungen dort, wo das längste
Ziel bewilligt wird;
6. und zwar auch dann, wenn die Preise dafür etwas höher
sind, als die Barpreise, es sei denn, der Aufschlag sei im Vergleich
zu den gewonnenen Zinsen zu hoch;
7. kauft man auf Spekulation, so darf man nicht mehr kaufen,
als man in der Zeit der günstigsten Preisgestaltung wird absetzen
können ; man muß auch die Preissteigerung abwarten können und
muß lieber,
8. wenn zu viele zugleich in derselben Ware spekulieren, den
Einkauf jenen vorläufig überlassen, die dann häufig noch vor der
Zeit die Ware billig wieder abstoßen müssen.
9. Kauft man durch Makler, so gebe man nicht mehreren zu-
gleich den Auftrag, da sonst die Nachfrage zum eigenen Nachteil
vergrößert erscheint; dagegen soll man
10. an entfernten Orten möglichst mit mehreren Konkurrenten
arbeiten, damit man selber unabhängiger bleibt.
11. Hat es mit einem Einkaufe Zeit, so erkundige man sich
bei mehreren an verschiedenen Orten nach den Preisen; eilt er da-
gegen, so kann man oft mit \'orteil mehreren je einen Teilauftrag
erteilen.
12. Besonders bei auktionsweisem Einkauf, aber auch sonst
(vgl. Punkt 9) beauftrage man nur einen einzigen Kommissionär;
13. Lieferungs- und Differenzgeschäfte besorge man am besten
durch einen Makler; ratsam sind diese Geschäfte aber nur dann,
wenn man selber wirklich die Waren zu liefern hat.
Weiter gibt Leuchs hier noch die Regeln zur Erlangung und
Erhaltung des Kredits: Bareinkauf, pünkdiche Zahlungen, Vermei-
Zeitschrift für die ges. Staatswissensch. Ergänzungsheft 49. 6
— 82 —
düng unbegründeter Abzüge und Einwendungen werden vor allem
empfohlen.
Die Verkaufsichre „entwickelt die Regeln, die man zu beachten
hat, um so viel als möglich zu gewinnen und so wenig als möglich
zu verlieren, oder die gekauften Waren auf das vorteilhafteste zu
verkaufen". Es kommt daher zunächst auf eine nähere Bestimmung
der Begriffe Gewinn und Verlust an. Leuchs führt zu dem Zwecke
ein Beispiel mit verschieden schnellen Umsätzen eines gleichbleiben-
den Kapitals aus und folgert u. a. schließlich, daß der Gewinn bei
gleichem Verkaufspreise um so größer oder der Verkaufspreis bei
gleichem Gewinn um so niedriger sein kann, je öfter wir umsetzen,
je früher wir die Verkaufssumme erhalten, je später wir selber zu
zahlen brauchen, und je größer die Einzelumsätze sind.
Was die einzelnen Absatzarten anbelangt, so empfiehlt Leuchs
den Tausch nur im Buchhandel. Getauschte Waren soll man im
i-ichtigen Verhältnis ihres Wertes veranschlagen, vor allem soll man
keine entgegennehmen, die nicht größere Aussicht auf einen gün-
stigen Absatz bieten. Den Bar- und den Zielverkauf betreffend
gelten folgende Regeln:
1. Man bedinge die kürzeste Zahlungsfrist;
2. bemesse die Zahlungsfrist usw. nach der Kreditfähigkeit des
Käufers und nach ersterer wieder die Preise;
3. ziehe bei sonst gleichen Verhältnissen den Barzahler als Ab-
nehmer vor;
4. ist das längere Ziel die Bedingung für einen größeren ein-
zelnen Umsatz, so mag es bewilligt werden, wenn das Mehr sonst
nicht vorteilhafter angebracht werden kann, wenn wir Überfluß an
Ware haben und uns schnell mit neuen Vorräten versehen können ;
5. bei steigenden Preisen kann man höhere Forderungen oder
das Verlangen nach Barzahlung durchsetzen ;
6. man soll aber darauf verzichten, wenn andere Geschäfte
und Verbindungen in der Folge zu erwarten sind;
7. überhaupt begnüge man sich gemeiniglich mit dem zum
Fortkommen hinreichenden Gewinn.
Bei dem Verkauf in Kommission soll der Kommissionär keinen
Auftrag übernehmen, den er nicht zu dem vorgeschriebenen
Preise zu erledigen hoffen darf, es sei denn, daß ihm überhaupt
kein Preislimitum gesetzt wurde. Was Leuchs ihm sonst emp-
fiehlt, findet sich schon bei Savary ebenso gut.*) Der Kommittent
soll dagegen
1) Vgl. S. 20.
— 83 —
1. auf die Eigenschaften und Kenntnisse des Kommissionärs
sehen;
2. den Wahrscheinlichkeitsgrad eines vorteilhaften Verkaufs be-
achten;
3. den kleineren Gewinn aus dem Propregeschäft im allge-
meinen vorziehen, und
4. den kommissionsweisen Verkauf in der Regel nur dann
wählen, wenn entweder keine Aussicht auf Absatz am Orte und
mit den eigenen Hilfsmitteln vorhanden oder wenn das Lager über-
füllt ist;
5. soll er nach Möglichkeit die Ware in mehrere Konsigna-
tionen teilen, die nach verschiedenen Orten bestimmt sind, an
denen der größte Bedarf, die geringste Konkurrenz und damit der
größte Nutzen zu erwarten ist; er soll
6. genau berechnen, wie teuer sich die Ware beim Kommis-
sionär stellt, und ob die zu erwartenden Preise einen entsprechenden
Nutzen lassen, ferner, in welcher Zeit der Absatz erfolgt sein
dürfte — er erwarte aber in allem, daß das wirkliche Ergebnis sich
schlechter stellt.
Im allgemeinen wird der Zweck des Handels^ nämlich der
höchstmögliche Verkaufsgewinn, dadurch erzielt, daß man
1. so teuer als möglich verkauft, nämlich so viel als möglich
in die letzte Hand zu verkaufen sucht, mit vielerlei und immer ge-
suchten Waren handelt, nur gute, schöne, geschmackvolle und
modische Waren zu führen sucht, aus gemischten Waren die besseren
Sorten heraussortieren läßt, den Wettbewerb nach Möglichkeit ver-
meidet und nicht vermehrt, Verkaufswege und -orte sucht, die nicht
jeder kennt oder zu benutzen weiß, die Versendungs- und ähnliche
Kosten zu verringern sucht und die Zeit und die Umstände für
den günstigsten Verkauf ruhig abwartet;
2. so viel als möglich verkauft, nämlich durch fleißiges An-
bieten, Besuchen usw. den Abnehmerkreis zu erweitern und beson-
ders Käufer, die viel gebrauchen, zu erhalten sucht, indem man
ihnen niedrigere Preise und günstigere Bedingungen zubilligt usw.;
3. so oft als möglich jeden Umsatz wiederholt (damit der Anteil
der konstanten Unkosten sinkt), nämlich durch beste Dienstleistungen
iür den Käufer, richtige Lagerdisposition usw.;
4. sobald als möglich die Zahlung zu erhalten sucht, nämlich
so viel als möglich mit kurzen Zahlungsfristen verkauft, sich zu
Wechselentnahmen ermächtigen läßt und sich nicht zuviel Ware
auf den Hals lädt; und
— 84 —
5. so sicher als möglich die Zahlung zu erhalten sucht, nämlich
mit nur kreditfähigen Abnehmern handelt, die Anlässe zu Streitig-
keiten von vorn herein vermeidet und die Zahlungsfrist knapp
bemißt. Im einzelnen Falle ist nun jeweilig zu bestimmen, welchen
Maximen der Vorzug zu geben ist.
„Die Zahlungslehre ist nun der Teil der Handelswisscnschaft^
der zeigt, auf welche Art wir überhaupt und auf welche wir in
einzelnen Fällen mit Vorteil bezahlen können." Sie bietet nur in
einigen Teilen etwas, das über die mehr technische Abwickelung
hinaus Anweisungen gibt. So heißt es bei den Wechselzahlungen:
1. Man suche den niedrigsten Kurs für einen Wechsel zu be-
dingen;
2. bei gleichen Kursen die früher fälligen Wechsel zu erhalten
oder
3. die von den solidesten Ausstellern oder Indossanten;
4. suche man auch durch die Arbitrage den günstigsten Aus-
gleich zu ermitteln und beachte
5. die verschiedenen Wechselrechte, die möglicherweise in
Frage kommen.
Auch die Versendungslehre spielt etwas stark ins Technische
des Verpackens und Expedierens hinein, was natürlich mit in ihrer
Natur liegt, denn sie hat anzugeben, wie die Waren versandfertig
gemacht werden „und wie und auf welche Art die Überlieferung am
schnellsten, sichersten und wohlfeilsten geschehen könne". Gegen-
über den entsprechenden Ausführungen bei Savary ist hier nur
das bemerkenswerter, was der Spediteur zu beachten hat. Als
Empfänger muß er darauf sehen, daß er empfange, was er emp-
fangen soll, daß er es unbeschädigt usw. erhalte, sich vor Ver-
lusten schütze usw. Als Versender soll er bis zur Ablieferung der
Ware an den Frachtführer die Ware gut lagern, nötigenfalls die
Verpackung ausbessern, die Ablieferung schnell und mit den nötigen
Papieren vornehmen, die vom ersten Absender erhaltenen Anwei-
sungen an den Empfänger weitergeben, seine Kosten berechnen usw.
Der nun folgende vierte Abschnitt ist die „Contorwissenschaft"
benannt, die in die Lehre vom Buchhalten, vom Briefwechsel und
von den „kaufmännischen Aufsätzen" = sonstigen schriftlichen Aus-
arbeitungen, Verträgen, Formularen usw. zerfällt. Die Kontorwissen-
schaft hat die ersten Begriffe für diese Gebiete zu entwickeln und
die allgemeinen Forderungen, die an die entsprechenden Arbeiten
im Kontor gestellt werden müssen, darzustellen. Als eine Lehre
für sich ist die Kontorwissenschaft trotz der „Kontorkunde" von
— 85 —
Jung Leuchs' eigener Gedanke, während sie als Technik nicht
nur in ihren drei Teilen, sondern auch als Ganzes bereits Vorläufer
hatte ^j. Es ist ihm aber nicht gelungen, ein geschlossenes Lehr-
gebiet daraus zu konstruieren, denn als Technik stehen sich Buch-
führung und Korrespondenz zu fremd gegenüber. Andererseits ist
die Trennung des Briefverkehrs von dem sonstigen Schriftver-
kehr auch wieder zu künstlich, um dauernd beibehalten zu sein 2).
Das Beste, was Leuchs in seiner Kontorwissenschaft zu sagen weiß,
betrifft die Buchführung. Er weist nämlich nach, daß man entweder
nur über das Kapital im ganzen und in seinen einzelnen Bestand-
teilen, oder allein über das Verhältnis zu Schuldnern und Gläubi-
gern oder endlich über beides zugleich Buch und Rechnung führen
könne, und daß somit eine vierte Art unmöglich ist. Für die An-
fertigung von Briefen erteilt er folgende Vorschriften 3), die immer-
hin beweisen, daß er sich über das Grundsätzliche, Gemeinsame in
ihnen seine Gedanken gemacht hat:
L Man denke sich zuerst das, was man schreiben will, selbst
deutlich;
2. wähle die bestimmtesten, angemessensten und gangbarsten
Ausdrücke für seine Begriffe ;
3. sage und schreibe immer nur das, was man zu sagen braucht;
4. trage die Hauptsachen zuerst vor;
5. befolge das Übliche sowohl in der Anordnung als im Aus-
druck;
6. wahre die Würde wie die Höflichkeit, ohne darin auszuarten ;
7. beachte überhaupt immer den verfolgten Zweck usw.
Das Vorzüglichste, w^as Leuchs zu sagen weiß, findet sich in
dem letzten Abschnitte, der Wahrscheinlichkeitslehre. Vielleicht hat
er die Anregung zu ihr aus Ludovicis Arbeiten geschöpft^);
1) Bohn-Heyne, Wohlerfahrener Kaufmann, und Marperger, Handels-
Correspondent.
2) Leuchs hat auch eine vierteihge „Vollständige Kontorwissenschaft" ge-
schrieben. Ihr erster Teil erschien zuerst 1806 als „Theorie und Praxis des ßuch-
haltens", der zweite 1821 als „Vollständiges wissenschaftliches Rechenbuch", der
dritte (mit einem Vorläufer von 1806) kam 1S19 als „Geld-, Münz-, Maß- und Ge-
wichtäkunde" heraus und der letzte als „AUg. Handelsbriefsteller" 1823. Auch „Die
Contorwissenschaft", 2 Teile, 1820 — 21, finde ich genannt. Von den weiteren
Arbeiten Leuchs' in dieser Richtung kann hier abgesehen werden.
3) Ich finde darin eine merkwürdige Übereinstimmung mit den Forderungen
im „Spiegel der waren rhetoric", einem der oben S. 24 genannten Formelbücher,
<las 1484 zu Freiburg i. Br. erschien.
4) Vgl. oben S. 59 und 64.
— 86 —
jedenfalls aber hat sie niemand vor oder nach ihm wieder so ent-
wickelt und so umfangreich gestaltet. Zunächst untersucht er die
Grundlagen des glücklichen Handelserfolge.s und die Voraussetzungen
ihres Zutreffens. So setzen voraus:
1. Die Forderung, daß die Ware einen Käufer findet:
a) daß sie Bedürfnis sei,
b) daß die Käufer die Mittel haben, die Ware anzuschaffen,
c) daß der Warenvorrat in einem richtigen Verhältnis zu dem
Umfange des Bedürfnisses stehe,
d) daß die Käufer die Ware zu finden wissen, und
e) daß der Verkäufer in jeder Beziehung konkurrenzfähig sei;
2. die Forderung, daß die Ware mit Gewinn verkauft werden
kann:
a) daß sie eine starke Nachfrage vorfindet und
b) knapp vorhanden ist,
c) daß die Verkäufer nicht aus Geldbcdürfnis verkaufen müssen,
d) daß sich die Preise im Vergleich zu den gewöhnlichen und
zu denen ähnlicher Waren günstig gestalten,
e) daß größere Zufuhren und dergleichen Ursachen ausbleiben^
die die Preissteigerung hindern,
f) daß die Ware mit keinem billigeren Surrogat zu ersetzen ist,
g) daß der Verkäufer in Preis-, Kredit- und sonstigen \'er-
günstigungen in Wettbewerb treten kann, und
h) daß er bei den Abnehmern bekannt ist und Vertrauen genießtj
3. die Forderung, daß der Gegenwert richtig eingehe:
a) daß der geschlossene Vertrag rechtsgültig sei,
b) daß die eigenen Verpflichtungen richtig erfüllt sind,
c) daß der Käufer zahlen könne und wolle, was wieder von
einer großen Zahl von Voraussetzungen abhängt, die zugleich seinen
Kredit bestimmen. Hierzu macht Leuchs noch eine Menge sehr
wertvoller Anmerkungen, denen vor allem folgendes zu entnehmen ist:
Es gibt arbeits- und kapitalintensive Handlungen. Teilt man
die Geschäfte in solche des Imports, des Binnengroßhandels und
des Kleinverkaufs an die Verbraucher ein, so ist die zu zweit ge-
nannte Klasse diejenige, deren Geschäftserweitcrung die bestimm-
testen Grenzen gesteckt sind, weil bei ihr Kapital und Arbeit am
meisten beansprucht werden, das Kapital aber oft und mit an-
gemessenem Gewinne umgesetzt, die Gefahr nicht zu groß und die
erforderliche Ordnung und Übersicht des Ganzen erhalten werden
soll. Das eigene Kapital läßt nur einen gewissen Umfang des Ge-
schäftes zu, und das richtige Verhältnis zwischen beiden wird durch
— 87 —
eine allzukräftige Beanspruchung des teuren Bankkredits leicht nach-
teilig verändert. „Wir widerraten alle großen Geschäfte, besonders
wenn sie nicht mit eigenem Kapital betrieben werden können. Es
geht solchen übergroßen Handelshäusern wie übergroßen Staaten.
Liegen die Außenenden von dem Mittelpunkte der Tätigkeit zu weit
entfernt, so verliert er an innerer Kraft eben so viel, wie er an der
Oberfläche gewinnt."^)
Leider können hier nicht all die vielen geistreichen und so oft
zutreffenden Anmerkungen und Ausführungen Leuchs' wiederge-
geben werden, die besonders auf dem Gebiete der Handelsbetriebs-
lehre eines Schriftstellers von heute würdig wären. Es seien daher
nur noch die wichtigsten Grundsätze angeführt, zu denen Leuchs
schließlich gelangt. Zunächst gilt für die Spekulation 2) in Waren,
L Je seltener eine Ware wird, desto teurer wird sie, wenn
sie nicht etwa durch andere ersetzt werden kann.
2. Man erwarte nicht zu viel Gewinn, sondern gebe zur rechten
Zeit ab.
3. Zur Zeit des Geldmangels — gleichgültig, ob unter den
Käufern oder Verkäufern — wird nicht viel oder nur durch langes
Kreditgeben abzusetzen oder zu gewinnen sei.
4. Man benutze die niedrigen Frachten und Wechselkurse.
5. Worauf zu viele spekulieren, darauf spekuliere man nicht,
oder erwarte doch in kurzem nicht zu viel Gewinn daran.
6. Nicht die Masse des Erzeugnisses eines Landes, sondern die
Erzeugnisse aller Länder zusammengenommen und im Verhältnis
zu ihrem Bedarf, den Überlieferungskosten usw. bestimmen den Preis.
7. Bei einer örtlichen Teuerung ist nur innerhalb kurzer Zeit
großer Gewinn und Absatz zu erwarten, bei einer allgemeinen da
gegen ein länger dauernder.
8. Wenn ein sehr großes Bedürfnis nach einer Ware entsteht,
ihr Vorrat ohnehin gering ist und auch nicht wohl vermehrt
werden kann, so wird von einem früheren Einkauf Nutzen zu er-
warten sein.
9. Wenn zwei oder mehrere Waren einander ersetzen können,
so erwarte man beim Mangel der einen und beim Überfluß der
1) Diese Erkenntnis mutet wie ein Satz aus Fr. Ratzeis Politischer Geo-
graphie an.
2) Vgl. S. 59 u. 64, ferner für die folgenden Grundsätze teilweise das auf S. bO
Angeführte aus der ^Handelslehre". Vgl, auch damit die Preistheorien, die die
Volkswirtschaftslehre aufgestellt hat.
— 88 —
anderen keinen höheren Gewinn von der mani^ehiden, als das Ver-
hältnis ihres Wertes unter sich gestattet.
10. Zur Zeit von Kriegen werden Kolonialwaren, besonders
solche, die Kriegsbedürfnissc sind und aus der Ferne kommen,
teurer werden.
11. Wird die Zahl der Verbraucher in einem Lande sehr ver-
mehrt, so werden alle zu ihrem Unterhalte erforderlichen Landes-
erzeugnisse steigen, und der Gewinn aus früheren Einkäufen wird
gleich sein dem Mehrpreise der noch aus dem Auslande heranzu-
schaffenden Waren.
12. Spekulationen, die auf einer erzwungenen Preissteigerung
beruhen, bringen sehr unsichere Gewinne.
13. Wenn stilliegende Fabriken ihre Arbeit plötzlich wieder
aufnehmen, ist eine Preissteigerung der Rohstoffe um so mehr zu
erwarten, je größer ihre Verbrauchssteigerung im Verhältnis zu den
Vorräten ist, und je langsamer und schwerer sie gewonnen werden.
14. Alle Begünstigungen des Staates für Erzeugnisse können
die Preise dafür ungefähr um die Größe der Begünstigungen ver-
mindern, alle Hemmnisse und Erschwerungen dagegen können sie
um deren ungefähren Betrag verteuern.
15. Zur Zeit der Ernte oder bei größerer Verkaufs Willigkeit
der Verkäufer werden die Preise wahrscheinlich sinken, späterhin
aber wieder steigen.
16. Von leicht verderblichen Wajen und dergleichen kaufe man
nicht mehr, als mit Sicherheit schnell wieder abzugeben sein wird,
es sei denn, daß die Preise ungewöhnlich niedrig stehen.
17. Man spekuliere mehr auf unentbehrliche (I) Waren als auf
solche, die zu umgehen und zu ersetzen sind*).
18. Die Ursache bestimmt die Wirkung, der Grund die Folge:
steigen die Rohstoffe, so steigen auch die Fabrikate im Preise.
19. Das Ganze setzt seine Teile, die Wirkung ihre Ursachen
voraus ; alle, nicht einige, bewirken sie. Wenn wir also auch eine
Hauptursache aufgefunden haben, so müssen wir doch die noch
möglichen, dem Anscheine nach geringeren, nicht außer Acht lassen.
1) Das ist natürlich rein wirtschaftlich gedacht und bedarf in seinen letzten
Folgerungen eines Gegengewichtes durch sittliche, sozialethische Bedenken. Freilich
stehen diese auf einem andern Blatte als die Lehre von der aussichtsreichsten Be-
triebsführung. Sie werden von dem Kaufmann nicht in seiner Eigenschaft als Kauf-
mann, sondern in seiner Eigenschaft als Staatsbürger zu erwarten sein. Daher wird
man es nicht mißbilligen können, wenn sich Leuchs hier nur an das Wirtschaft-
liche hält.
— 89 —
Die Wahrscheinlichkeit, daß eine Fabrik einen Ertrag abwirft,
hängt davon ab, ob genügend Kapital vorhanden ist, um Anlagen,
Rohstoffe, Lager und Kredite in genügendem Umfange zu gestalten,
ob die Rohstoffe näher, wohlfeiler und besser als von unseren
Konkurrenten erlangt werden können, ob wir dem Absatzmarkte
näher sind und überhaupt an den Frachten gewinnen können, ob
die Löhne niedriger sind, ob wir unentbehrliche, dauernd gebrauchte
und dem Geschmack der Abnehmer angepaßte Fabrikate herstellen,
und ob wir schließlich noch durch Zölle, Vorrechte und dergleichen
bevorzugt werden. Hemmungen entstehen aus dem Wettbewerb
der bereits bestehenden Fabriken, aus der Vorliebe der Verbraucher
für das Fremde, aus dem Eigennutz der Zwischenhändler, aus un-
klugen oder veralteten Staatsgesetzen und Wirtschaftsmaßnahmen,
Zunftverfassungen usw. Vor allem muß der Fabrikant auch Fa-
brikant bleiben und dem Handeismanne die Arbeit des Absatzes
überlassen. Als Fabrikant aber muß er vor allen Dingen über ein
ausreichendes Kapital verfügen, aber auch nicht zu viel in das
Unternehmen stecken. Die Nachteile der ÜberkapitaHsation hatte
schon Marperger erkannt und in dem Satze ausgedrückt, „daß
eine Manufaktur sich eher mit 10 als mit 100000 Talern anfangen
und länger kontinuieren lasse" 0-
Der Wechselkurs zwischen zwei Arten und zwischen den Käu-
fern und Verkäufern von Wechseln wird durch das Verhältnis der
Schulden und Forderungen zwischen den Plätzen oder durch das
Verhältnis der Käufer zu den Verkäufern am Orte bestimmt. Es
wirken aber auch auf das Steigen und Fallen mit ein der Geld-
vorrat der Käufer und das Geldbedürfnis der Verkäufer, die kürzere
oder längere Laufzeit, die Zinsfüße, die Kreditfähigkeit der Ver-
käufer, die Versendungskosten des baren Geldes, die das Maximum
und Minimum der Kurse bestimmen'-), wobei der Zeitunterschied
der Barsendung gegenüber der Wechselsendung, die größere Ge-
fahr der Barsendung, die vielleicht bestehenden Ausfuhrverbote für
Bargeld und die Kurse anderer Orte mit zu berücksichtigen sind.
Von Einfluß sind auch noch die Ernten, die großen Auktionsver-
käufe, die Messen, die fürstlich-staadichen Geldgeschäfte mit dem
Auslande, die Anleihen und die Kriege.
Die Preise der Staatspapiere schwanken je nach dem Kredit
des betreffenden Staates. Die Menge seiner Schulden im Verhält-
1) Lt. dem „Neu-eröffneten Manufakturen-Hauß«, S. 25, in den Paradoxis Mer-
catoriis zuerst behauptet.
2) Goldpunkte!
— 90 —
nis zu seinen Einkünften, seine inner- und außerpolitischen A'erhält-
nisse haben in dieser Beziehung große Bedeutung. Weiterhin kommt
in Betracht, ob Zurückzahlungen zu erwarten sind, neue Anleihen
oder Zinsänderungen bevorstehen, ob die Rückzahlungstermine nah
oder fern liegen, ob die gestellten Sicherheiten ihren Wert behalten
oder nicht, ob ferner der landesübliche Zinsfuß höher oder nie-
driger als der des Papieres ist, und schließlich, ob die allgemeinen
Geldvcrhältnisse und Anlagemöglichkeiten ihm günstig oder un-
günstig sind.
Die Wahrscheinlichkeit des Steigens oder Fallens der Aktien-
kurse hängt ebenfalls von den zuletzt genannten Verhältnissen,
vor allem aber davon ab, welche Dividendenaussichten oder Ver-
lustquellen zu erwägen sind. Die Wahrscheinlichkeit, daß ein Ver-
sicherungsunternehmen Erfolg hat, ist um so größer, als im Ver-
hältnis zu den vorhandenen oder beizuschießenden Geldern nicht
zu viel auf einzelne Schiffe versichert wird, sondern die Versicherungs-
gefahr auf viele Schiffe verteilt wird, die zu verschiedenen Zeiten
und nach verschiedenen Orten abgehen.
Soweit der erste Teil. Eine gewisse Ergänzung findet er in
einem Abschnitt des dritten Teiles, den Leuchs „Über kaufmänni-
sche Erziehung" überschrieben hat. Nachdem er den Werdegang
eines jungen Handlungsbeflissenen gezeigt hat, bespricht er dort
auch die „Anlegung und Führung einer Handlung", erteilt Rat-
schläge über die Geldmittel und Geldverteilung, über das Handeln
mit vielen oder mit einer Ware, über die Ortslage der Unter-
nehmung, die fremden Hilfskräfte und ihre Überwachung und die
Verkaufspolitik ')• Im übrigen enthält dieser Band ein paar kurze
Forderungen, die man nach Leuchs an die einzelnen Teile einer
Handelskunde stellen muß, und dann ein mit kritischen Anmer-
kungen versehenes Verzeichnis der besten Bücher aus der gesamten
Handelsliteratur einschließlich der Sprachen.
Der zweite Teil, der in einem besonderem Bande die Staats-
handelswissenschaft behandelt, besteht nicht etwa in einer Abhand-
lung, die wir im Sinne der heutigen Volkswirtschaftslehre „Handel
1) In den entsprechenden Teilen der ersten Auflage, der von 1SÜ4, wird
manches noch weiter ausgeführt als später. So heißt es dort u. a. über die Bedeu-
tung der Handelsgeschichte usw.: „Was die Handelsgeschichte für den Handel ist,
das kann die Geschichte einzelner Handlungshäuser für die Handlungen Einzelner
werden. Wie man aus jenen Forderungen und Bedingungen, Grundsätze und
Maximen für den Handel abstrahieren kann, so kann dies aus dieser für die Hand-
lung des Kaufmanns geschehen (§ 7ü5).
— 91 —
und Handelspolitik" überschreiben könnten, sondern mehr in einer
Darstellung des damaligen Handelsrechts, der Verkehrsanstalten usw.,
überhaupt alles dessen, was den Handel als Geschäft und im all-
gemeinen zu unterstützen und zu fördern geeignet ist. Daher auch
die Bezeichnung „Beförderungsmittellehre", die zunächst an eine
Art „Versendungslehre" denken läßt, mit der sie aber nicht zu ver-
wechseln ist. Was Leuchs hier bietet, gehört in die Handels-
kunde im weiteren Sinne und zwar mit demselben Rechte, wie auch
die Warenkunde usw., die er ihr ja selber zuweist.
Dagegen, daß die Staatshandelswissenschaft in einem höheren
Sinne als Wissenschaft angesehen werde, wandte sich schon K. H.
Rau in seinem Artikel „Handelswissenschaft" in der „Allgemeinen
Enzyklopädie der Wissenschaften und Künste" von Ersch und
Gruber, indem er sagte:
„. . . Man muß gestehen, daß die Deutschen ein wenig zu
geneigt sind, neue Wissenschaften aufzustellen. Es ist durchaus
verwirrend, wenn man schon jede zusammenhängende Bearbeitung
eines Gegenstandes, der sonst in dem Gebiet mehrerer Wissen-
schaften zerstreut vorkommt, als eine eigene Wissenschaft gelten
lassen will, denn solcher Kombinationen und Zusammenstellungen
muß es eine unendliche Menge geben. Die Verbindung mehrerer
Gesichtspunkte behält ihr Nützliches, wenn man auch sich bewußt
bleibt, daß sie nicht ein organisches Ganze ist und auf keinen Ge-
samtnamen Anspruch hat. So ist die Staatshandelswissenschaft
der Inbegriff aller Regeln ^), nach denen die Regierung in Beziehung
auf den Handel verfahren soll; die einzelnen Regeln gehören teils
der Politik des Justizwesens, teils der Polizeiwissenschaft, teils end-
lich der Lehre von der Wohlstandssorge und der Finanzwissen-
schaft an. ..."
Über die „Handelswissenschaft" selber 2) sagte Rau dagegen:
„Es leidet keinen Zweifel, daß die Beweggründe, nach denen ein
verständiger, erfahrener und unterrichteter Kaufmann in seinen Ge-
schäften zu Werke geht, unter allgemeine Regeln gebracht, diese
sodann mit einander verbunden und in wissenschaftlicher Form
1) Leuchs und andere geben hier jedoch gar keine Regeln, und so ernst,
wie Rau es auffaßt, hat Leuchs den Ausdruck Handels wissen scha ft auch
nicht gemeint. Das gleiche möchte ich für die Kontor^wissenschaft" annehmen.
Trotzdem sind Raus Worte bemerkenswert genug, denn der von ihm gerügten
Neigung, neue Wissenschaften aufzustellen, folgen wir heute mehr denn je.
2) Rau meint natürlich die Handlungswissenschaft oder unsere heutige Handels-
betriebslehre.
— 92 —
dargestellt werden können. Der hüchstc Griindsat/, aus welehcm
alle einzelnen Regeln abgeleitet werden müssen, besteht darin daß
man nach dem größten Gewinne aus dem Einkauf und Verkauf
streben muß. Die Handelswissenschaft ist also die Lehre, den
Handel als Gewerbe auf die vorteilhafteste Weise zu betreiben.
Da die hierzu führenden Mittel bloß aus der Erfahrung erkannt
werden können, so ist die Handelswissenschaft auch nur unter die
Krfahrungswissenschaften zu rechnen, deren Material schon außerhalb
gegeben ist und in denen nur die Auffassung und Darstellung dem
forschenden Geiste angehört. Sie ist in dieser Hinsicht den an-
deren Gewerbswissenschaften, z. B. der Bergbau- und Landwirtschafts-
lehre ähnlich, weicht aber darin von ihnen ab, daß sie viel weniger
als diese die Gesetze der vernunftlosen Natur benutzt, vielmehr fast
ganz auf die Eigenschaften, Zwecke und Einrichtungen des Menschen
gebaut ist. Aus dieser Ursache ist in den Handelsgeschäften mehr
Wechsel als in den Unternehmungen des Landwirts oder des Fa-
brikanten, und die allgemeinen Lehren, welche die Handelswissen-
schaft aufstellt, sind noch schwerer auszuüben als die Vorschriften
einer anderen Gewerbs Wissenschaft."
„Der ausübende Kaufmann gerät leicht in \'ersuchung, den
Wert einer Theorie in Zweifel zu ziehen, deren Besitz für sich
allein noch bei weitem nicht die Fähigkeit vertritt, an den Arbeiten
wirklich teilzunehmen, und aus der er selbst wenig Neues lernen
kann. Aber er vergißt, daß er nur in dem Grade tüchtig in seinem
Berufe ist, in welchem er aus dem bei einzelnen Fällen vorkommen-
den Verfahren sich allgemeine Regeln abgezogen hat, die er mit
Sicherheit und Klarheit inne hat, daß er folglich die Wissenschaft,
ohne es zu ahnen, auf seine Weise mit nicht geringer Mühe sich
hat verschaffen müssen, und daß es eine große Abkürzung des
Weges sowohl als eine Vervollständigung des Überblickes bewirkt
hätte, wenn die Erlernung der Handelswissenschaft in die Reihe
seiner vorbereitenden Studien aufgenommen worden wäre. Die
heutige Verbreitung einiger guter deutscher Werke über die
Handelswissenschaft beweiset auch, daß eine nicht geringe Zahl
von Kaufleuten dieses Bildungsmittel zu gebrauchen für gut findet.
Noch einleuchtender ist der Nutzen der Handelswissenschaft für
diejenigen, welche sich mit dem Wesen des Handels bekannt machen
wollen, ohne ihn selbst zu betreiben."
In diesem Sinne und wohl mit unbewußter Anlehnung an
May^) sagt nun auch Leuchs über die Notwendigkeit und Möglich-
1) Vgl. die Vorrede zu seiuem „Versuch" oben S. 68.
— 93 —
keit einer Theorie des kaufmännischen ?>werbs: „Es ist ein wahro,
grobes Vorurteil, wenn man glaubt, der Handel lasse sich nicht
lehren, es sei keine Theorie desselben möglich, oder alles, was
darüber gesagt werde, seien unfruchtbare Sachen. Jeder Handel,
wenn er gut geführt werden soll, muß nach Grundsätzen geleitet
werden, die immer aus den ersten Begriffen und den Handelsver-
hältnissen herzuholen sind, sie mögen nun aus deutlicher Einsicht
oder durch das Herkommen sich fortgepflanzt haben. Aber Grund-
sätze, Regeln und Theorien sind allgemein und eben deswegen
Grundsätze, Regeln und Theorien, weil sie allgemein sind. Man
muß nun zwar bei deren Anwendung stets Rücksicht auf den eigent-
lichen Gegenstand und seine Beziehungen nehmen, und daher macht
freilich die Theorie des Handels noch keinen praktischen Kaufmann,
und diese Bemerkung hat vielleicht noch jenes Vorurteil veranlaßt.
Dies ist eben kein Vorwurf, der die Handelstheorie betrifft, es ist
die Natur aller allgemeinen Kenntnisse und benimmt ihrem hohen
Werte nichts. Durch sie allein wird der Wirkungskreis des Kauf-
manns erweitert, sein Verhalten in einzelnen Fällen leicht und
sicher gemacht; durch sie wird er sich besser finden und plan-
voller zu Werke gehen können: daher ist sie nicht nur wichtig,
sondern unentbehrlich für jeden, der auf Handelskenntnisse An-
spruch machen und mehr als Krämer sein will."
Diese Theorie „dem Gehalte und dem Umfange nach", wie
es im Vorbericht der Auflage von 1804 hieß ^), zu vertiefen und
zu erweitern, ist Leuchs aufs beste gelungen. Man braucht da-
bei einzelne Nachteile seines Systems der Handelswissenschaft nicht
zu verkennen, so den etwas unfruchtbaren Gedanken einer Waren-
lehre, und den einer Staatshandelswissenschaft, dann die Kombi-
nation der kontortechnischen Fächer zu einer Kontorwissenschaft
usw. Ein Übelstand ist es auch, daß die Wahrscheinlichkeitslehre,
die auch nach Raus Meinung das Wichtigste der „Handelswissen-
schaft" enthält, an den Schluß gesetzt, statt vor die Handelslehre
gebracht wurde, so daß eine Anzahl Wiederholungen nötig wurden.
Es wäre auch hier und da vorteilhaft gewesen, das unter die An-
merkungen Aufgenommene oder unter „kaufmännische Erziehung"
im Zusammenhange Dargestellte mit in den Text der „Bürger-
lichen Handelswissenschaft" einzubeziehen. Jedenfalls haben wir
aber in Leuchs' Arbeiten den Höhepunkt der bisherigen Ent-
wickelung einer systematischen Handelswissenschaft zu erblicken
1) Vgl. S. 75—77.
— 94 —
und zwar sowohl dem Umfange als der Art der Durcharbeitung
unseres Gebietes nach.
Mit dem Umfange, den Leuchs der „Handels" Wissenschaft
zuerkennt, wird man insofern nicht einverstanden sein können,
als auch der Handel mit Wechseln und Wertpapieren, die Ver-
sicherung und die Fabrikation mit dem Warenhandel zusammen-
geworfen sind. Der schon bei Ludovici festgestellte „Fehler",
unter Handlung und Handel nicht nur die Geschäfte des gewerbs-
mäßigen Kaufens und Vcrkaufens zu verstehen, wird also von
Leuchs wiederholt. Wir sind eben zu Anfang des .19. Jahrhunderts
noch in einer Zeit, in der noch fast alle Kaufleute (= Unternehmer)
aus dem Warenhandel hervorgingen, neben dem alle sonstige Unter-
nehmertätigkeit nach Umfang und Bedeutung weit zurücktrat.
Eine Lücke weist Leuchs' Werk noch insofern auf, als es
die Arbeit als Produktionsfaktor nur wenig in ihrer Bedeutung be-
rücksichtigt. Offenbar hat der Verfasser seinen Vorläufern nicht
auf dem Wege folgen wollen, der sie sogar zu Arbeitslehren für
die Angestellten führte, zumal ihm das Rechnen, das Berechnen
mehr lag, als Betrachtungen über das Arbeiten: seine Spekulations-
wissenschaft beweist, wie sehr er das Gewinnen als ein Rechen-
exempel ansah, und seine Betonung der Wichtigkeit einer richtigen
KajMtalausstattung, seine Gewinndefinition usw. deuten ebenfalls
darauf hin '). Leuchs ging eben in jeder Beziehung seine eigenen
Wege und wußte so viele neue zu finden, die seine Arbeiten ver-
dienstlich machten, daß man die wenigen Unvollständigkeiten darin
zunächst übersieht.
F. Sonstige Arbeiten von Ludovici bis auf Leuchs.
A. Neben den sozusagen klassischen Arbeiten von Ludovici,
May, Jung und Leuchs tauchten in dieser Zeit noch eine große
Menge anderer auf, die die Handlungswissenschaft nur mittelbar
förderten oder ergänzten, indem sie besonders handelskundliches
Material bekannt machten. Manche dieser Schriften nannten sich
sogar mit wenig oder gar keinem Recht „Handlungswissenschaft".
Sicherlich ist die nun einsetzende literarische Hochflut durch
die ihr günstige Konjunktur im allgemeinen und durch die Speku-
lation der Buchhändler im besonderen mit veranlaßt worden. Dem
1) Auch unsere heutige Handelsbetriebslehre betrachtet die Unternehmungen
noch vorwiegend als bloße Kapitalswirtschaften, so daß man unserm Leuchs diese
Einseitigkeit nicht gar zu schwer wird anrechnen dürfen.
— 95 —
immer noch recht kleinen und außerdem oft urteilslosen Leser-
kreise, der in Frage kam, ist jedenfalls viel mehr zugemutet worden,
als dem Umfange seines Bedürfnisses entsprach.
Dieser Leserkreis hatte sich durch die Wirksamkeit der neu
aufgekommenen Handelsschulen (1764 Hanau, 1768 Hamburg, 1770
Wien, 1776 Düsseldorf usw. usw.), der Handels„akademien", wie
damals diese Privatanstalten hießen, inzwischen allerdings etwas
erweitert. Aber die meisten Handelsschulen waren doch von zu
kurzer Dauer, und alle hatten bei der skeptischen Haltung der
Praktiker ihnen gegenüber eine zu geringe Schülerzahl, als daß sie
als solche die Handlungswissenschaft zu popularisieren vermocht
hätten. Soviel mehr bewirkte dafür die literarische Tätigkeit ihrer
Lehrer und Leiter, zu denen wir bereits May und Leuchs mit
rechnen müssen, ja, man kann sagen, daß die guten Fachschriften
fast immer von solchen Autoren geschrieben sind, die dem kauf-
männischen Unterrichtswesen ihrer Zeit nahe standen. Dabei ist
allerdings zu bemerken, daß diese Schriftsteller damals regelmäßig
erst aus dem Kaufmannsstande hervorgegangen waren. Es ist leider
im einzelnen oft recht schwer festzustellen, ob ein Verfasser mit
einer Handelsschule in Verbindung gestanden hat oder nicht, und
mit welcher Anstalt das der Fall sein möchte. Denn nicht nur ist
die ältere Handelsschulgeschichte noch sehr wenig aufgeklärt, son-
dern auch die Fachschriften jener Zeit verraten oft nichts darüber.
Am wenigsten sagen sie uns durch ihre Anlage und ihren Inhalt,
denn sie waren meistens keine bloßen Schulbücher, sondern waren
für alle handlungswissenschaftlich interessierten Kreise bestimmt.
Die der Schule fernstehenden Leser waren ja auch in der Überzahl.
B. Will man die Fachschriften der zweiten Hälfte des 18. Jahr-
hunderts in Gruppen bringen, so dürfte sich zunächst eine ergeben,
die halb oder gar ganz kameralistisch geartet ist. Zu ihr gehören
außer ein paar übersetzten Büchern^), wie den „Grundsätzen der
Handelschaft", Wien 1762, aus dem Französischen und dem „All-
gemeinen Kaufmann" aus dem Englischen des N. Mayen, Berlin
1763, — fälschlich immer Magen genannt; ein Plagiat dieses Werkes
von dem Engländer Horsley wurde später noch einmal unabhängig
von dieser Ausgabe übersetzt — noch die folgenden rein deutschen,
1) Während der Drucklegung finde ich noch ein sehr gutes (aus dem Fran-
'zösischen (?) übersetztes) Buch, betitelt „Der vernünftige Kaufmann oder theoretische
und praktische Grundsätze der Handlung", Hamburg und Leipzig 1755. Sein Name
ist irreführend, insofern es bis auf ein Kapitel „Vom Wechsel" (mit einer Theorie
der Arbitrage) rein volkswirtschaftlich ist.
— 96 —
die bei den I landlungsvvisscnschaftlern liauptsäclilidi bckannl waren,
nämlich z.unächst der „Wohlerfahrene Kaufmann" von C. V. ilänel,
Münster und Leipzii,' 1782 ('mit einem 4. Kajjitel über die Krriehtung
einer Fabrik oder Manufaktur, einem 17. über Wechselparitäten und
ihre Beziehungen zur Handelsbilanz und nut einem 18. über Münz-
berechnungen) und dann die wesentlich besseren „Grundsätze der
Handlungswissenschaft", ohne Angabe des Verfassers, Wien 1785.
Dieses Buch spricht in einer „Allgemeinen Einleitung in die
Handlungswissenschaft" vom Bedürfnis, Tausch, Handel, Waren-
und Geldgut, Agio, Kauf und Verkauf, Kredit, Gewinn usw. usw.
und liefert damit einige der nötigsten Begriffserklärungen als Vor-
bereitung auf die folgende „Privathandlungswissenschaff' — „aus
ihr lernen wir die Grundsätze, nach deren Anleitung durch den
vorteilhaften Umsatz der Ware ein dauerhafter Gewinn kann er-
halten werden". Dieser Abschnitt l)ietet freilich nur einzelne Ka-
pitel aus seinem Gebiete, verrät aber doch in seinem stichwort-
artig knappen Text, daß der Verfasser den Handel wie ein guter
Praktiker kennt. Gewinn ist nach ihm erst das, was den platz-
üblichen Zins übersteigt, auch beim Wechselhandel muß der Kurs-
gewinn höher als dieser Zins sein. Ich habe den Eindruck, als
wenn Leuchs aus diesem Buche, das selbständiger als manches
ähnliche ist, verschiedene Anregungen empfangen hätte.
Von ein paar anderen Büchern, von denen ich nur die Titel
kenne, möchten noch zu eben derselben Gruppe gehören zuerst
die „Gedanken von der Handlung, dem Waren -Verschreiben und
dem Buchhalten", Berlin 1778, wenigstens mit ihrem ersten Teil,
dann eine „Kurzgefaßte Einleitung in die Commerz- und Handlungs-
wissenschaft", Frankfurt a. M. 1779, und noch die „Grundsätze der
Handlungswissenschaft für Kaufleute", Würzburg 1785, sämdich
von ungenannten Verfassern, also vermutlich nicht sehr wertvoll.
So viel mehr Beachtung fanden natürlich die auf den Handel
beschränkten Arbeiten der berühmteren Kameralisten. Es sind
dies besonders der zweite Band der „Grundsätze der Polizey, Hand-
lung und Finanz" von J. von Sonnenfels, die von 1770 1776
bis 1 804 T 805 sieben Auflagen erlebten, und eine kleine „Anleitung
zur Handlungswissenschaft. — Nebst Entwurf zur Handlungs-
bibliothek" von J. Beckmann, Göttingen 1789. Daneben kamen
dann auch des letzteren Bearbeitung von Justis „Grundsätzen der
Polizey Wissenschaft", 3. Auflage, Göttingen 1782, und die „Grund-
lehre der Staatswirtschaft" von dem uns schon bekannten Jung
in Betracht.
— 97 —
Die Beckmannsche „Anleitung" ist nicht sehr bedeutend,
bringt aber gute, bündige Erklärungen. Am bemerkenswertesten
erscheinen mir aus ihr folgende Sätze:
„Die Handlung oder Kaufmannschaft oder das Gewerbe der
Kaufleute besteht darin, daß Waren eingekauft werden, um sie ohne
weitere Verarbeitung wiederum mit Vorteil zu verkaufen. Der Inbegriff
aller der Kenntnisse, welche zur Betreibung oder zum Verständnis
dieses Gewerbes nötig sind, heißt die Handlungswissenschaft, doc-
trina mercatoria. Zu ihren Hilfswissenschaften gehören die Mathe-
matik, vornehmlich die Rechenkunst, die Geographie, die Techno-
logie, die Warenkunde und andere Kenntnisse, die hier als bekannt
vorausgesetzt werden.
Von der Handlungswissenschaft ist die Handelskunde unter-
schieden, worunter ich die Kenntnisse des gegenwärtigen Zustandes
der Handlung in den verschiedenen Ländern verstehe, die Kennt-
nis der Waren, die jedes Land aus- und einführt, der daselbst
für die Handlung errichteten öffentlichen Anstalten, der Münzen,
Maße, Gewichte, der Handelsverträge mit anderen Nationen, der
Kolonien und Faktoreien usw. Diese Handelskunde ist von un-
gemein großer Ausdehnung und vielen Veränderungen ausgesetzt.
Noch zur Zeit ist sie nur von wenigen besonders abgehandelt
worden, aber manche Teile derselben findet man in den statistischen
Lehrbüchern^) an. Sie setzt die Kenntnis der Handlungswissen-
schaft voraus."
Aus Sonnenfels' Werk verfertigte J. v. Luca einen Auszug
mit dem „Leitfaden in die Handlungswissenschaft des Herrn Sonnen-
fels", Wien 1775. Er diente als Leitfaden in dem Fache der
„praktischen Handlungswissenschaft" an der Wiener Real-Handlungs-
akademie. Wie hier, so mag auch noch an anderen Anstalten dieses
Fach kameralistisch behandelt worden sein, doch ist wenig darüber
bekannt.
In Wien gab es übrigens außer diesem „Leitfaden" mit der
Zeit noch mehr solcher abgeschriebenen Bücher für Schulzwecke,
die einen Vergleich mit den „Handelswissenschaften" des späteren
19. Jahrhunderts herausfordern. Es sind dieses die „Grundsätze
der Handlungswissenschaft" (Verfasser ?) von 1790 zum Gebrauche
an der eben genannten Anstalt, dann von 1813 „Die Handlungs-
wissenschaft in ihrem ganzen Umfange" von einem J. M. Liechten-
stein, eine dreiste, wörtliche Abschrift von Leuchs, und schließ-
1) Die „Statistik" jener Zeit ähnelt weniger dem, was wir heute darunter
verstehen, als der speziellen Wirtschaftsgeographie unserer Tage.
Zeitschrift für die ges. Staatswissensch. Ergänzungsheft 49. T
— 98 —
lieh noch von 1819 ein ebenso unselbständiges „Lehrbuch der
Handels Wissenschaft" von J. Sonnleithner, das an dem poly-
technischen Institut zu Wien gebraucht wurde. — Von ein paar
weiteren österreichischen VeröffentUchungen habe ich leider nur
die Titel feststellen können. Es sind dies eine „Handlungswissen-
schaft in ihren allgemeinen Umrissen", Wien 1813, ein „Grundriß
der Handlungswissenschaft" von J. Nowack, Wien 1808, dann „Der
Kaufmann, wie er sein soll", Prag 1815, und noch ein „Handbuch
fürBanquiers und Kauf leutc'", Brunn 1781 »j. Einstweilen tröstet mich,
daß diese Bücher nirgendwo , in der Literatur ihrer Zeit gelobt
werden, und daß ich mit Not gerade diese Titel aufgefunden habe.
C. Was nun der kameralistisch gerichteten Literatur gegenüber
die mehr handlungswissenschaftliche anbelangt, so lassen sich ni
ihr bereits wieder mehrere Richtungen unterscheiden. Die eine
davon wird durch die schon besprochenen Systeme von Ludovici,
May, Jung und Leuchs gekennzeichnet, die sich auf ein mehr
oder 'weniger umfangreich gedachtes Gesamtgebiet beziehen. Eine
andere dagegen geht schon auf speziellere Sachgebiete ein, die
Ausschnitte aus jenem darstellen. Sie sind allerdings weniger
wissenschaftlich als für den praktischen Gebrauch geschrieben. Der
Gruppe der hierher gehörigen Bücher steht die lexikalische Fach-
literatur gegenüber, die Literatur der Handbücher, Sammel- und
Nachschlagewerke, die teilweise schon wieder in das Gebiet der
Buchführung, der Korrespondenz, des kaufmännischen Rechnens,
der Wechsellehre usw. hinübergreifen, indem sie nicht mehr bloß
die Handlungswissenschaft, sondern in der Art von Stäpsens
„Hinlänglichem Unterricht" die „Handlungswissenschaften" zum
Gegenstand haben.
Dieser Plural ist neu. Er wird manchmal umschrieben durch
Ausdrücke, wie die „Handlungswissenschaft in ihrem ganzen Um-
fange" oder „praktische Handlungswissenschaft" und dergleichen,
und wenn man gar auf Titelzusätze wie „für junge Kaufleute" stößt,
so ist nicht einmal die Vermutung zu kühn, daß in den betreffen-
den Werken von der eigentlichen Handlungswissenschaft überhaupt
nichts gesagt worden ist, sondern daß sie nur einige Kontorkennt-
nisse vermitteln.
Die rein handelskundliche Literatur nimmt in dieser Zeit einen
großen Aufschwung. Naturgemäß beansprucht schon in den bereits
genannten Literaturerscheinungen, besonders in den Sammelwerken,
iyDi7~beideD letzten werden allerdings nicht kameralistisch sein; ich nenne
sie hier nur als auch österreichische Arbeiten.
- 99 —
die Handelskunde einen breiten Raum. Am meisten und am eigen-
artigsten tritt sie aber in den zahlreichen Aufsätzen der neu auf
den Markt kommenden Zeitschriften kaufmännischen Inhalts in die
Erscheinung. Diese periodischen Schriften sind ein beredtes Zeichen
Aveniger für ein kaufmännisches Interesse an ihnen, denn sie hielten
sich meistens nicht lange, als für die Produktivität der damaligen
Handelswissenschaftler und für die Unermüdlichkeit der Verieger,
die Bedürfnisse des kaufmännischen Publikums zu wecken. Ein
besonders gepflegtes Kapitel jener periodischen Veröffentlichungen
war zuweilen eine literarische Rundschau; außerdem gaben mehr
und mehr auch Buchwerke Literaturübersichten, und schlief3hch
kamen sogar schon einige spezielle Literaturverzeichnisse heraus
— unzweifelhaft die Krone dieser ganzen Hochflut von Schriften.
D. Wenden wir uns nun den einzelnen Arbeiten, zunächst den
spezielleren aus dem Gebiete der Handlungswisserschaft selber, zu.
Schon 1740 erschien zu Kopenhagen, aber wohl nur in Deutsch,
ein „Gründlicher Unterricht über eine Winkelier oder eine kleine
Handlung" von einem unbekannten Verfasser i), dem eine spätere
„Darstellung von geschmackvollen Handlungsläden, Boutiken und
Gewölben", auch von einem Unbekannten, Nürnberg 1804, zur
Seite steht.
In der Zwischenzeit war, wieder von einem ungenannten Ver-
fasser, „Der wohl instruirte Schiffer", Lübeck und Wismar 1773
schon in dritter Auflage, herausgekommen. Darin wird erörtert,
was der Schiffer vor, während und nach der Reise zu tun hat,
außerdem hat das Buch einen Anhang von Schiffsverträgen und
dergleichen. Aus dem Englischen des J. Weskett stammt ferner
eine „Assekuranz -Wissenschaft", von J. A. Engelbrecht über-
setzt und bearbeitet, Lübeck 1787, die jedoch bei uns wenig Beifall
gefunden hat. Es ist aber darin glücklich die gefähriiche Klippe
für dergleichen Bücher, im Juristischen des Stoffes stecken zu
bleiben, vermieden worden. Der Inhalt betrifft dem Stande des
damaligen Versicherungsgeschäftes entsprechend natüriich nur die
Seeversicherung und handelt in einiger systematischen Ordnung
von den Versicherern und den Versicherten, von den Versicherungs-
objekten, von der Haftung des Versicherers und den Pflichten des
Versicherten, von der Haverei, Bodmerei usw.
Unter den Hilfsbüchern, die dem Landfracht- und Meßverkehr
1) Das Buch selbst ist mir nicht bekannt geworden; ich habe aber nach spä-
teren, ähnlichen Titeln den Verdacht, daß es nur ein Rechentabellenwerk oder der-
gleichen ist.
7»
— 100 —
des Kaufmannes dienen sollten, ragen zwei von einem E. Meyer,
einem alten Praktiker, hervor. Es sind dies das „Frachtbuch für
Kaufleute und Spediteure'', Weimar 1801, und ,,Der Kaufmann auf
den Messen und Märkten", Weimar 1802. Ihrem Verfasser kam es
weniger auf die Aufstellung eines Systems in ihnen an, als auf die
Mitteilung seiner Erfahrungen, auf die Kennzeichnung von Miß-
ständen und die Mitteilung von Ratschlägen zu ihrer Abhilfe
und überhaupt auf die Erteilung von praktisch oder handelspolitisch
brauchbaren Winken. Dadurch bekommen diese Schriften eine stark
persönliche Note, leider geht aber auch die Schreibart oft sehr in
die Breite.
Das ,, Frachtbuch" hat als solches keinen Vorläufer. Es be-
schränkt sich im allgemeinen auf den Landtransport, rügt die vielen
Mißstände beim Verpacken, Frachtenakkordieren und Empfangen,
die Lässigkeit der Fuhrleute usw. und fordert zur Abhilfe u. a. ein
allgemeines Handelsgesetzbuch. Wenngleich das Rechtliche mit
beleuchtet worden ist, so ist die Darstellung dennoch nichtjuristisch,
sondern vorwiegend auf das Wirtschaftliche gerichtet. Etwas stö-
rend sind in dem Buche die vielfach eingestreuten moralischen Kt-
örterungen, sowie verschiedene Wiederholungen.
Auch ,,Der Kaufmann auf den Messen und Märkten" ist um
diese Zeit das erste Buch seiner Art. Es gab zwar ein „Handbuch
für Kaufleute, welche die Leipziger Messen besuchen", von einem
Unbekannten, Leipzig 1798, jedoch war es rein juristisch, und es
gab sogar ein Rechentabellenwerk von einem A. Wagner, Leipzig
1799, das mit dem Titel ,.Hülfs-Buch für Meß-Kaufleute" auf mehr
Absatz spekulierte, aber handlungswissenschaftlich war seit Mar-
pergers „Beschreibung der Messen und Jahrmärkte", die z.T. auf
Sa Vary fußte, nichts für Meßkaufleute geschrieben worden. Von
diesem Buche wußte Meyer aber wohl nichts; der bei beiden ähn-
liche Aufbau des handlungswissenschaftlichen Stoffes — Tätigkeit
vor, während und nach der Messe — liegt in der Natur der Sache
beo-ründet. Meyers Buch ist auch zu einem großen Teil handels-
kundlich, indem es die zugunsten der Meßbesucher -getroffenen Ein-
richtungen und das Meßtreiben der deutschen Plätze beschreibt.
Es bringt auch zum ersten Male ein ziemlich vollständiges Ver-
zeichnis der deutschen Messen und Märkte.
Noch ein drittes Buch schrieb Meyer über ,,Die Kunst, sich
glücklich als Kaufmann oder Fabrikant zu etabliren", Weimar 1803.
Sein Untertitel: „Belehrungen für junge Kaufleute und Fabrikanten,
welche sich etabliren und diesen sehr wichtigen Schritt nicht zu
— 101 —
ihrem und anderer Menschen Unglück thun wollen", sagt schon,
daß es in einer stark moralisierenden Tonart abgefaßt ist, durch
die seine rein geschäftlichen Winke etwas verwässert werden. Diese
haben freilich durch die lange geschäftliche Erfahrung und durch
die Lebensweisheit ihres Verfassers, die aus ihnen spricht, an und
für sich großen Wert.
Eine mehr systematisch abgefaßte Arbeit ist „Die Speculations-
wissenschaft" von S. G. Meisner, Breslau 1811. Wie ihr Titel
schon auf das Leuchssche Vorbild hinweist, so trägt sie in der
Tat nur dessen Ausführungen gekürzt wieder vor. Ab und zu
kommt einmal ein neuer Gedanke, so über Rückversicherungen,
über die Größe des Warenlagers im Verhältnis zum Absatz, über
die Notwendigkeit spekulativen Handelns für den Kaufmann und
seine gemeinnützigen Folgen, aber alles ist nur stichwortartig knapp
angedeutet und gestreift. Im allgemeinen steht Meisners Büchlein
nicht einmal auf der Höhe seines Vorbildes.
E. Zu den Arbeiten verschiedenen Inhaltes gehört sodann als
anscheinend älteste in diesem Zeitraum die ,, Einleitung zu einer
allgemeinen Erkenntnis aller Handlungswissenschaften", Frankfurt
a. M. 1769/1770, in drei Oktavbänden, von S. J. Schröckh, einem
Frankfurter Kaufmann. Handlungswissenschaftlich sind darinnen
aber nur die im dritten Teile enthaltenen Kapitel 19 bis 22, in denen
die geschäftlichen (und moralischen) Grundsätze erörtert werden, die
bei der Geschäftsgründung, Vergesellschaftung, Verheiratung und
Führung de:^ Hauswesens ^), bei der Behandlung der Untergebenen,
im Briefwechsel, bei der Erledigung von Streitigkeiten, der Ein-
richtung und Führung eines Kontors zu beachten sind, und ferner
die, die von den Gehilfen und Lehrlingen als Hausgenossen und
Mitarbeiter befolgt werden sollten. Dies Werk scheint 1780—85
eine weitere Auflage erlebt zu haben.
Ihm ähnlich ist ein kleineres Werk, der ,, Unterrichtende und
belehrende Kaufmann" von C. C. Illing (Dresden 1793?), der
durch die ,, Handlungsakademie", Leipzig 1797, ergänzt wurde,
wenigstens gilt das von diesem Nachtrag. Von dem gleichen Schlage
dürften die folgenden, mir bis auf ihre Titel unbekannt gebliebenen
Bücher sein, nämlich die ,, Einleitung in die theoretische und prak-
tische Handlungswissenschaft" von J. K. Peter, Heidelberg 1789
(auch Mannheim 1798?), ein ,, Handbuch für junge Kaufleute" von
J. J. Landewer, Nördlingen 1787, und dann der ,, Unterricht für
1) Vgl. S. 8, Fußnote 3.
— 102 —
die zu Kaufleuten bestimmten Jünglinge" von Ch. Cliristiani,
Hannover 1788 (dazu zwei Anhänge von 1796 und 1806). Ob die
späteren, ein , (Wissenschaftliches Lehr- und Handbuch" für Handels-
schüler und junge Kaufleute von I'. J. Karrer, Leipzig 1804, und
eine ,,Encyklopädie der Handlungswissenschaft" von P. Burmann
fauch Bürmann), Mannheim und Heidelberg 1813, auch in diese
Gruppe oder schon zu den bloßen Wörterbüchern zu rechnen sind,
kann ich ebensowenig sagen^). Es ist sehr schwer, die schon da-
mals unbeachtet gebliebenen Bücher heute noch aufzutreiben. Da.
gegen habe ich in einem zuerst wohl Halle 1799, dann Halle 1801
erschienenen Buche von F. H. W. Ihring, „Der praktische Kauf-
mann", ein vorzügliches Werk für die Selbsteinführung in den Gang
eines Handelsgeschäftes gefunden. Es ist ein ,, Geschäftsgang" vor-
trefflicher Art, dem nicht nur die ausgeführte Korrespondenz und
Buchführung beigegeben ist, sondern auch alle handelsbetrieblichen
Erläuterungen eingefügt sind, so daß nichts unerklärt bleibt; außer-
dem sind die gegebenen Erklärungen gut. Für den Selbstunterricht
hat man jedenfalls damals nichts Besseres haben können.
F. Unter den Handbüchern unseres Faches, die in der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts ebenfalls auftauchten, sind die von
Ricard-G adebusch, Schumann, Berghaus und Buse am
wichtigsten. S. Ricards ,, Handbuch der Kaufleute" ist ein älteres
französisches Werk (von 1714?), das nach der sechsten französi-
schen Auflage von Th. H. Gadebusch, Greifswald 1783, übersetzt
worden ist. Es enthält aber in seiften zwei starken Quartbänden
nur Handelskunde und im besonderen Welthandelslehre, jedoch mit
vielen Winken für den Praktiker über die beste Zeit des Einkaufes
und dergleichen mehr; ein besonderes Kapitel ist den ,, Handlungs-
grundsätzen und allgemeinen Gewohnheiten" gewidmet. Eine
zweite deutsche Auflage des Buches ist Hamburg 1791/1792 von
J. Ch. Seh edel besorgt worden. Es ist handelskundlich ein sehr
gutes Buch.
Demgegenüber ist das dreibändige ,,Compendiöse Handbuch
für Kaufleute" von A. Schumann, Leipzig 1795/96, fast ganz
kontortechnisch ausgefallen, aber es ist recht wertvoll dadurch, daß
es die beste Literatur seiner Zeit benutzt hat. Es scheint, als wenn
1) Ich lichte mich in meinen nur mutmaßenden Zuteilungen der unbekannten
Werke vor allem nach der Gruppierung in den am Schlüsse dieses Kapitels ge-
nannten zeitgenössischen Literaturverzeichnissen, die aber leider auch nicht ein-
heitlich verfahren sind.
— 103 —
einige seiner Teile das praktisch durchgeführte Vorbild der theo-
retisch konstruierten Kontorwissenschaft von Leuchs gewesen sind.
Das „Handbuch für Kaufleute" von J. J. Berghaus, Münster
und Osnabrück 1796/97, hat die Form eines alphabetisch geordneten
Wörterbuches über das Gesamtgebiet des kaufmännischen Wissens
mit Ausschluß der in den früheren Wörterbüchern hauptsächlich
enthaltenen Stoffe aus der Warenkunde, Technologie, Geographie
usw. Sehr wertvoll ist das Werk durch die sehr eingehende Lite-
raturkenntnis seines Verfassers geworden. Es erschöpft sich jedoch
nicht im bloßen Zusammentragen, sondern bietet auch Eigenes,
z. B. in seinen Definitionen, die allerdings nicht immer klar und
einwandfrei sind. So heißt es da unter anderem :
,, Handlungswissenschaft (doctrina mercatoria) enthält den In-
begriff der Kenntnisse, die zur Betreibung oder zum Verständnis
(des Handelsgewerbes) nötig sind und erfordert werden . . . Sie
lehrt die Regeln zu handeln, Waren zu versenden, zu bezahlen. . ."usw.
H an dlungs-Ökonomie, eigentlich die Wirtschaftslehre der Hand-
lung, enthält die Grundsätze der besten Benutzung, Unterhaltung
und Vermehrung des zur Handlung bestimmten Vermögens. Auch
ist sie eine für sich bestehende Wissenschaft, das ist ohne Rück-
sicht auf dieses oder jenes Gewerbe des bürgerlichen Lebens zieht
sie Erfahrungen in Betracht, welche von der Klugheit und einer
geprüften Überlegung geleitet werden. Hieraus entstehen, wie in
der Mathematik, zwei Hauptabteilungen, wovon erstere die reine,
letztere abc^ die angewandte Handlungs- Ökonomie genannt wird,
wobei letztere die Grundsätze der ersteren auf die wirklich vor-
handenen Handlungsgewerbe anwendet."
Es scheint demnach, als wenn Berghaus unter Handlungs-
wissenschaft das versteht, was andere damals Handlungswissen-
schaften (heute Handelswissenschaften) genannt haben, und als
wenn seine Handlungs-Ökonomie der damaligen Handlungswissen-
schaft und der heutigen Handelsbetriebslehre entspricht; daneben
kennt er auch noch die Handelskunde. Die Einteilung der „Hand-
lungs-Ökonomie" in eine reine und eine angewandte Wissenschaft
entspricht der bei Zincke schon vorhandenen Teilung, die wir
noch heute in der allgemeinen und speziellen (theoretischen und
praktischen) Volkswirtschaftslehre anerkennen.
Berghaus wollte übrigens auch ein dem Schumannschen
, (Handbuch" ähnliches ,, Lehrbuch der Handlungswissenschaft"
schreiben, kam aber nur mit dessen erstem Bande, einer Buch-
haltung, Leipzig 1799 heraus.
— 104 —
Nach einem sehr weit angelegten Plane ist schließlich noch ein
anscheinend sechzehnbändiges Werk des Erfurter Handelsschulleiters
G. II. Buse unter dem Gcsamttitel „Das Ganze der Handlung oder
vollständiges Handbuch der vorzüglichsten Handlungskenntnisse" zu
Erfurt 1798 bis 1817 erschienen; die ersten drei Bände haben auch
den Titel „Vollständiges Handbuch der Comtoirkunde". Jedes
Einzelgebiet wird in einem oder mehreren Bänden behandelt, so
daß das Gesamtwerk ein Vorläufer der späteren „Sammlungen"
und „Bibliotheken" ist. Die ersten Teile mit einer Einleitung in die
eigentliche Handlungswissenschaft sind am besten ausgefallen; sie
beruhen auf einer gründlichen Fach- und Literaturkenntnis, wie die
Arbeiten von Schumann und von Berghaus, und verbinden die
Vorzüge dieser beiden Autoren. Die letzten Bände, die der Waren-
kunde gewidmet sein sollen, sind mir nicht bekannt geworden.
Neben diesen neuen Handbüchern kamen auch noch in dieser
Zeit, wie früher schon, weitere Lexika kaufmännisch -gewerblichen
Inhaltes heraus, die das Erbe von Ludovicis ,,Kaufmanns-Lexi-
con" fortsetzten. Letzteres selber ist noch einmal 1797 in einer
Bearbeitung von dem schon genannten J. Ch. Seh edel heraus-
gegeben worden , die aber nur darin bestanden zu haben scheint,
daß gerade die handlungswissenschaftlichen Ausführungen daraus
entfernt oder doch darin vernachlässigt worden sind. Es finden
sich schon zeitgenössische Klagen darüber. Ein zweibändiges ,, Neues
Handlungslexicon" von M. Euler erschien zuerst zu Karlsruhe und
Frankfurt/M. 1790 und dann noch 'einmal 1792; es ähnelt dem
,, Handbuch" von Berghaus, erreicht es aber nicht. Am umfang-
reichsten, und wenn auch nicht bloß kaufmännisch gehalten, so doch
mit sehr vielen — und zumeist recht zuverlässigen — Artikeln aus
fast allen kaufmännischen Gebieten, ist in dieser ganzen Zeit das be-
rühmte Krünitzsche Werk, die ,, Ökonomische Enc3'klopädie", von
der von 1777 bis 1794 zusammen 63 Teile erschienen sind. Übri-
gens sei hier noch bemerkt, daß kleine Warenlexika und Handels-
terminologien schon derzeit häufig aushelfen mußten, ein Buch
dicker zu machen, wenn sein sonstiger Inhalt nicht zu genügen
schien, um einen höheren Verkaufspreis zu rechtfertigen. Bei diesem
bequemen Verfahren machte es den Autoren in der Regel wenig
aus, auch längst Veraltetes immer wieder mit aufzuwärmen oder
gar Falsches mit abzuschreiben.
Eine Besonderheit ist schließlich noch die ,, Einleitung zu gründ-
licher Kenntnis der Kaufmannschaft", Frankfurt und Leipzig 1771,
von einem J. F. v. T., ein geplanter zweiter Teil scheint nicht
— 105 —
herausgekommen zu sein. In dem vorliegenden ersten wird eine
Anleitung gegeben, „sich be}- allen Handelsgeschäften nach richtigen
Begriffen und kunstmäßig auszudrucken." Wir haben also eine Art
Wörterbuch der damaligen Kaufmannssprache vor uns, nur daß der
Inhalt nicht lexikalisch nach Stichwörtern, sondern nach handlungs-
wissenschaftlichen Begriffen in erzählender Form vorgetragen wird,
also z. B. nach Ein- und Verkäufen im großen und kleinen, nach
Versendungs-, Kommissions-, Kontor-, Meß-, Fabrik-, Barzahlungs-,
Wechselgeschäften usw. Damit wird zugleich eine Einführung in
diese Geschäfte gegeben, woraus sich der Titel des Buches erklärt*).
G. Die meisten Veröffentlichungen zur nicht bloß lexikalisch
aufzählenden, sondern zusammenhängenden beschreibenden Handels-
kunde finden sich in Aufsatzform in den neu aufgekommenen perio-
dischen Fachschriften dieser Zeit, d. h. in den Zeitschriften, Jahr-
büchern und eigentlichen Handelszeitungen.
Die älteste Fachzeitschritt dürfte, wenn Berghaus recht
unterrichtet ist, dem ich diese Angabe entnehme, das ,, Journal de
Commerce", Brüssel seit 1759 in 80, gewesen sein, dem seit 1777
das ,, Bulletin du Commerce de l'Europe" in 4o folgte. In unserm
Deutschland dürfte ,,Der Kaufmann", eine Wochenschrift von (einem
früheren Kaufmann?) J. C. Sinapius, Breslau 1766, die älteste ge-
wesen sein. Sie konnte aber nur viermal erscheinen, und mit anderen
Versuchen dieser Art hatte der Herausgeber ebensowenig Glück.
Zu Altena kam er 1780/81 in nur vier Monatsheften mit den ,, Frag-
menten aut: dem Gebiete des Handlungswesens" heraus, ferner er-
schien zu Hamburg 1781/82 von ihm ,,Das Comtoirblatt, oder die
kaufmännisch-politische Zeitung" als Vierteljahrsschrift, die dann noch
(1782) ein halbes Jahr lang als Wochenschrift ihr Leben fristete.
Schließlich versuchte er es noch einmal mit seinen „Merkantilischen
Blättern", von denen, Sorau und Leipzig 1799 — 1801, fünf Bändchen
erschienen sein sollen. Gemeinsam mit dem uns schon oben be-
gegneten Seh edel gab er auch noch den ersten und einzigen
Jahrgang des ,, Allgemeinen Journals für Handlung, Schiffahrt,
Manufactur und Gewerbe", Leipzig 1800, heraus.
Schedel für sich machte noch mehr Versuche auf diesem Ge-
biete, die aber auch sämtlich fehlschlugen. Sein erster dürfte das
,, Magazin für die Handlung, oder Nachrichten und Versuche, die
1) Heute haben wir auf diesem Gebiete das „Wörterbuch der deutschen Kauf-
mannssprache" von A. Schirmer, Straßburg 1911, daß aber rein sprachwissen.
schafilich ist. Dasselbe gilt von „Der Kfm, in d. deutschen Spr. und Lit. des MA."
von P. Nolte. Gott. Diss. 1909.
— 106 —
den llandi.1 der \'6lkcr und Länder betreffen", Leipzig 1783, ge-
wesen sein. Ihm folgten die ,,Ephemeriden der Handlung", Lübeck
r784, und dann in einem ersten und einzigen Bändchen das , .Ma-
gazin für den Philosophen, Naturforscher, Kaufmann und Ökonomen",
Magdeburg 1786, während das dann folgende „Allgemeine Journal
für die Handlung", Schwerin, Wismar und Bützow 1786 87, immerhin
dreimal erscheinen konnte. Das ,,Neue allgemeine Journal für die
Handlung", Frankfurt M. 1788 89, mußte nach drei Quartalen sein
Erscheinen wieder einstellen, und dem , .Allgemeinen Commerz-
Merkur, oder Analecten, Abhandlungen und Nachrichten für Kauf-
leute", Nürnberg 1790, ging es nicht viel besser. 1795 und 1796
konnten noch die ,,Ephemeriden für die Naturkunde, Ökonomie,
Handlung, Künste und Gewerbe" in sechs Quartalsheften erscheinen,
während es von dem letzten Versuch des unermüdlichen Heraus-
gebers, dem , .Archiv für den Zirkel nützlicher Wirksamkeit unter
Menschen. Oder Beiträge zur Ausbreitung und Bereicherung unserer
Kenntnisse in den Fächern des Handels und der Schiffahrt, der Ge-
werbe, der Staats- und Privatwirtschaft", Münster und Leipzig 1803,
wiederum nur ein einziges Stück gibt.
Schedel gab u. a. auch noch ein ,, Allgemeines Handlungs-
Almanach, auf das Jahr 1796" zu Leipzig in den Druck, und viel-
leicht sind auch die ..Ephemeriden" von 1784 nur eines der damals
sehr beliebten Jahrbücher. Ob das von einem Ungenannten heraus-
gegebene ,,Buch für die Handlung", eine Sammlung von Aufsätzen
von Frankfurt/lVI. und Leipzig 1789, ein Jahrbuch ist, kann ich nur
mit einiger Bestimmtheit vermuten. Die besten kaufmännischen
Jahrbücher scheinen die von A. F, W. Crome gewesen zu sein,
die Leipzig 1784 bis 1786 erschienen sind. Ich selbst habe freilich
nur das als , .Handbuch für Kaufleute" 1784 herausgekommene auf-
treiben können, dieses ist aber in der Tat sorgfältig zusammen-
gestellt. Es enthält 47 Originalbeschreibungen des Handels und
der Industrie deutscher Städte, Aufsätze über das deutsche Fuhr-
wesen (mit zwei ganz neuen Karten^)), den Handel auf der Donau,
im Schwarzen Meer und an der adriatischen Küste, die Post im
Österreichischen, die kleine Post zu Wien, Handelsnachrichten aus
den verschiedensten Ländern von 1783, Reduktionstabellen und
zuletzt noch zwei Reisekarten für den Verkehr zwischen Leipzig
und Lübeck.
In diesem Zusammenhang muß auch noch das „Lesebuch für
1) In meinem Exemplar fehlten sie jedoch.
— 107 —
Kaufleute", Hamburg und Leipzig 1783, von J. C. Sinapius ge-
nannt werden, das in kleinerem Umfange schon einmal 1777 unter
dem Titel ,, Theorie und Praxis der Ilandlungswissenschaft" er-
schienen war. Es hatte einen ganz ähnlichen volkswirtschaftlich-
handelskundlichen und teilweise auch feuilletonistischen Inhalt, wie
die hier genannten Zeitschriften usw. Ein Schulbuch war es
übrigens nicht.
Doch kehren wir zu unseren Zeitschriften zurück. Nicht nur
Sinapius und Schedel waren auf diesem Gebiete tätig. Von
einer Amsterdamer Wochenschrift von 1767, ,, De Koopman", wurde
ein Teil aus einem nicht recht ersichtlichen Grunde — denn von
größerem Werte ist sie nicht — auch ins Deutsche übertragen,
nämlich Leipzig 1770 unter dem Titel ,,Der Kaufmann oder Bey-
träge zur Aufnahme der Handlung und Seefahrt". Die im selben
Jahre, zu Berlin aufgelegten 26 Wochenlieferungen einer gleich-
namigen Schrift mit ebenfalls ungenanntem Herausgeber dürften
auch dazu gehören. Berghaus erwähnt seinerseits auch noch
eine dritte Schrift unter diesem Titel, von der zu Hamburg 1777
insgesamt 21 Stücke erschienen sein sollen. Eine Vierteljahrszeit
Schrift war sodann das ,, Journal für Kaufleute" von L. V, See-
husen, Hamburg 1780/81, deren zweiter Band jedoch schon von
dem Übersetzer der Weskettschen ,,Assekuranz- Wissenschaft"
Engelbrecht herausgegeben wurde. Auf mehr hat sie es viel-
leicht überhaupt nicht gebracht. Späterhin gab Engelbrecht noch
die ,, Materialien zum nützlichen Gebrauch für denkende Kaufleute",
Bremen und Leipzig 1787/88, heraus, die aber auch schon nach
dem ersten Jahrgang ihr Erscheinen einstellen mußten.
Einige Zeitschriften dienten ausgesprochenermaßen auch der
Propaganda für die Handelsschulen ihrer Herausgeber. Dazu ge-
hören das Duisburger ,, Handlungsakademie-Journal", nur ein Heft
Duisburg 1782, die ,, Handlungsbibliothek" von J. G. Busch und
C. D. Ebeling, Hamburg 1785/89, das ,, Journal für Handlung und
Gewerbe" von J. C. Siede und J. C. Vollbeding, zwei Hefte
Berlin 1791, und endlich die ,, Wochenschrift für Kaufleute", heraus-
gegeben von der Berliner Handlungsschule (J. M. F. Schulz), ein
Quartal, Berlin 1795. Späterhin hat sich überall der Eifer auf diesem
Gebiete gelegt, weil die Unterstützung des kaufmännischen Publi-
kums eben immer noch ausblieb; viele der genannten Veröffent-
lichungen konnten darum auch nur im Selbstverlag ihrer Heraus-
geber erscheinen. Es ist möglich, daß die kaufmännischen Kreise
auch darum keine Neigung für die Zeitschriften bekundeten, weil
— los-
es den Herausgebern nicht gelang, einen größeren Kreis von Mit-
arbeitern zu gewinnen und weil der einzelne Schriftleiter sich darum
bald erschöpfte. Außerdem bemühten sich auch eine Anzahl von
eigentlichen Handelszeitungen, den Kaufmann nicht nur auf dem
Laufenden der engeren Handelsnachrichten zu halten, sondern auch
daneben belehrende Aufsätze allgemein -kaufmännischer Art, Litc-
raturbesprechungen usw. zu bringen und damit die Zeitschriften
überflüssig zu machen.
Zu denen, die sich in dieser Beziehung besonders auszeichneten,
gehörten vor allem die ,, Hamburgischen Adreß-Comtoirnachrichten",
seit 1767 wöchentlich eine Nummer, die ,, Handlungs-Zeitung" von
J. A. Hildt in Gotha, seit 1784 wöchentlich in 4*^ (später als ,,Neue
Zeitung für Kaufleute, Fabrikanten und Manufakturen" und dann
als ,, Magazin der Handels- und Gewerbskunde"). Weniger wichtig
waren die Leipziger ,, Handlungs-Zeitung", seit 1787 (?) in 8 " und
die wöchentliche ,, Gewerbzeitung für Künstler, Manufacturisten
und Kaufleute", Prag und Wien, seit 1787 in 4^; ganz hervor-
ragend war dagegen wieder das , .Journal für Fabrik, Handlung
und Mode", Leipzig seit 1791 in gr. S'^. Zu einer weit verbreiteten
Tageszeitung wurde schließlich noch die schon seit 1794 bestehende
,, Allgemeine Handlungs-Zeitung", ein vorzügliches Blatt, das unser
Leuchs in Nürnberg herausgab. Von einer „Frankfurter Handlungs-
Avis-Comptoir-Zeitung" kenne ich nur das Titelblatt ihres ersten
Stückes von 1771.
Der Inhalt der Zeitschriften, Zeitungen und Almanache bestand,
so weit sie sich überhaupt gleich waren und Konkurrenz machen
konnten, aus Aufsätzen, Mitteilungen und Ausschnitten handels-
kundlicher, -geschichtlicher, -geographischer, -rechtlicher, -statisti-
scher, -politischer und auch -technologischer Art, ebenfalls kommen
Anekdoten und moralische Geschichten vor; Handlungswissenschaft-
liches ist aber wenig darin. Die Aufsätze über einzelwirtschaft-
liche Fragen halten sich vielmehr meistens im Rahmen des Handels-
rechts nnd der Kontorkenntnisse. Eine ständige, zuweilen gut ge-
leitete Rubrik bildeten in einzelnen Schriften die Bücherbesprechungen.
An Eifer, gerecht und sachgemäß zu kritisieren, scheint es nicht
gefehlt zu haben; die Fächer selber ließen sich ja bei dem da-
maligen Stande (praktisch und in der Literatur) nicht allzu schwer
beherrschen.
H. Auf die überaus starke und vielseitige fachliterarische Tätig-
keit, die außer der bis hierher gekennzeichneten die zweite Hälfte
des 18. Jahrhunderts auszeichnet, braucht hier nicht weiter ein-
— 109 —
gegangen zu werden, da sie nur die Fortsetzung einer schon mit
Marp erger einsetzenden Hochflut bedeutet. Schreib-, Sprach-
und Brieflehren, Buchhaltungen und kaufmännische Rechenwerke,
Schriften zur Handelsgeschichte, Handelsgeographie und dann zum
Münz-, Maß-, Gewichts- und zum Marktwesen überhaupt, zum Handels-
und Wechselrecht und zur Warenkunde nebst Technologie usw.
kamen neben den handelskundlichen und handlungswissenschaft-
lichen sehr zahlreich heraus. Zur kaufmännischen Moral, die sogar
als besonderes Fach in die damaligen Handelsschulen Eingang
gefunden hatte 0, erschienen neben den „Moralischen Briefen über
die Handlung", Hamburg 1754, und G. J. Zollikofers „Moral für
Kaufleute", Leipzig 1789, noch die „Briefe über die Moral des
Handels" in Zöllners „Lesebuch für alle Stände" (1785) und ein
Anhang „Von schönen Handelsmaximen" aus dem Englischen in
Eulers „Unterricht von der doppelten Buchhaltung" (1802). Da-
neben gab es noch seit den 1750 er Jahren eine Anzahl moralischer
Wegweiser für junge Kaufleute, teilweise auch aus dem Englischen
übertragen. Ihren Höhepunkt fand dieser eigentümliche Zweig
unserer Fachliteratur noch in dem 18. Jahrhundert selber.
/. Nun noch ein Wort über die fachlichen Literaturverzeich-
nisse dieser Zeit, die auch ein Beleg für den großen Umfang ihrer
fachliterarischen Produktion sind. Wir sahen bereits Ludovici
sich mit dem Plane eines solchen Verzeichnisses tragen. Er hat
auch mitgeteilt, daß ein gewisser Thurmann eine Bibliothecam
mercatoriam versprochen habe. Sicherlich ist aber weder das eine
noch das andere erschienen. Beckmann, Berghaus, Buse,
Leuchs und Meisner sahen den Literaturnachweis, ja sogar die
kritische Einführung in die Fachliteratur als eine ihrer Aufgaben
an und waren dabei durchweg gewissenhaft.
Weniger läßt sich das von den ersten selbständig erschienenen
Verzeichnissen sagen, nämlich von der „Literatur für Kaufleute",
Frankfurt und Leipzig 1787 (der ungenannte Verfasser war ein
Dr. Grub er), die 1794 sogar in zweiter Auflage erschien, und
dann von Seh ed eis „Neuem Handbuch der Literatur und Biblio-
graphie für Kaufleute", Leipzig 1796, über das schon damals ge-
klagt wurde.
Hauptsächlich für buchhändlerische Zwecke erschien später noch
ein ,, Handbuch der Literatur und Gewerbekunde" von J. G. Krieger,
Marburg 1818, mit einem Nachtrag von 1822; dann folgte eine
1) Vgl. Penndorf, Die Geschäftsmoral als Unterrichtsgegenstand in der Ver-
gangenheit, D. H. L. Z. X, Nr. 47.
— 110 —
, .Bibliothek der Handlungswissenschaft" von T. C. F. Enslin, Berlin
1824, später fortgesetzt von W. Engel mann. Diese greifen bis
1700 zurück, sind aber besonders für die Zeit bis 1750 weder voll-
ständig noch sonst zuverlässig. Einen Teil unserer Literatur, und
diesen richtig, nennt noch J. S. Ersch in seiner , .Literatur der
Mathematik, Natur- und Gewerbskunde", Leipzig 1828. Eine „Mer-
kantilische Bücherkunde", Nürnberg 1832, ist nur ein unbedeuten-
der Auszug aus dem dritten Teil von Leuchs' ,, System", enthält
aber nach seinem Vorbilde auch kritische Anmerkungen. Die
noch späteren Quellenverzeichnisse nennt Heilauer a. a. O., S. 14.
III.
Die Verflachung der Handlungswissenschaft zur
Handelslehre.
A. Ihre Ursachen.
Wenngleich unter der großen Menge fachwissenschaftlicher
Arbeiten in dem eben besprochenen Zeitraum nur diejenigen von
Ludovici, May, Jung und Leuchs brauchbare Versuche zu Lehr-
büchern der Handlungswissenschaft darstellten, so war doch die
ganze Entwickelung so sehr auf den Ausbau dieser neuen Wissen-
schaft gerichtet, daß man zu den höchsten Erwartungen berechtigt
sein konnte: man war ja auf dem besten Wege, den Kreis der
kaufmännischen Wissenszweige mit der Handlungswissenschaft zu
schließen und über den vorhandenen Grundpfeilern die Kuppel
des ganzen Gebäudes zu wölben. Und doch trug diese ganze Be-
wegung auch schon die Spuren ihres jetzt rasch einsetzenden Ver-
falls. Die Abkehr von der Handlungswissenschaft vollzog sich
schließlich so vollständig, daß an die ganze Entwickelung bis hin
zu Leuchs bereits in den 1860er Jahren nur noch ein paar An-
klänge in der Literatur gemahnten und daß nach den 1870 er Jahren
auch die letzte Erinnerung an sie völlig dahingeschwunden war.
Die Ursachen für diesen auffallenden Niedergang sind teils in
der hauptsächlich abwartenden oder gar ablehnenden Haltung der
kaufmännischen Praxis, teils in der Umgestaltung des Handelsschul-
wesens nach Organisation und Lehrzielen und teils in der Ent-
wickelung der Kameralwissenschaft zur Volkswirtschaftslehre zu
erblicken.
Es scheint, als wenn sich zu allen Zeiten in keinem Berufe so
viele Widerstände gegen eine gewerbliche Theorie gefunden hätten,
wie gerade in dem kaufmännischen. Sicherlich hängt das mit der
Eigenart der kaufmännischen Berufsarbeit zusammen. Diese hat es
nur wenig mit den feststehenden Gesetzen der Natur, aber sehr
viel mit den schwankenden, und schwer berechenbaren Neigungen,
Bedürfnissen, Wünschen, Meinungen und Absichten der Menschen,
— 112 —
kurz, mit den unsicheren Gesetzen ihres wirtschaftlichen Verhaltens
zu tun, und sie findet daher in einem viel höheren Grade, als es
z. B. in der Landwirtschaft der Fall ist, daß der notgedrungen auf
das Allgemeingültige und Regelmäßige gerichteten Theorie eine
unendliche Fülle von theoretisch kaum erfaßbaren praktischen Ab-
weichungen entgegengesetzt ist '). Auf jeden Fall ist aber der Nutzen
von Geschäftstheorien allen Kaufleuten bis auf eine geringe Ober-
schicht teils nicht groß, teils nicht unmittelbar genug, als daß sie
sich für ihre Praxis viel von ihnen versprächen und dementsprechend
ein nennenswertes Interesse an ihrer Entwickelung nähmen.
Wie dieses heute gilt, wo in einer einzigen Unternehmung oft
mehr Werte auf dem Spiele stehen, als früher bei dem Handel
ganzer Länder, so galt es für die kapitalarmen, sozusagen hand-
werksmäßigen Verhältnisse im Kaufmannsberufe von vordem erst
recht. Wenn in dieser Beziehung allerdings manche Kaufleute des
18. Jahrhunderts beinahe m^hr Verständnis zeigten, als die des
19. Jahrhunderts, so liegt das mehr daran, daß sie von den be-
geisternden Gedanken und Plänen des Merkantilismus und Realis-
mus bewegt wurden, als daß sie aus sich heraus auf die Notwendig-
keit einer Änderung aufmerksam geworden wären. Aber diese
Teilnahme an den Zeitfragen war doch weder allgemein noch nach-
haltig genug; die Tatsache, daß es keine der im vorigen Kapitel
genannten Zeitschriften auf mehr als ein paar Jahrgänge gebracht
hat, beweist das zur Genüge. Der Kaufmann ließ es sich schon
damals wohl gefallen, daß seine Angestellten Buchhaltungs-, Korre-
spondenz- und Rechenkenntnisse aus den zahlreichen Schriften
darüber schöpften, aber für die von ihm besorgte Geschäftsleitung
ließ er nur seine eigenen, speziellen Erfahrungen gelten ; für sich
war er schon immer der Theorie gegenüber souverän.
An dieser ablehnenden und abwartenden Haltung der Praxis
scheiterte denn auch ein gut Teil der Bemühungen der ersten
Handelsschulen, die Handlungswissenschaft zu popularisieren, indem
diesen Anstalten eben die Schülermenge fehlte, deren sie bedurft
hätten, und deren sie vielfach w-ürdig gewesen wären. Sic waren
als Privatanstalten, meistens noch verbunden mit Pensionsanstalten,
freilich auch recht kostspielig, entbehrten oft eines genügenden
Lehrkörpers und aller P'rfahrung und Überlieferung und gingen
regelmäßig mit dem Tode ihres Leiters, ihrer Hauptkraft, ein. In den
Stürmen der napoleonischen Zeit sind nur wenige erhalten geblieben,
1) Nach Rau a. a. O,
— 113 —
und nachher ist es nicht überall geglückt, die fallengelassenen Fäden
wieder aufzunehmen. Inzwischen war auch die frühere Begeisterung
für die Realbildung schon etwas abgekühlt und dafür das neuere
humanistische Bildungsideal anerkannt worden.
Immerhin war doch bei dem allmählich lebhafter gewordenen
Handel und Wandel das Bedürfnis nach Handelsschulen so stark
angewachsen, daß neben der ersten unserer öffentlichen Handels-
lehranstalten, der Leipziger von 1831, nach und nach noch eine
ganze Reihe anderer bestehen konnten. Der erste Direktor der
Leipziger Anstalt, A. Schiebe, neigte nun aber hauptsächlich der
Pflege der Kontorkenntnisse zu, die er nach Leuchs' Vorgang
mit dem Sammelnamen Kontorwissenschaft ^) bezeichnete, damit aber
ebensowenig wie jener den Anspruch erhebend, man solle sie als
wissenschaftlich im eigentlichen Sinne des Wortes anerkennen.
Handlungs- oder vielmehr jetzt handelswissenschaftlich folgte er
einfach dem Vorbilde der berühmtesten älteren Handelsschule, näm-
lich der von Busch in Hamburg (1768 — 1800), die nur eine be-
sondere Einführung in das Verständnis des Handels im volkswirt-
schaftlichen Sinne gekannt hatte. Und wie es hier in Leipzig, dem
neuen Vorbilde, gemacht wurde, so machte man es anderswo
meistens nach.
Es wird noch an den einzelnen literarischen Erscheinungen
zu zeigen sein, wie diese volkswirtschaftlich-handelskundliche Ein-
führung, die man als Fach „Handelswissenschaft" nannte, entstanden
ist (von Leipzig aus ist sie weniger literarisch gepflegt worden).
Genug, sie und die Kontorfächer beharrten schließlich auf dem
Stande der Entwickelung, den sie etwa bis 1850,60 erreicht hatten.
Und wie in der Fachliteratur, so trat allmählich in der Entwickelung
unserer Fachschulen selber ein Zustand der Erstarrung ein : die
höheren Handelsschulen begnügten sich seit den Militärgesetzen
von 1866/69 mit der Erlangung der Einjährigen-Berechtigung für
ihre Zöglinge, und die unteren Handelsschulen, d. h. die kauf-
männischen Fortbildungsschulen (mit zumeist freiwilligem Besuch)
taten sich im ganzen mit der Konservierung der Volksschulkennt-
nisse ihrer Schüler genug.
Da jetzt neben den öffentlichen Handelsschulen für private
weniger Raum blieb 2), so ging auch von diesen im ganzen nicht
1) „Die Contorwissenschaft" ist schon 1830 zu Frankfurt a. M. erschienen, also
noch vor Schiebes Berufung nach Leipzig.
2) Ich spreche hier nur von den privaten Schulen im eigentlichen Sinne, nicht
von den Kursen, „Pressen" und dergleichen, die, parallel dem wirtschaftlichen Auf-
Zeitschrift für die ges. Staatswissensch. Ergänzungsheft 49. 8
— 114 —
viel literarische Anregung mehr aus; außerdem lernen jene nicht
gern etwas von privaten. Die besten Köpfe konnten zumeist an den
öffentlichen Anstalten unterkommen. Aber auch an diesen gab es
keinen eigentlichen Handelslehrerstand, weil es noch keinen be-
sonderen Handelslehrerbildungsgang und eine nur kleine Zahl von
Schulen mit geordneten Gehaltsverhältnissen gab. Alles in allem
war demnach aus Handelsschulkreisen keine lebhafte Entwickelung
zur Handelsbetriebslehre hin mehr zu erwarten, seitdem die Dinge
einmal von der Leipziger Gründung an diesen Lauf genommen
hatten.
\'ielleicht wäre es gar nicht zu der schon angedeuteten Heraus-
bildung einer bloßen Handelswissenschaft aus der Handlungswissen-
schaft gekommen, wenn nicht die berufenen Pfleger der Wirtschafts-
wissenschaften, die Akademiker, gerade auf dem Gebiete der Privat-
wirtschaftslehre schlechthin gar nichts getan hätten, seitdem sich die
Kameralwissenschaft zur \'olkswirtschaftslehre mit Einschluß der
Finanzwissenschaft umgebildet hatte. Während die Kameralwissen-
schaft wenigstens noch eine Art wirtschaftskundlicher Einführung
in die Gewerbe für nötig gehalten hatte, wo sie nicht, wie bei
Ludovici und Jung, im eigentlichen Sinne die Handlungswissen-
schaft pflegte, beschränkte sich die neue Volkswirtschaftslehre ganz
auf die Untersuchung speziell volkswirtschaftlicher Probleme. Zwar
war man, wenigstens fürs erste noch, von der Gleichberechtigung
der „Bürgerlichen Wirtschaftslehre'" mit der „öffentlichen Wirtschafts-
lehre" überzeugt, wie die Schriften unseres ersten Volkswirtschaft-
lers, K. H. Raus, bezeugen, aber dabei blieb es auch. Ebenso-
wenig, wüe unter der Kameralwissenschaft eigentlich privatwirtschaft-
liche Untersuchungen angestellt wurden, wurde jetzt damit begonnen,
auch nicht durch Rau, der wohl der Mann dazu gewesen wäre.
In seiner kleinen Schrift „Über die Kameralwissenschaft", Heidel-
berg 1825, hat er folgendes Schema der Wirtschaftswissenschaften
aufgestellt:
A. Allgemeine Wirtschaftslehre.
B. Besondere Wirtschaftslehre, nämlich
I. Bürgerliche Wirtschaftslehre
L Erwerbslehre (Erwerb,
a) aus ..Stoff arbeiten",
b) aus dem Güterverkehr — darunter die „Handels-
lehre" — ,
stieg nnd dem Hereinströmen ungelernter Arbeitskräfte in den Handel, gerade jetzt
erst zum Dasein und zur Blüte gelangten.
— 115 —
c) aus persönlichen Diensten).
2. Hausvvirtschaftslehre.
II. Öffentliche Wirtschaftslehre.
Welche Meinung Rau im besonderen von der „Handelslehre"
oder „Handelswissenschaft", wie er auch für unsere „Handlungs-
wissenschaft'' sagt, gehabt hat, geht aus seinem schon genannten
Artikel „Handelswissenschaft" in der Allgemeinen Enzyklopädie von
Er seh und Grube hervor 0-
Warum nun trotz dieser günstigen Auffassung die Gewerbe-
lehren keine Stätte an den Hochschulen fanden, ist schwer zu sagen.
Es mochte wohl eine dankbarere Aufgabe sein, der Allgemeinheit
mit der Erforschung der wirtschaftlichen Zustände und Gesetze, in
und nach denen sie lebt und leben sollte, zu dienen, als den Ge-
werben, vor allem den die Hochschulen gar nicht besuchenden
Kaufleuten, Theorien zu erarbeiten, von denen sie gar nicht einmal
€twas wissen wollten. Sicherlich war es aber auch bequemer, am
Studiertische volkswirtschaftsphilosophische Gedanken auszuspinnen
und gelehrte Systeme aufzustellen, als einzelne Unternehmungen zu
untersuchen, was doch notwendigerweise auch bedeutet, sie auf-
zusuchen, in ihnen zu leben und sich mit ihren vielen praktischen
Besonderheiten, von denen noch kein Buch etwas vermeldete, ver-
traut zu machen. Vielleicht liegt es gerade an dieser unbequemen
und ungewohnten Notwendigkeit, daß schon die Kameralisten sehr
viel über die Gewerbe, aber wenig über den Bau und das Leben
der einzelnen Gewerbebetriebe zu [sagen wußten. Wer weiß, ob
sie nicht doch in der Praxis mehr Fuß gefaßt hätten, wenn sie ihr
mit etwas mehr als bloßer Buchweisheit und Stubengelehrsamkeit
gekommen wären.
Es wäre müßig, diese und ähnliche Fragen weiter zu erörtern.
Die tatsächliche Entwickelung hat nun einmal mit der Aufnahme
der Volkswirtschaftslehre zur Aufgabe der Handlungswissenschaft
geführt. Niemand hat die letztere als überflüssig oder unmöglich
bezeichnet und damit überhaupt eine Erörterung ihrer Daseins-
berechtigung veranlaßt; sang- und klanglos ist es mit ihr zu Ende
gegangen. Ein paar positive Versuche der letzten 1860 er Jahre,
von denen noch zu sprechen sein wird, scheinen ihrer Zeit mehr
etwas Absonderliches, denn etwas Besonderes gewesen zu sein; sie
wurden nicht beachtet und schnell vergessen. Von da an waren
Wissenschaft, Schule und Praxis gleicherweise in Bezug auf alle
1) Vgl. die auf S. 91 mitgeteilten Sätze aus demselben Artikel.
— 116 —
bisherigen Versuche dieser Art zu ihrer Tagesordnung übergegangen:
Die Praxis konnte, zunächst noch mit Recht, behaupten, daß die
kaufmännische Betriebslehre noch nicht als ein Bedürfnis empfunden
würde ; die Handelsschule durfte vorläufig denselben Standpunkt
einnehmen und sich dem Ausbau der Fächer widmen, die sie
dringender benötigte, und der Volkswirtschaftslehre konnte man es
zum mindesten nicht verdenken, wenn sie es zunächst einmal vor-
zog, auf ihren ureigensten Gebieten in die Tiefe, statt von Anfang
an zu sehr in die Breite zu gehen.
B. Die Entstehung der Handelslehre seit J. G. Busch.
Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, die Entstehung der
für die Privatwirtschaftslehren ziemlich unfr-uchtbaren Volkswirt-
schaftslehre zu schildern, sondern nur die, an Hand der hauptsäch-
lichsten Literaturerscheinungen das Aufkommen der sogenannten
Handelslehre oder Handelswissenschaft — nicht der von Rau im
Sinne der Handelsbetriebslehre und der älteren Handlungswissen-
schaft gemeinten, sondern des Surrogates der Handelsschulen —
zu zeigen. Ihre Anfänge fallen mit denen der neueren Volkswirt-
schaftslehre zusammen.
Es ist bereits gesagt worden, daß in den handlungswissen-
schaftlich interessierten Kreisen eine Anzahl halb- und reinkamera-
istischer Arbeiten selber erst entstanden ist oder doch dort auf-
merksam studiert wurde, darunter auch v. Justis Werk, das den
Übergang der Kameralwissenschaft zur Volkswirtschaftslehre vor-
bereitete. Das Werk von A. Smith, dem Vater der Nationalöko-
nomie, das schon 1777 ins Deutsche übersetzt wurde, fand demnach
auch hier willige Aufnahme und regte ein .selbständiges Schaffen
an, das sich natürlich in der volkswirtschaftlichen Richtung bewegte,
die die oben genannten kameralistischen Schriften schon mehr oder
weniger eingeschlagen hatten. Der bedeutendste der so angeregten
Handelsschriftsteller war J. G. Busch in Hamburg, zunächst Gym-
nasialprofessor, dann Leiter der von 1768 bis 1800, seinem Todes-
jahre, dort vorhandenen privaten „Handlungs- Akademie", die vor
allem durch seine literarische Wirksamkeit die bekannteste zu ihrer
Zeit gewesen ist.
Schon etwa von 1770 an hatte Busch sich in kleineren Auf.
Sätzen usw. betätigt; seine größeren Arbeiten waren seine „Ab-
handlung von dem Gcldesumlauf", Hamburg 1780/84'), und seine
1) Vgl. HWB. der Staatswissenscb. und H. Sieveking in Schmollers Jahr-
— 117 —
„Theoretisch-praktische Darstellung der Handlung (lies: des Handels)
in ihren mannichfaltigen Geschäften", zwei Bände, Hamburg 1792,
dazu später zwei Bände Zusätze. Letzteres Werk, das die Ergeb-
nisse auch seiner sonstigen Schriften mit umfaßt, ist aus einer
Reihe von Vorträgen entstanden , die Busch vor einem reiferen
Publikum von Praktikern gehalten hatte.
„Eine Schwierigkeit war dabei für mich", so sagt er selber in
der Vorrede, „daß ich kein Lehrbuch zu Grunde legen konnte. Ich
empfahl meinen Zuhörern, Ludo vicis Handlungssystem anzukaufen,
welches den letzten Band von dessen Handlungslexikon ^) ausmacht
. . . dieses Buch war viel zu weitläufig und kam so wenig mit der
Art meines Vortrages überein, daß ich es bloß brauchen konnte,
um diesen nach der meinem jetzigen Buche gegebenen Einteilung
zu ordnen. Aber eben deswegen ward der Vortrag nicht zu einem
zusammenhängenden Ganzen, sondern alles, was ich darüber in
die Feder sagte, war eine Sammlung von Anmerkungen und Re-
flexionen über die vorzüglichen Geschäfte der Handlung. Viel
derselben gab ich damals . . . vorläufig ins Publikum durch deren
Einrückung in die Hamburgischen Adreßkomptoirnachrichten . . .
Überhaupt sind fast alle meine Schriften über Staatswirtschaft und
Handlung aus diesen ersten Vorlesungen entstanden. Ich . . .
verband auch damit Vorlesungen über die Handlungsgeschichte, in
welchen ich ebenfalls des Ludovici Buch nur, so zu reden, als
einen schlaffen Leitfaden gebrauchte. Aus diesen sind ebenfalls
einzelne historische Schriften von mir in dem Handlungsfach ent-
standen . . ."
„Vor 27 Jahren, da ich zuerst als Schriftsteller im Handlungs-
fach auftrat, hatte ich unter den Deutschen keinen Vorgänger, auf
dessen Schultern ich mich hätte stellen können-), und unter den
Ausländern war nur ein Steuart da. In dem, was ich über Banken
schrieb, war mir keiner vorangegangen. Über die Handlungskom-
pagnien hatte niemand mir gleichstimmig oder so im allgemeinen
geurteilt, als ich (selber früher) tat. Auch in meinem Werke über
den Geldumlauf ging ich meinen eigenen . . . Weg. Daher haben
büchern 28, 1 und 2, über Büschs Bedeutung für die Entwickelung der Volks-
wirtschaftslehre.
1) Die Angabe ist ungenau. — Ob wohl die zweite Ausgabe des Ludovici-
schen Anhanges zum „Kaufmanns- Lexikon" von 1768 dadurch veranlaßt worden
ist, daß die Empfehlung durch Busch die Nachfrage plötzlich vermehrte?
2l Gemeint ist hier das Gebiet des Handels und der Handelspolitik im volks-
wirtschaftlichen Sinne.
— 118 —
meine Arbeiten . . . eine Originalität, die nicht leicht jemand ver-
kennen wird ..."
Diese volkswirtschaftliche Betrachtungsweise, die damals aller-
dings Busch' Arbeiten zu etwas Besonderem bei uns machten,
ist nun auch in die „Theoretisch -praktische Darstellung" überge-
gangen, so daß die Handlungswissenschaft nur mittelbar durch
dieses Werk gefördert worden ist. Etwas Schuld daran hat auch
Büschs Einbildung, um jeden Preis in allem original sein zu müssen.
Er sagt selber noch in der gleichen Vorrede: ..So viele Anleitungen
zur Handlungswisscnschaft auch seit zwanzig Jahren gedruckt sind,
so hatte ich doch geglaubt, nichts aus denselben erborgen zu dürfen,
und, um mich gewissermaßen in die Unmöglichkeit dazu zu ver-
setzen, habe ich keine derselben seit langer Zek gelesen ..." Wenn
man das nun auch mit einiger Not verstehen mag und es seiner
Bitte entsprechend dem Verfasser nicht als Stolz anrechnet, so
braucht man es doch gewiß nicht zu billigen. Gerade bei dem
großen Rufe, den Busch mit der Zeit schon erlangt hatte, wäre
er es seinen Lesern schuldig gewesen, die zeitgenössische Literatur
zu beachten und, sei es auch nur in kritischen Anmerkungen, seine
Stellung zu ihr zu erkennen zu geben; außerdem hätte er das eine
oder andere doch auch noch daraus lernen können. Bei seiner
Gemeinde aber nährte er so den Glauben, daß er nicht nur in
seinen Anschauungen selbständig, sondern für alle seine Stoffe
auch der erste Bearbeiter sei. Das war er aber keineswegs.
Doch nun zu dem Buche selber. 'Es zerfällt nach einer Ein-
leitung in vier Hauptteile. Sie handeln vom Gelde in allen seinen
Arten und von den Wechseln, von den Waren, den Maßen, den
Abzügen und den Preisbestimmungen, von den einzelnen Handels-
betriebsarten, von der Schiffahrt, der Versicherung und der Buch-
führung, von den Bankrotten usw. usw. Wir würden heute Aus-
führungen in der Art, wie sie Busch macht, nur in einem volks-
wirtschaftlichen Lehrbuch des ^^Handels und der Handelspolitik
suchen. Bemerkenswert ist Büschs Neigung zu handelsgeschicht-
lichen Erläuterungen, doch ist er in der Art seines Vortrages nie-
mals konsequent, schweift gern ab und kommt leicht ins Uferlose.
Daß das Buch tatsächlich eine bloße „Sammlung von Anmerkungen
und Reflexionen über die vorzüglichsten Geschäfte der Handlung"
(lies wieder „über den ?Iandel") ist, erhellt z. B. aus dem Kapitel
„Von den Zinsen und dem Kredit". Darin ist die Rede von den
Ursachen des Zinses, von der Geschichte der Zinsverbote, von den
Bestimmungsgründen der Zinsen, von den Besonderheiten des Dis-
— 119 —
konts, dann — von der Einteilung des Kredits in den persönlichen
und den hypothekarischen, vom Einfluß der Zinshöhe auf den Handel
und auf den Ackerbau, sodann von dem der Staatsschulden auf die
Zinsen und schHeßlich noch vom Wucher.
Handlungswissenschaftlich und damit auch praktisch am besten
ist das, was Busch über die Wechsel und Wechselkurse, über
Vergesellschaftungen, Überversicherungen und über das Buchhalten
sagt. Aber mehr oder weniger finden sich diese Ausführungen
auch in seinen sonstigen Schriften, wie umgekehrt hier seine Ge-
danken über den Geldumlauf, dann über die Banken, über den
Zwischenhandel, über das Seerecht usw. immer wiederkehren. Im
ganzen kann man wohl sagen, daß Busch zwar unsere damalige
Erkenntnis wirtschaftlicher Tatsachen um manche grundlegende
Feststellung bereichert hat — so zum Wiesen der Wechselkurse,
des Zwischenhandels, des Papiergeldes und der Banknoten, zur
Überflüssigkeit mancher Rabatte; sogar eine personalistische Buch-
führungstheorie stellte er auf — daß aber die Handlungswissen-
schaft im besonderen durch ihn nicht sehr gefördert worden ist, es
sei denn durch die Beleuchtung der allgemeinen Handelsverhält-
nisse. In Leuchs' ,, System" dürfte z. B. nur der Satz, daß die
Zahl der Spekulanten die Aussichten der Spekulation für den ein-
zelnen verringert, unmittelbar von Busch entlehnt sein.
Eine ganze Anzahl von Werken, besonders von kleineren für
Schulzwecke, geht auf Busch zurück. Schon 1798 erschien zu
Elberfeld eine , .Gründliche Anweisung in der Handlungswissen-
schaft" von J. Weißen stein , einem Handelsschulmanne , 2. Auf-
lage von F. G. Clemenius 1807, von der dies voll und ganz gilt.
Der uns schon als Nachahmer von Leuchs bekannte Meisner
schrieb ferner einen ,, Grundriß der Privathandlungswissenschaft",
Breslau 1804, dem noch eine ,, Staatshandlungswissenschaft" 1806
folgte, Schriften, die zwar den Titel von Leuchs, den Inhalt jedoch
vorwiegend von Busch und den Kameralisten entnehmen. Der
erste Teil der „Privathandlungswissenschaft" spricht von den nötigen
Kenntnissen des Kaufmannes, ohne die Handlungswissenschaft selber
dabei zu nennen, der zweite Teil von den verschiedenen Handels-
arten und der dritte noch ,,von den Hülfsanstalten und den Hülfs-
geschäften für die Handlung, sowie von den mancherlei Vorfällen
bei dem Handel", nämlich von den Banken, Versicherungen, Messen,
Havereien, Gesellschaften, Zinsen, Bankrotten, Krisen usw. usw.
In Hamburg selber versuchte ein Handelsschulleiter C. Krüger in
den Bahnen Büschs zu wandeln. Sein vierbändiges Werk „Der
— 120 —
Kaufmann", 2. Auflage Hamburg 1820 (erste von ?), ist zwar in
der Manier seines Vorbildes geschrieben, ist aber inhaltlich weit
schwächer als Büschs Werke und im allgemeinen auch nur re-
produzierend.
Eine selbständige Arbeit sind dagegen die „Praktischen und
historischen Ilandlungswissenschaften" von \V. Spitta, Han-
nover 1799, in denen einiges Neue über Türkenpässe, Großavan-
turen, \'ersicherungcn usw. gesagt wird. Der Inhalt erinnert viel-
fach an den der ersten kaufmännischen Zeitschriften oder an Sina-
pius ,, Lesebuch"; es ist jedoch weder recht praktisch noch
historisch, sondern handelskundlich.
Eine nach Umfang und Inhalt sehr dürftige „P^inleitung in die
Handelswissenschaft" von F. Süpke, Braunschweig 1825, war für
den Unterricht an einem dort entstandenen Handelsg3'mnasium')
bestimmt; sie fußt sowohl auf Beckmann, Busch und Rau, als
auf Leuchs. Süpke war später Vertreter der Handelswissen-
schaften an der Merkantilischen Abteilung des Collegium Carolinum
in Braunschweig, einer halbakademischen Handelshochschulabteilung
dieses Instituts. Von dessen Lehrkräften sind sonst keinerlei be-
merkenswerte Bücher herausgekommen. Nur Süpke war auch in
dieser Stellung literarisch tätig, indem er, zumeist im ..Braun-
schweiger Magazin" , eine Reihe von Aufsätzen veröffentlichte. Wegen
der Bedeutung, die später der Ausdruck „Handelsbetriebslehre" er-
langte, sei erwähnt, daß in einem von diesen Artikeln („Kurze Dar-
stellung des Gebietes der Handelswissenschaften, vornehmlich über
die Theorie und Politik des Handels" von 1836) dieser Ausdruck
m. W. zum ersten Male in der Literatur gebraucht wird, und zwar
ungefähr für das, was Leuchs „Handelslehre" genannt hatte. Doch
sei gleich hier auch bemerkt, daß dieser Ausdruck später noch ein-
mal unabhängig von dem genannten Aufsatze aufgekommen ist.
In Leipzig gebrauchte man den kleinen volkswirtschafdichen
„Grundriß der Handelswissenschaft" des Nationalökonomen L. H.
V. Jakob, Halle 1828. Die meisten Anstalten hatten aber ihre
selbstverfaßten Leitfäden. So schrieb an der polytechnischen Hoch-
schule zu Karlsruhe L. C. Bleibtreu ein „Lehrbuch der Handels-
wissenschaft", Karlsruhe 1830, das 1847 noch einmal umgearbeitet
als „Mercantilpraxis" herauskam. Es enthält außer der Handels-
wissenschaft auch noch eine Buchhaltung. Zu jener gehören zu-
nächst kürzere Ausführungen (rund 40 Seiten) über den Handel
1) Vgl. m. Aufsatz , Höhere kaufmännische Unterrichtsanstalteu in Braunschweig
von 1745 bis 1862", Z. f. d. g. k. U. XV, Nr. 6, 7.
— 121 —
überhaupt, über das Geld, die Zinsen und den Kredit. Dann folgt
das von Leuchs in die Literatur eingeführte Kapitel der „Be-
förderungsmittellehre", hier „Von den Anstalten und Verfügungen
zur Beförderung des Handels" genannt, und darauf eine Wechsel-
lehre. Kleinere Abschnitte handeln vom Seefrachtwesen, von den
Versicherungen, vom Waren- und Wertpapierhandel, „von der Voll-
macht" und „vom Falliment". Dann kommt eine Buchführung,
ferner auf sieben Seiten etwas von dem Verfahren in Handels-
streitigkeiten und schließlich eine Sammlung von Verträgen mit
einer Einleitung dazu. Einige Literaturangaben gehen dem ganzen
Buche, das 606 Oktavseiten umfaßt, voraus. Aus diesen Angaben
mag zur Genüge hervorgehen, daß an die alte Handlungswissen-
schaft schon nichts mehr in diesem Buche erinnerte, jetzt schon,
nach noch nicht 10 Jahren seit dem letzten Erscheinen von Leuchs
,, System" !
Dieses Buch gehört übrigens schon zu denjenigen, die wohl
nicht mehr unmittelbar aus Büschs Werken, sondern aus der
nach jenem bei uns entstandenen volkswirtschaftlichen Literatur
geschöpft haben. Noch schärfer als in ihm spricht sich die Eigen-
art der schulmäßigen Handelswissenschaft in dem vielgerühmten
„Systematischen Lehrbuch der Handels Wissenschaft" von F. Noback ,
Berlin 1849 zuerst, aus (sein Verfasser ist nicht mit dem C. A. No -
back zu verwechseln, von dem „Der Handel in Compagnie in
merkantilischer und rechtlicher Hinsicht theoretisch und praktisch
erläutert" zu Ilmenau 1829 herauskam), das das Vorbild der spä-
teren wurde. Worin sein „System" besteht, ist nicht recht ersicht-
lich. Er erklärt die Handelswissenschaft als „die Gesamtheit der-
jenigen Kenntnisse, welche das Wesen und die Grundsätze des
Handels und seiner Gegenstände, seiner Hilfsgewerbe und seiner
Förderungsanstalten umfassen". Danach behandelt es der Reihe
nach „die Handelsobjekte und ihr Maß", „die Gestaltung des Handels
und seiner Operationen", den Einzelkaufmann und die Gesell-
schaften, die Hilfsgewerbe des Handels, seine Förderungsanstalten
und die Handelsgewohnheiten, die ,, Geschäftsführung" in ganzen
13 von 566 Seiten Text — Unterabschnitte sind hier: „Geschäfts-
personal, fingierte Rechnungen, Limitum, Contremandieren , Kauf
nach Probe, Handel auf Besicht, Fakturen usw., Übergang der Ge-
fahr, Zahlung" — ; ferner ist auf fünf Seiten von den Preisen und
Spekulationen die Rede, dann auf wiederum fünf Seiten von der
Handelsmoral, von kaufmännischen Empfehlungen und von den
Fallimenten, und schließlich folgt noch einiges aus dem Handels-
_ 122
recht und der Handelspolitik, auch sind «in paar Wechselfonnulare
angehängt.
Das kann man doch nicht „sj'stematisch" nennen! Es fehlt an
einem leitenden Gedanken, den man allerdings auch schwerlich
anders als eben in der Frage: „Wie steht das einzelne Geschäft zu
diesen Tatsachen?" wird finden können, einer Frage, die dann so-
fort die Probleme der Handelsbctriebslehre selber angeschnitten
haben würde. Mit einigen Abweichungen sind so noch viele Handels-
wissenschaften (Handelslehren , Handelskunden) entstanden , die
meisten davon schlechter als die von Noback. Die älteren seien
hier namentlich angeführt, nämlich ein „Lehrbuch der Handels-
wissenschaften" von L.Brentano. Fürth 1853, das im Maß- und
Gewichtswesen und in der Prozentrechnung ('.) stecken bleibt, ein
„Katechismus der Handelswissenschaft" von L. Simon, 2. Auflage
von K. Arenz 1856, ein sehr dürftiges Stück fNr. 13) aus einem
Sammelwerk, dann ein „Handbuch der Handels-Wissenschaft" von
F. A. Stracker Jan, Pest 1861, ein „Leitfaden" und ein „Abriß der
Handelswissenschaft oder allgemeinen Handelslehre" von W. Röh-
rich, Stuttgart 1861, ein „Leitfaden zu Vorträgen über Handels-
wissenschaft" von J. G. Woerz, Wien 1864, ein „Lehrbuch der
Handelswdssenschaft" von A. Braune, Leipzig 1866, ein „Grund-
riß" und ein kürzerer „Leitfaden der Handelswissenschaft" von
C. F. Findeisen und ein „Leitfaden für den Unterricht in der
Handelswissenschaft" von A. Adler, Leipzig 1879, die alle nach
früheren Vorbildern, nur in anderer Gruppierung des Inhaltes, zu-
geschnitten sind; spätere sind noch von Behni, Berger, Gleis-
berg, Haberer, Jacobi, Jorcke, Sulzberger, Ottel, Wick,
Goldberg usw. usw. geschrieben worden. Von Handelsbetriebs-
lehre ist nichts darin.
Zum Teil haben diese Arbeiten mehrere Auflagen bis in die
letzte Zeit hinein erlebt und auch der jetzt neu belebten Handels-
betriebslehre durch Titeländerungen, seltener auch inhaltlich, ver-
schiedene Zugeständnisse gemacht, ohne ihren Grundcharakter auf-
zugeben. Meistens sind sie nichts weiter als sehr bequeme volkswirt-
schaftlich-handelsrechtliche Auszüge und Zusammenstellungen von
nur losem inneren Gefüge. Sie haben kein höheres Ziel, als dem
Unterricht in einem verzopften und lange Zeit keiner Entwicke-
lung fähigen Schulfache zu dienen. Es ist daher begreiflich, wenn
G. Cohn über diese Art Handels „Wissenschaft" in seiner „National-
ökonomie des Handels und des Verkehrswesens" sehr abfällig ur-
teilt. Doch kann ihm auch wieder entgegengehalten werden, daß
— 123 —
sie durchweg ebensowenig wie die frühere Kontorwissenschaft An-
spruch auf eigentlich wissenschaftHche Anerkennung erhoben hat,
und daß sie, leider, gerade von der Volkswirtschaftslehre aus
ohne die ihr so nötigen privatwirtschaftswissenschaftlichen An-
regungen gelassen worden ist. Wer möchte entscheiden, wem die
größere Schuld zuzumessen ist?
Das kann jedenfalls nicht geleugnet werden, daß vom Stand-
punkte der Volkswirtschaftslehre aus und besonders unter dem
Gesichtspunkte der für uns vor allem in Rede stehenden Handels-
betriebslehre fast alle älteren Leitfäden usw. der Handelslehre oder
der Handelswissenschaft unzulänglich sind. Aber um ihnen voll
gerecht zu werden, muß man doch auch fragen, ob sie den Schul-
bedürfnissen ihrer Zeit, denen sie doch erst ihre Entstehung ver-
dankten, entsprochen haben oder nicht. Die Handelsschulverhält-
nisse berücksichtigend, wird man wahrscheinlich zu einem etwas
milderen Urteile über diesen Literaturzweig gelangen.
C. Vereinzelte Handelsbetriebslehren um die Mitte des
19. Jahrhunderts.
A. Ein paar Lichtblicke gibt es aber doch noch in dieser Zeit
und zwar in einigen Schriften, die teils die Erinnerungen an die
ältere Handlungswissenschaft wecken, teils Vorläufer der später in
neuem Glänze auferstandenen Handelsbetriebslehre sind. Sie haben
bezeichnenderweise mit der dazwischen vegetierenden Handelslehre
fast gar nichts zu tun. Zunächst ist da die „Allgemeine Handels-
lehre oder Sj'stem des Handels" von E. J. V. Lorenz, einem
Handelsschulmanne von einer mir unbekannten Anstalt, Leipzig
1847. Sein Inhalt war bereits 1838/39 in der „Handelsschule",
einer Wochenschrift, enthalten, aber bis 1847 nicht in dieser Buch-
form zusammengestellt.
Die Handelslehre ist nach Lorenz „die Zusammenstellung der
Regeln . . . ., nach welchen der Handel betrieben werden muß,
wenn sein Zweck, der höchstmögliche Gewinn, durch ihn erreicht
werden soll". Dieser privatwirtschaftlichen Auffassung entspricht
sodann die Durchführung der einzelnen Kapitel von der Idee des
Handels und der Handelswissenschaften, von den Handels- und
Tauschgegenständen einschl. einer Tauschmittellehre, von der Wert-
bestimmungslehre, den Beförderungsmitteln des Handels, von dem
Handelsbetriebe (mit den Unterabschnitten: der Weg zum Etablisse-
ment, die Wahl der Branche, Lehre vom Einkauf, vom Kredit, von
der Zahlung, von der Preisbestimmung, vom Verkauf, von der Ver-
— 124 -
senduni,', von Moratorien und Konkursen; der X'ollinaclitsvcrtraj,',
die Kontorwissenschaft) und vom Wahrscheinlichen im Handel oder
von der Spekulationslehre; den Schluß bildet ein Anhang über den
^Handel in seiner Beziehung zur Nationalökonomie".
Es zeigt dieses Buch schon auf den ersten Blick die Beein-
flussung durch Leuchs. Das für Schulzwecke Wichtigste aus
letzterem hat es mit Eigenem gut zu verquicken gewußt und über-
haupt, wenn auch ohne seine Schuld so gut wie vergeblich, den
Weg gezeigt, auf dem die Handelsschulen ihrerseits auch ohne die
Unterstützung der Nationalökonomie die Handlungswissenschaft noch
eine Zeidang fortentwickeln konnten. Von ihm wieder oder un-
mittelbar von Leuchs ist nur das ,.Lehrbuch der Handelswissen-
schaft'" von C. J. Scubert, auch einem Handelslehrer, Würzburg
1858, beeinflußt worden. Dieses Buch scheint wie das vorige nur
eine Auflage erlebt zu haben.
Es hat die Leuchs sehe Einteilung des Stoffes in Einzellehren
beibehalten, bietet aber in vielem auch Eigenes, das mit Gedanken
aus Leuchs und mit dem üblichen Stoffe anderer Handelswissen-
schaften freilich nicht immer so recht zu einem Gusse verschmolzen
ist. Die Einkaufslehre zerfällt bei Seubert in folgende sechs
Paragraphen: Begriff des Einkaufs; einkaufende Personen; die recht-
liche Grundlage des Einkaufs; seine äußeren Erscheinungsformen;
die Entrichtung des Gegenwertes; Leitsätze der Erfahrung beim
Einkauf. Die Verkaufslehre zerfällt dagegen in acht Paragraphen:
Begriff des Verkaufs; über Gewinn uild Verlust; Erfahrungssätze
des Gewinnens und Verlierens ; Häufigkeit des Kapitalumschlags ;
Grundsatz des schnellstens Wiederverkaufs und des Verkaufs in
möglichst großen Partieen; Grundsatz des schnellsten Empfanges
der Zahlung; Grundsatz der größten Sicherheit ihres Empfanges;
über die Angemessenheit des Verkaufspreises. Das Buch ist etwas
knapp und hastig im Text, zeigt aber sicherlich auch einen für die
Schule damals gangbaren Weg der Verknüpfung des guten Alten
mit dem notwendigen Neuen.
Eine recht eigentümliche Einführung bietet dagegen noch die
„Handelswissenschaft" von L. Schmidt, Stuttgart 1857, die im all-
gemeinen eine Kopie einzelner Geschäftsvorfälle für die unterrichtliche
Behandlung darstellt. Schmidt stellt nämlich 15 verschiedene
praktische Aufgaben zur Erörterung, die den Warenbezug, die
Wechselzahlung u. a. m. betreffen. Er analysiert nun alles Handels-
betriebliche, wie die zugehörige Buchhaltung und Korrespondenz
nach den von ihm selbst beantworteten Fragen, deren z. B. für den
— 125 —
ersten Fall, einen Bezug von Zucker von Köln über Heilbronn nach
Stuttgartt nicht weniger als 63 gestellt werden. Dies Buch erinnert
sehr an das von Ihring^), gehört aber auch nur, wie jenes, in
einem weiteren Abstände hierher; beide sind ein Beleg für die früher
fast immer ausgeübte unterrichtliche „Konzentration der Handels-
fächer", um die heute in unseren Schulen gestritten wird.
Nicht für die Schule, sondern für die Praxis ist dann noch
„Der kluge Speculant" von einem Kaufmann J. S. Meyer, Leipzig
1857 (Bd. 6 der „Kleinen Hülfs-Bibliothek" von L. Fort, einem
Leipziger Handelslehrer) geschrieben, das völlig auf Leuchs beruht;
eben deswegen erwähne ich es hier hauptsächlich. Das Büchlein
will lediglich einen Teil der von Leuchs aufgestellten Grundsätze
bekannter machen, damit die Spekulanten aus bloßen Glücksspielern
zu Berechnern der Wahrscheinlichkeit eines günstigen Geschäfts-
ausganges würden.
Die letzte Nachwirkung der Leuchsschen Arbeiten habe
ich schließlich in der „Vollständigen Handelswissenschaft" von
Th. Wenzelburger, 2. Auflage Hannover und Leipzig 1874 (erste
von ?), gefunden. Von Leuchs ist ein Stück aus dessen Speku-
lationslehre entnommen, im übrigen aber fußt das Buch auf den
gleich noch zu nennenden Arbeiten von A. Lindwurm. Viel
Selbständiges ist nicht darin; mit der Anhängung einer Buch-
führung fällt es sogar in eine um diese Zeit bereits überwundene
Periode der Fachliteratur zurück.
B. Der eben erwähnte A. Lindwurm, vorher Kaufmann und
Jurist, dann „Lehrer der Handelswissenschaft und der Staatswirt-
schaftslehre an der höheren Handelsschule zu Hildesheim" und
später Gründer einer privaten Handelshochschule (!) bei Bonn, ist
in mehreren Schriften für eine Reform der kaufmännischen Aus-
bildung und für eine klare Abgrenzung der Privat- gegenüber der
Volkswirtschaftslehre eingetreten ; jene befürwortete er besonders
in „Die Ausbildung zum Handelsstande", Bremen 1861, diese in
den „Grundzügen der Staats- und Privatwirtschaftslehre" Braun-
schweig 1866, und in seinem bekannten Buche „Die Handelsbetriebs-
lehre und die Entwickelung des Welthandels", Stuttgart und Leipzig
1869. Von diesem letzteren ist hier hauptsächlich zu sprechen.
Lindwurm sagt in dessen Vorwort, daß seit Busch (und
Leuchs) in der Handels Wissenschaft das eigentlich Wissenschaft-
liche, die Betriebslehre, eher zurückgegangen als gefördert worden
1) Ihrings Buch ist jedoch nicht katechetisch.
— 126 —
sei. Die Ursache ist nach ihm darin zu suchen, „daü die .Volks-
wirtschaftslehre' unter dem überwiegenden Einfkisse einer mit den
praktischen Wirtschaftsbedürfnissen wenig bekannten Gelehrtenwelt
sich, in einer zwar ebenso unbestimmten wie unhaltbaren, aber
bestehenden allgemeinen, alle Unterschiede des Wirtschaftsbetriebes
ignorierenden Form, das \'orrecht angemaüt hatte, allein etwas
Wissenschaftliches vorzustellen, während den Gewerbslehren, also
auch der Handelswissenschaft, die Rolle zuerkannt worden war,
eine bloß zu praktischen Zwecken vorgenommene Zusammenstellung
von Regeln zu sein (Röscher). Als eine mitwirkende Ursache
ist freilich auch anzusehen, daß die der Handelswissenschaft ob-
liegenden Schriftsteller, ohne gerade in der Praxis sehr erfahren
und mit vielfachen Lebensanschauungen ausgerüstet zu sein, in
Bezug auf allgemeine wissenschaftliche Bildung den Gelehrten der
Volkswirtschaft nicht entfernt gewachsen waren, ihnen deshalb nicht
nur in selbsteigner Foi-schung keinen Widerstand leisteten, sondern
namentlich in neuerer Zeit, aus schwächlicher Eitelkeit vorzogen,
als Myriaden-Schriftsteller im Rose her sehen Kometenschweife zu
erscheinen, froh, wenn sie, durch die der herrschenden Schulweis-
heit dargebrachte Huldigung, sich ernstere Kritik vom Halse hielten.
Die Handlungswissenschaft sank infolgedessen immer mehr zur
Buchhaltungs-, Kontor- und Münz-, Maß- und Gewichtskunde herab."
Es ist schade, daß dieser zwar etwas übertriebenen, aber im
Grunde richtigen Kritik die Höhe des in Lindwurms „Handels-
betriebslehre" positiv Geschaffenen gar nicht entspricht. Außer
einer hier m. E. überflüssigen, aber nach Lindwurms Ansicht sehr
angebrachten Handelsgeschichte zerfällt „Die Handelsbetriebslehre"
in folgende Kapitel: der Handelsgewinn im allgemeinen (d.h. der
Anteil des Handels am Volkseinkommen) ; der Geschäftsgewinn ins-
besondere; die Bereicherung; die privatwirtschaftlichen Hülfsmittel
des Handels; die Ware; die Geschäftsführung im allgemeinen; das
überseeische Geschäft; der Binnenhandel; das Kommissionsgeschäft;
das Unterhändlergeschäft; das Frachtgeschäft; das Bankgeschäft
und der Buchhandel.
Lindwurm erklärt die Anpassung des Handels wie der ein-
zelnen Handelsunternehmungen an ihre Mittelstellung zwischen an-
deren Wirtschaftsarten als den Haui)tgrundsatz allen Handels-
betriebes. Er nennt den Handel die berechnete Orts- und Zeit-
veränderung der Waren ; sein regelmäßiger Betrieb bringe sozusagen
nur den bloßen Arbeitslohn für den Kaufmann ein, während dem
größeren Gewinne aus dem unregelmäßigen, dem Spekulations-
— 127 —
geschäfte, auch größere Kapitaleinbußen bez. Gefahren gegenüber-
stünden. In den folgenden Kapiteln, die, wie schon gezeigt, über
den Umfang des bloßen Warenhandels hinausgehen, aber z. B. das
Fabrikgeschäft nicht mit einschließen, bietet Lindwurm jedoch
weniger Forschungsergebnisse, die man doch wohl hätte erwarten
dürfen, als allgemeine Betrachtungen und Reflexionen volles- und
privatwirtschaftlicher, handelsgeschichtlicher und moralischer Art,
überhaupt mehr Reden von den Gegenständen, als aus ihnen her-
aus. Außerdem krankt das ganze Buch an dem Bemühen, eine
nicht einwandfreie, nämlich mehr volks- als privatwirtschaftlich
schmeckende Werttheorie in den Mittelpunkt zu stellen. So kommt
der Verfasser denn ebenso wenig zur Darstellung des Tatsächlichen
wie zur Gewinnung von Grundsätzen und Regeln. Immerhin wird
manche neuzeitliche Frage doch wenigstens angeschnitten, so die
der Surrogate, der Moden, der Angestellten usw. Beim Buchhandel
greift Lindwurm auf Leuchs' Grundsätze zurück.
Über ihre sachliche Bedeutung hinaus hat diese Arbeit Lind-
wurms einen geschichtlichen Ruf dadurch erhalten, daß auf sie
der neuere Gebrauch des Wortes Handelsbetriebslehre zurückgeht ;
R. Ehrenberg und V. Böhm haben es in den 1890er Jahren
bei der Erörterung der Handelshochschulfragen wieder aufleben
lassen. Lindwurm selbst wird wohl selbständig auf ihn ge-
kommen sein, trotzdem die Nachbarschaft von Hildesheim und Braun-
schweig, wo Süpke schon 1836, wenn auch in engerer Bedeutung,
diese Bezeichnung gebraucht hatte, auch eine Entlehnung ver-
muten lassen könnte. Nachweisen ließe sich das wohl nicht
mehr.
Wie Lindwurms oft dilettantenhaft anmutende Ausführungen
wissenschaftlich unzulänglich blieben, so konnte auch die „Praxis
des Geschäftslebens" von Th. Piening, Leipzig 1869 (eine später
auch von Böttger und Treiber bearbeitete Übersetzung des
„Practical Treatise on Business" des Amerikaners E. T. Freedley),
der Handelsbetriebslehre nicht auf die Beine helfen, und zwar weil sie
mehr geschäftUche Moral- als Betriebslehren aufstellt. So hat ,Jeder
Mensch das Recht und zugleich die Pflicht^ so viel Geld zu erwerben,
als er kann, aber in steter Übereinstimmung mit den Gesetzen des
Landes, der Moral und der Ehre" ; es werden ferner die Geschäfts-
lügen, der Mißbrauch des Kredits und vieles andere als unmoralisch
erklärt, aber alle diese Erörterungen berühren eben die liandels-
betriebslehre doch nur an ihrer Peripherie, indem sie vom Stand-
punkte der Ethik aus geführt werden.
— 128 —
Von viel größerem Werte für die Entvvickelung unserer Wissen-
schaft hätte dagegen zu einer günstigeren Zeit als der damaligen
die „Allgemeine Gewerkslehre" von A. Emminghaus sein können,
die schon etwas vor Lindwurms „Mandelsbetriebslehre" und
Pienings „Praxis" 1868 zu Berlin erschienen war. Emming-
haus war Professor der Wirtschaftslehre am Polytechnikum zu
Karlsruhe. Wie Lindwurm ist er von der „Notwendigkeit einer
Gebietsteilung zwischen der Allgemeinen und den Privatwirtschafts-
lehren" überzeugt, 'die beiden Teilen zugute kommen würde. Sein
eigener Versuch ist eine Betriebslehre industrieller Unternehmungen^
die er eben als Gewerkslehre bezeichnet. Er gibt ihr im Rahmen
aller Wirtschaftswissenschaften eine Stellung nach dem ungefähren
Schema von Rau, das oben mitgeteilt worden ist. Hier ist das
seinige :
Grundwissenschaft.
Allgemeine Wirtschaftslehre.
(Volkswirtschaftslehre, National- oder politische Ökonomie.)
Abgeleitete Wissenschaften.
Angewandte Allgemeine Wirtschaftslehren, nämlich:
Privatwirtschaftslehren Staats wirtschaftslehre
, . (Finanzvvissenschaft).
Allgemeine Hauswirtschaftslehre Allgemeine Gewerbslehren
a) AUg. Landwirtschaftslehre
b) ,, . Forstwirtschaftslehre
c) ,, Bergbaulehre
d) ,, Gewerkslehre
e) ,, Handelslehre
usw.
„Eine allgemeine Gewerbslehre," sagt Emminghaus dazu,
„wird sich zu verbreiten haben:
L über das Wesen, die wirtschaftliche Bedeutung und die Zwecke
des betreffenden Gewerbes oder der in Betracht zu ziehenden
Gruppe von Gewerben ;
2. über das Wesen, die Bedeutung, die Erwerbung und An-
wendung der Gewerbsmittel, also der Arbeit und des Kapitals
innerhalb des fragl. Gewerbes oder der Gruppe von Gewerben;
3. über das Wesen, die Bedeutung und die Benutzungsart der
dem Gewerbe oder der Gruppe von Gewerben sich darbieten-
den unmittelbaren oder mittelbaren Hilfsmittel;
4. über die innerhalb des betr. Gewerbes oder der Gruppe von
— 129 —
Gewerben möglichen Betriebsmethoden und Betriebseinrich-
tungen;
5. über die Mittel zur Prüfung der Betriebsresultate und die
zweckmäßigste Anwendungsart dieser Mittel."
Der Inhalt der „Allgemeinen Gewerkslehre" gliedert sich so-
dann bei Emminghaus wie folgt:
I. Einleitung: Begriff, Arten, Stellung der Gewerke zu anderen
Gewerben und Zweck des Gewerbsbetriebes (er liegt „nicht in der
Befriedigung wirtschaftlicher Bedürfnisse des Anderen, sondern in
der Beschaffung von Mitteln zur Befriedigung seiner [des Unter-
nehmers] eigenen Bedürfnisse, im Verdienst, im Reingewinn, in der
Vermehrung und Befestigung seines Vermögens")
II. Die gewerkliche Arbeit: ihr besonderer Charakter, die Ar-
beiten des Unternehmers, die Erwerbung der Hilfskräfte, die Höhe
des Lohnes, Kritik der Lohnzahlungsarten (Natural-, Zeit-, Stück-
und Anteilslohn), das persönliche Verhältnis der Unternehmer zu
den Arbeitern (Arbeitsvertrag, Arbeitszeit, Frauen- und Jugend-
arbeit, Fürsorge, Produktivgenossenschaften) und zu den Gehilfen,
die Arbeiterzahl.
III. Das gew^erbliche Kapital im allgemeinen: Begriff und Um-
fang, stehendes und umlaufendes gewerkliches Kapital, Kapital-
bedarfsermittelung, -Erwerb und -Anwendung in den Gewerken,
dann im einzelnen: Grund und Boden, Gebäude, Roh- und Hilfs-
stoffe, Geräte, Werkzeug und Maschinen, Geldkapital einschl. Ver-
kauf der Produkte (jede Kategorie nach Zweck, Erwerb und An-
wendung).
IV. Die Hilfsmittel der Gewerke und ihre Benutzung: Wesen
und Arten; unmittelbare Hilfsmittel (Fachschulen, Fachliteratur
Gewerbevereine, Gewerbekammern, Industriebörsen, Gewerbebanken
Märkte und Messen, Ausstellungen), mittelbare (Transport-, Kredit-,
Versicherungsanstalten, Reklame u. ä.)-
V. Die Wahl der Betriebsart und -Einrichtung: Allgemeines,
Klein- und Großbetrieb, Verlags- und Fabrikbetrieb, Einzel- und
Gesellschaftsbetrieb.
VI. Die gewerkliche Buchführung.
Diese Arbeit, deren Spuren damals leider niemand gefolgt,
ist, ist unzweifelhaft die am meisten abgerundete und ergebnis-
reichste unter den kaufmännischen Erwerbslehren der 1860er
Jahre. Einen großen Anteil an dieser Höhe des Buches hat
seine w-eise Beschränkung auf eine ganz bestimmte Gewerbegruppe,
zu der sich unsere neuesten Werke leider nicht immer haben
Zeitschrift für die ges. Staatswissensch. Ergänzungsheft 49. 9
— 130 —
entschließen können. Es sind in ilini die Ergebnisse der volks-
wirtschaftlichen Untersuchungen seiner Zeit aufs glücklichste mit
den eigenen privatwirtschaftlichen Überlegungen und Feststellungen
verknüpft worden, ohne daß seine privatwirtschaftliche Eigenart
dadurch verwässert worden wäre. Insbesondere ist Emniinghaus
trotz der hohen sozialen Auffassung, die z. B. seine Ausführungen
zur Arbeiterfrage in der Unternehmung bekunden, nicht in den
Fehler verfallen, hier von dem Unternehmer die völlige Unter-
ordnung seiner geschäftlichen Interessen zu fordern.
„Der Gewerktreibende hat als Mensch höhere Aufgaben als
die des Vermögenserwerbs , für ihn als Gewerktreibenden aber ist
dieser seine eigentliche, wahre und höchste Aufgabe . . . ein Ge-
werbe treibt man, ein Mittel zum Erwerben also wendet man an
nicht um höherer Zwecke, sondern um des Erwerbens willen."
„Es liegt gewiß in der Aufgabe der Wissenschaft, welche ein
System von Regeln aufzustellen hat für den rationellen Betrieb der
Gewerke, auch auf die besonderen Gelegenheiten zu segensreichem
Einwirken auf die Umgebung hinzuweisen, welche sich dem Ge-
werksmann in allen Zweigen des gewerklichen Berufslebens dar-
bieten. Aber es ist hier zugleich unerläßlich, bei der wissenschaft-
lichen Feststellung des Zweckes des Gewerksbetriebes den privat-
wirtschaftlichen Gesichtspunkt nicht aus den Augen zu lassen und
sich vor verwirrenden Eingriffen in andere Gebiete zu hüten. So
bestimmt muß hier jener Gesichtspunkt im Auge behalten werden,
daß man sich selbst für inkompetent erklären muß, über Unter-
nehmungen abzusprechen, welche mit ihren Erzeugnissen geschickt
auf die Torheiten und Schwächen der Zeit spekulieren, ja über
solche selbst, deren Erzeugnisse . . . offenbar und, ohne daß der
Unternehmer darüber im Unklaren sein kann, in der hergebrachten
Anwendungsform unsägliches Unheil stiften. Die Gewerkslehre muß
es anderen Forschungen überlassen, die Grenze zwischen der sitt-
lich erlaubten und unerlaubten Spekulation . . . festzustellen und
den einzelnen Fall auf seine Verwerflichkeit zu prüfen. Sie hat von
ihrem Standpunkt aus die Grundsätze des rationellen Betriebes,
soweit sie aus den Gesetzen des Wirtschaftslebens sich ergeben,
festzustellen; von ihrem Standpunkt aus ist jeder Betrieb rationell,
der im einzelnen Falle die Erreichung des Zieles am meisten sichert.
Daß sie nur den redlichen wirtschaftlichen Erwerb in ihren Gesichts-
kreis zieht, bedarf der Erwähnung kaum."
Ein paar Sätze aus den Untersuchungen des Werkes selber
mögen in dessen Ergebnisse Einblick gewähren. Die verschiedenen
— 131 -^
Wege, den Reinertrag zu erhöhen, werden in folgenden Formeln
ausgedrückt:
„Man kann den Reinertrag erhöhen, indem man
1. den Rohertrag vergrößert und die Auslagen vermindert;
2. den Rohertrag vergrößert, während die Auslagen gleichbleiben;
3. den Rohertrag und die Auslagen vergrößert, aber den Roh-
ertrag in stärkerem Verhältnisse;
4. den Rohertrag erhält, aber die Auslagen vermindert;
5. den Rohertrag und die Auslagen vermindert, aber die letzteren
in stärkerem Verhältnisse."
Aus der Erörterung der Lohnfragen:
„Eine rechtzeitige freiwillige Lohnerhöhung ist für beide Teile
vorteilhafter, als eine verspätete notgedrungene."
„Wer nach der Arbeitszeit lohnt, wo nach der Arbeitsleistung
gelohnt werden könnte, belohnt Trägheit und Ungeschicklichkeit
gleich hoch wie Fleiß und Geschick . . . (die Stücklohnung) ist
durchführbar bei allen Arbeiten, welche sich in deutlich unterschie-
dene und selbständige Leistungseinheiten teilen lassen."
„Der Grundsatz der Zentralisation überträgt sich auch auf das
Verhältnis des Unternehmers zu den Gehilfen in der Leitung . . .
Die Monarchie ist die ausschließlich berechtigte Verfassungsform in
gewerklichen Unternehmungen . . . (der Unternehmer) muß jeden
selbständig machen in der Exekutive; aber die Legislative muß in
seiner Hand ruhen."
Aus der Erörterung der Kapitalfragen und der Selbstkosten:
„Bei einem neu zu eröffnenden Betriebe ist als Erfordernis für
das erste Rechnungsjahr zu betrachten: der ganze Bedarf für An-
schaffung und ein Teil des Jahreszinses und des Abnutzes des
stehenden Kapitals; von dem Bedarf an umlaufendem Kapital aber
derjenige Teil, den man nicht schon im Rechnungsjahre selbst durch
den Verkauf der Erzeugnisse ersetzt zu erhalten hoffen darf."
„Prima -Qualitäten in Rohstoffen und Hilfstoffen kaufen heißt,
an Rohstoffen und Hilfstoffen sparen."
„Geboten ist (die Selbstherstellung von Geräten usw.) da, wo
die fraglichen Gegenstände dem individuellen gewerklichen Bedarfe
so angepaßt sein müssen, daß nur der Unternehmer selbst sie dem
Zwecke entsprechend herstellen oder unter seiner unmittelbaren Lei-
tung entsprechend herstellen lassen kann . . . Nicht eben geboten,
aber doch zweckmäßig ist es, (diejenigen selbst zu erzeugen,) welche
massenhaft gebraucht werden, sich sehr rasch abnutzen, immer von
neuem vorgerichtet werden müssen und keine besondere Kunst-
— 132 —
fertigkeit bei der Herstellung erfordern . . . Unbedingt zu wider-
raten ist die Selbsterzeugung . . ., wo dieselbe eine von der eigent-
lichen Hauptleistung des Unternehmers ganz verschiedenartige Tätig-
keit erfordern, wo sie die eigentliche Haupttätigkeit ungebührlich
unterbrechen, die Kräfte zersplittern würde."
„Stets und unter allen Umständen ist es verkehrt, von der
Einführung und Anwendung sogenannter arbeitsparender Maschinen
abzusehen mit Rücksicht darauf, daß eine . . . Zahl von . . . Arbeitern
dadurch beschäftigungslos werden könnte ... In der Tat vereinigt
sich das Gewinnstreben des Unternehmers mit allen wahren Hu-
manitätsrücksichten."
Über den Verkauf, den Emminghaus seiner Einteilung zu-
liebe mit unter dem (Geld-)Kapitalerwerb behandelt, und über die
Reklame :
„Außer zu Reklamezwecken in Ausnahmefällen wird der Ge-
werksunternehmer nie die Konkurrenz auf Kosten seines ganzen
Reingewinns unterbieten dürfen . . . Unter keinen Umständen mag
man sich verleiten lassen, an der Qualität des Erzeugnisses, anstatt
am Preise zu verdienen . . . Auch in einer konkurrenzlosen Lage
mag man darauf verzichten, durch Überforderung immer mehr zu
gewinnen ..."
„Das erste Erfordernis einer wirksamen Reklame ist, daf3 sie
auf Menschenkenntnis beruhe, daß sie Eindruck mache." In der
Regel hat „auch die geschicktest gefaßte Anzeige erst bei konse-
quenter . . . Wiederholung Erfolg . . . Vor Großsprecherei, vor über-
triebener Anpreisung, überhaupt vor unwürdiger Behandlung des
Reklame Wesens sollte man sich ernstlich hüten."
Schließlich noch über ein paar Organisationsfragen:
„Gleich rationellen und gleich schwungvollen Betrieb voraus-
gesetzt, muß (beim Großbetrieb) die Rente verhältnismäßig größer
sein als (beim Kleinbetrieb)." „Wo die Fabrik und die Manufaktur
(lies: der Verlag) unter sonst gleichen Bedingungen mit einander wett-
eifern, da . . . kann die Wahl vorteilhaft nur zugunsten des fabri-
kativen Betriebes entschieden werden." „Der Gesellschaftsbetrieb
hat vor dem Einzelbetrieb an persönlichen Annehmlichkeiten und
— gleiche Kapitalkräfte hier w'ie dort vorausgesetzt — auch an
wirtschafdichen Vorteilen durchaus nichts voraus."
Das mag an Stichproben genügen, um einigermaßen die Art,
die Neuzeitlichkeit und die Brauchbarkeit der erzielten Ergebnisse
und daneben das Hineinspielen der volkswirtschaftlichen Lehrsätze
zu kennzeichnen. Es scheint, als wenn Emminghaus' Werk auch
— 133 —
Anregungen von einem etwas älteren französischen des J. C. Co ur-
<:elle-Seneuil empfangen hätte, das unter dem Titel „Theorie und
Praxis des Geschäftsbetriebs in Ackerbau, Gewerbe und Handel",
■deutsch von G. A. Eberbach und mit einem Geleitwort von
F. v. Steinbeis, Stuttgart 1868, in unserer Sprache bekannt wurde.
Dieses will die „bescheidene Aufgabe" lösen, die großen Umrisse
der Volkswirtschaftslehre „im Kleinen durchzuarbeiten und die
Wechselbeziehungen des großen Verkehrs zu dem Geschäfts- und
Lebenskreise des Einzelnen näher darzulegen. Die Verschmelzung
dieser volkswirtschaftlichen Grundsätze mit den Erfahrungen er-
probter Geschäftsleute . . . kann sicherlich den Vorwurf zu einem
nützlichen Buche liefern, in welchem die Regeln des Geschäftslebens
ihre Begründung, Bestärkung und Klärung durch die Wissenschaft
erhalten, und in welchem diejenigen, welche ein selbständiges Ge-
schäft treiben oder beginnen wollen, die leitenden Grundsätze und
eine Richtschnur für ihren Geschäftsbetrieb und das Verkehrsleben
finden mögen."
Courcelle-Seneuil hat also nicht den Ehrgeiz, eine besondere
Erwerbslehre einzuführen, und da er auch gleich drei Erwerbsgruppen
in einem zu erfassen sucht, so sind seine Ausführungen und Ergeb-
nisse vielfach zu allgemein und gerade praktisch, wie er es doch
gewünscht hatte, nicht von der Brauchbarkeit, wie es diejenigen
von Emminghaus in ihrer spezielleren Fassung sind. Er geht
von einer Formel aus, nach der, ähnlich wie bei Emminghaus,
es darauf ankommen muß, den Reingewinn durch eine größtmög-
liche Steigerung des Unterschiedes zwischen dem Rohertrag und
den Kosten zu erzielen und zu erhöhen ; die übrigen Kapitel weisen
dann den Vorteil des Unternehmers mehr im einzelnen nach. Dies
ist die Einteilung des Werkes:
1. Das Geschäft nach seinen inneren Beziehungen: Zweck,
Grundzüge und allgemeine Regeln, persönliche Arbeit des Geschäfts-
herrn, Kapitalverwendung, Kreditverwendung, Verwertung der be-
zahlten Arbeit, Gesellschaftsvertrag und Gesellschaften überhaupt.
2. Das Geschäft nach seinen äußeren Beziehungen: der Tausch-
verkehr und seine Gesetze, Warenabsatz, Handelskrisen, Spekulation,
Selbstkosten und Reingewinn, Grundzüge der Buchführung.
3. Der eigentliche Geschäftsbetrieb: innere Einrichtung und
äußere Grenzen des Betriebes, die Handelsgeschäfte (Einteilung,
Großhandel, Kleinhandel, Übervorteilungen, Ein- und Verkaufskunst,
Mittelspersonen im Handelsverkehr), gewerbliche Unternehmungen
(Übersicht und Einteilung, große und mittlere Gewerbe, Kleingewerbe,
— 134 —
Ausbeutung der Natur und Frachtgeschäft), landwirtschaftliche Unter-
nehmungen, Verhalten in Streitfällen einschließlich der Fallimente,
Geschäftsgründungen.
4. Allgemeine Fragen aus dem Geschäftsleben: Erziehung und
Ausbildung, Verschwendung, Wrhältnis des Geschäftsmannes zum
Arbeiter und Kapitalisten, die Konkurrenz, Urteile über Geschäfte
und Geschäftsleute, der Geschäftsgeist.
Mit den Arbeiten von Lindwurm, Emminghaus und Cour-
celle-Seneuil sind diejenigen Handelsbetriebslehren, die auf volks-
wirtschaftliche Anregungen hin und als Reaktion auf die Einseitig-
keit der Volkswirtschaftslehre entstanden sind, erschöpft. Von da
an ist letztere auf diesem Gebiete ganz unfruchtbar. Daß aus diesen
drei Arbeiten die Handelslehre der Handelsschulen nicht viel schöpfen
konnte, auch wenn sie mehr, als es der Fall gewesen ist, bekannt
geworden wären, leuchtet ein: gerade die beste, die von Emming-
haus, ist zu spezieller, auf den Fabrikbetrieb gerichteter Natur, und
aus den beiden anderen war privatwirtschaftlich nicht genug zu
holen, denn sie waren selber ziemlich stark in der volkswirtschaft-
lichen Betrachtungsweise befangen. Nach diesen wenigen Anläufen
blieb den kaufmännischen Erwerbslehren gegenüber wieder alles so
kühl wie zuvor, und es kam lange Zeit niemandem mehr in den
Sinn, welche zu schreiben.
IV.
Anhang.
A. Die Entstehung der neueren Handelsbetriebslehre.
Schon Marperger und Ludovici forderten, freilich vergeb-
lich, handelswissenschaftliche Lehrstühle an Universitäten. Die For-
derung besonderer Handelshochschulen ist dagegen erst ein Kind
des 19. Jahrhunderts. Lindwurm war es, der sie zuerst für not-
wendig hielt, um die Handelsbetriebslehre zu entwickeln und zu
pflegen; die übrigen Hochschulen hatten ja auch darin versagt.
Aber seine Rufe und die anderer nach Handelshochschulen ver-
hallten ungehört. Die kaufmännische Praxis verhielt sich, wie immer,
durchweg kühl oder gar scharf ablehnend. Auch aus den mittleren
Handelsschulen heraus wollten sich keine Ansätze zur Hinaufent-
wickelung zeigen; das kaufmännische Schulwesen lag lange Zeit
in fast hoffnungsloser Erstarrung.
Und doch war es schließlich dessen letzter Zweig, die kauf-
männische Fortbildungsschule, deren Bedürfnisse zur Errichtung von
Handelshochschulen und zu einer neuen Blüte der Handelsbetriebs-
lehre, der privatwirtschaftlichen Forschung überhaupt, geführt haben.
Seit 1890 etwa wuchs das kaufmännische Fortbildungsschulwesen
an Umfang und Bedeutung durch die ausgedehnte Einführung des
Schulzwanges für die Handlungslehrlinge, und zugleich wollten die
Lehrlingsschulen an innerem Werte durch eine Umgestaltung des
Unterrichts, vor allem durch eine stärkere Betonung der Handels-
fächer, gewinnen. Damit war jedoch die Frage der Handelslehrer-
beschaffung und -Ausbildung brennend geworden, eine Frage, die
offenbar nur durch die Schaffung eines akademischen Bildungs-
ganges befriedigend gelöst werden konnte. Sie traf sich mit der
Frage der Handelshochschulbildung für Kaufleute selber, die all-
mählich fühlbarer geworden war, und so kam es denn schon bald,
1898, in Leipzig zu der ersten deutschen Handelshochschulgründung,
der dann noch mehrere andere folgten.
Die genannten Schulfragen, die Handelshochschulfrage einge-
geschlossen, hatten vor allem durch den 1895/96 ins Leben ge-
— 136 —
rufencn Deutschen \'erband für das Kaufmännische Unterrichts-
wesen, der von Anfang an unter der Leitung des Braunschweiger
Handelskammersyndikus Dr. R. Stegemann gestanden hat, die
tatkräftigste Förderung erfahren. U. a. hatte R. Ehrenberg im
Auftrage des Verbandes eine Umfrage über die Stellung der be-
teiligten Kreise zur Handelshochschule veranstaltet'), in der bereits
die Frage der Handelsbetriebslehre — diese Bezeichnung wurde so-
gleich gewählt — als Hochschul fach angeschnitten wurde, und, an-
geregt durch diese Umfrage, brachte der Nationalökonom V. Böh-
mert zum Leipziger Verbandskongreß von 1897 eine Denkschrift 2)
heraus , in der unter Hinweis auf einige historische Bestrebungen
in der Handelshochschulfrage auch die Handelsbetriebslehre fauf
der Grundlage des von Lindwurm und Emminghaus Geschaf-
fenen) eingehender besprochen und dringend der Beachtung emp-
fohlen wurde. Außerdem befürwortete er eine Handelsmorallehre
neben der Handelsbetriebslehre.
Aber die privatwirtschaftliche Forschung und das System der
Handelsbetriebslehre, das die übrigen kaufmännischen Unterrichts-
anstalten von der Handelshochschule erwarteten, blieben zunächst
noch problematisch, ließen sich naturgemäß auch nicht übers Knie
brechen. Aber deswegen ruhten diese Fragen doch nicht. Das
beweist ein Preisausschreiben des D. \\ f. d. K. U. , das folgenden
Wortlaut hatte:
„Wie ist die Handelsbetriebslehre (die Lehre von der Einrich-
tung und Führung eines Handelsgesch-äfts) zur selbständigen Be-
deutung zu erheben und in die natürliche Verbindung mit den
übrigen kaufmännischen Unterrichtsfächern zu bringen ?
Wie ist der Lehrstoff einzuteilen, und welche Methode erweist
sich als besonders zweckmäßig?"
Aus dieser Frageverknüpfung geht die Ungeduld in den Handels-
schulkreisen hervor, die teilweise schon jetzt im Sinne der zu er-
wartenden neuen Lehre bemüht waren, den Schülern den betriebs-
mäßigen Zusammenhang geschäftlicher Tatsachen zielbewußter und
eingehender als bisher zum Verständnis zu bringen''). Das Ergebnis
des Ausschreibens war nun in den Hauptbeziehungen negativ, indem
nur eine der beiden Antworten darauf zur Veröffentlichung an-
1) Ehrenberg, Handelshochschulen, I und II, Bd. 3 u. 4 der Veröff, des
D, V. f. d. K. U.
2) Böhmert, Handelshochschulen, Dresden 1S9T,
3) Durch die sog. Konzentration des Fachunterrichts an Stelle der allmählich
zu scharf ausgeprägten Auflösung in Einzelfächer.
— 137 —
genommen werden konnte und auch diese nur zu der Feststellung
gelangte, daß es nicht auf die Schaffung einer Handelsbetriebslehre
(d. h. einer Privatwirtschaftslehre der reinen Handelsunternehmungen,
anders könne sie nicht aufgefaßt werden) allein ankomme, sondern
auf den Ausbau einer weit umfassenderen Einzelwirtschaftslehre.
Diese Arbeit ist von L. Gomberg und ist unter dem Titel „Handels-
betriebslehre und Einzelwirtschaftslehre " als 26. Band der Verbands-
veröffentlichungen 1903 erschienen. Sie bildet den Auftakt zu den
jetzt immer zahlreicheren Arbeiten nicht nur zur Handelsbetriebs-
lehre im engeren Sinne, sondern zu der privatwirtschaftlichen
Forschung unserer Tage überhaupt. Der Anteil der Volkswirt-
schaftslehre an ihr geht wohl zur Hauptsache auf Ehrenbergs
Bestrebungen zurück, den wir schon um die Gründung unserer
ersten Handelshochschulen bemüht sahen. Es ergibt sich somit
die eigentümliche Tatsache, daß letzten Endes die Bedürfnisse der
so lange vernachlässigten Handelsschulen untersten Grades, nämlich
der kaufmännischen Fortbildungsschulen, auf dem Wege über den
Deutschen Verband für das kaufmännische Unterrichtswesen und
der ihm nahestehenden Kreise unsere moderne Privatwirtschafts-
forschung ausgelöst haben.
Nach Gomberg sind die Wirtschaftswissenschaften in eine all-
gemeine Wirtschaftslehre und in die ihr nachgeordneten, unter sich
aber gleichwertigen Wissenschaften der Volkswirtschaftslehre und
der Einzelwirtschaftslehre einzuteilen. Die letztere hat es nicht nur
mit den einzelnen Privat-, sondern auch mit den einzelnen Gemein-
wirtschaften (als solchen, wie als Konkurrenten jener) zu tun. Sie
zerfällt in die Lehren einer Reihe von Sondergebieten, deren eine
die Handelsbetriebslehre als Lehre vom Betriebe der reinen Handels-
unternehmungen ist. Sie soll „die Grundsätze der rationellen Or-
ganisation und Verwaltung der Handelsunternehmungen lehren",
soll forschend sowohl als kunstlehrend sein. Im allgemeinen hat
sie nach G., wie die ganze Einzelwirtschaftslehre, mit der Volks-
wirtschaftslehre nichts zu tun. Indem er aber die Möglichkeit einer
Handelskunde neben der Handelsbetriebslehre zugibt, und indem er
in der Handelslehre oder Handelswissenschaft eine sowohl volks-
als einzelwirtschaftliche Disziplin als denkbar anerkennt, räumt er
doch auch wieder ein, daß die Volkswirtschaftslehre und die Einzel-
wirtschaftslehre nach der Natur ihrer Forschungsgebiete nicht gar
zu scharf getrennt werden können.
Es ist immer gewagt, im voraus bestimmen zu wollen, wie
sich eine Wissenschaft einmal gliedern und aufbauen soll. In der
— 138 —
Tat sind denn auch die späteren Arbeiten andere Wege gegangen
und haben besonders nicht Gombergs „Schema einer Einzelwirt-
schaltslehre", in dem übrigens die private Verbrauchswirtschaft
übersehen worden ist, akzeptiert. Vor allem ist aber in der Lite-
ratur bisher noch niemand an die Einzehvirtschaftslehre als Ganzes
herangetreten; von dem Plane einer „Verrechnungswissenschaft",
ihrem dritten Teile (nach der Wirtschaftskunde und Wirtschafts-
betriebslehre), dem Gomberg später noch ein umfangreiches Werk
für sich gewidmet hat'), gilt dasselbe. Letztere steht und fällt mit
der Behauptung, daß die „Schätzungs- oder Taxationslehre " ihr
Hauptteil ist. Ich halte sie jedoch für einen Bestandteil der Spe-
kulations-, also der Betriebslehre selber. Außerdem möchte ich der
Abzweigung und Verteidigung dieser „Wissenschaft" gegenüber
auf die schon oben beiLeuchs zitierten Worte Raus -j noch ein-
mal hinweisen, die dieser gegen die Konstruktion einer besonderen
Staalshandlungsvvissenschaft gerichtet hat;
„Man muß gestehen," so sagt er, „daß die Deutschen ein
wenig zu geneigt sind, neue Wissenschaften aufzustellen. Es ist
durchaus verwirrend, wenn man schon jede zusammenhängende
Bearbeitung eines Gegenstandes, der sonst in dem Gebiet mehrerer
W^issenschaften zerstreut vorkommt, als eine eigene Wissenschaft
gelten lassen will, denn solcher Kombinationen und Zusammen-
stellungen muß es eine unendliche Menge geben. Die Verbindung
mehrerer Gesichtspunkte behält ihr Nützliches, wenn man auch sich
bewußt bleibt, daß sie nicht ein organisches Ganze ist und auf keinen
Gesamtnainen Anspruch hat."
Diese Worte mögen auch gegenüber übertriebenen Absonde-
rungsbestrebungen der Privat- von der Volkswirtschaftslehre gelten
und natürlich vor allem gegen eine zu starke Isolierung von Teil-
gebieten im Rahmen dieser Hauptfächer.
B. Ihre Hauptwerke.
Nachdem seit Gomberg die ganze Frage der Handelsbetriebs-
lebre wenigstens äußerlich ein paar Jahre geruht hatte.^), sind nun
1) Gomberg, Grundlegung der Verrechnungswissenschaft, Leipzig 1907.
2) In seinem mehrfach genannten Artikel bei Ersch und Gruber.
3) Ich sehe dabei von der weniger auffallenden, aber für die ganze Entwicke-
lung des neuen Zeitalters der Handelsbetriebslehre sehr wichtigen Gründung unserer
beiden rein handelswissenschaftlichen Zeitschriften ab; seit 1906 gibt E. Schmalen-
bach in Köln die „Zeitschrift für handelswissenschaftliche Forschung" heraus und
seit 1908 erscheint (von mehreren) die „Zeitschrift für Handelswissenschaft und
I
— 139 —
in den letzten Jahren nicht weniger als vier bedeutendere Veröffent-
lichungen dazu erfolgt, nämlich das „System der Welthandelslehre"
von J. Hellauer, Berlin 1910, die „Allgemeine Handelsbetriebs-
lehre" von J. F. Schär, Berlin 1911, die „Grundlegung und Syste-
matik einer wissenschaftlichen Privatwirtschaftslehre" von M. Weyer-
mann und H. Schönitz, Karlsruhe 1912, und schließlich noch die
„Allgemeine kaufmännische Betriebslehre als Privatwirtschaftslehre
des Handels (und der Industrie)" von H. Nicklisch, Leipzig 1912.
Hell au er s Werk stellt einen Höhepunkt in der Entwickelung
der privatwirtschaftlich gerichteten Handelskunde da, die vor allem
in Österreich seit R. Sonndorf ers „Technik des Welthandels, ein
Handbuch der Internationalen Handelskunde", Wien 1889, gepflegt
worden ist. Arbeiten dieser Art, noch dazu in so fleißiger Durch-
führung, sind für die wissenschaftliche Entwickelung der Handels-
fächer ebenso notwendig wie förderlich. Für die Handelsbetriebs-
lehre im besonderen bedeutet eine Handelskunde so, wie sie Hel-
lauer auffaßt, eine willkommene Entlastung dadurch, daß sie ein
nach der Volkswirtschaftslehre hinüberneigendes Grenzgebiet privat-
wirtschaftlich behandelt. Die in diesem Buche positiv geleistete
Arbeit der Sammlung, Sichtung und Gliederung und systematischen
Darstellung des Stoffes, den ich bisher hauptsächlich als handels-
kundlich bezeichnet habe, ist sein großes Hauptverdienst. Daneben
ist es erfreulich, wie scharf in ihm betont wird, daß nur der Stand-
punkt „der einzelnen Wirtschaftseinheit" für die „Welthandelslehre"
maßgebend zu sein hat, nachdem fast alle bisherigen Versuche,
die Handelskunde wissenschaftHch zu gestalten, daran gescheitert
sind, „daß die betreffenden Autoren sich auf das Gebiet der Volks-
wirtschaftslehre verloren haben"'. Auch die Notwendigkeit der
Arbeitsteilung auf dem Gebiete der Handelswissenschaft unterstreicht
Hellauer mit vollem Recht.
Dem Wunsche Heilau ers, die „Welthandelslehre" als „selbst-
ständige, besondere Wissenschaft" anerkannt zu sehen, kann man
die oben zitierten Worte Raus entgegenhalten. Auch seine Glie-
derung des Gesamtgebietes der Handelswissenschaften ^) ist anfecht-
bar und zwar dadurch, daß er die „Kontorlehre" (Sammelbegriff
für Buchhaltungslehre, Korrespondenz und kaufmännisches Rechnen)
Handelspraxis". Auch von den zahlreichen Spezialarbeiten in Buchform, die seit
einigen Jahren zur Handelsbetriebslehre erschienen sind, muß in diesem Anhang
abgesehen werden.
1) Schon in seinem „Versuch einer Gliederung der Handelswissenschaften als
Hochschuldisziplinen" Z. f. d. g, kfm. U. X, Nr. 8, aufgestellt.
— 140 —
mit der „Lehre von der Betriebsorganisation" (^ I landelsbetriebs-
lehre) zu einer der „I landelsichre" 'Sammelbegriff der einzelnen
llandelskundcn) gegenüberstehenden „kaufmännischen Betriebslehre"
zusammenfaßt. Die Kontorlehre, also die technischen Fächer, sollten
m. E. ganz für sich bleiben. Diese i\usstellungen sind jedoch so
geringfügig, daß man trotz ihrer der Vollendung des vorliegenden
ersten Teiles der „Allgemeinen Welthandelslehre" und der weiter in
Aussicht stehenden „Speziellen" mit Vergnügen entgegensehen darf.
Weniger glücklich, als diese erste durch die jüngste Entvvicke-
lung getragene wissenschaftliche Handelskunde war die aus der-
selben heraus entstandene erste systematische Handelsbetriebslehre,
die von Schär. Zunächst liegt freilich auch hiervon nur ein Teil
vor, nämlich das erste Stück einer ..Allgemeinen Handelsbetriebs-
lehre". In ihm soll gezeigt werden, wie die allgemeinen Betriebs-
grundsätzc aus einem vorangestellten Handelsbegriff abzuleiten sind,
und „wie sich der Handelsbetrieb unter dem Einfluß der Entwicke-
lungstendenzen des Wirtschaftslebens gestaltet". Ein schon ange-
kündigter zweiter Teil soll sodann die einzelnen Betriebsfaktoren
und die Hauptbetriebsformen usw. behandeln.
Mit seinem grundlegenden Handelsbegriff bekennt sich Schär
zu Voraussetzungen seiner Arbeit, die durchaus fehlerhaft sind.
Er will „den Handel von dem Makel der Gewinnsucht reinigen, zu
einem nützlichen Glied im wirtschaftlichen Organismus ausgestalten,
ihn ethisch vertiefen bezw. auf den Weg von Treu und Glauben
lenken," weil „das privatwirtschaftliche Motiv des Handels und das
volkswirtschaftliche sich nicht widersprechen, sondern geradezu zu-
sammenlaufen," und weil es dem einzelnen Träger des Handels
„nur in dem Maße dauernd gelingen wird, den von ihm gesetzten
privaten Zweck dauernd zu erreichen, als er sich dem volkswirt-
schaftlichen Prinzip unterordnet, bezw. im Wirtschaftsorganismus
nützliche und notwendige Arbeit verrichtet." Darum fordert Schär
auch, daß die Lehrsätze der Handelsbetriebslehre „mit denen der
Volkswirtschaftslehre nicht in Widerspruch geraten dürfen" usw.
Eine Verteidigung des Handels (lies: der kaufmännischen Er-
werbstätigkeit) gegen die damit bekundeten ^Anschauungen ist nicht
meine Sache. Aber gegen die Verwässerung der Privatwirtschafts-
lehre mit ethischen Werturteilen und gegen ihre bedingungslose
Abhängigmachung von der Volkswirtschaftslehre muß doch der
schärfste Widerspruch erhoben werden, noch dazu, wenn sie, wie
eben bei Schär, hauptsächlich als bloße Kunstlehre aufgefaßt wird,
die die Aufgabe hat, „Anleitung zu geben, wie man ein kauf-
— 141 —
männisches Geschäft einrichten und führen muß". Mit diesem
Widerspruch haben wir nicht nur das Zeugnis und die Meinung
von Ludovici, Leuchs und anderen älteren Schriftstellern auf
unserer Seite, sondern auch die klaren Äußerungen von R a u ,
Emminghaus und zuletzt noch Heilauer und Nicklisch, die
alle eine Wirtschaftslehre mit dem Mittelpunkt des rein privaten
Gewinnstrebens für notwendig und möglich halten. Ich sehe dabei
ganz ab von den Wissenschaftlern, die den Privatwirtschaftslehren
nur gelegentlich ein Wort gewidmet haben oder die, wie Lind-
wurm, keinen ungeteilten Beifall für ihr Schaffen finden konnten.
Es ist doch wohl so, daß die Wirtschaftswissenschaften und
zwar sowohl die Privat- wie die Volkswirtschaftslehre, zunächst
gar keine Kunstlehren, sondern untersuchende und darstellende, ab-
strahierende und systematisierende Wissenschaften zu sein haben,
auf denen sich erst ihre Kunstlehren aufbauen. Zu dem Zwecke
aber müssen sie die Dinge erst einmal so sehen, wie sie wirklich
sind, und der Blick des Forschers darf dabei keinesfalls durch
ethische Werturteile und vorgefaßte Meinungen getrübt werden. Die
wirtschaftswissenschaftliche Arbeit darf nur wirtschaftswissenscliaft-
liche Wege gehen und ebensolche Ziele haben. In der Volkswirt-
schaftslehre ist der Endzweck zunächst die Feststellung des Allge-
meingültigen der volkswirtschaftlichen Massen- und Verkehrserschei-
nungen, in der Privatwirtschaftslehre dagegen desjenigen der privaten
Erwerbs- und Haushaltungsmaßnahmen. Dann trennen sich die
bis dahin ähnlichen Wege beider Fächer sehr scharf, weil sich die
volkswirtschaftliche Kunstlehre, das ist die Volkswirtschaftspolitik,
nach den Erfordernissen des Gemeinwohls, also sehr wesentlich
nach sittlichen Grundsätzen zu richten hat, während z. B. für die
kaufmännischen Erwerbslehren nur die eine Frage in Betracht
kommt, wie unter den gegebenen wirtschaftlichen Verhältnissen mit
den vorhandenen Mitteln dauernd der höchstmögliche Reingewinn
hereingebracht werden kann.
Andere als wirtschaftliche Überlegungen können gar nicht zu
den Aufgaben der Privatwirtschaftslehren gehören ; will man auf
sie nicht verzichten, dann mag man sie in einen Anhang verweisen.
Eine Handelsbetriebslehre braucht nicht zugleich eine Wirtschafts-
und eine Morallehre zu sein, und es ist geradezu eine ihrer be-
rechtigten Eigentümlichkeiten, in der „Gewinnsucht" des Kaufmanns
keinen „Makel" zu erblicken. Der individuelle Gewinnzweck ist
nicht neben-, sondern hauptsächlicher Natur in ihr. Die Handels-
betriebslehre hat nur die wirtschaftliche Vollkommenheit, nicht auch
— 142 —
die volkswirtschaftliche Berechtigung von kautinännischen Betrieben
zu untersuchen; denn sie ist eben nicht so sehr ein Teil der Volks-
wirtschaftslehre, wie Schär meint, als vielmehr ihre Ergänzung,
die zu ganz eigentümlichen, nicht von jener erst diktierten Lei-
stungen berufen ist. Wenn es anders wäre, Ijrauchte man sie ja
auch gar nicht.
Übrigens hat Schär in dem Teile seiner Handelsbetriebslehre,
der bisher vorliegt, nicht den Beweis für die Notwendigkeit seines
vorweg konstruierten Handelsbegriffes erbracht; denn er hat die
große Menge seiner für den weiteren Ausbau der Handelsbetriebs-
lehre tatsächlich brauchbaren Feststellungen entweder ganz ohne
dessen Zuhilfenahme gewonnen, oder er hätte sie doch ohne ihn
ebenso gut gewinnen können. So kommt er jedoch unnötig oft in
das Fahrwasser der Volkswirtschaftslehre oder bleibt in handels-
kundlichen Stoffen stecken, die von Hei lau er schon vorher in an-
derer Weise, aber glücklicher behandelt sind. Übrigens ist Schars
Arbeit auch gar keine Kunstlehre, wie man nach seinen Erklärungen
erwarten müßte, sondern hauptsächlich eine untersuchende und syste-
matisch darstellende Arbeit, was sie ja auch im Grunde sein sollte.
Schars Arbeit hätte weniger Widerspruch zu begegnen brauchen,
wenn er den Begriff „Handel" etwa auf den Umfang des Waren-
handels beschränkt hätte. Was Heilauer von einer alles um-
fassenden Handelslehre sagt, nämlich daß sie ein „Monstrum ohne
innerliches systematisches Gefüge" bleiben müßte, das dürfte auch
von einer Handelsbetriebslehre gelten, -die die Warenhandlungen,
Fabriken, Banken, Versicherungen, Transportanstalten usw. usw. auf
einmal umfassen will. Indem sich Schär in dieser Beziehung zu-
viel auf einmal vornimmt, ist er nicht nur leichter der Versuchung
unterlegen, den Abstand von der Volkswirtschaftslehre nicht ge-
nügend zu wahren, sondern er hat damit auch auf speziellere und
damit praktisch brauchbarere Ergebnisse verzichten müssen. Eine
Arbeitszerlegung, nach der jeder Mitarbeiter in einem Ausschnitte
in den aufzuarbeitenden Stoff einzudringen sucht, unbekümmert
darum, ob später einmal eine einzige Betriebslehre aus den ein-
zelnen Ergebnissen zusammengeschweißt werden kann, ist für un-
sere Forschungen heute noch das erste ökonomische Gebot.
Schär hat auch eine weitgehende Gliederung des Gebietes der
gesamten Handelswissenschaften vorgenommen i), auf deren Be-
sprechung hier aber ebenso wie auf die von Weyermann-Schö-
1) Zuerst dem Danziger Kongreß des D. V. f. d. K. U. vorgelegt und dann der
„Allgemeinen Handelsbetriebslehre" vorangestellt.
— 143 —
nitz verzichtet werden kann. Die letztgenannten Verfasser be-
mühen sich um die Handelsbetriebslehre (mit dem von ihnen ge-
brauchten Ausdruck „Privatwirtschaftslehre" müßten sie von Rechts
wegen die Haushaltungen ein- und die Staatsbetriebe ausschließen)
etwa so, wie seinerzeit Gomberg in seinen genannten Werken
um die „Verrechnungswissenschaft" und „ Einzelwirtschaftslehre ",
indem sie eben nur eine Grundlegung und Systematik liefern
wollen. Abgesehen davon, daß sie bis zu diesem selbst ge-
steckten Ziele gar nicht einmal vordringen, wandeln sie leider
auch, wenngleich weniger scharf ausgesprochen, in den Bahnen
Schars, indem sie die Privatwirtschaftslehre als einen Teil der
Volkswirtschaftslehre auffassen und damit auch in jener gewisse
volkswirtschaftlich-politische, also nicht hineingehörende Forderungen
berücksichtigt wissen wollen. Zwar unterscheiden sie die beiden
Seiten der wissenschaftlichen Arbeit, nämlich die des Untersuchens
und systematischen Darstellens von der erst aus diesen Ergebnissen
abgeleiteten Aufstellung von Kunstlehren, aber über Gomberg und
Schär führen sie im allgemeinen nicht hinaus.
Wie bei Gomberg, so muß man auch hier bedauern, daß
statt der Erörterungen, wie eine noch nicht vorhandene Wissen-
schaft gestaltet werden könnte, nicht kurzerhand eine praktische
Ausführung erfolgte. Hoffentlich holen die Verfasser das noch nach,
aber ohne auf die Abwege Schars zu geraten.
Nun das Buch von Nick lisch. Es beginnt mit einigen syste-
matologi'chen Erörterungen und kommt zu folgender Übersicht der
„ Privatwirtschaftswissenschaft" :
Privatwiitschaftswissenschaft
Privatwirtschaftslehre Privatwirtschaftspolitik Privatwirtschafts-
(streng wissenschaftl. Disziplin) (Kunstlehre) geschichte
Handelslehre Kaufm. Betriebslehre Verkehrs- Betriebs-
(Tatsachen usw. (Tatsachen usw. technik technik
zwischen den innerhalb des
einzelnen Wirtschaften) Betriebes derEinzelwirtschaft)
Wie bei Weyerm ann-Schönitz wird auch hier das Stoff-
gebiet enger gefaßt, als der Name „Privatwirtschaft" besagt. Offen-
bar sollen nur die Unternehmungen in dem mitgeteilten Schema
gemeint sein. Ebenso dürfte die „ Privatwirtschaftslehre " hier nur
der Sammelname für ihre Unterabteilungen der „Handelslehre" und
„kaufmännischen Betriebslehre" sein sollen, erstere dabei wohl im
Sinne He Hauers, letztere dagegen mit der Privat Wirtschaftspolitik
zusammen als unsere Handelsbetriebslehre aufgefaßt.
— 144 —
Währnul licl lauer m. K. mit Kccht für eine schärfere Spe-
zialisierun«,' nach Stoffgebieten eintritt, scheint Nick lisch darin
nicht so weit gehen zu wollen. So soll sich — und das ist eine
Annäherung an Schär — auch bei ihm die Privatwirtschaftslehre
des Handels nicht auf diejenigen Wirtschaften beschränken, die
ausschließlich oder überwiegend Handel treiben, „sondern es sollen
alle Wirtschaften getroffen sein, die überhaupt Handel treiben und
soweit sie es tun, ob ausschließlich oder nebenher, ob regelmäßig-
oder ausnahmsweise". Ich sollte meinen, daß wohl Hell au er in
seiner „Welthandelslehre " die gesamte Warenhandelstätigkeit er-
fassen mußte, daß sich aber eine analoge Handelsbetriebslehre so
ähnlich wie die Schär sehe wiederum eine zu große, heute wenig-
stens noch zu große Aufgabe stellt. Eine besondere Fabrik- und
eine besondere Bankbetriebslehre neben der Warenhandelsbetriebs-
lehre ist nicht nur leichter, sondern auch mit mehr positivem Nutzen
für Wissenschaft und Praxis zu schreiben. Wenn bei Nick lisch
die Mängel der Gesamtbehandlung allerdings nicht gar zu stark
zu Tage treten, so liegt das wohl daran, daß er die Betriebsstatistik^
also ein überall ziemlich gleichartiges Moment, ganz besonders be-
rücksichtigt und, wo die Zusammenfassung zu keinen lohnenden
Ergebnissen führen würde, die Besonderheiten der einzelnen Unter-
nehmungsgruppen mit Recht auch je für sich erörtert.
Der vorliegende Teil der Nick lisch sehen Gesamtarbeit be-
handelt nur die „Organisation des Vermögens" der Unternehmungen,
während „von den Kräften" in eineru späteren Bande gehandelt
werden soll. Die jenem Teile entsprechende Privatwirtschaftspolitik
oder -Kunstlehre wird häufig mit eingeflochten, da nach des Ver-
fassers Meinung eine Trennung bei dem heutigen Stande noch nicht
möglich ist. Ich glaube, letztere ist auch gar nicht so nötig, wie
wir ja auch an den entsprechenden Teilen der speziellen Volkswirt-
schaftslehre die jeweils anschließende Erörterung der politischen
Maßnahmen gewöhnt sind ^). Leider ist bei Nicklisch die Kunst-
lehre noch nicht so ausgearbeitet, wie die systematischen Darstel-
lungen selber, die allerdings hier und da auch teils etwas zu eilig,
teils reichlich abstrakt geschrieben sind.
Nichtsdestoweniger ist das Buch unzweifelhaft ein großer Fort-
schritt gegenüber dem von Schär. Die präzise Schreibart und die
ausgiebige Verwendung von betriebsstatistischen Untersuchungen
1) Schon Sa Vary und Ludovici haben uns gezeigt, daß sich die Darstellung
des Tatsächlichen mit der Empfehlung des Wünschenswerten und Nötigen sehr gut
verknüpfen läßt.
— 145 —
beweisen das schon äußerlich. Es kommt hinzu, daß Nicklisch
es ablehnt, volkswirtschafdiche Betrachtungen anzustellen, und natür-
lich auch nicht daran denkt, die Praxis Moral zu lehren. Bei Schär
zu weite Fassung des Begriffes Handel, Befangenheit in der An-
schauung, daß die Triebfeder des Handels eine tadelnswerte „Ge-
winnsucht" sei, die wissenschaftlich unbeachtet bleiben oder ausge-
merzt werden müsse, und zu viel bloß handelskundliche Theorien
— bei Nicklisch dagegen auch wohl ein noch zu weitgefaßtes,
aber doch schon etwas eingeschränktes Stoffgebiet, Vermeidung
aller anderen Gesichtspunkte als des des kaufmännischen Gewinn-
strebens : das sind etwa die Hauptmerkmale, nach denen mir scheint,
daß die Zukunft nur dem von Nicklisch eingeschlagenen Wege
recht geben wird. Außerdem deutet der unbestrittene, große Erfolg
der Hellauerschen Arbeit und der unter Schmalenbach ent-
standenen oder von ihm herausgegebenen Einzeluntersuchungen in
dieselbe Richtung, und unsere alten Freunde Savary, Ludovici,
Leuchs und Emminghaus, um nur die bedeutendsten Autoren
zu nennen, stimmen uns ebenfalls zu.
C. Schlußwort.
Es ist gewüß nicht zu befürchten, daß die heutige Handels-
betriebslehre das Schicksal der alten Handlungswissenschaft er-
leiden wird. Vielmehr als früher sind es jetzt die Kaufleute selber»
die in wachsendem Maße kaufmännischen Betriebslehren das Wort
reden, indem sie zum mindesten ein bewußt systematisches und wohl-
organisiertes Handeln und Verfahren in allen praktischen Verhält-
nissen für notwendig halten und mehr und mehr für große Unter-
nehmungsleiter auch eine hochschulmäßige Ausbildung außer der
Praxis verlangen. Und mit der Praxis drängt auch die Handels-
schule auf diesem Wege voran.
Außerdem ist es der iungen und doch in ihren Anfängen so
außerordentlich weit zurückreichenden Handelsbetriebslehre sehr
förderlich, daß die Volkswirtschaftler ihrer Entwickelung durchweg
freundlich gegenüberstehen. Insoweit sie ihr gegenüber noch eine
abwartende und kritische Haltung einnehmen, kann das für ihre
Jünger nur ein Ansporn zu erhöhten Leistungen sein und ferner
eine Warnung vor Übertreibungen (wie in den Abgrenzungsfragen)
und vor Abirrungen von dem Wege, auf dem allein sie zu eigentüm-
lichen Leistungen gelangen kann (ich verweise auf die Verwechse-
lung ihrer Ziele mit denen der Volkswirtschaftslehre und der Moral-
lehre).
Zeitschrift für die ges. Staatswissensch. Ergänzungsheft 49. 10
— 146 —
Die Handelshochschullehrer selber und überhaupt der große
Kreis der heute handelsliterarisch Tätigen, dem die wissenschaft-
liche Vertiefung der Mandelswisscnschaft obliegt, lassen es ja an
Ernst und Eifer in keiner Beziehung fehlen, so daß die Zeit nicht
mehr fern zu sein scheint, wo ihr die volle Anerkennung als not-
wendiger und nützlicher Zweig der Wirtschaftswissenschaften zuteil
wird, und wo die gegenseitige Befruchtung von Handelsbetriebslehre
und kaufmännischer Praxis ebenso selbstverständlich geworden ist,
wie heute schon das Hand-in-Hand-Arbeiten der Landwirtschaft und
der Technik mit ihren Wissenschaften. Auf den Weg zu solchen
Zielen möchte ich der Handelsbetriebslehre diese Geschichte ihrer
bisherigen Literatur mitgegeben haben.
)m7
Inhalt.
Seite
Einleitung 1
I. Vorläufer der systematischen Versuche.
A. Allgemeines 4
B. Italienische Arbeiten bis Ende des 17. Jahrhunderts 6
C. „Le parfait negociant" des J. Savary 12
D. Die deutsche Fachliteratur bis zum ausgehenden 17. Jahrhundert , 23
E. Paul Jakob Marperger und seine Zeitgenossen 36
II. Systematische Versuche unter der Kameralwissenschatt.
Ai Kameralistische Anfänge der Privatwirtschaftslehre 46
B. Das „Kaufmanns-System" des C. G. Ludovici und seine „Anfangs-
gründe der Handlungswissenschaft" 52
C. Der „Versuch" von J. K. May 67
D. Das „Lehrbuch" von J. H. Jung 72
E. Das „System des Handels" von J. M. Leuchs 75
F. Sonstige Arbeiten von Ludovici bis auf Leuchs 94
III. Die Verflachung der Handlungsvvissenschaft zur Handelslehre.
Ä. Ihre Ursachen , . , 111
B. Die Entstehung der Handelslehre seit J. G. Busch . 116
C. Vereinzelte Handelsbetriebslehren um die Mitte des 19. Jahrhunderts 123
IV. Anhang.
A. Die Entstehung der neueren Handelsbetriebslehre . 135
B. Ihre Hauptwerke 138
C. Schlußwort 145
10^
IM^
/^ ZEITSCHRIFT
FÜR DIE GESAMTE
STAATSWISSENSCHAFT
In Verbindung mit
Oberbürgermeister a. D. Dr F. ADICKES in Frankfurt a. M., Prof. Dr G. COHN in
Göttingen, Ober-Verw.-Ger.-Rat Prof. Dr F. v. MARTITZ in Berlin, Kaiserl.
Unterstaatssekretär z. D. Prof. Dr G. v. MAYR in München, Prof. Dr A. VOIGT
in Frankfurt a. M., Wirkl. Geh. Rat Prof. Dr A. WAGNER, Exz., in Berlin,
Dr Freiherr v. WEICHS Ministerialrat am k. k. Handelsministerium in Wien
HERAUSGEGEBEN "
VON
Dr K. BÜCHER,
o. Professor an der Universität Leipzig.
Ergänzungsheft L.
Konzentration der Güterschiffahrt auf der Elbe.
Von
Dr. Erich Pleißner.
Mit 5 Diagrammen im Text.
TÜBINGEN
VERLAG DER H. LAUPP'SCHEN BUCHHANDLUNG
1914.
Konzentration
der Güterschiffahrt
auf der Elbe.
Von
Dr. Erich Pleißner.
Mit 5 Diagrammen im Text.
TÜBINGEN
VERLAG DER H. LAUPP'SCHEN BUCHHANDLUNG
1914.
.^/
ALLE RECHTE VORBEHALTEN.
DRUCK VON H. LAUPP JR IN TÜBINGEN.
V
Inhalts-Uebersicht.
Seite
Einleitung i
I. Abschnitt: Der Güterverkehr auf der Elbe als Gegen-
stand der Organisation.
1. Kapitel: Umfang und Entwicklung des Frachtverkehrs auf
der Elbe 5
2. Kapitel: Entwicklung der Eibflotte 27
II. Abschnitt: Organisation der Einzelunternehmungen.
1. Kapitel: Wesen der gewerblichen Einzelunternehmung . 40
2. Kapitel: Die Kleinschiffahrt 43
i) Das Wesen des Kleinbetriebes 43
2) Umfang und Entwicklung des Kleinbetriebes 48
3) Wirtschaftliche Lage und Stellung des Kleinbetriebes in der
Gesamtschiffahrt cg
3. Kapitel: Die Großschiffahrt 87
i) Wesen und Umfang des Großbetriebes 87
2) Entwicklung der einzelnen Großbetriebe 91
a) Prager Dampf- und Segelschiffahrtsgesellschaft .... 91
b) Vereinigte Hamburg-Magdeburger Dampfschiffahrts-Komp. 92
c) Neue Norddeutsche Flußdampfschififahrtsgesellschaft . . 97
d) Elbschiffahrts-Gesellschaft 99
e) »Kette«, Deutsche Kettenschleppschiffahrts-Gesellschaft . 100
f) Oesterreichische Nord-West-Dampfschiffahrts-Gesellschaft 113
g) Vereinigte Elbschiffahrts-Gesellschaft en 122
h) Deutsch-Oesterreichische Dampfschiffahrtsgesellschaft . . 132
i) »Elbe«, Dampfschiffahrts-Aktiengesellschaft 134
k) Neue Deutsch-Böhmische Dampfschiffahrtsgesellschaft . 136
3) Zusammenfassende und vergleichende Darstellung der Groß-
schiffahrtsbetricbe 137
Zeitschrift für die ges. Staatswissensch. Ergänzungsheft 50.
— VI —
Seite
III. Abschnitt: Die wirtschaftlichen Vereinigungen und
Kartelle in der Eibschiffahrt.
1. Kapitel: Die wirtschaftlichen Vereinigungen der Klein-
schiffahrt «47
i) Entwicklung des Verbandsgedankens bis zum Jahre 1903 . 147
2) Die >Privatschiffer-Transport-Genossenschaft< 158
2. Kapitel: Die Kartellbestrebungen in der Großschiffahrt . 166
i) Wesen der Karlelle '66
2) Die Karlelle bis zum Jahre 1903 169
3. Kapitel: Betriebskonzentration der Klein- und Großschiff-
fahrt seit 1903 '85
I —
Einleitung.
Seit etwa 40 Jahren spielt sich in dem SchilTahrtsgewerbe auf
der Elbe ein Vorgang von großer dramatischer Lebendigkeit ab,
bei dem die beiden Hauptentwicklungsrichtungen unseres heutigen
Wirtschaftslebens : Entwicklung zur kapitalistischen Betriebsform
und zur Betriebskonzentration in interessanter Weise miteinander
verbunden sind.
Denn einmal vollzieht sich in der Eibschiffahrt heute vor
unseren Augen die Umbildung vom handwerklichen Kleinbetrieb
zur kapitalistischen Unternehmungsform. Andererseits aber ist ein
starkes, aus wirtschaftlicher Notwendigkeit herausgeborenes Be-
streben vorhanden, die große Zahl von Einzelbetrieben zu einer
Einheit zusammenzufassen. Diese beiden Entwicklungstendenzen,
die Neigung zur Aenderung nicht nur der Form, sondern gleich-
zeitig auch der Zahl der Betriebe, die auf den meisten anderen
Gebieten des Wirtschaftslebens nach einander aufgetreten sind,
fallen in der Eibschiffahrt in einen Zeitabschnitt zusammen und
erzeugen dadurch eigenartige volkswirtschaftliche Erscheinungen.
So ist z. B. die Konzentrationsbewegung hier gezwungen, einer-
seits etwa 5 — 6 Großunternehmungen zu einer Annäherung und
möglichst engen Vereinigung zu veranlassen, andererseits fällt ihr
die schwierige Aufgabe zu, weit über 1000 kleine Einzelunter-
nehmungen, die zum Leben zu schwach, zum Sterben aber noch
zu gesund sind, unter sich einheitlich zusammenzufassen, um sie
dann als ein geschlossenes Ganzes an die Vereinigung der Groß-
unternehmungen anzugliedern. Es gehen also zwei Konzentrations-
bewegungen, eine kleinbetriebliche und eine großbetriebliche,
selbständig nebeneinander her, die ihrerseits wieder ein gemein-
sames Zusammenarbeiten erstreben.
Zweck der vorliegenden Arbeit soll sein, diese Entwicklung
mit ihrer reichen Vielgestaltigkeit und gesunden Lebenskraft, mit
Zeitschrift für die ges. Staatswissensch. Ergänzungsheft 50. I
ihrer reichen Fülle an interessanten Problemen und wechselvollen
Erfolgen in ihren einzelnen Stufen zu schildern.
Vorauszuschicken sind einige allgemeine Bemerkungen über
die örtliche Abgrenzung des Klbgebietes, wie es die Grundlage
der vorliegenden Untersuchung bilden soll. Die Eibschiffahrt ist
in der Praxis nicht ganz scharf zu umgrenzen, denn der Strom
hat zahlreiche schiffbare Nebenflüsse und ist durch Kanäle viel-
fach mit anderen, vor allem den östlichen Wasserstraßen ver-
bunden. Mit diesen unterhält sie einen sehr regen wechsel-
seitigen Verkehr : ein großer Teil der Güter, die auf der Elbe
schwimmen, benutzt zu Anfang oder am Ende seiner Reisen
andere deutsche Wasserstraßen ; zahlreiche Schiffe, die auf der
Elbe den Verkehr vermitteln, betreiben die Schiffahrt auch auf
anderen Gewässern oder sind an anderen Wasserstraßen be-
heimatet. Es muß deshalb betont werden, daß eine absolut
genaue, zahlenmäßige, wirtschaftliche Erfassung des reinen, aus-
schließlichen Eibverkehres nach seiner Art und Organisation un-
möglich ist.
Die natürlichen Nebenflüsse der Elbe, von denen außer der
Havel, die gleich zu erwähnen sein wird, nur die ^Moldau und
die Saale in Betracht kommen, stören das wahre Bild kaum, weil
ihre Schiffahrt bei der verhältnismäßigen Kürze und wirtschaft-
lichen Unselbständigkeit der beiden letzteren Flüsse nur so-
weit Bedeutung hat, als sie auch die Elbe berührt; deshalb sind
ihr Verkehr und die Zahl ihrer Schiffe und Schiffahrtsbetriebe
ohne Bedenken denen der Elbe zuzuzählen.
Sehr störend dagegen für das Bild der reinen Eibschiffahrt
sind die märkischen Wasserstraßen einschließlich der Havel. Sie
weisen als Zufahrtswege zu der Millionenstadt Berlin einen sehr
regen Verkehr auf, der bei Beginn oder am Ende der Fahrt die
Elbe benutzt; weiter besitzen sie an ihren Ufern eine bedeu-
tende Zahl von Schiffahrtsunternehmungen, die fast alle auch
auf der Elbe mehr oder weniger regelmäßig fahren. Hier also
läßt sich eine feste Grenze nicht ziehen, zumal auch nicht etwa
das den Verbindungskanälen dieses Wasserstraßengebietes an-
gepaßte Maß der Schiffsgefäße, das sog. Kanalmaß (= 600 t)
dazu dienen kann, eine Scheidung der Verkehrsgebiete vorzu-
nehmen; denn auch reine Elbschiffahrtsunternehmungen bauen
vielfach ihre Kähne nach dem Kanalmaß, einerseits um bei
Älangel an reinen Eibfrachten auch Frachten nach den märkischen
— 3 —
Wasserstraßen, besonders nach Berlin, annehmen zu können,
andererseits um bei etwaigem Verkauf ihrer Kähne für sie einen
größeren Käuferkreis zu besitzen.
Trotzdem ist in der vorliegenden Arbeit versucht worden,
eine künstliche Scheidung zwischen dem Eibverkehr und dem
Verkehr der märkischen Wasserstraßen durchzuführen. Ihre
innere Berechtigung findet diese Darstellungsweise darin, daß es
tatsächlich ein sehr großes, auf dem Eibstrom relativ und absolut
überwiegendes Schiffahrtsgewerbe gibt, das den Verkehr aus-
schließlich oder doch zum weitaus größten Teil seiner Tätigkeit
nur auf der Elbe ausübt und seiner Organisation wie seiner
wirtschaftlichen und sozialen Gliederung nach besondere Merk-
male aufweist. Diese Scheidung ist aber auch deshalb berechtigt,
weil die märkischen Wasserstraßen, deren Verkehr zusammen
mit dem Eibverkehr zu behandeln man vielleicht im Hinblick auf
den engen Zusammenhang für gerechtfertigt halten könnte, ihrer-
seits keinen eignen scharf abgegrenzten Verkehr besitzen. Denn
sie haben nur ein geringes, wirtschaftlich nicht sehr bedeut-
sames Hinterland, und ihr Verkehr dient fast ausschließlich der
Versorgung von Groß-Berlin. Jeder langstreckige Verkehr dieser
Wasserwege muß am Anfang oder am Ende seiner Fahrt ent-
weder die Elbe oder die Oder (stromauf oder stromab), vielfach
sogar die noch weiter östlich gelegenen Schiffahrtswege benutzen.
Es besteht also ebensowenig wie zwischen der Elbe und den
märkischen Wasserstraßen eine natürliche Verkehrsabgrenzung
zwischen den märkischen Wasserstraßen und der Oder. Wofern man
also es nicht wagen wollte, eine künstliche Abgrenzung der
Verkehrsgebiete vorzunehmen, könnte man sich gezwungen sehen,
bei einer Schilderung der Elbverkehrsverhältnisse auch die der
märkischen Wasserstraßen und der Oder, ja aller ostdeutschen
Wasserstraßen mit heranziehen zu müssen.
Aus diesen Gründen hat man sich auch, entgegen den ur-
sprünglichen Absichten, bei Einführung der staatlichen Unfallver-
sicherung entschlossen, eine selbständige Elbschiffahrts-Berufs-
genossenschaft neben der Ostdeutschen Binnenschiffahrts-Berufs-
genossenschaft, die alle Schiffahrtswege östlich der Elbe umfaßt,
zu begründen. Und aus gleichen Gründen behandelt die deutsche
Reichsstatistik für die Binnenschiffahrt den Verkehr der Elbe und
der märkischen Wasserstraßen getrennt.
Es ist deshalb versucht worden, im folgenden einen theo-
I*
— 4 —
retisch wie praktisch brauchbaren Begriff der Eibschiffahrt in der
Weise aufzustellen, daß gezählt worden sind bei den Unter-
suchungen
i) über die Güter des Eibverkehres: die auf der Elbe schwim-
menden Güter ohne Rücksicht auf den Ort ihrer Herkunft oder
Bestimmung,
2) über die Schiffsflotte des Eibverkehres : die an den Ufern
der Oberelbe beheimateten Schiffe, und
3) über die Schiffsbetriebe des Eibverkehres: diejenigen Be-
triebe, die in den an die Elbe angrenzenden unteren Verwaltungs-
bezirken ihren Sitz haben.
Bei Gesellschaften und größeren Unternehmnngen konnte,
wenn es zweifelhaft war, ob sie dem Eibschi ffahrtsge werbe zu-
zurechnen waren, meistens durch direkte Anfrage Klarheit ge-
schaffen werden. Unberücksichtigt geblieben sind alle (Groß- und
Klein-) Betriebe, bei denen feststand, daß sie in der Regel die
Elbe zu dem direkten Verkehr zwischen Hamburg und Berlin
nur auf der Strecke Hamburg-Havelmündung benutzen ; denn sie
gehören ihrem ganzen Wesen nach dem Verkehr der märkischen
Wasserstraßen an, was sich schon äußerlich daran erkennen läßt,
daß sie meist ihren Sitz in Groß-Berlin haben, wie z. B. der
Berliner Lloyd, A.-G., Berlin.
Diese Art der Umgrenzung, die durch die tatsächlichen Ver-
hältnisse und die Art des zur Verfügung stehenden statistischen
Materials bedingt ist, geht, wie man sieht, von verschiedenen
Gesichtspunkten aus. Wenn daher bei einigen der folgenden
Untersuchungen Zahlen jener drei verschiedenen Gruppen mit-
einander in Zusammenhang gebracht oder miteinander verrechnet
werden müssen, so ist es klar, daß diese zahlenmäßigen Ergebnisse
nicht den Wert absolut wahrheitsgetreuer Größen haben können,
sondern daß sie nur relative Zahlenwerte darstellen und deshalb
nur als Vergleichswerte angesehen werden können, die gleiche
Fehlerkoeffizienten besitzen.
— 5
I. Abschnitt.
Der Güterverkehr auf der Elbe als Gegen-
stand der Organisation.
I. Kapitel.
Umfang und Entwicklung des Frachtverkehres auf
der Elbe.
Auf jedem Gebiete des Wirtschaftslebens, auf dem freie
Konkurrenz herrscht, wird sich diejenige Organisationsform durch-
setzen und Anerkennung verschaffen, die für Erreichung ihrer
Aufgaben die einfachste und zweckmäßigste ist. Denn die wirt-
schaftlichen Verhältnisse schaffen sich ihre Formen selber, denen
sie als Inhalt dienen sollen.
Daher muß man, um die Organisationsentwicklung der Elb-
schiffahrtsunternehmungen verstehen zu können, die wirtschaft-
hchen Verhältnisse festzustellen suchen, in denen sich die Einzel-
unternehmungen ordnend und regelnd betätigen.
Von diesem Gesichtspunkte aus ist es vor allem notwendig,
das Güterangebot, das der Eibverkehr zu bewältigen hat, und
die Verkehrsmittel, die ihm dafür zu Gebote stehen, einer kurzen
Betrachtung zu unterziehen.
Die Elbe als Binnenwasserstraße reicht im technischen Sinne
von Melnik in Böhmen, wo die Elbe beginnt, schiffbar zu werden,
bis zum Freihafen in Hamburg. Diese 742 km lange Strecke
wird auch kurz »Oberelbe« genannt, im Gegensatz zur Unter-
elbe, d. h. der Elbe von Kamburg stromabwärts bis zur Mündung.
Letztere kommt als Binnenwasserstraße im wissenschaftlichen Sinne
nicht in Betracht, weil sich entweder auf ihr ein Kleinschiffahrtsver-
kehr nur rein lokaler Natur abspielt, oder sie die Anfangsstrecke eines
transatlantischen Seeverkehres bildet.
— 6 —
Die Obcrelbe fließt mit 635 km ihres T.aufcs in Deutschland,
mit 107 km in Oesterreich.
Eine wahrheitsgetreue Erfassung und Darstellung des Elb-
verkchrcs sowie seiner Bedeutung für das Wirtschaftsleben stößt,
zumal bei Berücksichtigung der Entwicklung während der letzten
40 Jahre, auf nicht geringe Schwierigkeiten. Diese bestehen vor allem
1. in der räumlichen Abgrenzung des Elbegebiets von an-
deren Wasserstraßen, und
2. in der Art des zur Verfügung stehenden statistischen Materials.
Ueber den ersten Punkt ist schon in der Einleitung das Nötige
gesagt worden. Hinsichtlich des zweiten Punktes liegen die Ver-
hältnisse wenig erfreulich. Denn das zur Verfügung stehende
amtliche statistische Material ist, soweit zuverlässig, nur sehr
gering, meist unzureichend, und oft wegen seiner großen Ver-
schiedenheit nach Art der Erhebung sowie Gruppierung für eine
zusammenfassende Darstellung und für Vergleiche schwer ver-
wertbar. Die Sorgfalt der Erhebung, der Aufstellung und Ver-
öffentlichung, die IMethode der Erhebung, endlich der Zweck, der
bei Aufnahme der Statistik seitens der Behörden verfolgt wurde,
haben für das ganze, keinem einheitlichen Staatsverbande an-
gehörende Stromgebiet der Elbe eine solche Buntscheckigkeit
und Verschiedenheit des Zahlenmaterials hervorgebracht, daß das-
selbe oft nicht einmal für die allgemeinsten Aufstellungen eines
einzelnen Jahres, geschweige denn für eine Darstellung, die sich
über mehrere Jahrzehnte erstrecken soll, als sicheres Quellen-
material zu verwenden ist.
Will man versuchen, den Umfang und die wirtschaftliche
Bedeutung des Eibverkehrs zu erfassen, so stehen hierfür in der
Hauptsache nur die Angaben über das Gewicht der auf der
Elbe zur Verfrachtung gelangten Gütermengen zur Verfügung,
wie sie die Reichsstatistik in ihren Angaben über den Verkehr
auf den Binnenwasserstraßen und die Statistik des Staates Ham-
burg geben. Dagegen fehlen amtliche Aufstellungen über die
tonnenkilometrischen Leistungen des gesamten Eibverkehres so-
wie über den kilometrischen Verkehr auf der Elbe vollständig,
obwohl nur sie ein wahrheitsgetreues Bild von den Leistungen
eines Verkehrsweges zu geben vermögen. Nach der neuesten Ver-
ordnung des Bundesrates über Erhebung der Binnenschiffahrts-
statistik vom 5. Dezember 1907, die vielerlei Verbesserungen für
die Schiffahrtsstatistik gebracht hat, sind zwar ausdrücklich Er-
— 7 —
Hebungen der tonnenkilometrischen Leistungen und des kilo-
metrischen Verkehres der deutschen Ströme nach dem Muster
der Eisenbahnfrachtstatistik angeordnet worden, doch ist die Be-
arbeitung des gesamten Materiales, das zum Zwecke dieser Fest-
stellungen auf der Elbe erhoben worden ist, noch so lückenhaft
und die ganze Statistik auf der Elbe auf so große Hindernisse
gestoßen, daß auf diese neuere Reichsstatistik zur Erfassung der
wirtschaftlichen Bedeutung des Eibverkehres als wertlos ver-
zichtet werden muß. Die zahlenmäßigen Nachweise für die
letzten Jahre haben sich daher gegen früher bedeutend ver-
schlechtert. Dies wird in der ersten amtlichen Veröffentlichung
auf Grund der neuen Bestimmungen für das Jahr 1909 ausdrück-
Hch anerkannt. Es heißt dort (Stat. d. deutschen Reiches. Bd. 235,
S. 16): »Insbesondere war das Material für die Elbe und die öst-
lichen Wasserstraßen nicht geeignet, eine auch nur einigermaßen
zuverlässige Grundlage für tonnenkilometrische Berechnungen zu
geben.« Und im nächsten Jahre 1910 heißt es (Bd. 245, S. 10):
»Die großen Schwierigkeiten und Widerstände, die der neuen
Binnenschiffahrts-Statistik im ersten Erhebungsjahre namentlich
in Preußen entgegentraten, sind auch im Jahre 1910 nicht zu
überwinden gewesen. Der größte Ausfall wurde dadurch ver-
ursacht, daß an einer Reihe zum Teil sehr wichtiger Plätze die
Bearbeitung der abgegebenen Zählkarten unterblieben ist. — —
Vereinzelt zeigte sich auch bei Schiffsunternehmungen und Spedi-
teuren eine Abneigung zur Ausfüllung der Zählkarten. — —
Was die Lücken im Gebiete der Elbe anbetrifft, so wurden wegen
der großen Ausfälle an Nachweisungen, die durch die Nicht-
beteiligung von Magdeburg und durch die nicht vollständige Be-
teiligung anderer Häfen an der Binnenschiffahrts-Statistik ent-
standen sind, der Verkehr zwischen den Eibhäfen untereinander,
soweit er nachgewiesen wurde, zwar summarisch aufgeführt, von
der weiteren Bearbeitung aber ausgeschlossen.« Und ebenso liegt
es für das Jahr 191 1. So ist man also auch in neuerer Zeit für
die Erfassung des Eibverkehres auf Schätzungen und private Be-
rechnungen angewiesen.
Nur für den sehr kurzen Teil des in Oesterreich gelegenen
Eibgebietes gibt die österreichische amtliche Statistik Zahlen über
die tonnenkilometrischen Leistungen und den kilometrischen Ver-
kehr, doch sind sie in ihrer Isoliertheit für die Zwecke der
vorliegenden Untersuchung nicht gut zu verwerten.
— 8 —
Für das deutsche Eibgebiet besitzen wir derartii^e Zahlen
nur auf Grund privater Berechnungen. Für die Jahrfünfte von
1875— 1910 hat Dr. Sympher in der ^Zeitschrift für Binnen-
schiffahrt« auf Grund des lückenhaften amtlichen Materiales mit
Hüte von umfangreichen eigenen l^erechnungen und Schätzungen
versucht, ein brauchbares Bild des gesamten deutschen Binnen-
schiffahrtsverkehres zu schaffen. Er kommt dabei für die deutsche
Elbe zu folgenden Ergebnissen :
Tab. I.
Güterverkehr auf der deutschen Oberelbe,
(nach Dr. Sympher^.
I.
2.
3-
4.
■ 5-
6.
Geleistete Ne tto-Tonn en-
Durchschn. kilometrischer
Kilometer
Prozen-
Verkehr
Jahr
auf sämtlichen 1 auf der
tualer
j auf d. deut-
auf der
deutschen ! deutschen
Anteil
;schen Wasser-
Wasserstraßen! Elbe
d. Elbe
straßen
Elbe
in I 000 000 tkm
in I 000 t.
1875
2 900
435
15%
290
720
1S85
4 800
I 298
27%
2 100
1895
7500
1952
26 0/0
3 150
1900
II 500
2 605
23%
4 200
1905
15 000
3581
24%
I 500
5 800
1910
19 000
4 026
21 %|
I 900
6504
Aus diesen Zahlen ersieht man, daß sowohl die durch die
Eibschiffahrt geleisteten tkm wie auch der kilometrische Verkehr
in 35 Jahren eine Steigerung um das 9 fache aufzuweisen hat,
was um so bedeutsamer ist, als in dem gleichen Zeiträume auf
anderen Verkehrswegen das Wachstum ein so schnelles nicht
gewesen ist. Der Verkehr auf sämtlichen deutschen Eisenbahnen
stieg während desselben Zeitraumes an geleisteten tkm von 1 1
auf 56,3 Milliarden (Steigerung um das 5 fache), und ihr kilo-
metrische Verkehr vermehrte sich von 410000 auf 960 000 t
(Steigerung um das 2,25 fache). Da ferner, wie Tab. 1 zeigt, der
Eibverkehr reichlich den 5. Teil der auf sämtlichen Binnenwasser-
straßen geleisteten tkm ausmacht, so ergibt sich, daß er sowohl
hinsichtlich seiner Bedeutung für das Wirtschafts- und für das
Verkehrsleben, wie hinsichtlich seines Wachstums eine hervor-
ragende Stellung in der deutschen Volkswirtschaft einnimmt. Er
wird an Umfang wie an Geschwindigkeit des Wachstums nur
vom Rheinverkehr übertroffen.
Will man den Eibverkehr in seiner Besonderheit erfassen, so
— 9 —
ist es notwendig, den Berg- und Talverkehr getrennt zu betrach-
ten. Hierbei treten aber schon die erwähnten Schwierigkeiten
infolge Mangelhaftigkeit des Zahlenmateriales erschwerend ent-
gegen, und es wird notwendig, gerade hierbei Zahlen zu benutzen,
die nur relativen Wert besitzen. In den folgenden Tabellen 2 A
und 2 B (S. 13) ist nach Berg- und Talverkehr getrennt, nach
dem Gewicht der Empfang einiger Eibhafenplätze an Trans-
portgütern auf Grund der Reichsstatistik zusammengestellt.
Hat man aus Mangel an anderem statistischen Material sich
entschlossen, als Maßstab für den Verkehr die der Schiffahrt
übergebene Güter menge zugrunde zu legen, so hat man die Wahl,
ob man sich für diesen Zweck der an den einzelnen Punkten
angekommenen oder abgegangenen Gütermengen
bedienen will, d. h. ob man die Güter beim Verlassen der Elbe
oder beim Uebergang auf dieselbe erfassen will. Der Verfasser
hat sich für das erstere entschieden, da es für die Erlangung
eines möglichst wahrheitsgetreuen Bildes wichtiger zu sein scheint,
zu wissen, wohin der Verkehr die Güter sendet, als w o-
h e r er sie bringt. Ueberdies ließ sich hierbei auch der für
den Eibverkehr sehr wichtige Verkehr mit Böhmen tatsachen-
getreuer in die Elbgesamtverkehrszahlen einbeziehen. Denn
die von böhmischen Stationen ausgehenden, nach deutschen
Stationen verladenen Güter sind zum weitaus größten Teile nur
nach einigen wenigen großen deutschen Stationen (Dresden,
Magdeburg, Hamburg), die von der Reichsstatistik berücksichtigt
werden, bestimmt. Sie sind also dort leicht durch die Zahlen
der angekommenen Güter statistisch festzustellen. Dagegen
erfolgt die Auflieferung der in Deutschland mit der Bestimmung
nach Böhmen zur Elbe gegebenen Güter zum größten Teil de-
zentralisiert. Ihre Mengen würden sich also nur schwer und un-
vollständig durch Abgangszahlen wiedergeben lassen. Dagegen
erscheinen dieselben Güter zentralisiert und leicht statistisch zu
erfassen als Ankunftsgüter im Bergverkehr an der deutsch-böhmi-
schen Grenze, wenn man Böhmen als einheitlichen Ankunftsort auf-
faßt. Letzteres ist auch um deswillen notwendig, weil die Schiffahrts-
verkehrsstatistik in Oesterreich nach ganz anderen Grundsätzen
erhoben und verarbeitet wird als in Deutschland, und es deshalb
nicht angeht, die österreichischen Zahlen der böhmischen Eiborte
mit den Zahlen der Reichsstatistik für die deutschen Hafenplätze
zusammenzustellen und zu summieren. Andererseits entspricht
— 10 —
ein einheitliches Zusammenfassen aller b()hmischen Hafenorte an-
nähernd der wirtschaftlichen Wirklichkeit. Denn die bedeutenderen
böhmischen Eibhäfen sind auf einer verhältnismäßig kurzen Eib-
strecke zusammengedrängt; sie sind daher bei Beurteilung der
Richtung und des Umfanges des Verkehres als Einheiten auf-
zufassen.
Außer von den Empfangshäfen sind von verschiedenen
Punkten, an denen auf der Elbe transportierte Güter diese ver-
lassen und auf eine andere Wasserstraße übergehen, die Zahlen und
zwar der durchgegangenen Güter angegeben worden, da
diese Güter zwar zum Eibverkehr gehören, aber von keinem Eibhafen
als angekommen und empfangen registriert werden. Nicht erfaßt
werden konnte auf diese Weise der Wechselverkehr der Elbe mit
der Saale. Hierzu hätten nach der Reichsstatistik nur die Zahlen
zur Verfügung gestanden, die auf der Saale an der Schleuse zu
Kalbe festgestellt werden. Da aber in den hier für den Berg-
verkehr (also von der Elbe nach der Saale) erhobenen Zahlen
Güter enthalten sind, die auf der Elbe sowohl in der Berg- wie
in der Talfahrt an der Saalemündung angekommen sind, und
deshalb einheitlich weder dem Elb b e r g verkehr noch dem Elb-
t a 1 verkehr zuzurechnen sind, so können die Zahlen der Güter,
die nach der Saale hin die Elbe verlassen haben, weder in
Tab. 2 A noch in Tab. 2 B untergebracht werden. Der Fehler,
den dadurch die Statistik erleidet, -ist nicht allzu bedeutend, da
die Saale von der Elbe im Jahre 19 lo nur ungefähr 180000 t
Güter überwiesen erhielt.
Natürlich haben nur diejenigen Hafenplätze berücksichtigt
werden können, die in der Reichsbinnenschiffahrtsstatistik regel-
mäßig aufgeführt wurden. Dies sind zwar in der } lauptsache die
wichtigsten Eibplätze, der Zahl nach aber nur ein ver-
schwindend kleiner Teil aller Eibhäfen ; denn die deutsche
Oberelbe besitzt über 200 Hafen- und Eandungspätze. Daß aber
auch nicht alle gleichwichtigen Eibhäfen in der - Reichsstatistik
Berücksichtigung finden, lehrt der Hafen von Riesa, der erst seit
1909 in die Schiffahrtsstatistik aufgenommen ist, obwohl er schon
seit langem ein sehr wichtiger Schiffahrtsplatz ist und im Jahre
1910 mit 453000 t Empfang im Bergverkehr unter den Eibhäfen
an 4. Stelle stand. In Tab. 2 A und B mußte auch für das
Jahr 19 10 der Riesaer Hafen unberücksichtigt bleiben, um die
Vergleichbarkeit der Endsummen mit denen der anderen Jahre
— II —
zu erhalten. Es sei wiederholend aber auf die Relativität dieser
Zahlen hingewiesen.
F"ür das Jahr 1909 war es wegen des schon früher erwähnten
völligen Versagens der Binnenschiffahrtsstatistik auf der Elbe
gänzlich unmöglich, den Berg- und Talverkehr auch nur einiger-
maßen sicher festzustellen, und auch für das Jahr 19 10 mußten
einige schätzungsweise Ergänzungen vorgenommen werden, vor
allem, weil für Magdeburg, den nächst Hamburg wichtigsten
Hafen an der deutschen Elbe, die Reichsstatistik keine Zahlen
angibt. Deshalb sind auch die Endziffern für das Jahr 19 10 nur
von bedingtem Wert ^).
Im einzelnen sind die Zahlenangaben von folgenden Eib-
plätzen verwendet worden :
A. F ü r d e n T a 1 V e r k e h r :
1. Schöna.
2. Schandau (Hafenplatz).
3. Dresden.
4. Wallwitzhafen.
5. Aken.
6. Schönebeck.
7. Magdeburg.
8. Wittenberge.
9. Schleuse im Flauer Kanal, und zwar von 1875 — 1885
die Schleuse zu Parey, und von 1890 an die Flauer Schleuse.
An dieser Schleuse sind die Zahlen der Güter aufgenommen,
die in der Richtung von der Elbe nach der Havel die Schleuse
benutzt haben, und hierdurch sollen die Güter erfaßt werden,
die auf der Elbe im Tal verkehr transportiert worden sind,
aber die Elbe auf dem Flauer Kanal nach den märkischen
Wasserstraßen hin verlassen haben, ohne in einem Eibhafen
als angekommen gebucht worden zu sein.
10. Hitzacker.
11. Der Obereibische Durchgangsverkehr an der Hamburg-
Entenwerder ZoUcr-renze.
l) Die Zahlen des Jahres 191 1 sind bei allen vergleichenden statistischen
Angaben des Eibverkehrs im folgenden fortgelassen worden, weil die Ver-
kehrszahlen dieses Jahres wegen des abnorm niedrigen Wasserstandes und der
lückenhaften Erfassung durch die Reichsstatistik für Vergleiche völlig unbrauchbar
sind.
— 12 —
12. Harburg; (Süder-Mlbe) mit seinem Obereibischen Em-
pfang.
B. 1'^ ü r den B e r g v e r k e h r :
1. Hitzacker.
2. Durchgangsverkehr zu Berg (Richtung von der Elbe nach
der Havel) an der Rathenower Hauptschleuse. Hier soll der
an der Havelmündung die Elbe in der Richtung nach den
märkischen Wasserstraßen verlassende Eibbergverkehr erfaßt
werden.
3. Wittenberge.
4. Magdeburg.
5. Schönebeck.
6. Aken.
7. Wallwitzhafen.
8. Dresden.
9. Schandau.
10. Schöna.
11. Schandauer Zollgrenze. Hier wird das Güterquantum
erhoben, das zu Berg die Zollgrenze überschritten und die deut-
sche Elbe nach Böhmen hin verlassen hat. (Siehe Tabelle
S. 13.J
Vergleicht man die Endziffern der einzelnen Jahre in diesen
beiden Tabellen miteinander, so wird, man ein wichtiges Merkmal
der Eibschiffahrt erkennen : der Talverkehr überwiegt absolut an
Umfang nicht unbedeutend den Bergverkehr. Diese Feststellung
ist wichtig für die späteren Ausführungen, denn auf dieser Tat-
sache beruht zum Teil die Finanz- und Tarifpolitik der Unter-
nehmer in der Eibschiffahrt ; auch für Gründung, Organisation
und geschäftliche Ausgestaltung der Schiffahrtsgesellschaften ist
sie von besonderer Wichtigkeit gewesen. Hierauf wird später
zurückzukommen sein.
Noch ein weiteres wichtiges Moment lassen die. Tabellen er-
kennen: Der gesamte Eibverkehr, sowohl zu Berg wie zu Tal,
konzentriert sich an zwei Punkten ; nämlich in Hamburg und im
österreichischen Böhmen, obwohl in Böhmen die Elbe für größere
Fahrzeuge nur auf 76 km, und für kleinere auf 107 km schiffbar
ist. ^lan kann diese Behauptung noch weiter dahin präzisieren,
daß für den Talverkehr Böhmen, für den Bergverkehr Hamburg
das Zentrum bildet, dem der frachtsuchende Schiffer zustrebt und
— 13 —
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— 14 —
wo er seine I lauptbeschäftigung findet. Noch deutlicher veran-
schaulicht das Tab. 3, zu der aber zu bemerken ist, daß die hier
berechneten Prozentzahlen für den Anteil Hamburgs und Böhmens
etwas zu hoch sind, da sie durch Vergleich der durch die Ham-
burger und durch die österreichische Statistik aufgestellten, ab-
solut wahrheitsgetreuen Zahlen mit den durch die Tab. 2 berech-
neten, nur relativ richtigen, etwas zu kleinen Zahlen des Gesamt-
verkehrs gefunden worden sind. Trotzdem läßt sich aus ihnen
die selbst nach einer entsprechenden Verringerung des pro-
zentualen Anteiles immer noch große Wichtigkeit Hamburgs für
den Bergverkehr und Böhmens für den Talverkehr erkennen.
Tab. 3.
Anteil Hamburgs und Böhmens am Elbverkehr 1880 — 1911.
I.
2.
3. i
4- 1
5-
6.
7-
8. 1
9-
10.
II.
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%
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1880
2 605
I 365
51
764
29
1038
155
15
773
77
1885
2 173
1474
52
1275
58
I 226
171
14
1323
77
1890
3011
2 804
93
1556
51
1953
268
13
1683
88
1895
2605
2 208
84
1638
63
2442
322
13
1942
80
1900
4243
2 662
63
2 526
60
3679
432
II
2875
77
I90I
4358
2897
67
2526
58
3 226
465
14
2875
89
1902
4 402
2827
64
2413
54
3040
383
13
2777
92
1903
5570
3498
62
3 012
53
3585
500
14
2 960
82
1904
3970
2434
61
I 979
49
^672
403
15
2 326
89
1905
5744
3 157
55
2 522
44
4195
591
14
3 399
80
1906
5597
3033
54
3213
57
4308
523
12
3681
85
1907
5 193
3 139
60
3000
57
5177
633
II
3905
75
1908
5065
2774
55
3 102
60
4963
646
13
3817
77
1909
,
.
,
•
I9I0
6342
2 410
38
4 139
65
5189
702
13
3769
72
Auf den ersten Blick könnte es erscheinen, als wäre diese
Lagerung der Hauptausgangshäfen notwendig und natürlich als
Ausgangs- und Endpunkt der Eibschiffahrt überhaupt ; jedoch
beweist die folgende Statistik der leer in Hamburg ankommenden
und leer nach Böhmen einfahrenden Frachtschiffe, daß sich
zwischen diesen beiden Hauptschiffahrtszentren nur ein geringer
direkter Verkehr abspielt. Die Schiffer suchen vielmehr diese
beiden Punkte als voraussichtlich Verdienstmöglichkeiten bietende
Landungsstellen mit Vorliebe, vielleicht sogar mit einer zu großen
Anhänglichkeit auf, auch wenn sie keine direkten Ladungen für
diese Orte haben.
— 15 —
Tab. 4.
Zahl der beladenen und unbeladenen Frachtkähne im Hamburaer
und Schandauer Ob erel be- Verkehr während des Jahres 1910"
3. I 4. s. I 6.
Frachtkahne insgesamt Davon beladne Frachtkahne
Zahl I Tragfähigkeit I ^^^, | Tragfähigkeit
in 1000 t
Zahl
in 1000 t
angekommen
In I zu Tal
Hamburg | abgegangen j
! zu Berg !
durchgegana?
In
Schandau
zu Tal
durchgegang.
zu Berg
20541
20995
6302
6 161
13283
19393
6 198
2 700
Die Art des Schiffsverkehres an diesen beiden Punkten ist
eine ganz verschiedene, was durch das Wesen Hamburgs als
überseeischer Importhafen und das Wesen Böhmens als Pr^'oduk^
tionsland zahlreicher gewerblicher Erzeugnisse und hochwichtio-er
Rohstoffe bedingt ist. So ist die Art der Güter, die an d"en
beiden Punkten zur Verladung kommen, ganz verschieden. In
Hamburg werden der Binnenschiffahrt die überseeischen Massen-
artikel, wie Getreide, Reis, Baumwolle, Düngemittel usw., in
Böhmen dagegen in überwiegendem Maße Rohstoffe, besonders
die böhmische Braunkohle, übergeben. Gerade diese kann man
als eigentlichen Lebensnerv der gesamten Kleinschiffahrt auf der
Elbe ansehen, zumal die Kleinschiffer aus Gründen, die noch be-
sprochen werden sollen, an dem Talverkehr viel stärker beteilic^t
und mteressiert sind, als am Bergverkehr. So betrug z. B im
Jahre 1905 die Beförderung der Braunkohle von Böhmen auf der
Elbe nach Deutschland 2100000 t oder etwa 66 % des gesamten
österreichischen Eibimportes, andererseits aber auch ungefähr 37 %
des gesamten Talverkehres oder etwa 190/, des gesamten Ver-
kehres auf der Elbe überhaupt. Hieraus erhellt, wie eng die
Eibschiffahrt mit dem böhmischen Braunkohlenbergbau verknüpft
ist, wie sie also stark abhängig ist vom Ausland und in ihren
Interessen besonders nach dem Ausland hinneigt.
Hierin liegt ein spezifisches Merkmal der Efbschiffahrt, durch
das sie sich von dem Verkehr anderer deutscher Wasserstraßen
ungunstig unterscheidet. Denn sie wird stärker als irgend eine
andere deutsche Wasserstraße von der Richtung unserer aus-
wärtigen Handelspolitik in Mitleidenschaft gezogen. So hat
i6 —
Ta-
Prozentualer Anteil des Tal-
I.
2. 1 3.
i88o 1 1885
4-
1890
5-
1895
6.
1900
7-
1901
Gesamt-Elb-Verkehr in looo t
Prozentualer Anteil des T a 1-
verkehrs am Gesamt-Verkehr
3643
72%
3 399
64%
4964
61%
5047
52%
7922
53%
7584
58%
beispielsweise die Einführung des Hochschutzzolles in Deutsch-
land um das Jahr 1880 die Gründung einer der größten
Elbschiffahrtsgesellschaften, der »Oesterreichischen Nord-West-
Dampfschiffahrts-Ges.« und damit eine verhängnisvolle Verstärkung
der Konkurrenz auf der Elbe zur Folge gehabt. Die starke
Berührung der Eibschiffahrt mit österreichischen Interessen wird
noch klarer, wenn man bedenkt, daß Hamburg nicht nur der
wichtigste deutsche Ueberseehafen ist, sondern dieselbe Rolle auch
für Oesterreich spielt, und daß für Oesterreich die Elbe die Zu-
fahrtsstraße zu diesem Hafen bildet.
Faßt man nach diesen ganz allgemeinen Erwägungen ein-
zelne Umstände ins Auge, die für die Gestaltung des Eibverkehres
von Wichtigkeit geworden sind, und betrachtet sie in ihrem
historischen Werden, so wird man vor allem dem Verhältnis
zwischen Berg- und Talverkehr seine Aufmerksamkeit zuwenden
müssen. Es ist leicht verständlich, daß dieses Verhältnis für die
Schiffahrt überhaupt und für die einzelnen Organisationsformen
in ihr von größter Bedeutung ist. Denn die Bergschiffahrt liegt,
wie erwähnt, heute fast vollständig in den Händen der Groß-
und Gesellschaftsbetricbe. Diese sind ihrem Ursprung wie ihrem
heutigen Charakter nach in erster Linie Schlepp schiffahrts-
unternehmungen und deshalb an der Berg Schiffahrt möglichst
vieler Frachtkähne hauptsächlich interessiert. Die Kleinschiffahrt
dagegen, der bei der Bergschiffahrt ein Teil ihrer Frachteinnahmen
durch Schlepplöhne zugunsten der Gesellschaften verloren geht,
sucht naturgemäß ihren Hauptverdienst in der Talschiffahrt, bei
der sie ihre Kähne von der Strömung treiben läßt und für die
Fortbewegung ihrer Fahrzeuge nichts zu entrichten hat. Das
läßt erkennen, wie wichtig auch für Organisationsfragen die Ent-
wicklung des Talverkehres einerseits und des Bergverkehres an-
dererseits ist. Eine Steigerung der Bergschiffahrt kennzeichnet
eine Kräftigung der Großschiffahrt, eine Zunahme der Talschiffahrt
dagegen eine solche der Kleinschiffahrt. Eine nach Tal- und
belle 5.
Verkehrs am Gesamtverkehr der Elbe 1880 — 1910.
8.
1902
9-
1903
10. II.
19Ö4 1905
12.
1906
13-
1907
14-
1908
15-
1909
16.
1910
7442
59%
9155
61%
6642
60 0/0
9 939
57%
9905
56%
10370
50%
10 028
50%
II 531
55%
Bergverkehr getrennte Darstellung der Entwicklung des Eib-
verkehrs ist in Tab. 5 versucht worden.
Aus dieser Tabelle ersieht man, daß der Talverkehr fort-
dauernd dem Bergverkehr an Gütermengen überlegen ist, daß
aber der Vorsprung des Talverkehres vor dem Bergverkehr immer
geringer wird, ja daß letzterer den Talverkehr seit 1907 eingeholt
und ihn vielleicht heute schon überholt hat, wofür verschiedene
Anzeichen vorliegen^). Es findet also augenblicklich eine Um-
kehrung der Richtung des Hauptverkehres statt.
Diese Feststellung ist für die Organisation und Rentabilität
der Schiffahrt von großer Bedeutung. Es wird deshalb auf die
Ursachen des relativen Rückganges des Talgüterverkehres noch
näher einzugehen sein. Vorher mag jedoch zur besseren Ver-
anschaulichung des Charakters des Eibverkehres darauf hin-
gewiesen werden, daß sowohl der Tal- als der Bergverkehr nicht
an allen Stellen des Flußlaufes von gleicher Stärke und gleicher
Bedeutung ist. Denn wie schon Tab. 4 erkennen läßt, ist ein
direkter Verkehr zwischen Anfang und Ende der Schiffahrt im Ver-
hältnis zur Gesamtschiffahrt nur schwach ausgebildet. Das deutet
darauf hin, daß der Güterverkehr längs der Elbe von verschiede-
ner Dichtigkeit sein muß. Diese Vermutung wird zahlenmäßig
durch Tab. 6 bestätigt, in der eine Aufstellung von Dr. SympJier
(aus der Zeitschr. für Binnenschiffahrt 1907) wiedergegeben ist.
Hier wird für das Jahr 1905 die Verteilung des Verkehres
über das Elbegebiet veranschaulicht. Man ersieht aus der Tabelle,
daß zwischen der böhmischen Grenze und unterhalb Magdeburgs
der Talverkehr den Bergverkehr beträchtlich übersteigt; dann
aber bleibt er bis Hamburg immer stärker hinter dem Berg-
verkehr zurück. Der Bergverkehr dagegen wird schwächer, je
1) Die Prozentzahl des Jahres 1910 steht dem nicht entgegen, weil die sie
ergebenden Ursprungszahlen in bezug auf Richtigkeit und Vollständigkeit nicht
sicher sind (vergl. S. Ii).
Zeitschrift für die ges. Staatswissensch. Ergänzungsheft 50. 2
— i8 —
Tab. 6.
Kilometrischer Verkehr an verschiedenen Elbstreckcn
im Jahre 1905.
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
Bezeichnung der Eibstrecke
Bergverkehr
Talverkehr
Oberhalb Hamburg und Harburg
Unterhalb der Havelmündung
Oberhalb der Havelmündung
Unterhalb von Magdeburg
Oberhalb von Magdeburg
An der österreichischen Grenze
in I 000 t
4836
4764
2843
3 "7
2 204
591
3243
3298
2723
3832
3513
3 157
weiter er sich von Hamburg entfernt. Diese entgegengesetzte
Tendenz ist für die Schiffahrtstreibenden bedeutsam und trägt
mit dazu bei, daß sich die Eibschiffahrt im Kleinbetrieb nur
wenig rentiert. Denn der Schiffer, der in Hamburg eine Ladung
sucht, erhält sie meist nur für einen geringen Teil der Eibstrecke
zwischen Hamburg und Böhmen. Böhmen aber strebt jeder
Schiffer so oft wie möglich zu erreichen, weil die Talfracht-
sätze hier meist rentabler sind; denn die Selbstkosten verringern
sich bei der Talfahrt durch den Fortfall der Schlepplöhne und
eine Fahrt von Böhmen stromab ermöglicht die längste Talfahrt.
So muß also der Schiffer in der Regel den größten Teil der
Strecke Hamburg-Böhmen leer fahren und noch obendrein die
Schleppkosten tragen. Die größeren Elbschiffahrtsunternehmungen
sorgen dagegen durch ihre meist eigenen Frachtkontore in Ham-
burg, die vielfach mit größeren Verladern oder Versendern lang-
fristige Frachtverträge abschließen, für genügende Gütermengen
nach Böhmen und verhüten dadurch einen Verlust bei der Berg-
fahrt. Aus dem Grunde, daß für den Kleinschiffer allein die
T a l fahrt nutzbringend ist, erklärt sich die Erfahrung, daß der
Kleinschiffer immer bestrebt ist, sobald er in Hamburg seine
Talfracht gelöscht hat, so schnell wie möglich an eine möglichst
weit oberhalb gelegene Eibstation zwecks Wiederaufnahme von
Talfrachten zu gelangen. Er ist deshalb geneigt, in Hamburg
und auch an anderen Stellen Güter zur Bergfahrt zu jedem Fracht-
satz anzunehmen, selbst wenn dieser für ihn verlustbringend ist.
Die Zahlen der Tabelle 6 erklären sich aus dem allgemeinen
Charakter des Güterverkehrs auf der Elbe: Oberhalb der Strecke 6,
also in Böhmen, werden der Schiffahrt große Mengen Güter zu-
— 19 —
geführt, die zu ihrem weitaus größten Teile nach Dresden, Riesa
und Magdeburg (vgl. Tab. ii), im übrigen aber hauptsächlich
nach Groß-Berlin und Hamburg (österreichischer Transitverkehr)
bestimmt sind. Der Verlust, den der Talverkehr durch Ablieferung
seiner böhmischen Güter zwischen 6 und 4 erleidet, wird durch
neue Ladung aus den durchfahrenen Gebieten mehr als ersetzt.
Vor allem liefert auch das mitteldeutsche Kaligebiet durch den
Hafen von Schönebeck bedeutende Mengen Landungsgüter. Unter-
halb der Strecke 4 verliert der Elbtalverkehr eine sehr ansehn-
liche Gütermenge, die in der Hauptsache nach Groß-Berlin be-
stimmt ist, durch den Ihle- und den Flauer Kanal, an die märki-
schen Wasserstraßen, ohne dafür von dorther entsprechenden Ersatz
zu erhalten. Daher erklärt sich der geringe kilometrische Verkehr
an der Strecke 3 im Talverkehr. Neue Frachten von den mär-
kischen Wasserstraßen erhält die Elbe für die Talfahrt erst wieder
durch die Havel; diese Frachten gehen zum größten Teil bis
Hamburg (Strecke 2 und i).
Im Berg verkehr gelangen die weitaus meisten Güter in
Hamburg auf die Elbe (vgl. Tab. 3), und diese Gütermenge bleibt
ihr ziemlich unvermindert bis zur Havelmündung (Strecke i und 2).
Hier verliert die Elbe im Bergverkehr einen wesentlichen Teil
ihrer Frachten an die märkischen Wasserstraßen (Strecke 3) ; der
übrig bleibende — nach Magdeburg und Dresden bestimmte —
Teil erhält an der Mündung des Flauer und des Ihle-Kanales eine
kleine Verstärkung (Strecke 4 und 5). Bis nach Böhmen hinein
vermittelt der Bergverkehr den Transport nur einer geringen
Gütermenge (Strecke 6).
Es ergibt sich also das Gesamtbild, daß der T a 1 verkehr,
wenn auch in mäßigem Umfang, mit annähernd gleicher Stärke
von Böhmen bis Hamburg anhält, also dem Schiffer auf der
ganzen Strecke ziemlich die gleiche Verdienstmöglichkeit ge-
währt, während der Berg verkehr an seinem Anfang zwar sehr
machtvoll einsetzt, aber bis zu seinem Ende hin stark abflaut.
Rückfrachten für die ganze Strecke sind für den Schiffer daher
nur schwer zu erlangen.
Wenn im Jahre 1905 trotz der bedeutend geringeren Inten-
sität des Talverkehres im Vergleich zum Bergverkehr auf den drei
ersten Wegstrecken der Tab. 6 dennoch der Talverkehr in Tab. 2
auf der ganzen Eibstrecke dem Bergverkehr überlegen oder
doch wenigstens ebenbürtig erscheint, so ersieht man daraus die
2*
— 20 —
Ta-
Ocsterreichs El b verkehr mit Deutschland an
(Auf Grund der deut-
II 1897
3-
1S98
4-
1899
5-
1900
6.
1901
7-
1902
Zu Tal (Einfuhrn ach Deutschi.)' 2952
Zu Berg (Ausfuhr aus Deutschi. )J 490
2818
490
3 181
430
2 662
432
2897
465
2827
383
Tab. 7 b.
Oesterreichs Ausfuhr nach Deutschland nach den 3 Ilauptgüterarten in 1000 t.
1,000
240
230
220
210
100
190
180
170
160
150
uo
130
120
110
100
90
80
70
60
50
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398 99 1900 Ol 02 03 0". 1905 05 07 08 M IS'O "
— 21
belle 7a.
der Zollgrenze in Schandau 1S97 — 1911 in i 000 t.
sehen Zollstatistik.)
8.
1903
9. 10.
1904 1 1905
II.
1906
12.
1907
13-
1908
14.
1909
15-
1910
16.
1911
3498
SOI
2434
404
3 157
591
3033
524
3 139
634
2774
646
2 632
717
1796
711
1626
575
Tab. 7 c.
Oesterreichs Einfuhr aus Deutschland nach den 3 Hauptgüterarten in looo t.
bedeutsame Rolle, die der Eibverkehr der Strecke 3, besonders
aber der böhmische Verkehr spielt ^). Es liegt deshalb nahe, bei
Untersuchung des oben bei Besprechung der Tab. 5 festgestellten
relativen Rückganges des Talverkehres ein besonderes Augenmerk
auf die Entwicklung des Verkehres dieser Strecke zu werfen.
Hierbei wird man finden, daß der Rückgang des Talverkehrs auf
das immer noch zunehmende Fernbleiben der böhmischen
Frachtgüter von der Elbebeförderung zurückzuführen ist. Dies
zeigen deutlich die Zahlen der graphischen Darstellungen der
Tab. 7 a.
i) Da das Jahr 1905 ein normales Wirtschaftsjahr war, so können die Tat-
sachen der Tabelle 5 auch für andere Jahre verwendet werden.
1905 ist der Höhepunkt der österreichischen Elb a u s fuhr
nach Deutschland erreicht; bis 1907 hält sie sich annähernd auf
gleicher Mühe, dann jedoch beginnt der Rückgang ^).
Genau die entgegengesetzte Tendenz weist dagegen die
österreichische Elb e i n fuhr aus Deutschland auf, die in immer
stetiger, wenn auch langsamer Steigerung begriffen ist. Sie hat
sich in den Jahren 1895 — ^9^^ reichlich verdoppelt.
Der Rückgang der österreichischen Gütermengen im Eib-
verkehr beruht hauptsächlich auf dem Rückgang der Braunkohlen-
verfrachtung in Böhmen, wie sie Tab. 7 b veranschaulicht, die auch
die Bewegung der beiden nächstwichtigeren Gütergattungen Zucker
und Gerste darstellt. Der Rückgang der böhmischen Braunkohle
in der Eibverfrachtung beruht auf dem Nachlassen des deutschen
Konsums derselben und wird verursacht durch den Aufschwung
der deutschen Braunkohlenproduktion und das mächtige Auf-
blühen der deutschen Brikettindustrie. Jene Frachtgüter und die
daraus entspringenden Verdienstmöglichkeiten sind der Eib-
schiffahrt voraussichtlich dauernd verloren; daß dadurch die Eib-
schiffahrt in eine Art dauernden Siechtums verfallen ist, wird
später gezeigt werden.
Der Rückgang bei anderen böhmischen Verfrachtungsgütem
beruht einesteils auf ungünstigen Ernteergebnissen während der
letzten Jahre, andernteils muß er auf die der Eibschiffahrt un-
freundlich gesinnte österreichische Eisenbahnpolitik zurückgeführt
werden, die bestrebt ist, durch Vorzugstarife den österreichischen
Uebersee-Export von der Verschiffung über Hamburg und damit
von der Elbe abzuhalten und dem österreichischen Seehafen
Triest zuzuführen. Daß für das Ausbleiben der böhmischen
Transportgüter nicht etwa die Tarif- und Frachtpolitik der Eib-
schiffer verantwortlich zu machen ist, wird in einem späteren
Kapitel gezeigt werden.
Diese Wandlung in der Zusammensetzung des Eibverkehres
hängt aber auch mit der Aenderung zusammen, die unsere Volks-
w^irtschaft während der letzten 40 Jahre erfahren bat. Während
z. B. in den 70 er und in beschränkterem INIaße auch noch in den
80 er Jahren landwirtschaftliche Erzeugnisse, insbesondere Getreide
i) Auf die Zahlen des Jahres 191 1 kann sowohl für die Ausfuhr, wie für
die Einfuhr kein besonderes Gewicht gelegt werden, weil dieses Jahr einen ganz
abnorm tiefen Wasserstand aufwies und dadurch Monate hindurch der Eibverkehr
mit Bühmen ganz unterbrochen war.
— 23 —
auf der Elbe nach Hamburg als Ausfuhr guter transportiert
wurden, sind solche in der Folgezeit wegen der geringen oder
ganz fehlenden Ueberschußproduktion unserer Landwirtschaft im
Talverkehr fast vollständig verschwunden ; sie treten statt dessen
im Bergverkehr auf als Einfuhr guter aus ausländischen Pro-
duktionsländern. Die Massenproduktion von Rohstofferzeugnissen,
die wegen ihrer eigenen Geringwertigkeit auf den bedeutend billigeren
Wassertransportweg angewiesen sind, ist im letzten Jahrzehnt imElb-
hinterland stark zurückgegangen. Diese Produkte gelangen statt
dessen in umgekehrter Richtung, also im Bergverkehr über Ham-
burg, als Roh- und Hilfsstoffe für die verarbeitenden Industrien aus
ausländischen Gebieten zur Einfuhr. Dagegen eignen sich unsere
industriellen Inlandserzeugnisse, die zum Export oder sonstigen
weiteren Transport gelangen, nur zu geringerem Teile für den
Wassertransport, weil sie meist hochwertige Artikel darstellen
und deshalb den schnelleren und pünktlicheren, wenn auch
teureren Eisenbahnweg aufsuchen und aushalten können, eine
Tatsache, die durch die planmäßige, der Schiffahrt feindliche
Politik der deutschen Eisenbahnen begünstigt wird. Einen deut-
lichen Beweis hierfür liefert die Statistik Hamburgs über seine
Aus- und Einfuhr nach seinen Hinterlandsgebieten, wenn man die
Zahlen, getrennt nach Eisenbahnen und Binnenwasserstraßen zu-
sammenstellt, wie in Tab. 8 und 9 S. 24 für die Jahre 1890 bis
191 1 geschehen ist.
Aus dieser Zahlenzusammenstellung ersieht man, daß die Be-
deutung der Elb zufuhr quantitativ für Hamburg stets
eine bedeutende Rolle gespielt hat, qualitativ aber die gering-
wertigsten Güter gebracht hat, was bei dem Wesen des Wasser-
weges als Massentransportweg nicht auffallen kann. Der pro-
zentuale Anteil, den die E 1 b zufuhr an Hamburgs Gesamtzufuhr
vom Binnenlande her aufweist, ist von Jahr zu Jahr, einzelne be-
sondere Ausnahmen abgerechnet, stetig zurückgegangen, und zwar
qualitativ schneller und bedeutender als quantitativ. Daß dies
nicht ohne Bedeutung für die Binnenschiffahrtstreibenden bleiben
konnte, liegt auf der Hand, zumal sich bei diesem Verkehr in
den letzten Jahren nicht nur ein relativer, sondern ein absoluter
Rückgang bemerkbar macht. Umgekehrt ist der Anteil des Eib-
verkehres an der Aus fuhr nach dem Hinterlande sowohl quan-
titativ, wie qualitativ in dauerndem Wachstum begriffen, und
zwar in beiderlei Beziehung fast gleichmäßig. So betrug die
— 24 —
Tab. 8. Tab. 9.
Einfuhr nach Ausfuhr von
H a m 1) u r f;
mit Eisenbahn und auf der Oberelbe. (Nach der Hamburger Statistik)
I.
2. 1 3-
4- 5-
6. 7r|!"8:"^
<^ 1
10.
Tl. 1
12. 13.
Gesamteinfuhr
Davon auf
Ant.d Elb- Gesamtausfuhr
Davon auf |
Ant.d Elb-
Jahr
auf Eisenbahn
Oberelbe
Verkehrs j- Eisenbahn
am Ges.-
der Ob
erelbe
(1. Gesamt-
und Oberelbe
eingeführt
Verkehr | und Ob
erelbe
ausge
führt
ausfuhr
Gewicht Wert in
Gewicht
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"ü
1 1
- 1 Gewicht
Wert in
Gewicht Wert in |
in 1 000000
in
I 000000
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«55, in ^
> 1 000 t
1 000000
in
1 000000
1000 1 M.
lOOO t
M.
V
0
M.
1 000 t
M.
1890
3 232
I 205
I 729
386
53.5
32,5 •
91
3 477
I 243
1923
445
55.1
35-4! 2639
I 140
I 709
464
65.0
40,3
92
3 064
I 117
I 490
341
48,6
30,6 2758
I "5
I 825
466
65,9
42,3
93
3368
I 171
1712 364
50,7
30,7 2741
I 117
I 696
419
62,0
37,5
44,8
94i
3485
I 085
1869 3S1
53,7
35-1 3174
I 137
2 291
514
72,2
1895
3 503
I 191
I 734 1 352
49,4
29,4'' 3 167
I 129
2309
488
72,8
43,3
96
3 957
I 277
2 023 406
51,0
32,8! 3813
I 197
2 908
548
76-3
45,8
97
4 193
I 235
2248 411
53-633,3,1 4261
I 258
3182
572
74,6
45,2
98
4 410
I 229
2258
419
5i>2
34,1; 4702
I 362
3651
684
77,9
50,0
99
4 636
I 338
2435
453
52,3
33-6' 4677
I 409
3514
690
75-0
48,9
1900
1 4967
I 523
2 606
508
52,5
33,6 4763
1478
3457
705
72,9
47,3
Ol
4988
I 437
2565 475
5i>3
32,6!; 4712
I 398
3489
661
74,0
47,0
48,2
02
4938
I 470
2 449 433
49-5
29,2 4 506
I 411
3335
677
73-8
03
5865
1638
3319 578
56,6
35-3J 4 934
I 522
3799
780
76,6
51.3
04
5 214
I 624
2 178
395
41-8
24,6t 4 691
I 627
3°I3
631
64,1
38,6
1905
5866
I 820
3 001
560
51. 1
30,7 i 6341
I 926
4643
918
73-1
48,1
06
6856
2 II I
3567
624
52,0
29-3;
6771
2 134
5007
986
74-0
46,3
07
6645
2 261
3 186
595
48,0
26,1]
7817
2380
5844
I lOI
74,6
46,2
08
6440
2018
3082
566
47.8
28,2
7401
2 147
5522
972
74-7
45,1
09
6 964
2 197
3 353
605
48,1
26,8
7897
2 302
5966
1039
75,5
'^•3
1910
9542
2755
5079
805
53,4
29,0
9758
2 708
7506
I 309
76,9
40,1
II
8725
2937
2 911
598
34,9
20,4
j
8862
2775
4 455
968
50,4
i35,9
1
Steigerung von 1890— 191 1 gewichtsmäßig 11,4% und dem Werte
nach 11,5 %, so daß 191 1 dem Gewichte der Transportgüter nach
3/4, dem Werte nach fast ^2 des gesamten Hamburger Hinterland-
ausfuhr Verkehres auf der Elbe befördert wurde.
Diese Entwicklung der Hamburger Aus- und Einfuhr vom
Hinterlande rechtfertigt deutlich die Behauptung, daß die Tal-
schiffahrt an Umfang und Bedeutung nicht unbedeutend in den
letzten Jahren abgenommen hat, daß diese Abnahme aber nicht
durch gänzlichen Wegfall der von ihr bisher beförderten Güter-
mengen für den deutschen Güterverkehr überhaupt ihren Grund
hat, sondern daß jene Gütermengen auf andere Transportwege
und zwar auf die Eisenbahnen übergegangen sind. Schuld an
diesem Umstände sind nicht die Transportleistungen der Eib-
schiffahrt ; denn diese haben sich, was Schnelligkeit, Regelmäßig-
— 25 —
keit, Pünktlichkeit und vor allem Billigkeit der Beförderung an-
langt, in weitgehender Weise vervoUkommt und verbessert.
Was z. B. die Billigkeit betrifft, so sei nur darauf hingewiesen,
daß noch im Jahre 1890 für eine Tonne Kohlen von Aussig bis
Hamburg die Transportkosten durchschnittlich 3,20 M. (gleich
0,53 Pfg. für I tkm), 1908 dagegen nur noch 2,80 M. (gleich
0,41 Pfg. für I tkm) betrugen, und daß die Strecke Hamburg-
Dresden 1875 für Massengut durchschnittlich noch 13 M. für
I t (gleich 2,32 Pfg. für i tkm) Fracht kostete, 19 10 dagegen
nur noch 3,20 M. für i t (gleich 0,53 Pfg. für i tkm).
Jener Rückgang des Eibverkehres ist also lediglich auf Ver-
änderungen in unserer gesamten Volkswirtschaft, nicht aber auf
Rückständigkeit und deshalb Reformbedürftigkeit der Eibschiffahrt
zurückzuführen.
Da der österreichische Eibverkehr eine so bedeutende Rolle
auch für die Organisation der Eibschiffahrt spielt, so sei noch ein
kurzer Blick auf die Art der böhmischen Eibtransportgüter und
ihre Bestimmungsorte geworfen. Als Beispiel seien die Verhält-
nisse des Jahres 1910 wiedergegeben, das im allgemeinen als ein
leidlich normales Schiffahrtsjahr gelten kann. In diesem Jahre
versandte Böhmen auf der Elbe nach Deutschland i 796906 t
Güter und empfing aus Deutschland 711 216 t. Auf welche Güter-
arten sich diese Güterbewegung erstreckte, darüber gibt Tab. 10
(S. 26) Aufschluß, in der alle Waren aufgeführt sind, die mit mehr
als 30COO t die Elbe benutzt haben.
Diese Tabelle zeigt die überragende Rolle, die in dem
böhmischen Versand die Braunkohle spielt, die hauptsächlich
in den Häfen Aussig-Stadt und Rosawitz zur Verladung kommt.
Der größte Teil dieser Kohle legt aber nur einen verhält-
nismäßig geringen Weg auf der Elbe zurück, denn von der
Gesamtmenge von 875000 t ist für 410000 t das Königreich
Sachsen mit seinen Haupthäfen Dresden und Riesa Bestimmungs-
land. Dies zeigt Tab. 1 1 (S. 26), die darstellt, wieviele und welcher
Art Güter die einzelnen deutschen Eibbezirke aus Böhmen em-
pfangen haben. Größere Mengen böhmischer Braunkohle gehen
nächst dem nach der Provinz Sachsen (162 000 t), hauptsächlich
wohl nach Magdeburg, und ferner noch nach den märkischen
Wasserstraßen (106454 0- Die ganze Elbe bis Hamburg hinab
geht nur ein sehr geringer Teil der böhmischen Kohle, nämlich
50952 t.
— 26
Tab. 10.
Versand und Empfang Böhmens nach bez. von
Deutschland im Jahre loio in i ooo t.
I.
2.
...
4.
Menge in
1 ooo t
Davon waren
Gütergattung
Menge
Braunkohlen
875
Verbrauchszucker
277
Gesamt-
Holz (weich, verarb.)
176
Versand
1796
Gerste
66
Pflastersteine
49
Malz
41
Rohrzucker
34
Chemikalien
30
I.ciii- n. Oelsaaten
Ol
Schwefelkies
67
Gesamt-
Empfang
711
Roheisen
Salz
Borke, Gerbstoffe
Oel, Fett, Talg und
61
61
37
Tran
35
Tab. II.
Die einzelnen El b Verkehrsbezirke mit ihrem Güter versand
nach und Güterempfang von Böhmen im Jahre 1910.
(Statistik d. Deutschen Reiches Bd. 245.)
2. I 3-1 4-
Versand nach Böhmen
5-1 6. I 7-
Empfang von Böhmen
Verkehrsbezirke
der Elbe
Gesamt in
1000 t
Davon waren
Gesamt in
Güterarten |g\t«,^ 1000 t
Davon waren
Güterarten
Menge
in 1000 t
Elbe von Geest-
hach bis
Falkental
(Hamburg)
636
Lein-,Oelsaat,
Phosph. Kalk
Schwefelkies
Chilesalpeter
Roheisen j
Borke, Gerbh.
Oele, Fette,
Talg
91
67
67
61
61
37
33
698
Verbr.-Zucker
JMineralöle
Braunkohle
I (roh)
Gerste
[Malz
'Rohzucker
iChemikalien
277
So
51
50
39
34
31
Elbe in Hannover
15 1 Braunkohle
15
Elbe i. Brandenbg.;! —
41
Braunkohle
41
Elbe in Pr. Sach-|
sen und Anhalt <
70
Salz (Koch-,
Speise-, Vieh-,)
61
173
Braunkohle
Elbe im Königr.
Sachsen
162
iBraunkohle 1 410
632 iW.bearb.Holzj 172
Pflastersteine j 24
Mark. Wasserstr. —
iio Braunkohle
106
Nächst der Braunkohle ist der wichtigste böhmische Export-
artikel der Zucker, und zwar in Gestalt des Verbrauchszuckers:
277663 t (Rohzucker 34240 t). Dieser böhmische Exportartikel
ist für die Eibschiffahrt sehr wichtig ; denn einerseits wird er in
den Versandhäfen — hauptsächlich Aussig-Schönpriesen 108 000 t,
Laube 45 000 t, und durch Vermittlung der Moldau Prag 34 200 t —
in großen Mengen als Massengut schiffsladungsweise verfrachtet
und somit durch ihn die Schiffstragfähigkeit sogleich ganz aus-
genützt. Andererseits benutzen diese Zuckerladungen die Elbe
so lange wie irgend möglich. Sie bilden reines Transitgut, da
Hamburg als österreichischer Exporthafen dient, eine Stellung,
die ihm von Triest stark streitig gemacht wird. Dieser Zucker
geht unter Zollverschluß von Böhmen bis zum Hamburger Frei-
hafen durch. Es sei schon hier bemerkt, daß die Großschiffahrt
dieses günstige und wichtige Transportgut fast ganz an sich ge-
rissen hat.
Die dritte Stelle in der Reihe der böhmischen Transportgüter
nimmt in der Talschiffahrt weiches bearbeitetes Nutz- und Bau-
holz ein, das, im Gegensatz zum Floßholz, in Kähnen zur Ver-
ladung gelangt ; dieses Gut benutzt die Elbe fast ausschließlich
nur bis zum Königreich Sachsen.
Im ganzen betrug der direkte Versand Böhmens nach Ham-
burg 19 10: 445 000 t.
Der Empfang Böhmens aus Deutschland auf der Elbe
besteht in der Hauptsache aus Transitgütern, die die Elbe von
Hamburg aus benutzt haben. Sie bestehen vor allem aus Lein-
und Oclsaat (1910: 91 103 t), Schwefelkies (67000 t), Borke und
Gerbhölzer (37 745 t). Insgesamt betrug der böhmische Empfang
direkt aus Hamburg 530000 t. Weitere wichtige Empfangsgüter
Böhmens sind Roheisen (61 000 t) und Salz (61 000 t) ; letzteres
stammt ausschließlich aus der Provinz Sachsen und benutzt die
Elbe meist von Schönebeck aus.
II. Kapitel.
Entwicklung der Eibflotte.
Nachdem gezeigt worden ist, welche Art von Gütern die
Eibschiffahrt aufsucht und nach welchen Punkten der Verkehr
hauptsächlich gerichtet ist, soll nunmehr dargestellt werden,
w^elcher Schiffspark der Eibschiffahrt zur Bewältigung jener Güter
— 28 —
zur Verfügung steht und wie sich die Eibflotte in den letzten
Jahrzehnten entwickelt hat.
Die sicheren statistischen Unterlagen, die hierfür zur Ver-
fügung stehen, sind ziemlich gering und wenig ergiebig, denn
es fehlt bei der Elbe gänzlich an Veröffentlichungen und Zu-
sammenstellungen, wie sie der Rhein in den jährlichen Veröffent-
lichungen der vereinigten Rheinschiffahrtsregister und der Rhein-
schiffahrtskommission, ferner in den leicht zugänglichen und
für jenes Stromgebiet ziemlich vollständigen Registern der Ver-
sicherungsgesellschaften in Frankfurt und Mannheim und in
den Vermessungsbüchern des Germanischen Lloyd besitzt, die
fast sämtliche in den letzten 15 Jahren für den Rhein
erbaute Schifte enthalten. Derartige Hilfsmittel sind für die Elb-
schiftahrt nur unvollkommen vorhanden oder fehlen ganz, so daß
man bei Darstellung der Eibschiffahrt auf die. Angaben der deut-
schen Reichsstatistik beschränkt ist, die seit 1872 alle fünf Jahre
über den Schiffsbestand der deutschen Binnenschiffahrt er-
hoben und veröffentlicht werden. Da aber die Art der Erhebung
eine wenig gründliche und nicht immer zuverlässige ist und die
Fragestellung sich oft auf Punkte erstreckt, die für die Praxis
und die wissenschaftliche Bearbeitung ziemlich nebensächlich
sind, während wichtige Tatsachen von der Erhebung unbe-
rücksichtigt gelassen werden, so ist aus ihr nur ein wenig er
giebiges Material zu entnehmen. Eine Vergleichung der veröffent-
lichten Erhebungsergebnisse der einzelnen Jahre untereinander
und ihre Verwertung für eine entwicklungsmäfMge Darstellung der
Eibschiffahrt ist deshalb nur in ganz beschränktem Umfange mög-
lich, zumal die Fragestellung und das Zahlenmaterial, das nach
jeder statistischen Aufnahme veröffentlicht wird, fast jedesmal
wechselt und die gewonnenen Zahlenresultate wegen veränderter
Gruppierung der statistischen Ergebnisse oft untereinander nicht
vergleichbar sind.
Aus diesen Gründen sind bei den folgenden Zusammen-
stellungen die Jahre 1872, 1877 und 1882 ganz fortgelassen
worden, weil eine Vergleichung der für diese Jahre von der
Reichsstatistik angegebenen Zahlen mit den späteren zu ganz
irreführenden Ergebnissen führen würde. Für die übrigen Jahre
von 1887 bis 1907 sind nur diejenigen wenigen Zahlenangaben
zum Vergleich herangezogen worden, deren Unterlagen in den
verschiedenen Jahren durch gleiche Erhebungsmethoden gewonnen
— 29 —
sind, oder die sich auf Grund der Statistik nachträglich mit
Sicherheit gleichmäßig berechnen Ueßen.
In Tabelle 12 (S. 30) ist versucht worden, ein Gesamtbild
des Schiffsparkes des gesamten deutschen Eibstromgebietes, also
der Elbe mit all ihren Nebenflüssen, den märkischen Wasser-
straßen und dem Hamburger Binnenhafen zu geben, wobei freilich
die Einschränkung gemacht werden muß, daß die zahlenmäßigen
Werte der im österreichischen Elbegebiet beheimateten Eib-
schiffe aus Mangel an statistischen Unterlagen haben unberück-
sichtigt gelassen werden müssen.
Denn es bestehen keine Zählungen und Angaben des öster-
reichischen Schiffsbestandes auf der Elbe. Die Oesterreichische
Betriebszählung für das Jahr 1902 jedoch weist an der Elbe
222 Wassertransportbetriebe mit insgesamt 630 beschäftigten
Personen auf, ferner noch 8 Schiffahrtsbetriebe als Nebenbetriebe.
Aus dem Vergleich der Zahlen der in den Betrieben Beschäftigten
und der Betriebe ersieht man, daß diese sämtlich kleine Betriebe
sein müssen, von denen wohl keiner mehr als einen Kahn be-
sitzt ; denn zur normalen Besatzung gehören 3 Personen. Da in
diesen Ziffern auch die zahlreichen Fahrbetriebe enthalten sind,
so wird man nicht fehlgehen, wenn man annimmt, daß 1902 in
Böhmen etwa 170 Schiffsunternehmungen mit ebensoviel Schlepp-
kähnen für den weitstreckigen Eibverkehr vorhanden waren. Diese
Zahl wird sich während der für die folgende Berechnung in Be-
tracht kommenden Zeit annähernd gleich geblieben sein, weshalb
die Zahl 170 für alle Jahre als Zahl der österreichischen an
der Elbschiffahrt beteiligten Schleppkähne den Zahlen der deut-
schen Statistik im Endergebnis hinzugezählt werden wird. Dies
wird umso eher der Wahrheit entsprechen, als in Böhmen nie-
mals während dieser Zeit ein Großschiffahrtsunternehmen bestan-
den hat.
Nicht unerwähnt darf bleiben, daß mehrfach österreichisches
Kapital in Schiffen angelegt ist, die in Deutschland, zumeist im
Königreich Sachsen beheimatet sind. Das hat seinen Grund
darin, daß hier die Steuern und Abgaben niedriger sind als in
Oesterreich. So hat die größte, mit österreichischem Geld ge-
gründete Elbschiffahrtsgesellschaft, die »Oesterreichische Nord- West-
Dampfschiffahrts-Ges.<- ihren Sitz in Dresden. Die Schiffe dieses
rein österreichischen Unternehmens sind daher in den Zahlen der
deutschen Binnenschiffahrtsstatistik mit enthalten.
— 30
Tab. 12.
Bestand an Binnenschiffen im Stromgebiet der Elbe
(nach der Rcichsstatislik).
Jahr
3- 4-
Anzahl der Schiffe
ohne
eigne
Trieb-
kraft
mit
eigner
Trieb- 1 N
kraft '
I 0. I 7. I 8. I 9. I 10. I II. ] 12.
Die Tragfähigkeit soweit angegeben betrug:
bei Schiffen ohne
eigne Triebkraft
Zahl
der
Schiffe
_ta,
Zus.
Trag
fähiRk. I =icni
in looo t,— in - ^
b. Dampfschif-
fen überhaupt
Zahl
der
Schiffe
H.5
bei Frachtdampf-
schifTen
Zahl Tragf.
der I in
Schiffe looo t
I887I
1892
1897
1902
10 151
11 582
10756
II 622
19071 12 005
726
940
I 382
I 771
10 622
12 308
I I 696
13 004
13776
10 HO
11 506
10 610
11 478
II 992
976
96
271
17
39
.S
1 274
III
521
28
48
7
I 435
135
759
41
57
7
2 0S6
181
I 222
60
70
12
2356
196
I 770
81
431
29
136
147
118
«75
68
Aus Spalte 2 — 4 dieser Tabelle geht hervor, daß die Zahl
der Eibschiffe in den letzten Jahren bedeutend gestiegen ist.
Und zwar ist die Vermehrung der in Spalte 3 aufgeführten
Schiffe mit eigener Triebkraft bei weitem größer, als
diejenige der in Spalte 2 dargestellten Schiffe ohne eigene
Triebkraft, also der Fracht- und Lastkähne. Trotzdem aber
reichen erstere in ihrer Bedeutung für den Frachtverkehr als
Gütertransportschiffe nicht im entferntesten an die der Fracht-
kähne heran, was ein Vergleich der Tragfähigkeit der reinen
Frachtdampfer in Spalte 1 1 mit derjenigen der Frachtkähne in
Spalte 6 beweist. Ferner lehrt eine Gegenüberstellung von
Spalte 8 und 10, daß der Zahl nach die weit geringere Menge der
Eibdampfschiffe aus Frachtdampfern, dfe Mehrzahl aber aus kleinen
Verkehrsbooten besteht, die vor allem im Hamburger Hafen zum
Hafendienst und auf den märkischen Wasserstraßen zum Personen-
und beschränkten Gütertransport dienen. Eine dritte Gruppe
unter ihnen bilden die reinen Schlepp dampfer, die zwar für
den Schiffahrtsverkehr sehr wichtig sind, aber für die Bewältigung
des Gütertransportes nur mittelbar in Frage kommen.
Das wichtigste Gütertransportmittel auf der Elbe bilden die
Frachtkähne, deren Entwicklung deshalb einer besonderen Be-
trachtung unterzogen werden soll.
Spalte 5 und 6 der Tabelle 12 veranschaulichen zuerst das
für die Eibschiffahrt typische Wachstum der Zahl, wie der Größe
der Frachtschiffe. Ihre Zahl ist von 1887 bis 1907 von 10 HO
auf 1 1 992 (18%) gestiegen, während die Tragfähigkeit von
_ 31 —
976560 t auf 2 356507 t (131 %) anwuchs. Es zeigt sich also,
daß die Steigerung der Leistungsfähigkeit des Kahnparkes gegen-
über der absokiten Zahl der Schiffsgefäße eine bedeutend größere
ist, d. h., daß die Größe und Tragfähigkeit der einzelnen Schiffe
sich nicht unbeträchtlich vermehrt hat.
Wenn freilich in Spalte 7 die durchschnittliche Tragfähig-
keit für das Jahr 1887 auf 96 t und für das Jahr 1907
auf 196 t angegeben wird, so läßt das wohl ein wahrheitsgemäßes
Bild der relativen Leistungsfähigkeitssteigerung, nicht aber ein
solches der absoluten Größen der eigentlichen Eibfahrzeuge
zu ; denn in der statistischen Aufstellung, die das ganze Strom-
gebiet der Elbe umfaßt, sind auch die kleinen und kleinsten
Schifferboote der Unterelbe und der märkischen Gewässer,
die in der Reichsstatistik dem Stromgebiet der Elbe zugerech-
net sind, sowie die nur zum Hamburger Hafendienst be-
stimmten, sehr zahlreichen Schuten und Leichterboote enthalten.
Diese an Zahl den eigentlichen Eibtransportschiffen weit über-
legenen kleinen Fahrzeuge, die für den weitstreckigen Güter-
transport nicht in Frage kommen, drücken die Durchschnittszahl
der Tragfähigkeit für das Elbegebiet auf ein tieferes Niveau herab
und entstellen dadurch die Wirklichkeit. Daher sind diese sum-
marisch gewonnenen Zahlen nicht allzu wertvoll. In folgendem
(S. 32) ist eine Tabelle zusammengestellt worden, die, jene Fehler
möglichst vermeidend und verbessernd, ein Bild von der wirklichen
Entwicklung der Frachtgüterflotte der Elbe geben soll. Es sind in
ihr nur die unmittelbar an der deutschen Oberelbe mit Ausschluß
ihrer Nebenflüsse und Kanäle beheimateten Kähne ohne eigenen
Antrieb berücksichtigt. Die nur im Hamburger Hafen zu Ver-
mittlungs- und Verladungstransporten benutzten kleinen Schuten
und Leichter sind in Spalte 3 und 6 sowohl nach Zahl wie nach
Tragfähigkeit gesondert aufgeführt, damit sie nicht das Gesamt-
bild für die Frachtkähne störend beeinflussen.
Die Zahl der Frachtkähne, die in Spalte 2 aufgeführt sind,
und die die eigentliche Transportflotte der Elbe darstellen, möchte
fast wegen ihrer Niedrigkeit im Verhältnis zu den in Tabelle 12,
Spalte 5 mitgeteilten Zahlen Verwunderung erregen : dort weist
das Jahr 1907 12 005 Schiffe, hier dasselbe Jahr nur 1782 Schiffe
auf, also kaum den siebenten Teil. Anders stellt sich jedoch ein
Vergleich der Tragfähigkeit dieser Schiffe für dasselbe Jahr, wie
er aus Tabelle 12, Spalte 6 und Tabelle 13, Spalte 5 entnommen
— 32 —
Tab. 13.
Bestand an antriebslosen Schleppkähnen an der Elbe ohne ihre
Nebenflüsse von Saclisen bis Hamburg.
I.Ulf Grund der Reichs- und Hamburger Statistik).
I.
2-
3-
4-
5-
6. 1 7.
8. 1
9. 1
10.
Zahl der Schleppkähne
Tragfähigk.d. Schleppkähne
Proz. Zunahme
seit 1887
Sui c
Jahr
ohne die
Leichter
ohne die] Leichter
5351
Trae-
"^— -
Leichterund
und
Zu-
Leichter u.i und Zusammen
" «Ifähiekeit
Schuten
Schuten
sammen
Schuten d.| Schuten
(ausSp. 5)
t « c'yj
Hamburgs
Hamburgs
Hanib.Geb. in Hamb.
NX
%
QH'Ö «
1887
I 629
3057
4686
195 009
114 794
309803
i
122
1892
2 015
3791
5806
508 634
149946
658 580
24!
165
254
1897
2044
3325
5369
577346
148 650
725996
26!
196
288
1902
2 169
4256
7425
956919
238 678
I 195 597
34 1
390
435
1907
I 782
5484
7 266
I 051 929
349587
I 401 516
9i
439
584
werden kann: dort Gesamttragfähigkeit aller antriebslosen Eib-
schiffe 2 356 507 t, hier Gesamttragfähigkeit aller Eibfracht-
schiffe I 051 929 t, also fast die Hälfte. Somit ergibt sich aus
diesen beiden Tabellen, daß der siebente Teil aller Schiffe fast
die Hälfte der Tragfähigkeit aller Schiffe in sich vereinigt, und
daraus folgt weiter, daß sich in Tab. 13, Spalte 10 für die Größe
und Tragfähigkeit der Frachtkähne bedeutend höhere Durch-
schnittswerte ergeben müssen, als in Tab. 12, Spalte 7.
Betrachtet man nun die Entwicklung dieser so gefundenen
wirklichen Eibtransportflotte im engeren Sinne \), von der im fol-
genden allein noch die Rede sein soll, eingehender, so zeigt sich
in den 20 Jahren von 1887 — 1907 ihrer Zahl nach nur eine
Steigerung von 9 % , der Tragfähigkeit nach aber eine
solche von 439 % . Doch ist sie in^ den einzelnen Zeitabschnitten
eine so verschiedene, daß es sich verlohnt, diese Verschiedenheit
etwas näher zu betrachten. Von 1887/ 1892 weist die Eibflotte
ihr größtes Wachstum auf, nämlich in der Zahl der Schiffe 24 %
und in ihrer Tragfähigkeit 165 %. Es hängt dieses Wachstum
damit zusammen, daß Ende der 80 er Jahre der Eibverkehr von
und nach den märkischen Wasserstraßen einen bedeutenden Auf-
schwung nahm, überhaupt die Konjunktur in der Eibschiffahrt
eine besonders günstige war, so daß zahlreiche neue Schiffahrts-
betriebe entstanden. In dem folgenden Jahrfünft ist die Ent-
wicklung eine bedeutend ruhigere, da der Bedarf an Schiffsmaterial
in der vorhergehenden Periode gedeckt worden war und durch
i) Hinzuzurechnen sind dabei, wie oben angeführt, für jedes Jahr rund 170
österreichische Schleppkähne mit ca. 40 000 t Tragfähigkeit.
— 33 —
zahlreiche Vereinbarungen unter den Schiffahrttreibenden eine
allzu scharfe gegenseitige Konkurrenz vermieden wurde. Wenn
auch mehrere neue große Schiffahrtsunternehmungen in dieser
Zeit gegründet wurden, so begnügten sich diese doch meist damit,
alten Kahnraum aufzukaufen und in ihrer Hand zu vereinigen,
ohne Neubauten vornehmen zu lassen, so daß sich daraus nur eine
Neuerung in der Organisation, nicht aber eine Vermehrung der
gesamten Transportmittel ergab. Eine ganz andere Tendenz zeigt
dagegen das nächste Jahrfünft von 1897/ 1902, ^^^ ^^^ Anfang
der Zeit schärfster Konkurrenzkämpfe bildet. Während dieser
Kampfjahre, die genauer vom Jahre 1901 bis zum Jahre 1904
reichen, vermehrten fast alle größeren Unternehmungen in einer
der Entwicklung des Frachtangebotes nicht entfernt entsprechenden
Weise ihre Bestände an Schleppkähnen sowohl der Zahl wie der
Größe und Tragfähigkeit nach, um einerseits die günstige Kon-
junktur zu Beginn des Jahrhunderts voll ausnutzen zu können
und andererseits ihre Konkurrenten niederzukämpfen. So kam
es, daß von 1897/1902 die Zahl der Schiffe um 34%, ihre Trag-
fähigkeit um 390%^) gegenüber dem Jahre 1887 gestiegen war,
während im Jahre 1897 die Steigerung für die Schiffszahl erst
26%, für die Tragfähigkeit 196% betragen hatte und sie im
Jahrfünft 1892/1897 nur um 2% bez. 31% gewachsen war.
Demgegenüber stellt das Jahr 1907 ein bedeutend geringeres
Wachstum der Eibflotte fest, was eine Folge der seit 1904 zur
Durchführung gelangten Konzentrationsbewegung in der Eib-
schiffahrt war. Die Zahl der Schiffe wies sogar absolut einen
nicht unerheblichen Rückgang gegen das Jahr 1902 auf, und die
Tragfähigkeit steigerte sich gleichzeitig nur in mäßigen Grenzen
(49% gegen 194% im Jahrfünft 1897/1902). Die Kartellgesell-
schaften setzten, nachdem der Konkurrenzkampf durch ihren Zu-
sammenschluß bedeutend abgeschwächt war, nunmehr zahlreiche
alte kleinere Kähne, die durch die Höhe ihrer Betriebs-, Unter-
haltungs- und Versicherungskosten schon längere Zeit unrentabel
gearbeitet hatten, außer Betrieb.
Es ist nicht uninteressant, einen Vergleich anzustellen zwischen
i) Zu dieser Zahl ist zu bemerken, daß im Jahre 1902 eine Neueichung aller
Eibschiffe stattgefunden hat und daß durch ein neues Eichverfahren die Trag-
fähigkeit einzelner Schiffe etwas höher berechnet worden ist, als die früheren Eich-
ungen ergeben hatten. Doch macht diese Verschiebung nur einen verschwindenden
Teil des Zuwachses der Gesamttragfähigkeit aus.
Zeitschrift für die ges. Staatswissensch. Ergänzungsheft 50. 3
— 34
dem der Elbe jährlich zufließenden Frachtgüterquantum und dem
ihr für dessen Bewältigung zur Verfügung' stehenden Kahnraum.
Zu diesem Zwecke ist in nachfolgender Tabelle 14 die Gesamt-
transportgütermenge der Eibschiffahrt, wie sie in Tabelle 5 ge-
funden und zusammengestellt worden ist, mit der zu ihrer Be-
wältigung zur Verfügung stehenden Eibflotte nach Tabelle 13
Spalte 2 bez. 5 verglichen worden.
Hierbei sei jedoch betont, daß die Zahlen der Tabelle 14
nur einen Vergleichswert besitzen, und nicht als absolute Zahlen
verwendet werden können. Denn diese Zahlen sind, wie oben
ausgeführt, nur von relativer Richtigkeit, und überdies muß be-
achtet werden, daß zur Bewältigung des Güterangebotes auf der
Elbe, vor allem für das nach und von Hamburg kommende, nicht
nur die >reine« Eibflotte, wie sie in Tab. 13 aufgestellt ist, son-
dern abgesehen von den etwa 170 in Böhmen beheimateten
Schiffen, auch die der märkischen Wasserstraßen stark mit heran-
gezogen werden müssen. Da für letztere jedoch, soweit sie am
langstreckigen Eibverkehr beteiligt sind, keine sicheren Zahlen
gefunden werden können, so konnten hier nur die an der Elbe
beheimateten Transportkähne berücksichtigt werden. Trotzdem
können die gefundenen Zahlen als Vergleichswerte ein brauch-
bares Material ergeben. Außerdem sind in Tab. 14 auch nicht
die Fracht d a m p f e r berücksichtigt worden, deren Transport-
leistung zwar im Verhältnis zum Gesamtverkehr gering ist, deren
Zahl und Tragfähigkeit aber, wie aus Tabelle 12 zu ersehen ist,
doch in letzter Zeit stark anwächst. Im allgemeinen werden die
in Spalte 4 der Tab. 14 gefundenen "Zahlen in der Wirklichkeit
noch etwas kleiner, also ungünstiger sein.
Tab. 14.
Vergleich zwischen Frac htschi ff flott e und Gesamt-
verkehr auf der Elbe.
I.
Jahr
2.
Gesamttragfähigkeit der
Frachtdampfer und
Schleppkähne auf der
deutschen Elbe in t
3-
Gesamt-
güterverkehr
in t
4-
Auf
I Schiffs-
tonne kom-
men Güter-
tonnen
1887
1892
1897
1902
1907
200 000
515700
584 000
968 90G
I 080 900
3 80G 000
5 ooo 000
6 200 000
7 442 000
IG 370 000
19,0
9,6
10,6
7-5
9,6
— 35 -
Betrachtet man die Verhältniszahlen in Spalte 4 der vor-
stehenden Tabelle, so wird die oben geäußerte Vermutung durch
sie ihre Bestätigung finden: Von 1887/ 1907 hat sich die durch-
schnittliche Beschäftigungs- und Ausnutzungsmöglichkeit der Eib-
schiffe genau um die Hälfte verringert und zwar in ziemlich gleich-
mäßigem Rückgang^). Die kleine Aufbesserung, die das Jahr 1907
aufweist, ist nicht hoch zu bewerten, da in ihm zwar einerseits der
Zusammenschluß eines großen Teiles der Elbschiffahrttreibenden
erfolgte und dabei manche alte, bisher nur für den heißesten
Konkurrenzkampf verwendete Frachtschiffe aus den Schiffslisten
gestrichen wurden, dafür aber andererseits am Ende des Jahres 1907
ein neues bedeutendes Schiffahrtsunternehmen gegründet wurde,
das schon im Jahre 1909 mit 59 neu erbauten Schleppkähnen
größter Abmessung auf der Elbe fuhr und dadurch den Kahn-
raum wieder stark vermehrte, ohne daß im Güterangebot sich
eine entsprechende Steigerung zeigte. Ganz besonders deutlich
kann man übrigens auch aus dieser Tabelle die schon erwähnte
Tatsache erkennen, daß zwischen den Jahren 1897 und 1902 der
Kahnraum infolge des Konkurrenzkampfes in einer übermäßigen,
der Nachfrage nicht entfernt angepaßten Weise vermehrt und
dadurch die Beschäftigungsmöglichkeit der einzelnen Frachtfahr-
zeuge fast um 25 % verringert worden ist. Die auf eine Trag-
fähigkeitstonne eines Frachtschiffes kommende jährliche Güter-
menge sank in diesem Zeitabschnitt von 10,0 t auf 7,5 t herab.
Durch zwei Momente wird dieses ungünstige Resultat in seiner
Bedeutung für die Schiffahrt noch beträchtlich verstärkt.
Es muß berücksichtigt werden, daß von Jahr zu Jahr durch
technische Fortschritte im Bau der Frachtfahrzeuge und Schlepp-
dampfer, sowie durch Vervollkommnung der Verfrachtungs- und
Löschtechnik in den Hafenplätzen die Leistungsmöglichkeit einer
Schiffseinheit sich bedeutend gesteigert hat und auch wegen der
weit höheren Bau- und Betriebskosten in neuerer Zeit sich steigern
mußte. Die Reisezeit zu Berg ist in den letzten 15 Jahren etwa
um ^/s — ^/2, die Löschzeit in den Häfen etwa um die Hälfte ver-
kürzt worden, so daß jedes Frachtschiff nach Empfang eines Fracht-
auftrages bedeutend schneller wieder auf dem Frachtmarkt ver-
i) Die Zahlen des Jahres 1892 sind als unnormal zu betrachten, weil in die-
sem Jahre der Verkehr auf der Elbe wegen der Choleraepidemie in Hamburg ein
ganz außergewöhnlich geringer gewesen ist, ohne daß dies mit dauernden wirtschaft-
lichen Verhältnissen im Zusammenhang gestanden hätte.
3*
- 36 -
wendbar wurde. Man rechnet, daß durch diese Umstände die
Leistungsfähigkeit eines Frachtschiffes gleicher Tragfähigkeit in
den letzten 25 Jahren sich etwa verdoppelt hat. Das läßt also
die Ueberproduktion an Kahnraum, wie sie aus Tabelle 14 her-
vorgeht, noch bedeutsamer werden.
Und noch ein zweites Moment kommt hinzu : Die Ladefähig-
keit eines Frachtschiffes nimmt naturgemäß mit dem Sinken des
Wasserstandes ab, da bei der geringen Tiefe, die im allgemeinen
die Elbe aufweist, bei niedrigem Wasser die Tauchtiefe der
Schiffe verringert werden muß, die Frachtsätze normalerweise
aber aufsteigen. So kommt es, daß nur ein geringer Teil des
Jahres es erlaubt, die Frachtschiffe mit voller Ladung fahren zu
lassen, wodurch sich die vorhandene Gütermenge auf eine größere
Zahl von Fahrzeugen verteilt und die Ausnutzungsfähigkeit des
einzelnen herabgemindert wird. In dieser Beziehung sind aber
in den letzten 20 Jahren bedeutende Wandlungen durch die staat-
lichen Stromregulierungsarbeiten eingetreten, so daß von Jahr zu
Jahr die Zahl derjenigen Betriebstage wächst, an denen selbst
die größten Fahrzeuge mit voller Ladung die ganze Elbe von
Hamburg bis Böhmen befahren können. Das bedeutet aber wieder
nichts anderes, als daß die Ausnutzungs möglichkeit einer
Schiffseinheit gewachsen ist.
Aus diesen Umständen ersieht man, daß man, um das Kahn-
raumangebot im Verhältnis zum Güterangebot richtig zu be-
werten, nicht nur die Ergebnisse der Tab. 14 Spalte 4 benutzen
darf, sondern daß man vielmehr für die letzten Jahre gegenüber
den früheren die Tragfähigkeitsangaben noch um ein reichliches
Drittel vermehren muß und sie dann erst in das Verhältnis zu
dem Gesamtgüterangebot der Elbe setzen darf. Nur so erhält
man ein richtiges Bild von der durchschnittlichen tatsäch-
lichen Ausnütz ung des Kahnraumes auf der Elbe im Ver-
hältnis zu seiner Ausnutzungs f ä h i g k e i t und Ausnutzungs-
möglichkeit.
Wirft man die Frage auf, wie sich solche Zustände in der
Eibschiffahrt bei freier Konkurrenz haben herausbilden können,
so ist darauf hinzuweisen, daß der Eibverkehr in hohem Maße
ein Saisonverkehr ist, d. h. zeitweise sehr starke Anforderungen
stellt, um aber schnell wieder abzuflauen, und daß dieser Charakter
des Eibverkehres sich von Jahr zu Jahr verstärkt hat. Dies ver-
anschaulichen die Tab. 15 und 16, auf denen der Bergverkehr ab
— 37 —
Hamburg und der Talverkehr an der böhmischen Grenze nach
ihren monatlichen Leistungen für die wohl als normal geltenden
Jahre 1885, 1895, 1905 dargestellt werden. Man sieht aus ihnen,
wie vor allen Dingen in den Frühjahrs- und Herbstmonaten plötz-
lich sehr starke Anforderungen an den Eibverkehr gestellt werden,
Tab. 15.
Durchgangsverkehr zu Tal an der Zollgrenze zu Schandau.
und zwar an beiden Hauptverkehrszentren, in Hamburg und Böh-
men, zu gleicher Zeit, daß diese Anforderungen aber ebenso
schnell wie sie gekommen, wieder zurückgehen. Es hängt dies
einerseits mit den Wasserstandsverhältnissen, andererseits aber
mit der Art der Frachtgüter zusammen, die auf der Elbe ver-
schifft werden, indem vor allen Dingen in Hamburg im Herbst
und im Frühjahr die Getreidemassen der letzten überseeischen
- 38 -
Ernte und in Böhmen im Herbst für den Winterbedarf und im
Frühjahr für die AuffüUun«,' des gelichteten Winter- und Frühjahr-
vorrates Braunkohlenmassen, sowie ebenfalls große Getreidemengen
zur Verfrachtung gelangen.
Tab. i6.
Hamburgs Elb verkehr zu Berg.
1,000 t.
"♦20
UOO
380
360
3M)
320
300
280
260
240
220
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Die Ausrüstung eines auf freier Konkurrenz beruhenden Ge-
werbes mit den ihm nötigen Betriebsmitteln richtet sich aber
automatisch nach den stärksten Beschäftigungszeiten, zumal
diese in der Regel die lohnendsten sind. Das trifft auch für die
Eibschiffahrt zu. Von einer Ueberproduktion an Kahnraum konnte
man, wenigstens bis vor 5 oder 6 Jahren, während der günstigsten
— 39 —
Beschäftigungszeiten im Frühjahr und Herbst nur in geringem Um-
fang reden ; nach ihr wird die Menge des notwendigen Kahnraumes
berechnet. Und da die Kurven der plötzlichen Nachfrage immer
höher und zwar ganz unvermittelt ausschlagen, so ist es auch er-
klärlich, daß der Kahnraum noch von Jahr zu Jahr eine immer
stärkere Vermehrung finden mußte, wenn er diesen plötzlichen,
freilich nur vorübergehenden Anforderungen gerecht werden
wollte. Auf die günstige Geschäftszeit aber folgt die flauere, und
zwar auf allen Gebieten der Elbe zu gleicher Zeit, während
der dann der Kahnraum nur wenig beschäftigt ist und unren-
tabel brach liegt. Einigermaßen regulierend wirkt zwar während
der beschäftigungsarmen Sommerperiode der sinkende Wasserstand
und damit die verringerte Ladefähigkeit der Frachtschiffe auf das
Verhältnis von Kahnraumangebot und Güterangebot ein. Doch
ändert das nichts an der Tatsache, daß auf der Elbe in wach-
sendem Maße eine Ueberproduktion von Kahnraum vorhanden
ist, bei deren Besprechung der Jahresbericht der * Vereinigten
Elbschiffahrts-Gesellschaften« für das Jahr 1910 noch einen weiteren,
nicht unwichtigen Grund hervorhebt, wenn er sagt: »Diese Ver-
mehrung ist keineswegs durch das vorhandene Bedürfnis bedingt
gewesen, sondern hervorgerufen durch das übermäßige Angebot
von selten der Mehrzahl der Werften, die neben der eigenen weit-
gehenden Krediteinräumung Schiffshypothekengelder in großem
Umfange, vornehmlich von ausländischen Banken, zur Verfügung
hatten. Zu der so geschaffenen Ueberproduktion an Betriebs-
mitteln standen die vorhandenen Gütermengen in gar keinem Ver-
hältnis. ^< Im folgenden Abschnitt wird ausführlich auf diesen
Punkt eingegangen werden.
— 40
II. A b s c h n i 1 1.
Organisation der Einzelunternehmungen.
I. Kapitel.
Wesen der gewerblichen Einzelunternehmung.
Der Betrieb der Eibschiffahrt zersplittert sich in eine große
Zahl mehr oder weniger kapitalkräftiger Einzelbetriebe und Einzel-
unternehmungen, eine Erscheinung, wie wir sie bei der Schiffahrt
auf fast allen wichtigeren Binnenwasserstraßen finden. Kaum in
einem anderen Gewerbe bestehen nebeneinander so bedeutende
Unterschiede von Betriebsgrößen, wie in der Frachtschiffahrt, was
mit den verschiedenen Zwecken zusammenhängt, mit denen der
Gütertransport auf einer Wasserstraße betrieben wird-
Scharf trennt sich vor allem nach Art der Unternehmer und
des Geschäftsbetriebes der lokale und der weitstreckige Fracht-
verkehr, jener oft vergleichbar mit dem Botenfuhrwerk auf der
Landstraße, dieser mit der Eisenbahn. Zwergbetriebe, die mit
Schiffsgefäßen von kaum mehr als 50 bis 70 t Tragfähigkeit ar-
beiten, finden wir heute vielfach noch in der Mark, aber auch in
den mecklenburgischen Gebieten der Oberelbe. Es ist selbst-
verständlich, daß derartige Betriebe nicht der Frachtschiffahrt
einer großen Binnenwasserstraße zugerechnet werden dürfen und des-
halb in vorliegender Arbeit keine Berücksichtigung und Bespre-
chung finden können. Denn das Wesen und die Bedeutung des Bin-
nenwasserstraßenverkehrs im engeren Sinne liegt gerade in der Größe
der Transportgefäße, die es ermöglicht, auf einer Fahrt ge-
waltige Gütermengen zu transportieren und deshalb vorzüglich
geeignet ist zur Verfrachtung von Massenkonsumartikeln. Wäh-
rend z. B. ein normaler Eisenbahnzug Güter im Gewichte von
400—600 t fortbewegt, sind heute auf der Elbe Schiffsladungen
— 41 —
von 700—800 t das Normale, solche von looo — i loo t nichts
Seltenes mehr.
In diesen Größenausdehnungen der Schiffsladungen und
Schiffsräume liegt jedoch auch eine gewisse Einschränkung für
die Verwendbarkeit des Wasserstraßentransportes, die für ihn zu-
gleich auch ein ganz spezifisches Charakteristikum bildet : Er ist
nur anwendbar für die Beförderung auf größere Entfernungen.
Das Verladen und Verstauen von so gewaltigen Gütermengen
am Ausgangshafen, wie das Entladen am Bestimmungsort er-
fordert auch bei Vorhandensein der modernsten technischen Hilfs-
mittel und des bestgeschultesten Ladepersonals eine nicht geringe
Summe von Zeit und Kosten, die stets, sollen sie nicht die Ren-
tabilität des Wassertransportes ungünstig beeinflussen und seine
Konkurrenzfähigkeit gegenüber der Eisenbahn herabmindern, in
einem gewissen Verhältnis zu der Länge des Transportweges
stehen müssen. Die Rentabilität des Wasserweges für Fracht-
güter wächst mit der Entfernung, auf der letztere ihn benutzen.
So betrug (nach Synipher) im Jahre 19 10 die mittlere Transport-
entfernung auf den deutschen Wasserstraßen 293 km, auf den
deutschen Eisenbahnen jedoch nur 153 km, also fast nur die
Hälfte.
Es ergeben sich somit für die Frachtschiffahrt im engeren
Sinne, wie sie in den folgenden Abschnitten hinsichtlich ihrer
Organisation besprochen werden soll, zwei deutliche Merkmale :
Die Benutzung des Wasserweges für Massen transporte, und
zwar nur auf weitere Entfernungen. Deshalb ist also
jener früner erwähnte Klein verkehr lokaler Natur auf den
Eibwasserstraßen von der Besprechung hier auszuschließen.
Aber auch noch weitere Einschränkungen sind für die Behand-
lung der verbleibenden großen Zahl von Schiffahrtsbetrieben zu
machen. Es soll hier nur die Rede sein von den Betriebs-
organisationsformen im Schiffahrts g e w e r b e. Nicht jeder Unter-
nehmer, der ein Frachtschiff auf der Elbe schwimmen läßt, be-
treibt die Schiffahrt gewerbsmäßig. Unsere natürlichen Binnen-
wasserstraßen sind heute noch frei, d. h, sie stehen einem jeden
zur Benutzung als Transportweg offen, bisher sogar ohne beson-
dere Abgabenentrichtung. Aus diesem Umstand aber ist für die
Betreibung des Gütertransportes auf Wasserstraßen ein geringeres
Betriebskapital nötig und wird eine größere Einfachheit und Be-
quemlichkeit der Verkehrsunterhaltung herbeigeführt. Der Unter-
nchmcr bedarf des Kapitals nur für Bcschaffunt,' und Unterhaltung
der Transport g e fä ß e , nicht aber für Bau und Erhaltung des
Transport w e g e s, so daß auch die Amortisationskosten bedeutend
geringer als bei anderen Verkehrsarten sind. Da überdies das
Personal, welches beim Schiffstransport Verwendung findet, ver-
hältnismäßig gering und zum «größten Teil ein ungeschultes und
billiges ist, das auch bei anderen Arbeitsverrichtungen verwendet
werden kann, so ist es kaum verwunderlich, wenn man sieht,
daß zahlreiche Industrie- oder Handelsunternehmungen, deren
Rohstoff-, Produktions- oder Absatzgebiet von den Eibwasserstraßen
berührt oder durchflössen wird, auf diesen in größerem oder ge-
ringerem Umfange Frachtkähne, Fracht- oder Schleppdampfer unter-
halten, die nur zur Befriedigung ihrer eignen Verkehrsbedürfnisse die-
nen. Derartige Schiffahrtsbetriebe, die nur Nebenbetriebe anderer
gewerblicher Hauptbetriebe sind, und die auf der Elbe nicht selten
in Verbindung mit industriellen Unternehmungen, wie Zucker-
fabriken, Pulverfabriken, Mühlen, Ziegeleien, Steinbruchsbetrieben
und dergleichen, auch im Petroleum- und Übsthandel anzutreffen
sind, finden in folgendem keine oder nur nebensächliche Be-
rücksichtigung. Hier sollen nur die gewerblichen Schiff-
fahrtsunternehmungen einer Untersuchung und Be-
sprechung unterzogen werden, und diese Bezeichnung kommt
jenen nebenbetrieblichen Schiffahrtsunternehmungen um so weniger
zu, als sie die Schiffahrt nur nach eignem Bedarf und daher oft
nur periodenweise ausüben, um sie die übrige Zeit im Jahre
ruhen zu lassen. Freilich sei schon hier bemerkt, daß es bei
manchen Schiffahrtsunternehmungen mittlerer Größe nicht leicht
ist, zu entscheiden, ob sie wirklich noch der gewerblichen Schiff-
fahrt zuzuzählen oder nur als Nebenbetriebe von Speditions- oder
Getreide- oder Kohlenhandelsgeschäften anzusehen sind.
Die Betriebszählung von 1907 weist Binnenschiffahrt als
Nebenbetrieb an der Elbe 40 mal nach, während die Betriebs-
zählung von 1895 noch 66 solche Betriebe feststellte.
Unter gewerbsmäßiger Güterschiffahrt vereinigen sich in der
Eibschiffahrt zwei verschiedene Schiffahrtsarten : die hVachtschiffahrt
und die Schleppschiffahrt. Wenn auch letztere nur mittelbar an
der verkehrsmäßigen Bewältigung des Frachtgüterangebotes be-
teiligt ist, so verbindet sie doch ihr geschäftliches Interesse eng
mit der P^rachtschiffahrt, so daß beide nicht voneinander zu
trennen und auch vielfach bei größeren Unternehmungen in einer
— 43 —
Hand vereinigt sind. Denn die Frachtschiffahrt ist, wie schon
früher gezeigt worden, auf der Elbe zum weitaus größten Teil
Sache der Schleppkähne, die keine eignen Antriebsmaschinen be-
sitzen. Dampfschiffe kommen für die Frachtbeförderung nur bei
Eil- und Stückgütern in Betracht. Die Schleppkähne lassen sich
bei der Talfahrt in der Regel von der Strömung des Flusses
treiben, bei den Reisen zu Berg aber müssen sie sich fremder
motorischer Kräfte bedienen, die auf der Elbe heute nur
in privaten Schleppdampfern vorhanden sind. Im Talverkehr
wird dagegen, im Gegensatz zum Rhein, auf der Elbe nur selten
geschleppt, fast nur bei Stückgüterladungen. Ohne die Schlepp-
schiffahrt ist also auf der Oberelbe die Bergfrachtschiffahrt heute
überhaupt nicht mehr denkbar, und so gehört auch die erstere
ihrem Wesen nach zur Güterschiffahrt.
IL Kapitel.
Die Kleinschiffahrt.
I. Wesen des Kleinbetriebes.
Der private Kleinschiffer ist ein Unternehmer, dessen wirt-
schaftliche Interessen lediglich darauf gerichtet sind, das in seinem
ihm als Eigentümer gehörigen Schiffsgefäß fundierte Anlagekapital
möglichst hoch zu verzinsen und dadurch aus ihm Gewinn zu
ziehen. Damit unterscheidet er sich begrifflich deutlich von dem
Vertreter des modernen Schifferhandwerkes, von dem sogenannten
Schifferknecht oder Schiffsmann. Im Sprachgebrauch dagegen
werden diese beiden ganz verschiedenen Berufsarten kurzerhand
als Schiffer bezeichnet und damit die Angehörigen des Schiff-
f a h r t s- und des Schiffer gewerbes gleichmäßig benannt, ob-
wohl sie nur wenig miteinander gemeinsam haben. Denn der
Schiffseigner zieht seinen Gewinn aus dem im Schiffsgefäß an-
gelegten Kapital, der Schifferknecht dagegen aus seiner persön-
lichen, körperlichen Arbeit und Leistungsfähigkeit. Der Schiffahrts-
unternehmer, von dem allein in diesem Abschnitt gesprochen
werden soll, ist also an sich weder Händler noch Schiffsführer,
weder Handwerker noch Handarbeiter, sondern er ist Kapitalist,
d. h. Eigentümer eines Wertobjektes, aus dessen wirtschaftlicher
Ausbeutung er sich Gewinn und Lebensunterhalt verschafft. Des-
halb ist auch der vielfach im Eibgebiet gebräuchliche Ausdruck
— 44 —
Privatschiffseigner klarer und sinnentsprechender, als der eben-
falls denselben Stand bezeichnende Ausdruck I'rivatschiffer oder
Kleinschiffer ; trotzdem werden, dem Sprach^^ebrauch entsprechend,
alle drei Bezeichnungen der Kürze halber im folgenden als gleich-
bedeutend nebeneinander verwendet.
Die beiden letzten Bezeichnungen können leicht zu der irrigen
Annahme verführen, als ob das Wesentliche am Kleinschiffer
seine körperliche Tätigkeit auf einem Schleppkahn, z. B. als
Steuermann oder Schifferknecht, sei. Eine solche kommt prak-
tisch zwar vielfach bei dem Schiffseigner hinzu, wodurch die Be-
triebskosten durch Ersparung von Mannschaftslöhnen verringert
und die Rentabilität des Schiffes oder des in ihm angelegten
Kapitals erhöht werden. Notwendig aber zum Begriff und Wesen
des Kleinschiffers ist diese eigne Tätigkeit nicht, und es gibt in
der Tat einige Privatschiffseigner im Elbegebiet, die nicht per-
sönlich auf ihren Schiffen fahren. Vielmehr beruht diese Ge-
wohnheit auf dem Wesen des Kleinkapitalisten überhaupt, der
den Ertrag seines Kapitales durch Verwertung seiner eignen
körperlichen oder geistigen Arbeitskraft zu vermehren sucht und
auch relativ stärker vermehren kann als der Großkapitalist.
Die Richtigkeit der Auffassung, daß der Kleinschiffer seinem
Wesen nach Kleinkapitalist ist, tritt noch deutlicher hervor, wenn
man die Verwertungsmöglichkeiten eines Erachtschiffes und da-
mit den Wirkungskreis und das Betätigungsfeld des Privatschiffs-
eigners näher ins Auge faßt. Er kann seinen Kahnraum aus-
nutzen :
I. Durch Ankauf von Gütern auf eigene Kosten an einem
Orte, an dem sie geringen Marktwert besitzen ; darauf trans-
portiert er sie zu Wasser an einen Ort, an dem sie höher im
Werte stehen und verkauft sie daselbst über den Einkaufspreis.
Sein Gewinn besteht hierbei lediglich in dem Ueberschuß, den
er beim Verkauf der Güter über dem Einkaufspreis samt Un-
kosten erhält. Der Kleinschiffer wird also hier zum Händler,
sein Handelsgewinn muß neben seinem Unternehmergewinn auch
die Betriebskosten enthalten, zu denen die Verzinsung des im
Schiff angelegten Kapitals zuzurechnen ist. Diese Art Fracht-
schiffahrt, bei der der Schiffseigner nicht nur Frachtführer, son-
dern auch Eigentümer der Frachtgüter ist, war früher, noch bis
in die 80 er Jahre hinein, nicht selten bei der Kohlenfrachtschiff-
fahrt auf der Elbe von Aussig talwärts zu finden. Heute ist sie
— 45 —
auf der Elbe ganz verschwunden, nachdem kleinere Kahnräume
ihre Rentabilität verloren haben, die Kohlenladungen großer
Schiffsgefäße aber ein allzu großes Wertobjekt darstellen, dessen
Eigentümer der Schiffseigner aus Mangel an genügend eigenem
Kapital oder Kredit nicht zu werden vermag. Neuerdings tritt
sie gelegentlich wieder bei der Verschiffung von böhmischem
Obst auf.
2. Durch Abschluß eines Miet- oder Werkvertrages mit einem
Verfrachter, dessen Frachtgütern er seinen Kahnraum zur Ver-
fügung stellt und deren Transport nach einem bestimmten Orte
er übernimmt. Dieser Vertrag kommt so zustande, daß der
Schiffseigner selber auf dem Frachtmarkt erscheint, dem Ver-
frachter gegenübertritt und mit ihm den Frachtpreis, d. h. den
Mietzins für den von den Gütern eingenommenen Kahnraum samt
Transportvergütung vereinbart. Der Kleinschiffer tritt hier als
selbständiger Frachtführer auf, der Frachtgewinn abzüglich der
Betriebskosten stellt für ihn die Verzinsung seines im Schiffe an-
gelegten Kapitales dar, so daß er an der Höhe des Frachtpreises
voll beteiligt ist. Diese Betriebsart war früher die typische für
die Privatkleinschiffahrt im Elbegebiet; sie ist heute durch das
Aufkommen der Gesellschaften, in deren Befrachtungs- und Ver-
mittlungskontoren sich der größte Teil der der Eibschiffahrt zu-
fließenden Verfrachtungsaufträge konzentriert, für das Fracht-
geschäft zu Berg fast ganz verdrängt, aber auch in der Talschiffahrt
stark in Abnahme begriffen. Ihr Hauptanwendungsgebiet findet
diese Betriebsart heute noch bei der Aussiger Kohlenverfrachtung.
3. Durch Abschluß eines Werkvertrages mit einem Fracht-
unternehmer, der den Schiffseigner zu einer einmaligen Transport-
leistung verpflichtet. Die Vergütung, die hierfür der Schiffer er-
hält, besteht in den häufigsten Fällen nicht in dem vollen Fracht-
preis, den der Absender für den Transport seiner Güter bezahlen
muß. Vielmehr fließt dieser dem Frachtvermittler zu, der seiner-
seits bemüht ist, die Vergütung, die er für Ausführung der
Frachtleistung dem Schiffer zu zahlen hat, möglichst tief unter
dem Frachtpreis des Marktes zu halten und aus der Differenz
seinen Gewinn zu ziehen. Der Schiffer aber muß von seinem
Lohne, wie auch sonst, seine sämtlichen Betriebsauslagen be-
streiten und kann nur den etwa bleibenden Rest als Verzinsung
seines Betriebskapitals ansehen. Der Schiffseigner bleibt aber
selbständiger Frachtführer. Diese Art des Geschäftes ist die
- 46 -
häufigste Form des Kleinfrachtschiffahrtbetriebes während der
letzten 30 Jahre gewesen, soweit die Schiffer noch vöUii^ selb-
ständig waren und sich nicht einem Verbände oder einer Organi-
sation, die sie dauernd band oder verpflichtete, angeschlossen
haben (das neuere System der Anteilfrachten).
4. Durch Abschluß eines Dienstvertrages mit einem Fracht-
unternehmer, indem sich der Schiffer auf die Vertragsdauer ver-
pflichtet, unter bestimmten Umständen, z. B. so oft er mit
leerem Kahnraum in einem bestimmten Hafen eintrifft, Frach-
ten nur von diesem Frachtunternehmer, und zw'ar zu einem
während der ganzen Vertragszeit gleichbleibenden Fracht-
satze zu nehmen. Es kommt dieses Verhältnis einer be-
dingten Vermietung des Kahnraumes sehr nahe. Bei dieser Be-
triebsweise verliert der Unternehmer gänzlich das eigene Interesse
an der Lage des Frachtmarktes. Sie wurde früher auf der Elbe
das ältere System der Anteilfrachten genannt und war während
der 80 er und teilweise noch während der 90 er Jahre im Ver-
hältnis zwischen den Schleppschiffahrtsgesellschaften und den
Kleinschiffern die übliche, indem die ersteren suchten, durch
dieses Verfahren unter den Privatschiffseignern speziell für ihr
Hamburger Geschäft sich eine feste Kundschaft für ihre Schlepp-
dampfer zu sichern.
5. Durch Vermietung ihres Fahrzeuges auf längere oder kür-
zere Frist an Frachtunternehmer zu deren völlig freier Verfügung.
Der Mietpreis stellt die Verzinsung des in dem Schiff angelegten
Kapitals dar, soweit der Schiffseigner durch den Mietvertrag nicht
noch zur Bemannung und Transpo'rtleistung im Auftrage und
nach Anweisung des Mieters verpflichtet ist und in diesem Falle von
dem Mietzins noch die Mannschaftslöhne, die sonstigen Betriebs-
kosten sowie Reparatur und Amortisationsaufwand für das Schiff
bestreiten muß. In diesem Verhältnis stehen heute diejenigen
Schiffseigner, die sich der Privat-Schiffer-Transport-Genossenschaft
oder einem anderen Großunternehmen angeschlossen haben.
Diese verschiedenen Ausnutzungsmöglichkeiten des eigenen
Schiffes wendet der einzelne Schiffseigner an, je nachdem sich
ihm die Gelegenheit bietet und ihm günstige Angebote gemacht
werden. Er nutzt seinen Kahnraum während der einen Reise
auf diese, während der nächsten auf eine andere Weise aus, so-
weit er nicht vertraglich auf Zeit an eine bestimmte Benutzungs-
art seines Fahrzeuges gebunden ist.
I
— 47 —
Der Kleinschiffahrtsunternehmer unterscheidet sich, im Gegen-
satz zum Kleinunternehmer in anderen Betrieben, durch seine
Stellung und seine Funktionen wesentlich von seinen Angestellten,
seinen Gehilfen. Das ist schon in seinem Wesen als Kapitalist
begründet; er ist in viel stärkerem Sinne der Leiter und Organi-
sator seines Betriebes, als etwa der Handwerksmeister in seiner
Werkstatt. Das geht schon daraus hervor, daß häufig der Schiffs-
eigner nicht persönlich auf seinem Schiffe fährt, also gar nicht
das handwerksmäßige Schiffergewerbe selbst ausübt, sondern am
Lande bleibt und dort nicht selten irgendein anderes kleines
Gewerbe als Beruf betreibt, z. B. eine Schankwirtschaft, Kramerei
usw. und nur den von ihm angestellten und bezahlten Schiffs-
führern seine allgemeinen Anweisungen gibt. Fährt er aber selbst
auf seinem Fahrzeug mit, was in der Eibschiffahrt die Regel
bildet, so übt er hier die Funktionen des Transportführers und
des Steuermannes aus, eine Betätigung, die sich nicht unerheblich
von der des übrigen Schiffspersonales unterscheidet. Es liegt also
hier tatsächlich ein schärfer ausgeprägtes Ueber- und Unter-
ordnungsverhältnis zwischen Unternehmer und Gehilfen vor, als
im Handwerk.
Unterscheidet sich demnach der Privatschiffseigner von den
Vertretern des Schifferhandwerks, den Schifferknechten durch
seine Stellung innerhalb seines Betriebes, so hebt er sich von den
Großschiffahrtsunternehmungen durch die Art ab, wie er sich sein
Betriebskapital verschafft, und durch die rechtliche Haftung für
Verpflichtungen aus seinem Betrieb. Der Privatschiffseigner ver-
wendet in seinem Unternehmen sein eignes Kapitalvermögen;
reicht es allein nicht aus, so verstärkt er es aus Darlehen, für
die er durch Eintragung von Schiffshypotheken oder auf andere
Weise Sicherheit leistet und für die er feste Zinsvergütung
zahlen muß. Kleinschiffahrtsunternehmungen, die zwecks Kapital-
beschaffung auf dem Aktienprinzip aufgebaut sind, gibt es im
Gegensatz zum Rhein auf der Elbe nicht. Die Elbgroßschiffahrt
dagegen ist ausnahmslos auf dem Gesellschafts- oder Genossen-
schaftsprinzip aufgebaut.
Man kann sagen, daß in der Eibschiffahrt für den Kleinbe-
trieb das Arbeiten mit einem einzigen eigenen Fahrzeuge, und
zwar mit einem Schleppkahne, die Regel bildet. Denn ein mo-
derner eiserner Schleppkahn, der einen Wert von 30 — 50000 M.
- 4.S -
besitzt, erfordert schon ein so bedeutsames Betriebskapital, daß
es nur wenigen Kleinschiffern möglich ist, mehrere derartige
Schiffsgefäße anzuschaffen, zumal das Risiko ihrer Rentabilität
bei einer Tragfähigkeit von looo — 1200 t mit ihrer Zahl
mehr als proportional wächst ; denn es ist bedeutend leichter,
für einen Kahn 1000 t Fracht auf einmal zu erlangen als für
3 — 4 Kähne 3 — 4000 t. Freilich gibt es und hat es stets auf der
Elbe einige Privatschifferunternehmungen gegeben, die sich durch
die Talkraft ihrer Leiter in ein oder mehreren Generationen zu
bedeutenderem Umfang hinaufgearbeitet haben. So beispielsweise
die Inhaber der Privatschifferfirmen Fr. Andreae-Magdeburg(für den
Eibverkehr: 14 Schleppkähne); Karl Böhme-Dresden (2 Dampfer,
28 Schleppkähne) und Gebr. Tonne-Magdeburg (4 Dampfer, 14
Schleppkähne). Doch selbst diese Unternehmungen stellen ihrer
Organisation, wie den Standesinteressen ihrer Inhaber nach nichts
anderes als gut entwickelte Kleinschifferunternehmungen dar.
2. Umfang und Entwickelung des Kleinbetriebes.
Es ist schwer, für die Elbe ein klares Bild zu gewinnen von
dem zahlenmäßigen Umfange des Kleinschiffergewerbes in dem
Sinne, wie es im vorhergehenden Kapitel umgrenzt worden ist.
Es herrschen über diesen Gegenstand sehr stark von einander
abweichende Ansichten, denn eine Zählung des weitstreckigen
Binnenschiffahrtsgewerbes, soweit es ausschließlich an der Elbe
beheimatet ist, ist bisher weder von Behörden noch von privater
Seite vorgenommen worden. Im folgenden soll versucht werden,
auf verschiedenen Wegen die Zahl 'der Kleinschifferbetriebe fest-
zustellen.
Man könnte versucht sein, als sicher.ste Quelle die Zahlen
der Elbschiffahrts-Berufsgenossenschaft heranzuziehen ; sie um-
faßte
im Jahre l886 4053 Betriebe.
» » I9IO 4 423 T
191 1 5245
Es wäre aber irreführend, diese Zahlen als die wirklichen
Zahlen der Elbkleinschifferbetriebe anzusehen. Denn einmal reicht
die Elbschiffahrts-Berufsgenossenschaft örtlich sehr stark in die
märkischen Wasserstraßen hinein ^) und andererseits umfaßt die
i) Im Jahre 1910 lagen von insgesamt 4 423 Betrieben nicht weniger als 421
im Verwaltungsbezirk Burg (bei Magdeburg) und 687 im Verwaltungsbezirk Bran-
denburg.
— 49 —
Berufsgenossenschaft neben der hier behandelten Güterschiffahrt
auch alle Bugsier-, Personenschiffahrts-, Fähr- und Baggerbetriebe,
sowie die große Zahl von kleinsten lokalen Schiffahrtsbetrieben
und die Schiffahrtsbetriebe des Hamburger Hafens und der Unter-
elbe ^), so daß die Zahlen der Berufsgenossenschaft allenfalls nur
als Höchstzahl der an der Elbe überhaupt möglicherweise be-
stehenden Schiffahrtsbetriebe angesehen werden können.
Unterlagen zur Berechnung der gewerblichen Güterschiffahrts-
betriebe gewähren ferner die Erhebungen der deutschen und
österreichischen Betriebs- und Berufsstatistik. Die Berufsstatistik
besitzt jedoch nur mit ihren Gesamtzahlen für die gesamte Elbe
Wert. Denn für die einzelnen Bezirke gibt sie nicht die Zahl
der tatsächlich dort die Schiffahrt Ausübenden an, sondern nur
die Zahl derjenigen Schiffer, die zufällig am Tage der Zählung
sich im Bezirk aufgehalten haben. Ueberdies macht sie keinen
Unterschied zwischen Schiffseignern und Schiffsangestellten, so
daß diese Statistik für unsere Zwecke nicht verwendbar ist.
Es bleiben daher für das deutsche Oberelbegebiet nur die
Zahlen der Betriebszählung vom i. Juni 1895 und vom 12. Juni
1907. Die Zahlen des Jahres 1882 sind zu wenig spezialisiert
veröffentlicht worden.
Tab. 17 versucht ein zahlenmäßiges Bild von der Zahl und
der Verteilung der Kleinschiffer zu geben ; sie beruht auf den
Zahlen, welche für die an die Elbe angrenzenden unteren Ver-
waltungsbezirke ermittelt worden sind. Dabei ist es freilich nicht
zu vermeiden gewesen, daß auch Betriebe zur Anrechnung ge-
langt sind, die nicht unmittelbar an der Elbe, sondern an einer
anderen Wasserstraße, aber in einem Verwaltungsbezirk gelegen
sind, der auch an die Elbe grenzt. Solche Bezirke sind vor allem
Westpriegnitz, und Jerichow I und II, teilweise auch Dessau. Die
hier festgestellten Zahlen sind in der Hauptsache von dem End-
ergebnis, das die reine Eibschiffahrt darstellen soll, abzuziehen.
Sp. 2 weist für das Jahr 1895 3188 Hauptschiffahrtsbetriebe
auf, und Sp. 3 für das Jahr 1907 2537. Dies sind zwar die
Zahlen sämtlicher Elbschiffahrtsbetriebe, also einschließlich der
Großschiffahrt, doch kann diese Zahl ohne Bedenken als E n t-
wickelungs zahl der reinen Klein schiftahrtsbetriebe be-
trachtet werden, da 1895 ^^^ 4 ^^^ 190? "ur 6 Großschiffahrts-
i) Im Jahre 1910 weisen die Verwaltungsbezirke Hamburg und Harburg 924
bez. 934 Betriebe auf.
Zeitschrift für die ges. Staatswissensch. Ergänzungsheft 50. 4
— 50
Tab. 17.
Die Binnenschiffahrtsbetriebe an der Elbe in Deutschland
nach Betriebszählung vom 14. Juni 1895 und 12. Juni 1907.
I.
2.
3-
4-
5.
6. 1
7-
Kreis
Hauptb
etriebe
Neb
betr
1895I
en-
ebe
Gewerbetätige
Personen
1895
1907
1907
1895 1
1907
Hamburg (Stadt)
I 156
531
5
I
6371
7279
Hamburg (Landkreis Bergedorf)
76
70
12
3
178
192
Preußen ; Stadtkr. Harburg
77
71
I
I
165
105
» Landkr. »
28
23
I
I
46
41
» Herzogtum Lauenburg
72
78
—
—
208
235
» Landkr. Lüneburg
36
41
I
2
69
76
» Kreis Winsen
29
45
21
14
61
96
> » Bleckede
8
12
3
—
16
19
> 5. Dannenberg
38
20
—
59
30
» » Lüchow
21
15
—
—
32
38
Mecklenb.-Schw. ; Bez. Hagenow
IG
8
—
—
21
20
» » > Ludwigslust
63
61
— ,
—
148
165
Preußen ; Kreis West-Priegnitz
86
149
3
I
247
372
2 » Osterburg
6
9
—
—
II
21
» 5> Stendal
65
lOI
—
I
242
312
» > Jericho w II
224
294
I
—
597
846
» » Jerichow I
51
40
—
—
147
107
» » Wolmirstedt
8
34
8
I
15
96
» Stadtkr. Magdeburg
294
188
3
2
I 318
I 090
» Kreis Wanzleben
10
6
I
39
27
Anhalt ; Bezirk Zerbst
40
lOI
—
—
170
317
> j. Dessau
16
18
—
3
63
56
Preußen; Landkreis Kalbe
338
240
2
—
I 226
747
» Kreis Wittenberg
89
93
I
—
298
299
» i> Schweinitz
—
—
—
—
—
__
» » Torgau
26
13
I
I
lOI
40
» s Liebenwerda
22
22
—
I
88
89
Sachsen ; Amtsh. Oschatz
15
7
I
—
43
30
» » Großenhain
26
36
—
107
179
s » Meißen
30
46
I
—
200
283
» Stadt Dresden
28
23
4
5
I 136
2 910
» Amtsh. Dresden-Altst.
2
2
I
6
3
» j. Dresden-Neust.
15
12
—
—
48
34
» > Pirna
183
128
3
1 3
688
581
im gesamt, deutsch. Obereibgebiet
I3188
2537
66
1 40
14 161
17 019
betriebe in diesen Zahlen enthalten sind. Bei einem Vergleiche
der Zahlen aus Sp. 2 und 3 macht sich eine Entwicklungstendenz
bemerkbar, die für die Eibschiffahrt bezeichnend ist, nämlich der
starke Rückgang der Betriebe (fast 21 % in 12 Jahren). Dies
ist um so beachtlicher, als einige Bezirke wie Westpriegnitz, Je-
richow II, Zerbst usw. nicht unbedeutende Vermehrungen ihrer
Betriebe aufzuweisen haben, die wohl nicht nur auf Zuwanderung
alter Betriebe aus anderen Bezirken, sondern teilweise auch auf
Neugründungen beruhen. Wenn nun auch der gesamte Rück-
— 51 —
gang der Betriebe nicht auf Verminderung solcher Betriebe, die
den Gegenstand vorliegender Arbeit bilden, beruht — denn die
Betriebsstatistik umfaßt ja alle Binnenschiffahrtsbetriebe, auch die
kleinsten und bedeutungslosesten — , so zeugen doch diese Zahlen,
wie noch später näher auszuführen ist, davon, daß das Elbschiff-
fahrtsgewerbe kein sehr blühendes ist.
Der Rückgang hängt einerseits mit der geringen Rentabilität
der Eibschiffahrt zusammen, infolge deren der Schiffer sein kleines
Kapital, das er bisher in seinem Kahne angelegt hatte, leichter
und günstiger auf andere Weise zu höherem Zinsfuß verwenden
konnte, andererseits kommen die wachsende Größe und die da-
mit verbundenen höheren Anschaffungs- und Unterhaltungskosten
der modernen Schiffsgefäße in Betracht, vermöge deren frühere
Schiffseigner mit dem ihnen zur Verfügung stehenden Geld und
Kredit nicht mehr imstande waren, ein eigenes neues Schiff an-
zuschaffen. Dadurch wurden sie gezwungen, entweder sich einem
anderen Berufe zuzuwenden, oder nach einer der östlichen Was-
serstraßen überzusiedeln, wo noch mit kleinen Schiffsgefäßen
bei besserer Rentabilität gefahren werden kann, oder aber
sich miteinander zu verbinden, um gemeinsam mit einem ein-
zigen gemeinschaftlichen Schiff den Wassertransport zu betreiben.
Es zeigt sich hier das Bestreben zur Konzentration der Betriebe,
das auf einem gewissen natürlichen Ausleseprinzip beruht, und
nicht von einem bewußten Willen geleitet, sondern durch die
starke Konkurrenz und die Erhöhung des nötigen Betriebskapitales
verursacht worden ist.
Unter den 3188 bez. 2537 Betrieben gehört aber sicherlich eine
große Anzahl nicht zu derjenigen Gruppe der Elbkleinschiffer,
die hier betrachtet werden soll. So betreibt unter den 1136 bez.
531 KleinschifTern des Hamburger Bezirkes der weitaus größte
Teil Schiffahrt mit kleinsten Schiffsgefäßen nur im Hamburger
Hafen oder auf der Unterelbe. Auch von den Betrieben der Be-
zirke Westpriegnitz und Jerichow I und II werden zahlreiche
nicht auf der Elbe selbst beheimatet sein und auf ihr ihr Ge-
werbe ausüben, sondern vorwiegend der Schiffahrt der märki-
schen Wasserstraßen, die ebenfalls diese Bezirke durchfließen, zu-
zuzählen sein. Deshalb sind diese Zahlen der Betriebszählung
mit Vorsicht zu benutzen. Doch gewährt Tab. 17 immerhin eine
Anschauung, wie das Elbschiffahrtsgewerbe entlang dem Fluß-
laufe verteilt ist.
— 52
Zur Ergänzung der deutschen Statistik stellt Tab. iS die
Zahlen der österreichischen Betriebsstatistik von 1902 zusammen,
die in den für den langstreckigen Elbschiffahrtsverkehr in Be-
tracht kommenden Elbbczirken erhoben worden sind.
Tab. 18.
Die Schiffahrtsbetriebe auf der österr. Elbe
nach der Retriebszälilunf:^ von 1902.
I.
Eibbezirke
Haupt-
betriebe
3-
Gewerbstätige
Personen
Neben-
betriebe
Tetschen
Aussig
Leitmeritz
Raudnitz
Melnik
114
76
8
14
10
372
192
19
27
20
4
8
I
Gesamt
222
630
8
Die wirkliche Bedeutung und der Umfang der Kleinschift-
fahrt dürfte am sichersten auf indirektem Wege zu ermitteln
sein und zwar dadurch, daß von der Zahl der sämtlichen nach
der amtlichen Statistik auf der Elbe im Ferntransport beschäf-
tigten Schleppkähne (Tab. 13) die Anzahl derjenigen in Abzug
gebracht" wird, die im Besitz der Großbetriebe sich befinden.
Auf diesem Wege erhält man folgende Zahlen :
Tab. 19.
Verteilung der Eibschleppkähne auf Groß- und Kleinbetriebe.
2.
1887
3-
l8q2'
4-
1897
5-
1902
6.
1907
Gesamtzahl der Eibschlepp- 1
kähne
Davon im Besitz der Groß-
betriebe j
I 629
334
2 015
327
2044
367
2 169
404
I 782
I 179
Rest 1
1295
1688
1677
I 765
603
Diese Statistik besitzt, wie nicht übersehen werden darf, eine
Reihe von Mängeln. Vor allem sind in der Restsumme der Tab. 19
auch diejenigen Kähne mit enthalten, die einzelne industrielle
Unternehmungen zu ihrem eigenen Bedarf auf der Elbe schwim-
men lassen und die, wie in der Einleitung ausgeführt wurde,
weder zu den Kleinschiffern noch zu den Großschiffern, vielmehr
überhaupt nicht zum Schiffahrtsgewerbe zu rechnen sind. Die
Zahl dieser Schleppkähne ist freilich nicht groß. Die Betriebs-
statistik von 1895 gibt 66, diejenige von 1907 40 Betriebe an,
1
— 53 —
die als Nebenbetriebe die Schiffahrt auf der Elbe unterhalten,
also Kähne besaßen. Da diese Betriebe in der Hauptsache
selten mehr als einen Kahn für ihren Nebenbetrieb besitzen, so
wird es der Wirklichkeit nahe kommen, wenn für die Jahre 1887,
1892, 1907 entsprechend der Betriebsstatistik von 1895 70 Schlepp-
kähne in Abzug gebracht werden, um aus der Tab. 19 die Kähne
der Kleinschiffer zu ermitteln.
Dagegen müssen zu dem Resultate des Jahres 1907 noch 702
Schleppkähne hinzugezählt werden, welche in diesem Jahre
die »Vereinigten Elbschiffahrts-Gesellschaften« den Privatschiffs-
eignern abgemietet und in den Dienst der Großschiffahrt gestellt
hatten, ohne sie deshalb endgültig den Kleinschifferkreisen zu ent-
ziehen. Ferner ist noch zu den Endzahlen aller Jahre die Zahl
170 hinzuzuzählen, das ist die Kahnzahl der an der österreichischen
Oberelbe angesiedelten, auch auf der deutschen Elbe arbeiten-
den Kleinschiffer ^). Auf Grund dieser Korrekturen stellt sich die
Schiffszahl der an der deutschen und österreichischen Elbe be-
heimateten Kleinschiffer auf:
Tab. 20.
1887 1395 Schleppkähne
1892 1788
1897 1777 »
1902 1890 »
1907 1430
Diese Zahlen können zwar schon mit Rücksicht auf die Art,
wie sie gefunden worden sind, keinen Anspruch auf absolute Ge-
nauigkeit machen, trotzdem aber vermögen sie einen Anhalt für
die Beurteilung des Umfangs, der Leistungsmöglichkeit und der
Entwicklung der Kleinschiffahrt zu geben. Keinen Aufschluß
dagegen gewähren sie über die Zahl der Kleinschiffer u n t e r-
nehmungen.
Ueber diese eine befriedigende Auskunft zu geben, wird erst,
freilich mit gewissen Einschränkungen, möglich, wenn man die
bestentwickelten Kleinbetriebe, die mehr als 2 Kähne in ihrem
Eigentum haben, mit ihrer Schiffszahl von der Gesamtschiffszahl
der Kleinschiffahrt absondert. Die zahlenmäßige Möglichkeit für
eine solche Feststellung gewähren die statistischen Materialien
nur für zwei Jahre, für das Jahr 1892 und 1907. Zu diesen Zeit-
punkten waren als kleinbetriebliche Frachtschiffahrtsunternehmungen
I) Vgl. s. 34.
— 54 —
folgende Firmen mit mehr als zwei Frachtkähnen an der Elbe
nach der deutschen Reichsstatistik beheimatet und tätiu :
Tab. 21.
Kleinbetriebe mit mehr als 2 Schleppkähnen auf der Elbe.
I.
2.
3- 1
4- 1
5. '
6.
Firmen
1892
1907
Art und Strecke des
Damp-
Schlepp-
Damp-
Schlepp-
Schiffahrtsbetriebes
fer
kähne
fer
kähne
Lauenburger Dampf-
Schleppgeschäft: Hamburg-
schleppschiffahrt
4
—
—
—
Berlin
Gebr. Tonne,
Frachtschiffahrt: Hamburg-
Magdeburg
4
14
—
—
Magdeburg
Karl Bühme,
Frachtschiffahrt: Hamburg-
Dresden
2
28
—
—
Riesa-Dresden- Aussig
Fr. Andrea,
EiJgutverkelir: Magdeburg-
Magdeburg
8
17
8
16
Berlin und Stettin
W. Strack,
Gütertransport: Magdeburg
Magdeburg
—
—
2
II
über Berlin nach Schlesien
C. Stahlkopf,
Schiffahrt auf d. Wasserstr.
Magdeburg
—
—
4
—
zwisch. Magdeb. u. Stettin
Aug. Mann, Magdeburg
—
—
3
—
Güterverkehr: Hambg.-Halle
Andrea & Berlling,
Güterverkehr: Magdeburg-
Magdeburg
—
—
2
—
Lübeck.
Lüders & Stange,
Seg. u, Dampfschleppschiffrt:
Magdeburg
—
—
2
19
Lübeck-Hambg.-Magdebg.
Stettin & Lüdeke,
Person.- u. Güterschiffahrt:
Havelberg
—
—
3
Magdebg.-Havelbg.-Berlin
Rothenbücher, Maß & Lü-
Schleppschiffahrt: Hamburg-
deke, Havelberg
6
30
5
—
Havelmündung
Math. Burmeister,
Schleppschiffahrt: Hamburg-
Magdeburg
—
—
4
Berlin
Summe:
1 24
89
33
46
In dieser Statistik interessieren verläufig nur die Angaben über
die Firmen mit eigenen Schleppkähnen. Es haben nach ihr 1892
4 Firmen mit 89 und 1907 3 Firmen mit 46 Schleppkähnen be-
standen. Bei Berücksichtigung dieser Zahlen erhält man für die
entsprechenden Jahre als Schiffszahl der Kleinbetriebe mit ein
oder höchstens zwei Schleppkähnen 1892 1699 Schiffe, 1907
1384 Schiffe.
Innerhalb dieser Zahlen ist nunmehr noch die Anzahl der-
jenigen Kleinschifferbetriebe festzustellen, deren Eigentümer in
dieser Aufstellung zweimal enthalten sind, weil sie- zwei Schlepp-
kähne besitzen. Ihre Zahl läßt sich nur auf dem Wege der
Schätzung ermitteln. Im allgemeinen trifft man bei einer hierauf
gerichteten Umfrage und bei Stichproben aus den gerichtlichen
Schiffsregistern an der Elbe es sehr selten an, daß ein Klein-
schiffer mehr als einen modernen Schleppkahn besitzt,, und zwar
- 55 —
im letzten Jahrzehnt noch seltener als im vorigen Jahrhundert.
Es hängt dies mit der erhöhten Tragfähigkeit und der sehr ge-
stiegenen Höhe der Anschaffungskosten eines modernen Schlepp-
kahnes zusammen. Wenn daher für das Jahr 1902 100 Betriebe
mit je zwei Kähnen und für das Jahr 1907 60 solcher Betriebe
angenommen werden, so ist ihre Zahl eher zu hoch als zu niedrig
gegriffen. Tab. 22 zeigt das Endergebnis dieser etwas um-
ständlichen und wegen der zahlreichen Schätzungen keinen An-
spruch auf absolute Richtigkeit erhebenden Berechnung der Klein-
schifferbetriebe. Diese Zahlen geben gleichwohl ein zutreffen-
deres Bild von der Kleinschiffahrt auf der Elbe, als die viel zu
hoch gegriffenen Zahlen der offiziellen Betriebsstatistik.
Tab. 22.
1882 1599 Betriebe mit 1788 Schleppkähnen
1907 1324 » » 1430 »
Für das Jahr 1913 wird von sachkundiger Seite die Zahl
der an der Elbe beheimateten Privatschifferunternehmungen auf
etwa iioo geschätzt.
Die gefundenen Zahlen weisen eine nicht unbeträchtliche
Flotte von leistungsfähigen Fahrzeugen auf, die einer nicht min-
der großen Zahl von Einzelbetrieben angehören. Die Kleinbe-
triebe zusammengenommen stellen einen bedeutenden Wirtschafts-
faktor dar. Bisher ist es ihnen mit ihren 1483 Schleppkähnen,
die einen Wert von etwa 40 Millionen Mark darstellen, gelungen,
gegenüber den 479 Kähnen der Großbetriebe in weitem Maße
das Feld zu behaupten.
Es wird im folgenden wiederholt darauf hinzuweisen sein,
und sei auch hier schon bemerkt, daß infolge der eigenartigen
Organisation der Eibschiffahrt es unrichtig sein würde, von einem
Gegensatz zwischen Groß- und Kleinschiffahrt zu sprechen; viel-
mehr haben sich beide so sehr einander angepaßt, daß sie in
der Gesamtorganisation der Schiffahrt fast eine Einheit bilden,
daß sie jede für sich besondere Leistungen verrichten, die erst
zusammengenommen die Frachtschiffahrt bilden.
So erklärt sich die starke Konservierung der Kleinschiffahrt,
obwohl sie inhaltlich eine andere geworden ist, als sie noch vor
40 Jahren war. Statt gegen die neuzeitliche Betriebsweise anzu-
kämpfen und bei ihren alten Gewohnheiten zu bleiben, hat sie
sich ihr anzupassen gesucht und dadurch sich lebensfähig erhalten.
Selbstverständlich ist beim Aufkommen der Großbetriebe die
- 56 -
Zahl der Privatschiffseigner nicht unerheblich zurückgegangen;
wurde doch die Zahl ihrer Kähne um die Mitte der 6oer Jahre
auf etwa 4000 geschätzt. Die Verringerung ihrer Zahl und ihres
Kahnbesitzes hängt aber wohl weniger mit der unmittelbaren Zu-
wendung der Kleinschifferkundschaft zur Dampfschiffahrt zusam-
men, als vielmehr mit dem bereits besprochenen Umstand, daß
durch Einführung der Dampfschleppschiffahrt auf der Reise zu
Berg die Größe und Tragfähigkeit der Schleppkähne bedeutend
gesteigert werden konnte.
Das weit verzweigte Netz der Nebenwasserstraßen der Elbe
hat wiederholt als eine Art Ausgleichsventil für die Elbschiftahrt»
oft freilich auch im ungünstigen Sinne, gewirkt. Es ist dort
eine ganze Reihe von Schiffahrtsunternehmungen beheimatet, die
auf den märkischen, wie auf den ostelbischen Wasserstraßen
Schiffahrt von mehr lokaler Natur mit ihren. Fahrzeugen kleinerer
Abmessung betreiben. Treten nun auf oder nach der Elbe gün-
stige Konjunkturen ein, so unternehmen sie ausnahmsweise Reisen
bis zur Elbe und auf ihr bis Hamburg oder ^Magdeburg. Zu
solchen Zeiten kann man auf der Elbe selbst Frachtkähne von
der Weichsel sehen, ja es ist auch z. B. im Jahre 1899 nach-
weislich vorgekommen, daß Frachtkähne von der Weser saison-
weise über Bremen nach der Elbe gekommen sind. Dies wirkt
selbstverständlich, wenn es in großem Umfange geschieht, beun-
ruhigend und preisdrückend auf den Eibfrachtenmarkt ein, weil
dadurch der auf der Elbe vorhandene Kahnraum nicht unbedeu-
tend vermehrt wird.
Andererseits findet in Zeiten anhaltend ungünstiger Kon-
junktur auf der Elbe eine zeitweise Abwanderung oder auch
eine dauernde Uebersiedelung von Kleinschiffahrtsbetrieben oder
einzelnen Fahrzeugen von der Elbe nach den Nebenwasserstraßen,
speziell den östlichen statt.
Dies ist um so begreiflicher, als in den letzten Jahrzehnten,
während deren auf der Elbe die Rentabilität des Güterverkehrs
im Rückgang begriffen ist, der Verkehr zwischen Berlin und
seinem Hinterlande, besonders auf der Oder bis Breslau, eine
nicht unerhebliche Steigerung erfahren hat, und somit dort zahl-
reiche Eibschiffer Beschäftigungsmöglichkeiten erwarten konnten.
So erklären sich teilweise auch die Schwankungen der im Klein-
betriebe verwandten Eibschleppkähne, z. B. (nach Tab. 20) die
Steigerung zwischen den Jahren 1887/1892 von 1395 auf 1788
.
— 57 —
Schiffe und die Abnahme zwischen 1902/1907 von 1890 auf 1430
Schiffe.
Es ist bisher immer nur von Kleinbetrieben die Rede ge-
wesen, die reine Frachtschiffahrtsunternehmungen sind und dieses
Geschäft nur mit antriebslosen Schleppkähnen ausüben. Diese
sind auch die bei weitem häufigste Erscheinungsform der Klein-
unternehmungen auf der Elbe. Daneben gibt es aber noch eine
Anzahl von Kleinbetrieben, die ausschließlich oder in Ver-
bindung mit der Frachtschiffahrt die Schlepp-
schiffahrt betreiben. Ein Verzeichnis dieser Betriebe, soweit
sie überhaupt für den weitstreckigen Verkehr in Betracht kom-
men, ist schon in Tab. 21 auf Grund der Reichsstatistik für die
Jahre 1892 und 1907 aufgestellt worden. Die dort in Sp. 6 ge-
machten kurzen Angaben über den Wirkungskreis dieser Unter-
nehmungen geben zugleich auch Aufschluß über ihr Wesen : Sie
verzichten fast alle, was den Schleppbetrieb oder die Dampf-
frachtschiffahrt anlangt, auf ausgedehntere Betätigung auf der
Elbe selbst, haben vielmehr ihre eigentliche Tätigkeit auf die
Nebenwasserstraßen der Elbe verlegt. Daher kommen sie nur
in geringem Maße für die eigentliche Eibschiffahrt in Betracht.
Denn hier stellen ihnen die Großbetriebe eine scharfe Konkur-
renz entgegen, und die Schleppschiffahrt ebenso wie die Dampffracht-
schiffahrt hat sich hier fast ausschließlich als Domäne des Groß-
betriebs ausgebildet, während in der Frachtschiffahrt mit Schlepp-
kähnen die Kleinschiffahrt noch konkurrenzfähig ist. Bezeichnend
übrigens für den kleinbetrieblichen Charakter jener Unterneh-
mungen ist, daß sie meist von nur geringer Dauer sind : Von
den 5 Firmen, die 1892 bestanden, waren im Jahre 1907, also
nach 15 Jahren, nur noch 2 vorhanden. Es ist dies das immer
sich wiederholende Schicksal dieser Unternehmungen, daß sie
entweder aus mangelnder Rentabilität zugrunde gingen oder
sich anderen gewerblichen Hauptbetrieben als Nebenbetriebe an-
gliederten, z. B. der Spedition, dem Getreidehandel, oder aber
daß sie, wenn ihre Geschäfte und ihre Entwicklung günstig
waren, von Großschiffahrtsunternehmungen übernommen und mit
ihnen vereinigt wurden. So gingen z. B. die Firmen Gebr. Tonne
in Magdeburg und Karl Böhme in Dresden in den Jahren 1897
bez. 1898 in der »Dampfschleppschiffahrts-Gesellschaft Vereinigter
Elbe- und Saale-Schiffer« auf.
Im Jahre 191 3 bestanden nur 5 größere, meist gemischte
- 58 -
Ta-
Anteil der Groß- und Privat-
.8^,8 .8^0 .Ibo .88.'.HhJ.88V.884 I^^^^-^-^^ '«»«! ''"«°' '»'^"l ■'»^' '»9'
Frachtleistung. 1. in looo t |i „q
d. Großunter- II.lAnt. am Ge-j
nehmungen I |samtverkchr
I 453
Von Sp. 1 wur- III-j
den auf e i g- IV. in looo t
n en Schiffen lAnteil an d.
d. Gcsellsch. Gütern in
befördeit Sp. I.
1893
V. Anteil der Pri\ atschiffer am
Gesamtverkehr (nach Sp. II) . ■
Betriebe an der Elbe, die für den reinen Eibverkehr in Betracht
kommen, und zwar die Firmen:
I Mathias Burmeister in Lauenburg, die mit 7 Dampfern aut
der Elbe bis Magdeburg Schlepp Schiffahrt und zwischen Ham-
buro- und Berlin F r a c h t Schiffahrt betreibt;
"2 Fr Andreae G. m. b. H. in Hamburg, die abgesehen von
ihrem starken Verkehr nach den märkischen Wasserstraßen und
der Oder auf der Elbe mit 14 eisernen Schleppkähnen zwischen
Hamburg und iNIagdeburg die Frachtschiffahrt ausübt;
3 Lüders & Stange in Hamburg-Lübeck, deren Abteilung
für Flußschiftahrt von Hamburg und Lauenburg nach Berlm und
Magdeburg nebst Zwischenstationen die Frachtschiffahrt mit 2 Eil-
frachtdampfern und 12 eigenen Schleppkähnen, und in freilich
nur geringem Umfange auf der Elbe Schleppschiffahrt mit 4 Damp-
fern betreibt, die meist zu Bugsierdiensten im Hamburger und
Lübecker Hafen und für den Verkehr zwischen diesen beiden
Häfen verwendet werden;
4 Behnke & Meves in Hamburg, die neben einem umfang-
reichen Befrachtungsgeschäft mit 9 großen Radschleppdampfern
die Eibschiffahrt auf der gesamten Elbe von Hamburg bis Boh-
men ausübt; ,
5. Albrecht in Wittenburg, der ebenfalls Schleppschiffahrt
auf der ganzen Elbe betreibt.
3. Die Stellung der Kleinbetriebe in der Eibschiffahrt und
ihre wirtschaftliche Lage.
Die wirtschaftliche Bedeutung und die wirtschaftliche Lage
der Privatschiffer auf der Elbe ist nicht leicht klar zu erfassen,
weil hier viele Ober- und Unterströmungen in ihren Wirkungen
gegeneinander arbeiten und auch die Verhältnisse auf dem ganzen
Latf der Elbe nicht einheitliche sind.
— 59 —
belle 23.
Schiffahrt am Eibverkehr 1S78— 1912,
19. 1 20. Tai. f^22.
1894 1 1893 1 1896 1 1897
23.
1898
24.
1899
25. "1 26.
1900 1 I901
27- 28. 1 29.
1902 1903 1 1904
3°. 31. 32. 33. 1 34-
1905 1906 1907 iqo8 1 iQoo
35- 1 36- 1 37-
I9IOI IQIll IQI2
2023
757
34%
I 797
35%
697
38%
2 169
725
33%
2477
2 961
2963
2 988
37 %
2983
39%
•
2 930 3 213
39% 35%
2 310
34%
3 354
33%
3382
34%
3 272
31%
5 473
54%
6381
6426
57%
4726
6878
65%
63%
61%
61 % 65 %
66%
67%
66%
69%
46%
43%
Zuerst soll die wirtschaftliche Bedeutung betrachtet werden,
wie sie sich in den Transportleistungen der Kieinschiffer dar-
stellt, wobei alle Formen der Ausnutzung des Kahnraumes zu
berücksichtigen sind. Welche Güterquanten einerseits von den
Privatschiffern, andererseits von der Großschiffahrt befördert wor-
den sind, darüber fehlen freilich statistische Erhebungen. Nur
aus den Betriebsangaben der Großunternehmungen kann man
deren Beteiligung am Eibverkehr feststellen und durch Subtrak-
tion dieser Summe von den Zahlen des gesamten Eibverkehrs,
wie er in Tab. 5 gefunden worden ist, läßt sich auf rechnerischem
Wege die Beteiligung der Kleinschiffer annäherungsweise er-
kennen. Die auf diesem Wege gefundenen Zahlen der einzelnen
Jahre sind in Tab. 23 zusammengestellt.
Tab. 23 veranschaulicht in Spalte V annähernd den Pro-
zentualanteil der Kleinschiffahrt an der Bewältigung des Gesamt-
verkehrs auf der Elbe. Diese Zahlen zeigen in ihrer relativen
sowie umgerechnet in ihre absolute Höhe die hervorragende Be-
deutung, welche von jeher, und in beschränkterem Maße auch
noch heute, die Kleinschiffahrt auf der Elbe besitzt. Ohne ihren
Kahnraum wäre der Eibverkehr nicht zu bewältigen. Sie ist
nicht nur ein wichtiger, sondern, was die Bereitstellung des Kahn-
raumes anbelangt, fast noch der ausschlaggebende Faktor in der
Eibschiffahrt, wie später bei Besprechung der Kartelle noch deut-
licher hervortreten wird. Es ist in unserem heutigen, wirtschaft-
lichen Leben eine seltene Erscheinung, daß sich auf einem Wirt-
schaftsgebiete die Kleinunternehmung so leistungsfähig neben der
Großunternehmung erhalten hat, wie hier. Freilich lassen die
Zahlen der Spalte V auch keinen Zweifel darüber, daß die
positive Bedeutung der Kleinschiffahrt in letzter Zeit relativ stark
im Sinken begriffen ist. Die absoluten Zahlen der Frachtlei-
— 6o —
stungcn haben sich etwa auf der alten J lohe gehalten, sie haben
also die Verkehrssteigerun^ im IClbverkehr nicht mitgemacht.
Diese Tatsache wird noch genauer auf ihre Ursache und ihren
Umfang zu untersuchen sein.
Tatsächlich sind durch die Kleinschiffer aber noch größere
Gütermengen befördert worden, als dies Spalte V der Tab. 23
vermuten läßt. Denn hier sind nur diejenigen Güterverfrach-
tungen aufgenommen, die die Kleinschiffahrt auf eigene Rech-
nung ausgeführt hat. Nun ist die Tatsache bereits erwähnt worden,
und wird später noch genauer zu besprechen sein, daß auch zahl-
reiche Transporte, die die Großunternehmungen in ihren Betriebs-
statistiken aufführen, tatsächlich von der Kleinschiftahrt ausge-
führt werden. Denn die Großunternehmungen, die im vorwiegen-
den Maße Schlepp Schiffahrtsunternehmungen sind, besitzen
sämtlich ihre eigenen P>achtkontore, die nicht nur Frachten für
die meist verhältnismäßig geringe Anzahl der eigenen Schlepp-
kähne annehmen, sondern deren eigentlicher Zweck und vor-
wiegende Tätigkeit darin besteht, die von ihnen angesammelten
Frachtaufträge den PrivatschifFseignern zur Ausführung für Rech-
nung der Großunternehmungen zuzuweisen. Alle auf diese Weise
zur Erledigung gekommenen Transporte sind in den Betriebs-
statistiken als von den Großunternehmungen ausgeführt behandelt
und berechnet worden, fehlen also in den Betriebszahlen der
Kleinschiffahrt und verschieben dadurch das Resultat zum Nach-
teil derselben. Eine genaue statistische Erfassung des Umfanges,
in dem die Kleinschiffahrt durch die Großunternehmungen be-
nutzt wird, läßt sich nicht für alle in Betracht kommenden Jahre
ermöglichen. Nur für die Jahre 1888 bis 1896 liegen die dazu
notwendigen Angaben der einzelnen Unternehmungen vor. Sie
sind in Spalte III und IV der Tabelle 23 wiedergegeben. Die
Zustände in diesen Jahren und die Entwicklungstendenz, die sich
in den wiedergegebenen Zahlen ausdrückt, können aber auch
für andere Perioden der Eibschiffahrt als zutreffend angesehen
werden.
In Spalte III ist die Gewichtssumme derjenigen Güter ange-
geben, welche von den Gesellschaften auf ihren eigenen Kähnen
durch Vermittlung ihrer Frachtkontore befördert wurden. Da
aber in Spalte I die Gesamt frachtleistungen der Gesellschaften
(also auf eigenen und fremden Kähnen) sich angegeben finden,
so ergibt die Vergleichung der Spalten I und III diejenigen Güter-
— 6i —
mengen, die von den Frachtkontoren der Gesellschaften der Klein-
schiffahrt zur Beförderung überwiesen worden sind, und in Spalte V
nicht Berücksichtigung gefunden haben. Daß auf diese Weise
die Transportleistungen, die mit dem Kahnraum der Kleinschififer
ausgeführt worden sind, noch bedeutend vermehrt werden, stellen
Spalte IV der Tab. 23 und, zur Ergänzung, Spalte 13 der
Tab. 40 dar, in denen in Prozenten angegeben ist, wie viele ihrer
gesamten Frachtleistungen die sämtlichen Großunternehmungen
bez. die > Nord-West« durch eigene Kähne zur Ausführung
gebracht haben. Dieser Prozentsatz ist verhältnismäßig nicht
groß und zeigt, was besonders wichtig ist, eine stark fallende
Tendenz, die in den letzten Jahren noch ganz bedeutend ge-
wachsen ist ^), so daß heute die Großunternehmungen nur einen
ganz geringen Prozentsatz ihrer Gesamtfrachtleistungen, wenigstens
im Bergverkehr, mit eigenen Schiffen ausführen. Die Bedingungen,
unter denen die Privatschiffer die Frachten von den Gesellschaften
zugewiesen erhalten, sind sehr verschiedenartig; sie schwanken
zwischen der Forderung, sich auf der Bergreise von den Schlepp-
dampfern der zuweisenden Gesellschaft schleppen zu lassen, und
der Charterung des ganzen Kahnes für eine Reise, eine Saison
oder gar mehrere Jahre.
Es würde jedoch zu Trugschlüssen führen, wollte man aus
dem Umfang ihrer Transportleistungen auf die wirtschaft-
liche und soziale Stellung der Kleinschiffahrt in der ge-
samten Eibschiffahrt einen Rückschluß ziehen. Die Mehrzahl
der Transporte wird zwar von ihr besorgt, das bedeutet aber
noch nicht, daß auch ihr Wille der allgemein maßgebende im
Schiffahrtsgewerbe ist, daß ihren Anordnungen, ihren Preisfor-
derungen und Transportbedingungen sich die übrigen Elbschiffahrts-
unternehmungen und die Elbschiffahrtsinteressenten fügen müßten.
Vielmehr ist das nur in geringem Umfange der Fall. Zwei Um-
stände sind es, die zu diesen auf den ersten Blick etwas ver-
wunderlichen Zuständen geführt haben : Einmal die Bedeutung
der Leistungen des Kleinschiffergewerbes als Teil funktion bei
Durchführung der Wassertransporte, und andererseits die tief-
greifende Zersplitterung und die wirtschaftliche Lage des Privat-
schifferstandes.
1) Ein ziffernmäßiger Nachweis läßt sich in Ermanglung zuverlässiger stati-
stischer Unterlagen allerdings nicht führen.
— 62 —
Für das Verständnis des erstcren Umstandes ist daran zu
erinnern, daß in der Elbschiffahrt das Berg- und TalschilYahrts-
geschäft nach Art, Inhalt, Wesen und Organisation sich vonein-
ander wesentlich unterscheidet.
Bei den Reisen zu Tal, also vor allem von Aussig nach
Hamburg und Berlin, lassen sich die Schleppkähne, die keine
Antriebsmaschinen besitzen, fast immer — Ausnahmen bilden
fast nur die selteneren Kähne mit Stückgutladungen — durch
die natürliche Strömung des Flusses hinabtreiben. Infolgedessen
brauchen die Talfrachtlöhne an Betriebskosten nur die Mann-
schaftslöhne und eine gewisse Quote zu den Versicherungs-,
Amortisations- und Erhaltungskosten des Fahrzeuges aufzubringen.
Anders dagegen bei den Reisen zu Berg: Hier hat das Fahrzeug
die ihm entgegenstehende Strömung des Flusses zu überwinden,
und da es keine eigene Antriebsmaschine TDesitzt, muß es sich
einer künstlichen, fremden, bewegenden Kraft als Zugkraft, und
zwar auf der Elbe immer eines privaten Dampfschleppschiffes
bedienen. Die Kosten hierfür aber sind sehr bedeutend, und
sie müssen über die auch bei der Talschiffahrt bestehenden Be-
triebsunkosten hinaus durch die Frachtlöhne gedeckt werden.
Ja, da die Schlepplöhne ungefähr doppelt so hoch sind, als alle
übrigen Betriebsunkosten einer Bergfrachtreise zusammengenom-
men, so sind sie fast allein ausschlaggebend für die Rentabilität
der Bergfrachtschiffahrt. In der Schleppschiffahrt aber besitzen
die Großunternehmer eine nicht zu überwindende Uebermacht,
und so sind sie es, die in der Bergfrachtschiffahrt ein gewich-
tiges Wort mitzusprechen haben, obwohl sie nur einen ganz ver-
schwindend geringen Teil des eigentlichen Frachtschiffraumes be-
sitzen und die Frachtaufträge meist nicht selbst ausführen. So
hat es kommen können, daß, obwohl zahlenmäßig bedeutend in
der Ueberzahl und persönlich selbständig, die Privatschiffseigner
in der Bergfrachtschiffahrt in eine weitgehende, wirtschaftliche
Abhängigkeit von der Großschiffahrt geraten sind. Wohl können
die Kleinschiffcr infolge ihrer Zersplitterung und großen Zahl
die Frachtsätze herunter drücken und dadurch ihren eigenen
geschäftlichen Erfolg schädigen, dagegen sind sie in nur sehr
geringem Umfange imstande, ihre Einnahmen aus dem Berg-
frachtgeschäft aufzubessern. Denn ziehen auch auf dem Frachten-
markte bei Mangel an Kahnraum oder zielbewußtem Zusammen-
halten der Kahnraum anbietenden Kleinschiffer die Frachten an.
- 63 -
so steht es doch, soweit sie einig sind, in dem freien Belieben
der Schleppschiffahrtsunternehmungen, die Schleppsätze ebenfalls
aufzubessern und damit den Frachtschiffern wieder einen Teil
ihrer Mehreinnahme zu entziehen. Die Dampfkraft der Schlepp-
dampfer wird heutzutage, wo die festen Schlepptarife nur noch
auf dem Papier stehen, ebenso börsenmäßig gehandelt, und ihr
Preis wird ebenso börsenmäßig bestimmt, wie die Frachtsätze.
So besitzen die Schleppunternehmungen, soweit sie einig sind,
und sich nicht gegenseitig zu unterbieten suchen, eine bedeutende
Macht in der Frachtschiffahrt. Deshalb haben es zahlreiche
Kleinschiffer vorgezogen, entweder ganz auf die Frachtschiffahrt
zu Berg zu verzichten und ihre Schleppkähne leer zu billigeren
Tarifen und schneller bergwärts schleppen zu lassen, oder für
die Bergfrachtschiffahrt in ein Vertragsverhältnis von längerer
oder kürzerer Dauer mit einem der Schleppschiffahrts-Großunter-
nehmungen zu treten, das ihnen zwar den Einfluß auf den Berg-
frachtmarkt unmöglich macht, aber ihnen eine gewisse sichere
Einnahme und dadurch Verzinsung ihres Anlagekapitals gewähr-
leistet, oder zum mindesten unentgeltliche Beförderung des Kahnes
zu Berg sichert.
In der Talschiffahrt dagegen ist ihre Stellung eine günstigere ;
es ist ihnen aber auch hier leichter, die Frachtpreise, und damit
ihre Einnahmemöglichkeit, zu verschlechtern als zu ver-
bessern. Denn es liegt im Wesen und in der Betriebsweise
des Kleinschiffers, daß er aus Mangel an eigenem zurückgelegten
Kapitalvermögen fortgesetzt zu seinem Lebensunterhalt, wie zur
Erfüllung seiner Verpflichtungen barer Einnahmen aus seinem
Geschäftsbetriebe bedarf. Dieser Umstand nötigt ihn, ohne Rück-
sicht auf Konjunktur und Angebot, seine Dienste und seinen
Kahnraum sofort nach Erledigung seines letzten Auftrages wieder
anzubieten, womöglich noch an demselben Orte, wo er entladen
hat. Dieser Zwang zur Beschäftigung ohne Berücksichtigung
und ohne Ausnutzung der Marktlage muß die Bezahlung seiner
Dienste ungünstig beeinflussen. Der Kleinschiffer arbeitet auf
einem Spekulationsmarkte und mit Spekulationsunternehmern, oft-
mals ohne, aus Mangel an Geldmitteln, Reserven und kaufmänni-
schen Kenntnissen, in der Lage zu sein, selbst zu spekulieren.
Das führt zur Erörterung der wirtschaftlichen Lage
der Privatschiffer. Wie bei den meisten Gewerben ist es schwer,
ein einheitliches Urteil über die Vermögensverhältnisse der Privat-
- 64 -
Schiffer längs der ganzen Elbe 7.11 finden. Denn einerseits schwan-
ken die Vermögen der Einzelnen innerhalb weit von einander
liegenden Höchst- und Mindestgrenzen, andererseits fehlen über
die einzelnen Verm()gen sichere statistische Erhebungen.
Man ist daher nur auf Schätzungen Sachkundiger angewiesen.
Im allgemeinen kann man wohl sagen, daß die Eibschiffer nur
recht wenig eigenes Vermögen besitzen. Die verhältnismäßig
wohlhabendsten Eibschiffer sind in der Provinz Sachsen und der
Mark Brandenburg, z. B. in Aken und Tangermünde beheimatet;
hier sind nicht selten Frivatschiffseignerfamilien anzutreffen, deren
Vermögen auf 60 bis 70000 M. geschätzt wird. Ihre Zahl hat
jedoch, je mehr wir uns von den 90er Jahren des vorigen Jahr-
hunderts der Gegenwart nähern, stark abgenommen. Denn wer
sich ein kleines eigenes Vermögen erworben hat, kann es sicherer
und rentabler in anderen Gewerben anlegen, als heute in der
Eibschiffahrt. So verliert die Elbe immer gerade ihre kapital-
fähigsten Privatschiffer an andere Berufe, oder die reinen Schiffs-
eignerexistenzen gliedern sich einen Nebenerwerb, wie z. B.
Steinbruchsbetriebe, Kohlen- und Obsthandel, Spedition und der-
gleichen an, der, wenn er einschlägt, bald zum Haupterwerb wird.
Auch an anderen Stellen des Elblaufes lassen sich solche Vor-
gänge nachweisen.
Je mehr sich jedoch die Heimat der Privatschiffer von den
Schifferzentren stromauf und stromab der Elbe entfernt, desto
geringer wird durchschnittlich der Vermögensstand der Schiffer.
Die durchschnittliche Höhe des eigenen Kapitals der Privatschiffer
wird hier auf etwa 6—10000 M. geschätzt, doch ist es auch
kein seltener Fall, daß Privatschiffer völlig ohne jedes eigene
Kapital ihren Betrieb beginnen und auch weiterhin in dieser
Weise arbeiten. Für die gesamte Elbe wird man das eigene
Kapital des Schiffers kaum höher als durchschnittlich 8—10000 M.
einschätzen dürfen.
Und bei diesem geringen eigenen Vermögen ist ein Betriebs-
kapital von 30—50000 M. notwendig. Denn ein moderner
eiserner Elbschleppkahn von 650 t kostet heute etwa 36 000 M.,
ein solcher von 1000 t, wie er auf der Elbe keine Seltenheit ist,
etwa 50000 M. Hölzerne Kähne kleinerer Abmessung, wie sie
früher auf der Elbe üblich waren, und die sich bedeutend bil-
liger stellten, sind heute in dem reinen Eibverkehr nicht mehr
rentabel.
- 65 -
Die Gegenüberstellung des eigenen Vermögens und des Be-
triebskapitals der Privatschiffer zeigt, daß diese mit fremdem
Kapital von bedeutender Höhe arbeiten, ein Zustand, der sich erst
in den letzten beiden Jahrzehnten herausgebildet hat und noch
immer mehr überhand nimmt. Er stellt eine schwere Gefahr für
den Kleinschifferstand, wie für die gesamte Eibschiffahrt dar.
Denn es ist zu bedenken, daß der Privatschiffer kein kaufmännisch
gebildeter Unternehmer ist, der vor Eröffnung seines Geschäftes
eine genaue Kalkulation aufstellt, sich über die Verhältnisse des
Marktes orientiert und nach einem festen wirtschaftlichen Plan
arbeitet. Die Privatschiffer entstammen vielmehr zumeist den
einfachsten ländlichen Verhältnissen, ihre Schulbildung geht über
das Ziel der einfachen Volksschule nicht hinaus, zumal der Schul-
besuch meist in der Jugend wegen des Wanderlebens der Eltern
ein sehr unregelmäßiger ist. An diesem Bildungsniveau vermögen
auch die etwa 30 Schifferfachschulen an der Elbe nicht viel zu
ändern, die, als VVinterschulen betrieben, in kaum zwei bis drei
Wintermonaten Kenntnisse in Deutsch, Schreiben, Rechnen, Geo-
graphie, Schiffbau, Schiffsdienst, Maschinenbau, Gesetzeslehre und
Samariterdienst zu vermitteln suchen.
Mit derartigen Vorkenntnissen muß es nun der Schiffer
unternehmen, mit einem das eigene Kapital oft um das vier- bis
fünffache übersteigenden fremden Kapitale einen Gewerbebetrieb
zu eröffnen, in dem Preise und Beschäftigungsmöglichkeit nach
rein kaufmännischen, spekulationsmäßigen Grundsätzen gebildet
werden.
Das fremde Betriebskapital verschafft sich der Schiffer auf
verschiedene Weisen und unter verschiedenen Bedingungen. Die
ursprüngliche P'orm bestand für den Privatschiffer darin, daß
seine gesamte engere und weitere Familie mit kleinen und
größeren Geldbeträgen an der Anschaffung des Kahnes, der bar
bezahlt wurde, sich beteiligte. Diese fremden Kapitalbeträge
wurden entweder schenkungsweise oder als zinslose Darlehen
auf unbestimmte Zeit überlassen, oder die beisteuernden Familien-
glieder nahmen nach Höhe ihrer Kapitalbeträge an dem Reiner-
trag des Kahnes teil. Dabei wurde der zur Kapitalbeschaffung
zur Verfügung stehende Verwandtenkreis oftmals durch Heiraten
zwischen den verschiedenen Schifferfamilien innerhalb der kleinen
Schifferorte noch erweitert. Starb dann der Schiffer, so betrie-
ben seine Frau, sein ältester Sohn, oder auch sämtliche Ver-
Zeitschrift für die ges. Staatsvvissensch. Ergänzungsheft 50. C
- 66 —
wandten gemeinsam mit dem Kahne das Gewerbe weiter, mit
dem der Stolz und die Ehre der b'amihc verbunden war. Diese
Art der Kapitalbeschaffung findet man heute nur noch selten,
allenfalls noch in der Provinz Sachsen und in der Mark ; die ver-
änderten wirtschaftlichen und vor allem die sozialen Verhältnisse,
auch die wachsenden Kosten der Kahnbeschaffung, haben sie
verdrängt. Dieser Betriebsweise aber verdanken viele Schiffer-
familien, ja ganze Schifferdörfer ihren heutigen Wohlstand.
In ähnlicher Weise verschafft sich der Schiffer bisweilen sein
notwendiges Betriebskapital auch heute noch durch Personal-
kredit, indem er bei Freunden und Nachbarn im Heimatdorfe
sich, meist unter Stellung von ein bis zwei Bürgen, das fehlende
Kapital leiht; auch hierbei halten sich Zinshöhe und Rück-
zahlungsbedingungen in Grenzen, die dem Schiffahrtsgewerbe
angepaßt sind und den Schiffer nicht allzu drückend belasten.
Die weitaus häufigsten Kreditgeber an der Elbe sind aber
gegenwärtig die Werften, und zwar fast ausschließlich die kleinen
und kleinsten Werften. Es haben sich hierbei sehr ungesunde
Verhältnisse herausgebildet, die in gleicher Weise das Schifi"er-
wie das Schiffsbaugewerbe auf der Elbe gefährden. Das Schiffs-
baugewerbe an der Elbe liegt seit Jahren stark danieder. Um
nun Aufträge zu erlangen, suchen die Kleinwerftbesitzer selbst
oder durch Agenten Schiffer zu finden, die einen Kahn bestellen.
Dabei macht der Schiffbauer dem Schifi'er die günstigsten Zah-
lungsangebote. Die Anzahlung beträgt meist nur lo Prozent,
die auch wieder in Raten je nach 'Fortschreiten des Baues zu
erfolgen hat. Die Restsumme kreditiert der Schiffbauer, indem
er einen Vertrag mit dem Schiffer abschließt, nach welchem
letzterer Eigentümer des Kahnes erst werden soll, wenn er inner-
halb einer bestimmten Zeit die Restsumme einschließlich Zinsen
(meist 6 Prozent) gezahlt hat; im Schifi"sregister wird jedoch der
Schiffer trotz dieses p:igentumvorbehaltes als Eigentümer einge-
tragen, während der Schifi"bauer auf einen Eintrag einer Schiffs-
hypothek meist verzichtet, um den Kredit des Schiffers nicht
zu beeinträchtigen. Doch läßt er sich solchenfalls als Sicherheit
den Schiffsbrief von dem Schiffer aushändigen. Oder der Schiff-
bauer verspricht dem Schiffer, daß er ihm einen Geldgeber für
einen Teil des Kahnpreises, ja oft sogar für den ganzen
K a h n p r e i s , vermitteln will, den Rest des Kaufpreises
aber kreditiert er. Auch hierbei wird oftmals keine Hypothek
- 67 -
ins Schiffsregister eingetragen. Es ist selbstverständlich, daß der
Schiffbauer mit Rücksicht auf sein Risiko den Preis des Kahnes
bedeutend über den Normalpreis bemißt, so daß der Schiffer, der
außerdem noch oft unter schweren Bedingungen für Zins und
Amortisation zu sorgen hat, zu einem ganz unverhältnismäßig
teuern Besitz kommt, der ihn zugrunde richten muß.
In neuerer Zeit geht die Verleitung der Schiffer zum Erwerb
von Kähnen auch öfters direkt von gewerbsmäßigen Geldver-
leihern aus. Doch spielen hierbei auf der Elbe, im Gegensatz
zum Rhein, die holländischen Schiffshypothekenbanken noch keine
große Rolle. Wie auf diesem Wege der Schiffer zu seinem
Kahne kommt, hat Kommerzienrat Tonne-Magdeburg, einer der
besten Kenner der Elbschiffahrtsverhältnisse, in einer Rede ge-
schildert, die er im großen Ausschuß des deutschen Zentral-
vereins für Binnenschiffahrt in Berlin am ii. Dezember 19 12 bei
Erörterung des Schiffshypothekenwesens gehalten hat und die in
Heft 2j Jahrgang 13 der Zeitschrift für Binnenschiffahrt abge-
druckt ist. Es heißt dort:
»Die Geldvermittlungsagenten verfügen gewöhnlich an vielen
Orten unserer Wasserstraßen über ein geschultes Personal, dessen
unterer Teil in der Regel aus früheren Schiffern besteht, denen
die Aufgabe zufällt, die Wirtshäuser zu besuchen, in denen Schiffer
verkehren, um unter diesen die Leute ausfindig zu machen, von
denen sie annehmen, daß sie gewillt sind, Fahrzeuge mit wenig
Anzahlung auf Abzahlung zu kaufen.
Letztere gibt es ja immer noch recht viele, und wenn die
Unteragenten einen solchen gefunden haben, wird er dem Chef
zugeführt.
Diese Herren sind mit der Zeit vorzüglich in ihr Geschäft
hineingewachsen ; das Kapitalgeschäft wird in der Regel leicht
und schnell erledigt.
Die Vermittlungsprovision für die Kapitalien soll, wie ich
zuverlässig erfuhr, 272—4^2% betragen, wie die Verhältnisse es
gerade gestatten. Aber mit dieser Provision allein begnügen
sich die Herren nicht mehr, sie haben herausgefunden, daß man
bei einem kapitalsuchenden Schiffer, wenn man nur ein bißchen
findig ist, viel mehr herauszuholen in der Lage ist.
Das Fahrzeug, für welches man das Geld verlangt, muß in
erster Linie bei einem Schiffbauer bestellt werden, und da letztere
ein berechtigtes Interesse daran besitzen, daß die festgesetzten
5*
— 68 —
Zahlungstermine auch richtig eingehalten werden, stehen sie
selbstverständlich mit den Agenten des Geldgebers auf einem
freundschaftlichen Fuße.
Derselbe hat stets eine Anzahl Schiffbauer zu seiner Ver-
fügung, er schlägt dem Schitter einige als empfehlenswert vor
und zieht demjenigen, der den Auftrag erhält, 2 % von der Bau-
summe für seine Bemühungen ab, die indirekt natürlich der
SchitTer tragen muß.
Vor der Inbetriebnahme ist das Fahrzeug selbstverständlich
gegen alle möglichen, ihm drohenden Gefahren zu versichern.
Die Schiffer, welche ihre Fahrzeuge ohne fremde Beihilfe bauen,
pflegen die Versicherung bei ihren Kompakten mit 0,9 — 1,2%
Prämie zu decken; der mit Hypotheken beglückte Mann muß
indessen die Versicherungsanstalt benutzen, welche ihm zu einer
Prämie bis zu 2^1 2% vom Agenten vorgeschrieben wird, und zwar
zu dem ziemlich durchsichtigen Zweck, die 10%, welche dem
Agenten bei einer Kasko-Versicherung von der betreffenden
Versicherungsanstalt bei jeder, alljährlich stattfindenden Neuver-
sicherung gezahlt werden, einziehen zu können«.
Auf diese Verhältnisse wird in der Hauptsache für die letzte
Zeit die starke Ueberproduktion an Kahnraum auf der Elbe
zurückgeführt, welche die Hauptursache der schweren, wirtschaft-
Hchen Lage der Eibschiffahrt bildet. Sie hat aber auch noch
einen anderen Grund : wie in anderen Gewerben, so ist es auch
im Schiffergewerbe erklärlich, daß der Unternehmer nicht aus-
schließlich mit eigenem Betriebskapital arbeiten kann. Fremdes
Betriebskapital erhält aber der Schiffer von gewerbsmäßig geld-
ausleihenden Instituten auf alte Kähne vielfach nicht. Denn
für die Binnenschiffahrt ist zwar durch das Binnenschiffahrtsge-
setz von 1895 der Registerzwang eingeführt worden, der äußer-
lich Aehnlichkeit mit dem Grundbuchzwange für Grundstücke
hat; jedoch kommt dem Schiffsregister nicht, wie dem Grund-
buch des bürgerlichen Gesetzbuchs, der öffentliche Glauben zu.
Die Einträge im Schiffsregister gelten nur insoweit und solange
für richtig, als nicht das Gegenteil ihres Inhalts bewiesen wor-
den ist. Die Einträge besitzen nur deklaratorische, nicht konsti-
tutive Kraft. Wenn also jemand dem Privatschiffer auf einen
alten Schleppkahn Geld leihen will, so klärt ihn der Inhalt des
Schiffsregisters nicht unbedingt maßgebend über die Rechtsver-
hältnisse, die an diesem Kahn bestehen, auf; der Kreditgeber ist
- 69 -
nicht sicher, daß der im Schiffsregister eingetragene und von ihm
ein Darlehen erbittende Schiffseigner wirkUch der rechtmäßige
Eigentümer dieses Kahnes ist. Deshalb haben größere Geldinsti-
tute, welche die Beleihung von Binnenschiffen gewerbsmäßig be-
treiben, die Gewährung von Darlehen ausschließlich auf neu er-
baute Kähne beschränkt, über deren Eigentumsverhältnisse sie
durch Erkundigungen bei der den Kahn erbauenden Werft Sicher-
heit erlangen können. Daraus folgt aber, daß ein Schiffseigner,
der Geld braucht, gezwungen ist, seinen alten Kahn, auf den er
keine Schiffshypothek gewährt erhält, zu verkaufen, um sich statt
dessen einen neuen Kahn erbauen zu lassen. Es beruht also
die ungesunde Ueberproduktion an Kahnraum auf der Elbe in
dieser Hinsicht weniger auf den unüberlegten Neubaubestel-
lungen der Privatschiffseigner, als vielmehr auf ihrem wohlver-
ständlichen Bedarf an fremdem Betriebskapital, der auf andere,
der Schiffahrt weniger gefährliche Weise nicht befriedigt wer-
den kann.
Zu welchen durchaus ungesunden und unerträglichen Zu-
ständen eine derartige Ueberlastung des Schiffers mit zu teurem
Betriebskapital führen kann, veranschaulichen sehr treffend zwei
Musterbeispiele und deren rechnerische Durchführung, die Kom-
merzienrat Tonne bei der schon erwähnten Gelegenheit aufge-
'stellt hat. Sie sind in den Tabellen 24 — 27 wiedergegeben.
Hier sind für zwei Kähne verschiedener Größe, und zwar Tab. 24
und 25 für einen Kahn von 650 t zum Preise von 36 000 M.
und Tab. 26 und 27 für einen Kahn von 1000 t zum Preise von
50000 M., Berechnungen über die Summe aufgestellt, welche
der Schiffseigentümer jährlich für Tilgung und Verzinsung der
fremden Betriebskapitalien auszugeben hat (Tab. 24 bez. 26) ;
weiter wird gezeigt, wie sich dieser Schuldendienst zu den durch-
schnittlichen Gesamteinnahmen des Schiffers stellt (Tab. 25 bez. 27),
wenn der Schiffer bei ersterem Beispiel mit 17% (= 6000 M.)
und im zweiten Beispiel mit 20% (= 10 000 M.) eigenem Kapi-
tal arbeitet. Zinssatz und Provision, sowie Amortisation von
jährlich 8 % sind die in den letzten Jahren an der Elbe üblichen.
Den Betriebseinnahmen ist der von der Privatschiffer-Transport-
Genossenschaft ihren etwa 700 Genossenschaftern während der
letzten 5 Jahre gezahlte Satz zugrunde gelegt, während die Be-
triebsausgaben nach den langjährigen Erfahrungen derselben Ge-
nossenschaft berechnet sind.
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— 74 —
Es mag; hier, bevor auf die Resultate dieser Berechnung ein-
gegangen wird, ausdrückHch betont werden, daß diese Beispiele
in ihrer wörtlichen Ausführung nicht etwa den Normalzustand
auf der IClbe darstellen sollen, sondern nur theoretische Muster-
beispiele für die Folge sind, die eintreten, wenn ein Schiffer
unter diesen oder ähnlichen Verhältnissen sein Gewerbe be-
treibt.
Es ist ein trauriges Bild, welches Tab. 25 uns zeigt; 12 Jahre
angestrengter Arbeit Jahr für Jahr mit Verlust abzuschließen, nur
um den alten Hypothekenverpflichtungen nachkommen zu können,
und um im 13. Betriebsjahr eine Schuld von 23 840 M. ange-
häuft zu finden ! Und das noch dazu unter der sehr günstigen
aber nicht wahrscheinlichen Voraussetzung, daß keine unvorher-
gesehenen Unkosten, wie z. B. Ableichtern . während der Fahrt
wegen sinkenden Wasserstandes und dergleichen, und keine un-
günstigen Wasserstandsverhältnisse, Eisgang, unrentabler, niedriger
Wasserstand usw. eintreten! Es liegt auf der Hand, daß, wie
oben gesagt wurde, jeder, der eigenes Vermögen besitzt, sein
Geld überall anders besser anlegen kann, als durch Erwerb und
Betrieb eines Eibkahnes im Kleinschiffergewerbe. Es muß frei-
lich zum Verständnis dieser Rentabilitätsberechnung bemerkt
werden, daß die 1400 M., die als Steuermanns-(Schiffer-)Gehalt in
die Betriebsunkostenberechnung aufgenommen sind, der Klein-
schifTer fast immer dadurch erspart, daß er selbst als Steuermann
auf seinem Kahne fährt. Aber diese 1400 M., von denen der
Schiffer und seine F^amilie ihr Leben fristen, sind der Ertrag
seiner Arbeitskraft, und dürfen deshalb nicht zur Rentabilitäts-
berechnung des Anlage- und Betriebskapitales herangezogen wer-
den. Andererseits muß bemerkt werden, daß 6710 M. Jahres-
bruttoeinnahme einen sehr günstigen Geschäftsverlauf voraussetzt.
Günstiger gestaltet sich die Rentabilität eines Kahnes von
1000 t unter gleichen Voraussetzungen, wie Tab. 26 und 27 zei-
gen; aber auch hier ist ein effektiver Gewinn nach Abstoßung
der Schulden aus dem Erwerb erst im 14. Jahre möglich. Dabei
ist aber zu bedenken, daß es bedeutend schwerer ist, für einen
1000 t Kahn immer Gelegenheit zur vollständigen Ausnutzung
zu finden als für einen kleineren Kahn, und daß die Besatzung
eines so großen Kahnes mit einem Steuermann und zwei Deck-
leuten nur bei den allergünstigsten Wasser- und Witterungsver-
hältnissen ausreicht, meist vielmehr noch ein dritter Deckmann
— 75 —
mit 1 1 50 M. Lohn angestellt werden muß. Es sind sogar Be-
strebungen vorhanden, die eine Bemannung von dieser Stärke
für größere Kähne polizeilich vorschreiben wollen. Dann aber
würde auch der Schiffahrtsbetrieb mit einem looo t Kahn ähn-
lich unrentabel, wie Tab. 25 für den 650 t Kahn nachweist.
In diesen beiden Beispielen ist die Rentabilität in den ersten
13 Betriebsjahren dargestellt. Nur bei dem lOOO t Kahn tritt
nach diesem Zeitraum endlich ein schuldenfreier Reingewinn auf.
Welcher Kleinbetrieb aber hält eine so lange Zeit hindurch eine
derartige hohe Verschuldung aus ! Die gewöhnliche Folge ist
die Zwangsversteigerung des Kahnes schon nach wenigen Jahren
oder die vertragsmäßige Eigentumsentziehung durch den Schiff-
bauer. Damit aber geht die Anzahlungssumme, die meist die
gesamten, mühsam erarbeiteten Ersparnisse des Privatschiffers
bildet, samt den pünktlich gezahlten Raten dem Schiffer verloren,
der somit völlig mittellos wieder von vorn anfangen muß. Eine
Statistik über die Zwangsversteigerungen von Eibschiffen besteht
nicht, doch soll ihre Zahl nach übereinstimmendem Urteil aller
Sachkundigen auf der Elbe sehr hoch sein. Kein Wunder, daß
findige Köpfe unter den Kleinschiffern aus der herrschenden Not
Nutzen gezogen haben, indem sie mit geborgtem Geld die An-
zahlung leisteten, für diese aber, wie für die Hypotheken der
Restkaufsumme, die Zinsen nicht oder nur unvollständig zahlten,
die Amortisation aber ganz unterließen. Schreiten dann nach
zwei bis drei Jahren die Gläubiger zur Zwangsversteigerung des
Kahnes, so läßt diese der Schiffer, da er in der Zwischenzeit
etwa 15—20000 M. Roheinnahmen bei 9 — 13000 M. Betriebs-
ausgaben (einschließlich des in seine Tasche fließenden 1400 M.
jährlichen Steuermannslohnes) mit dem Kahn verdient hat, ruhig
über sich ergehen ; hat er doch ohne jedes eigene Kapital als
Differenz zwischen Gewinn und Ausgaben 6 — 7 000 M. Rein-
gewinn in der Zwischenzeit mit dem Kahn erlangt und auf die
Seite gebracht. »Unternehmungen« auf dieser Grundlage sollen
in den letzten Jahren auf der Elbe keine Einzelerscheinungen ge-
bheben sein.
Die Zwangsversteigerung oder die Rücknahme des Kahnes
durch die Werft hat aber nicht nur für den Schiffer, der sein
Anzahlungskapital verliert, nachteilige wirtschaftUche Folgen.
Diese erstrecken sich vielmehr auf die gesamte Eibschiffahrt.
Denn der neuerbaute Kahn besteht einmal und vermehrt auch
- ;6 -
nach dem wirtschaftlichen Zusammenbruch seines Bestellers und
ersten Besitzers das preisdrückende Angebot von Kahnraum auf
der Elbe. Ja er wird sogar jetzt noch gefährlicher als vorher.
Denn der Werftbesitzer, der auf Grund des ursprünglichen Kauf-
vertrages mit Eigentumsvorbehalt den Kahn zurückgenommen
hat, oder als Hypothekengläubiger bei der Zwangsversteigerung
den Kahn erworben hat, wird bemüht sein, denselben auf ähn-
liche Weise bei einem Schiffer wieder an den Mann zu bringen.
Da die von dem ersten Besitzer an den Schiffsbauer geleisteten
Anzahlungen meist den Abnutzungswert bedeutend übersteigen,
so ist der letztere bei einem abermaligen Verkauf in der Lage,
ohne daß ihn ein Verlust trifft, den Kahn unter dem Werte zu
verkaufen. Dadurch wird aber der neue Erwerber in die Lage
gesetzt, mit dem billig erstandenen Kahn- Transporte zu so
niedrigen Frachtpreisen anzubieten und auszuführen, wie sie kein
Schiffahrtsunternehmer, der seinen Kahn vollwertig bezahlt hat,
zu leisten vermag. Hierin liegt mit die Ursache des die gesamte
Eibschiffahrt untergrabenden, stetigen Untcrbietens der einzelnen
Unternehmer auf dem Frachtmarkt. Einzelne Großunternehmungen
sind deshalb in letzter Zeit bemüht gewesen, zur Zwangsversteige-
rung gelangende Kähne zu erstehen, und durch Einreihung in
ihren Kahnpark auf dem Frachtmarkt unschädlich zu machen.
Was die Zusammensetzung des Einkommens der Privat-
schiffer betrifft, so können die den Tab. 25 und 27 zugrunde
liegenden Zahlen nicht unbedingt als maßgebend angesehen wer-
den, weil sie, wie später gezeigt werden wird, nicht durch freie,
wirtschaftliche Tätigkeit der Schiffer zustande gekommen sind,
sondern durch einen langjährigen Pachtvertrag, durch den die
Kleinschiffer die eigene Verfügung über ihre P^rachtkähne aufge-
geben hatten.
Das Einkommen des Kleinschiffers setzt sich zusammen :
1. aus den Einnahmen durch Verwaltung des eigenen Kahnes,
2. aus Einnahmen, die der Schiffahrtsbetrieb als Nebeneinnahme ab-
wirft, und 3. aus Einnahmen durch besondere P2rwerbstätigkeit.
Zunächst einiges Wenige über die Nebenerwerbstätigkeit.
Im allgemeinen betreibt der Eibschiffer keinen Nebenerwerb. In
einigen Fällen kommt es jedoch vor, daß Familienangehörige der
Privatschiffer, die im allgemeinen auf der Elbe nicht regelmäßig
mit auf dem Kahn zu fahren pflegen, im Heimatorte noch einen
Kleinhandel mit Viktualien oder dergleichen oder etwas Acker-
I
— 17 —
Wirtschaft betreiben. Einzelne zu einer gewissen Wohlhabenheit
gelangte Kleinschiffer, die dann auch oft mehrere Kähne besitzen,
haben an ihren Schiffahrtsbetrieb in größerem oder geringerem
Umfang Handel mit Kohlen, Eibkies, Obst und dergleichen,
ferner in einzelnen Fällen im Königreich Sachsen auch Stein-
bruchbetriebe angeschlossen. Doch kann man in diesen als Aus-
nahme dastehenden Fällen oft schwer unterscheiden, ob die
Schiffahrt Haupt- oder Nebenerwerb ist. Meist lassen diese Un-
ternehmungen in der Talfahrt ihre Kähne nur für ihr eigenes
Geschäft fahren, während sie bei der Bergfahrt, um die Kosten
derselben zu verringern und noch etwas zu verdienen, fremde
Fracht zu erhalten suchen.
Die Haupteinnahmequelle des Schiffers ist die Verwaltung
und Ausnutzung des eigenen Kahnraumes. Die aus ihr fließen-
den Einnahmen bestanden ursprünglich für den größten Teil der
Privatschiffahrt in den für den Transport fremder Güter an sie
gezahlten Frachtlöhnen. Diese Frachtlöhne weisen in ihrer Höhe
oft von Tag zu Tag, besonders aber für größere Zeiträume sehr
wesentliche Schwankungen auf, denn sie kommen nach dem
Verhältnis von Angebot und Nachfrage zustande. In Hamburg
und Magdeburg werden die Frachtsätze an der Produktenbörse
festgesetzt, in Aussig besteht seit 1899 eine besondere Frachten-
börse, und an den übrigen Plätzen bilden sich die Frachtpreise
in ähnlicher Weise. Es werden hier sowohl Tages- wie Termin-
frachtgeschäfte abgeschlossen, doch kommen letztere für die
Privatschiffer kaum in Betracht.
Um zu veranschaulichen, welche Faktoren bei der Preisbil-
dung im Laufe der Jahre von Einfluß gewesen sind, und in wel-
cher Stärke sie gewirkt haben, ist auf Tafel 28 eine graphische
Darstellung, i. des Jahresdurchschnittes der Frachtsätze für einen
tkm im Verkehr von Massengütern von Hamburg nach Dresden
von 1895 bis 1910 auf Grund der Frachtnachweise in der Zeit-
schrift »Das Schiff<;, 2. des Jahresdurchschnittes des Wasserstan-
des am Dresdner Eibpegel von 1895 bis 1910 und 3. des pro-
zentualen Anteils der oberelbischen Ausfuhr an der gesamten
Hinterlandsausfuhr Hamburgs von 1891 bis 1910 gegeben worden;
bei dieser Darstellung, die auf den Zahlen der Tab. 9 Sp. 12 be-
ruht, ist der Prozentualanteil an der gesamten Hinterlands-
ausfuhr Hamburgs und sind nicht die absoluten Gewichtszahlen der
auf der Elbe beförderten Gütermengen gewählt worden, um an der
- 78 -
Hand der graphischen Darstellung leicht feststellen zu können,
wie weit etwa infolge Einwirkung der beiden anderen Ivnktoren,
Tab. 2S.
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ht.
Frachtpreis und Wasserstand, eine Verschiebung zwischen den
für den Gütertransport in Hamburg zur Verfügung stehenden
beiden Verkehrswegen, Eisenbahn und Elbe, stattgefunden hat.
Es sei zu dieser graphischen Linie noch bemerkt, daß, wie man
— 79 —
aus Tab. 9 ersehen kann, die absoluten Gewichtszahlen sowohl
der gesamten Hinterlandsausfuhr, wie auch der oberelbischen
Wasserausfuhr, in den in Betracht kommenden Jahren, abgesehen
von geringen Schwankungen, Jahr für Jahr dauernd gestiegen
sind.
Vergleicht man in dieser Darstellung die Linie des Wasser-
standes und die der Frachtsätze, so erkennt man deutlich eine
starke Abhängigkeit derselben von einander. Und zwar ver-
laufen die Linien in den entsprechenden Jahren fast stets in
entgegengesetzter Richtung, also bei niedrigem Wasserstand hohe
Frachten und umgekehrt. Diese Regelmäßigkeit, die nur in
Jahren sehr guten Geschäftes z. B. 1897 ""d 1908 oder in (meist
durch übertriebenen Konkurrenzkampf hervorgerufenen) außer-
gewöhnlich ungünstigen Jahren z. B. 1900 bis 1903 und 1907 Ab-
weichungen aufweist, wird dadurch verursacht, daß einerseits bei
sinkendem Wasserstand der Schiffer seinen Kahn geringer be-
laden kann, und dadurch die sich gleich bleibenden oder bei
niedrigem Wasserstand sogar sich steigernden Selbstkosten auf
eine kleinere Menge Güter verteilt werden müssen. Dadurch
werden die einzelnen Gewichtseinheiten derselben stärker belastet.
Dazu kommt, daß bei sinkendem Wasserstand infolge der gerin-
gen Ladungsfähigkeit des einzelnen Kahnes die vorhandenen
Gütermengen sich auf eine größere Zahl von Kähnen verteilen
und einer größeren Zahl von Unternehmern Verdienst gewähren,
wodurch die gegenseitig sich unterbietende Konkurrenz gemildert
wird. Dagegen läßt sich eine gleich sichere Regelmäßigkeit der
Linien des Hamburger Ausfuhranteils mit den beiden anderen
Linien nicht feststellen, wenn auch eine gewisse Tendenz des
Güteranteiles, bei steigendem Frachtsatz zu sinken und umgekehrt,
unverkennbar vorhanden ist.
Die genaueren, zahlenmäßigen Angaben über die Entwick-
lung der Eibfrachten von und nach den verschiedenen Stationen,
immer für Massengüter berechnet, weist in ihrer absoluten Höhe
und umgerechnet auf den tkm die Tab. 29 Sp. i — 12 nach.
Für die Jahre 1871 bis 1889 beruhen diese Angaben auf Auf-
zeichnungen verschiedener Gesellschaften und Schiffsprokureure,
für die Jahre 1890 bis 191 2 aber auf den wöchentlichen Fracht-
berichten in der Zeitschrift »Das Schiff«.
Diese Tabelle zeigt deutlich ein starkes Sinken der Fracht-
preise während der letzten 40 Jahre. Dies ist begreiflich ; ist
— So —
Tab. 29.
Frachtsätze für Massengüter und Anteilfrachten auf der Elbe
1S70 — 1912 (in ITciini^eii).
1.
2.
3-
4-
5-
6.
7-
Ö.
9-
10.
II.
12. , I
3.
I
4. 1 I
5-
16.
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— 91
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— 62
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0,72
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0,80
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0,50
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0,35
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0,95
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0,90
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0,59
96
— 49
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0,81
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0,67
49
0,62
17
0,42
22
0,32
97
— 34
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1,04
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0,94
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0,62
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0,38
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0,18
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1,04
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40 1
1
5
0,22
— 8i —
doch, wie an einer früheren Stelle angeführt worden ist ^), die Aus-
nutzungsmöglichkeit und dadurch die Rentabilitätsmöglichkeit der
gleichen Kahneinheit auf der Elbe während der letzten 25 Jahre
auf etwa das Doppelte gestiegen. Freilich ist auch der auf der
Elbe schwimmende Kahnraum und dadurch die Konkurrenz so
gewachsen, daß der Schiffer schon lange nicht mehr so intensiv
wie früher einen Kahn ausnutzen kann. Somit bedeutet das be-
deutende Sinken der Frachtpreise auch eine nicht unbedeutende
Verringerung der Verdienste des einzelnen Schiffers für die
gleiche Transportleistung gegen früher. Freilich lassen die Zahlen
aus Tab. 29 keine unbedingt sicheren Rückschlüsse auf die Ver-
dienste der einzelnen Jahre zu, da das Hauptgeschäft in der Eib-
schiffahrt in den Herbst, etwa in die Monate September bis
November, fällt und für das ganze Jahresgeschäft die Frachtpreise
dieser Monate maßgebend sind, deren Höhe jedoch nicht aus den
Jahresdurchschnittszahlen in Tab. 29 ersehen werden kann.
Die vorstehenden Darstellungen und Zahlen zeigen, daß die
gewöhnliche Einnahmequelle des Schiffers, das Frachtgeschäft,
wie alle Geschäfte, deren Preise börsenmäßig festgesetzt werden,
einen stark spekulativen Charakter trägt. Diese Natur des Schiffer-
einkommens wird aber durch das bisher Gesagte noch nicht voll-
ständig begründet ; vielmehr kommt noch ein zweites spekulatives
Moment hinzu.
Die Frachtsätze richten sich, wie dargelegt, im allgemeinen
nach dem augenblicklichen Wasserstand und werden für eine be-
stimmte Gütermenge festgesetzt. Das Beladen eines Kahnes
dauert stets mindestens zwei bis drei Tage oder länger und für
eine Fahrt von Hamburg bis Böhmen, und ebenso in umgekehrter
Richtung, rechnet man durchschnittlich etwa 20 bis 30 Tage.
Nun rechnet der Schiffer, wenn er eine Ladung annimmt und
den Frachtpreis vereinbart, insgeheim damit, daß sich während der
Ladezeit oder bis er die Bestimmungsstation erreicht, das Wetter
und damit der Wasserstand ändern wird. Hat er z. B. bei nie-
drigem Wasserstand, der auf der oberen Eibstation, dem Bestim-
mungshafen, nur ein Drittel der gewöhnlichen Tauchtiefe und da-
durch der Ladungsfähigkeit gestattet, eine Ladung von Hamburg
nach Aussig, so nimmt er, wenn er bis zu seiner Ankunft an der
höher gelegenen Eibstation steigenden Wasserstand erwartet, eine
größere Gütermenge, als der augenblickliche Wasserstand gestatten
ÖVgTs. 30.
Zeitschrift für die ges. Staatswissensch. Ergänziingsheft 50. 6
82
würde, zu den günstigeren Frachtsätzen des niederen Wasserstan-
des an. Treffen nun seine Erwartungen hinsichtlich der Besserung
des Wasserstandes ein, so hat er ein gutes Geschäft gemacht. Hat
er sich aber getäuscht, so erleidet er einen sehr bedeutenden
Verlust. Denn er ist dann gezwungen, unterwegs, sobald er in
allzu seichtes Wasser kommt, entweder seine l-'ahrt zu unter-
brechen, oder seinen Kahn auf eigene Kosten abzuleichtcrn, also
auf seine Kosten einen anderen Kahn zu chartern, und auf freier
Strecke ohne Verladevorrichtungen einen Teil seiner Fracht auf
den anderen Kahn überzuladen. Dieser Umstand bildet ein sehr
gefährliches und unsicheres Moment in den Geschäften des
Schiffers, und hat schon manchem Schiffer, ohne daß eine Speku-
lationsabsicht bestand, bei unvorhergesehenen Witterungs- und
Wasserstandsveränderungen schweren Schaden gebracht, ja sogar
seine ganze Existenz zerstört.
Bisher war nur von den Einnahmequellen desjenigen Privat-
schiffers die Rede, der selbstständig auf dem Frachtmarkt dem
Produzenten, Exporteur oder sonstigen Transportgelegenheit
Suchenden gegenübertritt. Dieses Verhältnis aber kommt an
der Elbe nur noch in den seltensten Fällen vor und hat auch
früher niemals allgemein bestanden. Der Privatschiffer ist für
derartige Geschäfte zu schwerfällig und ist auch mit den beson-
deren Verhältnissen an den verschiedenen Orten zu wenig ver-
traut; an der Börse vermag er überhaupt nicht aufzutreten.
Deshalb hat sich von jeher der Privatschiffer in der Regel
der Schiffsprokureure, d. h. selbständiger Frachtmakler be-
dient, abgesehen von anderen Einrichtungen, die in einem spä-
teren Kapitel besprochen werden. Diese Prokureure vermittelten
ursprünglich, insbesondere während der 70er und 80er Jahre, den
Privatschiffern zu einem festen Provisionssatz die Ladungsgüter,
und dem Schiffer fiel dann der volle von den Prokureuren mit
dem Versender vereinbarte Frachtlohn zu, wofür er die Einlade-,
Versicherungs- und eventuell auch Schleppkosten aus seiner
Tasche zu tragen hatte.
Diese Verhältnisse änderten sich gegen Ende, des vorigen
Jahrhunderts dahin, daß die Prokureure von da ab mit den
Versendern einen Frachtpreis vereinbarten, diesen ausgezahlt er-
hielten, und nunmehr versuchten, einen Schiffer zu finden, der
ihnen den Transport zu einem niedrigeren als dem von dem
Versender gezahlten Frachtpreis ausführte. Der Frachtsatz, den
- 83 -
der Prokureur dem Schiffer zahlte, wurde und wird »Anteil-
fracht«, zeitweise und ortsweise auch »Hauptfracht« genannt.
Die Anteilfracht ist eine Art Scharterlohn, d. h. sie bildet das
Entgelt des Schiffers dafür, daß er dem Prokureur seinen Kahn-
raum überläßt und den Kahn an den Bestimmungsort geleitet ;
alle Spesen des Transportes mit Ausnahme der Leichterkosten
und Löhne der Schiffsbesatzung trägt der Prokureur, also die
Einladungs-, Schlepp- und Versicherungskosten und dergleichen.
Diese Anteilfrachten, die sich wieder ausschließlich nach An-
gebot und Nachfrage regulieren und auch von der Höhe der
vom Versender bewilligten Frachten abhängig sind, werden für
die Ladungseinheit, meist für loo kg Ladung vereinbart. Der
Privatschiffer behält also das Interesse daran, eine möglichst
große Ladungsmenge für seinen Kahnraum zu erhalten, und es
bleibt folglich die Spekulationsmöglichkeit, aber auch das Risiko,
die, wie oben ausgeführt, mit der Veränderung des Wasserstandes
verbunden sind. Dieses System der Anteilfrachten kommt seit
Ende der 90 Jahre des vorigen Jahrhunderts in der Bergschiff-
fahrt fast ausschließlich zur Anwendung und hat sich seit Mitte
des ersten Jahrzehntes des 20. Jahrhunderts auch im Verkehr zu
Tal eingebürgert. Auch bedienen sich dieser Art von Kahn-
raumbeschaffung heute nicht nur die Prokureure, sondern in sehr
weitem Umfange auch die Großschiffahrtsunternehmungen. Zah-
lenmäßige Angaben darüber enthält Tab. 23, Sp. IV und Tab.
40, Sp. XII. Heute tritt der Privatschiffer nur noch bei den
freilich sehr umfangreichen und wichtigen Kohlen- und Getreide-
verfrachtungen in Böhmen völlig selbständig und selbstbietend auf
dem Frachtmarkt auf, was ihm durch die Aussiger Frachtenbörse
ermöglicht wird. Da aber diese Transporte, wie im ersten Ka-
pitel gezeigt worden ist, stark und dauernd in Abnahme begriffen
sind, so wird auch dieses letzte selbständige Geschäft des Privat-
schiffers immer geringer und auch unrentabler.
Ueber die durchschnittliche Höhe der während der einzelnen
Jahre auf dem Hamburger Frachtenmarkt ausgezahlten Anteil-
frachten geben für die Zeit von 1898 bis 1912 Tab. 29 Spalte 13
bis 16 Auskunft. Die Zahlen der Anteilfrachten bieten viel
besser, als die in Tab. 29 Spalten i bis 12 wiedergegebenen
Zahlen der gewöhnlichen Frachten ein klares Bild von den Kon-
kurrenzverhältnissen unter den Kleinschiffern und zusammen
mit den Wasserstandsverhältnissen und der durch sie gebotenen
6*
- 84 -
Ladungsmöglichkeit ein Bild von der Voraussetzung des Ein-
kommens der Privatschiftcr. Ist es doch in Zeiten des heißesten
Konkurrenzkampfes z. B. Ende März 1903 vorgekommen, daß
die Klcinschiftcr in ihrem Unterbietungseifer ihren Kahnraum in
Hamburg unentgeltlich, also auch ohne jede Anteilfracht zur Berg-
reise angeboten haben, nur um ohne Kosten nach Böhmen zurück-
zugelangen, und dort zu mäßigem Satz die immer reichlich vor-
handenen Braunkohlentalfrachten zu erhalten, oder daß sie aus
denselben Gründen für die 671 km lange Strecke Hamburg-
Aussig um 12 bis 25 7o geringere Anteilfracht verlangten, als
für die nur 275 km lange Strecke Hamburg-Magdeburg (z. B
von Januar bis Juni 1903). Daß unter solchen Umständen,
die es den Verfrachtern ermöglichten, unentgeltlichen Kahn-
raum und unentgeltlichen Transportdienst zu erlangen, den
vernichtendsten Frachtunterbietungen Tür und Tor geöffnet sind
und ein reeller und rentabler Schiffahrtsbetrieb für fmanziell
schwache Kräfte unmöglich wird, ist nur zu begreiflich.
Will man die Einnahmequellen des Kleinschiffers übersehen,
so muß noch auf gewisse Nebeneinnahmen hingewiesen werden,
die das Frachtgeschäft mit sich bringt und die vielfach fast ebenso
einträglich sind, wie das Frachtgeschäft selbst. So gibt es zahl-
reiche' Handelsusancen, die dem Schiffsführer gestatten, kleinere
Güterquanten, die bei der Entladung oder bei anderen Gelegen-
heiten zurückbleiben oder als überzählig sich erweisen, in seinem
eigenen Nutzen zu verwerten, nachdem bei der Entladung die
auf dem Frachtbrief vermerkte Gütermenge oder auch diese ab-
züglich des usancemäßigen Mankos abgeliefert ist. Auch > Zu-
gaben« beim Verwiegen und Einladen im Abgangshafen sind bei
bestimmten Warengattungen z. B. bei Getreide in Hamburg, bei
Kohlen in Aussig, zeitweise üblich gewesen und kamen den
Schiffern zugute. Freilich ist bei diesen »Nebenverdiensten«,
die in letzter Zeit wegen der genaueren Kalkulation der Absen-
der und Empfänger immer mehr eingeschränkt, ja fast ganz be-
seitigt worden sind, die rechtmäßige von der unrechtmäßigen
Aneignung oft nicht leicht zu unterscheiden. Es hat Zeiten ge-
geben, während deren die Beraubungen von Schiffsladungen auf
der Elbe fast zu den Alltäglichkeiten gehörten.
Aus dem über die Einnahmequellen der Privatschiftcr Ge-
sagten ist zu ersehen, daß für die Höhe der durchschnittlichen
Jahreseinnahmen des Eibschiffers keine bestimmten Angaben ge-
\
- 85 -
macht werden können ; sie sind von zu vielen nicht kontrollier-
baren Möglichkeiten abhängig.
Einen gewissen Anhalt über die Einkommensverhältnisse der
Schiffseigner können die Angaben der Elbschiffahrts-Berufsgenossen-
schaft über das Jahreseinkommen der ihr freiwillig als Selbst-
versicherte beigetretenen Schiffahrtsunternehmer gewähren. Hier-
nach betrug das durchschnittliche Jahreseinkommen dieser Schiffs-
eigner etwa I200 bis 1500 M. ; es ist aber zu berücksichtigen,
daß es zum großen Teil gerade die schlechtest gestellten
Schiffseigner sein werden, welche die Unfallversicherung benutzen,
denn die besser gestellten bedürfen ihrer weniger. Jene Zahlen
dürfen deshalb wohl nur als untere Durchschnittseinkommens-
grenze angesehen werden. Wie mühsam sich der Schiffseigner
sein Einkommen verdienen muß, kann man aus einer Kosten-
berechnung ersehen, die »Das Schiff« im Jahre 1895 für einen
Kahn von 400 t aufstellte, der sich bei voUschiffigem Wasser an
der Kohlenverfrachtung zwischen Aussig und Magdeburg beteiligte.
Zum besseren Verständnis sei vorausgeschickt, daß eine große
Zahl von Kleinschiffern lediglich die T a 1 Schiffahrt zwischen Aussig
und Magdeburg betreibt. Diese Schiffer lassen nach Ablieferung
.und Entladung ihrer Fracht im Bestimmungshafen den leeren Kahn
sogleich wieder nach Aussig schleppen, da sie von Magdeburg nach
dorthin nur sehr selten direkte Fracht finden würden, eine Fahrt
nach Hamburg aber, um dort Bergfracht einzunehmen, bei der
geringen Rentabilität der Frachtschiffahrt zu Berg sich nicht ver-
lohnen v/ürde. Es heißt an jener Stelle im »Schiff« :
Dauer der Einladung in Aussig 4 Tage
Fahrt Aussig — Magdeburg 6 >
Liegezeit in Magdeburg (zur Löschung der Ladung) 14 »
Rückfahrt nach Aussig (leer) 6 »
Sa. 30 Tage
A u s g ab e n.
Lohn für 30 Tage
1 Steuermann ä M. 3.50 pro Tag
2 Deckleute ä M. 2.50 » »
Kosten der Einladung in Aussig (40 Waggon Kohlen)
Frachtvermittlungskosten
Schlepplohn des leeren Fahrzeuges (Magdeburg — Aussig)
Dem stehen als Einnahmen nur die aus den Frachtlöhnen gegen-
über. Es wurde damals für einen Doppelhektoliter = 2^/4 Ztr.
Kohlen Aussig-Magdeburg 30 Pfg. gezahlt, was sich für eine t
M. 105
. 150
» X59
> 75
» 362
Sa.
M. 851
— 86 —
auf 2,iS M. oder für die Schiffsladung von 400 t auf 872 M.
belaufen würde.
Also
Einnahmen M. 872
Ausgaben M. 85 1
Gewinn aus einer Reise M. 21
Da ein Kahn während eines Jahres auf dieser Strecke höchstens
II Fahrten machen kann, so beträgt der Jahresgewinn eines
Kahnes ohne Abzug von Reparatur- und Amortisationskosten
231.— M. ; bei ca. 20000 M. Anschaffungswert des Kahnes würde
dies eine reichlich i % ige Verzinsung des investierten Kapitals be-
deuten. Davon kann der Schiffseigner nicht leben, er fährt deshalb
meistens auf seinem eigenen Schiff als Steuermann, wodurch er den
Lohn für diesen in Höhe von 11 55 M. erspart und somit ins-
gesamt 1386 M. Jahresgewinn erhalten kann, was eine sehr ge-
ringe Verzinsung seines Kapitales und einen sehr niedrigen Er-
trag seiner Arbeitskraft darstellt.
Im allgemeinen kann wohl gesagt werden, daß die Betriebs-
ergebnisse, wie sie in Tab. 25 und Tab. 27 zugrunde gelegt wor-
den sind, also für einen 650 t-Kahn 6700 M. Betriebseinnahmen
bei 4600 M. Betriebsausgaben, d. h. 2100 M. jährlich Betriebs-
überschuß, und bei größeren Kähnen entsprechend höher, bei
kleineren entsprechend niedriger, als ein sehr günstiger Jahres-
abschluß anzusehen sind. Rechnet man die fast immer ersparten
Steuermannslöhne von jährlich 1400 M. hinzu, so ergeben sich
3500 M. als das sehr reichliche Jahreseinkommen eines unver-
schuldeten Privatschiffers, der, wie es fast immer geschieht, sein
Gewerbe nur mit einem Kahn betreibt. Dazu würden die frei-
lich meist nur noch sehr geringen Nebeneinnahmen zu rechnen sein.
Da jedoch völlige Unverschuldetheit bei Privatschiffern heute auf
der Elbe nur noch sehr selten anzutreffen ist, so wird man den durch-
schnittlichen Reingewinn eines soliden Privatschiffers auf der Elbe
aus seinem Kapital und seiner Arbeitskraft in einem normalen
Durchschnittsjahr kaum höher als mit 2100 M. ansetzen können.
Nach alledem läßt es sich leicht verstehen, daß "wie es auch
Tab. 22 und die an sie angeknüpften Erörterungen zahlenmäßig
darzulegen gesucht haben, allmählich in den letzten Jahren ein
Rückgang in der Zahl der Kleinschifferbetriebe eingetreten ist,
und daß sich ihre Unternehmer anderen Beschäftigungen oder
anderen Wasserstraßen zugewendet haben.
- 87 -
III. Kapitel.
Die Groß Schiffahrt.
I. Wesen und Umfang der Großbetriebe.
Das Großunternehmen in der Eibschiffahrt charakterisiert
sich vor allem durch die Art der Beschaffung seines Betriebs-
kapitals und durch die Stellung seiner Unternehmer. Denn pri-
vate Betriebe, die man nach sonst allgemein gültigen Gesichts-
punkten als Großbetriebe ansprechen könnte, bestehen in der
Eibschiffahrt nicht. Es hat sich auch in der Praxis die Bezeich-
nung Großschiffahrt nur für diejenigen Betriebe herausgebildet,
die, abgesehen von einer gewissen Höhe des Betriebskapitals, auf
gesellschaftsrechtlicher Grundlage, insbesondere auf dem Aktien-
prinzip aufgebaut, nach kapitalistischen Grundsätzen verwaltet
und geleitet werden und sich gewerbsmäßig nur mit der Güter-
schiffahrt auf der Elbe befassen.
Derartige Unternehmungen hat es in den letzten 40 Jahren
auf der Elbe 1 1 gegeben, und zwar : Die Prager Dampf- und
Segelschiffahrts-Gesellschaft, die Vereinigte Hamburger-Magde-
burger Dampfschiffahrts-Kompagnie, die Neue Norddeutsche Fluß-
dampfschiffahrts-Gesellschaft, die Elbdampfschiffahrts-Gesellschaft,
die Frachtdampfschiffahrts- Gesellschaft, die »Kette« Deutsche
Elbschiffahrts - Gesellschaft , die Oesterreichische Nord-West-
Dampfschiffahrts - Gesellschaft, die Vereinigten Elbeschiffahrts-
Gesellschaften, die Deutsch-österreichische Dampfschiffahrts-Ge-
sellschaft, die »Elbe« Dampfschiffahrts- Aktien-Gesellschaft und die
Neue Deutsch-böhmische Dampfschiffahrts-Gesellschaft.
Von diesen bestehen heute noch 6, und zwar .• die Neue
Norddeutsche Plußdampfschiffahrts-Gesellschaft, die Oesterreich-
ische Nord-VVest-Dampfschiffahrts-Gesellschaft, die Vereinigten
Elbschiffahrts-Gesellschaften, die Deutsch-österreichische Dampf-
schiff"ahrts-Gesellschaft, die '>Elbe<-, Dampfschiffahrts- Aktien-Ge-
sellschaft, die Neue deutsch- böhmische Dampfschiffahrts-Gesell-
schaft.
Die Bedeutung der Großschiffahrt läßt sich am leichtesten
durch Darstellung der Entwicklung ihrer Schiffsflotte veranschau-
lichen, wenn man auch, wie später gezeigt werden wird, aus
diesen Zahlen nicht allzuweitgehende Schlüsse auf die Tätigkeit
der Großschiffahrt ziehen darf Die Zahl der Schiffe betrug:
— 88 —
Tab. 30.
Zahl der Schiffe der Großbetriebe.
I.
2.
3-
4-
Anteil an der Ge-
Jahr
Dampfschiffe
Schleppkähne
samiellischlepp-
schifTflolte
1872
31
12
1877
39
39
1882
71
322
1887
92
377
23%
1892
88
372
18 0/0
1897
HO
367
18%
1902
133
404
19%
1907
136
■479
26 0/0
Diese Zahlen stellen eine bedeutsame Flotte dar, die im
Dampfschleppverkehr fast eine monopolartige Stellung auf der
Elbe gewonnen hat, während sie hinsichtlich der Frachtschiffe,
wie die Tab. 30 zeigt, etwa ^5 ^^^^^' deutschen Schleppfahrzeuge
der Elbe umfaßt.
Ueber die Gesamtleistung dieses Schiffsparkes der Großbe-
triebe fehlt es an umfassenden brauchbaren Angaben ; sie lassen
sich mit einer gewissen Sicherheit nur für das Frachtgeschäft bei-
bringen, obwohl gerade die Haupttätigkeit der Großunterneh-
mungen in der Schleppschiffahrt liegt.
Es bildet eine Eigentümlichkeit eines Teiles der Elbschiff-
fahrtsgroßbetriebe, daß es ihnen gelungen ist, einen nicht unbe-
trächtlichen Teil des Frachtverkehres in ihre Hände zu bekom-
men, ohne ihn selber auszuüben, oder sich wenigstens in be-
schränktem Maße selbst an der Frachtschiffahrt zu beteiligen.
Die Ausführung der Frachtaufträge ist auf der Elbe noch
ein fast unbestrittenes Vorrecht der Kleinschiffahrt, während ein
selbstgeschaffenes Privileg der Großbetriebe die Ausübung der
Schleppschiffahrt bildet. Es mag dies zwar bis zu einem ge-
wissen Umfange in den hohen Anschaffungs- und Unterhaltungs-
kosten des Schleppbetriebes begründet sein, den Hauptgrund
dafür aber bildet die Tatsache, daß die Großschiffahrt bisher
noch nicht imstande gewesen ist, ohne unverhältnismäßig hohe
Aufwendungen der Kleinschiffahrt in ihrem altangestammten
Wirkungskreis, der Frachtschiffahrt, Abbruch zu tun, obwohl es
im Laufe der Zeit, z. B. in den 80er Jahren, nicht an Versuchen
hierzu gefehlt hat. Als jedoch die Großunternehmungen die Un-
möglichkeit dieses Unternehmens erkannt hatten, waren sie so
- 89 -
klug, den starken Nebenbuhler nicht unnötig zu reizen, sondern
mit ihm sich gütlich zu einigen ; denn sie bedurften seiner not-
wendig als Kunden für das Schleppgeschäft. So überließ man
ihm die Frachtschiffahrt nahezu ungestört und suchte ihn nur
zur Benutzung der eigenen Schleppdampfer anzuregen und zu
verpflichten. Dieses doppelte Ziel aber konnte man am leichte-
sten dadurch erreichen, daß sich die schleppschiffahrttreibenden
Großbetriebe eigne Frachtbureaus anlegten, die den frachtsuchen-
den Kleinschiffern unter gewissen Bedingungen Frachten ver-
mittelten und zuwiesen. Die Bedingungen bestanden aber darin,
daß der Schiffer sich für die meist kostenlose Zuweisung von
Frachtgütern verpflichten mußte, bei seiner Bergreise sich nur
der Schleppkraft jenes Großbetriebes zu bedienen, durch den
er die Transportaufträge erhalten hatte. So bildeten sich zwi-
schen der Schleppschiffahrt der Großbetriebe und der Fracht-
schiftahrt der Kleinbetriebe die ersteren als Frachtvermittlungs-
institute zu ^Mittelspersonen und Bindegliedern aus und knüpf-
ten damit ein festes Band zwischen den beiden Unternehmer-
gruppen. Diese von den Gesellschaften nur vermittelten aber
nicht selbst ausgeführten Verfrachtungen sind m^eist unter-
schiedslos in den Nachweisen der Verfrachtungsgelder der Ge-
sellschaften mit aufgenommen, so daß diese Nachweise für die
wirklichen Frachtschiffahrtleistungen der Gesellschaften ein un-
genaues, weil zu günstiges Bild geben.
Wie groß die von den Gesellschaften verfrachteten Güter-
massen sowie ihr Anteil an dem Gesamteibverkehr gewesen sind,
zeigt die Tab. 23, Spalten I und II. In Spalten III und IV ist
auch für die Jahre 1888 — 1S96 der Anteil derjenigen Frachtgüter-
mengen an der Gesamtverfrachtung der Gesellschaften ange-
geben, der von ihnen auf eignen Frachtschiffen befördert wor-
den ist; wie er in Tab. 40 noch gesondert für die ;> Nord-West«
für die Jahre 1887 — 1904 zahlenmäßig zusammengestellt worden
ist. Man sieht aus diesen Zusammenstellungen deutlich, wie ge-
ring die eignen Frachttransportleistungen der Großunternehmungen
sind, wie bedeutend sich dagegen ihr Fracht vermittln ngs-
geschäft ausgebildet hatte, und wie letzteres von Jahr zu Jahr
seinem Umfang nach in Zunahme begriffen war. Leider sind
diese Zahlen für die letzten Jahre wegen ihres Fehlens in den
Betriebsveröffentlichungen seit 1896 nicht mehr für alle Gesell-
schaften zu berechnen; es zeigt sich aber aus den Zahlen der
- 90 —
> Nord- West«, daß jene Tendenz im I'"iacht|^eschäft dieselbe ge-
blieben ist.
Es ist, wie schon erwähnt, unmöi^lich, in ähnlicher Weise,
wie für das Frachtgeschäft auch eine Darstellung der Leistungs-
fähigkeit der Gesellschaften in der Schleppschiffahrt zu geben.
Die Geschäftsberichte weisen in dieser Hinsicht so verschiedene,
unter sich völlig unvergleichbare und nicht zu vereinigende An-
gaben auf, daß man sich nur auf die Ausweise über die Ge-
samteinnahmen der Gesellschaften aus dem Schleppgeschäft be-
schränken muß, um ein ungefähres Bild von der Bedeutung, dem
Umfang und der Entwicklung des großbetrieblichen Schleppge-
schäftes zu erhalten. Man kommt auf diesem Wege zu folgenden
Ergebnissen :
Tab. 31.
Gesamteinnahmen der Groß-
betriebeaus dem Schleppgeschäft.
I. '
2.
T 1.
Gesamtschlepplohn-
Jahr
einnahmen
1000 M.
1882
3697
83
3450
84
3746
1885
3384
86
2984
87
3064
88
3367
89
39.07
1890
4 174
91
4365
92
4283
93
5469
94
5742
1895
5683
96
5716
Es sei noch bemerkt, daß sämtliche Großschiffahrtsbetriebe
eigne Schleppdampfer besitzen und für eigne wie für fremde
Frachtkähne den Schleppbetrieb unterhalten. Doch ist das Ver-
hältnis der geschleppten eignen Kähne zu den fremden bei
den verschiedenen Großunternehmungen ein ganz verschiedenes,
w'ie später noch näher auszuführen sein wird.
Wie sich die Einzeluntcrnehmungen entwickelt haben, soll
im folgenden Abschnitt auf Grund ihrer Jahresberichte und son-
stigen Betriebsangaben geschildert werden.
\
— 91 —
2. Entwicklung der einzelnen Großbetriebe.
Der Versuch, eine lückenlose Darstellung der Entwicklung
der einzelnen Großbetriebe zu geben, stößt auf empfindliche
Schwierigkeiten. Ist man schon für die heute bestehenden Gesell-
schaften beim Nachforschen nach zuverlässigen Nachrichten fast
nur auf die oft wenig ausführlichen und nicht immer allgemein
zugänglichen Jahresberichte der Gesellschaften angewiesen, so
versagt auch diese Quelle für ältere Entwicklungsstufen der heu-
tigen, vor allem aber für frühere, jetzt nicht mehr bestehende
oder in anderen Gesellschaften aufgegangene Unternehmungen.
So erklärt es sich, wenn im folgenden für einzelne Betriebe nur
spärliche und lückenhafte Mitteilungen gemacht werden können,
während für andere ein reichlicheres und interessantes Material
zur Verfügung steht.
a) Prager-Dampf- und Segelschiffahrtsgesell-
schaft.
Die P.D.S.S.G. ist die erste Schiffahrts-Gesellschaft auf der
Elbe gewesen. Sie wurde im Mai 1822, also noch vor Einfüh-
rung des Dampfes als Antriebsmittel auf der Elbe, mit einem
Aktienkapital von 65 500 fl C-M in Prag unter der Firma »Prager
Schiffahrts-Gesellschaft« gegründet. Trotz ihrer anders lautenden
Firma, war sie ursprünglich nur ein Frachtvermittlungsunter-
nehmen, eine reine Speditionsfirma, die durch ein Kontor, an-
fangs in Niedergrund an der Pllbe, seit 1828 in Tetschen, die
ihr zugeführten Frachtgüter an die Schiffahrt weiter gab. Erst
in der am 27. Mai 1857 stattgefundenen Generalversammlung
beschloß man eine Erweiterung und Umgestaltung des Geschäfts-
betriebes. Das Kapital wurde auf 600 000 fl C-M erhöht und
am I.Januar 1858 begann die Gesellschaft unter der neuen Firma
»Prager Dampf- und Segelschiffahrts-Gesellschaft« mit eignem
Gütertransport auf eignen Schleppschiffen. Im Laufe der nächsten
2 Jahre wurden 5 Radschleppdampfer von je 60 PS und eine
Anzahl Schleppkähne in Betrieb gestellt. Die Geschäftsergeb-
nisse, über die sich nirgends nähere Angaben finden lassen,
scheinen aber im allgemeinen nicht sehr günstige gewesen zu sein,
wenigstens wird wiederholt von größeren oder kleineren Fehlbe-
trägen bei den Jahresabschlüssen berichtet. Trotzdem erweiterte
und vermehrte man während der 60er Jahre den Schiffsbestand
— 92 —
nicht unbeträchtlich, so daß ilie Gesellschaft 1.S72 6 Radschlepp-
dampfer neuerer und neuester Konstruktion mit insgesamt 1 500 PS
besaß. Anfangs des Jahres 1870 suchte sie, nachdem bei Magde-
burg und Dresden von anderer Seite unternommene Versuche
mit der Kettenschleppschiffahrt günstig ausgefallen waren, um
die Genehmigung für diese Schiffahrtsbetriebsart auf der Strecke
zwischen Schandau und Aussig ') nach und erhielt sie im August
desselben Jahres. Der Betrieb mit diesem neuen Beförderungs-
mittel wurde im März 1872 mit 2 Dampfern eröffnet. Trotz alle-
dem bestand das Hauptgeschäft der Gesellschaft noch in der
Frachtvermittlung und später in dem Schleppen fremder Fahr-
zeuge. Der eigne Frachtschiffpark ist immer nur gering und teil-
weise stark veraltet und deshalb bei den mehr und mehr sinken-
den Frachtsätzen unrentabel gewesen; nur zögernd ging man an
die Einstellung von Schleppkähnen modernerer Bauart. Dagegen
mußte man bereits im Jahre 1877 an eine völlige Auswechselung
der abgenutzten Schleppkette gehen, was nicht geringe Kosten
verursachte. Doch war das Schleppgeschäft ein so reges und
rentables, daß man 1879 und 1882 je einen neuen Kettenschlepp-
dampfer in Betrieb stellen konnte. Dann aber traten in der
Schiffahrt Verhältnisse ein, die es der Gesellschaft im Jahre
1882 geraten erscheinen ließen, ein sehr günstiges Kaufangebot
der neugegründeten Oesterreichischen Nord-West-Dampfschiffahrt-
Gesellschaft über das gesamte bewegliche Betriebsmaterial anzu-
nehmen und zu liquidieren. Die Kaufsumme betrug i 450000 fl,
also fast 2-/2 Millionen Mark.
b) Die Vereinigte Hamburger- Magdeburger
Dampfschiffahrts-Kompagnie in Magdeburg.
Die V.H.M.D.K. ist die erste Gesellschaft und nach dama-
ligen Verhältnissen das erste Großunternehmen auf der Elbe, das
zur Einführung und regelmäßigen Ausnutzung des Dampfes für
die Schiffahrt gegründet wurde. Im Jahre 1836 vereinigte sich
eine Reihe Magdeburger Großkaufleute zu dem Zwecke, für ihren
eignen Handel die Dampfschiffahrt zwischen Magdeburg und
l) Diese Strecke, die die Durchbruchslelle der Elbe durch das Elbsandslein-
gebirge bildet, war wegen ihres starken Gefälles und ihrem geringen Wasserstand
eine sehr schwierige und gefährliche Wegstrecke für die Bergschiffahrt ; für sie
eignete sich die Kettenschiffahrt ganz besonders.
— 93 —
Hamburg einzuführen, jedoch ihre Schiffe auch der Personenbe-
förderung zur Verfügung zu stellen. Das Gründungskapital be-
trug anfangs 150000 TIr. Der Betrieb wurde 1838 mit einem
Dampfer aufgenommen und die Erfolge waren günstige. In den
ersten Jahren überwogen die Einnahmen aus der Personenbeför-
derung diejenigen aus der Güterbeförderung noch beträchtlich,
wie Tab. 32 ergibt.
Tab. 32.
Verkehrsleistungen der »Ver. Hamburg- Magdeburger Dampfsch.-
Komp.« 1838 — 1844.
I.
2.
3-
4-
5-
6.
7-
8.
Zahl
Zahl der
Zahl der
Gewicht der
Einnahmen
Einnahmen
aus Güter-
Divi-
Jahr
der
Damp-
Doppel-
beförderten
Personen
beförderten
Güter
aus Personen-
beförderung
in Taler
beförde-
den-
de
fer
reisen
in Ztr.
rung
in Taler
in%
1838
I
34
2705
9966
15326
6324
4
1839
2
65
4678
18372
23 356
12 115
6
1840
3
120
8452
32775
38708
17424
5
1841
7
229
17 719
122 828
loi 383
61 830
6
1842
7
8
155
312
II 302
99994
55410
50326
4
1843
195-
-189
0
1844
8
289
23 942
235713
95 164
89 164
0
Man sieht jedoch zugleich aus dieser Tabelle, daß der
Frachtverkehr für die Einnahmen der Gesellschaft eine immer
wichtigere Rolle zu spielen begann, bis er Anfang der 50er Jahre
die Einnahmen aus der Personenbeförderung überwog. Die Ge-
sellschaft konnte sich jedoch nicht lange ihrer Konkurrenzlosig-
keit auf der Elbe erfreuen, denn schon im Jahre 1838 trat eine
Vereinigung Hamburger und Leipziger Kaufleute unter der Firma
Hamburg -Leipziger Dampfschiffahrts- Kompagnie auf den Plan
und die Konkurrenz der beiden Unternehmungen wurde eine so
heftige und für beide gleich verlustreiche, daß man sich ent-
schloß, mit dem i. Januar 1841 die Leipziger Gesellschaft in der
V.H.M.D.K. mit dem Sitz in Magdeburg aufgehen zu lassen; zu-
gleich wurde das Kapital der letzteren auf 360000 Tlr. erhöht.
Während man anfangs hauptsächlich Personenschiffahrt be-
trieb und Güter nur nebensächlich befördert wurden, ging man
Mitte der 40 Jahre, als ersterer Geschäftszweig wegen der Kon-
kurrenz der Eisenbahn immer weniger gewinnbringend wurde,
zur Annahme von Schlepp auftragen für fremde Frachtkähne
— 94 —
über. Dieser neue Betriebszweig sollte allmählich zur Hauptein-
nahmcquelle der Gesellschaft werden, denn nachdem man schon
Mitte der 50er Jahre die Dampferzah! auf 1 1 erhöht hatte, ent-
schloß man sich, um bei den schlechtregulierten Wasserverhält-
nissen der Elbe im Güterverkehr in bezug auf Schnelligkeit und
Leistungsfähigkeit mit der Eisenbahn konkurrenzfähig zu bleiben,
im Jahre 1863, nach dem Muster der Seineschiffahrt auch auf der
Elbe für den Schleppverkehr Versuche mit der Kettenschlepp-
schiffahrt anzustellen. Jedoch kam erst 1866 ein regelmäßiger
Betrieb auf der 5 km langen Versuchsstrecke bei Magdeburg
zwischen Neustadt und Buckau zustande, der sich bewährte.
Trotzdem ging man mit der weiteren Anwendung dieser neuen
Betriebsmethode wegen der hohen Herstellungskosten nur sehr
allmählich vor: 1868 wurde die 51 km lange Kette zwischen
Neustadt und Ferchland, 1872 zwischen Ferchland und Witten-
berge [j"] km) und erst 1874 zwischen Wittenberge und Ham-
burg (165 km) und somit die Kette auf der ganzen Strecke
Magdeburg-Hamburg vollendet.
Mit der stärkeren Betonung der Schleppschiffahrt wuchs aber
auch das Interesse der Gesellschaft an dem Klbfrachtverkehr, vor
allem soweit er bergwärts gerichtet war. Man errichtete deshalb
anfangs der 60er Jahre je ein Frachtkontor in Hamburg und in
Magdeburg, versuchsweise auch ein solches in Dresden ; sie waren
ursprünglich dazu gegründet, um den Frachtverkehr auf der Elbe
zu beleben, den Schiffseignern lohnende Beschäftigung im Berg-
verkehr zu verschaffen und dadurch indirekt das Schleppgeschäft
der Gesellschaft zu heben. Es lag jedoch nahe, daß die Gesell-
schaft im Laufe der Zeit auch selbst Frachtkähne anschaffte,
durch ihre Beladung die Aufträge ihrer Frachtkontore selbst er-
ledigte und damit zugleich ihren Schleppdampferpark beschäftigte.
Dieser kombinierte Schlepp- und Frachtschiffahrtsbetrieb führte
sich so gut ein, daß das Frachtvermittlungsgeschäft für die
Frachtschiffseigner schließlich stark hinter der eignen Fracht-
schiffahrt der Gesellschaft zurücktrat.
Durch die Anfang der 70er Jahre in Wirksamkeit getretene
Einführung der Kettenschleppschiffahrt wurde auch das Schlepp-
geschäft der Gesellschaft bedeutend erweitert : so wuchs allein
im Jahre 1872 durch Eröffnung der Kettenstrecke Neustadt-
Ferchland die Schleppleistung der Gesellschaft gegenüber dem
Vorjahr um 1066 Kähne mit 694000 Ztr. Ladungsgut und
— 95 —
50416 TIr. Einnahmen. Dafür blieb aber die Leistung der
Frachtschiffahrt in diesen Jahren um 320000 Ztr. hinter der des
Vorjahres zurück. Die beiden nächsten Jahre gestaUeten sich
für das Unternehmen ungünstig ; waren sie an sich schon für die
gesamte Elbschii^ahrt wegen Mangel an Gütern wenig gewinn-
bringend, so fiel für die V.H.M.D. noch besonders der Umstand
in die Wagschale, daß ihr nunmehr auf der Elbe in der später
zu besprechenden neuen Dresdner Ketten-Schlcppschiffahrts-
Gesellschaft sowohl auf der Strecke zwischen Hamburg und
Magdeburg, vor allem aber oberhalb Magdeburgs im Schlepp-
geschäft ein sehr regsamer Konkurrent erstanden war. Als das
Jahr 1874 für die Gesellschaft mit einem Jahresverlust von
13200 Tlr. im Gütergeschäft und 37625 Tlr. im Schleppge-
schäft abschloß und auch das nächste Jahr sich ähnlich ungün-
stig anließ, entschloß man sich, im Frühjahr 1875, den bisher
ziemlich hohen Kettenschlepptarif mit Genehmigung der Regie-
rung um 33% herabzusetzen, um durch die Masse der trans-
portierten Schleppgüter die Verluste wieder einzubringen. Mit
diesem Vorgehen hatte man insoweit Erfolg, als beim nächsten
Jahresabschluß kein Defizit, aber auch kein Ueberschuß sich her-
ausstellte. Die Ergebnisse der Kettenschleppschiffahrt blieben auch
in diesem wie in den folgenden Jahren hinter den auf sie ge-
setzten Hoffnungen zurück, da die Anschaffungs- und Erhaltungs-
kosten sehr bedeutend waren. So betrugen allein die jährlichen
Abschreibungen für die Kette 60 000 Tlr. und es ist daher nicht
vervvunderlich, wenn die Gesellschaftsberichte die Geschäftsab-
schlüsse des Jahres 1876 als »befriedigend«, 1877 »kein unbe-
dingt befriedigendes Resultat«, 1878 »Einnahmeerfolg befrie-
digend«, 1879 »wenig befriedigend« und 1880 »Gewinn befriedigt
noch nicht ensprechend den hohen Anlagekosten« bezeichneten.
Die Geschäftsentwicklung bheb bis zum Ende der 70er Jahre
eine w'enig günstige. Dies war wohl hauptsächlich auf zwei
Ursachen zurückzuführen. Einmal hatte die Gesellschaft An-
fang der 70er Jahre bei Einführung der Kettenschleppschiffahrt
zwischen Magdeburg und Hamburg ihre sämtlichen früheren Rad-
schleppdampfer verkauft; dadurch aber wurde ihr der Schlepp-
verkehr oberhalb Magdeburgs unmöglich gemacht. Sie konnte
ihrer Schleppkundschaft, wenn diese weiter elbaufwärts wollte,
nur bis Magdeburg mit ihrer Schleppkraft dienen. Hier mußte
sie die Schiffer ihrem Schicksal überlassen, die infolgedessen oft
- 96 -
mehrere Tage lani,' warten mußten, bis sie eine Schleppgelegen-
heit nach ihrem oberhalb Magdeburgs gelegenen Bestimmungs-
hafen fanden. Infolgedessen zogen es letztere vor, möglichst schon
in Hamburg sich eines Schleppunternehmens zu bedienen, das
ihnen ihre Schleppkraft auch weiter als bis Magdeburg zur Ver-
fügung stellen konnte. Das war ein Grund, weshalb der V.H.M.IJ.K.
ein großer Teil ihrer Schlcppkundschaft verloren ging, zumal ge-
rade in dieser Zeit der Bergverkehr nach Böhmen sich zu ent-
wickeln begann. Infolgedessen bestand ihr Schleppgeschäft in der
Hauptsache aus kurzstreckigen Transporten, die im Verhältnis
zu den hohen Betriebskosten nicht die nötigen Einnahmen ab-
warfen. Es zeigt dies deutlich folgende Tabelle.
Tab. 33.
Das Schleppgeschäft der V.H.M.D.K. in den Jahren 1875, 1878, 1880.
I.
2.
3- '
4-
5-
6. j
7- 1
8.
9- 1
10. 1
I I.
Geschleppte Strecke
Ent-
fer-
nung
1875
1878
1880
km
1
c
4) „•
"« n
c 5
V
IS. g-
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CA
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c
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a
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m
«Joe
►J U3 —
e
u .
a 0
c 2
c 0
Direkt
Hamburg-Magdeburg
275
534
1 541
216
I 183
3025
42H
I 274
4756
bbi
Direkt
Niegripp-Magdeburg
20
1543
1351
32
2039
1797
48
2 269
2 195
b-i
Zwischen Zwischen-
.
stationen
I 060
884
i ^^
I 201
846
89
1298
831
112
Neustadt-Buckau
5
—
—
3866
2991
42
4676
4676
52
So war es kein Wunder, daß, als im Jahre 18S1 ein neuer
besonders heftiger Konkurrenzkampf auf der Elbe auszubrechen
drohte, die Gesellschaft es vorzog, das ihr sehr günstige Kauf-
angebot der Dresdener Kettenschleppschiffahrts-Gesellschaft, mit
der sie schon im Vorjahr im Vertragsverhältnis gestanden hatte,
anzunehmen und ihr ganzes bewegliches Betriebsmaterial, be-
stehend aus 14 Kettenschleppschiffen, 2 Eilgutdampfern und 30
Frachtschiffen, für den Preis von 2335000 M. an diese zu ver-
äußern. Die näheren Umstände und Verkaufsbedingungen wer-
den später bei Darstellung der Konkurrenzgesellschaft Erwähnung
finden.
— 97 —
c)DieNeueNorddeutscheFlußdampfschiffahrts-
Gesellschaft.
Tab. 34.
Geschäftsergebnisse der »Neuen Norddeutschen F 1 u ß-
dampfschiffahrts-Gesellschaft«.
I.
2,
3.
4-
5-
6. 1 7-
Jahr
Aktien-
kapital
Obligationen
Gesamt-
einnahmen
Divi-
dende
Zahl der
Dampf- Schlepp-
looo M.
1000 M.
1000 M.
%
schiffe kähne
1896
742
917
9
97
742
955
II
98
742
II
99
742
.
II
1900
742
14
Ol
742
I 209
14
02
742
922
6
03
742
988
10
04
742
6
1905
742
14
06
742
I 120
10
07
742
6
08
742
7
09
742
270
I 171
7
1910
742
263
4
II
742
2
50
I 013
0
?
63
Tab. 35-
Betriebsleistungen der »N euen Norddeutschen Fluß-
dampfschiffahrts-Ges.« 190 1 — 1911.
I.
2.
3- 1 4-
Frachtgeschäft
Bugsiergeschäft
Jahr
Befördert mit eignen
Kähnen
Fremde Kähne bugsiert
Ladungsgewicht in t
Zahl Ladungsgewicht in
t
1901
276 000
I 105
213 000
1902
276 000
6Ö2
127 000
1903
324 000
416
64 800
1904
271 OOÜ
415
68 200
1905
391 000
583
78300
1906
367 000
789
120 000
1907
395 000
958
134 000
1908
422 000
710
94 400
1909
388 000
655
86 200
1910
423 000
597
96 600
191 1
328 000
420
68 700
1857 wurde von mehreren Berliner und Hamburger Kauf-
leuten die Gesellschaft »Norddeutsche Dampfschiffahrt« gegründet.
Zeitschrift für die ges. Staatswissensch. Ergänzungsheft 50. 7
- 98 -
Sie nahm auf der Strecke Hamburg-Berlin mit 2 großen und 4
kleinen Dampfern die Frachtschiffahrt auf, mußte aber infolge
ungünstiger Geschäftsergebnisse bereits 1863 wieder in Liquidation
treten. Aus ihr ging mit einem Aktienkapital von 742 000 M.
die N.N. F.D.G. hervor, deren Aktien in wenigen Händen ver-
einigt waren und noch heute sind. Die Gesellschaft ist trotz
einer fast 50jährigen Entwicklungszeit ihrem Charakter nach sich
gleich geblieben. Sie betreibt fast nur F>achtschiffahrt, und zwar
in hervorragendem Maße zwischen Hamburg und Berlin. Nur
selten fahren ihre Fahrzeuge einmal auf der Elbe bis Schönebeck
oder Torgau hinauf. Deshalb spielt sie auch unter den reinen
Elbschiffahrtsunternehmungen nur eine geringe Rolle und hat sie
sich gegenüber den Einigungsbestrebungen und der Vertrags-
politik derselben meist zurückhaltend gezeigt. Sie ist sicher
fundiert und erfuhr, wenn auch keine sehr schnelle, so doch eine
ruhige, beständige Aufwärtsentwicklung. Während der 80er und
90er Jahre zahlte sie durchschnittlich zwischen 8 — 12 % Divi-
dende, 1889 sogar 16% und selbst in einem für die Gesamt-
schiffahrt so ungünstigem Jahre, wie dem Jahre 1904, warf sie
für ihre Aktionäre eine Dividende von 6% aus. 1882 bestanden
ihre Betriebsmittel aus 7 Raddampfern von je 100 — 200 PS, 39
eisernen und 14 hölzernen Schleppkähnen von insgesamt 14500 t
Tragfähigkeit. Sie erweiterte diesen Besitz bis zum Jahre 1909
auf 8 Raddampfer zu je 180 — 900 PS, l Doppelschraubendampfer
(280 PS), 4 Hafendampfer und 61 eiserne Schleppkähne mit einer
Gesamttragfähigkeit von 33 600 t. Wie schon erwähnt, bestehen
die Einnahmen der Gesellschaft zu dem weitaus größten Teile in
Einnahmen aus dem Frachtgeschäft. Dieselben betrugen im
Jahre :
1888 bei 689000 M. Gesamteinnahme 645000 M. aus dem Frachtgeschäft
1890 > 853000 » » 809000 » » » »
1896 » 917000 > » 835000 ■> » » >
1903 » 98S 000 > » 944000 » » > >
1906 » 1 120 000 » » 992000 » > > >
Im Frachtgeschäften hielten sich das Tal- und Berggeschäft
ziemlich die Waee.
99
d)Elb-Dampf- Schiffahrts-Gesellschaft
in Dresden.
Tab. 36.
Betr iebs ergebnisse der »Elbdam pf s chi ff a h rt s-
G esellscha f t«.
I.
2.
3-
4.
5-
6.
Gesamt-
Divi-
Zahl
der
Ges. -Trag-
Jahr
einnahmen
dende
fähigkeit der
Dampf-
Fracht-
Frachtkähne
M.
%
schiffe
kähne
looo t
1870
373 122
20
3
15
71
394 600
20
4
16
4
72
450 112
20
5
19
6
73
525827
17
5
24
9
74
367925
9
5
24
1875
447 096
12
5
24
76
468 IK^
12
5
24
77
532886
12
6
24
■78
617 037
14
6
24
79
658 084
17
7
25
1880
--,• TT ^
rv r^ „,,,..J^ „.
24
7
25
Die E.D.G. wurde am 23. Mai 1866 mit dem Sitz in Dres-
den gegründet. Das von ihr erworbene Privileg der Personen-
schiffahrt hat sie niemals ausgeübt, sondern anfangs nur der
Schleppschiffahrt für fremde Kähne obgelegen, später aber auch
eigne Frachtfahrzeuge erworben und mit ihnen in nicht geringem
Umfang, ebenso wie mit ihren Frachtdampfern die Frachtschiff-
fahrt zwischen Hamburg einerseits, und Sachsen und Böhmen
andrerseits betrieben. Im Laufe der 70er Jahre erwuchs ihrer
Tätigkeit als Schleppunternehmung in der Dresdener Ketten-
schleppschiffahrts-Gesellschaft eine starke Konkurrentin, durch
die sie noch mehr als früher auf das Frachtgeschäft zurückge-
drängt und eingeschränkt wurde. Trotzdem blieben ihre Be-
triebsergebnisse stets sehr günstige, wie die verteilten Dividenden
beweisen, die niemals unter 7V2 % heruntergingen und 3 Jahre
lang sogar (1870— 1872) 20% erreichten. Als sich jedoch 1881
eine Einigung und Zusammenfassung der deutschen Eibschiffahrt
gegenüber der übermächtigen neugegründeten österreichischen
Konkurrenz notwendig machte, kam zwischen ihr und der Ketten-
schleppschiffahrts-Gesellschaft ein Vertrag zustande, nach welchem
letztere das gesamte Betriebsmaterial der E.D.G. für 1446000
Mark ankaufte und die E.D.G. liquidierte.
— lOO —
e) »K c 1 1 ec^ Deutsche S c h 1 c j) p s c h i t" i" a li r t s - G e s e 1 1-
schalt in D r e s d e n.
Tab. 37.
Geschäftsergebnisse der >Kelte, Deutsche Dam p f seh i f f ah rts - G e s.t
in looo M.
Jahr
1870
71
72
73
74
1875
76
77
78
79
1880
81
82
83
84
1885
86
87
1890
91
92
93
94
1895
96
97
98
99
1900
Ol
Aktien-
kapital
1000 M.
3-
Obli-
gationen
1000 M.
4-
■Divi-
dende
03
1 116
2 100
2250
2 400
2 400
2 400
2 400
2 400
2 700
2 700
2 700
7 200
7 200
7 200
7 200
7 200
7 200
7 200
7 200
7 200
7 200
7 200
7 200
7 200
6450
6450
6450
6450
6450
6450
6450
6450
6450
6450
300
I 000
I 000
I 000
I 460
I 120
I oSo
I 040
I 000
I 300
I 100
I 200
I 200
I 200
I 475
I 444
I 413
I 379
I 347
I 309
Zahl der
2,5
2
5.5
6,5
2,5
6,5
7
7.5
5.5
6,5
9
8,5
5
7
7
2,6
i>5
I
1,5
3.5
4.5
I
2
3
5,5
5.5
4,5
o
o
Dampf- Schlepp-
schiffe kähne
9
9
12
13
13
13
13
15
15
15
15
37
37
38
38
39
39
39
36
37
39
37
37
37
36
41
41
41
43
43
43
42
42
120
125
127
143
145
151
154
154
147
145
144
144
108
100
94
96
92
91
92
86
88
66
Einnahmen aus dem Elbe-
verkehr 1000 M.
Fracht-
schiffahrt
^w^^T. Gesamt
Schiffahrt
II
365
418
451
648
1 615
2 000
2350
2 358
2 182
2 089
2 263
2 373
2.518
2 242
I 907
1833
I 647
I 271
129
245
540
. 726
667
796
874
938
936
993
I 346
1 300
2 181
2 664
2439
2 042
I 736
1 740
1913
2 071
2 127
2318
2 152
2 323
2 191
2 270
1914
2 139
2 2S2
2451
2 506
2 256
148S
140
245
540
721
774
799
885
965
I 301
1 667
2 144
2 466
3830
4 770
4922
4542
4097
4074
4288
4445
4702
4615
4177
4077
3787
3552
10, II.
Einnahme :
looo M.
Saale-
Schiff- I Wei:
fahrt I
22
26
44
29
40
42
43
41
39
42
60
103
99
107
130
105
119
118
95
88
95
78
99
226
333
493
658
659
I 1 10
981
717
982
917
951
854
978
I 070
859
I 222
I 232
I 556
1955
I 669
2294
1803
2023
Mit Gründung der Dresdener Kettenschleppschiffahrts-Gesell-
schaft im Jahre 1868 erschien zum erstenmale auf der Elbe die
Flagge eines in großzügiger Weise geplanten und erfolgreich
durchgeführten modernen kapitalistischen Unternehmens, das von
— lOI —
Anfang an das Bestreben hatte, sich zu erweitern und bisher
isohert dastehende schwächere Kräfte in sich aufzunehmen. Wenn
ihr Name auch heute nach über ßojährigem Bestehen aus der
Liste der Elbschiffahrts-Unternehmungen geschwunden ist, so ist
er doch unlöslich mit der Geschichte der Eibschiffahrt verknüpft.
Die Gesellschaft wurde 1868 von dem Ingenieur Bellingrath im
Verein mit mehreren Kleinschiffseignern und Kapitalisten zur
Ausnutzung der eben erst in Deutschland in das Stadium des
Versuches eingetretenen Kettenschleppschiffahrt für die Elbe unter
der Firma »Kettenschleppschiffahrt der Oberelbe« gegründet. So-
gleich im Jahre 1869 ging man an den Ausbau einer 6,6 Meilen
langen Versuchsstrecke zwischen Loschwitz und Merschwitz bei
Dresden, und als man hier gute Resultate erzielt und Erfahrungen
gesammelt hatte, bewarb man sich im Jahre 1870 zugleich um
die sächsisch-anhaltische und preußische Kettenkonzession für
die Eibstrecke von Schandau bis Magdeburg, die auch am 11.
bez. 13. Dezember 1870 erteilt wurde. Im darauffolgenden Früh-
jahr und Sommer wurde so lebhaft an der Verlegung der Kette
und der Betriebsorganisation gearbeitet, daß bereits nach einem
halben Jahre, am i. Oktober 1871 mit 9 Kettendampfern der
Betrieb auf der 330 km langen Strecke eröffnet werden konnte.
Dieses Ergebnis ist umsomehr hervorzuheben, als die V.H.M.D.K.
für ihre 275 km lange Strecke Hamburg-Magdeburg, auf der die
natürlichen Wasser- und Schiffahrtsverhältnisse weit günstiger
lagen, 8 Jahre zur Legung der Kette gebraucht und im Jahre
1871 erst 65 km in Betrieb genommen hatte.
So bewies die Kettenschleppschiffahrt der Oberelbe schon
bei ihrer Betriebseröffnung sich als ein großzügig angelegtes und
mit modernem vorwärtsstrebendem Scharfblick und Unternehmungs-
geist geleitetes Unternehmen. Die Festschrift des Sächsischen
Schiffervereines aus dem Jahre 1896 sagt (S. 92) über die Wir-
kungen, die das Auftreten der Gesellschaft auf der Elbe hervor-
riefen, folgendes: »In wenigen Jahren führte sie eine vollständige
Aenderung der Jahrhunderte hindurch stets gleichgebliebenen Be-
triebsweise auf der Elbe herbei. Der Segelbetrieb kam bald
gänzlich in Wegfall oder kam doch nur noch als Notbehelf in
Betracht. Die schwere Takelage wurde überflüssig, die Beman-
nung eines Kahnes wurde um mehr als die Hälfte ermäßigt. Der
Schiffer wurde von ungünstigen Witterungsverhältnissen unab-
hängig. Die Zahl der Fahrten eines Schiffes wurden fast auf das
— I02 —
Dreifache vermehrt. Diese Aenderunj^ hätte auch der Schlcpp-
betrieb mit Raddampfern herbeiführen können. Das Wesen der
Kettenschiffahrt als eines im gewissen Maße monopoHsierten
Unternehmens machte jedoch zur Bedingung, daß dasselbe durch
die hierzu erteilte Konzession angehalten wurde, die Schlepp-
kraft jedermann und jederzeit in i^enügendem Maße und zu fest
begrenzten Tarifen zur Verfügung zu stellen. Erst daraufhin
konnte der Schiffer den Segelbetrieb verlassen und allgemein
zum Schleppbetrieb übergehen. Daraufhin konnten die Schiffe,
welche bis zu jener Zeit zumeist nur 2000 Ztr. (= 100 t) trugen,
vergrößert werden, derart, daß dieselben nach 10 Jahren mit
etwa 10 000 Ztr. {= 500 t), nach 20 Jahren mit 12 — 16000 Ztr.
(= 6 — 800 t) Tragfähigkeit gebaut wurden. Der Verkehr, welcher
sich von 1830 — 1874 nahezu gleichmäßig auf einer Höhe ge-
halten hatte, und zwar von Hamburg bergwärts auf jährlich 7 — 8
Millionen Ztr., nach Hamburg talwärts auf rund 6 Millionen Ztr.,
stieg nach Vollendung der Kettenschiffahrt sofort stetig an und
erreichte nach 10 Jahren etwa das Vierfache, 28 Millionen Ztr.
bergwärts und 24 Millionen Ztr. talwärts.«
Jene oben erwähnten Konzessionsbedingungen waren für die
Gesellschaft nicht besonders günstig. Ueber die Tarife sagt
§ IG — 13 der Konzessionskunde folgendes:
>^ 10. Der Tarif für die Beförderung durch die Ketten-
dampfer ist dem Finanzministerium zur Genehmigung vorzulegen
und kann ohne dessen Zustimmung nicht erhöht werden, c
»§ II. Wenn der Unternehmer,- sei es für die gesamte kon-
zessionierte Strecke oder für einen Teil derselben, die im Tarif
bestimmten Sätze herabzusetzen beschließt, so dürfen dieselben
erst nach Ablauf eines Jahres wieder erhöht werden.«
»§ 12. Die Beförderungsgebühren sind für alle Waren, Ver-
sender, Schiffseigentümer und Schiffsführer in gleicher Höhe nach
Verhältnis der Entfernung, auf welche die Beförderung bean-
sprucht wird, zu erheben. <
»Will der Unternehmer zugunsten einzelner Waren, Versen-
der, Schiffseigentümer oder Schiffsführer eine Preisermäßigung
bewilligen, so hat er dies dem Finanzministerium anzuzeigen, und
ist letzteres berechtigt, die allgemeine Anwendung der solcher
Gestalt ermäßigten Sätze vorzuschreiben. Eine dergestaltig her-
abgesetzte Gebühr kann ebenfalls erst nach Ablauf eines Jahres
wieder erhöht werden.«
— I03 —
>§ 13- Die Tarife werden von 5 zu 5 Jahren neu festge-
gestellt. Hat der jährliche Reinertrag des Unternehmens 10 %
des nachweislich in dem Unternehmen angelegten Kapitals über-
stiegen, so ist das Finanzministerium berechtigt, eine derartige
Herabsetzung des Tarifes zu verlangen, daß der Reinertrag unter
Zugrundelegung der stattgehabten durchschnittlichen Einnahmen
und Ausgaben präsumtiv 10% jenes Kapitales nicht übersteigt.«
Durch diese Bestimmungen ist der Kettenschiffahrt eine freie,
ebenbürtige Konkurrenz mit anderen Schlepparten unterbunden
worden. Denn während diese ihre Tarife frei nach Angebot und
Nachfrage regeln, die Schlepplöhne auch nach der Menge des
Schleppgutes, das ihnen von einem einzelnen Verfrachter zuge-
führt wurde, in einzelnen Fällen berechnen oder auch Sonderab-
kommen auf längere Zeit hinaus mit einzelnen ihrer Kunden ab-
schließen konnten, war diese Freiheit der Kettenschiffahrt ge-
nommen. Von noch einschneidenderer Bedeutung aber waren
die §§ 6 und 9 der Konzessionsurkunde :
Ȥ 6. Der Unternehmer ist gehalten, ein jedes beladene
oder unbeladene Fahrzeug nach Reihenfolge der Anmeldung zu
befördern, und zwar ohne Unterschied, ob dieselben die Schlep-
pung auf längere oder kürzere Zeit beanspruchen.
§ 9. Dem Unternehmer ist gestattet, Waren und Fahrzeuge
für eigene Rechnung zu befördern. Fremde Fahrzeuge haben
jedoch unter allen Umständen, auch wenn sie später angemeldet
worden sind, den Vorzug in der Beförderung.«
Dies'^; Bestimmungen mußten ganz offensichtlich eine Benach-
teiligung, ja fast die Unterbindung des eigenen Frachtschiffahrts-
geschäftes der Gesellschaft zur Folge haben. Auf diese Vor-
schriften ist es wohl zum guten Teil zurückzuführen, daß die Ketten-
schiffahrtsgesellschaft von Anfang an mit dem Bestreben auftrat,
mit anderen Gesellschaften, wie auch mit größeren Verbänden
von Privatschiffern Frachtabkommen abzuschließen, und dadurch
die Begründerin und im Laufe der Zeit die stärkste Förderin des
heute auf der Elbe so mächtigen Kartell- und Fusionierungsge-
dankens zu werden, von dem in dem nächsten Kapitel die Rede
sein wird.
Bei Gründung der Gesellschaft im Jahre 1868 bestand das
Gründungskapital aus i 116000M. ; bei Eröffnung des Betriebes
im Herbst 1871 w'urde es auf 2100 000 M. erhöht. Jedoch
reichte, wie vorausgesehen worden war, auch dieses Kapital bei
— 104 —
der dauernden Vermehrung der Betriebsmittel nicht aus, so daß
man schon 1872 eine weitere Erhöhung auf 2250000 M., 1873
auf 2 400 000 M. und schUeßUch 1878 auf 2 700 000 M. beschloß.
Als der Betrieb auf der ganzen Strecke von Schandau
bis jMagdeburg am 1. Oktober 1S71 mit 9 Kettendampfern, deren
Zahl bis I^nde der 70 er Jahre sich bis auf 15 vermehrte, eröffnet
wurde, beabsichtigte man, ausschließlich die Schleppschiffahrt zu
betreiben. Man erwarb, um die Elbschififahrt rentabler zu machen,
1873 die Kettenschleppkonzession lür die Saale von Halle bis
zu ihrer Mündung noch hinzu.
Die Erfolge der Gesellschaft in den ersten Betriebsjahren
waren sehr günstig. Die Zahl der geschleppten Kähne und zurück-
gelegten Tonnenkilometer wuchs andauernd, und auch die Schlepp-
lohneinnahmen gestalteten sich derart günstig, daß trotz reich-
licher Abschreibungen 1872 S'/a % und 1873 6V2 % Dividende
verteilt werden konnte. Doch begnügte man sich mit diesem
Erfolge nicht und beschloß, für Schiffahrtsbeginn 1874 einen er-
höhten Schlepptarif einzuführen, der auch die Genehmigung der
Regierung fand. Die Sätze wurden abgestuft um 9—17% er-
höht, und man erreichte damit fast dieselben Tarifsätze, wie sie
die V.H.M.D.K. besaß, an deren Kette man in Magdeburg An-
schluß hatte. Aber die Folgen dieser Maßnahmen blieben nicht
aus: Die Schlepplohneinnahmen sanken von 726944 M. im
Jahre 1873 auf 667278 M. im Jahre 1874, und damit die Divi-
dende von 672 auf 272% im Jahre 1874. Indessen war an die-
sem ungünstigen Geschäftsergebnis' der neue Tarif nicht allein
schuld; vielmehr war dieses Betriebsjahr wegen anhaltend un-
günstigen Wasserstandes für die Gesamtschiffahrt überhaupt ein
sehr unbefriedigendes. Deshalb konnte man sich auch im näch-
sten Jahre 1875, als die Magdeburger Gesellschaft am 10. Mai
ihre Frachttarife um 25% und am i. August um 3372% herab-
setzte, nicht zu demselben Schritt entschließen, zumal man durch
§ 12 der Konzession an einem baldigen Wiederaufbessern der
Schleppsätze gehindert gewesen wäre.
Es war auch zu bedenken, daß durch die Schnelligkeit der
Kettendampfer im Vergleich zu den Raddampfern eine bedeutend
stärkere Ausnutzung der Fahrzeuge der Schiffseigner erreicht
werden konnte, die sich jährlich auf etwa ^/4 — V3 belief und so-
mit einen höheren Schlepptarif rechtfertigte. Denn während ein
Raddampfer mit entsprechender Eigenbelastung oder Schlepp-
— 105 —
anhang während der 70 er Jahre zur Zurücklegung der Strecke
Magdeburg-Dresden durchschnittlich 120 Stunden bedurfte, legten
die Kettendampfer mit dem gleichen Schleppanhang die Strecke
in 72 Stunden zurück.
Durch das oben erwähnte selbständige Herabsetzen der
Schleppsätze von selten der V.H.M.G.K. wurde das bisherige
gute Einvernehmen der Gesellschaften, abgesehen von noch an-
deren Gründen, gestört, und es begann nach erfolglosen Kartell-
verhandlungen im Jahre 1876 ein sehr heißer Konkurrenzkampf
zwischen beiden. Die Dresdner Ketten-Schlepp-Schiffahrts-Gesell-
schaft eröffnete aus diesem Grunde in Hamburg ein eigenes Ver-
frachtungsbureau. Man verfolgte damit ein dreifaches Ziel : ein-
mal trat man auf dem Frachtmarkt als selbständiger Verfrachter
der Magdeburger, wie auch allen übrigen Konkurrenzfirmen im
Wettbewerb gegenüber : zweitens konnte man auf diese Weise
gleich hier in Hamburg am Ausgangspunkt der Frachtgüter die
Schiffseigner, die mit ihren Kähnen über Magdeburg hinausfahren
wollten, als Schleppkundschaft sich sichern, indem man ihnen
eine prompte direkte Beförderung bis zu ihrem Bestimmungsorte
gewährleistete, während dies die Magdeburger Firma nicht ver-
mochte. Schließlich aber förderte man auch die Schleppschiff-
fahrt im allgemeinen auf der ganzen Strecke, indem man dem
Schiffer, der ohne Benutzung von Schleppkraft talwärts nach
Hamburg gekommen war, die Sorge und auch das Risiko für
Erlangung günstiger Bergfracht abnahm. Man stellte ihm so-
gleich eine Bergfracht zur Verfügung, natürlich unter der Be-
dingung, daß er sich von den Dampfern der Gesellschaft berg-
wärts schleppen ließ. Zu diesem Zweck organisierte man die
Kleinschiffer, die diese neue Einrichtung zu benutzen gewillt
waren, zu einem Verbände, dem * Verband Überelbischer Schiffer«,
von dem im nächsten Abschnitt berichtet werden wird. Als
Schleppkraft aber zwischen Hamburg und Magdeburg — denn
hier begann erst die eigene Kettenschleppschiffahrt der Gesell-
schaft — erwarb man sich einen Raddampfer und suchte sich
noch zwei weitere durch Vertrag zu sichern. Denn im Oktober
gelang es der Gesellschaft, mit der Dresdner Frachtschiffahrts-
Gesellschaft, einer 'nicht unbedeutenden Konkurrentin im Fracht-
verkehr, aber auch guten Kundin für den Schleppbetrieb, einen
Vertrag abzuschließen, der eine gegenseitige Konkurrenz aus-
schloß. Die letztere Gesellschaft verzichtete auf ein eigenes
— io6 —
Fiachtkontor in Hamburg, trat vielmehr mit 23 Schleppkähnen
dem Verband Oberelbischer Schiffer bei, empfing die Ladung
von dem l^\-achtkontor der Kettengesellschaft, und stellte dieser
ihre eigenen, nunmehr überflüssig gewordenen Radschleppdampfer
als Schleppkraft zwischen Hamburg und Magdeburg zur Ver-
fügung. Dieses enge Vertragsverhältnis führte im darauffolgen-
den Jahre, am 18. September 1877, ^^s die Magdeburger Kon-
kurrenzfirma die r'rachtschiffahrts-Gesellschaft durch günstigere
Angebote von dem Vertrag abspenstig zu machen und an sich
zu fesseln suchte, zu dem vollständigen Ankauf der Frachtschiff-
fahrts-Gesellschaft durch die »Kettengesellschaft'; ; letztere über-
nahm für den Kaufpreis von 365 000 M. das ganze Betriebs-
matcrial der ersteren, das in einem Raddampfer, 4 eisernen und
19 hölzernen Kähnen, sowie dem Schiffsbauplatz Ucbigau bei
Dresden bestand. Durch diese kleine Schiffswerft erfüllte sich
auch zugleich der langjährige Wunsch der Gesellschaft, eine
eigene Reparaturwerkstatt für ihre Schiffe zu besitzen. Diese
Schiffswerft entwickelte übrigens sich im Laufe der Jahre aus
kleinen Anfängen so günstig, daß sie im Jahre 1902 als selb-
ständige Aktien-Gesellschaft abgezweigt wurde.
So wurde die Keltenschleppschiffahrts-Gesellschaft, die ur-
sprünglich als eine reine Schleppschiffahrts-Gesellschaft gegründet
worden war, auch zu einem bedeutenden Faktor in der Frachtschiffahrt,
die in einem steigenden Maße Anteil an den Gesamteinnahmen
der Gesellschaft hatte. In diesen neuen Geschäftszweig lebte sich
die Gesellschaft sehr schnell ein ; sie w'ußte ihn nutzbringend
noch weiter auszubilden. So wurde in Verabredung mit der
Handelskammer in Dresden, später auch in ähnlicher Weise mit
der zu Leipzig und Halle, ein regelmäßiger Eilfrachtverkehr
zwischen Hamburg und Dresden mit abgekürzter Ladezeit und
besonderem Tarif eingerichtet. Auch führte im Jahre 1877 die
Ketten-Gesellschaft in Verbindung mit dem Norddeutschen Lloyd
einen direkten Verkehr zwischen Bremen und den oberelbischen
Stationen bis Dresden ein. Es wurde dafür ein einheitlicher
Tarif aufgestellt und die sehr kurze Lieferzeit von 17 Tagen von
Bremen bis Dresden vereinbart und eingehalten. Jedoch scheint
sich dieser Verkehr nicht sonderlich entwickelt und rentiert zu
haben, zumal man von den 17 Tagen Fahrzeit vier Tage in
Hamburg auf Zollrevision und Zollabfertigung rechnen nmßte.
Unterdessen ging auch der Konkurrenzkampf in der Schlepp-
— lo; —
Schiffahrt weiter. Er gestaltete sich für diesen Geschäftszweig
noch viel ruinöser als bei dem Frachtgeschäft, weil man hier
durch allerlei lautere und unlautere Mittel die privaten Schiffs-
eigner für sich zu gewinnen suchte und in diesem Vorgehen die
Ketten-Gesellschaft durch ihre Konzessionen eingeschränkt und
behindert war. Der Jahresbericht der Gesellschaft von 1878 sagt
darüber, daß zwei Konkurrenzgesellschaften außer einem loo/oigen
allgemeinen Nachlaß auf Fahrzeuge und Ladung die Sätze für
das leere Fahrzeug durch willkürlich geringe Veranschlagung der
Tragfähigkeit des Fahrzeuges um weitere 10 — 25 % verminderten,
einem Vorgehen, dem die Ketten-Gesellschaft wegen ihrer Kon-
zessionsbedingungen sich nicht anschließen könnte. Auf Grund
dieser Zustände, die im Jahre 1878 zum erstenmale einen Rück-
gang der Schleppeinnahmen der Gesellschaft gebracht hatten,
suchte man im Jahre 1879 eine Aenderung der Konzessionsbe-
dingungen zu erreichen und drang damit auch durch. Die Re-
gierung genehmigte die wichtige Neuerung, daß die Gesell-
schaft nicht mehr verpflichtet war, solche Fahrzeuge zu schleppen,
deren Eigentümer selber gewerbsmäßig Schleppschiffahrt betrie-
ben. Ferner wurde ihr erlaubt, die Tarifsätze nach Bedürfnis zu
erhöhen oder zu vermindern, und zwar ohne daß sie deshalb die
in einzelnen Fällen zugestandenen Ausnahme-Tarifsätze allgemein
zu gewähren gezwungen werden konnte.
Als der allzuheftige Konkurrenzkampf die Ergebnisse der
Eibunternehmungen immer ungünstiger beeinflußte, näherten sich
die beteiligten Gesellschaften einander wieder und traten in Ver-
handlungen wegen Abschlusses von Verträgen. Dieses Vorgehen
hatte im Jahre 1880 den Erfolg, daß man sich über gemeinsame
Geschäftsmaßnahmen einigte, und zwar so, daß die Dresdner
Ketten-Gesellschaft einerseits mit der Hamburger-Magdeburger-
Ketten-Gesellschaft einen einjährigen Vertrag über gleiche Höhe
der Schlepplöhne und über gegenseitige Aushilfe mit Schlepp-
kraft auf der Strecke Flamburg-Magdeburg schloß, andererseits
einen gleichen Schlepplohnvertrag mit der Elb-Dampf-Schiffahrts-
Gesellschaft auf zwei Jahre anschloß, der aber schon eine viel
engere Verbindung, ja fast eine Betriebsgemeinschaft der beiden
Gesellschaften darstellte, zumal man sogar beiderseits auf eigene
Frachtbureaux in Hamburg verzichtete und ein gemeinsames
unter der Firma Julius Schott errichtete ; die Verteilung der
Güter, wie die der Schleppkraft wurde nach einheitlichen Gesichts-
— lOS —
punkten i,fercg^elt. Ucber den ErfolLj dieses Zusamment^ehens
sagt der Jahresbericht von 1.S80: „Das endHch erreichte Zu-
sammendrehen der »Elb-Uampf-SchilTahrts-Gesellschaft« und der
»Kettenschiffahrt der Oberelbe- hat sich, wie die beiden letzten
Jahre erweisen, nicht nur für die Gesellschaften, sondern mehr
noch für die Verkehrsinteressenten bewährt. Indem die unnützen
Reibuntren vermieden wurden, konnten die zuströmenden Güter
zweckmäßiger verteilt, rascher t^eladen und die Transporte be-
schleunigt werden, und obwohl die Schleppkähne billiger gehalten
wurden, wie je zuvor, haben sich doch die Schlejiplohneinnahmen
infolge der günstigen Belastung und reichlichen Bewegung der
Dampfer außerordentlich vorteilhaft gestaltet.«
So lagen die Verhältnisse, als das für die ganze Eibschiff-
fahrt höchst bedeutsame Jahr 1881 herankani, das in der Organi-
sation der Eibschiffahrt tiefgreifende V^eränderungen und Um-
wälzungen mit sich brachte. Altes stürzte und verschwand, und
Neues begann kräftig sein Haupt zu erheben. Aehnlich wie das
Jahr 1881 führte in der Folge auch das Jahr 1903 zu einer Ge-
sundung innerhalb der Elbschiffahrtsbetriebe. Ueberlebtes mußte
fallen, um Zeitgemäßem das Feld zur freien Betätigung zu räumen.
Im Jahre 1881 stand die Ketten-Schlepp-Schiffahrts-Gesellschaft
an der Spitze dieser Bewegung, zu der den Anstoß die Neu-
gründung jener Konkurrenz-Gesellschaft, der »Oesterreichischen
Nord-West-Dampf-Schiffahrts-Gesellschaft« in Wien mit 10 Mil-
lionen Aktienkapital gegeben hatte. Die Ursachen, die zu dieser
Gründung führten, werden später bei Besprechung jener Gesell-
schaft Erw'ähnung finden. Hier sei nur die Wirkung hervor-
gehoben, daß nämlich alle bisher bestehenden Schiffahrts-Groß-
betriebe auf der Elbe mit der einzigen Ausnahme der Neuen
Norddeutschen Fluß-Dampf-Schiffahrts-Gesellschaft in den beiden
großen Gesellschaften der bisherigen Dresdner Ketten-Schiffahrts-
Gesellschaft und der neuen österreichischen Gesellschaft auf-
gingen.
Als sich die Nachricht von der bevorstehenden Gründung
jener mächtigen österreichischen Konkurrenz verbreitete, trat
die Kettenschiffahrts - Gesellschaft sogleich mit allen deutschen
Elbschiffahrts-Großunternehmungen in Verbindung zwecks Zu-
sammenschlusses gegenüber der drohenden österreichischen Ge-
fahr. Und ihre Bestrebungen hatten Erfolg: es gelang ihr, mit
3 großen Firmen Kauf- und Fusionsverträge abzuschließen und
— 109 —
deren Betriebe dem ihrigen einzuverleiben. Dies waren die
»Vereinigte Hamburger-Magdeburger Dampfschiffahrts-Kompag-
nie« (Kaufpreis 2325000 M.), die »Elb-Dampfschiffahrts-Gesell-
schaft« (Kaufpreis i 446 000 M.) und die Firma W. Richter in
Wehlen (Kaufpreis 185000 M.). Ueber die Erwerbung der
erstgenannten Gesellschaft sagt der Jahresbericht von 1881 : »Bei
Abschluß des Vertrages ging man von der Ansicht aus, daß
unsere in Dresden domizilierte Gesellschaft in Magdeburg nicht
fremd werden dürfe, daß das Interesse des Handels dieser Stadt
in so hervorragender Weise an die Eibschiffahrt geknüpft sei
und daß deshalb den Magdeburger Interessenten ein gebührender
Einfluß auf die erwerbende Gesellschaft gewährt werden müsse.
Der Kaufpreis sollte daher in Aktien der Gesellschaft bezahlt
werden, in Magdeburg sollte eine Zweigniederlassung eingetragen
und eine selbständige Direktion errichtet werden, während zu-
gleich statutarisch festzustellen wäre, daß wenigstens 5 Mitglieder
des Aufsichtsrates im Kreise Magdeburg wohnhaft sein müssen.«
Die Ketten-Schleppschiffahrts-Gesellschaft selbst änderte ihre
Firma in »Kette, Deutsche Schleppschiffahrts-Gesellschaft« um
und erhöhte ihr Aktienkapital von 2 700 000 auf 7 200 000 M.
Ueber das Verhältnis zu der neugegründeten österreichischen
Gesellschaft sagt der schon oben angeführte Jahresbericht von
1881 : »In freundlicher Verständigung mit ihr haben wir bereits
über mancherlei Punkte eine Vereinbarung herbeiführen können.
Unter Wahrung der Konkurrenz und der Selbständigkeit werden
beide Gesellschaften doch vereint vorgehen, um die Schäden,
welche mit einer Konkurrenz ohne Grenzen verbunden sind, ins-
besondere mancherlei unwürdige Konzessionen an die Verfrachter
und Frachtvermittler zu beseitigen, gleichmäßige Verkehrsnormen
aufzustellen und dadurch die Umständlichkeit des jetzigen Ver-
kehres zu mildern und durch gegenseitige Aushilfe die Leistungen
der Schiffahrt zu erhöhen.« Der Jahresbericht schließt dann mit
der Bemerkung: »Es bestehen gegenwärtig auf der Elbe außer
dieser Gesellschaft und der unserigen noch die Neue Norddeutsche
Fluß-Dampfschiffahrts-Gesellschaft in Hamburg, welche jedoch
ihren Hauptbetrieb nach Berlin hin findet, und die Personen- und
Frachtdampfschiffahrt der Herren Gebr. Burmester in Lauenburg.
Außerdem sind noch zwei Privatschleppdampfer tätig, von denen
der eine zu uns in ein festes Kartellverhältnis gelangt ist.«
Diese Vorgänge bedeuten eine weitgehende Vereinheitlichung
— 1 lO —
der Elbschiffahrtsuntcrnehmungen. An Betriebsmitteln besaß nun-
mehr die ^ Kette « : 27 Kettenschleppdampfcr, 12 Radschlepp-
dampfer, 8 Eilgutfrachtdampfer, 103 Frachtschiffe, 39 Leichter-
boote, 6 Materialschiffe, i schwimmenden Dampfkrahn und die
623,7 ^^^ lange Schleppkette auf der ganzen deutschen Oberelbe
von Hamburg bis zur sächsisch-böhmischen Grenze.
Die folgenden Jahre sind mit teilweis sehr heißen, wirtschaft-
lichen Kämpfen der Gesellschaft ausgefüllt. Denn der Vertrag
mit der »Nord-West« wurde bereits am 12. Mai 1882 wieder ge-
kündigt und von letzterer Gesellschaft sofort der »Kette« der
Fehdehandschuh durch Herabsetzung der Schlepplöhne zuge-
worfen. Sie verminderte für die Strecke Schandau-Aussig die
Schlepplöhne um 30%, für die Strecke Magdeburg-Schandau
um 40 % und für die Reststrecke Hamburg-Magdeburg sogar um
60 % des früheren Normaltarifes. Notgedrungen antwortete die
■> Kette« mit gleichen Maßnahmen; doch waren dies Kampftarife,
bei denen beide Gesellschaften bedeutende Mittel zusetzten. Da
jedoch ein mit solchen Waffen geführter Kampf für beide Gegner
mit der Zeit zur Vernichtung führen mußte, näherte man sich
schon gegen Ende des Jahres 1882 wieder durch Verhandlungen.
Dieser zeitweise Friedensschluß war umsomehr angezeigt, als mit
dem Jahre 1883 den beiden Großgesellschaften, die, solange sie
einig waren, fast ein Schleppmonopol auf der Elbe besaßen, aus
den Kreisen der Kleinschiffer heraus ein nicht zu verachtender
Gegner in der »Dampfschiffahrts-Gesellschaft Vereinigter Schiffer«
erwuchs. Durch dieses Unternehmren suchten sich die Klein-
schiffer frei zu machen von der Macht der Gesellschaften, was
ihnen auch, wie später gezeigt werden wird, in weitgehendem
Maße gelang. Für die alten Gesellschaften wurde dies vor allem
in der starken Austrittsbewegung aus dem der »Kette« ange-
gliederten »Verband oberelbischer Schiffer« fühlbar. Hierdurch
und durch den damit verbundenen Rückgang der Schleppgelegen-
heit ab Hamburg sah sich die »Kette« in den nächsten Jahren
genötigt, Maßregeln zu ergreifen, um für Ausnutzung ihrer Schlepp-
kräfte von den Kleinschiffern unabhängig zu werden. Das führte
sie zur Vermehrung und zum Ausbau ihres eigenen Fracht-
schiffparkes. Trotzdem machten sich die neuen Konkurrenz-
verhältnisse dauernd sehr störend fühlbar, sodaß die Dividende,
die von 1875 bis 1884 nicht unter 5V2% gefallen und die
letzten Jahre auf 7% in die Höhe gegangen war, im Jahre 1885
— III —
auf 2% sank und sich lo Jahre lang nicht wieder über 372%
erhob.
188S verwandelte die Gesellschaft ihr Frachtkontor in Ham-
burg in eine Gesellschaftsfiliale und im darauffolgenden Jahre
mietete sie ausgedehnte Lager- und Löschschuppen in dem neu-
eröffneten Freihafengebiet zur Beschleunigung, Verbilligung und
Vereinheitlichung des Ent- und Beiadens ihrer eigenen Schiffe,
wie die ihrer Schleppkundschaft. — Seit 1885 bleibt das Fracht-
geschäft zu Berg dauernd hinter dem Talgeschäft zurück, während
es bis dahin letzterem überlegen gewesen war oder wenigstens
mit ihm die Wage gehalten hatte. Die nächstfolgenden Jahre
sind ohne besondere Wichtigkeit für die Entwicklung der Gesell-
schaft. Wie der gesamten Eibschiffahrt, so brachten auch der
> Kette« die Jahre 1892 und 1893 wegen der ungünstigen Wasser-
verhältnisse, und vor allem wegen der Choleraepidemie in Ham-
burg und der Lahmlegung des dortigen wirtschaftlichen Lebens
starke Einnahmeausfälle: Das Frachtgeschäft des Jahres 1893
schloß mit einem Verlust von 14000 M. ab. 1895 beteiligte
sich die »Kette« an der »Elb-Schleppschiffahrts-Vereinigung«^
von der an anderem Orte noch ausführlich zu sprechen sein
wird; unter ihrer Wirksamkeit vermochte die »Kette« 1895 end-
lich wieder 4V2 % Dividende zu verteilen. Es folgten aber gleich
darauf in den nächsten Jahren wieder scharfe Konkurrenzkämpfe,
die die Dividende auf i und 2 % sinken ließen und sich erst
besserten, als gegen Ende des Jahres 1898 die Gesellschaften
sich auf dem Vertragswege wieder näherten. In demselben Jahre
gibt die Gesellschaft auch die Kette nschiffahrt zwischen
Hamburg und Niegripp auf, weil letztere sich neben der Rad-
schleppschiffahrt nach Regulierung der dortigen Stromverhältnisse
nicht mehr rentabel erhalten konnte.
Nach zwei günstigen Betriebsjahren folgten dann die Jahre
1901 — 1903, die für die Eibschiffahrt zu den wirtschaftlich schwer-
sten und verlustreichsten gehören, die sie je durchgemacht hat.
Waren schon durch den allgemeinen Tiefstand der wirtschaft-
lichen Konjunktur auch die Geschäfte der Eibschiffahrt damals
stark in Mitleidenschaft gezogen, so steigerte sich dieser un-
günstige Zustand infolge der rücksichts- und schrankenlos ent-
fesselten Konkurrenz für zahlreiche Schiffahrtsunternehmungen zu
einem Kampf um Sein oder Nichtsein, der sich zu einem Kampf
aller gegen alle aus wuchs. Hiervon wurde auch die »Kette«
— 112
sehr fühlliar in Mitleidenschaft gezogen, und daher entschloß sie
sich wohl nicht ganz freiwillig, auf die von den A^'ereinigten
Elbeschiffern« eingeleiteten Vertragsverhandlungen im Oktober
Tab. 38.
Schlepp-und Frachtleistungen der >Kette, Deutsche Dampf-
schiff ahrts-Gcscllsc ha ft-^ 1870 — 1902.
I.
2. j
3- 1
4-
5-
'■ 1
'• 1
8.
Schleppgesch
ä f t
Frachtgesc
häf t
Jahr
Eigne
Geschleppte '.
Cähne
Eigne
Be-
Ver-
Schlepp-
dampfer
Zahl
Ladungs-
gewicht
Geschleppte
tkm
i'racht-
kähne
Zahl
frachtete
Kähne
frachtete
Güter
Zahl 1
1000 t
.1000 tkm
Zahl
1000 t
1870
4446
51
71
9
6984
91
—
—
—
72
9
9588
136
16079
^
—
—
73
12
10 093
147
19637
—
—
—
74
13
9901
117
13694
—
—
—
1875
13
9965
154
18832
—
—
—
76
13
10 782
173
18066
—
80
12
77
13
10427
160
19367
—
211
38
78
15
10 167
126
30
386
90
79
15
9571
204
29
400
104
1880
15
12 410
292
31
81
15
II 527
353
69
898
221
82
37
19924
I 005
170 201
120
I 830
447
83
37
19 968
I 030
169 129
125
I 880
522
84
38
20 462
I 162
201 103
127
2086
569
1885
38
19451
886
143763
143
2 199
511
86
39
19 172
871
117 335
145
2 HO
502
87
39
21 243
910
128394
151
2396
487
88
39
20439
I 028
114 369
154
2 201
586
89
36
20934
I 168
125 076
154
2545
630
1890
37
19965
I 172
146327
147
2495
696
91
39
22 126
I 204
163 032
145
2038
772
92
37
20 050
I 004
149882
144
2 692
665
93
37
22 661
I 107
121 154
144
3028
676
94
37
20 196
I 360
219570
108
2 980
848
1895
36
18850
I 315
199638
100
2 627
707
96
41
19816
I 468
238 869
94
2566
787
97
41
96
2548
742
98
41
92
3 437
943
99
43
91
2765
829
1900
43
92
2635
795
Ol
43
■
86
2 418
745
02
42
88
2 029
770
1903 einzugehen. Letztere führten, für die ganze Schiffahrt völlig
unerwartet, zu einer Vereinigung und Fusionierung der drei
wichtigsten Elbschiffahrtsunternehmungen : In der neuen Fusions-
gesellschaft »Vereinigte Elbschiffahrts-Gesellschaften Aktienge-
sellschaft <: gingen die i- Kette« und die österreichische »Nord-
— 113 —
West« — jene beiden Gesellschaften, die sich jahrelang so feind-
lich gegenüber gestanden hatten — und die »Vereinigten Eib-
schiffer« auf, worüber noch bei Besprechung der letzteren Gesell-
schaft ausführlich die Rede sein wird. Mit dem Jahre 1903 ver-
schwand somit die Flagge der »Kette« auf der Elbe, nachdem
sie 34 Jahre ehren- und erfolgreich auf ihr geweht hatte.
Ausführliche Zahlenangaben für die Entwicklung der Verkehrs-
leistungen der Gesellschaft enthält die nebenstehende Tabelle 38.
Sehr deutlich läßt sich auch in diesen Zahlen der bedeutende
Umfang der Tätigkeit der Gesellschaft auf der Elbe erkennen;
besonders der Schleppbetrieb zeigt eine große Ausdehnung. Die
Zahlen der Tabelle 38 lassen auch klar die ansehnliche Ver-
größerung ersehen, die die »Kette« im Jahre 1882 erfuhr, wäh-
rend auch der hartnäckige Konkurrenzkampf von 1885 — 1888 mit
den zwei neuen Konkurrenzunternehmungen vor allem im Schlepp-
geschäft deutlich sich ausdrückt. Zu Spalte 7 und 8 sei bemerkt,
daß die Frachtleistungen fast immer zu -/s im Bergverkehr
lagen.
f) Oesterreichische Nord-West-Dampf-Schiff-
fahrts-Aktien-Gesellschaft.
Die »Nord-West« ist ein rein österreichisches Unternehmen
und verdankt ihre im Jahre 1881 erfolgte Gründung dem ver-
änderten wirtschaftlichen Kurs der deutschen Reichspolitik Ende
der 70er Jahre.
Als Z.U dieser Zeit die Verstaatlichung der deutschen Eisen-
bahnen gewaltige Fortschritte gemacht hatte, und man zugleich
vom Freihandel zu einer immer stärkeren Schutzzollpolitik im
Reiche überging, machte man, wie bekannt, die staatliche Be-
herrschung der Eisenbahnen auch der Wirtschaftspolitik nutzbar
und führte am i. Januar 1880 einen neuen Güterfrachttarif auf
den deutschen Bahnen ein, der weniger von verkehrspolitischen,
als von schutzzollpolitischen Rücksichten beherrscht war. Wie diese
Maßregel auf ausländische, insbesondere auf österreichische Güter-
verfrachter wirken mußte, darüber berichtet der Geschäftsbericht
der »Nord- West« von 1881 in äußerst anschaulicher Weise fol-
gendes :
»So lebendig sich auch der Güterverkehr auf der Elbe bis
Ende 1879 gestaltet hatte, so umfaßte derselbe doch nur eine
ziemlich eng begrenzte Anzahl von Artikeln, z, B. Braunkohlen,
Zeitschrift für die ges. Staatswissensch. Ergänzungsheft 50. 8
114
Tab. 39.
Geschäfisergebnisse der >Oeslerreichischen Nord- W es t-
Dampfschiffahrts-Ges.t 1882 — 1903.
I.
2.
3-
4. 1
5^- ' 1
6.
7- 1
b.
Eigne Schiffs
flotte
Einnahmen in
I 000000 M. aus
Aktien-
Divi-
Jahr
Zahl
der
Tragfähigkeit
kapital
dende
der
Schleppkähne
Fracht-
schiffahrt
Schlepp-
Dampf-
Schlepp-
schiffahrt
in 1000 M.
%
schiffe
kähne
in t
1882
6800
3
26
152
i
^■.')^ \ 0,5
83
6800
0
28
155
2,23
0,8
84
6800
0
31
155
2,30
0,7
1885
6800
0
31
158
2,14
0,7
86
6800
3
31
l62
50 000
2,04
0.5
87
6800
2
31
166
52 000
2,10
0,6
88
6800
2,5
31
166
52 000
2,34
0,6
• 89
6800
3,5
31
167
53000
2,53
0,8
1890
6800
2
31
167
53000
2,56
1,0
91
6800
2
32
164
51 000
2,39
1,0
92
6800
2
32
160
51 000
2,04
1,1
93
6800
4
32
157
50 000
2,00
2,0
94
6800
4
32
155
49 000
1,96
1.9
1895
6800
4
32
151
48000
2,06
1,9
96
6800
0
31
148
48 000
1-74
1,7
97
6800
0
31
140
45 000
1,94
1,9
98
6800
0
31
143
50 000
2,09
i>7
99
3400
0
31
143
51 000
2,19 1 1.9
1900
3400
8
31
142
52 000
4y^
Ol
3400
7
31
142
52 000
4,19
02
3400
5
37
134
70 000 *)
3,47
03
3400
5
37
134
70 000 1)
3,83
Rohzucker, Roheisen usw. Der größte Teil der Güterfrequenz
zwischen Oesterreich-Ungarn und Hamburg wurde dagegen von
den verschiedenen Eisenbahnrouten vermittelt, weil die gemein-
same Tätigkeit der Österreich-ungarischen und deutschen Bahnen
dem Handelspublikum bis zu dem genannten Zeitpunkte rationelle
direkte Eisenbahntarife zur Disposition gestellt hatte, welche die
Verfrachtung dieser Güterquantitäten der Elbe um so weniger
lukrativ erscheinen ließen, als die österreichisch-ungarischen Bahnen
bis Ende 1879 die Elbe durch ihre Tarifpolitik so" gut wie gar-
nicht unterstützten. Die mit i. Januar 1880 eingetretene ge-
änderte Tarifpolitik der deutschen Bahnen, sowie der Rück-
l) Die im Vergleich zu den Vorjahren ausgewiesene größere Tragfähigkeit
erklärt sich vorwiegend aus der auf Grund eines neuen Eichverfahrens erfolgten
Neuvermessung der SchifTe.
— 115 —
schlag, welcher hierdurch auch auf die Tarife der österreichisch-
ungarischen Bahnen ausgeübt wurde, führte eine sehr erhebHche
Modifikation der bis dahin bestandenen Verkehrsbeziehungen
herbei und der österreichisch-ungarische Handel sowohl, als auch
die beteiligten österreichisch-ungarischen Bahnen sahen sich vor
die Notwendigkeit gestellt, andere Kommunikationswege zu er-
öffnen, um ihren Verkehr zu schützen. In dieser Beziehung zeigte
sich die kräftige Ausnützung des Eibweges ab bzw. bis zur
böhmischen Grenze als ein sehr geeignetes jNIittel. Eine der
österreichischen Bahnen benützte die sich ihr darbietenden Qün-
stigen Uferverhältnisse, um in der Nähe genannter Grenze (bei
Laube) einen entsprechenden, sich bald sehr erweiternden Um-
schlageplatz einzurichten, und' die Gesamtheit der an dem er-
wähnten Verkehr interessierten österreichisch-ungarischen Bahnen
unterstützte durch entsprechende Tarifbildung die Benutzung des
kombinierten Verkehrsweges. Es bestand daher die Absicht,
einen großen Teil des österreichisch-ungarischen Verkehres, der
bis 1879 stets nur die direkten Eisenbahnwege gewählt, durch
die neue Tarifpolitik der deutschen Bahnen aber bedeutende
Unterbindung zu fürchten hatte, fortan mittelst der Elbe zu be-
fördern und diesem Strome einen für denselben absolut neuen
Verkehr zuzuführen. Sollte sich diese kombinierte Verkehrsroute
jedoch als geeignetes Ersatzmittel für den direkten Eisenbahn-
verkehr erweisen, so war es notwendig, daß die Benutzung des
Stromes selbst, was Regelmäßigkeit, Zuverlässigkeit und Sicher-
heit des ^Veges, sowie möglichst prompte Lieferfrist anbelangt,
sich soweit als tunlich den beim direkten Eisenbahnverkehr ein-
gelebten Usancen anpaßte, wie es der österreichische Handel
verlangen mußte, um die kombinierte Verfrachtungsweise ent-
sprechend zu finden ; so gab die Notwendigkeit, gebesserte Ver-
kehrseinrichtungen auf der Elbe herbeizuführen, Anlaß zur Ent-
stehung unserer Gesellschaft.«
Auf Grund dieser Erwägungen trat die österreichische »Nord-
West-Privat-Eisenbahn-Gesellschaft« — denn in ihren Händen
lag in Nordösterreich und Böhmen der größte Teil des Fracht-
geschäftes für diejenigen Güter, die zur Ausfuhr nach Deutsch-
land oder über Hamburg nach transatlantischen Stationen be-
stimmt waren — zu Beginn des Jahres 1880 mit der »Ketten-
Schlepp-Schiffahrts-Gesellschaft der Oberelbe« in Verhandlungen,
zwecks Einrichtung eines einheitlichen, kombinierten Frachtverkehrs
— ii6 —
zwischen Schiffahrt und ICiscnbahn auf Grund von Ausnahme-
tarifen. Die Schiftahrts-Gesellschaft glaubte aber in ihrem eigenen
Interesse wie in dem der i^csamtcn deutschen Privatschiffahrt, auf
diese enge Betriebsgemeinschaft nicht eingehen zu können. Auch
einige Kautelen ihrer Konzession legten einem solchen Zusammen-
gehen mit einzelnen Interessenten Schwierigkeiten in den Weg.
Die Verhandlungen zerschlugen sich daher. Da entschloß sich
die österreichische Eisenbahn-Gesellschaft, selbst eine neue österrei-
chische Elbschiffahrt-Gesellschaft ins Leben zu rufen, die ihr für ab-
sehbare Zeit die Garantie bot, ihre Eisenbahnfrachtgüter zu billigen
Vorzugs- und Ausnahmetarifen auf der Elbe auch weiterhin nach
Deutschland und zur Seeausfuhr über Hamburg nach der Nordsee ge-
langen zu lassen. Zu diesem Zwecke gründete sich auf Anre-
gung und unter Leitung des Vizepräsidenten der österreichischen
»Nord- West-Eisenbahn-Gesellschaft« Ludwig Freiherr von Haber-
Linsberg und des Verwaltungsrates dieser Bahn Hugo Fürst von
Thurn und Taxis im April 1881 in Wien die »Oesterreichische Nord-
West-Dampf-Schiffahrts-Aktien-Gesellschaft« mit einem Aktienka-
pital von 12000000 fl., von dem jedoch anfangs nur 2000000 fl.
und ein halbes Jahr später 4 000 000 fl. voll eingezahlt wur-
den. i\Ian hatte es von Anfang an weniger auf die Vermehrung
der Konkurrenz in der Eibschiffahrt durch Neubauten von Be-
triebsmitteln abgesehen, als vielmehr auf eine Reorganisation des
Verkehres durch Verschmelzung der zahlreichen alten Ge-
sellschaften in eine neue große, monopolartig den Verkehr be-
herrschende Gesellschaft unter Leitling der interessierten öster-
reichischen Eisenbahnverwaltungen. Von diesem Gedanken ge-
tragen, erwarb die neue »Nord -West« schon vor Eröffnung
ihres eigenen selbständigen Betriebes im Jahre 1881 die älteste
Elb-Dampf-Schiffahrts-Gesellschaft, die > Prager Dampf- und Segel-
Schiffahrts-Gesellschaft«: mit ihren gesamten Betriebsmitteln für
I 450000 fl., ferner die erst zu Anfang des Jahres 1881 in Dresden
neu gegründete >Neue Elb-Dampf-Schiffahrts-Gesellschaft« für
I 720000 M. und die Privatfirma von R. Nietschner & Sohn in
Dresden für 335 000 M. Auf diese Weise wurde es der Gesell-
schaft ermöglicht, bei Eröffnung ihres Betriebes am i. Januar 1882,
mit 26 Dampfschiffen und 152 Frachtkähnen von einer Gesamttrag-
fähigkeit von 45 490 t auf der Elbe zu erscheinen, einer achtungge-
bietenden Macht, die allgemein Schrecken einflößte. Dem bei
ihrer Gründung verfolgten Zweck entsprechend blieb anfangs die
— ii; —
Gesellschaft in der Hauptsache ein Fracht Schiffahrtsunternehmen,
das aber doch schon ca. ein Viertel seiner Gesamteinnahmen aus
dem Schleppgeschäft bezog, zumal man von der alten Prager
Gesellschaft deren Kettenkonzessionen und Kettendampfer miter-
worben hatte.
§ 5 der Gesellschaftsstatuten bestimmt als Geschäfte der
Gesellschaft :
»§ 5 Geschäfte der Gesellschaft: i. regelmäßiger Retrieb von
Dampfschiff-, Ketten-, Drahtseil- und Segelschiffahrt auf der Elbe,
deren Nebenflüssen für Personen- und Güterverkehr, 2. desgleichen
Dampf- und Segelschiffahrt auf der Nordsee und anderen Meeren
für Personen und Güter, wenn vorteilhaft, 3. schleppen anderer
Schilfe, 4. Gewährung von Vorschüssen auf die zur Beförderung
übernommenen Güter, 5. Bau und Reparatur von Schiffen und
Maschinen für eigene und fremde Rechnung, 6. Errichtung und
Betrieb öff"entlicher Lagerhäuser.«
Die Maßnahmen, die von selten der bisher bestehenden äl-
teren Gesellschaften gegen die neue gefährliche Konkurrentin er-
griffen wurden, sind bereits bei Besprechung der »Kette« erwähnt
worden. Die anfangs nicht mit vorhergesehene Schlepp-Schiffahrt
nahm die Gesellschaft sehr bald auch auf der deutschen Elbe
auf, da ihre Dampfkraft durch ihr eigenes Frachtgeschäft nicht
genügend ausgenützt wurde.
Man richtete schon 1883 regelmäßige Eilgutdampferfahrten
von Böhmen, Dresden und Magdeburg nach Hamburg und zurück
ein, und vermehrte 1884 das Betriebsmaterial um 2 große Rad-
schleppdampfer, einen großen Kettendampfer und 6 Schleppkähne,
auch wurde in Hamburg der Bau eines eigenen Gütermagazins
in Angriff genommen. In demselben Jahre kaufte die »Nord-
West« die Schiff"swerft und Maschinenfabrik der »Sächsischen
Dampfschiff- und Maschinenbauanstalt« in Dresden für i 100 000
Mark an, in der sie den Bau und die Reparatur nicht nur ihrer
eigenen Schiffe, sondern auch solcher für fremde Rechnung
vornahm.
Daß das Unternehmen bei einer so stark betätigten Expan-
sionstendenz in den ersten beiden Betriebsjahren keine Dividende
zahlte, ist nicht auffällig, zumal auch trotz der Neuheit des Be-
triebmateriales bedeutende Abschreibungen vorgenommen wurden.
Doch auch die nachfolgenden Jahre hielten nicht das, was man
von ihnen erwartet hatte. Bei Gründung der Gesellschaft hatte
— 1 I s —
man damit gerechnet, daß die Fracht- und Schlepplöhnc auf der
Elbe die gleichen bleiben würden wie bisher, daß aber die
Güterzufuhr zur Eibschiffahrt durch die Verbindung mit den
österreichischen Eisenbahnen gewaltig gesteigert werden würde.
Letztere Erwartungen erfüllten sich nun zwar in gewissem Um-
fange, die erstere dagegen nicht, es trat sogar das Gegen-
teil ein : Fracht- und Schleppreise sanken während der 8oer
Jahre und auch später noch fortgesetzt und unaufhaltsam. So
stellte es sich wegen der Konkurrenz der Privatschiffseigner auch
bald als unmöglich heraus, feste, einheitliche Vorzugstarife mit
den österreichischen Eisenbahnen zu vereinbaren und einzuhalten,
wie ursprünglich beabsichtigt gewesen war. Aus diesem Grunde
hat die Gesellschaft niemals die großen Erwartungen erfüllt, die
man in finanzieller Hinsicht bei ihrer Gründung gehegt hatte.
Die Dividende erhob sich während der 8oer Jahre niemals über
3^'2 % und während der 90er Jahre niemals über 4 "/o, ja von
1895 bis 1899 konnte sie sogar wegen fortgesetzter Fehlbeträge
bei den Jahresabschlüssen überhaupt keine Dividende verteilen.
Erst mit dem Jahre 1.9CXD trat eine gewisse Gesundung der Ge-
sellschaft ein. Es scheint sich überhaupt aus der Geschichte der
Elbschiffahrtsgroßbetriebe zu ergeben, daß hier Betriebe, sobald
sie eine gewisse mittlere Größe überschritten haben, in ihrer
Rentabilität zurückgehen.
Die Tätigkeit und die Leistungen der Gesellschaft wuchsen
zwar fortgesetzt, doch da die Preise für ihre Leistungen sanken,
so hielt das Einnahmewachstum nicht gleichen Schritt. Im Jahre
1888 z. B. betrug die Steigerung des im Frachtgeschäft bewäl-
tigten Güterquantums 17 "/o, diejenige der daraus erzielten Fracht-
einnahme jedoch nur 11 7o- Im Jahre 1890 mußte man sogar
wegen gedrückter Frachtsätze während eines großen Teils des
Jahres bei reichlicher Beschäftigung des Frachtschiffraumes unter
den Selbstkosten arbeiten.
Die Gesellschaft beteiligte sich während der 80er und 90er
Jahre an allen Kartellen und Verträgen, die eine Besserung der
Fracht- und Schleppsätze, jedoch meist vergeblich,- erstrebten.
Der Ausbau des Gesellschaftsbetriebes geschah unter diesen
Verhältnissen nur sehr allmählich. 1889 wurde in Hamburg ein
zweiter Güterspeicher für den Eilgüterverkehr erbaut und während
der 90er Jahre ersetzte man allmählich den veralteten Fracht-
schiffspark durch Neubauten.
— 119 —
Dann aber kamen die für die Gesellschaft äußerst ungün-
stigen Jahre 1896 — 1899. War diese Zeit für die gesamte Eib-
schiffahrt keine besonders günstige, so war sie für die > Nord-
West« durch zwei Momente noch besonders verhängnisvoll. Denn
erstens arbeitete seit dem Jahre 1895 wegen der allgemein flauen
Konjunktur in der deutschen Maschinenindustrie die Dresdener
Schiffs- und Maschinenbau-Anstalt der Gesellschaft mit nicht un-
beträchtlichen Verlusten, während sie bisher in bedeutendem
Maße zu dem Jahresgewinn der Gesellschaft beigetragen hatte.
Die zweite wichtigere Ursache aber war ein für die Gesellschaft
sehr verlustreicher Prozeß mit der Kommerz- und Diskonto-Bank
in Hamburg. Im Oktober 1898 wurden nämlich von letzterer
Bank Unregelmäßigkeiten aufgedeckt, die sich der erste Direktor
der > Nord- West« bei der Beleihung von Zuckerfrachten hatte zu
schulden kommen lassen; die Hamburger Bank, die dadurch be-
deutend geschädigt worden war, klagte infolgedessen gegen die
Gesellschaft auf Schadenersatz in Höhe von 3 500000 M. Dieser
Prozeß untergrub den Kredit der Gesellschaft so stark, daß ihre
bisherigen Frachtkunden sich vielfach weigerten, mit ihr längere
und bedeutendere Frachtabschlüsse zu treffen, oder ihr größere
Bestellungen für ihre Maschinenfabrik zugehen zu lassen. Der
Geschäftsbetrieb der Gesellschaft wurde dadurch brach gelegt
und diese selbst sah sich vor einer sehr gefährlichen Krisis. Unter
diesen Umständen schloß die »Nord-West« Mitte des Jahres 1899,
ohne das zweitinstanzliche Urteil abzuwarten, einen Vergleich mit
der Kommerz- und Diskonto-Bank. Sie verpflichtete sich durch den-
selben zur Zahlung von 55 % der Klagsumme, ohne Aussicht zu
haben, bei der Zahlungsunfähigkeit ihres bisherigen Vorstandes an
diesem sich schadlos halten zu können. Im November 1899
wurde sodann eine außerordentliche Generalversammlung einbe-
rufen, welche eine Reorganisierung des Unternehmens beschloß.
Das Betriebskapital wurde durch Zusammenlegung der Aktien
von 4 000 000 fl auf 2 000 000 fl herabgesetzt und die Dresdener
Maschinenfabrik mit Verlust verkauft. Auf dieser Grundlage er-
holte sich die »Nord-West« trotz augenblicklicher schlechter
wirtschaftlicher Verhältnisse schnell. Nachdem zwar 4 Jahre
lang keine Dividende gezahlt worden war, konnte schon im Jahre
1900 eine solche von 8 % zur Verteilung gelangen. Diese Renta-
bilität erhielt sich auch in den folgenden für die Schiffahrt wohl
schwersten und verlustreichsten Jahren 1901 — 1903, in denen die
— 120 —
meisten Schiffahrtsunternehmungen keine Dividenden zahlen konn-
ten, während die »Nord-Weste 7%, 5%, und 5% verteilte.
Als dann im Jahre 1903 infolge der schlechten wirtschaft-
lichen Verhältnisse die Fusionierung der großen Klbschiffahrts-
unternehmungen zustande kam, beteiligte sich die Gesellschaft
dadurch an dieser, daß sie der Fusionsgesellschaft, der »Ver-
einigten Elbschiffahrts-Gesellschaften« ihr gesamtes Betriebsmate-
rial bis zum Jahre 1930 pachtweise gegen eine jährliche Rente
überließ, die einer 4prozentigen Verzinsung ihres Aktienkapitals
und einer 3 — 7prozentigen Abschreibung des verpachteten Be-
triebsmateriales gleichkam. Die Gesellschaft hat somit die eigene
Geschäftstätigkeit aufgegeben. Ihre Haupttätigkeit beschränkte sich
auf die Verteilung der Pachtrente an ihre Aktionäre, die aber,
wie später gezeigt werden wird, auch nur eine scheinbare ist.
1907 nahm die Gesellschaft eine Anleihe von 2000000 Kr.
zu 4 prozentiger Verzinsung auf zwecks Vermehrung ihres schwim-
menden Betriebsmateriales und der Errichtung eines neuen Güter-
speichers in Aussig. Auch diese neuen Betriebsmittel wurden
den Vereinigten Elbschiffahrts-Gesellschaften pachtweise über-
lassen.
Tab. 40 gibt auf Grund der in der österreichischen Verkehrs-
statistik veröffentlichten Zahlenangaben ein Bild von der Entwick-
lung des Fracht geschäftes der Gesellschaft ; ähnliche Auf-
zeichnungen über das Schlepp geschäft bestehen nicht. Tab. 40
Spalte I läßt die von der Gesellschaft transportierte Gütermenge er-
kennen, wie sie, wenn auch nicht ohne-Schwankungen, im allgemei-
nen ein stetiges absolutes Wachstum erfahren hat. Relativ jedoch im
Verhältnis zum Gesamtelbeverkehr (nach Tab. 2) hat die Gesellschaft
sich nicht dauernd auf gleicher Höhe halten können: Wie Spalte II
veranschaulicht, hat die Gesellschaft zu Beginn der 90er Jahre
ihren Höhepunkt mit 14% Anteil im gesamten Eibverkehr er-
reicht. Die Verteilung des Frachtgeschäftes auf Tal- und Berg-
verkehr hat im Laufe der Jahre bei der Gesellschaft eine Ver-
änderung erfahren, indem das Talgeschäft von seiner absoluten
Ueberlegenheit von 60 % des gesamten Frachtverkehres allmäh-
lich relativ zurückging bis zu 40% 1896, dann aber relativ wie-
der etwas an Bedeutung wuchs. Es ist etwa die gleiche Ent-
wicklung, wie sie nach Tab. 5 in der gesamten Eibschiffahrt zu
beobachten gewesen ist. An dem deutschen Eibexportverkehr
nach Böhmen ist die Gesellschaft stark beteiligt gewesen, und
121
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zwar in immer wachsendem Maße (von 33% im Jahr 189.S bis
50% im Jalire 1902). In geringerem, wenn auch noch immerhin
in bedeutsamem Maße, hatte die Gesellschaft Anteil am Ham-
burger Verkehr und zwar im allgemeinen im Bergverkehr stärker
als im Talverkehr. Es läßt sich auch hier aus den Prozentzahlen,
die für den Talverkehr gegeben worden sind, deutlich das wie-
derholt Erwähnte erkennen, was öfters hervorgehoben wurde,
daß nämlich der Talverkehr stets das stärkere Betätigungsfeld
für den Privatschiffseigner, das Bergfrachtgeschäft aber dasjenige
der Gesellschaften gewesen ist. Ferner geben sämtliche Prozent-
zahlen, die in Tab. 40 für das Jahr 1898 berechnet sind, ein
deutliches Bild für die oben erwähnte schwierige Lage, in der
sich die Gesellschaft in diesem Jahre befand. Spalte XII veran-
schaulicht, wie viel Prozent des in Spalte I nachgewiesenen ge-
samten Frachtgüterquantums die Gesellschaft auf eigenen Käh-
nen befördert hat. Diese Zahlen zeigen, daß die Gesellschaft
in immer wachsender Weise die Privatschiffer zur Bewältigung
ihrer eigenen Frachtverpflichtungen herangezogen, und dadurch
ihnen Verdienstmöglichkeit, freilich nur in Anteilfrachten, ge-
geben hat. Die letzte Spalte XIII bringt schließlich diejenigen
Gütermengen zur Darstellung, denen die Gesellschaft, abgesehen
von den durch ihre eigenen Frachtkontore zur Versendung über-
nommenen, in der Bergfahrt Schleppdienste geleistet hat. Man
sieht daraus, wie dieser Geschäftszweig aus kleinen Anfängen
stetig an Bedeutung für die Gesellschaft zugenommen hat, wenn
er auch niemals das eigentliche Frachtschiffahrtsgeschäft über-
troffen hat, was auch aus Tab. 54 über die Schlepp- und PVacht-
einnahmen zu ersehen ist.
g) Die Vereinigten Elbschiffahrts-Gesell Schäften.
Die »Dampfschiffahrts-Gesellschaft Vereinigter Elbeschiffer <■,
wie die erste Firma der späteren »Vereinigten Elbeschiffahrts-
Gesellschaften, Aktiengesellschaft«; (kurz die »Vereinigten« ge-
nannt) lautete, stellte bei ihrer Gründung im Jahre 1883 eine Ge-
sellschaft dar, die nur aus Kleinschiffern gebildet wurde. Ange-
geregt durch den Druck, den die monopolartige Stellung der
beiden Großschiffahrtsunternehmungen »Kette« und »Nord-West«
in der Schleppschiffahrt auf die Privatschiffseigner ausübte, traten
1883 kapitalkräftige Dresdener, Riesaer, Magdeburger und Schöne-
— 123
Tab. 41.
Geschäftser£;ebnisse der »Vereinigten Elbschif fahrts-Gesellschaften«.
I.
2.
3.
4.
5-
6.
7-
8.
9-
Aktien-
Obli-
Divi-
Schlepp-
lohn-
Gesamt-
Zahl der
Zahl der
Perso-
Jahr
kapital
gationen
dende
einnahmen
einnahmen
Dampf-
Schlepp-
nal
schiffe
kähne
1000 M.
1000 M.
0/
/o
1000 M.
1000 M.
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600
20
599
6
1885
600
—
12
649
9
—
86
800
—
10
748
10
—
87
800
—
10
709
10
—
88
800
—
10
805
10
—
89
800
—
12
983
II
—
1890
800
—
12
I 072
12
—
91
800
—
5
1959
12
—
92
800
—
10
I 000
12
—
93
800
—
10
I 126
12
—
94
I 000
—
12
I 599
18
1895
I 000
—
12
I 580
20
96
I 000
—
7>5
I 693
I 754
20
97
2 000
—
10
I 567
1693
22
26
98
2750
I 000
10
I 882
28
63
99
2750
I 000
10
2 268
28
69
1900
2750
I 000
10
2689
28
73
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3 000
I 000
10
2527
28
82
02
3500
I 500
5
I 890
28
112
03
3500
I 481
4
2 133
28
112
04
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2861
0
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6756
106
300
1905
II 100
2776
9
10316
106
300
06
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4487
10
10303
106
351
2739
07
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4 395
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12 922
126
I 117
3504
08
II 100
4300
0
10857
123
I 105
3628
09
II 100
4 202
I
II 708
120
I 070
3462
1910
II 100
4099
0
9654
119
I 009
3278
II
II 100
3 934
0
9 181
121
I 002
3331
12
II 100
3763
0
II
II
121
I 004
3028
becker Kleinschiffer zusammen, um gemeinsam eine Schlepp-
schiffahrts-Aktiengesellschaft zu begründen zum Schutze der Klein-
schiffseigner vor Ausnutzung und Ausbeutung durch die beiden
Großschleppschiffahrts - Unternehmungen. Diesem Ziele ist die
Gesellschaft, die sich in der kurzen Zeit von kaum 20 Jahren zu
dem größten Schiffahrtsunternehmen auf der Elbe, ja auf den
deutschen Binnenwasserstraßen überhaupt entwickelt hat, stets
treu geblieben, und darin liegt wohl das Geheimnis ihrer großen
Erfolge. Nicht daß sie sich etwa einseitig von den übrigen
Schiffahrtsgesellschaften abgeschlossen hätte und ihre eigenen
Wege gegangen wäre, im Gegenteil, sie hat sich nicht nur an
den meisten im Laufe der Zeit zur Hebung der Fracht- und
Schlepplöhne eingegangenen Vereinigungen und Kartellen bereit-
— 124 —
willig beteiligt, sondern hat sie vielfach selbst angeregt. Aber
niemals hat sie dabei das Interesse der Kleinschiffer und damit
der Gesamtschiftahrt aus den Augen verloren.
Bei ihrer Gründung im Jahre 1883 betrug das Aktienkapital
300000 M. Es mußte aber bereits 1884 auf 600000 M. ver-
doppelt und 1886 wiederum, und zwar auf 800000 M. erhöht
werden. Dementsprechend bestand das Betriebsmaterial 1884 aus
6, 1885 aus 9 und 1890 aus 12 Kadschleppdampfern. Ursprüng-
lich war das Unternehmen als reines Schleppunternchmen ge-
dacht; es sollte die Privatschiffahrt auf diesem Gebiete von der
Bevormundung der beiden bestehenden Großgesellschaften be-
freien. Und dieses Ziel wurde ohne viel Mühe erreicht. Die Ge-
sellschaft besaß vermöge der Kreise, aus denen sich ihre Gründer
und Aktionäre zusammensetzten, und vermöge der Grundsätze,
die sie mit ihrem Betriebe verfolgte, eine natürliche Anziehungs-
kraft für die Kleinschiffahrtstreibenden, die von jeher zu Miß-
trauen gegen die Großunternehmungen geneigt gewesen sind.
Während die anderen Gesellschaften auf die Heranziehung und
Erhaltung ihrer Schleppkundschaft viel Mühe und Geld verwen-
deten und sich in günstigen Bedingungen jenen gegenüber zu
unterbieten suchten, dadurch aber fortgesetzt ihre eigenen Ein-
nahmen verminderten, besaßen die »Vereinigten« von Anfang an
einen so starken freiwilligen Zulauf, daß sie zeitweise den an sie
gestellten Anforderungen und Ansprüchen kaum gerecht w^erden
konnten. So schlössen sie wiederholt mit anderen Gesellschaften
Verträge ab zwecks Erlangung von -Aushilfe durch Ueberlassung
ihrer Schleppkräfte. Die beiden anderen Gesellschaften klag-
ten zu solchen Zeiten stark über Abnahme ihrer Schlepp-
kundschaft und sannen auf Abwehrmaßregeln. Solche gab
ihnen die fast völlige Beherrschung des Frachtgeschäftes zu Berg
nach Stationen oberhalb der Havelmündung in die Hand,
indem sie ihre Frachten nur an Schiffer abgaben, die sich ver-
pflichteten, sich von ihren Dampfern schleppen zu lassen. So
mußten sich anfangs die > Vereinigten« hauptsächlich damit be-
begnügen, leere Schiffe von Hamburg oder Magdeburg bergwärts
zu schleppen, die in Aussig für die Talfahrt Kohlenfracht suchten.
Um diesen Zustand zu ändern, entschlossen sich die »Vereinigten«
im Jahre 1886, auch das Fracht v er m i 1 1 1 u n g s- und in ge-
ringem Umfange auch das Fracht s c h i f f a h r t s geschäft in ihren
Betrieb aufzunehmen. Sie errichteten zu diesem Zwecke in Harn-
— 125 —
bürg und in einigen oberelbischen Häfen eigene Frachtkontore
für die Privatschiffahrt. In Hamburg erfolgte die Eröffnung eines
solchen am i. Juli 1886; dasselbe hatte sehr zufriedenstellende
Ergebnisse. Freilich erschwerte die Unzuverlässigkeit und Dis-
ziplinlosigkeit der Privatschifferkundschaft der Gesellschaft oft
nicht unbeträchtlich die Erledigung ihrer Verpflichtungen. Die
geschäftlichen P^rfolge aber waren sehr günstige : In den ersten
10 Jahren des Bestehens sank die Dividende nur einmal auf 5 %
(1891) herab, im übrigen bewegte sie sich zwischen 10 und
20 o/„.
Am 5. Dezember 1893 beschloß eine außerordentliche Ge-
neralversammlung den Ankauf der gleichfalls aus Schifferkreisen
entstandenen »Saale- und Elbe-Schleppschiffahrts-Gesellschaft« in
Aisleben für 610 000 M. Zu diesem Zwecke erhöhte man am
7. Februar 1894 das Aktienkapital auf eine Million Mark und
nahm die Firma »Vereinigte Elbe- und Saale-Schiffer« an. Nun-
mehr wuchs das Unternehmen unaufhaltsam von Jahr zu Jahr
und das zu einer Zeit, in der sich andere Gesellschaften nur
schwer auf ihrer alten Höhe erhalten konnten. Im Jahre 1895
wurde das Unternehmen von Karl Böhmert in Magdeburg mit
10 Dampfern, 22 Frachtkähnen und 15 Schuten für 435000 M.
angekauft. Deswegen sowie zur sonstigen Erweiterung des
Betriebsmateriales wurde 1896 eine Kapitalserhöhung auf
2 Millionen Mark vorgenommen. Das Jahr darauf setzte die Ge-
sellschaft 3 neue große Radschleppdampfer zu 450, 800 und
1000 PS in Betrieb, kaufte 9 eiserne Schleppkähne zu je 600
bis 800 t Tragfähigkeit aus Privathand an, gab ebensoviele liefer-
bar bis Ende 1898 an Privatwerften in Auftrag und übernahm
am I. September 1898 die alte Firma Gebr. Tonne in Magde-
burg mit 5 Dampfern und 11 Schleppkähnen. Auch 1899 wurden
5 neue große Schleppkähne in Bestellung gegeben und 10 weitere
im Jahre 1900, sodaß der Kahnraum der Gesellschaft 1901 auf
eine Gesamtti-agfähigkeit von 65 000 t anwuchs und sich im folgenden
Jahre durch Einstellung von 30 neuen Schleppkähnen auf 80000 t
weiter erhöhte. Dem entsprechen auch die Betriebsleistungen,
die z.B. für das Jahr 1902 folgende Zahlen aufweisen : Das Ham-
burger Frachtkontor belud 949 Fahrzeuge mit 397210 t (= 12%
des Hamburger Verkehrs zu Berg). Geschleppt wurden auf der
Strecke
— 126 —
Hamburg— Havclort 604 Fahrzeuge mit 124000 t Ladung 1 ^47 000 t Ladung
^ t b 1 Ol (= iqOL des Ham-
Ilamburg— Magdeburg 1460 » > 523 000 t > J Bürger Bergverk.)
Magdeburg nach obe-
ren Stationen 14S1 » > 393 700 t »
1040700 t (^ 34% des Gesamt-
Elbeverkehrs).
Die allgemeinen Betriebsleistungen für die einzelnen Jahre
weist Tab. 42 aus.
Tab. 42.
Fracht- und Schlepp leistunge n der »Vereinigten Elbschif fahr ts-
Gesellschaften< 1884 — 1903.
I. <
2.
Frachtgeschäft
3-
4- i 5-
Schleppgeschäft
6.
Jahr '
Angenommene
Verfrachtungs-
güter
Zahl der
eignen
Dampfer
Zurückgelegte
Entfernung der
Schleppdampfer
Geschleppte
Kähne
Ladung der
geschleppten
Kähne
1000 t
km
t
18S4
1
6
177 162
2 344
354 423
1885 1
9
211 000
4 108
363 463
1886
! 1
10
232 000
5 820
447 139
18S7
10
226 000
5451
463 350
1888
81
10
252 000
5723
396 337
1889
233
II
277 000
1719
500 640
1890 \
263
12
292 000
2798
571849
189I
312
12
305 000
3099
445 943
1892
222
12
295 000
2 711
497 849
1893
231
12
259000
2665
504 667
1894 !
449 1
18
435 000
3910
838 849
1895 i
450
20
384 000
3 337
777 807
1896 !
499
20
464 000
3633
950734
1897
503
22
480 000
4983
I 213 112
1898
581
28
487 000
6419
I 470585
1899 1
638
28
393 000
4S13
I 286 S35
1900 1
700
28
369 000
5047
I 345 309
1901 i
28
.
3 934
I 164 217
1902 1
28
.
3 545
I 041 103
1903 i
28
3780
I 137 691
Somit waren in der kurzen Zeit von kaum 10 Jahren die
»Vereinigten« zu der größten Schiffahrtsgesellschaft auf der Elbe
geworden ui^d hatten alle älteren Unternehmungen- überholt. Das
ist umso bemerkenswerter, als jene von Anfang an rein kapita-
listische Unternehmungen, die >Vereinigten« dagegen aus Klein-
schifferkreisen hervorgegangen waren. Diese Entwicklung der
»Vereinigten« ist wieder ein Beweis dafür, daß, wie wiederholt
hervorgehoben wurde, selbst von kapitalkräftigen Gesellschaften
— 127 —
eine erfolgreiche Schiffahrtspolitik nicht gegen oder auch nur
ohne, sondern zusammen mit den Kleinschiffern betrieben
werden kann, ein Grundsatz, den die ältere Kartellpolitik der
Elbschiffahrtsgesellschaft früher vermissen ließ, seit 1903 aber
berücksichtigt hat.
Die zu den Betriebserweiterungen nötigen Gelder wurden,
wie erwähnt, durch Erhöhung des Aktienkapitals beschafft, das
1894 auf eine Million Mark, 1896 auf zwei Millionen Mark, 1898
auf 2450000 M., 1901 auf drei Millionen Mark und 1902 auf
3 500000 M. gebracht wurde. Dabei war trotz der schnellen
Vermehrung der Betriebsmittel der gesamte Schiffspark dauernd
gut beschäftigt, selbst in so ungünstigen Schiffahrtsjahren wie
1901 und 1902. Die Dividende der Gesellschaft betrug trotz
reichlicher Abschreibungen 1887 — 1901 stets lo % und ging
auch in den Jahren 1902 und 1903, in denen z. B. die »Kette«
aus ihrem Betriebe keine Dividende herauswirtschaften konnte,
nicht weiter als auf 5 bez. 4 % hinab.
Da kam das Jahr 1903, das ungünstigste Schiffahrtsjahr, das
die Elbe bis dahin aufzuweisen hatte. Die Zustände, die damals
herrschten, und die Folgen, zu denen sie führten, schildert der
Jahresbericht der Gesellschaft sehr anschaulich folgendermaßen:
»Das verflossene Betriebsjahr war für die gesamte Eibschiff-
fahrt, desgleichen für unsere Gesellschaft unter dem Drucke des
heftigen Konkurrenzkampfes, trotzdem im Berg- wie im Talver-
kehr eine Steigerung der Transportmengen eingetreten war, in
seinen Erträgnissen ein sehr ungünstiges. Im Laufe des Jahres
wurden wiederholt Verhandlungen der Schiffahrtsunternehmungen
zu einer Verständigung im Bergverkehr angeknüpft, verliefen aber
resultatlos und verschärften die Kämpfe bis zur äußersten Grenze,
dessen Preis nicht auf Aufbesserung der Fracht- und Schlepp-
löhne, sondern nur darauf gerichtet werden konnte, sich die zur Auf-
rechterhaltung eines regelmäßigen Verkehres erforderlichen Trans-
porte zu sichern, um dadurch den Besitzstand seiner alten ange-
stammten Kundschaft zu erhalten. Der Kampf galt daher nicht
mehr einer Erwerbsfrage, sondern nahm den bedrohlichen Cha-
rakter einer Existenzfrage an. Bei solch zugespitzten Verhält-
nissen traten daher auch eigenartige und vernunftswidrige Er-
scheinungen zu Tage : es wurden die Schlepplöhne so herunter-
gedrückt, daß sie jedem Unternehmer direkte Verluste verursachen
mußten, und in der Hoffnung, daß das Fallen des Wassers wie
— 12S —
naturgemäß eine Aufbesserung der Fracht- und Schleppreise mit
sich bringen müsse, trat die entgegengesetzte Wirkung ein, daß
tatsächlich mit fallendem Wasser eine weitere Unterbietung in
l''racht- und Schlepplöhnen Platz greifen konnte. — Gegen Ende
des Betriebsjahres wurde in Erkenntnis aller am ICIbverkehr be-
teiligter Firmen, daß so nicht weiter gewirtschaftet werden könnte,
die Aufnahme neuer Verhandlungen zu einer Verständigung durch
die in gleiche Zeit fallenden und durch die beiden Generalver-
sammlungen unserer Gesellschaft, sowie der früheren >Kette«
vom 12. Dezember 1903 zum Beschluß erhobene Fusion beider
Gesellschaften überholt ; es führten ferner die zwischen den
fusionierten Gesellschaften und der österreichischen >Nord-West-
Gesellschaft« bestandenen intimen Beziehungen zur Anbahnung
einer Betriebsgemeinschaft mit ihr.«
Damit war die mächtigste deutsche Binnenschiffahrtsgesell-
schaft ins Leben getreten. Von der »Kette« übernahm die Ge-
sellschaft allein 31 Kettendampfer, 9 Radeildampfer, 7 Bugsier-
schraubendampfer, 6 Dampfbarkassen, 6 schwimmende Dampf-
und I elektrischen Kran, 81 eiserne Verschlußkähne und ein
Personal von 1787 Mann. Die > Vereinigten Elbe- und Saale-
Schiffer« änderten ihre Firma in ^ Vereinigte Elbeschiffahrts-
Gesellschaften Aktiengesellschaft in Dresden« um, und erhöhten
ihr Kapital von 3 Millionen Mark auf ii,ii Millionen Mark. Mit
Beginn des Schiffahrtsjahres 1904 erschienen sie mit 58 Rad-
schleppdampfern, 3 Heckraddampfern, 19 Eilgutdampfern, 35
Kettendampfern, zusammen also 115 Dampfern und 300 Schlepp-
kähnen auf der Elbe; fürwahr eine gewaltige Binnenschitfahrts-
flotte. Dazu kam noch eine umfängliche Hafenflotte von 165
Leichterschiffen, 14 LagerschifTen, 30 Schraubendampfern, 22
schwimmenden Krähnen und i Dampfbagger. Ueberdies be-
saßen sie 3 Speicher in Hamburg. Vor allem aber war nunmehr
endlich die gesamte in der Elbe und ihren Nebenflüssen verlegte
Kette in einer Hand vereinigt worden.
Im Jahre 1904, dem ersten Jahre des neuen Riesenbetriebes,
wurde keine Dividende verteilt, jedoch schon die beiden nächsten
Jahre wiesen so günstige Resultate auf, und bewahrheiteten da-
mit die gehegten Erwartungen eines verbilligten Betriebes, daß
im Jahre 1905 9 %, 1906 10 % und 1907 8 % verteilt wer-
den konnten. Auch ging man 1905 mit gutem Erfolg dazu
über, den eigenen Schiffahrtsbetrieb mit Vermittlung der märki-
— 129 —
sehen Wasserstraßen auf die Oder, ja sogar auf die weitentlegene
Warthe auszudehnen.
Ueber die Entwicklung und den Umfang des Frachtgeschäftes
während der Periode von 1904 — 1907 gibt die folgende Tab. 43
Aufschluß.
Tab. 43.
Fracht- und Schlepp verkehr der »Vereinigten Eibschiffahrt s-
Gesellschaft« während der Jahre 1904 — 1907.
Güterverkehr in looo t.
I.
2.
1904
3-
1905
4-
1906
5-
1907
I.
Gesamtfrachtverkehr der Gesellschaft
I 658
991
360
127
149
304
666
80
518
23%
75%
16 0/0
919
3oO'o
2258
I 321
511
190
218
399
937
150
672
22 0/0
67%
18%
I 176
25%
2258
I 228
474
179
200
373
I 030
lOI
795
22%
71%
21%
1 105
26%
2877
IL
Davon Verkehr zu Berg:
I 829
III.
IV.
V.
VI.
Hiervon
wurde
ausgeladen
in
Magdeburg . . .
Riesa
Dresden ....
Böhmen ....
598
391
313
525
VII.
Von Spalte I Verkehr zu Tal:
I 048
VIII.
IX.
Hiervon aus-
geladen in
Magdeburg .
Hamburg . . .
89
823
X.
XI.
XII.
Prozentualer
Anteil der
Gesellschaft
am gesamten
Güter e m p f ang
Hamburgs
deutschen Güter export
nach Böhmen .
deutschen Elbgüter-
Import aus Böhmen
25%
83%
22%
XIII.
XIV.
Seh lep p-
leistung der
Ges. ab Ham-
burg
Gütermenge . .
Anteil am Gesamtberg-
verkehr Hamburgs
1659
33%
Spalte I gibt ein Bild des Gesamtfrachtgeschäftes der Ge-
sellschaft, die für die Jahre 1904 — 1907 einen Anteil am Gesamt-
eibverkehr von etwa 62, 54, 52 und 54 % in den entsprechenden
Jahren aufweist. Dieser Gesamtverkehr verteilt sich, wie Spalten
II und III zeigen, nicht gleichmäßig auf den Berg- und Talver-
kehr ; vielmehr überwiegt, wie bei allen Gesellschaften, so auch
bei den »Vereinigten« der Bergverkehr nicht unbeträchtlich den
Talverkehr. Ueber das Gebiet, auf dem hauptsächlich das Fracht-
geschäft der Gesellschaft sich bewegte, geben die Spalten III bis
V, VIII und IX Auskunft. Danach gewährten Hamburg, Magde-
burg und Böhmen der Gesellschaft hauptsächlich Beschäftigung.
An den beiden wichtigsten Punkten der Eibschiffahrt, Hamburg
und Böhmen, spielte die Gesellschaft eine hervorragende Rolle,
Zeitschrift für die ges. Staatswissenscli. Ergänzungsheft 50. Q
— I30 —
besonders im Verkehr nach Böhmen, den sie fast zu V* be-
herrschte. Schwächer ist der Anteil, wie bei allen Gesellschaften,
am böhmischen Verkehr zu Tal (böhmischer Import), dagej^en hat
sie am Hamburger Eibverkehr sehr wesentlichen Anteil. Sie be-
herrscht den Hamburger Güterempfang zu Tale fast zu '/* ""d
vermag mit Hilfe ihres Schlepi)bctriebes fast 33% des Ham-
burger Versandes zu Berg zu kontrollieren.
Doch dieser Entwicklung der Großbetriebe gegenüber blieb,
wie später gezeigt werden wird, auch die Kleinschiffahrt nicht
müßig. Es verbanden sich vielmehr fast 1000 Klcinschiffer zu
der starken »Privat-Schiffer-Transport-Genossenschaft«. Damit
standen sich 2 mächtige Rivalen gegenüber. Um sich von dem
Kahnraum, wie dem Schleppanhang der Kleinschiffahrt frei zu
machen, beschlossen die >Vereinigten« eine wesentliche Vermeh-
rung ihres Kahnraumes durch Neubauten. Sie nahmen zu diesem
Zwecke im Jahre 1906 eine 472-piozentige Prioritätsanleihe in
Höhe von i 800000 M. auf und kauften mit diesen Mitteln 42
alte Schleppkähne und gaben 9 neue in Bestellung. Zu einem
gleichen Vorgehen veranlaßten sie auch die mit ihr im Pacht-
verhältnis stehende österreichische »Nord-West-Gesellschaft«. Im
Jahre 1907, in dem sie übrigens auch noch eine für die Eib-
schiffahrt nicht unwesentliche Neuerung und Erweiterung ihrer
Frachtmöglichkeiten durch Errrichtung von Kühlmaschinen auf
12 ihrer größten Schleppkähne für den deutsch-böhmischen Bier-
transport zur Einführung brachte, kam es endlich zu einem Be-
triebsgemeinschaftsvertrag mit der --»P.Sch.T.G.« und mehreren
anderen Schiffahrts-Gesellschaften, von dessen Einzelheiten aber
erst im folgenden Kapitel bei Besprechung der SchifTahrtsver-
einigung des Jahres 1907 die Rede sein wird. Hier sei nur er-
wähnt, daß mit diesem Schritte vorerst die »Vereinigten« keine
besonders günstigen Geschäftsergebnisse erzielt haben. Es mag
dies an der Form der Organisation dieses trustartigen Gebildes
gelegen haben, für dessen Formen man bisher im deutschen
Schiffahrtsgewerbe keine Vorbilder besessen und keine Erfah-
rungen gesammelt hatte. So schlössen die Jahre .
1909 mit 300000 M.
1910 ,, 622 000 jM.
191 1 ,, S78 776 M.
zusammen: 1800776 M. Verlust
— 131 —
ab, einem recht ansehnlichen Lehrgeld, das die »Vereinigten« für
den Versuch einer Schiffahrtsvertrustung bezahlen mußten. Der
Grund für diesen Mißerfolg war die ungleiche Verteilung des
Risicos, das neben aller Arbeit die > Vereinigten« allein zu tragen
hatten, während alle übrigen Beteiligten eine feste von den »Ver-
einigten« zu zahlende Rente bezogen. Die »Vereinigten« hatten
bei Abschluß der Verträge ihre eigene wirtschaftliche Kraft über-
schätzt, wenigstens gegenüber so ungünstigen Schiffahrtsverhält-
nissen, wie sie die Jahre 1909 und 1910, ganz besonders aber
das Jahr 191 1 brachten. Das letztere Jahr ist das schlechteste
und verhängnisvollste gewesen, das die Schiffahrt seit über 50
Jahren gekannt hat: über zwei Monate mußte wegen zu geringen
Wasserstandes auf der ganzen Elbe fast sämtlicher Verkehr ein-
gestellt werden.
Die »Vereinigten« kündigten deshalb mit dem 31. Dezember
191 2 sämtliche Pachtverträge, deren Erneuerung auch vorerst
noch nicht wieder gelungen ist. Es ist wohl anzunehmen, daß
die »Vereinigten« sich vermöge ihrer inneren Gesundheit und
mit Hilfe ihrer starken Rücklagen und Abschreibungen in frühe-
ren ertragsreichen Perioden von diesen bedeutenden Verlusten
verhältnismäßig schnell erholen werden.
Die Betriebsmittel, die sich durch jene Verträge und durch
das eigene Material in den Händen der Gesellschaft vereinigt
hatten, waren fast fabelhaft zu nennen. Sie betrugen 66 Rad-
schleppdampfer, 3 Heckraddampfer, 18 Eilfrachtdampfer, 29
Kettendampfer, 44 Schraubendampfer, 9 Motorboote, 29 schwim-
mende Krähne, 29 feststehende Krähne, i Dampf bagger, 1063
Schleppkähne mit einer Gesamttragfähigkeit von 666350 t, 218
Leichterschiffe und 27 Lagerkähne ; das Personal bestand aus
3278 Personen. Das auf eigenen Frachtkähnen beförderte Güter-
quantum betrug im Jahre 1909 4357468 t, w'ozu noch auf frem-
den Kähnen, jedoch mit Gesellschaftsdampfern geschleppt, eine
Gütermenge von 2 163 105 t hinzukommt, was insgesamt 6 550 573 t
für die Gesamtbeförderung ergibt. Das sind schätzungsweise, da
Gesamtzahlen für den Eibverkehr im Jahre 1909 fehlen, reichlich
60% des Gesamteibverkehrs.
Im einzelnen veranschaulicht Tab. 44 die Betriebsleistungen
der Gesellschaft in den letzten 5 Jahren.
— 132 —
Tab. 44.
Fracht- und Schleppleistungen der »Vereinigten Elb-
schiffahrts-Gesellsc haften« 1908 — 1912.
I
2. :
190S
3-
1000
4.
iqio
5-
10! I
6.
1013
Im Fiaclu-
geschäft beför-
bergwärts
talwärts
I 887
2067
2 152
2 204
2 023
2 328
l 037
1626
2 072
3795
dert in 1000 t
Zusammen
3954
4 357
4 351
3 264
4868
Im Sclileppgeschäft beför-
dert in 1000 t 1
2218
2 193
2503
1295
1697
Zusammen im
Schleppgeschä
Fracht- und
"t in 1000 t
6 172
6550
6854
4 559
6565
h) Die Deutsch-Oesterreichische Dampf-
Schiffahrts-Aktien-Gesellschaft in Dresden.
Tab. 45.
Geschäftsergebnisse der »Deutsch-Oesterreichischen
Dampfsch.- Ges.«
I.
2.
3-
4-
5-
6.
7-
Divi-
Gesamt-
Zahl
der
Jahr
Aktienkapital
Obligationen
dende
einnahmen
Dampf-
Schlepp-
1000 M.
1000 M.
"/u
1000 M.
schiffe
kähne
1896
650
4
347
7
9
97
800
—
7
570
7
9
98
I 000
400
0
627
8
9
99
I 300
400
10
843
9
10
1900
I 300
400
10
912
9
10
Ol
I 300
400
8 -
823
9
16
02
I 300
400
0
501
9
16
03
975
530
0
599
9
16
04
975
880
0
I 093
1905
2 000
I 460
6
2 123
06
2 000
I 325
6
2 223
07
2 000
I 228
6
420
08
2 000
I 136
6
423
09
2 000
I 048
6
42S
1910
2 000
971
6
42S
•
II
2 000
6
402
12
2 000
610
6
402
Als im Jahre 1895 durch Vereinigung sämtlicher Elbschlepp-
schiffahrtsunternehmungcn zu der » Schleppschiffahrt- Vereiniguncj«^)
ein kleiner wirtschaftlicher Aufschwung sich in der Eibschiffahrt
bemerkbar machte, gründete sich sofort, angeregt durch Speditions-
und Frachtspekulantenkreise, eine Gesellschaft in Hamburg, die
i) Vgl. S 179.
1
— 133 —
aus dem Durchkreuzen der Frachtpolitik des Kartelies Vorteil
zu ziehen suchte. Es war dies die »Deutsch-Oesterreichische
Dampfschiffahrts-Gesellschaft«, die mit einem Kapital von 650000
Mark im Jahre 1896 ihren Betrieb auf der Elbe mit 7 Schlepp-
dampfern und 9 Frachtkähnen aufnahm. Da die Hauptbe-
teiligten als Gründer und Aktionäre die drei bedeutenden Ham-
burger Firmen : Ludwig Ascher & Co., Getreidespeditionsgeschäft,
Baumer & Herling, Befrachtungs- und Schleppgeschäft und Gebr.
Burmester in Lauenburg, Eibreederei, waren, so flössen von An-
fang an der Gesellschaft große Frachtgütermengen zu. Die Ge-
sellschaft richtete in Hamburg und Magdeburg eigene Befrach-
tungskontore ein und war eifrig bestrebt, den Verkehr von und
nach Böhmen in ihre Hände zu bekommen. Sie beschränkte
sich aber im allgemeinen auf das Schleppgeschäft und die Ver-
mittlung von Wasserfrachten an Privatschiffer, der eigene Fracht-
schiffpark bestand bis 1900 nur aus 10 Schleppkähnen und wuchs
bis 1903 auf 16, und erreichte 1906 seine größte Ausdehnung
mit 44 Schleppkähnen zu je 400 — 1 100 t. Dagegen war das
Frachtvermittlungsgeschäft ein beträchtliches. Die Gesellschaft
war z. B. an dem gesamten Hamburger Bergfrachtgeschäft 1898
mit 12 %, 1899 init ii\''2 %, 1900 mit 12^/2 % und 1901 mit
II % desselben beteiligt. Die finanziellen Ergebnisse waren
schwankende, wie überhaupt in der gesamten Leitung und Be-
tätigung der Gesellschaft oft etwas Stoßweises, Unruhiges zu be-
merken war. Im ersten Betriebsjahr, 1896, betrug die Dividende
4 %, wuchs im nächsten Jahre auf 7 %, um jedoch im Jahre
1898 ganz auszubleiben; 1899 — 1901 schwankte sie zwischen 8
bis 10 %, und blieb abermals in den 3 nächsten Jahren ganz aus.
Von 1905 — 1912 blieb sie gleichmäßig auf 6 % bestehen, was
auf das Pachtverhältnis mit den »Vereinigten« zurückzuführen ist,
das von 1907 — 19 12 zwischen den beiden Gesellschaften bestand.
Wie von der »Nord-West«, so hatten die »Vereinigten« seit 1907
auch von der »Deutsch-Oesterreichischen« den gesamten Schiffs-
park gepachtet und bezahlten dafür eine Rente, die jährlich 6 %
Dividende für das Aktienkapital der Pachtgesellschaft abwerfen
mußte.
Seit dem i. Januar 1913, dem Ablauftermin des Pachtver-
trages mit den »Vereinigten«, betreibt die Gesellschaft mit dem
Sitz in Magdeburg ihr eigenes Fracht- und Schleppgeschäft wie-
der, und hat zur Vergrößerung ihrer Betriebsmittel den gesamten
— 134 —
Schiffspark der >EIbe<') für eine Pachtsummc von looooo M. jähr-
lich gepachtet. Die eii^enen Betriebsmittel bestanden Ende 191 3
aus 17 großen Radschleppdampfern, 7 Bui^sierdampfern, i Motor-
barkasse, 35 Schleppschiffen sowie 12 Lai,'er- und Windenkähnen.
Von der »Elbe« hat sie bis iMide 19 14 gepachtet: 9 große Rad-
schleppdampfer, 2 Bugsierdam[)fcr, i ]\Iotorbarkassc, 5 Lager-
und Windenkähne. Das Aktienkapital beträgt (191 3) 2 Millionen
Mark, zu dem 610 OCX) M. Anleihebetrag als Betriebskapital hin-
zukommen.
Tab. 46 gibt zahlenmäßig die Verkehrsleistung der Gesell-
schaft von 1896 — 1906 wieder; man ersieht aus ihr, daß die Ge-
sellschaft einen bedeutenden Schleppbetrieb unterhielt, während
sie im Frachtgeschäft bei ihrem geringen eigenen Kahnraum sich
des fremden Kahnraumes der Privatschiffer zumeist bedienen
mußte.
Tab. 46.
Schlepp- und Frachtleis tungen der »Deutsch-Oesterreichischen
Dampsch if f ah rt s- Ges.« 1896 — 1906.
1 3^ I 4^ I 5.
Schleppgeschäft
1 7.^ 8.
Frachtgeschäft
Jahr
Eigne
Schlepp-
dampfer
Zahl
Von eignen
Schleppdampfern
zurückgelegte
Entfernung
km
Ge- ! Ge-
schleppte
schleppte Güter-
Kähne
Zahl
mengen
1000 t.
Eigne
Schlepp-
kähne
Zahl
Mit Fracht-
I gütern
beladene
Kähne
Zahl
Ver-
frachtete
Güter-
mengen
1000 t.
1896
97
98
99
1900
Ol
02
03
04
1905
06
99 000
159 000
189 000
196 000
173 000
168 000
1 235
687
9
I 931
I 180
9
2948
I 480
9
2 516
I 306
10
2536
1432
10
2645
1489
16 '
16
16
3736
I 256
4430
I 353
970
338
138
185
078
845
945
474
948
852
762
848
772
506
716
340
705
757
i) Die >Elbe« D a m p f s c h i f f a h r t s - A k t i e n - G e s e 1 1-
schaft in Hamburg.
Aus einer Genossenschaft von Privatschiffern, die wegen
schlechter Geschäftsergebnisse in Liquidation treten mußte, ging
1899 die »Elbe« mit einem Aktienkapital von 700 000 M. hervor.
I) Vgl. s. 135.
135 —
Ihre Aktien, die auf Namen lauten, befanden sich nur in den
Händen einiger weniger Kleinschiffer, wie auch der Kundenkreis
der Gesellschaft infolgedessen sich aus diesen Kreisen zusammen-
setzte. Ihr Betriebsmaterial bestand aus 4 Radschleppdampfern
von je 400 — 900 PS, und wuchs bis zum Jahre 1902 nach Er-
höhung des Aktienkapitals auf i Million auf 8 Dampfer an.
Nach Art des Betriebes und der Geschäfte näherte sie sich mehr
einem gutentwickelten Kleinschiffahrtsbetrieb, als einem Großbe-
trieb. Sie unterhielt nur Schleppschiffahrt und zwar in der
Hauptsache von Hamburg nach Stationen oberhalb Magdeburgs.
Tab. 47.
Geschäftsergebnisse der »Elbe«, D ampf s chif f ah rts- Akti en-Ges.
I.
2.
3-
4-
5-
6.
7-
Jahr
Aktien-
kapital
Obli-
gationen
Dividende
Einnahmen
aus
Schlepp-
in 1000 M.
insgesamt
Zahl der
Dampf-
schiffe
1000 M.
1000 M.
0/
/o
geschäft
1899
700
149
4
437
440
4
1900
700
152
6
466
479
5
Ol
700
161
8
587
595
6
02
I 000
164
0
469
477
8
03
I 000
149
0
492
495
8
04
I 000
131
4
591
596
8
1905
I 000
121
6
804
818
8
06
I 000
4
7
847
866
8
07
I 000
—
8
—
8
08
I 000
—
8
—
8
09
I 000
—
8
—
8
1910
I 000
—
8
—
8
II
800
8
—
10
12
800
—
8
—
_
8
Im Jahre 1905 kam sie in ein vollständiges Abhängigkeitsver-
hältnis zu der Privatschiffer-Transport-Genossenschaft ^) und trat
mit dieser zusammen 1907 vertraglich dem Kartell der »Ver-
einigten« bei. Die letzteren pachteten die Betriebsmittel der
»Elbe« gegen eine Verzinsung des Anlagekapitals mit 8 Yo- Die-
ser Pachtvertrag lief am 31. Dezember 1912 ab; vom i. Januar
191 3 ab trat die Gesellschaft in ein anderweitiges Pachtverhältnis
und zwar mit der »Deutsch-Oesterreichischen Dampfschiffahrts-
Gesellschaft«, die für 100 000 M. jährliche Pachtsumme den ge-
samten Betriebsmittelbestand der Gesellschaft, bestehend aus 9
großen Radschleppdampfern, pachtete. In der Generalversamm-
lung vom 14. März 1910 beschloß die Gesellschaft, ihr Grund-
i) Siehe S. 134.
- 136 -
kapital von i Million Mark auf 800000 M. zu vermindern, indem
sie den Nennbetrag der Aktien von 500 M. auf 400 M. herab-
setzte und die Differenz zurückzahlte. (Siehe Tab. 47, S. 135.)
k) Neue Deutsch-Böhmische Elbschiffahrts-
Aktien-Gesellschaft in Dresden.
Tab. 48.
Betriebsergebnisse der >Neuen Deutsch-Böhmischen Dampf-
schiffahrts-Ges.<
I.
2.
3-
4.
5-
6.
7-
8.
Aktien-
Obli-
Divi-
Schiffs-
Gesamt-
Zahl
der
Jahr
Kapital
gationen
dende
hypotheken
Einnahmen
Dampf-
Schlepp-
in 1000 M.
in loooM.
0/
0
in 1000 M.
in 1000 M.
schiffe
kähne
1907
3 000
172
0
. 73
I
08
3000
I 560
0
383
I 617
22
41
09
3 000
2 000
0
299
2 136
14
59
1910
3 000
2 000
0
272
2485
14
59
II
3 000
2 000
p
272
2003
14
59
12
3 000
2 000
0
147
2618
14
59
Das jüngste Großunternehmen auf der Elbe ist die >Neue
Deutsch-Böhmische Elbschiffahrts- Aktien -Gesellschaft«, die am
26. September 1907 mit einem Aktienkapital von 3 Millionen
Mark in Dresden begründet wurde. Sie ist entstanden aus Krei-
sen von Spediteuren und Frachtinteressenten, die das einigende
und zusammenfassende Vorgehen der »Vereinigten« bekämpften.
Bei der Gründung der Gesellschaft wurde eine größere Zahl von
Beamten angestellt, die früher bei 'der »Vereinigten« tätig ge-
wesen waren. Das Unternehmen hat bisher nicht günstig auf
die Eibschiffahrt eingewirkt. Es hat vor allem den überdies schon
allzu umfangreichen Kahnraum noch durch 50 neue moderne
große Schleppkähne vermehrt. Trotzdem bezeichnete die Ge-
sellschaft fast in jedem ihrer Jahresberichte als Ursache ihrer un-
günstigen Jahresabschlüsse die Ueberproduktion an Kahnraum
auf der Elbe. Die Gesellschaft verstand es, bei ihrer Gründung
sich eine große Gütermenge durch langandauernde Frachtver-
träge zu sichern, hatte aber durch diese Termingeschäfte be-
deutende Verluste, weil in den nächsten Jahren durch Ungunst
der Schiffahrtsverhältnisse die Betriebskosten bedeutsam wuchsen,
ohne daß die Gesellschaft auch an den steigenden Frachtsätzen
teilnehmen konnte. Sie betreibt in überwiegendem Maße die
Frachtschiffahrt im Bergverkehr, wie Tab. 49 zeigt.
— 137 —
Tab 49.
Frachtleistungen der »Neuen Deutsch-Böhmischen Dampf-
schiffahrts-Ges.«
I.
2.
1908
3-
1909
4.
1910
5. 6.
1911 1912
Ab Hamburg
u. Lauenburg
zu Berg
Frachtschiife
mit
Ladung in 1000 1.
1790
460
I 282
280
505
157
I 547
556
1764
364
563
216
I 802
740
2735
605
690
307
1407
491
2 005
447
557
196
1759
715
Ab Magdeburg
zu Berg
Frachtschiffe
mit
Ladung in 1000 1.
2 310
582
Zu Tal
Frachtschiffe
mit
Ladung in 1000 t.
628
283
Die Gesellschaft besitzt ein eigenes Frachtkontor in Ham-
burg und Magdeburg und betreibt in gleicher Weise den Betrieb
der Schlepp- und der Frachtschiffahrt. In den ersten 2 Jahren
ihres Bestehens arbeitete sie meist mit fremden, gemieteten
Schiffen, doch besaß sie zu Beginn des Jahres 1909 an eigenem
Betriebsmaterial 14 Radschleppdampfer zu 500 — 1200 PS (zu-
sammen 8000 PS), 4 Hafendampfer, 50 eiserne Frachtkähne zu
500 — 850 t und 70 gemietete Frachtschiffe zu 500 — 1200 t Trag-
fähigkeit. Trotz reichlicher Beschäftigung seines Kahnraumes ist
es dem Unternehmen, das freilich unter sehr ungünstigen wirt-
schaftlichen Verhältnissen gegründet wurde, noch nicht gelungen,
einen Gewinn aus seinem Betrieb herauszuwirtschaften, vielmehr
schlössen die Jahre 1910 und 191 1 mit einem Verlust von 116 000
M. und 209000 M. ab. Im Jahre 191 1 näherte sich die Ge-
sellschaft den »Vereinigten« und trat für gewisse Teile des Eib-
verkehrs mit dieser in ein vertragliches Verhältnis.
3. Zusammenfassende und vergleichende Darstellung der
Großschiffahrtsbetriebe.
Stellen schon, wie es im vorhergehenden Abschnitt darzutun
versucht wurde, die einzelnen Elbschiffahrts-Großbetriebe nicht
unwesentliche Faktoren des deutschen Verkehrsgewerbes dar, so
gilt das in erhöhtem Maße von der als Einheit aufgefaßten Ge-
samt-Elbgroßschiffahrt.
Das zeigt schon ein Blick auf die in der Eibschiffahrt ange-
legten KapitaUen in Tab. 50.
- 13« -
Tab. 50.
Die in der El b sc h i ff a hrt angelegten
Kapitalien in looo M.
).
Sämtliche Grolobuiiicb
z zubaimiicii
Jahr
1
Aktienkapital und
Aktienkapital
Obligationen
Obligationen zus.
1872
5 012
5012
73
5 «62
—
5 162
74
5762
—
5762
1875
5762
—
5762
76
5762
—
5762
77
5762
—
5762
78
6062
—
6062
79
6 062
—
6 062
1880
6 062
—
6 062
81
7942
—
. 7942
82
I4742
—
14742
83
15042
—
15042
84
15742
300
16 042
1885
15942
I 000
16942
86
15942
I 000
16942
87
15942
I 000
16 943
88
15942
I 460
17402
89
15942
I 120
17 062
1890
15942
I 080
17 022
91
; 15942
I 040
16982
92
15942
I 000
16942
93
15942
I 800
17742
94
14992
I 800
16 792
1895
15642
I 800
17442
96
15642
I 800
17442
97
16 992
2 200
19 192
98
1 18042
2875
20 917
99
15 342
3044
18386
1900
15342
2965
18307
Ol
15892
2940
18832
02
16 067
3411
19478
03
16 067
3460
19527
04
17217
3872
21 089
1905
! 18242
4 353
22595
06
18242
5816
24 058
07
21 242
7 495
28737
08
21 342
9019
30 261
09
21 242
9249
30491
1910
21 242
9342
30584
II
21 042
8906
29948
12
21 042
8510
29552-
1909 waren mehr als 30 Millionen M. in Elbschiffahrts- Aktien
oder Obligationen angelegt, was umsomehr zu bedeuten hat,
wenn man berücksichtigt, daß 1870 erst 3800000 M., 1880
7,9 Millionen M., 1S90 17 Millionen M. und 1900 18,8 Millionen M.
in der Großschiffahrt angelegt waren. Das Geld stammte an-
— 139
fangs fast ausschließlich aus den Kreisen der Privatschiffer. So
waren die »Kette«, die »Vereinigten«, die »Elbe« und die »Neue
Norddeutsche« Gründungen aus diesen Kreisen, während die
später gegründete »Nord-West« ihre Entstehung österreichischen
Industriellen, die >Deutsch-Oesterreichische< und die »Neue Deutsch-
Böhmische« dagegen ihre Entstehung deutschen Spediteuren und
Kaufleuten verdankten. Erst später, als sich bedeutende Kapitals-
erhöhungen oder Anleihen zur Erweiterung der Betriebe nötig
machten, bediente man sich der Hilfe von Geldinstituten, unter
denen für die Eibschiffahrt besonders die Hamburger Kommerz-
und Diskontobank, die Dresdner Filiale der Deutschen Bank, die
Kredit-Anstalt für Industrie und Handel Abteilung Dresden,
sowie der Schaaffhausensche Bankverein in Betracht gekommen
sind.
Tab. 51.
Kursstand der an deutschen Börsen
gehandelten Elbschiffahrtsaktien.
(Jahresdurchschnitt.)
I.
2.
3-
4-
Jahr
Neue Nord-
deutsche Fluß-
»Kette«
Vereinigten Elb-
Dampfsch.-Ges.
(Berliner
schiff.-Gesellsch.
(Hamburg. Börse)
Börse)
(Dresdner Börse)
1887
150
68,50
_
88
76,50
—
89
140
78,25
—
1890
158
70,50
—
91
160
55
—
92
150
50,75
—
93
—
52,75
—
94
125
80
—
1895
82,50
—
96
140
72,30
—
97
152
71
—
98
159.50
73,25
142
99
155
83,20
149
1900
150
82
146
Ol
160
82
140
02
130
65
HO
03
150
—
127,10
04
145
—
111,75
1905
153,50
—
139
06
160
—
139,75
07
145
—
136,90
08
143
—
91,50
09
145
—
90
1910
115
—
70,50
II
"5
—
60,50
12
—
55,10
— 140 —
Nach Höhe des Betriebskapitales stand bis 1902 die »Kette«
mit ihren 7,2 Millionen M. Aktienkapital und 1,3 Millionen M.
Obligationen an erster Stelle, in diesem Jahre mußte sie jedoch
den Rang an die > Vereinigten« mit ihrem Aktienkapital von
ii,i Millionen M. und 2,3 Millionen M. Obligationen abtreten.
Nicht alle Elbschiffahrts-Aktien sind an Börsen zugelassen. Die
Aktien der > Kette« waren seit i.SH/ an der Berliner, später auch
an der Dresdner , Hamburger und Leipziger Börse , die der
»Neuen Norddeutschen« seit 1878 an der Hamburger, die der
^Vereinigten« seit 1898 an der Dresdner, später auch an der
Berliner und Hamburger und die der »Deutsch-Oesterreichischen«
seit 1907 an der Dresdner Börse eingeführt; nicht an deutschen
Börsen zu finden sind die Aktien der »Nord-West« und der »Elbe«.
Der Kursstand der einzelnen Aktien ist im Verhältnis zuein-
ander stets immer ein sehr verschiedener gewesen, ohne daß er
jedoch für die einzelnen Unternehmen große Schwankungen aufzu-
weisen hat. (Siehe Tab. 51, S. 139.)
Die Aktien der »Kette« haben stets unter pari gestanden.
Sie notierten 1892 mit 50,75 ihren tiefsten und 1899 "li^ 83,2
Jahresdurchschnitt ihren höchsten Stand. Die Aktien der »Ver-
einigten« haben zwischen 111,75 (1904) und 149 (1899) sich be-
wegt, während den günstigsten Kurs von jeher die »Neue Nord-
deutsche« aufwies, indem sich ihre Aktien zwischen 126 (1894)
und 160 (1891, 1901 und 1906) hielten.
Noch mehr als die Kurse weisen die Dividendenzahlen Unter-
schiede zwischen den verschiedener! Gesellschaften auf. (Siehe
Tab. 52, S. 141.)
Im allgemeinen kann man für die Eibschiffahrt den Satz
aufstellen, daß je größer die Unternehmungen sind, desto geringer
die Dividenden ausfallen. Spiegelt sich auch im allgemeinen bei
jedem Großbetriebe in der Dividendenzahlung seine wirtschaft-
liche Entwicklung wieder, so bewahrheitet sich der Satz von
dem umgekehrten Verhältnis des Betriebskapitals zu der
Höhe der Dividenden fast mathematisch genau, wenn man die
Durchschnittsdividende für die einzelnen Unternehmungen von
1887 — 1909 berechnet; dabei findet man für die »Neue Deutsch-
Böhmische« 0%, für die »Kette« 2,2%, für die »Nord-West«
2,4%, für die »Deutsch-Oesterreichische* 4,8%, für die »Elbe«
5,7%, für die »Vereinigten« 8% und für die »Neue Norddeutsche«
9,4%. Dies zeigt die geringe Rentabilität der Eibschiffahrt, unter
— 141
Tab. 52.
Dividenden der Elbschiffahrts-Gesellsch.
I.
2.
3-
4-
5-
6.
Deutsch-
7-
Jahr
Neue
Norddeutsche
Flußdampfer-
Ges,
»Kette«
»Nord-
West«
Vereinigte
Elb-
schifFahrts-
Ges.
Oester-
reichische
Dampfsch.-
Ges.
»Elbe«
Dampfsch.-
A.-G.
1887
5>5
0
2
7,5
88
8
I
2,5
10
—
—
89
16
2
3,5
12
—
—
1890
II.5
3
2
12
—
—
91
5
0,5
2
5
—
—
92
4
I
2
10
—
—
93
5.5
i>5
4
10
—
—
94
4
3.5
4
12
—
—
1895
14
4>5
4
12
4
—
96
9
I
0
7,5
4
—
97
II
2
0
10
7
—
98
II
3
0
10
0
—
99
II
5.5
0
10
10
7
1900
14
5.5
8
10
IG
6
Ol
14
4,5
7
10
8
8
02
6
0
5
5
0
0
03
10
0
5
4
0
0
04
6
—
4
0
0
4
1905
14
—
4
9
6
7
06
10
—
4
10
6
7
07
6
—
4
8
6
8
08
7
—
4
0
6
8
09
7
—
4
I
6
8
1910
4
—
4
0
6
8
II
0
—
4
0
6
8
12
—
4
0
6
8
der, wie man sieht, nicht nur die Kleinschiffahrt, sondern in eben
demselben Maße auch die Großschiffahrt zu leiden hat, und die
eine Folge ist der ungesunden gegenseitigen Konkurrenz.
Dabei darf aber nicht übersehen werden, daß es im allge-
meinen den Großbetrieben in immer wachsendem Maße gelungen
ist, im Betrieb der Eibschiffahrt Ersparnisse zu machen und da-
durch das in ihr angelegte Kapital ausgiebiger und nutzbringen-
der zu verwerten. Dies ergibt sich deutlich aus der folgenden
Tabelle, in der für 3 verschiedene Jahre Gesamtkapital, Gesamt-
einnahmen und Durchschnittsdividende aller Elbschiffahrtsgroß-
betriebe nebeneinander gestellt sind. Die Jahre sind nach dem
Gesichtspunkte ausgewählt, daß während derselben keine be-
sonderen Kartelle bestanden haben, vielmehr freie Konkurrenz
waltete.
142 —
Tab. 53.
Verliältiiis von Gesamtaktienkapital und Gesamteinnahmen
der Groß Unternehmungen.
Jahr
Gesamt-
betriebs-
kapital
I ooo M.
3-
Gesamt-
einnahmen
I ooo M.
Verteilte
Durch-
„ .^ , schnitts-
zum Kapital ta- ■ j j
^ .Dividende
Höhe der
Einnahmen
IS97
19 192
12325
1906
24058
I45I2
I90S
30261
13500
63
58
43
6
7,4
5-5
Die Tabelle ergibt, daß der Unterschied zwischen Gesamt-
kapital und Gesamteinnahmen im Laufe der Jahre ein immer
größerer wird, daß das Kapital schneller wächst, als die aus ihm
gezogenen Einnahmen: Trotzdem gelang' es in immer noch
wachsendem oder doch gleichbleibendem Maße eine gleich hohe
Verzinsung aus den Einnahmen zu bewirken, was nur durch
relative Verringerung der Betriebsausgaben möglich wurde.
Versucht man nunmehr noch die besondere Rolle festzu-
stellen, die jeder der einzelnen Großbetriebe in Hinsicht auf die
Art seines Geschäftsbetriebes spielt, so kann dies am klarsten
durch einen Vergleich der Gesamteinnahmen der einzelnen Be-
triebe mit seinen einzelnen Einnahmeposten geschehen. Denn
so wird sich ergeben, aus welcher Geschäftsart der einzelne Be-
trieb seine Haupteinnahmen zieht, und welche infolgedessen für
ihn die wichtigste und somit die typische ist. (Siehe Tab. 54,
S. 144 und 145.)
Aus dieser Zusammenstellung läßt sich entnehmen, daß man
als reine S c h 1 e p p Unternehmungen die »Vereinigten« etwa bis
zum Jahre 1898, die »Deutsch-Oesterreichische« und die »Elbe«
bis zum heutigen Tage ansprechen muß. Diese Gesellschaften
zogen bei weitem den größten Teil ihrer Gesamteinnahmen,
meistens über 90 %, aus dem reinen Schleppgeschäft, d. h. aus
dem Vermieten der motorischen Kräfte ihrer Schleppdampfer an
fremde Schiffseigner, deren Fahrzeuge keine eigenen Antriebs-
maschinen besitzen. Auch die > Kette« gehört in dem ersten
Dezennium ihres Bestehens, bis zum Jahre 1880, zu diesen reinen
Schleppunternehmungen. Das mag auf den ersten Blick auffällig
erscheinen, da alle diese Unternehmungen eigene, sehr beschäftigte
Frachtbureaux, teilweise sogar eigene Frachtschiffe besaßen. Die
— 143 —
Erscheinung erklärt sich jedoch aus der schon früher bespro-
chenen inneren Organisation des Schleppgeschäftes , das , um
Schleppkunden zu erhalten, für die Bergfahrt Frachten vermittelte.
In diesen Frachtbureaux sammelten die Gesellschaften nur Fracht-
güter und Verfrachtungsaufträge an, um sie an die Privatschiffs-
eigner zur Ausführung weiterzugeben. Es waren also keine Ver-
frachtungskontors im strengen Sinne, sondern nur Frachtvermitt-
lungsagenturen. Ihre Schleppkähne aber vermieteten die Schlepp-
gesellschaften häufig ohne Bemannung an Frachtgeschäfte, einzelne
Großkaufleute oder auch an Kleinschiffer, mit der Bedingung,
bei Benutzung zu Bergfahrten sich nur der Schleppschiffe der
Gesellschaft zu bedienen.
Im Gegensatz zu diesen Schleppgesellschaften sind als reine
F r a c h t Schiffahrtsgesellschaften nur die »Neue Norddeutsche«
und die »Nord-West« etwa bis zum Jahre 1891 anzusehen. Sie
besitzen zwar auch eine eigene Schleppdampferflotte, benutzen
dieselbe aber in der Hauptsache nur dazu, ihre eigenen Fracht-
kähne bergwärts zu befördern. Ihre Einnahmen aus Schleppent-
schädigungen für fremde Fahrzeuge treten weit zurück hinter
ihren Einnahmen aus der Frachtschiffahrt, d. h. der Beförderung
von Frachtgütern in eigenen Schiffsgefäßen auf eigene Rechnung.
Es mag auffallen, daß in der Eibschiffahrt eine so geringe Zahl
von reinen Frachtschiffahrts-Großbetrieben vorhanden ist. Dies
hat seinen Grund darin, daß die reine Frachtschiffahrt in der
Hauptsache in den Händen der Kleinbetriebe auch heute noch
ruht, da sie als Kleinbetrieb eher noch rentabel zu gestalten ist,
als die Schleppschiffahrt, und sich vor allem auch leichter aus
kleinen und kleinsten Anfängen und geringeren Betriebsmitteln
zu einem wachsenden Umfange ausgestalten kann.
Gemischte Betriebe, d. h. Fracht- und Schleppschiffahrt
nebeneinander in gleicher Weise betreibende Unternehmungen
sind die »Kette« seit 1881, die »Nord- West« etwa seit 1892 und
die 5 Vereinigten« etwa seit 1899. Man sieht daraus, daß sämt-
liche Elbschiffahrts-Gesellschaften ursprünglich als Spezialunter-
nehmungen gegründet worden sind und erst später und allmählich
ihre Tätigkeit auch auf das andere Geschäftsgebiet erweitert
haben. Diese Erscheinung findet man heute auch vielfach in
anderen Großgewerben. Bei der > Nord- West« hat die ursprüng-
lich ganz nebensächlich betriebene Schleppschiffahrt auch später-
hin immer etwas hinter der Frachtschiffahrt zurückgestanden.
- 144 —
Ta-
Die Einnahmen der Elbschiffahrls-
I.
2.
3- 1
4. 1 5-
6. , 7.
8.
9-
10.
II.
»Kette«
>Nord
-West«
>Neue Nord-
Jahr
Fracht-
Schlepp-
Fracht-
Schlepp-
Fracht-
einnahmen
einnahmen
einnahmen
einnah
men
einnahmen
ab-
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d. Ge-
ab-
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d. Ge-
ab-
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ab-
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ab-
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solut
samt-
solut
samt-
solut
samt-
solut
samt-
solut
samt-
Einn.
Einn.
Einn.
Einn.
Einn
1870
_
,
129
92
,
.
71
—
—
245
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—
—
—
—
72
—
—
540
100
—
—
—
—
73
—
—
726
100
—
—
—
—
.
74
—
—
667
86
—
—
—
—
1875
—
—
796
98
—
-
—
—
7Ö
—
—
874
99
—
—
—
—
.
.
77
II
I
938
97
—
—
—
—
78
365
28
936
. 72
—
—
—
—
.
79
418
25
993
59
—
—
—
.
1880
451
21
1346
62
—
—
—
.
81
648
26
1300
52
—
—
—
—
82
1615
44
2181
57
1978
80
516
20
83
2000
42
2664
55
2233
74
786
26
84
2350
47
2439
48
2299
77
708
23
1885
2358
51
2042
45
2137
76
693
24
86
2182
53
1736
42
2046
80
500
20
87
2089
51
1740
42
2104
78
615
22
88
2263
54
1913
44
2338
79
645
21
645
93
89
2373
53
2071
46
2534
75
854
25
1890
2518
53
2127
45
2562
73
975
27
809
95
91
2242
48
2318
50
2392.
68
1088
32
92
1907
45
2152
51
2044
65
1131
35
93
1833
44
2323
56
1999
50
2020
50
94
1647
42
2191
58
I961
50
1952
50
1895
1971
35
2270
64
2063
59
1903
41
96
1914
.
1743
51
1709
49
835
90
97
2139
1945
49
1976
51
851
88
98
2282
2087
55
1698
45
99
2451
2190
54
1930
46
1900
2506
.■
Ol
2256
.
935
78
02
1488
•
.
801
87
03
1
.
944
95
04
—
—
—
—
—
—
—
—
1905
—
—
—
—
—
—
i —
- —
06
—
—
—
—
—
1
—
992
88
07
—
—
—
—
—
j —
—
.
08
—
—
—
—
—
—
—
—
09
—
—
1
—
—
—
1
—
1045
78
1910
—
—
1
—
—
—
1 —
—
12
-
-
-
1
-
—
—
—
—
145 —
belle 54.
Großbetriebe. 1S70 — i 9 i 2.
1000 M.
12. 1 13.
14. 1 15. II 16.
»Verein. Elbsch.-
17- 1 18. II 19.
»Deutsch-
20.
21.
1 22.
23.
»Neue
deutsche«
Gesellschaft«
Oesterreichische <
>Elbe
«
Deutsch-
Böhm.«
Schlepp-
Schlepp-
Ges.-
Schlepp-
Ges.-
Schlepp-
Ges.-
Gesamt-
einnahmen
einnahmen
Einn.
einnahmen
Einn.
einnahmen
Einn.
Einnahm.
ab-
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ab-
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%
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%
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ab-
absolut
solut
samt-
solut
samt-
solut
solut
samt-
solut
solut
samt-
solut
Einn.
Einn.
lEinn.
Einn.
599
649
748
709
805
982
1072
-
-
(
-
—
—
—
—
—
1
—
959
1000
1126
1599
1580
1693
—
—
—
—
—
8
0
)
9
6
I
754
—
—
347
—
—
—
—
102
II
1567
92
I 693
526
92 1
570
—
—
—
—
1882
, .
627
—
—
—
—
2268
.
843
437
99
440
—
2689
912
466
97
479
—
273
22
2527
710
86
823
587
98
595
—
120
13
1890
501
469
98
477
—
43
5
2133
599
492
99
495
—
6756
• i 1093
591
99
596
—
10 316
2123
804
98
818
—
116
II
10303
12 922
2223
420
847
97
866
200
73
10857
—
—
423
—
—
200
1617
126
22
II 708
—
—
428
—
—
200
2136
9654
—
—
420
—
—
200
2079
9 181
—
—
402
—
—
200
2003
II
III
~
402
—
—
200
2618
Zeitschrift für die ges. Staatswissensch. Ergänzungsheft 50.
10
— 146 —
Bei den beiden anderen gemischten Unternehmungen aber sind
die beiden Spezialgebiete später ganz gleichstark ausgebildet
worden und je nach der Konjunktur haben die Einnahmen bald
aus der einen, bald aus der anderen Geschäftsart überwogen.
Die gemischten Betriebe stellen ein fortgeschritteneres Stadium
des Schiffahrtsbetriebes dar, weil sie zwei notwendige, untrennbare
Bestandteile des Binnenschiffahrtstransportes, nämlich die Stellung
des Schiffsraumes und die Fortbewegung desselben in einer
Hand vereinigen.
Schließlich sei noch darauf hingewiesen, daß man bei den
Elbschiffahrts-Großbetrieben eine Betriebskombination viel seltener
und in viel geringerem Umfange antrifft, als etwa bei der Rhein-
schiffahrt. iMan findet an der Elbe nur Werften und Maschinen-
fabriken mit den Schiffahrtsunternehmungen verbunden, welche
sie ursprünglich als Reparaturwerkstätten und höchstens für den
Neubau eigener Fahrzeuge errichtet oder erworben hatten, später
aber auch für fremde Rechnung arbeiten ließen. Derartige indu-
strielle Nebenbetriebe haben die »Kette« (in Dresden) die >Nord-
West« (in Dresden) und die »Vereinigten« (in Dresden und Magde-
burg) besessen und teilweise nicht unbedeutenden Gewinn aus
ihnen gezogen. Doch erwies es sich bei den starken Konjunktur-
schwankungen, denen die deutsche Maschinen- und Schiffsbau-
industrie von jeher unterworfen gewesen ist, als nicht zweck-
mäßig, die selbst mit großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten
kämpfende Eibschiffahrt mit einer gleichfalls schweren Kämpfen
unterworfenen Industrie allzu eng_^ zu verbinden. So hat man
sich fast immer, sobald die Werften und Maschinenbaubetriebe
einen größeren Umfang angenommen hatten, entschlossen, die-
selben zu veräußern, zu verpachten oder zu selbständigen Aktien-
unternehmungen umzuwandeln, deren Aktien man zunächst in
eigenem Besitz behielt.
147 —
3- Abschnitt.
Die wirtschaftlichen Vereinigungen und
Kartelle in der Eibschiffahrt.
I. Kapitel.
Die wirtschaftlichen Vereinigungen in der Klein-
schiffahrt.
I. Die Entwicklung des Verband-Gedankens bis 1903.
Bei einem so umfassenden alten Stande, wie es die Privat-
schiffseigner sind, ist es wohl in unserer Zeit der Zusammen-
schlüsse und Vereine als selbstverständlich anzunehmen, daß auch
er seme zahlreichen Standesvereinigungen besitzt. Diese sind
denn auch in großer Zahl im Eibgebiet vorhanden. So gibt es
fast in jedem größeren Eibhafen eine solche, in der sich ent-
weder die an diesem Orte oder in dessen Nähe beheimateten
oder auch die ihn auf ihren Frachtfahrten regelmäßig anlaufen-
den Kiemschiffer zusammenfinden. Der älteste von ihnen ist der
»Konzessionierte Sächsische Schiffer- Verein« in Dresden, der 1846
gegründet wurde und 1909 232 Mitglieder besaß. Von Bedeu-
tung sind außerdem noch der .Elbeverein, in Aussig (gegründet
1875; 139 Mitglieder im Jahre 1909), der »Magdeburger und
Akener Schifferverein «, der »Verein zur Förderung der Eibschiff-
fahrt in Magdeburg«, der »Hamburger Verein für Flußschiffahrt«
und der »Hamburger Verein überländischer Schiffer«. Insgesamt
gibt es etwa 20-25 solcher Vereine, deren Zweck die Förderung
der Eibschiffahrt auf der Elbe und die Vertretung ihrer Mitglie-
der ist. Ihre weitaus größte Mitgliederzahl setzt sich aus Privat-
schiftseignern zusammen, was aber nicht ausschließt, daß in fast
jedem dieser Vereine auch ein oder zwei größere Schiffahrtsge-
10
*
- US -
Seilschaften als Mitglieder vertreten sind. Ihrem Wesen nach
sind sie Vereinigungen zur Vertretung von Berufs- und Standes-
interessen. Sie suchen das Schiffergewerbe im allgemeinen zu
fördern, ohne aber ihren Mitgliedern wirtschaftliche Vorteile un-
mittelbar zu verschaffen, oder unmittelbar in das Gewerbe mit
bessernder Hand einzugreifen. Sie stellen also keine w i r t-
schaftliche Vereinigungen dar, wie sie hier allein behandelt
werden sollen, so daß auf sie nicht näher einzugehen ist. Es sei
nur bemerkt, daß diese Vereine besonders durch den »Zentral-
ausschuß der PrivatscWffer-Vereine*, der 15 Vereine mit 675 Mit-
gliedern in sich zusammenfafk, wiederholt die Anregung gegeben
haben zur Gründung von wirtschaftlichen Vereinigungen im Klein-
schiffergewerbe.
Die wirtschaftlichen Schiffervereinigungen stellen
ausschließlich Befrachtungsvereine oder Betriebsgenossenschaften
dar, deren Zweck es ist, die immer unrentabler werdenden Fracht-
vergütungen aufzubessern. Dabei ist auffällig, daß bei der schlech-
ten wirtschaftlichen Lage des Schiffergewerbes, die dauernd noch
im Wachsen begriffen ist, derartige Zusammenschlüsse, wie wir
sie auf allen Gebieten unseres "Wirtschaftslebens heutzutage so
häufig in Gestalt von Wirtschaftsgenossenschaften finden, in den
Kreisen der Eibschiffahrt nur in geringer Zahl anzutreffen sind.
Es mag dies mit der Natur des Schiffergewerbes überhaupt zu-
sammenhängen. Die große örtliche Zersplitterung und die un-
ruhige Lebensweise der Schiffer, der heiße Konkurrenzkampf und
wohl auch nicht zum geringen Teile die niedere soziale und
kulturelle Stufe, auf der sie leben und aus der es ihnen wegen
ihrer dürftigen Lebensverhältnisse nur sehr schwer fällt, sich
emporzuarbeiten , bilden nicht geringe Hindernisse für einen
engeren Zusammenschluß, eine Erscheinung, die wir auch auf
anderen deutschen Flüssen beobachten können.
Innerhalb der Befrachtungsvereine kann man w'ieder zwei
verschiedene Arten unterscheiden. Entweder sind sie nämlich
selbständige, ausschließlich aus Schiffern bestehende Verbände,
die ihre Mitglieder durch Errichtung eines eigenen Frachtkontors
von berufsmäßigen Frachtvermittlern freimachen und verhüten
wollen , daß der einzelne Privatschiffseigner hilflos unter der
Menge seiner Berufsgenossen und Mitbietenden selbst fracht-
suchend auftreten muß ; oder sie sind solche Verbände, die sich
im Anschluß oder unter dem Schutze von großen Frachtver-
— 149 —
mittlem oder Großschiffahrtsunternehmungen gebildet haben, um
durch letztere lohnende Frachten oder Beschäftigung zu festen
Sätzen zu finden, so daß sie des selbständigen Bietens auf dem
Frachtmarkt überhoben sind.
Diese Zusammenschlüsse innerhalb der Kleinschiffahrt, die
eine Umwandlung der sozialen Stellung der Schiffer einleiteten,
sind eine natürliche Folge der Entwicklung des F"rachtschiffahrts-
geschäftes. Schon in den 70 er Jahren kam unter den Klein-
schiffern der Gedanke auf, sich in den wichtigsten Häfen, vor
allem in Hamburg eigene Befrachtungskontore zu errichten.
In letzterem Hafen bestand zwar an sich schon der Beruf
der Frachtvermittler , der sogenannten Schiffsprokureure oder
Schiffshaupter. Diese aber waren bei dem Aufschwung, den die
Eibschiffahrt genommen hatte, an Zahl sehr bedeutend gewach-
sen, so daß unter ihnen ein sehr starker Wettbewerb um Fracht-
aufträge entstand, in dessen Folge bei ihren steten Unterbietungs-
versuchen die Frachtsätze bedeutend gedrückt wurden, ohne daß
sie selbst davon Schaden gehabt hätten. Denn ihr Verdienst
bestand ja nicht in den Frachtpreisen an sich, sondern nur in
der Differenz zwischen der ihnen bewilligten und der von ihnen an
den Schiffer gezahlten Fracht, soweit sie nicht feste Vermittlungs-
gebühren erhoben. Sanken nun infolge der gegenseitigen Kon-
kurrenz der Frachtvermittler die von den Verfrachtern bewilligten
Preise, so drückten jene wiederum in entsprechendem Maße die
von ihnen an die Schiffer zu zahlenden Vergütungen herab, so
daß, während ihr Verdienst annähernd gleich blieb, den Schaden
die Schiffseigner allein zu tragen hatten. Diesem Uebelstand zu
steuern und die Frachtvermittler zu umgehen, sollten die eigenen
Frachtkontore der Privatschiffer dienen.
Der älteste derartige wirtschaftliche Kleinschifferverband
stammt aus dem Jahre 1871. Damals trat in Dresden ein »Be-
frachtungsverein der Elbeschiffer« zusammen, der einmal eine
reichliche Beschaffung von Frachtaufträgen zu günstigen Fracht-
sätzen erstrebte, und anderseits eine gleichmäßige Beschäftigung
seiner Mitglieder durch Verteilung der Aufträge an sie in der
Reihenfolge ihrer Ankunft oder Anmeldung im Befrachtungshafen
zu bewirken suchte (System der Reihenschiffahrt). Doch dieser
erste Versuch mißlang; nach kurzem Bestehen ging der Verein
wieder ein.
Erst im Jahre 1876 wurde dieser an sich gesunde und Erfolg
— 150 —
versprechende Gedanke von den KlcinschilVern wieder aul'j^^e-
nommen: iS Schitiseigner mit 22 Kähnen und einem Transport-
dampfer vereinigten sich, um für den Verkehr zwischen 1 Lim-
burg und Dresden einen Ladeverband zu begründen. Ihre Stel-
kmg war anfangs eine sehr schwierige und wenig erfolgreiche,
da sie sehr stark gegen die Konkurrenz der Prager Dampfschiff-
fahrtsgesellschaft und der Elb-Dampfschiffahrts-Gesellschaft anzu-
kämpfen hatten, die beide zu jener Zeit noch ausschließlich den
überdies noch ziemlich schwachen Verkehr von Hamburg nach
Sachsen und Böhmen beherrschten. Doch fand er eine starke
Stütze in der Kettenschleppschiffahrts-Gesellschaft, die damals
gerade bemüht war, ihren Verkehr über Magdeburg hinaus bis
Hamburg auszudehnen. Diese trat denn auch, als sie im folgen-
den Jahre 1877 die Frachtschiffahrts-Gesellschaft in sich aufge-
nommen hatte, dem Verbände mit ihrem gesamten eigenen Fracht-
schiffpark als Mitglied bei und stellte ihr eigenes Frachtkontor
unter Leitung des Prokureurs Julius Schott dem Verbände zur
Verfügung. Die Vereinigung legte sich nunmehr den Namen
»Verband Oberelbischer Schiffer« bei und nahm eine Neuorgani-
sation im engsten Anschluß an die Ketten-Schleppschiffahrts-
Gesellschaft vor. Die Mitglieder verpflichteten sich, bei jeder
Bergreise ab Hamburg Ladung nur von dem Frachtkontor der
Gesellschaft zu nehmen und als Schleppkraft sich nur der Dampfer
der verbündeten Gesellschaft zu bedienen : dafür gewährte letztere
den Mitgliedern einen IMeistbegünstigungstarif bei Berechnung
der Schlepplöhne, der eine Ermäßigung von 20 — 25% des Normal-
tarifes darstellte, besorgte unentgeltlich die Einkassierung der
Frachten für die Schiffer, berechnete ihnen nur eine ganz geringe
Gebühr für die Zuweisung der Ladung durch ihr Frachtkontor
und sicherte ihnen schließlich eine reihenweise, gleichmäßige,
schnelle Beladung in Hamburg zu. Auch war den Mitgliedern
die ^lögiichkeit gegeben, besonders günstige Versicherungsver-
träge für Havarieunfälle sowie für unverschuldeten Frachtverlust
abzuschließen. Die Leitung des Verbandes lag in den Händen der
Ketten-Schleppschiffahrts-Gesellschaft im Einvernehmen mit einer
aus fünf Privatschiffern bestehenden Vertrauenskommission; alljähr-
lich mußte mindestens eine Versammlung der Mitglieder stattfinden,
in der die Vertrauensmänner gewählt, Beschwerden vorgelegt
und erledigt sowie etwaige Differenzen zwischen Verbandsschiffern
und der Gesellschaft verhandelt und beigelegt wurden.
151 —
So wurden durch diesen Verband, der eine eigentümliche
Vereinigung von Großschiffahrt und Kleinschiffahrt darstellt, zwei
ganz verschiedene Interessen wahrgenommen. Die Schleppschiff-
fahrts-Gesellschaft sicherte sich eine feste Schleppkundschaft für
ihre Dampfer, und die Schiffseigner erhielten unter den günstig-
sten Bedingungen ohne eigenes Bemühen Frachten zugewiesen,
aus denen die Frachtpreise ihnen voll zuflössen und sofort bar
ausgezahlt wurden.
Dieser Verband, der Ende der 70 er Jahre den Konkurrenten
gegenüber eine starke Macht bildete, wurde das Vorbild zahl-
reicher anderer ähnlicher Verbände. Während der 80er Jahre
war an jede der drei großen Schleppschiffahrtsunternehmungen
ein solcher »Verband Oberelbischer Schiffer« angeschlossen und
arbeitete zur größten Zufriedenheit der Beteiligten. Das aus-
schlaggebende, Forderungen stellende Element in diesen Ver-
einigungen waren fast immer die Kleinschiffer, weshalb man die
Verbände auch mit Recht als wirtschaftliche Kleinschifferorgani-
sationen ansprechen darf. Die Gesellschaften waren fast immer
bemüht, ihren Verbandsschiffern, wie die Mitglieder dieser Ver-
bände genannt wurden, jede, nur einigermaßen billige Konzession
zu machen, um sie nicht an den Verband der Konkurrenzgesell-
schaft zu verlieren. Die Entwicklung des »Verbandes Oberelbi-
scher Schiffer«, der der > Kette« angeschlossen war, zeigt Tab. 55.
Tab. 55.
Entwicklung des >Verbandes Oberelbischer Schiffer«
(unter Leitung der »Kette«)
I.
Jahr
2.
Zahl
der
Mitglieder
3-
Zahl der
Schleppkähne
(mit Einschluß
der Kähne
der »Kette«)
1S77
1879
I88I
1883
1885
1886
1887
1888
1892
16
383
334
287
274
283
243
23
80
460
619
457
401
515
517
461
Gegen Mitte der 80er Jahre trat insofern eine Aenderung
in der Stellung der Verbandschiffer ein, als die Gesellschaften
— 152 —
den Schiffern nicht mehr den wirklichen Betrag der für die be-
förderten Frachtgüter vereinnahmten Frachtpreise auszahlten,
sondern den Schiffern je auf die Dauer eines Jahres für je loo kg
der von der Gesellschaft zur Beförderung erhaltenen Gütermenge
eine bestimmte feste Summe, meist zwischen lo und 15 Pfg.
garantierten und außerdem ihnen das Schleppen ihrer mit Ge-
sellschaftsfracht beladenen Fahrzeuge unentgeltlich gewährten
(System der Anteilsfrachten). Es wurde den Kleinschiffern somit
jedes Risiko abgenommen, welches das Frachtgeschäft durch die
Schwankungen der Frachtpreise, zumal wenn es auf längere Zeit
im voraus abgeschlossen wurde (sog. Schlußfrachten), mit sich
brachte, dafür aber ihre wirtschaftliche Selbständigkeit verringert.
Es kam somit zwischen Gesellschaft und Kleinschiffer eine Art
Mietvertrag betreffs des Schleppkahnraumes zustande, dessen
Wirksamkeit jedoch von der in dem freien Ermessen des Klein-
schiffers stehenden Anwesenheit desselben in Hamburg abhing.
Stets galten diese Schifferverbände nur für die Bergschiffahrt.
Welchen Umfang sie aber auf der Elbe angenommen hatte und
wie groß ihre Bedeutung für die gesamte wirtschaftliche und
soziale Stellung der Kleinschiffahrttreibenden gewesen ist, kann
man aus der Mitglieder- und Schiff'szahl der einzelnen Ver-
bände ersehen, wie sie für das -Jahr 1892 in Tab. 56 wiederge-
geben ist.
Tab. 56.
Mitgliederstand der Schifferverbände, der 3 großen Gesellschaften
imjahrei89 2.
I.
Leitende
Gesellschaft
2.
Zahl der
{1 Mitglieder
3-
Zahl der
Fahrzeuge
»Kette«
»Nord-West«
Verein. Elbsch. Ges.
243
318
310
461
341
330
Summe !| 871 | l 132
Neben diesen Fracht- und Schleppverbänden schlössen die
Gesellschaften — ebenfalls nach Vorbild der > Kette« — auch die-
jenigen Schiff'seigner zu Verbänden oder Vereinen zusammen,
die sich unter Verzicht auf Frachtzuweisung durch die Gesell-
schaft gleichwohl zur ausschließlichen Benutzung ihrer Schlepp-
kraft für die Bergfahrt verpflichtet hatten; doch kann man diese
— 153 —
Vereinigungen kaum als wirtschaftliche Kleinschiffer- Vereine an-
sehen, sie sind vielmehr Organisationsteile der Großbetriebe.
War somit schon frühzeitig und sachentsprechend die Or-
ganisierung der kleinbetrieblichen Bergschiffahrt in Verbindung
mit den Großbetrieben gelungen, so fehlte es lange Zeit voll-
ständig an einer solchen Einrichtung in der Talschiffahrt. Frei-
lich war hier bei der reichlichen und lohnenden Beschäftigungs-
möglichkeit, besonders im Aussiger Kohlenfrachtgeschäft, eine
Zentralisierung anfangs noch kein dringendes Bedürfnis. Ein
solches stellte sich jedoch sofort ein, als infolge Abnahme des
Güterangebotes und Zunahme des Kahnraumangebotes Anfang
der 90 er Jahre auch dieser Geschäftszweig der Eibschiffahrt zu
verfallen drohte.
Die erste Anregung zu einer Organisierung der Talschiffahrt
ging von dem Magdeburger Schiffer- Verein Mitte des Jahres 1894
aus, als sowohl das Berg- wie das Talgeschäft während der
letzten i V2 Jahre eine sehr tief gesunkene und unrentable Kon-
junktur auszuhalten hatte. In einem Zirkular, das dieser Verein
unter den Schiffern verteilen ließ, sagte er : »Der Schiffer, der nicht
mehr selbständig direkt mit dem Kaufmann verkehrt, sondern in der
Erlangung von Ladung von den selbständig frachtabschließenden
Dampfschiffahrts-Gesellschaften, Spediteuren und sonstigen Fracht-
vermittlern abhängig geworden ist, findet hierbei nur so lange
sein Auskommen, als die freie Konkurrenz der Dampfschiffahrts-
Gesellschaft und der Schiffer nicht eine zu große ist. Die Schiff-
fahrts-Gesellschaften sind aber gezwungen, um Beschäftigung für
ihre Dampfer zu erlangen, im Berggeschäft zu fabelhaft billigen
Frachten auf lange Zeit hinaus Abschlüsse zu machen, wodurch
eine gesunde Konjunktur nur in den seltensten Fällen aufzu-
kommen vermag. Um hierin eine Besserung zu schaffen, schlägt
der Verein vor: i. die Bildung eines allgemeinen Vereins der
an der Elbe und Saale ansässigen Schiffseigner und Schiffahrts-
gesellschaften. 2. Errichtung von Schiffahrtsbezirken und Lade-
bureaux unter Oberleitung von Privatschiffseignern längs der gan-
zen Elbe und Saale zum Zwecke der Erlangung von Fracht-
gütern und Erhaltung der Frachtsätze auf einem gesunden Niveau.
3. Errichtung einer gemeinsamen Kasse, welche in erster Linie
den Zweck haben soll, einer zeitweiligen Ueberproduktion an
Kahnraum durch Zahlung von Entschädigungen an diejenigen
Kollegen zu bewirken, die vom Verein veranlaßt werden, ihre
— 154 —
Fahrzeuge still zu legen, und ] Darlehen an würdige Schiffseigner
abzugeben, damit diese nicht, wie es heute häufig vorkommt, in
die Notlage geraten, von einem Frachtabsender, um von ihm
einen Vorschuß zu erhalten, die erste beste ihm zu erbärmlichem
Preise angebotene Ladung anzunehmen.«
Zur Beratung dieses Vorschlages berief der Magdeburger
Schiffer- Verein Anfang Juli 1894 eine Versammlung von 145 Schiffs-
eignern und Gesellschaftsdirektoren ein, in der die Zustimmung
aller Elbschiffahrttreibenden zu dem Projekt festgestellt werden
konnte und eine Kommission zur Vorbereitung und Gründung
der Vereinigung gewählt wurde. Die Gründung erfolgte denn
auch in einer konstituierenden Versammlung am 25. Januar 1895
in Magdeburg. Der Verein legte sich den Namen »Vereinigung
zur Hebung der wirtschaftlichen Lage der Eibschiffahrt <• zu und
wählte zu seinem ersten Vorsitzenden den Schiffseigner Gustav
Tonne, zum zweiten Vorsitzenden den Direktor der »Elbe< und
Schiffseigner Wilhelm Böhme. Man entschloß sich, die Tätigkeit
der Vereinigung mit der Regelung des Aussiger Kohlenfracht-
geschäftes zu beginnen, weil hier ein Eingreifen augenblicklich
am notwendigsten war, und für ein Kohlenfrachtkartell schon
über lOCXD Beitrittserklärungen seit Mitte Januar vorlagen.
Die Wirksamkeit am Aussiger Markte wurde in der Weise einge-
leitet, daß dort zwei Schiffseigner als Prokureure angestellt wurden,
durch die ausschließlich die Mitglieder der Vereinigung ihre Frachten
vermitteln lassen durften. Als Vermittlungsgebühr wurden ^'2 Vo
der Fracht zu gunsten der Vereinskasse erhoben ; für die Fracht-
sätze galten folgende Bestimmungen : Die Kohlenfrachten von
Aussig nach sächsischen Stationen bleiben dem freien Ermessen
der Frachtvermittlungsbeauftragten überlassen; für Kohlenfrachten
von Aussig nach Magdeburg sind 30 Pfg. für ein Doppelhekto-
liter (= 0,56 Pfg. pro tkm) und nach Hamburg 40 Pfg. (28 Pfg.
für 100 kg = 0,41 Pfg. pro tkm) bei vollschiffigem Wasser als
Mindestfracht zu zahlen; bei Abnahme des Wasserstandes er-
höhen sich diese Sätze staffeiförmig. Die Vereinigung trat mit
Eröff"nung der Schiffahrt 1895 i^ Wirksamkeit.
Dieser Minimalfrachtsatz von 30 Pfg. für i Doppelhektoliter
(= 0,56 Pfg. pro tkm) Aussig — Magdeburg war nicht zu hoch
bemessen; er war in den letzten 12 Jahren von 18S1 — 1893 nur
an 22 Tagen als Minimalgrenze erreicht, im letzten Betriebs-
jahre 1894 jedoch, während der Sommermonate infolge sehr
— 155 -
starker Konkurrenz des Kahnraumes zur Regel geworden. Da
in diesen 30 Pfg. aber noch 6 Pfg. Ausladekosten enthalten
waren, die der Empfänger zu tragen hatte, so beliefen sich die
Transportkosten für die Aussiger Kohlenproduzenten in Wirk-
lichkeit nur auf 24 Pfg. für i Doppelhektoliter oder 16 M. für
10 t Aussig-Magdeburg zu Wasser, während sie auf dem Land-
wege mit der Eisenbahn Brüx-Magdeburg 89 M. für 10 t be-
trugen.
Trotzdem bei diesem Satze dem Schiffer nur ein geringer
Verdienst übrig blieb, erhob sich, als mit Schiffahrtseröffnung
1895 die Schiffer geschlossen auf ihren Forderungen bestanden,
eine große Erregung und heftiger Widerstand unter den Aussiger
Kohlenverfrachtern, die gerade im Begriff waren, mit Hilfe der
Regierung zu ihren Gunsten eine amtliche P>achtbörse in Aussig
zu errichten. Der Magdeburger Kohlenhändlerverein , der in
engster Fühlung mit den Aussiger Kohleninteressenten stand,
drohte mit Anschaffung eigener Frachtkähne, worauf der Akener
Schifferverein in Verbindung mit der »Vereinigung« die Gründung
einer Kohlenverkaufsgenossenschaft längs der Elbe ankündigte;
doch blieben beide Maßnahmen unausgeführt.
Bei der Eröffnung der Aussiger Kohlenverfrachtung weigerten
sich fast 1300 Schiffer geschlossen, Frachten unter dem Minimal-
satz anzunehmen; sie drangen auch schließlich den Kohlen-
interessenten gegenüber durch, da diese notgedrungen sich fügen
mußten. Sie richteten jedoch eine Eingabe an die K. K. Bezirks-
hauptmannschaft, infolge deren die Behörde das Frachtvermitt-
lungsbureau der Kohlenfrachtkartelle als gesetzwidrig verbot
und auflöste mit der Begründung, daß es als Winkelbörse anzu-
sehen sei, ein »Eingreifen in die Exekutive« darstelle, und weil
es eine freie Frachtvereinbarung zwischen Ablader und Schiffer
verhindere, eine Frachtvereinbarung zuwider der Elbschiff-
fahrtsakte bilde. Gegen diese behördliche Verfügung legten die
Schiffer Rekurs bei der Statthalterschaft in Prag ein, derselbe
wurde aber abschläglich beschieden, »weil die erwähnte Ver-
einigung ihren gesetzlichen Bestand in keiner Weise nachgewiesen
hat, somit zur Entwicklung einer Tätigkeit hierlands nicht be-
rechtigt bzw. legitimiert erscheint.«
Trotz dieses behördlichen Eingreifens hielten aber die Schiffer
freiwillig unter der Führung der beiden bestellten Frachtver-
mittler des Kartells Gruß und Bergmann zusammen, und setzten
- 156 -
auch weiterhin ihre Forderungen durch. Diese beiden Fracht-
vermittler aber überspannten gegen den Willen des Vorstandes
der :> Vereinigung« aus eigenem Antrieb in Ueberschätzung ihrer
eigenen Macht den Bogen, indem sie nunmehr (Mitte Mai) als
Minimalsatz 40 Pfg. pro i hl Aussig-Magdeburg forderten, wäh-
rend die Kohlenproduzenten gutwillig 35 Pfg. bewilligen wollten.
Am 14. Mai setzten die Schiffer auch diese erhöhte Forderung
durch, trotzdem ihnen aus Schiffer- und wohlwollenden Interes-
sentenkreisen geraten wurde, von ihrer Forderung um 3 — 4 Pfg.
zurückzugehen, um den Kohlentransport auf der Elbe nicht zu-
gunsten der P2isenbahn zu schädigen. Der Vorsitzende des Kohlen-
frachtkartelles berief deshalb für den 12. Juni eine Mitglieder-
versammlung ein zur Besprechung der Aussiger Frachtverhält-
nisse, die zwar von der :> Vereinigung« organisiert, nunmehr aber
durch das selbsttätige Vorgehen ihrer beiden beauftragten P^racht-
vermittler ihrem Einflüsse entzogen worden waren. Es wurde
beschlossen, eine Untersuchungskommission einzusetzen und zu-
gleich mit den Aussiger Kohleninteressenten in Einigungsverhand-
lungen zu treten. Denn die bestehenden Verhältnisse mußten
die Eibschiffahrt schädigen. Bereits 450 000 t Kohlen, die für
die Elbe bestimmt gewesen waren, hatte die Eisenbahn zum
Transport überwiesen erhalten.
In einer am 6. Juli abgehaltenen Versammlung von Schiff-
fahrts- und Kohleninteressenten kam dann auch eine Einigung
zustande: die Kohlenhändler erklärten sich bereit, die von der
»Vereinigung« aufgestellten Minimalsätze bei vollschiffigem Wasser
anzuerkennen, so daß als Grundlage für die Frachtberechnung
30 Pfg. für einen dhl Aussig-Magdeburg bei 56 Zoll Wasser-
stand am Aussiger Pegel gelten sollten. Für Staffelung bei nie-
drigerem Wasserstande wurde vereinbart, daß die PYacht bei
56 — 46 Zoll Wasserstand um V2 Pfg-, bei 46 — 36 Zoll um ^U Pfg.
und bei weniger als 36 Zoll um i Pfg. pro hl und Zoll Wasser-
stand steigen sollte. Alles Uebrige aber sollte in freier Kon-
kurrenz nach Angebot und Nachfrage auf dem Markt sich regeln
und zwar direkt zwischen Kohlenhändlern und Schiffern, mit Aus-
schluß von Vertretern der letzteren.
Somit hatten die Schiffer ihre berechtigten Forderungen
nach hartem Kampfe durchgesetzt und das Kartell seinen Zweck
erreicht. Doch fiel es der Leitung der > Vereinigung« nicht ganz
leicht, ihre Mitglieder zur Anerkennung dieser Vereinbarungen zu
— 157 —
veranlassen. Denn diese hielten fester zu den ehemaligen Fracht-
vcrmittlern der »Vereinigung« als zu ihrem Vorstand, und suchten
noch eine Zeitlang, zum Schaden der Schiffahrt, ihre höheren,
überspannten Forderungen durchzusetzen. Im September erfolgte
dann die behördliche Genehmigung der von den Aussiger Kohlen-
interessenten geschaffenen Kohlenfrachtcnbörse, gegen die wegen
angeblich zu geringer Vertretung der Kleinschifferinteressen sich
die schärfste Opposition der Aussiger Schiffer unter Leitung
ihrer beiden Frachtvermittler Gruß und Bergmann erhob, während
die Magdeburger Leitung der »Vereinigung« sich zustimmend
verhielt. Die Schiffer beschlossen in einer Versammlung, die in
Aussig stattfand, selbständig, die am i. Oktober 1895 eröffnete
Börse nicht zu besuchen und nunmehr als Mindestfrachtsatz
Aussig-Magdeburg 50 Pfg. für i dhl zu fordern. Da sich dem-
gegenüber die sämtlichen Aussiger Kohleninteressenten durch
Unterschrift verpflichtet hatten, bei einer Vertragsstrafe von 100 fl.
innerhalb zw^ei Monaten keinen Schiffer anders als an der Börse
zu chartern, so ruhte in den ersten Wochen des Oktobers die
Kohlcnverfrachtung in Aussig fast gänzlich , bis endlich die
Schiffer nachgeben und ihre Boykottierung der Börse aufgeben
mußten.
Mit der Errichtung und Inbetriebnahme der Aussiger Frach-
tenbörse wurde die Wirksamkeit des Kohlenfrachtkartells sehr
erschwert und beinahe unmöglich gemacht. So bröckelte es
während des Jahres 1896 stark ab und verlief schließlich im
Sande. Dadurch aber ihrer Haupttätigkeit beraubt, löste sich
im Jahre 1897 auch die Magdeburger »Vereinigung zur Förde-
rung der wirtschaftlichen Interessen der Eibschiffahrt« auf. Sie
war für kurze Zeit die stärkste, machtvollste und erfolgreichste
Kleinschiffer-Vereinigung gewesen, die bisher auf der Elbe be-
standen hatte, war aber durch die Disziplinlosigkeit und die blinde
Selbstüberschätzung ihrer Mitglieder ihrer Stoßkraft beraubt
worden.
Obwohl die Verhältnisse für die Kleinschiffahrt in den näch-
sten Jahren insbesondere auch im Kohlenverfrachtungsgeschäft
immer ungünstiger wurden, konnte man sich vorerst doch
nicht nochmals zu einer starken Vereinigung aufraffen. Zwar
fand im Juli 1900 in Aussig die Konstituierung des »Befrachtungs-
Vereins der Elbeschiffer« statt, dem sich Schiffseigner aus Aken,
Aisleben, Dömitz, Roßlau und Königstein mit insgesamt 140 Kähnen
- 15S -
anschlössen, doch hat er niemals eine einflußreichere Wirksam-
keit ausj^^eübt. Seine Mitglieder verpflichteten sich in der Haupt-
sache dazu, sich gegenseitig an der Aussiger Frachtenbörse nicht
zu unterbieten und dadurch die Konkurrenz abzuschwächen. Er
hat bis zum 9. Mai 1906 bestanden, wo er aufgelöst wurde, da
seine Ziele viel einfacher und zweckentsprechender von der Privat-
schiffer-Transport-Genossenschaft erfüllt w'urden.
Ferner fand für das Berggeschäft am 8. März 1909 in Ham-
burg die Gründung der »Binnenschiffahrts-Genossenschaft« statt,
die sich zum Ziel setzte, Transportverträge für die Genossen zu
vermitteln und abzuschließen, sowie anderweitige Verträge einzu-
gehen, durch welche die Schiffseigner Verwertung für ihren
Kahnraum finden. Die Haftsumme jedes Genossen beträgt 10 M.
Ueber die Wirksamkeit der Genossenschaft, die eine Gründung
von Außenseitern der Privatschiffer-TranspoVt-Genossenschaft war,
ist nichts Näheres bekannt geworden, w^oraus wohl zu schließen
ist, daß sie bisher keine hervorragende Bedeutung für das Klein-
schifferge werbe erlangt hat. Das gleiche gilt von der »Genossen-
schaft Mecklenburgischer Kleinschiffer« in Dömitz.
Eine auch die gleichen Ziele verfolgende Genossenschaft
unter dem Namen »Hamburger Ladeverband«, die 1909 gegründet
worden war, löste sich 191 1 wieder auf, nachdem sie es auf
40 Mitglieder gebracht und das Jahr 19 10 mit einem Kassenfehl-
betrag abgeschlossen hatte.
2. Die PrivatschifTer-Transportgenossenschaft.
Tab. 57.
Betriebsergebnisse der Privatschiffer-Transport-Genossenschaft.
I,
2.
3.
4-
5.
6.
Zahl der
Eingezahlte
Geschäfts-
Gewinn-
verteilung für
Gesamt-
Gesamt-
tragfähigkeit
Jahr
Genossen-
schafter
anteile
I Jahrestonne
einnahmen
der
Gen. -Kähne
in I 000 M.
M.
in I 000 M.
in I 000 t.
1904
81S
232
5,56
4 157
438
1905
890
246
4,10
63S6
491
1906
891
241
4,15
6273-
443
1907
693
183
4-50
966
413
1908
666
190
4,55
—
1909
643
186
—
1910
608
181
—
1911
605
179
—
—
1912
575
176
—
—
1913
560
•
—
—
— 159 —
Das Bedürfnis zu einer strafferen und mächtigeren Vereini-
gung der gesamten Privat-Kleinschiffahrt hatte längst vorgelegen
und war allgemein anerkannt, bevor es gelang, eine solche zu
schaffen. Nicht nur die Kleinschiffer selbst waren sich über die
Notwendigkeit eines starken Zusammenschlusses ihrer Kräfte zum
Schutze gegen den allgemeinen Verfall ihres Standes einig, son-
dern es lag auch im Interesse der Großschiffahrt, eine Organi-
sationsstelle zu besitzen, durch die sie mit der Kleinschiffahrt
Verträge und Vereinbarungen zur Herabminderung einer alle
schädigenden, niemand aber nützenden Konkurrenz treffen konnte.
So ist es vor allem die »Kette« gewesen, die früher wiederholt
im Einverständnis mit den übrigen Gesellschaften sich be-
müht hatte, eine Einigung und Organisierung der Kleinschiff-
fahrt herbeizuführen, jedoch lange Zeit ohne Erfolg. Schon wäh-
rend des ganzen Jahres 1903 hatte der 1900 gegründete »Zentral-
ausschuß der Schiffervereine« Verhandlungen einerseits zur Ver-
einigung aller Eibschiffseigner, andererseits zum Anschluß solcher
Vereinigungen an das im Jahre 1903 geplante Kartell aller Elb-
schiffahrts-Gesellschaften gepflogen. Im April 1903 erschien in
allen Schifferzeitungen ein Aufruf zur Gründung einer Finanzge-
meinschaft aller Privatschiffseigner der Elbe, die ^3 des Fracht-
schiffsparkes der Elbe besäßen.
Da gab die plötzliche Fusionierung der 3 großen Elbschiff-
fahrts-Unternehmungen im Jahre 1903^) das Signal zur Gründung
eines einheitlichen, mächtigen Unternehmens der Privatschiffseigner,
das bestimmt war, ihre Interessen mit Nachdruck wahrzunehmen und
die ihnen vermöge ihrer zahlenmäßigen Uebermacht zukommende
Stellung in der Elbschififahrt durch ein geschlossenes Auftreten
auch äußerlich zum Ausdruck und zur Anerkennung zu bringen.
Für den 25. Januar 1904 rief der »Zentralausschuß der Schiffer-
vereine« in Magdeburg eine allgemeine Versammlung der Privat-
schiffseigner ein, in der man nach langer, heftiger Debatte die
Gründung einer Wirtschaftsgenossenschaft beschloß, die nicht mit
den bestehenden Schleppschiffahrtsunternehmungen oder Spedi-
teuren in Konkurrenz treten, sondern lediglich »mit leerem Kahn-
raum handeln« sollte. Es erklärten sofort über 500 Schiffseigner
schriftlich ihren Beitritt zu der Genossenschaft, deren Satzung
von dem »Zentralausschuß der Schiffervereine« ausgearbeitet werden
sollte. Letzterer begründete daraufhin am 3. Februar 1904 in
I) Vgl. S. 185 ff.
— i6o —
Schönebeck die beschlossene Wirtschaftsgenossenschaft unter dem
Namen der »P r i v a t s c h i f f e r- T r a n s p o r t - G e n o s s e n-
schaft«, der socjleich bei ihrer Gründung Soo Fahrzeuge von
Kleinschiffern zur Verfügung standen, die ausnahmslos längs der
ganzen Elbe bis nach Böhmen hinein, jedoch nicht an den mär-
kischen Wasserstraßen beheimatet waren. Die Organisation der
Genossenschaft ist aus den folgenden Bestimmungen der Satzung
zu ersehen :
Ȥ 2. Gegenstand des Unternehmens ist:
a) Der Abschluß und die Durchführung von Schiffstransportgeschäften auf Binnen-
gewässern mittelst gemeinschaftlichen Geschäftsbetriebes, sowie die Beteiligung
an Schiffahrtsunternehmungen ;
b) Besprechung und Vertretung gemeinsamer Interessen.
§ 4. Mitglied der Genossenschaft kann jeder volljährige geschäftsfähige
Schifiseigner werden ; der :
a) die bürgerlichen Ehrenrechte besitzt und sich durch Verträge selbständig ver-
pflichten kann,
b) bedingungslos bei dem Genossenschaftsvorstande die Mitgliedschaft durch
Unterzeichnung einer Beitrittserklärung beantragt.
Die Aufnahme geschieht durch den Vorstand, Dem vom Vorstand Abge-
wiesenen steht die Berufung an die Generalversammlung offen.
Nach Ablauf der ersten zwei Geschäftsjahre steht dem Vorstande frei, nur
solchen Schiffseignern die Mitgliedschaft zu gewähren, welche mindestens 33 % des
Wertes ihrer Kähne als eignes Vermögen nachweisen.
§ 6. Die Mitgliedschaft kann nur schriftlich mit zweijähriger Kündigungs-
frist zum Schluß eines Geschäftsjahres gekündigt werden.
§ 9. Die Mitglieder dürfen ihre Fahrzeuge weder an Schiffahrtsgesellschaften,
noch an andere Unternehmer vermieten oder verchartern, noch sich mittelbar oder
unmittelbar an einem der Genossenschaft gleichen Unternehmen ohne Genehmigung
der Generalversammlung beteiligen.
Während der Mitgliedschaft dürfen die Genossenschafter ihre Fahrzeuge an
Schiffahrtsgesellschaften ohne ausdrückliche Genehmigung des Vorstandes überhaupt
nicht, an Privatschiffer oder andere Personen aber nur unter der Bedingung ver-
kaufen, daß die Käufer in die Genossenschaft eintreten.
§ II. Der Geschäftsanteil beträgt 20 Mark. Jeder Genosse ist aber ver-
pflichtet, soweit er einen Kahnraum von mehr als Soo Ztr. als Eigentümer besitzt
oder in seinem auf Schiffahrt gerichteten Betriebe benutzt, für je weitere 800 Ztr.
= 40 Tonnen Tragfähigkeit einen weiteren Geschäftsanteil zu er%verben. Beim
Erwerb des ersten Anteils ist die Anzahl der vom Genossen insgesamt zu erwer-
benden Anteile festzulegen und das Mitglied die hierzu erforderlichen Angaben zu
machen verpflichtet. Die höchst zulässige Zahl der Geschäftsanteile für den ein-
zelnen Genossen beträgt 120.
Der erste Geschäftsanteil ist beim Eintritt in die Genossenschaft bar ein-
zuzahlen. Von den weiteren durch die Genossen nach Verhältnis der Tragfähigkeit
ihres Kahnraumes zu erwerbenden Geschäftsanteilen sind zu erwerben und bei jeder
einzelnen Anmeldung bar zu errtrichten :
— i6i —
a) 4 Geschäftsanteile innerhalb des ersten Geschäftsjahres,
b) weitere lo Geschäftsanteile im Laufe des zweiten Geschäftsjahres, falls aber
nach der Größe des Kahnraumes weniger als insgesamt 15 Geschäftsanteile
zu erwerben sind : der geringere Rest der Geschäftsanteile ,
c) der etwaige Rest der Geschäftsanteile im Laufe des dritten Geschäftsjahres.
§ 12. Die Haftsumme für jeden Geschäftsanteil beträgt 20 Mark und er-
höht sich auf das der Zahl der Geschäftsanteile entsprechende Vielfache der Haft-
summe bei der Beteiligung mit mehreren Geschäftsanteilen.
§ 41. Der Jahresüberschuß fließt nach den Bestimmungen des § 36 zu ^/a %
in den Reservefond, der verbleibende Betrag des Reingewinnes wird , soweit nicht
von der Generalversammlung die anderweitige Verwendung beschlossen wird, den
Mitgliedern nach Verhältnis ihrer Beteiligung am gemeinschaftlichen Geschäfts-
betriebe zugeteilt.
Als Maßstab für die Gewinnverteilung dienen :
a) die von der Genossenschaft ermittelte wirkliche Tragfähigkeit der Fahrzeuge
bei einem Tiefgang bis zu 1,80 m;
b) derjenige Zeitraum , nach Tagen festgestellt , in welchem die Genossenschaft
die ihr überwiesenen Fahrzeuge im Betriebsjahre wirtschaftlich zu benutzen
in der Lage war , und zwar ohne Rücksicht darauf, ob die Benutzung statt-
gefunden hat.
Bei Feststellung des Zeitraumes der Beteiligung eines Genossenschafters am
gemeinschaftlichen Geschäftsbetriebe sind diejenigen Tage, an welchen das oder
die Fahrzeuge wegen Vornahme von Reparaturen vorübergehend aus dem Ge-
schäftsbetriebe ausscheiden mußten, von der ermittelten Tageszahl in Abzug zu
bringen. Wegen derjenigen Reparaturen, welche die Ladungsfähigkeit des
Fahrzeuges nicht hindern, oder welche auf eine Beschädigung im Betriebe zu-
rückzuführen sind, findet ein Ausscheiden aus dem Geschäftsbetriebe nicht statt.
Derjenige Laderaum eines Fahrzeuges, welcher bei einem Tiefgange von
1,80 m noch vorhanden ist, soll bei der Gewinnberechnung nur mit 20 O/^j in
Ansatz kommen, und zwar nur für die jetzt der Genossenschaft angehörenden
Mitglieder.
Derjenige Genossenschafter, welcher im Laufe des Geschäftsjahres sein
Fahrzeug oder seine Fahrzeuge entgegen der Bestimmung im § 9 ohne Ge-
nehmigung des Vorstandes an Schiffahrtsgesellschaften oder an solche Per-
sonen verkauft hat, welche nicht in die Genossenschaft eintreten, verliert
seinen Anspruch auf Gewinnanteil in der Höhe , als das oder die verkauften
Fahrzeuge am gemeinschaftlichen Geschäftsbetriebe des laufenden Jahres be-
teiligt waren.
Ebenso hat derjenige Genossenschafter für das laufende Jahr keinen An-
spruch auf Gewinnanteil , welcher ohne Erlaubnis des Vorstandes eine Reise
auf eigene Rechnung abmacht.
Die Gewinnverteilung kann für die verschiedenen Klassen der Fahrzeuge in
dem Maße gesondert vorgenommen werden, wie dies die Geschäftsordnung ver-
schreibt.«
Zur näheren Ausführung dieser Satzungen erUeß die Genossen-
schaft eine Geschäftsanweisung von 32 §§, deren wichtigste nach-
stehend mitgeteilt seien :
Zeitschrift für die gas. Staatswissensch. Ergänzungsheft 50. I I
— l62 —
>8 I. Die Genossenschafter sind verpflichtet, ihre Fahrzeuge ohne Ausnahme
sofern sie sich für den Geschäftsbetrieb der Genossenschaft eignen — , in den
Dienst der Genossenschaft zu stellen, und zwar zur freien Verfügung derselben.
§ 2. Keinem Genossenschafter steht das Recht zu, sein Fahrzeug oder
seine Fahrzeuge im eigenen Interesse zu verwenden, auch in dem Falle nicht, wenn
Reisen nach Wasserstraßen gemacht werden sollen, welche zur Zeit noch nicht zum
Geschäftsbereich der Genossenschaft gehören.
§ 5. Ueberschüssiger leerer Kahnraum kann anderen Stationen auf Kosten
der Genossenschaft zu beliebiger Verwendung überwiesen werden.
§ 9. Zu den durch Havereien entstehenden Kosten, und zu Hilfslöhnen usw.
leistet die Genossenschaft keinen Beitrag, auch in dem Falle nicht, wenn ein Fahr-
zeug im regelmäßigen Verlauf der Reise fest geworden und zur Flollmachung des-
selben Dampferhilfe angenommen ist.
§ IG. Die Genossenschafter haften auch für die gesetzlich zu vergütenden
Mancos.
Die Fracht für übergeliefertes Gut gebührt der Genossenschaft.
§ 14. Die Löhne für die Schiffsbesatzung trägt die Genossenschaft. Der
Anspruch der Genossenschafter auf Zahlung der Löhne erstreckt sich nur auf die-
jenigen Zeiträume, in welchen die Fahrzeuge wirtschaftlich benützt werden konnten.
Mit dem Tage, an welchem ein Fahrzeug in den Winterstand überführt wird, endet
der Lohnanspruch. Für die Zeit einer solchen Außerbetriebstellung ist aber für
jedes Fahrzeug der 120 Mark betragende Steuermannslohn weiter zu zahlen.
§ 21. Für die Zeit der Reparaturen haben die Genossenschafter — soweit
die außer Dienst gestellten Fahrzeuge in Frage kommen und eine Beschädigung
im Betriebe nicht vorliegt — keinen Anspruch auf Lohn und auf den von der
Genossenschaft erzielten Gewinn.
§ 23. Die Kosten der Versicherung der Fahrzeuge sowie die Kranken-,
Unfall-, Invaliditätsversicherungsbeiträge haben die Genossenschafter selbst zu zahlen.
§ 26. Die Genossenschafter dürfen nach Einstellung des Betriebes Reisen
auf eigene Kosten nicht machen.«
Aus der Satzung und der Geschäftsanweisung ersieht man,
daß die Organisation der Genossenschaft eine sehr straffe und
zentralisierte war, und dem fünfghedrigen Vorstand, der neben
Tantieme ein festes Jahresgehalt bezog, weitgehende Machtbefug-
nisse eingeräumt waren. Die Genossenschaft trug anfangs deut-
lich den Stempel einer Kampforganisation (vgl. § 9 der Satzung).
Zur besseren Ausnutzung des ihr unterstellten Kahnraumes er-
richtete die Genossenschaft längs der ganzen Elbe Befrachtungskon-
tore, die Frachtverträge abschlössen und täglich die Zentrale über
Angebot und Nachfrage an den einzelnen Schiffahrtsplätzen unter-
richteten und an deren Anordnungen die Schiffseigner gebunden
waren.
Die eigentliche konstituierende Versammlung fand am 11 . Fe-
bruar statt, am 14. ^^lärz erfolgte nochmals eine kleine Statuten-
änderung und am i. April 1904 wurde der Betrieb eröffnet. So-
- i63 -
fort mit Auftreten der Genossenschaft auf der Elbe stiegen die
damals sehr geringen Frachtsätze an allen Elborten um 8 — 25%,
was jedoch auch zum Teil der zu gleicher Zeit ihre Wirksamkeit
aufnehmenden neuen Fusionsgesellschaft der 3 Schiffahrtsgroß-
betriebe zugeschrieben werden muß. Die Organisation bewährte
sich in jeder Weise. Das zeigte sich hauptsächlich im Herbst
1904, als eine so andauernde Wasserarmut der Elbe eintrat, daß
die Schiffahrt fast 2 ]\Ionate gänzlich lahm gelegt wurde. Einen
solchen Schlag hätte die Privatschiffahrt ohne den genossenschaft-
lichen Zusammenschluß kaum überstehen können, viele Hundert
von Existenzen wären damals zugrunde gegangen. Diese Notlage
wurde damals von der Genossenschaft mit gutem Erfolg abge-
wendet. Es konnten sogar am Ende des Betriebsjahres an jeden
Schiffer pro Jahrestonne seines Kahnraumes 3.56 M. zur Aus-
zahlung gebracht werden, was z. B. für einen Schleppkahn von
600 t eine Jahreseinnahme von 2186 M. ausmachte.
Welchen bedeutenden Umfang der Geschäftsbetrieb der
P.Sch.T.G. in diesen und dem folgenden Jahre annahm, ist aus
Tab. 58 zu ersehen.
Tab. 58.
Betriebsergebnisse der Privatschiffer-Transport-
Genossenschaft 1904 — 1907.
I.
2.
3-
4-
5-
6.
7-
Tragfähigkeit
Frachtleistung
Jahr
der
Anteil am
Fracht-
Betriebs-
Betriebs-
Geno^senschafts-
Gewicht
Gesamt-Elb-
Fracht-
einnahmen
ausgaben
überschuß
kähne
verkehr
t
1000 t
%
1000 M.
1000 M.
1000 M.
1904
438 769
4 154
2574
I 572
1905
491 622
3 066
30
6385
4250
2035
1906
443 000
3 146
31
6 260
4423
I 850
1907
413 166
~
107
1859
Daß der einzelne Schiffer aber durch die Genossenschaft
nicht vollständig machtlos und entrechtet wurde, kann man dar-
aus ersehen, daß im Frühjahr 1905 die Generalversammlung der
Genossen die Leitung gegen deren Willen zwang, schon am
25. Februar mit Zahlung der Steuermannslöhne zu beginnen und
von Anfang März an den gesamten Kahnraum in Betrieb zu
nehmen, obwohl erst Ende März das eigentliche Frachtgeschäft
seinen Anfang nahm.
II*
— 164 —
Im allgemeinen war für die gesamte Eibschiffahrt wie für die
P.Sch.T.G. das Jahr 1905 ein recht zufriedenstellendes, da nach
längerer Zeit der Not und des heißesten Konkurrenzkampfes
zwischen sämtlichen Großunternehmern und der Genossenschaft
ein h'racht- und Schleppkartell zustande kam. Mit Recht traute
jedoch letztere dem augenblicklichen Frieden nicht. Sie schloß,
um sich für ihren bedeutenden Kahnraum die nötige Schlepp-
kraft für alle Fälle zu sichern, mit der »Elbe^ ein Sonderabkom-
men für mehrere Jahre ab und brachte überdies auf Grund des
sehr günstigen Angebots der Witwe eines früheren Schiffseigners
1008 Stück Aktien der »Deutsch-Oesterreichischen«: in ihren Be-
sitz, wodurch sie die Majorität in der Generalversammlung dieser
Gesellschaft erlangte und somit deren Schleppkraft sich sicherte.
Diese letztere Maßnahme kam der Genossenschaft sehr zu
statten, als nach günstigem Geschäftsabschluß 1905 — es ge-
langten 1,125 Pfg. pro Tagestonne (4.10 M. pro Jahrestonne) zur
Verteilung — im Frühjahr 1906 das Kartell gekündigt wurde,
und noch einmal ein sehr heißer Konkurrenzkampf zwischen der
»Vereinigten«: und der P.Sch.T.G. entbrannte. Doch genügte die
der Genossenschaft vertraglich zur Verfügung stehende Schlepp-
kraft nicht für ihren Kahnraum, sodaß ihr, zumal im Herbst wäh-
rend der Hauptgeschäftsperiode die Bootsleute in Ausstand tra-
ten, bei den tiefgesunkenen Frachtsätzen bedeutende Jahresein-
nahmen besonders im Berggeschäft entgingen.
Um diesem Zustand ein Ende zu machen trat man Anfang des
Jahres 1907 mit den »Vereinigten« auf Grund sehr günstiger Bedin-
gungen in Verhandlungen. Diese führten am 7. Mai zum Abschluß
eines Vertrages, durch den die Genossenschaft und die > Vereinigten <
unter Leitung der letzteren eine vollständige Betriebsgemeinschaft
eingingen. Auf die näheren Bestimmungen des Vertrages wird bei
Besprechung der Schiffahrtsvereinigung von 1907 — 1912 einzu-
gehen sein ^). Hier sei nur erwähnt, daß sämtliche Rechte und
F'unktionen der Genossenschaft ihren Mitgliedern gegenüber, auf
die »Vereinigten« übergingen, in deren Aufsichtsrat ein Mitglied
des Vorstands der Genossenschaft als Vertrauensmann eintrat.
Die Genossenschaft stellte jede selbständige Geschäftstätigkeit ein.
Der Vertrag, der ursprünglich bis 1916 gelten sollte, wurde später
auf die Zeit bis Ende 191 2 verkürzt. Die Betriebsgemeinschaft
trat in ihrem vollen Umfange vertragsweise am i. Januar 190S
i) Vgl. S. 192.
— i65 —
in Geltung, doch war sie tatsächlich schon während mehrerer
Monate des Jahres 1907 in Kraft. Dieses Zusammengehen mit
der Großschiffahrt brachte der Genossenschaft, wohl infolge des
fast typischen Mißtrauens der KleinschilTer gegen die großen Ge-
sellschaften, eine nicht unbeträchtliche Einbuße an Mitgliedern,
deren Zahl von 891 im Jahre 1906 auf 693 im Jahre 1907, 643
im Jahre 1909 und 570 im Jahre 191 3 sank (vgl. Tab. 57). Je-
doch ist dazu zu bemerken, daß seit dem Pachtvertrag von 1908
keine neuen Mitglieder mehr aufgenommen wurden, dagegen auch
Austritte von Genossen, die das Schiffahrtsgewerbe noch be-
trieben, nicht stattgefunden haben. Der Abgang ist somit durch
Tod, Ausschluß und Aufgabe des Schiffahrtsbetriebes oder Ueber-
nahme von Anteilen durch Genossenschafter, die der Genossen-
schaft bereits angehörten, zu erklären. Immerhin zählte die Ge-
nossenschaft im Jahre 191 3 schätzungsweise noch die Hälfte aller
an der Elbe beheimateten Privatschiffer zu ihren Mitgliedern.
Die finanziellen Ergebnisse waren nicht ungünstig: es wurden
1907 4.50 M., 1908 4.55 M. und 1909 4.50 M. pro Jahrestonne an
die Genossen zur Auszahlung gebracht, wobei aber zu beachten
ist, daß die Genossen nach den neuen Verträgen die Löhne der
SchilTsmannschaft selbst zu bestreiten hatten.
Nach Ablauf des Pachtvertrages mit den »Vereinigten« am
31. Dezember 191 2, hat die Genossenschaft bisher einen selb-
ständigen eigenen Betrieb noch nicht wieder aufgenommen, ohne
sich jedoch des satzungsmäßigen Rechtes, denselben später wie-
der einzurichten, begeben zu haben. Es herrschte während des
Jahres 191 3 eine sehr günstige Geschäftslage, sodaß alle Schiffer
günstige Frachten fanden. Kommen jedoch wieder ungünstige
Zeiten, so wird voraussichtlich die Genossenschaft zum Wohle
der Privatschitter ihren zentralisierten Betrieb wieder aufnehmen.
Ueber die jetzige Tätigkeit der Genossenschaft geben folgende
Paragraphen der neuesten Geschäftsanweisung der Genossen-
schaft Auskunft :
§ I. Der gemeinschaftliche Geschäftsbetrieb soll — abgesehen von der Be-
teiligung an anderen Schiffahrtsunternehmungen — bis auf weiteres durch Ver-
mittlung von Frachtgeschäften für die einzelnen für ihre eigene Rechnung fahrenden
Mitglieder ausgeübt werden.
§ 2. Die Vermittlung der Frachtgeschäfte für die Mitglieder erfolgt durch
die Genossenschaft bez. deren Vertreter. Eine Verpflichtung, sich dieser Ver-
mittlung zu bedienen, besteht für die Mitglieder jedoch nicht.
§ 3. Auf den verschiedenen Stationen wird seitens der Genossenschaft ein
— i66 —
Meldebuch geführt, in welches die Mitglieder in der Reihenfolge ihrer Ladebereit-
schaft eingetragen werden; die Abgabe der Fahrzeuge zur Beladung erfolgt tunlichst
in der Reihenfolge der Eintragungen.
Weigert sich ein Mitglied, an ilem die Reihe ist, die ihm zur Verschiffung
angebotenen Güter zur Tagesfracht einzuladen, so wird sein Name in der Melde-
liste gelöscht, und es steht ihm frei, sich anderweit Ladung zu suchen.
Auf Wunsch kann sein Name in der Meldeliste an letzter Stelle wieder vor-
gemerkt werden.
Hat ein in der Meldeliste vorgemerktes Mitglied ohne Vermittlung der Ge-
nossenschaft eine Reise abgemacht, so hat es dies an der Meldestelle, bei der es
eingetragen ist, unverzüglich zu melden , damit sein Name in der Meldeliste ge-
strichen werden kann.
§ 4. Zur Deckung der durch die Vermittlung der Frachtgeschäfte ent-
stehenden Unkosten haben die Mitglieder an die Genossenschaft bez. für diese an
das von der Genossenschaft mit Vermittlung von Frachtgeschäften betraute Schiff-
fahrtsunternehmen eine Maklergebühr von i % des Frachtbetrages zu entrichten.
§ 5. Im übrigen sind die Mitglieder in bezug auf die Ausführung der Trans-
porte als selbständige Unternehmer , also als unabhängig von der Genossenschaft
zu betrachten.
In der P.Sch.T.G. war endlich nach langer I\Iühe eine zweck-
mäßige Organisation für einen großen Teil der Kleinschiffahrt
gefunden worden, die zwar in ihrem Gedeihen, wie jede derartige
Organisation, gute und weniger günstige Zeitabschnitte aufweisen
wird, die aber in absehbarer Zeit kaum wieder einmal gänzlich
verschwinden wird, weil sie eine wirtschaftliche Notwendigkeit
ist. Auch für die Eibschiffahrt gilt die Erfahrung, die man auf
vielen anderen Gebieten des Wirtschaftslebens gemacht hat, daß
Gewerbe, die für die Volkswirtschaft notwendig sind, aber scharf
um ihre Existenz zu kämpfen haben, nur durch genossenschaft-
lichen Zusammenschluß sich lebensfähig erhalten und zu einem
Machtfaktor des modernen Wirtschaftslebens gestalten können.
Es ist nur notwendig, daß sich stets energische und weitschauende
Kräfte für die Leitung der Genossenschaft finden, um die im
Elbschiffahrtsgewerbe vorhandenen Gegensätze und Sonderinter-
essen zu überwinden und zu unterdrücken.
II. Kapitel.
Die Kartellbestrebungen in der GroßschifTahrt.
I. \Vesen der Kartelle.
Die Verbindungen und Vereinigungen der Betriebe in der
Großschiffahrt sind nach Konstruktion und Zweck von denjenigen
in der Kleinschiffahrt wesentlich verschieden. Die Organisierung
- i6; -
der Beteiligten ist hier bedeutend leichter und infolgedessen auch
häufiger anzutreffen, weil in der Großschiffahrt in einem Kartell
viel weniger Einzelbetriebe vorhanden sind, mit denen zu ver-
handeln ist.
Es hat daher in der Eibschiffahrt eine große Anzahl der
verschiedensten Vereinigungen und Kartelle während der letzten
40 Jahre gegeben, die ihr VVirkungsfeld bald auf ganz eng um-
grenzte Gebiete eines Schiffahrtsgeschäftes beschränkten, bald es
so erweiterten, daß sie einer einheitlichen Betriebsgemeinschaft
sich stark näherten oder auch zu einer solchen wurden.
Die natürliche Voraussetzung der Schiffahrt, der Wasserweg,
ist frei und nicht an das monopolverleihende Recht des Eigen-
tums oder Besitzes einzelner Unternehmer gebunden. Daher liegt
es in der Natur der Schiffahrt, daß in ihr Kartelle, die alle Be-
teiligten umfassen, fast unmöglich, jedenfalls viel schwerer durch-
zuführen sind, als in mancher anderen Gewerbeart. Denn hier
ist die Aufnahme eines Betriebes, sowie das Eingehenlassen eines
solchen ein viel einfacheres, leichteres Unterfangen als auf vielen
anderen Wirtschaftsgebieten, z. B. etwa in der Kohlenproduktion,
bei der die Anlage einer Zeche ein kostspieliges und langwie-
riges Unternehmen ist, das zudem noch an einen festen bestimm-
ten Produktionsort gebunden ist; daher ist die Zahl derartiger
Betriebe und Unternehmer viel weniger schwankend und eine
bedeutend sicherere als in der Schiffahrt.
Hierzu kommen noch bei letzterer die zahlreichen, unter sich
verschiedenen und sich oft gegenseitig sich bekämpfenden Interessen
und Ziele, die bei der Ausübung der Schiffahrt verfolgt werden. Hier
steht auf der einen Seite der gewerbsmäßige Klein- oder Großschiffer,
dem die Schiffahrt selbständiger Endzweck bei seinem Streben nach
Unterhalt und Gewinn ist. Ihm tritt der Kaufmann und der indu-
strielle Unternehmer gegenüber, der die Schiffahrt nur als Trans-
portmittel für seine Waren, Rohprodukte und Erzeugnisse ansieht,
mit deren Hilfe er den Marktwert zu erhöhen sucht. Und zwischen
beiden steht als dritte Interessentengruppe der Spediteur und Fracht-
spekulant, dem die Schiffahrt nur das Mittel zu dem Zwecke ist, durch
Vermittlung des Verkehrs zwischen Schiffer und Befrachter sich
Verdienst zu verschaffen. Er ist der natürliche Gegner des ge-
werbsmäßigen Schiffers, weil er diesen um einen Teil desjenigen
Preises und Wertes zu bringen sucht, den seine Arbeit auf dem
freien Markte der Volkswirtschaft besitzt, und der als angemesse-
— i68 —
ner Lohn seiner Arbeit von anderen Gliedern der Volkswirtschaft
ihm zugebilligt wird.
So lassen sich denn auch die Kartelle in der Eibschiffahrt
von verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachten und gruppieren.
Einmal haben sie sich unterschieden nach den Gegnern, gegen
die sie gerichtet waren. Im allgemeinen kann man sagen, daß
für die Großbetriebe in der Regel die Großbetriebe selbst mit
ihrem dauernden gegenseitigen Unterbieten die ärgsten Feinde
gewesen sind, und daß sich hiergegen die meisten Vereinigungen
richteten, die durch vertragliche Vereinbarungen die sie alle
schädigende, keinem aber nützende Konkurrenz auszuschalten
suchten. Doch geschah dies meist dadurch, daß man sich ge-
schlossen gegen einen einzelnen Dritten wendete, der bisher aus
den ungesunden Konkurrenzverhältnissen Nutzen gezogen hatte;
so z. B. gegen die Kleinschiffer, wenn sich die Großbetriebe über
gleichmäßige Berechnungsmethoden für Fracht- und Schlepplöhne,
über gleiche Schleppbedingungen usw. einigten. Andererseits
sind auch zahlreiche Kartelle gegen die Frachtkundschaft ge-
richtet gewesen, der man seinen einheitlichen Willen z. B. über
Verfrachtungs-, Lösch- oder Lagerbedingungen, über Haftung für
Naturereignisse und ähnliches aufzwingen wollte.
Nach der Form haben die Kartelle die mannigfaltigsten Ver-
schiedenheiten aufgewiesen, je nachdem sie nur unverbindliche
Verabredungen ohne Zwang zur Durchführung des Vereinbarten
darstellten, oder in vertraglichen Abmachungen mit rechtlichem
Verwirklichungsanspruch bestanden. Bei letzterer Form lag die
Ausführung und Anwendung der Kartellbestimmungen entweder
den einzelnen Betrieben oder Unternehmungen selbst jedoch
unter Ueberwachung einer oberinstanzlichen Kontrollstelle ob,
oder aber man schuf eine beschränkte Betriebsgemeinschaft der
Vertragschließenden, deren Leitung in der Hand eines eigenen
Organs ruhte, dessen Anordnungen die Einzelunternehmungen sich
fügen mußten. Letztere stellt die straffste Form der Vereini-
gung verschiedener Betriebe dar.
Nach ihrem Geltungsgebiete lassen sich die Elbschiffahrts-
kartelle, entsprechend dem Charakter der Eibschiffahrt, in Fracht-
oder Schleppkartelle, erstere wieder in solche für den Berg- oder
Talverkehr oder in Kartelle für besondere Güterarten, z. B. böhmi-
schen Zucker, Getreide oder Petroleum einteilen. Diese Unter-
scheidung ist um so wichtiger, als es nicht selten vorgekommen
— 169 —
ist, daß die Gesellschaften für einen Teil des Verkehres, z. B.
etwa für den Talverkehr Verträge abschlössen, während sie sich
zu gleicher Zeit auf anderen Gebieten, z. B. im Bergfracht- und
Schleppverkehr, heftig bekämpften.
Schließlich sei noch auf die Verschiedenheit der Zwecke
hingewiesen, die bei Bildung von Kartellen bestimmend gewesen
sind. Man hat vielfach versucht, die Eibschiffahrt in ihrer Ge-
samtheit durch Vereinbarungen und Verträge zu stärken und zu
fördern, indem man ihr einerseits neue, umfangreiche Güter-
mengen zuzuführen, andererseits durch zweckmäßige Organisation
des Verkehres ihre Leistungen und ihre Konkurrenzfähigkeit zu
steigern suchte. Indessen war der Hauptzweck der meisten
Vereinbarungen auf der Elbe die Aufbesserung der Frachtmarkt-
preise, zu welchem Zwecke man die verschiedensten Mittel er-
griffen hat. Eines der häufigsten bestand in der Beeinflussung
des Marktes durch Regulierung des Kahnraumangebotes, in dem
man entweder durch eine vertragsmäßige, gleichmäßige Vertei-
lung der vorhandenen Gütermengen jedem der Vertragschließen-
den einen Anteil am Gewinn zu verschaffen suchte, oder indem
man den überzähligen und deshalb preisdrückenden Kahnraum
vom Markte abzog, ihn entweder an anderem Orte zu beschäftigen
suchte oder ihn zeitweise ganz außer Betrieb setzte. Wunderbar
ist, daß niemals eine Bestimmung in die Kartellverträge aufge-
nommen worden oder wenigstens eine solche nicht bekannt ge-
worden ist, welche die Mitglieder verpflichtete, ihren Kahnraum
während eines bestimmten Zeitraumes nicht zu vermehren. Hier-
durch würde das Grundübel der Elbschiff"ahrt an der Wurzel er-
faßt worden sein, wie früher ausführlich dargelegt worden ist.
In dieser Beziehung ist viel von den Privatschiffern gesündigt
worden und wird noch heute gesündigt ; aber auch die Großbe-
triebe sind nicht von dem Vorwurf frei zu sprechen, daß sie
ohne wirtschaftliche Notwendigkeit, nur aus augenblicklicher Macht-
und Konkurrenzpolitik heraus, ihren Kahnraum oft in übertriebener
Weise vermehrt haben.
2. Die Kartelle bis zum Jahre 1903.
Die 70 er Jahre sind verhältnismäßig arm an Vereinigungen
und Verbindungen unter den Schiffahrts-Großbetrieben. Der
Grund hierfür liegt in erster Linie in der geringen Zahl von Be-
trieben, zwischen denen Kartelle hätten zustande kommen können.
- 170 —
Bestand doch damals im strengen Sinne nur ein einziges Unter-
nehmen, das wir nach unserem heutigen Maßstab als Großbetrieb
ansprechen würden: die Ketten-Schleppschiffahrts-Gesellschaft der
Oberelbe. Die anderen Gesellschaften wie die »Prager Dampf-
und Segel-Schiffahrts-Gesellschaft , die »Vereinigte Hamburg-
Magdeburger Dampfschiffahrts-Koinpagnie«, und die »Elb-Dampf-
schiffahrts-Gesellschaft« waren Unternehmen zweiter Größe und
von untergeordneter Bedeutung. Aber es lag auch kein dringen-
des Bedürfnis für Kartellbildungen bei der Eibschiffahrt vor. Die
Einzelunternehmungen hatten ihre besonderen Verkehrsgebiete
und besondere Geschäftszweige, bei deren Ausübung sie nur
selten miteinander in Kollision kamen. Sie strebten selten mit
gleichen Mitteln nach gleichen wirtschaftlichen Zielen, weshalb
ein friedliches Nebeneinanderarbeiten ohne vertragsmäßige Be-
schränkung möglich, ja selbstverständlich war. Denn wo keine
Kollision der jMittel und Ziele vorhanden, dort ist auch ein
Kartell nicht möglich.
So beschränkten sich die Verträge nur auf eine geringe Zahl.
Im Jahre 1876 trat zum erstenmal die »Kette« mit der >Elb-
schiffahrts-Gesellschaft«, der »Vereinigten Hamburg-Magdeburger
Dampfschiffahrts-Kompagnie« und einzelnen Privatschleppschiff-
fahrts-Unternehmungcn zwecks gemeinsamerVerteilung der Schlepp-
aufträge von Hamburg nach den Bergstationen in Verbindung.
Es sollte eine gemeinsame Meldestelle für den abzuschleppenden
Kahnraum gebildet werden, die diesen nach einem gewissen
Schema an die Gesellschaften verteilen sollte. Man wollte da-
durch das Unterbieten der Schleppunternchmer gegenüber der
Schleppkundschaft vermeiden. Die Verhandlungen scheiterten
aber an der Weigerung der »Vereinigten Hamburg-Magdeburger-
Dampfschiffahrts-Kompagnie«, die Gleichberechtigung der »Kette«
auch für die Strecke Hamburg-Magdeburg anzuerkennen, auf der
die »Kette« bisher noch nicht tätig gewesen war. Infolgedessen
gründete die > Kette« in demselben Jahre ein eigenes Verfrach-
tungskontor in Hamburg und trat dem »Verband Oberelbischer
Schiffer« bei^). Zugleich aber setzte die »Kette« die Einigungs-
verhandlungen nunmehr allein mit der »Frachtschiffahrts-Gesell-
schaft« fort mit dem Resultat, daß letztere ihr Frachtkontor in
Hamburg mit dem neuen der »Kette« vereinigte und mit ihrem
Schiffspark von 23 Schleppkähnen und 2 Raddampfern dem
I) Vgl. S. 105 f.
— I/I —
»Verbände Oberelbischer Schiffer« beitrat. Jede von beiden
Parteien konnte mit diesem Ergebnis zufrieden sein. Die Fracht-
schiffahrts-Gesellschaft behielt ihre vollständige Selbständigkeit
und ihre freie Erwerbstätigkeit. Nach wie vor flössen die Fracht-
löhne der von ihren Schleppkähnen transportierten Frachtgüter
in ihre Kasse und nicht minder erhielt sie den vollen Verdienst
ihrer Schleppdampfer. Sie verpflichtete sich nur, ihre Fracht-
güter im Hamburger Bergverkehr ausschließlich von dem gemein-
samen Frachtbureau zu den von diesem abgeschlossenen Fracht-
sätzen sich überweisen zu lassen und auch alle fremden Schlepp-
kähne, die von dem Kontor beladen worden waren, zu einem
bestimmten, den Frachtsätzen angeglichenen Vorzugsschleppsatz,
und zwar bei Ueberangebot unter Bevorzugung vor anderen
Schleppaufträgen, abzuschleppen. Dafür verpflichtete sich die
»Kette«, die Kähne der »Frachtschififahrts-Gesellschaft« von Magde-
burg aus mit ihren Kettenschleppschiffen zu einem Vorzugstarif
weiter bergwärts zu ziehen. Das Hamburger Frachtkontor wurde
paritätisch aus Angestellten der beiden Vertragschließenden zu-
sammengesetzt. Dieses Vertragsverhältnis arbeitete zur vollsten
Zufriedenheit beider Parteien und führte zu einer so innigen
gegenseitigen Annäherung, daß, als im folgenden Jahre 1877 die
V.H.M.D.K. versuchte, durch sehr günstige Angebote, die »Fracht-
schiffahrts-Gesellschaft<; der »Kette« abspenstig zu machen und
vertraglich sich selbst anzugliedern, die beiden bisherigen Ver-
trags-Gesellschaften sich entschlossen, sich vollständig zu ver-
einigen, indem die > Kette« im September 1877 die »Frachtschiff-
fahrts-Gesellschaft<- ankaufte. Somit endete dieses erste Fracht-
schiffahrts-Kartell mit einer Verschmelzung der Vertragschlie-
ßenden.
Die günstigen Erfahrungen, die die »Kette« mit diesem
ersten Versuche gemacht hatte, veranlaßte sie, auf dem einge-
schlagenen Wege weiter zu schreiten und neue Vertragsabschlüsse
mit anderen Gesellschaften herbeizuführen. Ihre Bemühungen
blieben jedoch anfangs erfolglos, bis im Jahre 1879 zwischen ihr
und der »Elb-Dampfschiffahrts-Gesellschaft« ein Vertrag zustande
kam. Dieser bezog sich jedoch nur auf den Schleppverkehr ab
Hamburg und ging dahin, daß man erstens sich zur Erhebung
gleicher Schlepplohnsätze verpflichtete, die stets durch gemein-
samen Beschluß festgesetzt werden sollten, und daß zweitens die
Schleppaufträge nach einem, dem jeweilig zur Verfügung stehen-
— 172 —
den Schleppdampi'crmaterial entsprechenden Verhältnis unterein-
ander ausgetauscht werden sollten. Hin gemeinsames Organ der
Vereinigung bestand nicht. Ueber die Wirkung dieser Vereini-
gung spricht sich der schon an anderer Stelle auszugsweise
mitgeteilte Jahresbericht der »Kette« vom Jahre 1880 aus ^).
Auch dieses Kartell fand ein vorzeitiges Ende durch die an
anderem Ort -) geschilderte Betriebsverschmelzung der beiden
Gesellschaften im Jahre 1881.
Mit Gründung der »Nord-West«: im Jahre 1881 und der
^Vereinigten« im Jahre 1884 standen sich plötzHch drei neue
kapitalkräftige Unternehmungen, auf der Elbe gegenüber, deren
Interessen aber nicht mehr unberührt nebeneinander, sondern
vielfach sehr stark gegeneinander liefen. Es begann nunmehr
die Periode heftigster Konkurrenzkämpfe, die aber zugleich auch
wieder einen fruchtbaren Boden abgaben für gegenseitige Ver-
einbarungen und Kartelle.
Gleich bei der Betriebseröffnung der »Nord-West« hatte diese
mit der > Kette« Verhandlungen zwecks Anbahnung einer freund-
schaftlichen Verständigung angeknüpft. Man einigte sich auch
vertragsmäßig auf einzelne Abmachungen, die bestimmte, die Ge-
samtschiffahrt schädigende, unwürdige Konzessionen an die Ver-
frachter und Frachtvermittler aus dem im übrigen ungehindert
fortdauernden Konkurrenzkampf ausschließen sollten. Auch ver-
ständigte man sich über Einführung gleicher Verkehrsnormen
und gleichmäßiger Vereinfachungen im Verkehr, sowie über
Grundsätze für gegenseitige Aushilfe bei übermäßiger Inanspruch-
nahme eines der beiden Unternehmen. Diese Abmachungen
waren jedoch, obwohl ihre Wirkungen von beiden Parteien als
sehr vorteilhaft empfunden wurden, nur von kurzer Dauer. Bei
Verhandlungen über ihre Verlängerung und Erweiterung kam
es zwischen den beiden Gesellschaften zu starken Meinungsver-
schiedenheiten, so daß am 12. Mai 1882 alle Vereinbarungen ge-
kündigt und aufgelöst wurden und nunmehr ein schrankenloser,
verlustreicher Konkurrenzkampf eintrat.
Nichts bringt aber im wirtschaftlichen Leben die Einzel-
unternehmungen schneller wieder zusammen, als ein solcher über-
mäßiger Wettkampf nach einer friedlichen , gewinnbringenden
Vertragszeit. Man fühlt zu deutlich den Unterschied in der Ge-
schäftsentwicklung und das Ungesunde dieses Kampfverhältnisses
i) Siehe S. 108. 2) Siehe S. 109.
/o
und findet deshalb meist schnell wieder den Weg zu dem anderen
zurück. So auch hier. Schon im Oktober des Jahres 1882 trat
man wieder in neue Verhandlungen ein, die im Dezember zum
Abschluß eines förmlichen Vertrages führten. Beide Parteien
einigten sich darüber, ihre Dienste den Verfrachtern, wie Schiffern
nicht unter einem gewissen Minimalfracht- bez. Schlepplohnsatz
zur Verfügung zu stellen. Für Uebertretung dieser Vereinbarung
wurden Vertragsstrafen festgesetzt.
Die vertragschließenden Gesellschaften hatten jedoch ihre Macht
und Stellung in der Schiffahrt überschätzt. Im Frachtgeschäft stand
ihnen die an Zahl gewaltig überlegene, unorganisierte Privatschiffahrt
gegenüber, deren niedrigen Frachtangeboten gegenüber die Ver-
tragsgesellschaften nur kurze Zeit ihre Minimalsätze behaupten konn-
ten. Es zeigte sich wieder, daß in der Eibschiffahrt Kartellbestim-
mungen über Minimalfrachtsätze niemals von langer Dauer sind,
weil die Höhe der Frachtsätze zu schwankend ist und seit Jahr-
zehnten schon eine dauernd fallende Tendenz besitzt. Mehr Er-
folg hatten die beiden Gesellschaften mit ihren Vereinbarungen
im Schleppgeschäft, weil sie hier vorerst noch einer ganz geringen,
kaum in Betracht kommenden Konkurrenz gegenüberstanden.
Doch scheinen sie ihre Machtstellung mißbraucht und ihre Mini-
malsätze zu hoch angesetzt, auch ihre Bedingungen für die
Schleppkundschaft zu ungünstig gestellt zu haben : denn dieses
Kartell wurde die Veranlassung der neuen, aus Kleinschiffer-
kreisen hervorgewachsenen Schleppschiffahrts-Gesellschaft der
»Vereinigten«, die, sobald sie auf zwei Schiffen ihre Flagge auf
der Elbe zeigte, Mitte des Jahres 1883 das Kartell zur Auflösung
wegen Unhaltbarkeit seiner Minimalsatzbestimmungen zwang.
Den Vertragsgesellschaften erwuchs daraus ein nicht unbeträcht-
licher Einnahmeausfall, denn ihnen hatte die Zeit des gemein-
samen Zusammengehens sehr gute Einnahmen gebracht. Sie
schieden in völlig friedlicher Weise von einander.
Nunmehr trat eine längere Pause in den Kartellbildungen
ein. Es galt vorerst, das neue Kraftverhältnis der einzelnen
Konkurrenten festzustellen und die Anerkennung ihrer Gleich-
berechtigung bei Vertragsverhandlungen durch Bewährung im
wirtschaftlichen Kampfe zu erzwingen. Dies galt vor allem für
die neuen Aufkömmlinge gegenüber den beiden älteren Gesell-
schaften; man schien dies im Jahre 1887 erreicht zu haben.
Dieses Jahr war für die Schiffahrt das zweite einer un-
— 1 74 —
günstigen Konjunkturperiode. Es war allmählich der Rück-
schlag aus der unerwartet vorteilhaften Entwicklung der 70er
und der ersten Hälfte der 80er Jahre eingetreten, in welcher
man infolge dauernd neuen Zustrümens von Frachtgütern zur
Elbe den Frachtschiffpark auf allen Seiten der Schiffahrttreiben-
den sehr stark vermehrt hatte und in der Hoffnung auf weitere
gleichgünstige wirtschaftliche Entwicklung auch noch fernerhin
steigerte. Als nun etwa seit dem Jahre 1885 die Güterzufuhr
zur Elbe etwas nachließ oder vielmehr ihr Wachstum gemäßigtere
Formen annahm, erschien bald auf dem Frachtmarkt ein Ueber-
angebot von Kahnraum, das selbstverständlich die im freien Ver-
kehr nach Angebot und Nachfrage sich bildenden Frachtsätze
und indirekt auch die Schlepplohnsätze sehr ungünstig beein-
flußte. Am meisten litten unter diesen Zuständen die Schlepp-
gesellschaften, die einmal ihre auf großen Anhang berechnete
Schleppkraft oft nicht voll auszunutzen vermochten, anderseits
aber auch, wenn sie Anhang erhielten, für ihre Tätigkeit von den
Schiffseignern nur einen, den niedrigen Frachtsätzen entsprechend
geringen Schlepplohn verlangen konnten. Diesen durch die
niedrigen Schleppsätze verursachten Ausfall wollte man nunmehr
durch die Masse der Schlepp- und Frachtaufträge wett machen
und eine möglichst große Schleppkundschaft durch äußerst vor-
teilhafte Schleppangebote heranziehen. Ein Mittel, das zu diesem
Ziele führen sollte, war das System der sogenannten Hauptfrach-
ten, durch das man mit Privatschiffseignern in ein jährliches
festes Vertragsverhältnis trat. Man* verpflichtete sie, bei der
Bergfahrt sich nur durch Dampfer der Vertragsgesellschaft schlep-
pen zu lassen, und gewährleistete ihnen dafür für je 100 kg von
ihnen zu Berg verfrachteter Güter einen für das ganze Jahr
gleichmäßig hohen Mindestfrachtsatz. Außerdem ließ man die
Frachtgüter dem Schiffer durch die eignen Frachtkontore der
Gesellschaft unentgeltlich zustellen, so daß sich dieser nicht um
deren Beschaffung bemühen brauchte. Er wußte also, daß er
jedesmal, wenn er in einem Hafen, besonders in Hamburg, eine
Bergreise antrat, selbst bei der ungünstigsten Frachtmarktlage
einen bestimmten, vorher berechenbaren und wegen der Kon-
kurrenz der einzelnen Schleppgesellschaften in der Erlangung
von Schleppkundschaft nicht allzu geringen Verdienst haben
würde. Somit war das Risiko der ^larktpreisschwankungen auf
die Schleppgesellschaften abgewälzt. Dieses an sich schon sehr
— 175 —
günstige Vertragsverhältnis wußten die Schiffer für sich noch
dadurch besonders vorteilhaft und für die Gesellschaften verlust-
bringender zu gestalten, daß sie bei günstiger Marktlage, wenn
die Frachtsätze höher als die vertragsmäßigen Hauptfrachten
standen, sich selbständig um Frachten im Talgeschäft oder in
Häfen, die außerhalb der Vertragsbestimmungen lagen, zur Berg-
fracht nach Gütern umsahen. Sanken aber die Marktpreise der
Frachten unter die Vertragshauptfrachten, so strömten sie zu
den Vertragshäfen hin, vermehrten dort noch das Kahnangebot,
drückten dadurch die Marktfrachtpreise noch mehr herunter, und
verlangten nun von ihren Vertragsgesellschaften Ladung zu den
vereinbarten höheren Frachtpreisen. Hieraus ergab sich für die
Gesellschaften mit ihren Frachtbureaux ein doppelter Nachteil.
Denn bei günstiger Frachtmarktlage, während welcher sie den
Ueberschuß aus Marktfracht- und Hauptfrachtpreisen für ihre
Kassen hätten zurückbehalten können, fehlte es ihnen an Kahn-
raum ihrer Vertragsschiffer. Sie konnten infolgedessen durch
ihre Frachtkontore keine Frachtaufträge zu jenen günstigen
Frachtpreisen annehmen und außerdem mangelte es ihren Schlepp-
dampfern an Schleppanhang. Dafür mußten sie dann bei un-
günstiger Marktlage den Ausfall aus erhaltenen Marktfrachtpreisen
und gezahlten Hauptfrachtpreisen aus ihrer eigenen Kasse an die
Vertragsschiffer zahlen.
Diese Einrichtung der Hauptfrachten war ein Auswuchs un-
gesunder Konkurrenzverhältnisse, und so schlössen sich'die »Kette«,
die »Nord-West« und die »Vereinigten« im Jahre 1887 zu einem
Kartell zusammen, das die Abschaffung dieses Hauptfrachtsystems
bezweckte. Außerdem enthielt der Vertrag auch Bestimmungen
über Berechnung gleicher, jeweilig nach Bedürfnis zu verein-
barender Schleppsätze und über gleiche Berechnungsmethoden
derselben. Die Schleppsätze wurden nämlich nach der Trag-
fähigkeit der Schleppkähne abgestuft berechnet, und für die Be-
stimmung und Bemessung dieser Tragfähigkeit hatten sich infolge
verschiedener behördlicher Bestimmungen in den einzelnen Staaten
sowie in der Hitze des Konkurrenzkampfes verschiedene Ver-
messungsmethoden herausgebildet. Jede Gesellschaft war, um
ihrer Schleppkundschaft möglichst vorteilhafte Offerten machen
zu können, bestrebt, die Tragfähigkeit der Schleppkähne ihrer
Kundschaft möglichst gering anzusetzen. Auch über diese Ver-
messung und Tragfähigkeitsberechnung enthielt das Kartell von
- 176 -
18S7 bindende Vertragsbestimmungen. Hierdurch wurde der
Konkurrenzkampf in der Schleppschiffahrt bedeutend verringert
und die Schlepplöhne stiegen, wodurch sich die Einnahmen der
Gesellschaften nicht unbeträchtlich hoben. Freilich den Privat-
schirtseignern war diese Neuregelung der Verhältnisse nicht will-
kommen, weil sie nun nicht mehr die Vielumworbenen waren,
denen man jeden Wunsch erfüllte.
Zugleich mit diesen Schleppkartellen wurde zwischen der
»Kette« und der > Nord-West« eine Vereinbarung über gleich-
mäßige Frachtenberechnungen für bestimmte Güter aus Sachsen
und Böhmen in der Talschiffahrt getroffen ; dies konnte um so
eher geschehen, als außer für Kohlen und Obst in Böhmen und
Sachsen für die Frachtgüter kein offener Markt bestand, sondern
vielmehr die Frachtsätze durch Verträge mit den Fabrikanten,
Produzenten oder Handelsfirmen festgesetzt wurden. Jener Kar-
tellvertrag erstreckte sich vor allem auf Getreide und Zucker.
Diese Einträchtigkeit unter den Gesellschaften war jedoch
nur von kurzer Dauer: im Juni 1888 konnte man sich nicht
mehr über die Höhe der zu berechnenden Schleppsätze einigen
und löste deshalb, nach kaum ^/4 jähriger Dauer, das Kartell wie-
der auf.
Während der 80 er Jahre hat die Kartellbewegung in der
Eibschiffahrt noch etwas Unsicheres, Tastendes und Versuchen-
des an sich. Wie überhaupt damals noch die Kartellbildungen
in ihren ersten Anfangsstadien waren, so fehlte es vor allem bei
der Eibschiffahrt an praktischen Erfahrungen darüber, wie so
schwierige Probleme, wie sie die Beeinflussung des freien Fracht-
marktes darstellen, auf dem Wege von Verträgen und Verbin-
dung einzelner freier Unternehmunijen zu lösen seien. Die ersten
Versuche waren nunmehr gemacht und ihre Erfolge waren für
den Anfang befriedigend gewesen, nur erwies sich ihre Dauer-
haftigkeit als sehr gering. In dieser Richtung hat man in den
90er Jahren neue Lehren gezogen und Erfahrungen gesammelt,
die schließlich im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts zu einer
annehmbaren, wenn auch noch lange nicht vollkommenen Ver-
wirklichung des Konzentrationsgedankens geführt haben.
Von 1888 — 1891 fanden keinerlei Verbindungen zwischen den
Großbetrieben statt. Erst 1891, als ein sehr ungünstiges Berg-
geschäft in Hamburg vorlag, verabredeten sich im Herbst die
drei großen Gesellschaften wieder untereinander, die Schleppsätze
— I
//
für leere Fahrzeuge in Hamburg, die in der Regel 50% des
Schleppsatzes für beladene Fahrzeuge betrugen, gleichmäßig auf
30% herabzusetzen. Diese Maßregel, die ohne vertragsmäßige
Verbindlichkeit für die einzelnen Gesellschaften verabredet und
allseitig durchgeführt wurde, ergriffen die Gesellschaften, um das
starke Ueberangebot von Kahnraum am Hamburger Markt zu
verringern und dadurch die gesunkenen Frachtsätze wieder zu
heben. Sie hatte aber nur wenig Erfolg.
Im Herbst desselben Jahres kam auch nach dreijähriger Pause
wieder ein Frachtkartell der drei großen Gesellschaften zustande,
und zwar für die Talschiffahrt. Die Veranlassung dazu bildete
die trostlose Lage der Frachtschiffahrt auf der gesamten Elbe,
vor allem aber bei der Hamburger Bergverfrachtung, die für ge-
wöhnlich der gesamten Eibschiffahrt relativ und absolut die mei-
sten Frachtgüter zuweist und deshalb einen ausschlaggebenden
Einfluß auf die wirtschaftliche Lage der Eibschiffer ausübt. Im
August sanken die Frachtsätze auf dem Frachtmarkt für Massen-
güter von Hamburg nach Dresden (570 km) auf 25 Pfg. pro
100 kg herab, also 0,44 Pfg. für einen tkm. Dieser P'rachtsatz
deckte nicht einmal die Betriebskosten für das Schleppen der
Güter auf dieser Strecke, geschweige denn, daß er für den Schiffer
einen Gewinn abwarf. Unter diesen Verhältnissen ( — die übri-
gens in späteren Jahren noch viel schlimmer geworden sind — )
litt die Großschiffahrt in gleicher Weise wie die Kleinschiffahrt
und eine Abstellung dieser Zustände war im gemeinsamen In-
teresse beider. Deshalb schlössen sich die »Kette«, die »Nord-
West« und die »Vereinigten« zu einem Kartell zusammen, und
zwar suchten sie den Mißständen indirekt zu begegnen. Da sie
sich wegen der großen zahlenmäßigen Ueberlegenheit der zer-
splitterten Kleinschiffahrt am Hamburger Bergfrachtmarkt außer
Stande fühlten, auf diesen maßgebend und bessernd Einfluß zu
gewinnen, so suchten sie wenigstens das auch stark in der Ren-
tabilität herabgesunkene Talgeschäft von Sachsen und Böhmen
wieder gewinnbringender zu gestalten und dadurch sich und
der Kleinschiffahrt Entschädigung für die Verluste bei den Berg-
frachten zu verschaffen. Man hoffte auch, dadurch die Klein-
schiffahrt von dem Hamburger Markte abzulenken, auf diese
Weise dort das Kahnraumangebot zu verringern und so die
Frachtpreise wieder zu heben. Einfluß auf das oberländische
Talgeschäft zu gewinnen, mußte den Gesellschaften bedeutend
Zeitschrift für die ges. Staatswissensch. Ergänzungsheft 50. I 2
- 178 -
leichter fallen, als am 1 lamburj^er Markte, denn in Böhmen und
Sachsen hatten die Gesellschaften von jeher, abgesehen von den böh-
mischen Kohlenfrachten, die sämtlichen Transporte fast vollständig
in ihren Händen. Die Gesellschaften brauchten also nur ihre gegen-
seitige Konkurrenz einzustellen, um wieder Einfluß auf die Frachtbil-
dung zu gewinnen. Dieses Mittel ergriff man nunmehr in dem neuen
Frachtkartelle, welches das dauerhafteste und vielleicht auch
wirkungsvollste der rein vertragsmäßigen, jederzeit kündbaren
Kartelle in der Eibschiffahrt gewesen ist. Im September 1S91
kam ein sofort in Kraft tretender Vertrag für die böhmischen
Zuckertransporte zustande, der im Dezember desselben Jahres
auch auf andere Güterarten aus Sachsen und Böhmen mit Gültig-
keit bis zum 30. Juni 1893 erweitert wurde. In diesem Vertrag
verpflichteten sich die Mitglieder zur Berechnung gleichmäßiger
Talfrachten für bestimmte Güter. Die Verteilung der von den Ge-
sellschaften zur Elbvcrfrachtung herangezogenen Güter aus Sachsen
und Böhmen sollte >>nach Maßgabe der jeder Gesellschaft zur
Verfügung stehenden Laderäume« geschehen. Der Gesamtfracht-
güterverkehr wurde also zu bestimmten Quoten an die Gesell-
schaften zum Transporte verteilt, was dadurch geschah, daß alle
Frachtaufträge eine gemeinsame Zentralstelle in Dresden passieren
mußten und von dieser an die einzelnen Unternehmungen weiter
gegeben wurden. Da aber die Gesellschaften mit ihrem geringen
Frachtschift'park nur zum kleinsten Teile imstande waren, die
Aufträge zu erledigen, so wurden dieselben zu gleichhohen Sätzen
nach Abzug einer Vermittlungsgebühr an Privatschiffseigner wei-
tergegeben. Diese Neuregelung fand den ungeteilten Beifall nicht
nur der beteiligten Großschiffahrt, sondern auch der Kleinschiffer.
Sofort nach ihrem Inkrafttreten stiegen die Frachtsätze von Böhmen
nach Hamburg um 4—5 Kreuzer, d. i. etwa 20— 30 o/o- Obwohl
die ersten Jahre des Kartells in die für die Schiffahrt sehr un-
günstigen Jahre 1892 und 93 (Cholera-Epidemie in Hamburg)
fielen, so war die Besserung der Verhältnisse eine so deutliche
und klar hervortretende, daß das Kartell beim Nahen seines End-
termines von allen Beteiligten sofort auf 3 weitere Jahre erneuert
wurde. Auf diese Weise hat es ohne Unterbrechung vom Sep-
tember 1891 bis zum 10. Januar 1896 fortbestanden. Selbst in
Handelskreisen fand die Tätigkeit des Karteiles fast allgemeine
Anerkennung, denn auch jetzt waren die Talfrachten keine absolut
festen. Von den drei Momenten, die bei freier Konkurrenz die
— 1/9 —
Eibfrachten bestimmen : dem Güterangebot, dem Kahnrauman-
gebot und dem Wasserstand der Elbe, war nur eines in seiner
preisbestimmenden Wirkung ausgeschaltet worden, nämlich das
freie unter sich konkurrierende Kahnraumangebot ; die beiden
anderen Faktoren blieben bestehen und bewirkten das Fallen
oder Steigen der Frachtsätze.
Während also in der Talschiffahrt von einer gewissen Ge-
sundung der Verhältnisse gesprochen werden konnte, dauerten
die ganz unbefriedigenden und gewinnlosen Zustände in der
Bergfrachtschiffahrt und ebenso in der Schleppschiffahrt fort.
Ende August 1892 einigten sich die drei großen Gesellschaften
sogar dahin, die Frachtschiffahrt zu Berg von Hamburg wegen
der dort herrschenden Cholera und wegen des ungünstigen Ge-
schäftes auf einen Monat ganz einzustellen. Auch die beiden
folgenden Jahre brachten keine Besserung. Im Gegenteil sanken
1894 die Schififahrts-» Vergütungen« noch unter den bisher be-
kannten niedrigsten Stand. Da entschloß man sich im Oktober
1894, wieder in Verhandlungen einzutreten, und zwar wurden
diese diesmal unter allen auf der Elbe Schleppschiffahrt treiben-
den Unternehmungen gepflogen. Sie waren langwierig und
schwierig, aber schließlich endeten sie am 3. Januar 1895 mit
einem ansehnlichen Erfolg des Kartellgedankens. Es gelang
unter dem Namen »Elb-Schleppschiffahrts- Vereinigung« das größte
und umfassendste Kartell zusammenzubringen, das bis zum Jahre
1907 auf der Elbe zustande gekommen ist, und dem sich sämt-
liche Eibreedereien anschlössen, die auf der Elbe gewerbmäßig
Schlepp Schiffahrt betrieben.
Die Vereinigung, die auf drei Jahre geschlossen war, hatte
zum Zweck, die Konkurrenz in der Schleppschiffahrt ab Hamburg
bergwärts auszuschließen und dadurch die Schlepplöhne zu er-
höhen. Es hatten sich, wie gesagt, außer den Gesellschaften
auch sämtliche Privatschleppunternehmer ihr angeschlossen. Ihr
Schiffspark bestand aus 106 Schlepp- und 17 Eilgutdampfern.
Obwohl die IMitglieder nur Schleppschiffahrtsunternehmer waren,
versuchten sie ihre Wirksamkeit auch auf das Frachtgeschäft
auszudehnen , indem die Vereinigung zum ersten Male den
vorteilhaften Gedanken zu verwirklichen suchte, auch die Klein-
schiffseigner, die ausschließlich Frachtschiffahrt betrieben und nur
Benutzer der Schleppschiffahrt waren, für das Kartell der
Großunternehmungen zu interessieren. Bei Gründung der Ver-
12*
— I So —
einigung ging man von der üebcrzcugung aus, daß das Unter-
bieten auch der einzelnen Großunternehmungen auf dem Fracht-
markte und vor allem das Termingeschäft bei Frachtabschlüssen,
das dem Frachtmarkt ein so außerordentlich unruhiges, nervöses
und unberechenbares Gepräge gab und den Gesellschaften oft
bedeutende Verluste zufügte, seinen wichtigsten (irund in dem
Bestreben und Bedürfnis der Schleppschiffajirtsunternehmungen
hat, möglichst viel Schleppanhang für ihre Dampfer zu erhalten.
Nunmehr suchte die Schleppschiffahrts- Vereinigung das Uebel un-
mittelbar an der Wurzel zu fassen, indem sie jede Konkurrenz
der Unternehmer in der Bewerbung um Schleppanhang beseitigte.
Es wurde nämlich von der »Vereinigung« in Hamburg eine
Meldestelle für alle Schiffe errichtet, die von Hamburg bergwärts
abgeschleppt werden wollten. Die Zentralstelle gab die Schlepp-
aufträge an die einzelnen Schleppunternehmer weiter und zwar
nach Einheitssätzen, die den einzelnen Unternehmen als Betei-
ligung am Gesamtverkehr in Anlehnung an den Anteil zuge-
sprochen wurde, den sie im Vorjahre 1894 am Gesamtverkehr
gehabt hatten. Die Schleppsätze und Schleppbedingungen wur-
den für die ganze Elbe einheitlich festgesetzt, so daß es also
den Schleppkunden gleichgültig sein mußte, von welcher Gesell-
schaft sie geschleppt wurden.
Außerdem aber mußten auch alle Frachtaufträge, die den
einzelnen Schleppunternehmungen von ihren Verfrachtern zu-
gingen, an die zentrale Meldestelle geleitet werden, welche die
zu zahlenden Frachtsätze vereinbarte und die Ausführung des
Auftrages weiter gab. Zu diesem Zwecke war die Einrichtung
getroffen, daß alle Schleppkähne, die von der Vereinigung Berg-
fracht erhalten wollten, sich, sobald sie zur Neubefrachtung
bereit w-aren, bei der Meldestelle zu melden hatten und in eine
Liste eingetragen wurden. In der Reihenfolge der Anmeldungen
erfolgte dann auch die Befrachtung. Die Meldestelle stand in
gleicher Weise den Schleppkähnen der Privatschiffseigner, wie
denen der Gesellschaft zur Verfügung, jedoch wurde in der Be-
rechnung der Frachten zwischen ihnen ein Unterschied gemacht.
Die Privatschiffseigner erhielten nämlich nach Zahlung einer
geringen Frachtvermittlungsgebühr den vollen Betrag des von der
Meldestelle mit dem Verfrachter vereinbarten Frachtpreises. Die
Vereinigung stand dafür ein, daß dieser Frachtpreis um minde-
stens 10 Pfennige pro 100 kg, die für dasselbe Güterquantum zu
— i8i — ^
zahlenden Schlepplöhne überstieg und somit mindestens dieser
Betrag ihnen zur Deckung ihrer Kosten verblieb. Außerdem er-
warben sie mit der Benützung der Frachtvermittlung der Ver-
einigung das Recht, am Ende des Kalenderjahres von letzterer
eine Rückvergütung von 5 % der im Laufe des Jahres an sie
gezahlten Schlepplöhne zu verlangen. Auf diese Weise suchte
man die Privatschiffahrt an dem Bestehen und der starken Be-
nutzung der Schleppschiffahrts- Vereinigung zu interessieren, was
auch in vollem Umfange gelang. Die Schiffahrts-Gesellschaften
dagegen erhielten die für ihre Schleppdienste gezahlten Schlepp-
löhne und für durch ihre Schleppkähne bewirkten Frachttrans-
porte die wirklich gezahlten Frachten ohne Garantierung einer
bestimmten Höhe. Außerdem mußten sie auch proportional
ihre Anteilsquoten am Gesamtverkehr zu den Verwaltungsaus-
gaben und den Unkosten des Kartells beisteuern. Wurde nun
zwar durch diese Bedingung und durch die Ausschaltung der
freien Konkurrenz die Ausnutzung und Beschäftigung ihrer Schlepp-
kräfte nicht unerheblich eingeschränkt, so wurde dieser Nachteil
doch weit in den Schatten gestellt durch die Gewinnerhöhung,
welche die Einzelunternehmungen aus der Aufbesserung und
Festigung der Schlepplöhne wie aus der Gesundung der Fracht-
preise zogen. Die Frachtsätze ab Hamburg betrugen im allge-
meinen bei voUschiffigem Wasserstand während des ganzen Jahres
nach den verschiedenen Eibstationen im Jahresdurchschnitt 0,95
bis 1,87 Pfg. für I tkm. So war man in der Groß- wie in der
Kleinschiffahrt mit dem Kartell sehr zufrieden, und auch die
Handelskreise standen ihm sympathisch gegenüber, weil die fest-
gesetzten Schlepplöhne und vereinbarten Frachtsätze sich in
mäßiger, den Leistungen entsprechender Höhe hielten. Nur einem
Teil der Hamburger Spediteure, die aus den Schwankungen der
Frachten ihren Vorteil zogen, war die Vereinigung ein Dorn im
Auge ; er suchte sie zu sprengen, was ihm auch sehr bald ge-
lang.
Als sich nämlich mit Hilfe des Kartells die wirtschaftlichen
Verhältnisse während des Jahres 1895 bedeutend gebessert hatten
und geregeltere geworden waren, entstanden gegen Ende des
Betrieb-sjahres nicht weniger als drei neue Schleppgesellschaften,
welche die günstige Konjunktur auszunutzen und die Politik des
Karteiles zu durchkreuzen suchten, indem sie dessen Fracht- und
Schleppsätze stets um ein Geringes unterboten und dadurch die
— IS2 —
Kundschaft anlockten. So entstand diesmal die neue Konkurrenz
nicht wie im Jahre 1883 aus Kreisen der Kleinschififer, sondern
aus Kreisen der Spediteure und privater Verfrachtungsgeschäfte
heraus. Gegen das Gebaren dieser neuen Unternehmungen be-
saß das Kartell kein Mittel, es löste sich daher schon nach ein-
jährigem, erfolgreichen Bestehen am 10. Januar 1896 freiwillig
auf. Zugleich kündigte man auch das schon erwähnte Talfracht-
kartell zwischen der > Kette«, der »Vereinigtenf und der »Nord-
West«, um in dem nun ausbrechenden heißen Konkurrenzkampfe
völlig freie Hand zu haben.
Die Folgen blieben nicht .aus. Die nächsten drei Jahre
wurden sehr ungünstige für die Eibschiffahrt; die Gesellschaften
arbeiteten im Jahre 1896 teilweise wieder unter dem Selbstkosten-
preis. Der Gedanke an die Wiedergewinnung der Einigkeit wurde
deshalb nicht aufgegeben. Nach Auflösung der Schleppschiffahrts-
Vereinigung war zwischen einzelnen Gruppen der früher an ihr
Beteiligten ein freundschaftliches Verständigungsverhältnis be-
stehen geblieben, das ohne alle feste Form nur auf gegenseitigem
Vertrauen beruhte und jederzeit kündbar war, so z. B. zwi-
schen der »Kette« und den »Vereinigten«, zwischen der »Nord-
West« und mehreren Privatschleppfirmen usw. Man einigte sich
über Einhaltung gleicher Geschäftsgrundsätze. Neben diesen
ganz losen Verständigungen aber wurden fortgesetzt insbesondere
auf Anregung der »Kette« Verhandlungen mit allen beteiligten
Kreisen gepflogen zwecks Anbahnung einer engen Betriebsge-
meinschaft. Die Verhandlungen wurden geheim geführt ; zweimal,
anfangs des Jahres 1897 und anfangs des Jahres 1898 stand
man unmittelbar vor einem erfolgreichen Abschluß ; aber beide
Male scheiterten schließlich die Verhandlungen noch im letzten
Augenblicke an der Weigerung oder allzu hohen Forderung eines
oder des anderen Unternehmens. Schon . damals stand man also
kurz vor der Verwirklichung eines großzügigen Fusionsgedankens,
der sich aber erst in den Jahren 1903— 1907 in die Tat um-
setzen sollte.
Eine tatsächliche Annäherung der Gesellschaften und Ab-
schwächung der im Frühjahr mit bisher unbekannter Schärfe auf-
getretenen gegenseitigen Konkurrenz gelang erst wieder im Au-
gust 1898, als zwischen den damals bestehenden 4 großen Ge-
sellschaften »Kette«, »Nord- West«, »Vereinigte« und »Deutsch-
Oesterreichische« Verständigungen über ein gemeinsames Vorgehen
— i«3 —
bei Festsetzung von Fracht- und Schleppsätzen erreicht wurde.
Vor allen Dingen verpflichteten sich diese Gesellschaften gegen
Zahlung von Vertragsstrafe sowohl in der Berg- wie in der Tal-
schiffahrt Leistungen nicht unter dem Selbskostenpreis anzubieten
oder auszuführen. Dadurch war dem gegenseitigen Unterbieten
der Gesellschaften schon eine gewisse Grenze gesetzt und die
Konkurrenz vermindert. Das machte sich auch sofort auf dem
Frachtmarkt geltend : die Frachten zogen an und infolgedessen
konnten auch die Schlepplöhne aufgebessert werden. Neben
dieser Vereinbarung über die Höhe der Frachtpreise wurde aber
auch den Gesellschaften eine gewisse Zurückhaltung in der Schiff-
fahrt auferlegt, indem einem jeden Unternehmer eine bestimmte
feste Quote am Gesamtverkehr zugeteilt wurde. Gingen damit
die Gesamtsummen der verschifften Güter und der geschleppten
Kähne bei den Einzelunternehmungen etwas zurück, so war die-
selbe Bewegung trotzdem nicht bei den erzielten Einnahmen zu
finden, da diese vielmehr durch die verbesserte Bezahlung der
Leistungen und durch Betriebsersparungen nicht unerheblich auf-
gebessert wurden. Das Kartell arbeitete zur allgemeinen Zufrie-
denheit der Beteiligten, so daß es nicht nur ohne Schwierigkeiten
für das Jahr 1900 und nach Ablauf desselben für das Jahr 1901
auf der gleichen Grundlage erneuert wurde, sondern auch für das
Jahr 1900 die beiden bisher noch außerhalb des Kartells geblie-
benen großen Gesellschaften, die »Neue Norddeutsche« und die
»Elbe« ihm beitraten, wodurch eine neue Quotenverteilung unter
den Mitgliedern notwendig wurde. Allerdings trat die »Elbe«
schon am Schluß des Betriebsjahres wieder aus der Vereinigung
aus, weil die durch den Betrieb gewonnenen Vorteile ihren Hoff-
nungen nicht entsprochen hatten.
Die Jahre 1901 und 1902 waren für die Schiffahrt ungünstig,
was durch den Mangel an Transportgütern und durch ungenügen-
den Wasserstand der Elbe hervorgerufen wurde. Wenn es trotz-
dem den Gesellschaften gelang, ' aus ihren Betrieben in diesen
Jahren befriedigende Gewinne herauszuarbeiten, so war das allein
dem Bestehen des Kartells zu verdanken. Denn wenn auch ein
weiteres Sinken der Frachten durch die Vereinigung nicht auf-
gehoben werden konnte, so wurde es doch verlangsamt und auf
ihr geringstes Maß beschränkt. Man sah gerade damals ein, daß
die Privatschiffseigner mit ihrer zahlenmäßigen Uebermacht doch
ein zu wichtiger Faktor auf dem Frachtmarkte waren, als daß
— iS4 -
man ihren fiachtdrückcndcn Einiluß selbst bei geschlossenem Vor-
gehen der Großunternehmungen hätte ausschalten oder auch nur
wirksam eindämmen können. Das zeigte sich mit unerbittlicher
Deutlichkeit im Frühjahr des Jahres 1902. Die Frachten erreich-
ten einen bisher noch nie dagewesenen Tiefstand. So wurden
während des ganzen Juni für Massenfrachten von Hamburg nach
Dresden pro 100 kg 21 Pfg. bezahlt, also o,35 l'fg- für einen tkm,
während die Selbstkosten der Gesellschaften für das Schleppen
allein auf dieser Strecke etwa 25-27 Pfg. pro 100 kg Ladung
betrugen. Unter diesen Umständen konnte das Kartell seinen
Zweck nicht mehr erfüllen, und so entschloß man sich im Juli
zur Kündigung desselben für den Verkehr zu Berg und im Au-
gust auch für den Talverkehr. Die Kündigung ging von den
«Vereinigten« aus. Es wurden nun während, des ganzen Jahres
1902 Verhandlungen geführt, die der Verwirklichung eines groß-
angelegten Planes galten und die Vereinigung sämtlicher Schiff-
fahrtstreibenden auf der Elbe im Auge hatten. Das treibende
Element waren die »Vereinigten .
Bei der neuen Vereinigung sollten alle Schiffahrtstreibenden
beteiligt sein, vor allem auch die Privatschiffahrtseigner als voll-
berechtigte Mitglieder, jedoch sollten nicht wieder vertragsmäßige
Vereinbarungen getroffen werden, es war vielmehr eine allgemeine
Betriebsgemeinschaft beabsichtigt. Aber gerade die Einbeziehung
der Privatschiffahrt in die Verträge stieß auf große Schwierig-
keiten; fehlte es doch an einer einheitlichen Organisation der-
selben' oder einer Instanz, durch die man hätte mit ihr verhan-
deln können. Es mußte daher erst eine solche Organisation ge-
schaffen werden. Die Vorarbeiten dazu schritten nur langsam
vorwärts. So gestalteten sich die Verhandlungen sehr schwierig;
sie erschienen oftmals ganz hoffnungslos und wurden wiederholt
abgebrochen, immer aber wieder aufgenommen. Am 24. Februar
1903 trat man abermals in Berlin zur Verhandlung über eine
Schleppschiffahrtsvereinigung ähnlich der des Jahres 1895 zu-
sammen und einigte sich über mehrere bisher noch streitig ge-
wesene Punkte ; doch zogen sich die Vorarbeiten noch über den
ganzen Sommer hin. Als dann am 27. Oktober abermals sämt-
liche Elbschleppunternehmer in Berlin zusammentraten, war man
überzeugt, daß für das Jahr 1904 ein auf weitgehender Betriebs-
gemeinschaft beruhendes Schleppkartell zustande kommen würde.
Nur über einige nebensächliche Punkte war in den letzten Monaten
— i85 —
des Jahres 1903 eine Einigung noch herbeizuführen. Da trat
plötzhch für alle Beteiligten völlig unerwartet ein Ereignis ein,
das die gesamte Lage und alle bisherigen Verhandlungsergebnisse
umstieß : die Fusion der drei größten Elbschiffahrtsunternehmun-
gen, durch welche die Kräfteverhältnisse auf der Elbe völlig neu-
artige wurden.
III. Kapitel.
Die Betriebskonzentration der Klein- und Groß-
schiffahrt seit 1903.
Niemand ahnte, daß gleichzeitig mit den in Berlin gepfloge-
nen Verhandlungen zur Zusammenbringung eines Schleppschiffahrts-
karteiles während des Herbstes 1903 auch in Dresden sehr ernste
Besprechungen über eine Betriebsvereinigung der drei größten und
ältesten Unternehmungen auf der Elbe, der »Kette«, der »Nord
West« und der »Vereinigten« stattfanden, als plötzlich am 17. No-
vember die Beschlüsse der Aufsichtsratsversammlungen der
drei Gesellschaften bekannt wurden, die am 12. Dezember die
Genehmigung der entsprechenden drei Generalversammlungen
fanden.
Die Fusionierungsverhandlungen waren unter völliger Geheim-
haltung gepflogen worden. Die »Kette« litt schon seit langer
Zeit an der Unrentabilität ihrer Dampferbetriebsart. Durch die
fortschreitenden staatlichen Regulierungsarbeiten am Eibfahrwasser
hatte dasselbe im Laufe der Jahre eine solche Sicherheit und
hochgradige Schiffbarkeit in seiner ganzen Ausdehnung erhalten,
daß die Kettenschleppschiffahrt, die bei Stromschnellen- und un-
tiefenreichem Fahrwasser bedeutende Vorzüge vor den Rad-
schleppdampfern besaß, ihre Rentabilität verlor, und wegen der
sehr hohen Erhaltungskosten mit den Raddampfern immer we-
niger in Wettbewerb treten konnte. Die '> Nord- West« dagegen
war durch die österreichische Gesetzgebung, vor allem durch die
sehr hohen öffentlichen Abgaben gegenüber den deutschen Un-
ternehmungen im Nachteil.
Dem gegenüber befanden sich die »Vereinigten« noch in
einer verhältnismäßig günstigen Lage. Trafen für sie schon nicht
die oben erwähnten Nachteile der anderen Unternehmungen zu,
so kam ihnen noch die ursprüngliche Zusammensetzung ihrer
Aktionäre besonders zu statten, die sich vorwiegend aus Klein-
— I S6 —
schififerkreisen zusammensetzte. Diese zogen natürlich für das
Schleppen ihrer Kähne die Dampfer ihres eigenen Unternehmens
denen anderer vor, und so hatten die > Vcreinic^tcn'^ einen ge-
wissen natürlichen Zulauf von Schlepp- und Frachtkundschaft.
Aber auch sie litten stark unter tlem unbegründeten Mißtrauen
weiter Kleinschififerkrcise gegen jede größere Schleppgesellschaft,
wie es sich am deutlichsten in den wiederholten Neugründungen
von KleinschifTerschleppgesellschaften gezeigt hat. Deshalb war
man dem Plan der Fusionierung der drei ältesten Unternehmun-
gen nähergetreten.
Während sich die » Kette c und die » Vereinigten '^ über die
Art ihrer Vereinigung bald verständigten, verursachte der An-
schluß der »Nord-West« als eines ausländischen Unternehmens
große Schwierigkeiten. X'on einer vollständigen Bctriebsver-
schmelzung glaubte man absehen zu müssen, weil die Steuer-
lasten, die ein deutsches Unternehmen hätte tragen müssen, das
in Oesterreich mit österreichischen Konzessionen die Schiffahrt
ausüben wollte, sehr bedeutende gewesen wären, während etwa
das Aufgehen der drei Gesellschaften in eine österreichische Ge-
sellschaft aus demselben Grunde überhaupt nicht in Betracht ge-
zogen werden konnte. So kam man schließlich zu der Lösung,
daß die Betriebe der »Kette« und der »Vereinigten« vollständig
miteinander verschmolzen werden sollten, während die » Nord-
West « formell weiter bestehen bleiben, jedoch mit der neuen
Fusionsgesellschaft in eine sehr enge Betriebs- und Interessen-
gemeinschaft treten sollte, indem sie Biesen auf 25 Jahre ihr ge-
samtes Betriebsmaterial pachtweise überließ. War somit äußer-
lich der »Nord-West«, eine Vorzugsstellung eingeräumt, so war
dies gleichwohl nur scheinbar und aus steuerpolitischen Gründen
geschehen. Tatsächlich ging auch sie in der Fusionsgesellschaft
auf, indem letztere nämlich mit der Dresdener Filiale der Deut-
schen Bank einen Vertrag abschloß, nachdem diese sich ver-
pflichtete, der neuen Gesellschaft von den 10 000 Stück Aktien
der >Nord-\Vest« mindestens 5100 Stück zwecks Umtausches zum
Kurse von 97 Proz. gegen neue Aktien der Fusionsgesellschaft
zu liefern. Dieser Auftrag aber wurde nicht nur voll ausgeführt,
sondern es gelang der Bank, der neuen Gesellschaft sogar 9977
Stück Aktien der »Nord-West« zum Umtausch zu verschaffen, so
daß heute nur noch 23 »Nord-West« Aktien in fremden Händen
sind, die österreichische Gesellschaft also fast vollständig in den
- i87 -
Besitz der deutschen übergegangen ist. Zwischen den beiden
Gesellschaften wurde danach ein Pachtvertrag, bis zum Jahre 1930
unkündbar, abgeschlossen, nach welchem die »Nord-West« außer
allen Amortisationskosten und Abschreibungen eine 4prozentige
Verzinsung ihres Aktienkapitales als Pachtzins zu erhalten hat.
Der Anschluß der »Kette« erfolgte in der Art, daß die neue
Fusionsgesellschaft, ebenso wie gegenüber der »Nord-West«, in
alle Rechte und Pflichten der alten Gesellschaft eintrat und deren
Aktien bis zu einem bestimmten Termin in Aktien der neuen
Gesellschaft umtauschte, und zwar alle Aktien im Nennwert
von je 1500M. in neue im Nennwert von 1000 M. Die »Dampf-
Schlepp-Schififahrts-Gesellschaft der Vereinigten Saale- und Elbe-
Schiffer« aber änderte ihren Namen in »Vereinigte PHbe-Schif-
fahrts-Gesellschaften Aktiengesellschaft« mit dem Sitz in Dres-
den um und erhöhte ihr Aktienkapital von 3 500 000 M. auf
II 100 000 M. Von den neuen Aktien im Betrage von 7 600 000 M.
wurden 4 300 000 M. zum Erwerb der Aktien der »Kette«, der
Rest zum Ankauf der »Nord-West« -Aktien verwendet. Die An-
leihescheine der »Kette«, von denen noch ein Betrag von i 309000M.
im Umlauf war, wurden al pari zurückgezahlt, dagegen für
I 400 000 M. neue Anleihescheine zu 4 Proz. verzinslich und zu
102 rückzahlbar ausgegeben. Finanziert wurde die Fusion durch
ein Bankkonsortium, das es auch übernahm, die neuen Aktien an
den Börsen zu Berlin, Hamburg, Leipzig und Dresden einzufüh-
ren; es bestand aus der Dresdener Filiale der Deutschen Bank,
der Kommerz- und Diskontobank in Hamburg, dem Schaaffhausen-
schen Bankverein und der Bankfirma Philipp Elimeyer in Dresden»
Dasselbe erhielt für seine Tätigkeit den Betrag von 170 000 M.
Die »Vereinigten Elbe-Schiffahrts-Ges. A.G.« eröffnete den Be-
trieb am I. Januar 1904 und verfügten dabei über ein Betriebs-
material von 58 Radschleppdampfern zu je 250 bis 1200 PS,
19 Eilgutdampfern zu je 170 bis 350 PS, 35 Kettendampfern von
je 60 bis 180 PS, 23 Schraubendampfern zu je 40 bis 250 PS, 2 Ka-
naldampfern, einem Dampfbagger, 7 Dampfbarkassen, 4 Motor-
booten, I Werkstattschiff, 5 Dampfwinden, 7 fahrbaren Dampf-
kränen, 262 eisernen Frachtschiffen mit Tragfähigkeit zwischen
272 bis 1 198 t, 46 hölzernen Frachtschiffen mit Tragfähigkeit zwi-
schen 200 und 600 t, 165 Leichterschiffen, 14 Lagerschiffen und
565 km Schiffskette; das Personal betrug 2242 Mann.
Hiermit war ein entscheidender Schritt getan, und eine neue
— iSS -
Epoche begann für die Elbschiffahrtsunternehmungcn. l^'ast ein
Jahrzehnt hatte man vergeblich versucht dem Rückgang der Ren-
tabilität der Eibschiffahrt und den starken Mißständen der rück-
sichtslosen Konkurrenz durch losere oder festere Kartelle zu be-
gegnen. Alle diese Kartelle lösten sich nach kurzer Zeit wieder
auf, und die Einzelunternehmungcn waren in ihrer Isoliertheit
wieder zur alten Schwäche und zum Kampf um die Sclbsterhal-
tung verurteilt. Eine Aenderung der unhaltbaren Zustände, durch
welche die Eibschiffahrt völlig zugrunde gerichtet werden mußte,
war auf dem bisherigen alten Wege nicht zu erwarten. So schritt
man jetzt zu einem neuen Mittel, das wohl auch in Zukunft das
einzige erfolgreiche bleiben und immer das Ziel aller weitschauen-
den Unternehmerpolitik in der ElbschifTahrt sein wird : der dauern-
den untrennbaren Vereinigung der selbständigen Schiffahrtsunter-
nehmungen zu einem einheitlichen Betriebe. Auf diesem Wege,
der die Richtschnur aller Schiffahrtspolitik auf Jahrzehnte hinaus
bleiben muß, hatte man nunmehr den ersten Schritt getan. Man
hatte, wie es begreiflich ist, die Fusionsbewegung bei den bedeu-
tendsten Unternehmungen begonnen. Daß die Schöpfer und Lei-
ter dieser Fusionsverhandlungen sich ein festes weiteres Programm
gemacht hatten und dieses entschlossen Schritt vor Schritt durch-
zuführen suchten, hat die weitere Entwicklung in der Eibschiffahrt
bewiesen. Freilich betrat man damit völliges Neuland und hatte
viel teures Lehrgeld zu zahlen. Mit Kartellen als dauerndem
Besserungsmittel hatte man nunmehr .endgültig gebrochen; das
Ziel aller Verhandlungen war jetzt die Betriebskonzentration eines
immer größeren Teiles der Schiffahrtsunternehmer in einer Hand.
Ein noch sehr schwieriges Problem blieb aber noch ungelöst : die
Eingliederung der Privatschiffer in die Betriebskonzentration ; aber
auch darin arbeitete man schon jetzt unermüdlich, wie später ge-
zeigt werden wird.
Das plötzliche und unvermutete Auftreten einer so gewalti-
gen zentralisierten Macht auf der Elbe erweckte begreiflicher-
weise in allen Interessentenkreisen große Aufregung.. Schon am
I. Dezember 1903 interpellierte im österreichischen Abgeordneten-
haus der Abgeordnete Nowack die Regierung über die Maßnah-
men, welche sie gegen die Monopolisierung der Eibschiffahrt zu
ergreifen gedenke, und einige Tage später stellte der Vizepräsi-
dent des Bundes österreichischer Industrieller den Dringlichkeits-
antrag im österreichischen Industrierat, man solle Stellung nehmen
— i89 —
gegen die neue Fusionierung. Aber auch in Deutschland war die
Erregung groß. Es tauchten die verschiedensten Pläne auf. So
beriet man über die Fusionierung sämtlicher außerhalb der »Ver-
einigten« stehenden Elbschiffahrtsgesellschaften unter Führung der
»Deutsch-Oesterreichischen«, doch sprach sich gegen dieses Pro-
jekt die Generalversammlung der >Elbe« aus, indem sie vielmehr
ein Kampfkartell zwischen jenen außenstehenden Schiffahrtsge-
sellschaften und den Kleinschiffern gegen die »Vereinigten« emp-
fahl. In Hamburger und Berliner Handels- und Spediteur-
kreisen ging man mit Gedanken von Gründungen neuer Elb-
frachtschiffahrtsgesellschaften ernstlich um, und die Hamburg-
Amerika-Linie trat mit dem Projekt in die Oeffentlichkeit, die
Verfrachtung ihrer Güter auf der Elbe bis nach Böhmen selbst
in die Hand zu nehmen.
Alle dies Pläne blieben jedoch unausgeführt, und bald trat
allmählich wieder Ruhe ein, zumal man einsah, daß die neue
Gesellschaft auf der Elbe zwar mächtig aber nicht allmächtig war.
Die einzige bleibende und ersprießliche Wirkung, den der Schrecken
hervorgebracht hatte, war die lang vergeblich erstrebte Zusam-
menschließung der Kleinschiffahrt zu einer kraftvollen, straffen,
wirtschaftlichen Vereinigung, wie sie die »Privat-Schiffer-Trans-
port-Genossenschaft« darstellte ^). Diese Organisierung der Privat-
Schiffseigner geschah vollständig im Sinne der » Vereinigten< ,
wenn sie auch anfangs äußerlich im Kampfe gegen diese er-
folgte.
So herrschte vorläufig in der Eibschiffahrt Frieden, und, was
man vorher getrennt und mit zersplitterten Kräften vergeblich
erstrebt hatte, das wurde jetzt nach Konzentration der Kräfte
zum Teil erreicht. Das Jahr 1904 war infolge eines ganz abnorm
tiefen, seit über 200 Jahren nicht mehr beobachteten Wasser-
standes, ein sehr ungünstiges für die Schiffahrt; während des
ganzen Sommers, vom 19. Juli bis 22. September, ruhte wegen
Wassermangel die Schiffahrt fast vollständig. Das war eine harte
Probe für die beiden jungen Organisationen, aber sie bewährten
sich in dieser schweren Zeit glänzend. Obwohl große Not in den
Kleinschifferkreisen eintrat, und man gern für jeden Preis und zu
jeder Bedingung die wenigen möglichen Ladungen an sich ge-
rissen hätte, hielt die P.T.G. ihre MitgUeder straff zusammen
und von den Geschäften zurück, so daß die Frachten, die aus-
I) Vgl. S. 159.
— IQO —
bedungen wurden, einigermaßen den Leistungen entsprachen.
Die Frachten waren auch im Frühjahr bei günstigem Wasserstande
sogleich nach Auftreten der beiden Organisationen auf der Elbe
um 8 bis 25 Proz. gestiegen. Diese günstige Wirkung war nur
dadurch ermöglicht worden, daß unter den Gesellschaften die
Konkurrenz bedeutend herabgemindert wurde und nunmehr Groß-
und Kleinschiffahrt gemeinsam zielbewußt und mit dem nötigen
Machtaufgebot auf Hochhaltung der Frachten und Schlepplöhne
hinarbeiteten. Dieses Nebeneinanderarbeiten verdichtete sich so-
gar im Jahre 1905 zu einem Frachtkartell, anfänglich nur zwi-
schen der »Elbe« und der »Deutsch-Oesterreichischen« mit der
P.T.G., dem jedoch später bald auch die »Vereinigten^ beitraten.
Man verpflichtete sich zu gemeinsamer Frachtenpolitik und Be-
rechnung gleicher Schlepplöhne ; für Frachtpreise nach den ein-
zelnen Orten wurden feste Tarife vereinbart, die jedoch nach dem
Wasserstand und folglich der Ladefähigkeit der Kähne abgestuft
wurden. Als maßgebend wurde der Wasserstand am Dresdener
Pegel festgesetzt. Diese Vereinbarung galt sowohl für die Berg-
wie für die Talschiffahrt. In der Beschaffung von Frachtgütern
war jeder Partei freie Hand gelassen. Hier herrschte freie Kon-
kurrenz. Nur durfte keine Unterbietung im P^rachtpreise statt-
finden. Auch für die zum Transport ihrer Frachtgüter von den
Gesellschaften beschäftigten Privatschiffseigner wurden je nach
Höhe der Frachtpreise feste Anteilsfrachten vereinbart, um sie
vor Ausbeutung zu schützen. Für den Hamburger Export nach
Oesterreich wurde ein besonderer Vorzugstarif vereinbart, bei
dessen Anwendung jedoch den Privatscüiffseignern die gleichen
Anteilsfrachten wie bei dem Normaltarif gewährt und die dazu
nötigen Opfer von den Gesellschaften aus ihren eigenen Schlepp-
lohneinnahmen aufgebracht wurden. Die Höhe der P'racht- und
Schleppsätze (bei durchschnittlich ziemlich tiefem meist nicht voll-
schiffigem Wasserstand betrugen im Jahresdurchschnitt für 1905
für Frachten von Hamburg nach den verschiedenen Eibstationen
0,02 — 1,09 Pfg. für einen tkm) war von Seiten der Schiffahrts-
treibenden in mäßigen Grenzen gehalten. Von allen Transport-
interessenten, den Hamburger Spediteuren und Verladern, wie
dem österreichischen Bund der Industriellen und den Kohlenprodu-
zenten wurde ausdrücklich anerkannt, daß kein Grund zu Klagen
oder gar zur Gründung von neuen Schiffahrtsgesellschaften vor-
liegfe.
— 191 —
So wurde das Jahr 1905 für die Eibschiffahrt ein sehr gün-
stiges, wie sie seit langem keines mehr genossen hatte, und
schon träumte man sich an dem ersehnten Ziele einer wieder
rentabel und lebensfähig gewordenen Eibschiffahrt : noch war es
aber nicht so weit. Im Februar 1906 kam es infolge von Mei-
nungsverschiedenheiden und Interessengegensätzen zu der Auf-
lösung des Frachtkartelles und es entbrannte nunmehr noch ein-
mal mit aller Heftigkeit der Konkurrenzkampf, der auf allen Sei-
ten mit großer Erbitterung und Machtentfaltung geführt wurde.
Die P.T.G. hatte für einen solchen Fall Vorsorge getroffen, da-
mit sie nicht im Bergverkehr für Benutzung der Schleppkraft
ihrem stärksten Gegner, der »Vereinigten« bedingungslos ausge-
liefert sei : sie hatte sich beizeiten vertragsmäßig die Schleppkraft
der »Elbe« und der »Deutsch-Oesterreichischen« zur Bedienung
ihrer Kähne gesichert; doch trotzdem standen der Genossenschaft
für ihre 900 Kähne nur 23 Schleppdampfer zur Verfügung, die
zwar verhüteten, daß sie nur auf die Schleppkraft der »Vereinig-
ten« angewiesen war, aber völlig unzureichend für die Bewälti-
gung ihres Schleppkraftbedarfes waren. Die »Vereinigten« aber
nahmen, um sich in Beschaffung ihres Schleppanhanges sowie des
für ihre Güter benötigten Kahnraumes von der P.T.G. selbstän-
dig zu machen, eine Anleihe von i 800 000 M. auf, und beschaff-
ten sich dafür 50 neue Schleppkähne. Zu demselben Vorgehen
veranlaßten sie auch die ihr angegliederte »Nord-West«, die zu
diesem Zwecke eine Anleihe von 2 Millionen Kronen aufnahm,
eine Maßnahme, die im Augenblick vielleicht zweckmäßig, für die
Gesundung der Eibschiffahrt jedoch wenig praktisch und weit-
schauend war.
So war es natürlich, daß die günstigen Resultate des Vor-
jahres nicht wieder erzielt werden konnten ; es zeigte sich hier
wieder, daß die Großschiffahrt oder Kleinschiffahrt für sich iso-
liert, wenn auch jede noch so stark organisiert ist, zur Besserung
der Verhältnisse nicht imstande sind, sondern daß dieses Ziel nur
vereint erreicht werden kann. Von dieser Ueberzeugung durch-
drungen, traten am Ende des Jahres 1906 die Gegner wieder zur
gemeinsamen Verhandlung zusammen. Jedoch erstrebte man nun-
mehr von Seiten der weitblickenderen Verhandlungsteilnehmer
keine, auf lose, leicht kündbare Kartelle begründete Vereinigung,
sondern man hatte aus der Entwicklung und Erfahrung gelernt,
daß dauernde Besserung in der Eibschiffahrt nur eine allgemeine,
— IC)2 —
fester organisierte Betriebsgemeinschaft von Klcinschiffahrt und
Großschiffahrt des ganzen Kibgebietes bringen konnte; so setzte
man die im Jahre 1903 mit Entstehung der Fusionsgesellschaft
der > Vereinigten f, und der P.G.T. begonnene Politik der ein-
heitlichen Betriebsvereinigung fort. Zur Schaffung eines solchen
trustartigen Gebildes führten dann auch endlich am 17. April 1907
in Berlin die Verhandlungen, die von den entsprechenden Gene-
ralversammlungen am 23. Mai 1907 genehmigt wurden. Die Füh-
rung hierbei hatten die »Vereinigten« übernommen, die aber nur
mit sehr starken und tiefgreifenden Konzessionen zugunsten der
kleineren und kleinsten Unternehmer deren Anschluß hatte er-
reichen können, und dadurch für das Wohl der Eibschiffahrt
schwere Opfer auf sich nahm; vielleicht waren die Verhältnisse
doch noch nicht für eine so starke Betriebskonzentration reif, wie
später gezeigt werden wird.
Das Ergebnis der Verhandlungen war folgendes : i. Die P. T. G.
gibt ihren gesamten Schiffspark für eine feste Jahresmiete zur
freien Verfügung an die »Vereinigten« ab, verzichtet auf jede
eigene, äußere Geschäftstätigkeit und tritt nur noch als Mittel-
person zwischen ihren Genossen und den »Vereinigten« auf. Ihre
sämtlichen Rechte und Pflichten ihren Genossenschaftern gegen-
über sind an die >^ Vereinigten« übergegangen, deren Anweisun-
gen sich erstere unbedingt zu unterwerfen haben. Als Vertrauens-
mann tritt ein Mitglied des Vorstandes der P.T.G. in den Auf-
sichtsrat der »Vereinigten« ein. Die Genossenschaft zahlt an die
Genossen während mindestens 10 Rfonaten des Jahres monatlich
postnumerando einen festen Mietpreis für ihren Kahnraum aus,
der abgestuft ist nach Tragfähigkeit, Verwendungsfähigkeit und
Güte des Fahrzeuges und berechnet wird nach einer festen Ta-
belle, die zwischen der P.T.G. und den «Vereinigten« vereinbart
worden ist; er beträgt durchschnittlich etwa 0,30 M. pro Tag
und Tonne. Hierfür hat der Schiffseigner den Lohn für den
Schiffsführer und die Schiffsbesatzung sowie alle Reparaturkosten
zu bezahlen. P'ür diejenigen Tage oder längeren Zeitabschnitte
jedoch, während deren ein Fahrzeug infolge von besonderen Um-
ständen wie Streiks, Aussperrungen, Haverien, Reparaturen usw.
nicht ausgenutzt werden kann, wird seinem Eigentümer keine Ver-
gütung gezahlt, vielmehr werden diese Tage von den Betriebstagen ab-
gezogen. Ebenso ist den Genossenschaftern die vertragsmäßige Ver-
gütung von den :» Vereinigten <■ nicht zu zahlen, wenn Aufruhr, eine
— 193 —
Mobilmachung oder ein Krieg des Deutschen Reiches oder Oester-
reich-Ungarns in Europa, ebenso, wenn Epidemien, Niedrigwasser
oder sonstige Elementarereignisse den gesamten Schiffahrtsbe-
trieb der »Vereinigten« unmöglich machen. Die Mietpreise müs-
sen erhöht werden, wenn der Lohn für einen Steuermann monat-
lich 135 M., für einen Deckmann 116 M. übersteigt.
Die Verwaltungskosten der P.T.G. werden sämtlich von der
»Vereinigten« bezahlt. Diese ist zur Abnahme von höchstens
425000 Tonnen Kahnraum von der Genossenschaft verpflichtet,
während sie selber ihren Kahnraum während der Vertragszeit
nicht um mehr als 1 5 Proz. des Tonnengehaltes nach dem Stande
vom I. Januar 1908 erhöhen darf. Die »Vereinigte« übernimmt
sämtliche Transportkosten, wie Schlepp-, Bugsierlöhne usw., so-
wie die Kosten des Ent- und Beiadens der Schleppkähne. Für
den Lohn der Mannschaften sowie für die Beiträge zu sozialen
Versicherungen haben die Mitglieder der Genossenschaft selbst
aufzukommen; jedoch ersetzt die Gesellschaft ihnen die Reiseun-
kosten der Schiffsmannschaft zu Beginn und am Schluß der Schiff-
fahrtsperiode von bez. nach ihrem Heimatsorte. Uebersteigt die
Betriebsdauer innerhalb eines Jahres lo Monate, so zahlt die Ge-
sellschaft den Mietpreis für die Kähne nicht an die Genossen-
schafter selbst, sondern an die Genossenschaft, die den hieraus
erzielten etwaigen Jahresgewinn nach Beschluß der Genossen-
schaftsversammlung verwendet, ev. auch unter die Genossen ver-
teilt. Der Genossenschafter erhält von der Gesellschaft für diese
Zeit den Lohn für die Schiffsführer und die Schiffsbesitzer. Die
»Vereinigten« übernehmen für die Dauer des Vertrages die 1008
Stück Aktien der »Deutsch-Oesterreichischen« die sich im Besitze
der P.T.G. befinden.
2. Die »Vereinigten« erhalten von der »Deutsch-Oesterreichi-
schen« pachtweise deren gesamten Schiffspark und Inventar über-
lassen und verpflichten sich, außer der vollständigen Erhaltung
und Amortisation desselben zur Tragung sämtlicher Geschäfts-
unkosten der Gesellschaft und zu einer öprozentigen Verzinsung
des Nennwertes ihres Aktienkapitales. Die »Deutsch-Üesterreichi-
sche« verzichtet auf jede selbständige gewerbliche Tätigkeit auf
der Elbe.
3. Die »Vereinigten« übernehmen ferner den gesamten Schiffs-
park und das Inventar der „Elbe« pachtweise und verpflichten
sich zur Zahlung einer jährlichen Pachtsumme, die außer den
Zeitschrift für die ges. Staatswissensch. Ergänzungsheft 50, I 3
— I V'4
Geschäftskosten und der Amortisation des Betriebsmateriales eine
jährlich Sprozentige Dividende auf das Aktienkapital der »Elbe«
ermöglicht.
Sämtliche Verträge wurden für die Dauer von lO Jahren
bis zum 31. Dezember 19 16 abgeschlossen.
Damit war ein gewaltiger Verband auf der Elbe ins Leben
getreten, wie er bisher noch auf keinem deutschen Flusse zu
finden gewesen ist. Die > Vereinigten« faßten in ihrem Betriebe
allein 123 Dampfer und 11 17 Schleppkähne von zusammen
605 556 t Tragfähigkeit. Das Personal betrug 3504 Mann. Es
ist begreiflich, daß diesmal die Aufregung noch eine viel größere
war als im Jahre 1903; bestand doch nunmehr nur noch die
kleine *Neue Norddeutsche« als selbständiger Konkurrent dem
Trust gegenüber, und auch ein bedeutender Teil der Kleinschiff-
fahrt war von ihm vollständig abhängig geworden. Von 1782
Schleppkähnen mit einer Tragfähigkeit von i 051 929 t, die auf
der Elbe vorhanden sind, wurden von dem Trust 11 17 Kähne
(62%) mit 605000 t Tragfähigkeit (57,5%) geleitet.
Tab. 59-
Frachtsätze auf der Elbe 1897—1907-
I.
2. 1 3-1
Braunkohlen Aussig-M
pro t in Pf.
4-
agdeburg
Mittlerer
Frachtsatz
(nach *
Wochen-
notierung)
5-1 6. 1 7.
Massengut Hamburg-Magdeburg
pro t in Pf.
J ah r
Höchster
Frachtsatz
Niedrigster
Frachtsatz
Höchster
Frachtsatz
Niedrigster
Frachtsatz
Mittlerer
Frachtsatz
(nach
Wochen-
notierung)
1897
1898
1899
1901
1902
1903
208
388
159
260
320
i 300
91 12S
73 166
82 117
160 215
160 1 280
160 ' iSS
370
575
440
410
370
2S0
180
145
160 1
220
100
H5
267
270
236
278
181
177
Mittel aus den
6 Jahren .
1905
1906
1907
259
290
380
300
121
200
200
240
166
235
256
276
40S
290
380
300
153
200
200
241
235
235
256
276
Mittel aus den
3 Jahren .
i 323
'1
1 -3
256
323
213
256
Wie dieser mächtige Zusammenschluß auf dem Frachten-
markt und somit auf die Verdienstverhältnisse sämtlicher auch
— 195 —
der dem Trust nicht angeschlossenen Schiffahrttreibenden gewirkt
hat, ersieht man aus den Angaben der Tabelle 59, in der die
Jahresminimal-, Maximal- und Durchschnittsfrachten der letzten
Jahre von 1897 — ^9^7 angegeben sind. Bei den Aussiger Kohlen-
frachten weist das Jahresmittel von 1895 — 1907 eine Steigerung
von 54% gegenüber dem aus den Jahren 1897 — 1903 auf, und
im Hamburger Bergfrachtverkehr für dieselben Zeitperioden eine
Steigerung von 9%. Diese Ergebnisse müssen als höchstbe-
friedigend bezeichnet werden. Es war nun endlich nach Jahr-
zehnten gelungen, den größten Teil der Eibschiffahrt zu einigen
und diesen größten Teil unbedingt nur von einem Willen ab-
hängig zu machen. Es war das schwierige Problem gelöst, Groß-
schiffahrt und Kleinschiffahrt zu einem unterschiedslosen Ganzen
zusammenzufügen, und zwar in einer Form, die unbedingt aner-
kannte, daß das Kleinschiffergewerbe auf der Elbe notwendig
und existenzberechtigt ist, und daß es als gleichwertiger, eben-
bürtiger Partner den Großschiffahrtsunternehmungen gegenüber
besteht ; Großschiffahrt und Kleinschiffahrt können ohne einander
nichts Bedeutsames und Entscheidendes auf der Elbe leisten.
Auch hatte man endlich begonnen durch die Vertragsbestim-
mungen zwischen den »Vereinigten« und der P.T.G. das unge-
sunde und unsinnige Vermehren des schwimmenden Kahnraumes
vertraglich einzudämmen. Freilich, um hier eine tiefgreifende
Besserung zu erreichen, war der Konzern der »Vereinigten« noch
zu schwach, und waren die Außenseiter noch zu stark und in
ihrer Konkurrenz noch zu leidenschaftlich.
Die Organisationsformen des Konzerns werden voraussicht-
lich in Zukunft das, wenn auch verbesserungsfähige Vorbild für
weitere Konzentrationsbestrebungen auf der Elbe und vielleicht
auch auf anderen Wasserstraßen bleiben. Die »Vereinigten«
dachten sich von Anfang an ihre Tätigkeit und Frachtpolitik so,
daß sie je nach Stand des Güterangebotes und je nach dem
Wasserstand ihren ganzen Kahnraum schwimmen und direkt nach
den Hafenorten des Bedarfes dirigieren, oder ihn zu einem größeren
oder geringeren Teil außer Betrieb setzen würden, um dadurch
den Frachtensatz stets auf einer gleichmäßig gesunden Höhe zu
erhalten, die einerseits der Gesellschaft und den außenstehenden
Kleinschiffern eine entsprechende Verzinsung ihres Kapitales und
den landesüblichen Gewinn sichern, andererseits aber die Eib-
schiffahrt unbedingt konkurrenzfähig mit der Eisenbahn erhalten
— 196 —
sollte. Dieser Gedanke war vernünftig und durchführbar, und
hätte der Eibschiffahrt wieder zu einer gewissen Blüte verhelfen
können. Die »Vereinigten^ gingen aber, als sie den gepachteten
Gesellschaften so bedeutsame Renten zusicherten, und diese schon
durch Verbilligung der gesamten Verwaltungsunkosten wieder
hereinzubringen hofften, bei ihren Kalkulationen von einer Vor-
aussetzung aus, die nicht eintraf. Sie rechneten nämlich für den
größten Teil der Pachtperiode mit gesunden Normaljahren im
Eibverkehr und in den Eibwasserständen, wie sie in den letzten
Jahren vor dem Kartell von 1905— 1907 gewesen waren. Diese
Voraussetzung aber traf nicht ein, und das wurde den Konzernen
verhängnisvoll, wie später gezeigt werden wird. Die Jahre 1908
bis 191 2 bilden eine recht ungünstige, unnormale Schiffahrts-
periode, sowohl für die Elbe wie auch für die meisten anderen
deutschen Wasserstraßen und zumal das Jahr 191 1 mit seiner
ganz ungewöhnlichen Trockenheit und seinem Wasserstand im
Jahresdurchschnitt von minus 124 cm am Dresdner Pegel, der
die Schiffahrt fast während 3 Monate und teilweise gerade wäh-
rend der sonst regsten und ertragreichsten Schiffahrtsperiode
völlig lahm legte, stellte einen Wasserstand dar, wie er seit mehr
als 200 Jahren auf der Elbe nicht beobachtet worden ist. Diesen
Umständen waren die »Vereinigten« mit ihrem vielleicht allzu
großen Optimismus, den sie bei den Vertragsabschlüssen gezeigt
haben, nicht gewachsen.
Die Panik über das neue Riesenunternehmen führte im Sep-
tember 1907 zur Gründung einer neuen Elbschiffahrts-Gesellschaft,
der »Neuen Deutsch-Böhmischen« mit einem Aktienkapital von
3 Millionen Mark, die aber dem Konzern anfangs nicht sehr
empfindliche Konkurrenz machen konnte, und bald bestrebt war,
sich mit der »Vereinigten« zu verständigen.
Ein viel gefährlicherer Feind erwuchs den > Vereinigten* da-
gegen in ihrem eigenen Innern. Sie hatten ihre Macht allzu
teuer erkauft und den Pachtgesellschaften zu günstige Angebote
machen müssen. Das ist sofort zu erkennen, wenn man die
Dividenden in Betracht zieht, die in den Jahren 1908— 19 12 von
der Hauptgesellschaft den Pachtgesellschaften gezahlt worden
sind. (Siehe Tab. 60, S. 197.)
Diese Tabelle ergibt einen schreienden Gegensatz zwischen
denen, die nur verzehren imd nicht das geringste Risiko auf sich
genommen haben und denen, die arbeiten und alles wagen.
197
Tab. 60.
Dividenden der Pachtgesellschaflen der >V ereinigten
Elbschiffahrts-Gesellschaften«.
I.
2.
3-
4-
5-
6.
Gesellschaft
1908
1909
1910
1911
1912
>Nord-West«
»Deutsch-Oesterreichische«
4%
6%
4%
6%
4%
6%
4%
6%
4%
6%
»Elbe*
»Vereinigte Elbschiffahrts-
8%
8%
8%
10%
8%
Gesellschaften«. . . .
0%
1%
0%
0%
0%
Hier Wandel zu schafifen, bot sich den »Vereinigten« wider Er-
warten sehr bald eine äußerst günstige Gelegenheit. Anfangs
des Jahres 1909 stellte es sich nämlich anläßlich der Weigerung
eines Privatschiffseigners, den Weisungen der »Vereinigten« nach-
zukommen, heraus, daß sich infolge einer Lücke sowohl in dem
Genossenschaftsvertrag, wie in dem Pachtvertrag der P.T.G. mit
den »Vereinigten« unter gewissen Umständen sämtliche Privat-
schiffer der Genossenschaft rechtlich einwandfrei weigern konnten,
ihren Vertragspflichten gegenüber den »Vereinigten« nachzu-
kommen. Als dies durch ein Reichsgerichtsurteil bestätigt wor-
den war, wagten die »Vereinigten« mit nicht geringem Risiko für
den Bestand des Trustes den Schritt, sämtliche im Jahre 1907
von ihr abgeschlossene Verträge für ungültig zu erklären. Bei
den Verhandlungen über Abänderung der Verträge setzten es
die »Vereinigten« durch, daß die von ihr der P.T.G. zu zahlen-
den Pacl-.tsummen verringert und die Dauer der Verträge mit
sämtlichen Kontrahenten auf die Zeit bis zum 31. Dezember 191 2
abgekürzt wurde. Diese Herabsetzung der Pachtsumme, die 5 %
der Gesamtjahres-Bruttoeinnahme betrug, und für die »Vereinigten«
eine Ausgabenminderung von 250000 M. bedeutete, entsprach
auch den stark gedrückten wirtschaftlichen Verhältnissen der
Jahre 1908 und 1909 in der Eibschiffahrt, die auf einem deut-
lichen, relativen Rückgang der Frachtgüter besonders im Talver-
kehr von Böhmen aus beruhten, jedoch immer noch nicht denen
der kommenden Jahre gleich kamen, die noch schlechter als
die Jahre 1908 und 1909 werden sollten. Der Güterrückgang
infolge des Konjunkturtiefstandes und seiner Nachwehen wurde
im Jahresbericht der »Vereinigten« für das Jahr 1908 für den
Gesamtelbeverkehr auf 2 Millionen Tonnen geschätzt.
Diesem Rückgang suchte die Trustgesellschaft auch dadurch
- I9.S -
zu begejj^nen, daß sie einen Teil ihres Schiffsparkes, und zwar
den ältesten, während eines Teiles des ßetriebsjahres still legte
und dadurch die Betriebskosten zu verrinc^ern suchte. Die Ver-
ringerung konnte freilich, wie schon gesagt, nicht wesentlich sein,
wenn die Pachtgesellschaft für ihr (still liegendes) Kahnmaterial,
ganz gleichgültig, ob es beschäftigt ist oder nicht, einen so hohen
Mietpreis zahlen muß, wie es nur bei voller und lohnender Be-
schäftigung desselben verdient werden kann. Denn immer noch
zahlten die »Vereinigten« an die P.T.G. den einheitlichen festen
und hohen Satz von 1 1 M. für je eine Jahrestonne Kahnraum.
Eine volle Ausnutzung der neuen Betriebsstärke war der Gesell-
schaft nicht möglich und sie schloß daher das Jahr einschließ-
lich 753 ooo M. Abschreibungen mit einem Verlust von 66i ooo M.
ab, der aus dem Reservefond gedeckt wurde. Das Jahr 1909
war für die gesamte Schiffahrt an sich kein günstiges (da der
Wasserstand fast das ganze Jahr hindurch Vollschiffigkeit auf-
wies, machte sich die Ueberproduktion des Kahnraumes durch
starke Konkurrenz der Außenseiter und folglich durch niedrige
Frachtsätze sehr fühlbar), doch gelang es den »Vereinigten« doch
einen Reingewinn von 130000 M. herauszuwirtschaften und ein
Prozent Dividende zu verteilen. Das Jahr 19 10 wies wirtschaft-
lich für die Eibschiffahrt die gleichen Verhältnisse auf wie das Jahr
vorher, und schloß für die Gesellschaft trotz nicht unbedeuten-
der Mehrleistung, besonders im Schleppgeschäft einschließlich
748000 M. Abschreibungen mit einem Verlust von 923000 M.,
der bis zur Höhe von 134000 M. einem Reservefond entnommen
werden konnte.
Alle diese ungünstigen wirtschaftlichen Verhältnisse wurden
aber noch übertroffen im Jahr 191 1, das für die gesamte Eib-
schiffahrt fast den Charakter einer Katastrophe annahm. Hiezu
kam noch, daß einerseits infolge eines Streikes die Löhne der
Schiffermannschaften im Frühjahr hatten erhöht werden müssen,
und daß andererseits im Herbst, infolge der ermäßigten agrari-
schen Notstandstarife der preußischen Eisenbahn der Eibschiff-
fahrt bedeutende und sonst lohnende Frachten an Futter und
Düngemitteln entzogen wurden. So kam es, daß alle Elbschiff-
fahrtsgesellschaften mit Verlusten in diesem Jahre abschlössen
und für die abseits vom Konzern stehenden Privatschiffer allent-
halben behördliche und charitative Hilfsmaßnahmen eingeleitet
werden mußten.
— 199 —
Dieses Jahr mußte die »Vereinigten« mit ihrem großen Kahn-
park empfindlich treffen. Freilich gelang es ihnen, wegen der
abnormen Verhältnisse für einen Teil des Jahres das Pachtver-
hältnis mit der P.T.G. aufzuheben und dadurch um ein Geringes
ihre schweren Pachtverbindlichkeiten zu erleichtern. Trotzdem
aber schloß das Jahr einschließlich 757000 M. Abschreibungen
mit einem Verluste von 979 000 M. ab, der zusammen mit dem
Verlustsaldo des Vorjahres eine ungedeckte Gesamtverlustsumme
von 1667000 M. bildete. Ende des Jahres 191 1 kündigten des-
halb die »Vereinigten« sämtliche Pachtverträge des Jahres 1907
für den 31. Dezember 19 12.
Das Jahr 191 2 gestaltete sich an sich etwas günstiger, brachte
jedoch durch den englischen Kohlenarbeiterstreik im Berggeschäft
ab Hamburg und später im Herbst durch die alten sowie neu-
eingeführten Notstandtarife der preußischen Eisenbahn zur Be-
kämpfung der Fleischteuerung bedeutende Transportausfälle.
Der letztere Umstand allein verursachte den »Vereinigten« gegen
das Jahr 1910 einen Ladungsgüterausfall von 200 000 t. So
konnten auch in diesem Jahre die »Vereinigten« trotz einer
Steigerung der gefahrenen Tonnenkilometer von 2345 Millionen tkm
im Jahre 1910 auf 2420 Millionen tkm im Jahre 1912 ihre ge-
samten Betriebsmittel nicht voll ausnutzen. Sie schlössen das
Jahr bei 795 000 M. Abschreibungen mit einem Reingewinn von
15638 M. ab, der freilich als ein Nichts von dem Verlustsaldo
des Vorjahres verschlungen wurde. Mit dem 31. Dezember 19 12
wurde die Gesellschaft endlich von den ihr so lästig gewordenen
Pachtverträgen frei. Damit erreichte der erste starke Versuch,
den größten Teil der Eibschiffahrt in einer Hand zu vereinigen,
sein Ende. Aber er wird nicht der letzte gewesen sein, sondern
nur eine Periode des Lernens und Vorbereitens auf Neues ein-
geleitet haben.
Schon während des Jahres 191 1 hatten die »Vereinigten«
mit neuen Vertragsverhandlungen begonnen, die sich auch auf
noch außerhalb ihres Konzernes stehende Unternehmungen, zum
Beispiel auf die »Neue Deutsch-Böhmische« bezogen. Dieselben
führten wenigstens rücksichtlich der bisherigen Konzerngesell-
schaften zu dem Erfolge, daß mit Auflösung des alten Konzernes
sofort neue Verträge für diese Gesellschaften in Kraft traten, die
ein freundschaftliches Nebeneinanderarbeiten für die Zukunft
sicherten.
— 200 —
Auf Grund hiervon gestalteten sich die Verhältnisse am
I. Januar 1913 foli,^endermaßen : Alle früheren Kartellverträge
wurden aufgehoben, so daß die bisher gepachteten Gesellschaften
ihren Geschäftsbetrieb wieder aufnehmen konnten. Die »Deutsch-
Oesterreichische« und die »Elbe« verlegten den Sitz ihrer Unter-
nehmung wieder nach Magdeburg, und die » Vereinigten ^ gaben
der P.T.G. ihre 1008 Stück Aktien der »Deutsch-Oesterreichischen«
zurück. Die »Deutsch-Oesterreichische« schloß mit der »Elbe«
einen bis Ende 1914 laufenden Pachtvertrag ab, auf Grund dessen
diese ihren gesamten SchitTspark von 9 großen Radschlepp-
dampfern nebst Hafenflotte für eine jährliche Pachtsumme von
100 000 M. überließ. Dadurch erhielt die »Deutsch- Oester-
reichische« an Betriebsmitteln insgesamt 26 große Radschlepp-
dampfer, 9 Bugsierdampfer, 35 Schleppkähne und 17 Lagerkähne.
Dieses Unternehmen, von dessen Aktien die Mehrzahl in den
Händen der Privatschififergenossenschaft sich befindet, ging mit
den »Vereinigten«, deren eigene Betriebsmittel aus 41 Rad-
schleppdampfern, 18 Eilfrachtdampfern, 29 Kettendampfern und
354 Schleppkähnen sowie einer reichlichen Hafenflotte besteht,
einen ebenfalls bis P2nde 19 14 laufenden Vertrag ein. Dieser
lautete dahin, daß in Beziehung auf das Frachtgeschäft im Berg-
verkehr ab Hamburg, Harburg, Altona und Lübeck gleiche
Frachtsätze eingehalten werden sollen, während für das gesamte
Schleppgeschäft dergestalt eine Betriebsgemeinschaft vereinbart
worden ist, daß alle Schleppeinnahmen der beiden Kontrahenten
in eine gemeinsame Kasse fließen, die Betriebsausgaben aus die-
ser bestritten werden, und der Ueberschuß nach vereinbarten
Quoten an die beiden Gesellschaften verteilt wird. Ferner hat
mit diesen beiden Gesellschaften die Privatschiffergenossenschaft
für das PVachtgeschäft einen Vertrag abgeschlossen, durch den
ihren Genossenschaftern ein Beladungsvorrecht durch die Fracht-
kontore der Gesellschaft vor anderen Privatschiffern einge-
räumt ist.
Hiernach sind die Mitglieder des ehemaligen Konzernes auch
nach dessen Auflösung in enger gegenseitiger P^ühlung geblieben
und sehen den heutigen Zustand, wie die einheitliche, kurze
Dauer der jetzt bestehenden Verträge erkennen läßt, nur als ein
Interimistikum an. Es soll offenbar in der Zwischenzeit versucht
werden, die beiden Großunternehmungen und die 2 — 3 Privat-
unternehmungen, die an den Konzernen von 1907 — J912 nicht
— 201 —
beteiligt waren, und dessen Politik durchkreuzt haben, für einen
neuen Konzern zu gewinnen, ein Plan, dessen Verwirklichung für
absehbare Zeit nicht aussichtslos sein dürfte, und der endlich zu
einer Gesundung im Elbschiffahrtsgewerbe führen könnte, ohne
daß er für die Volkswirtschaft durch eine monopolistische Ver-
gewaltigungspolitik gefährlich werden könnte. Denn die Eib-
schiffahrt steht immer unter der preisbestiramenden Konkurrenz
der Eisenbahn.
Zeitschrilt für die ges. Staatswissensch. Ergänzungsheft 50.
— 203 —
Literatur.
Sympker , Der Verkehr auf den deutschen Wasserstraßen im Jahre 1875 — 1900.
Zeitschr. f. Binnenschiffahrt.
Heubach, Verkehrsentwicklung auf Wasserstraßen und Eisenbahnen im Elbe-Oder-
Gebiet während des Zeitraumes von 1882 — 1895.
Wittenberg, Binnenschiffahrt und Konjunktur.
Seibt, Die volkswirtschaftliche Bedeutung der Binnenwasserstraßen.
Kurt Fischer , Eine Studie über die Eibschiffahrt in den letzten hundert Jahren.
Jena 1907.
Karl Doerschzik, Genossenschaften der Binnenschiffahrt, Heidelberg 191 o.
Schiffahrtskalender für das Elbegebiet Jahrg. 1887 — 191 3.
Jubiläumsschrift des Konzessionierten Sächsischen Schiff er- Vereines. 1895.
Jahresbericht der »Kette«, Deutsche Dampfschiffahrts-Ges. Jahrg. 1870 — 1903.
Jahresbericht der »Oesterreichischen Nord-West-Dampfschiffahrts-Ges.« Jahrg. 1881
bis 1913.
Jahresbericht der »Dampfschiffahrts-Gesellschaft Vereinigter Schiffer« Jahrg. 1884
bis 1893.
Jahresbericht der »Dampfschiffahrts-Gesellschaft Vereinigter Saale- und ElbeschifiFer«
Jahrg. 1894— 1903.
Jahresbericht der »Vereinigten Elb-Schiffahrts-Gesellschaften« Jahrg. 1904 — 1913.
Jahresbericht der »Deutsch-Oesterreichischen Dampfschiffahrts-Ges.« Jahrg. 1896
bis 19 12.
Jahresbericht der »Elbe-Dampfschiffahrts-Akt.-Ges.« Jahrg. 1899 — 1912.
Jahresbericht der »Neuen Deutsch-böhmischen Dampfschiffahrts-Ges.« Jahrg. 1907
bis 1912.
Verwaltungsbericht der »Privatschiffer-Transport-Genossenschaft« Jahrg. 1904 — 1913.
Bericht über Geschäftsgang von Handel, Industrie und Schiffahrt der Handelskam-
mer zu Magdeburg Jahrg. 1865 — 1912.
Bericht des Vorstandes der Dresdner Kaufmannschaft Jahrg. 1880 — 1912,
Zeitschrift für Binnenschiffahrt Jahrg. 1893 — 1913.
Speditions- und Schiffahrts-Zeitung Jahrg. 1892 — 1903,
»Das Schiff« , Zentralblatt für die gesamten Interessen der deutschen Schiffahrt,
Jahrg. 1895—1913.
Statistik des Deutschen Reiches, Bd. 22, 35, 39 usw.
cHamburgs Handel und Schiffahrt« , zusammengestellt vom Handelsstatischen Bu-
reau Jahrg. 1872 — 191 1.
Ferner zahlreiche Artikel aus den verschiedenen Tageszeitungen, vor allem aus der
»Magdeburger Zeitung«, »Dresdner Anzeiger«, »Dresdner Nachrichten«, »Leip-
ziger Neueste Nachrichten«.
^
V
/^ ZEITSCHRIFT
FÜR DIE GESAMTE
STAATSWISSENSCHAFT
In Verbindung: mit
t Oberbürgermeister a. D. Dr F. ADICKES in Frankfurt a. M., Prof. Dr G. COHN in
Göttingen, Ober-Verw.-Ger.-Rat Prof. Dr F. v. MARTITZ in Berlin, Kaiserl.
Unterstaatssekretär z. D. Prof. Dr G. v. MAYR in München, Prof. Dr A. VOIGT
in Frankfurt a. M., Wirkl. Geh. Rat Prof. Dr A. WAGNER, Exz., in Berlin,
Dr Freiherr v. WEICHS Ministerialrat am k. k. Handelsministerium in Wien
HERAUSGEGEBEN '
VON
Dr K. BÜCHER,
o. Professor an der Universität Leipzig.
Ergänzungsheft LI.
Oeffentliches Armenrecht und persönliche Freiheit.
Von
Dr Georg Wolfgang Breithaupt.
TÜBINGEN
VERLAG DER H. L A U P P ' SCHEN BUCHHANDLUNG
1915-
Oeffentliches Armenrecht
und persönliche Freiheit.
Von
Dr. Georg Wolfgang Breithaupt.
TÜBINGEN
VERLAG DER H. LAUPP'SCHEN BUCHHANDLUNG
1915.
^/
ALLE RECHTE VORBEHALTEN.
DRUCK VON H. L A U P P JR IN TÜBINGEN.
— V —
Inhaltsverzeichnis.
Seite
Erster allgemeiner Teil.
Begründung der Gemeindearmenpflege, des dabei anzu-
wendenden Zwanges und die dadurch beeinflußte Ge-
meindeverfassung nach gemeinem Recht.
Erstes Kapitel. Die Stellung der Gemeinschafts- und Gesell-
schaftskreise zur Armenpflege. Kursorischer Ueberblick zum Zweck
der Ausscheidung der Materie und Feststellung des Problems i — 18
1. Einleitung.
a) Massen- und Einzelarmut.
b) Gemeinschaft und Gesellschaft.
c) Verhältnis derselben zur Verarmung.
d) Die drei Wirtschaftssysteme.
2. Ausführung.
a) Betrachtung vom Standpunkt der sittlichen Verpflichtung aus
1 a) Private Verpflichtung der Gemeinschaften.
aa) Familie,
bb) Herrschaft.
cc) Genossenschaft: Markgenossenschaften, Zunft,
dd) Stiftungen
2 a) Oeffentliche Verpflichtung der Gesellschaftskreise.
aa) Gemeinde, halb Gemeinschaft, halb Gesellschaft,
bb) Kirche: Lehre und Verwaltung.
cc) Staat: Beruf und Gründe; Polizei und Pflege; Ver-
waltung.
b) Betrachtung vom Standpunkte der Zweckmäßigkeit aus. Vor-
beugung und Heilung ; Polizei und Pflege.
1 a) Die privaten Gemeinschaftskreise: Familie, Herrschaft.
2 b) Oeffentliche Gesellschaftskreise.
aa) Staat: Staat und Kirche; Gründe und Grenzen,
bb) Gemeinden: Aufsicht und Ausübung; Amts- und Selbst-
verwaltung.
c) Zusammenfassung, strenge Scheidung der Aufgaben nicht mög-
— VI —
Seite
lieh; Zusammenarbeiten aller Kreise; Stellung der Kirche,
Kostenfrage ;' Ausgleich zwischen den Interessen der Gemeinden.
Zweites Kapitel. Einzelpersönlichkeit und Gesamtpersön-
lichkeit; Zwang und Freiheit. l8 — 27
a) Ausscheiden der privatrechtlich Versorgten aus der Betrach-
tung der öffentlichen Armenpflege: Besitzlosigkeit und Nicht-
ansässigkeit ; fluktuierende Bevölkerung und Wanderung; Ver-
halten der Gemeinden dagegen.
b) Allgemeine Entwicklungsgeschichte der Persönlichkeitsrechte
im Mittelalter: Vordringen der Amts- gegenüber der Selbst-
verwaltung zugunsten der persönlichen Freiheit; Aufhebung
der privaten durch die öffentlichen Beschränkungen.
1 a) Deduktion der Rechte und Pflichten der Persönlichkeit
aus ihrem Wesen und Wollen, Dasein und Handeln.
aa) Verschiedenheit der Individuen nach Wollen, Können
und Einsicht,
bb) Folgen und Beziehungen zu Familienstand, örtlicher
Bewegung, Meinungsäußerung.
2 a) Diesen Auswirkungen der Persönlichkeit entsprechende Be-
schränkungen durch die sozialen Kreise.
aa) Stellung der Kreise zur Eheschließung des Einzelnen
a I. Familie, Genossenschaft, Herrschaft.
b I. Staat: Gesundheit; Rasse; Zahl.
c I. Kirchliche Eheverbote.
dl. Gemeinde: Armen- und Nahrungsrücksichten,
bb) Stellung der Kreise zum Zugrecht: Vorübergehende und
dauernde örtliche Bewegung ; Aus- und Einwanderung ;
intra- und interterritoriale Wanderungen ; Interesse der
öffentlichen Ordnung und der Gemeinden.
Drittes Kapitel. Gemeindeangehörigkeit nach deutschem und
gemeinem Recht: Wohnsitz; Ansässigkeit; Niederlassung; Auf-
enthalt. 27—37
a) Geschichte der genannten Rechte in Deutschland.
1 a) Altgermanische Zeit und Mittelalter bis zur Entwicklung
der Städte; Rechtsbücher: Ansässigkeit.
2 a) Einfluß der Städteentwicklung: Aufnahme und Geburt.
3 a) Gleichzeitige Entwicklung auf dem Lande : Abhängigkeit ;
Unterzugsrecht.
4a) Einfluß des römischen Rechts: Domizil und Inkolat.
5 a) Einfluß der Armenverpflichtung der Gemeinden: Erschwe-
rung des Erwerbs der Gemeindezugehörigkeit.
6a) Ständische Periode: Steigende Macht des Landesherm.
b) Deduktion der Beziehungen des Einzelnen zur Gesellschaft auf
räumlicher Grundlage : Wohnsitz.
1 a) öffentlich- und privatrechtlicher Wohnsitz.
2 a) der >regelmäßige Mittelpunkt des Daseins<.
— VII —
Seite
3 a) Heimat und Ansässigkeit: Stand dieser Rechte im 19. Jh.
in Deutschland,
4 a) Die Absicht »dauernd zu wohnen« ; Ausschließungen.
5 a) Exkurs. Steins System der administrativen Bevölkerungs-
ordnung r gerichtliche, polizeiliche und armenrechtliche Zu-
ständigkeit und Kompetenz (36 — 37).
Zweiter, geschichtlicher Teil.
Entstehung der kommunalen Armenpflege; Entstehung
des Heimatrechts in Bayern und des Unterstützungswohn-
sitzes in Preußen; seine Durchführung in Deutschland;
Aufhebung der territorialen Schranken.
Viertes Kapitel. Das Armenwesen im Mittelalter.
a) Armenpflege der Kirche ; Almosenlehre und Bettelwesen. 38 — 46.
b) Bekämpfung des Bettels durch pflegerische Maßnahmen. Fran-
ken; England; Frankreich; Norwegen.
c) Armenpflege der öffentlichen Körper in Deutschland.
1 a) Die Städte.
2 a) Eingreifen des Reichs : Verpflichtung der Gemeinden.
3 a) Armenwesen der Reformation : Verbindung der kommunalen
und kirchlichen Armenpflege.
Fünftes Kapitel. Geschichte der bayrischen Armen- und
Heimatgesetzgebung. 47 — 71
a) Allgemeine kulturelle, rechtliche und wirtschaftliche Zustände
Süddeutschlands bis zum Ende des 15. Jhds.
b) Die Armen- und Bettelpolizeigesetzgebung bis in die Mitte des
18. Jhds. Polizeiordnung 1553, Landrecht 1616, Mandat 1726.
Ausbildung des gemeinrechtlichen Heimatrechts in dieser Zeit.
c) Die Maximilianeische Gesetzgebung 1751/53. Domiciliura volun-
tarium und necessarium. Strenge der Kriminalordnung. Wei-
tere Beschränkungen der Freizügigkeit durch die Bettelord-
nungen 1770/80. Extremste Ausgestaltung des Heimatrechts.
Ehebeschränkungen: domicilium justum und voluntarium.
d) Der fränkische Kreisschluß 1791. Erste interterritoriale Rege-
lung. Verkürzung und einheitliche Regelung der Ersitzungsfrist.
Würzburgische Verordn. 1791.
e) Reformen am Beginn des 19. Jhds. Aufhebung der Leibeigen-
schaft. Freiheitlichere Tendenz bis 1825. Erleichterung der
Eheschließung. Zentralisierung der Armenpflege.
f) Gesetzgebung des Jahres 1825. Inhalt und Bedeutung der
Heimat. Ansässigkeit. Aufhebung der Zunftgerechtigkeit.
Rückschlag und Reaktion 1834. Einfluß auf das wirtschaft-
liche und soziale Leben. Ueberwiegendes Gemeindeinteresse.
g) Gesetzgebung des Jahres 1868. Heimat und Bürgerrecht. Zen-
trale Stellung der Heimat im Gemeinderecht. Erleichterung
— VIII —
Seite
des Erwerbs. Grundsätzliche Freizügigkeit. Natürliches Recht
auf Eheschließung. Ehezeugnis und Aufgebot.
h) Einfluß der deutschen Reichsgesetzgebung auf Bayern. Erei-
zügigkeit. Norddeutsche gelten als Inländer. Aufrechlerhalten
der Heimat- und Ehegesetzgebung.
i) Weitere Entwicklung Bayerns in freiheitlichem Sinne. Ueber-
nahme des Unterstützungswohnsitzes.
Sechstes Kapitel. Armen- und Heimatgesetzgebung in
Preußen. 71 — 100
a) Allgemeine kulturelle, wirtschaftliche und rechtliche Zustände
der ostdeutschen Gebiete. Besiedelung. Fehdewesen. Dreißig-
jähriger Krieg.
Art und Recht der Einwanderung. Regale majus des Landes-
herm. Kolonienrecht und Niederlassungsrecht. Landeskultur-
politik der Hohenzollern. Private und öffentliche Beschrän-
kungen.
b) Bettel- und Armenordnungen bis 1748. Landfriedensdurch-
führung. Armenordnungen 1696 ff. Heimatbemessung 1708 ff.
Edikt von 1748. Verantwortlichkeit des Staates. Anstaltsein-
richtungen.
Exkurs über Anstalts- und Landarmenwesen (80 — 82).
1. Anstaltswesen in England, Frankreich, Bayern, Preußen.
Landarmenreglement von 1791. Arbeitsteilung.
2. Armenverbände. Notwendigkeit größerer Verbände. Kirch-
spiele und Unionen in England. Allmähliche Entwicklung
in Deutschland.
c) Das allgemeine Landrecht. Verpflichtung des Staats. Ueber-
weisung an die Gemeinden. Landarmenwesen. Gemeinderecht
des ALRs. Bürgerrecht und Gemeindemitgliedschaft. Schutz-
verwandte. Ersitzung und Beitrag zu den Kommunallasten.
Geltung des Domizils RRs. Oeffentliche und private Beschrän-
kungen der Freizügigkeit und Verehelichung. Grundsätzlich
öffentlich-rechtliche Freiheit.
d) Stein-Hardenbergische Reform. Gesetzgebung des Jahres 1842
in Konsequenz davon. Einheitliches Armenrecht. Prinzip des
Unterstützungswohnsitzes.
Orts- und Landarmenverbände. Freizügigkeit. Aufnahmegesetz.
Erwerb des Gesindes. Wohnung und Aufenthalt. Gleicher Er-
werb wie Verlust. Besorgnis vor künftiger Verarmung kein
Grund zur Abweisung.
Exkurs. Entstehung und Begründung des Unterstützungs-
wohnsitzes. Entwurf 1825/32 bei denProvinziallandtagen (91 — 92).
e) Besserer Schutz der Gemeinde gegen Ueberbürdung durch das
Gesetz von 1855. Karenzfrist der Ersitzung.
Exkurs. Geschichte dieses Gesetzes. Freizügigkeit und
Heimatscheine (95 — 96).
— IX —
Seite
f) Weitere Gesetzgebung Preußens. Beseitigung der Bürgerauf-
nahme durch die Städteordnung. Eintrittsgelder. Polizeiauf-
sicht, Aufnahme des französischen Prinzips.
Exkurs. Sonderstellung Berlins in bezug auf die Aufnahme
und Niederlassung. Polizeiliche Rücksichten.
Siebentes Kapitel. Gesetzgebung des Deutschen Reichs loi — 127
a) Die Regelung der interterritorialen Armen- und Heimatsgesetz-
gebung bis zur Gründung des Deutschen Reichs.
1 a) Einleitung: Interterritoriale und interkommunale Schranken.
2 a) Bis zum 19. Jahrhundert: Auswanderungs- und Reiserecht.
Nachsteuer und Paßzwang.
3 a) Die Wiener Bundesakte. Aufhebung der Nachsteuer; Er-
leichterung der Freizügigkeit und des Gewerbebetriebs.
Schwierigkeiten aus der Verschiedenheit der territorialen
Gesetzgebungen.
4 a) Die Gothaer und Eisenacher Konvention. Einheitliche
Regelung der Ausweisung und der Krankenpflege von
»Ausländern«. Vorbereitung eines Heimatrechts.
5 a) Der Entwurf eines Heimatgesetzes im Frankfurter Parla-
ment. Sorgfältige Behandlung der Materie. Forderung
größerer Freiheit und Einheitlichkeit, einer gemeindeut-schen
Gemeindeangehörigkeit.
Exkurs. Text des Heimatgesetzentwurfes (106 — 107).
b) Die Gesetzgebung des Norddeutschen Bundes und des Reiches
1 a) Die Verfassung: Schaffung eines Bundesindigenats und Fest-
stellung der Kompetenz des Bundes.
2 a) Das Freizügigkeitsgesetz : Anschluß an das preußische Vor-
bild; Person, Grundeigentum, Gewerbe; Glaubensbekennt-
nis ; polizeiliche und armenrechtliche Beschränkungen der
Freizügigkeit.
Exkurs. Die Verhandlungen über die Gewerbefreiheit
und Gewerbeordnung (31),
3 a) Das Gesetz über den Unterstützungswohnsitz.
aa) Die Vorbereitungen : Schwierigkeiten und entgegen-
stehende Anschauungen. Eheschließung,
a I. Der Bundespräsidialentwurf: Heimatrecht,
b I. Die Kommission und endgültige Fassung: Unter-
stützungswohnsitz und Aufhebung aller partikula-
ristischen Heimatrechte,
bb) Das Gesetz selbst. Gleichberechtigung der deutschen
Armenverbände. Kompetenz der Landesgesetzgebung.
Erwerb und Verlust des Unterstützungswohnsitzes ;
gleiche Frist für beide. Vorwiegen des Aufenthalts
als Erwerbsgrund. Selbständigkeit. Spätere Verände-
rungen. Herabsetzung der Ersitzungfrisl und des
Mindestalters 1894 und 1908. Geltungsbereich.
Zeitschrift für die ges. Staatswissensch. Ergänzungsheft 51.
— X —
Seite
Dritter abschließender Teil.
Schlußbetrachtung. Historische und begriffliche Gegen-
überstellung der beiden Systeme.
Achtes Kapitel. Einziges Kapitel des dritten Teils 127 — 150
a) Historische Vergleichung an der Hand der amtlichen Denk-
schriften.
a I. Die Heimat: Inhalt; Erwerb; Zuweisung; Wohnsitz; Auf-
enthalt und sonstige Bedingungen; Seydels Definition.
b I. Der Unterstützungswohnsitz. Freizügigkeit; Aufenthalt;
Verlust; Landarmenverbände. Die Denkschrift.
aa) Vorbedingungen in Deutschland u. Preußen: Einführung
durch Preußen; Ersitzungsfrist nicht maßgebliches
Kriterium, ob Heimat oder Unterstützungswohnsitz,
bb) Die Gemeinde- und Armengesetzgebung des nach-
revolutionären Frankreichs. Zentrale Verwaltung; Ein-
fluß in Deutschland ; Das Gesetz vom 24. Vendemiere
II. Unterstützungswohnsitz. Geltung in Deutschland,
cc) Trennung des politischen, bürgerlichen und Unter-
stützungswohnsitzes. Regelung der Zuständigkeit nicht
nach örtlichen , sondern nach sachlichen Kriterien.
Loslösung der arinenrechtlichen von der sonstigen Ge-
meindeangehörigkeit.
Exkurs. Das Heimatwesen in Hannover: Heimatscheine;
Oesterreich: Heimat privates Recht; Württemberg: Zu-
sammenhang mit Staatsangehörigkeit; Baden (133 — 135).
b) Begriffliche Gegenüberstellung der beiden Systeme.
Kriterium ist die Stellung der Persönlichkeit (Zuständigkeit).
a I. Zur Gemeinde: Grad der Intensität der Gemeindeange-
hörigkeit.
b I. Zum Staate: Jeder Staatsbürger muß eine Heimat haben.
Gl. Zur Familie: Geburt oder Ersitzung.
d I. Verlust der Heimat und des Unterstützungswohnsitzes.
— XI —
Literatur- Verzeichnis.
Unter Hinweis auf die allgemeine und besondere Staats- und verwaltungs-
rechtliche Literatur seien hier nur die wichtigsten Schriften über Armenwesen und
Komunalpolitik- und Recht angeführt, sowie einige alte Quellenwerke.
Aller des Römischen Reiches Ordnunge, gehaltener Reichstage und Abschiedt
usw. Maintz 1566.
Neue und vollständige Sammlung der Reichstagsabschiede usw. Frankfurt a. M.
1747-
Landrecht, Polizei, Gerichts, Malefiz, und anderer Ordnungen der Fürstentumben
Ober- und Niederbayern. München 1616.
V. Freyberg, Pragmatische Geschichte der bayrischen Gesetzgebung. 1836 bis
1838.
D ö 1 1 i n g e r , Sammlung der bayrischen Verordnungen. München.
Weber, Neue Gesetz- und Verordnungssammlungen für Bayern.
Mylius, Corpus Constitutionum Marchicarum (bis 1810).
Zell er. Systematisches Lehrbuch der Polizeiwissenschaft. Bd. 14. Armenpoli-
zei. 1834.
Pommersches Urkundenbuch.
Landrecht für Neu-Vorpommern und Rügen. 18^
Lorenz von Stein, Verwaltungslehre. 1868.
Derselbe, Handbuch der Verwaltungslehre. 1888.
V. Mohl, Polizeiwissenschaft. 1866.
V. Reitzenstein, Armengesetzgebung Frankreichs. 1881.
Aschrott, Englisches Armenwesen. 1886.
Ratzinger, Geschichte der kirchlichen Armenpflege. 1884.
U h 1 h o r n , Armenpflege. Artikel in Herzogs Realenzykl. der protestantischen
Theologie und Kirche. Bd. 2. S. 92.
V. Möller, Landgemeinden und Gutsherrschaften. 1865.
Derselbe, Preußisches Stadtrecht. 1864.
Bistram, Rechtliche Natur der Stadt- und Landgemeinde. 1866.
V. G n e i s t , Verwaltung, Justiz, Rechtsweg nach englischen und deutschen Ver-
hältnissen. 1869.
Derselbe, Die heutige englische Kommunalverfassung und Kommunalverwal-
tung oder das System des Selfgovernement. 1863.
Gierke, Deutsches Genossenschaftsrecht. 1869 ff.
Röscher, System der Volkswirtschaft, Bd. 5. Armenwesen. 1906.
Schö nberg, Handbuch, Bd. 3, 2. Armenwesen von Löning. 1897.
Johann Schneider, Ueber Armenversorgung, 1836.
— XII —
E ra m i n g h a u s , Das Armenwesen und die Armengesetzgebung in den euro-
päischen Staaten. 1870.
Oppenheim, Armenpflege und Ileimatreclit. 1870.
Luthard, Armenpflege und Unterstützungswohnsilz. 1S80.
Lammers, Staatsarmenpflege. 1881.
Derselbe, Ziele und Bahnen der deutschen Armenpflege. 1882.
Rocholl, System des deutschen Armenpflegerechts. 1873.
Derselbe, Ueber die Reform des Armenwesens. 1880.
K. Braun, Gewerbefreiheit und Freizügigkeit. 1860.
Arnold, Freizügigkeit und Unterstützungswohnsitz. 1872.
Bitzer, Recht auf Armenunterstülzung und Freizügigkeit. 1863.
V. Sicherer, Personenstand und Eheschließung im Deutschen Reich. 1879.
S c h ü z , Ueber das Verehelichungs- und Uebersiedlungsrecht mit besonderer Rück-
sicht auf Württemberg. Zeitschr. für die ges. Staatswissenschaft. 1848.
Derselbe, Ueber die sittlichen Ursachen der Armut und ihre Heilmittel.
Ebenda 1S51.
Seydel, Reichsarmenrecht. Annalen des Deutschen Reichs. 1877.
Derselbe, Die bayrische Gesetzgebung über Gewerbswesen, Heimat, Verehe-
lichung und Armenwesen. Ebenda 1871.
R e h m , Der Erwerb der Staats- und Gemeindeangehörigkeit in geschichtlicher
Entwicklung nach römischem und deutschem Recht. Annalen 1892. S. 137
bis 282.
Reger, Gesetz betr. Heimat, Verehelichung und Aufenthalt. 1908.
Riedel, Kommentar zum bayrischen Gesetz über Heimat, Verehelichung und
Aufenthalt, 1881.
Blätter für die administrative Pra.xis. Bd. 23, 27.
Riedel, Die Reichsverfassungsurkunde und die wichtigsten Administrativgesetze
des Deutschen Reiches. 187 1.
Döhl, Die Armenpflege des preußischen Staates. 1860.
V. Flottwell, Grundsätze des Obertribunals über Freizügigkeit. 1861.
Derselbe, Das Freizügigkeitsgesetz, seine wahren Väter und Feinde. Preußi-
sche Jahrbücher, Bd. 40. S. 602.
Derselbe, Das Bundesgesetz über den Unterstützungswohnsitz, seine wahren
Väter und Feinde. Ebenda, Bd. 43 und 44, SS. 588 und 8.
Geschichte der sozialen Politik und des Armenwesens im Zeitalter der Reforma-
tion von F e u c h t w a n g e r. 1908.
Denkschrift der bayr. Regierung über die Abänderung der bayrischen Heimat- und
Armengesetzgebung.
Richtpunkte für die Ausführung des Reichsgesetzes über den Unterstützungswohn-
sitz in Bayern.
Verhandlungen des besonderen 9. Ausschusses über den Entwarf eines Gesetzes
zur Abänderung der bayrischen Heimat- und Armengesetzgebung. Kammer
der Abgeordnelen 1912. Beilagen Nr. 100, 168, 293.
Von den Schriften des Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeil vornehmlich die
Bände 21, 27, 32, 34, 63, 91.
Das Heimat- und Armenwesen in Bayern. Stat. Unterlagen zur Reform der bayr.
Heimat- und Armengesetzgebung, Heft 83. Beitr. Stat. Landesamt. 1911.
Erster allgemeiner Teil.
Erstes Kapitel.
Die Stellung der Gesellschaftskreise zur Armut.
Armut ist der Zustand, in welchem der, letzten Endes, selbst-
verantwortliche Mensch nicht mehr imstande ist, die ihm ob-
liegende Versorgung seiner selbst und der auf ihn angewiesenen
Angehörigen mit dem unumgänglich notwendigen Lebensunter-
halt zu leisten. Dieser Zustand kann ein vereinzelter oder ein
massenhafter sein ^). Als soziales Problem ist die Armut in früheren
Perioden meist nur aufgefaßt, soweit sie als Massenerscheinung
auftrat. Dann galt die Beseitigung dieser Erscheinung als Auf-
gabe des Staates, welcher sie als Teil seiner Landeskulturpolitik
in Verbindung mit politischen und etwa auch mit Siedelungs-
unternehmungen betrachtete. Der Staat als solcher hat polizei-
lich bereits gegen Ausgang des Mittelalters eingegriffen, pflege-
risch jedoch erst der merkantilistische Staat im Zusammenhang
mit seiner Volkswohlfahrts- und Bevölkerungspolitik ^).
Im Gegensatz zur Massenarmut hat bei der Einzelarmut von
Anfang an, vornehmlich unter dem Einfluß der Kirche und der
Familienzusammenhänge, die pflegerische Behandlung vorgewogen.
Die Ueberlieferung der christlichen Kirche und die Rechtssitte des
germanischen Volkes trugen beide in gleicher Weise dazu bei,
daß die Armenpflege so lange ausreichend und befriedigend er-
schien, als nicht die Uebertreibung derselben die Armut vermehrte.
Wir folgen hier bei der allgemein gestellten Frage nach der
Zweckmäßigkeit und sittlichen Begründung der Verpflichtung zur
i) Vgl. Mohl, Polizeivvissenschaft, Bd. I, S. 307 ff. Stein, Hdb. d. Verwal-
tungslehre, 3. Teil, S. 4.
2) Unter diesem Gesichtspunkt wird die Massenarmut eingehend noch von
Molil behandelt, welcher überhaupt den Uebergang von der älteren polizeilichen
zu der neueren sozialen Auffassung zu bezeichnen scheint.
Zeitschrift für die ges. Staatswissensch. Ergänzungsheft 51. I
Armenpflege vorwiegend dem System Lorenz von Steins,^ welcher
mit anderen die sozialen Verbindun^^en der einzelnen einteilt in
»Gemeinschaften« und »Gesellschaften« '). IJie »Gemeinschaft«
ist bei Stein eine solche Verbindung von Menschen, welche auf
der Gleichheit der Einzelpersönlichkeiten aufgebaut ist: Familie,
Kirche, Genossenschaft. Die »gesellschaftliche« Verbindung aber
beruht auf der Ungleichheit der Individuen nach Charakter, Ein-
fluß, Besitz : Gesellschaft im gewöhnlichen Sinne, soziale Organi-
sation. Das Recht erfaßt die Gemeinschaft im allgemeinen als
Genossenschaft, die Gesellschaft als Staat. Die Gemeinschaft liegt
l) Bei der vorliegenden Untersuchung mußte zunächst das Bestreben obwal-
ten, ein System der menschlichen Organisationsforraen zu finden, welches sowohl
der juristischen wie der nationalökonomischen, sowohl der historischen wie der
systematischen Behandlungsweise zugrunde gelegt werden konnte. Und es erschien
angemessen, hierfür die letzten Endes entscheidenden soziologischen Merkmale
herauszuschälen, welche für die Gliederung und Gestallung der menschlichen Ge-
meinschaften überall und auf allen Gebieten die Normen abgeben. (Vgl. Inhalts-
verzeichnis Kap. I.) Nur auf diese Weise konnten die wirtschaftlichen und sozialen,
die politischen und religiösen Gesichtspunkte eine umfassende , wenn nicht er-
schöpfende Berücksichtigung finden, welche alle in die behandelten Probleme her-
einspielen.
Und weiter erschien mir hier das vorwiegend von Lorenz von Stein benutzte
System der menschlichen Gemeinschaftskreise im weiteren Sinne und besonders
seine Einteilung in die gesellschaftlichen und die gemeinschaftlichen Organisationen
die zweckmäßigste zu sein. Ich habe Lorenz von Stein nicht als Quelle für die
geschichtliche Darstellung benutzt — dafür erscheint Steins Arbeitsweise nicht als
zureichend, welche sich vornehmlich auf die Ilerausarbeitung der typischen und
systematischen Gesichtspunkte beschränkt ujid alles Einzelmaterial zu sehr als
schmückendes, im Grunde nebensächliches Beiwerk betrachtet — . Sondern ich
habe nur Steins »System der administrativen Bevölkerungsordnung«, wie es sich in
seiner »Inneren Verwallungslehre« darstellt, benutzt. Gerade in seiner genialen
Systematisierung und Schemalisierung liegt die anerkannte Bedeutung Steins. Eine
solche Systembildung ist ja schließlich immer willkürlich, aber mir erschien für den
vorliegenden Versuch Steins Schema das formell und sachlich geeignetste, um daran
anzuknüpfen, wenn auch dies natürlich nicht ohne Mängel ist.
Tönnies (Gemeinschaft und Gesellschaft) basiert den Unterschied zwischen
Gemeinschaft und Gesellschaft auf den Willen und die dadurch bedingten Be-
ziehungen der Individuen. Seine Unterscheidung geht ebenso tief wie die Steins,
von einem nur formell, nicht materiell verschiedenen Merkmal aus. Das Wesen
der Persönlichkeit ist ihr Wille. »Das Verhältnis selber, und also die Verbindung,
wird entweder als reales und organisches Leben begriffen — dies ist das Wesen
der Gemeinschaft, oder als ideelle und mechanische Bindung — dies ist der Be-
griff der Gesellschaft .... Alles vertraute, ausschließliche, heimliche Zusammen-
leben wird als Leben in Gemeinschaft verstanden. Gesellschaft ist die Oeffent-
lichkeit, ist die Welt« usw. 2. A. S. 4 ff.
vornehmlich auf dem Gebiete des privaten, die Gesellschaft in
dem des öfifentlichen Rechts. Doch decken sich diese Kategorien
keineswegs vollständig ; vor allem hat die privatrechtlich auf-
zufassende Besitzungleichheit im Verlauf der Geschichte dadurch
»korrumpierend« eingewirkt, daß sie wesentliche Verschiebungen
im Rahmen des öffentlichen Rechts herbeiführte. Die Besitz-
ungleichheit hat die Machtungleichheit abgelöst.
Aus dem Wesen von Gemeinschaft und Gesellschaft selbst
ergibt sich ihre Stellung zur Verarmung ihrer Mitglieder. Die
Gesellschaft haftet zunächst für diejenigen Fälle der sozialen Er-
krankung, welche sie selbst durch ihre Organisation verschuldet
hat, politische und wirtschaftliche: Krieg und Besitzlosigkeit, wirt-
schaftlicher und Bildungszustand. Dies sind wesentlich die Fälle
der Massenarmut. Auch auf die Einzelarmut hat ihre Tätigkeit
und Organisation insofern Einfluß, als diese dadurch befördert
oder vermindert werden kann. Die Einzelarmut entsteht und
wird bekämpft zunächst vornehmlich im Rahmen der Gemein-
schaft, doch auch hier bestimmt die Gesellschaft und ihr recht-
licher vornehmster Ausdruck, »der Staat als eine selbstbewußte
und selbsttätige Persönlichkeit Aller« •^) autoritär darüber, in wel-
chem Maße sie selbst an dieser Regelung Anteil nehmen will.
Die Frage ist: Selbstverwaltung oder staatliche Regelung.
Der Zustand der Armut ist zunächst ein rein wirtschaftlicher,
welcher aber zugleich bedingend und bedingt im Verhältnis der
Wechselwirkung mit der gesellschaftlichen Ordnung steht. Das
rein privatwirtschaftliche System der wirtschaftlichen und gesell-
schaftlichen Ordnung versagt; es wird durch das gemeinwirt-
schaftliche ergänzt, welches somit direkt und unvermittelt in den
Kreis des persönlichen Lebens hereintritt. Es übt seine aus-
gleichende Wirkung aus in der Gestalt des sogenannten chari-
tativen-) Systems und wird dabei zu einer selbständigen, zwischen
privater und gesellschaftlicher vermittelnden Ordnung. In diesen
drei Systemen lebt der einzelne ; sie liegen um ihn herum wie
konzentrische Kreise : die Anziehung bez. Ausstrahlung des In-
dividuums erstreckt sich nacheinander auf alle Kreise, die Be-
wegung wird weiter gegeben. Erst wenn die inneren Kreise,
Gemeinschaft und Charitas versagen, übernimmt der äußerste
1) Stein, Handbuch, S. 5.
2) Wagner, Grundlegung, Bd. 3. Organisation der Volkswirtschaft.
— 4 —
Kreis, die Gesellschaft, die eigentlich jenen zustehende Aufgabe.
Der dritte Kreis muß die Bcwecjung aufhalten, wenn jene es nicht
können. Die teils natürlich bestehenden, teils zu sozialen Zwecken
errichteten, auf der Grundlage der persönlichen Gleichheit be-
ruhenden Gemeinschaften — in diesem Sinne Genossenschaften
— sind die engeren Kreise ; und ihre Bewegung und Störung
wird durch den charitativen Kreis übertragen auf den letzten, auf
die gesellschaftlichen Vereinigungen , deren weiteste der Staat
ist. »Der Staat und seine Organe, die Gemeinden treten nur
soweit ein, als die freie Tätigkeit der gesellschaftlichen — in un-
serem Sinn : gemeinschaftlichen — Kräfte nicht ausreicht, und
soweit es sich um Aufgaben handelt, die überhaupt nur durch die
staatliche Zwangsgewalt gelöst werden können<^^).
Der engste Gemeinschaftskreis ^) ist die Familie, die natür-
liche Blutsgemeinschaft, welche in ihren Wirkungen die ganze
Persönlichkeit umfaßt. Sie ist die intensivste Gemeinschaft, die
ursprüngliche Grundlage und das Vorbild aller anderen. Dieser
ihrer Stellung entspricht die Verpflichtung der Geschlechterver-
bände zur Hilfeleistung auf allen Gebieten. Blutrache und Unter-
stützung sind so Ausflüsse desselben Grundes. Bei den Ger-
manen beherrschte der verwandtschaftliche Zusammenhang alles
und erstreckte sich denkbar weit. Die Hundertschaft ist der wei-
teste Kreis der Verwandtschaft. Der Sachsenspiegel ^) sagt hier-
über : />Und gleich als die Heerschild sich endigen in dem 7. Schild,
also endet sich auch die Sippe in dem 7. Glied-. Das gemeine
Recht bringt Fürsorge und Erbfolge in Beziehung, so setzt noch
Preußisches LR.*) fest: »Verwandte in auf- und absteigender
Linie sind einander nach den wegen der Aeliern und Kinder
i. V. T. enthaltenen Bestimmungen zu ernähren verbunden <-. »Doch
richtet sich überhaupt die Verpflichtung der Verw-andten (sc.
zur Unterstützung) .... nach den Regeln der gesetzlichen Erb-
folge«. Der folgende tritt an die Stelle des zunächst Verpflich-
teten, doch können »andere Seitenverwandte außer den Ge-
schwistern zur Ernährung . . . nicht gezwungen werden <-. Das
Bürgerliche Gesetzbuch des Deutschen Reiches, in dessen Rahmen
ja die Regelung des Armenwesens nicht fällt, setzt hierüber nur
i) Lönitig, Armenwesen, Schönberg% Handbuch, 2. Halbbd., S. 398.
2) Vgl. Stein, Mohl, bes. ßiizer, S. 166.
3) SS. B. I. A. 3.
4) ALR. 2, 3, §§ 14 und i-].
— 5 —
fest^), daß Eltern und Vormünder »das Recht und die Pflicht
haben, für die Person und das Vermögen des Kindes zu sorgen«.
Ferner enthalten noch das Preußische Armengesetz vom 21. Mai
1855 sowie das StrGB. vom 14. April 1855 Strafbestimmungen
gegen Eltern, die ihrer Unterhaltspflicht nicht nachkommen. Im all-
gemeinen ist hier nur darauf hinzuweisen, daß mit der Aufhebung
der rechtlichen Bindung der Person und der Ausbildung der völ-
ligen wirtschaftlichen Freizügigkeit der Familienzusammenhang
schon im engsten Kreise einen stark zersetzenden Prozeß durch-
gemacht hat; indem die Gesetzgebung den wirtschaftlichen Ent-
wicklungen durch erleichternde Bestimmungen noch nachgeholfen
hat, sind auch ihre nicht aufgehobenen Zwangsbestimmungen zum
guten Teil illusorisch geworden.
Nächst der P^amilie ist in allen Fällen einer privatrechtlichen
Unterordnung (wie Gesindedienst und jeglicher Verdingung bei
vorübergehender Arbeitsunfähigkeit) die Herrschaft zur Hilfe ver-
pflichtet. Der sittlichen Pflicht entspricht hierbei meistens das
eigene Interesse des Herrn, welcher die gemietete Kraft aus-
nutzen will und sie entsprechend auch erhalten muß. In der
deutschen Wirtschaftsgeschichte verfolgen wir bis zum 18. Jahr-
hundert eine Entwicklung, welche dahin geht, diese privatrecht-
lichen Dienstbeziehungen lebenslänglich und schließlich vererb-
lich, somit öffentlich-rechtlich, auszugestalten. Der Grundherrlich-
keit entspricht darum die unbedingte Unterstützungspflicht gegenüber
den Grundholden und Hintersassen. Diese Entwicklung geht wie-
derum von der Kapitulargesetzgebung Karls des Großen -) bis zu
den Bestimmungen des Allgemeinen Landrechts ^). »Eine jede
Gutsherrschaft ist schuldig, sich ihrer Untertanen in vorkommen-
den Notfällen werktätig anzunehmen«. Entsprechend bestimmt
die GesO. vom 8. November 18 10: »Zieht ein Dienstbote sich
durch den Dienst oder bei Gelegenheit desselben eine Krankheit
zu, so ist die Herrschaft schuldig, für seine Kur und Verpflegung
zu sorgen« *). Ebenfalls hierher zu rechnen ist die Verpflichtung
des Arbeitgebers zum Beitrag zu den Zwangsversicherungen (in
der sozialen Gesetzgebung des 19. Jahrhunderts in Deutschland),
i) BGB. § 1627. Vgl. § 65 Preuß. Ausführ.-Ges. zum Reichsges. über
Unterst.-Wohns. und Pr. Min. Instr. 10/4. 1871.
2) Näheres S. 41.
3) ALR. 2. Teil, 7. Titel, § 123.
4) Allg. Gesinde-O. § 86 flf.
— 6 —
wie überhaupt der Versicherung eine eingehende Würdigung vom
Standpunkte der vorbeugenden Armenpflege zukommt.
Ist die Dienstbarkeit eine freiwillige (Kommendationen), später-
hin allerdings meist erzwungene unterordnende Verbindung, so
ist im Gegensatz dazu die Genossenschaft auf der völligen Gleich-
heit der [Mitglieder aufgebaut. Andererseits überwiegt bei dieser
Art der Verbindung von Anfang an mehr der öffentliche Cha-
rakter. Die Markgenossenschaft steht auf der Grenze zwischen
der rein familienhaften und staatlichen Gemeinschaft, ihr Zwang
war gleich stark in Beziehung auf die wirtschaftlichen wie auf die
persönlichen Verhältnisse ihrer Mitglieder. Noch stärker fast war
in den Städten^) der Zusammenhang in den gewerblichen Ge-
meinschaften, den Zünften, und ebenso griff auch hier schon in
den ersten Anfängen ihrer Bildung die Obrigkeit regelnd ein.
Auch sie entwickelten sich bald zu überwiegend öffentlichen Ge-
bilden. Bei aller sonstigen Verschiedenheit der Organisation in
den einzelnen Gewerben ist ihnen allen doch die gegenseitige
Unterstützung gemeinsam, die Ansammlung eines Vermögens, die
Bildung von Notstandskassen, Bruderschaftskasten, Gesellenladcn,
Gewerkschaftskassen und wie diese Vorläufer unseres heutigen
Versicherungswesens sonst heißen mögen. In den ländlichen Ver-
hältnissen entsprach dem der Gemeindebesitz, die Allmende, welche
in Notfällen für den einzelnen ebenso wie für die Gesamtheit
einen gewissen Rückhalt bot.
Die in diesen Gemeinschaften angesammelten oder von An-
fang an zurückbehaltenen Vermögen haben so in mancher Be-
ziehung den Charakter von Stiftungen. Die Stiftungen hatten
während des ganzen Mittelalters vom staatlichen Standpunkt aus
rein privaten Charakter, wenngleich es durchaus berechtigt ist,
die kirchlichen Stiftungen, welche ja den größten Teil derselben
überhaupt ausmachten, als öffentliche anzusehen (entsprechend den
pia Corpora des Rom. Rechts). Der Staat als solcher nimmt zu
den spezifischen Armenstiftungen erst Stellung in den Reichs-
tagsschlüssen des ausgehenden 15. Jahrhunderts 2). Das ganze
Mittelalter hindurch nahmen die Stiftungen unter dem Schutze
der Kirche eine durchaus beherrschende Stellung in der Armen-
pflege ein. Soweit sie nicht aufgehoben und anderen Zwecken
1) Vgl. hierzu Lamprecht, Deutsche Geschichte, und Ratzin ger, Geschichte d,
kirchl. Armenpflege, S. 541 ff".
2) Siehe unten S. 43.
— 7 —
zugewandt sind, bilden sie auch heute noch in vielen alten Ge-
meinden die Grundlagen ihres Armenwesens (z. B. in den Hanse-
städten). Nicht in bezug auf ihr juristisches ^), wohl aber auf ihr
tatsächliches Wesen, die Beweggründe ihrer Entstehung und ihren
Zweck entsprechen ihnen heute die charitativen Vereine, welche
aber lange nicht mehr in dem früheren Umfange unter dem Ein-
flüsse der Kirche stehen. Die Stiftungen haben meist einen eng
und streng begrenzten Kreis von Berechtigten, nicht so die mo-
dernen Wohltätigkeitsvereine, welche ihre Tätigkeit völlig ihrem
Zweck anzupassen vermögen. Mit dem kolossalen Anwachsen
der Stiftungen an Zahl und Reichtum wuchs auch das Interesse
des Staates an ihnen, die Reformation verstaatlichte sie zum
großen Teil, wenn auch unter Beibehaltung ihrer Zweckbestim-
mung und stellte auch die anderen unter seine genaue Aufsicht,
so daß sie in den evangelischen Ländern völlig öffentlichen Cha-
rakter annahmen.
Als eine Art der privatrechtlichen Verpflichtung ist auch die
Bestimmung der Bayerischen Gesetzgebung^) zu betrachten, wo-
nach die Gemeinde ohne Rücksicht auf die Heimatgehörigkeit
solche Leute zu unterstützen hat, welche infolge der Hilfeleistung
bei Unglücksfällen verunglückt sind. Der privatrechtliche Cha-
rakter dieser Bestimmung beruht darin, daß die Verpflichtung in
diesem Falle nur nach dem Grundsatze der Vergeltung zuge-
wiesen wird.
Auf der Grenze zwischen öffentlicher und privatrechtlicher
Verpflichiung steht wiederum die Gemeinde selbst. Die deutsche
Gemeinde ist die Vereinigung verschiedener genossenschaftlicher
Verhältnisse, daher privatrechtlich zu beurteilen, andererseits bildet
sie sich bald, etwa im lo. Jahrhundert, zur untersten Stufe des
staatlichen Aufbaus aus, zunächst für die Wehr- und Gerichts-
verfassung, sodann für die Steuereintreibung und Umlagen, da-
her öffentlich-rechtlich. In bezug auf die Armenpflege ist es
jedenfalls wohl richtiger, die Gemeinde als privatrechtlich ver-
pflichtet anzusehen. Durch dieselben Bestimmungen der Reichs-
tage^) wurden wie die Stiftungen auch die Gemeinden als solche
zur Armenpflege verpflichtet und ihnen diese als öffentliche Auf-
gabe zugewiesen. Die unmittelbare Nachbarschaft, wenn sie auch
1) Vgl. Stein, Handbuch, Bd. 3, S. 115 ff.
2) Bayr. Bettelmandat von 1780, Ziff. 10.
3) Vgl. unten S. 44,
— 8 —
nicht den persönlichen und rechtlichen Verkehr /.wischen den
einzelnen in der Gesamtheit herbeiführt, knüpft dennoch gewisse
allgemeine Beziehungen an, welche auf dem Leben unter ge-
meinsamen Bedingungen beruhen. Die private Wohltätigkeit,
welche ohne jede rechtliche Verpflichtung dennoch die mensch-
liche anerkennt, äußert sich naturgemäß in allererster Linie im
Rahmen der nächsten Nachbarschaft. Es liegt nichts näher, als
diese örtliche und Lebensgemeinschaft auszunutzen für die recht-
liche Verpflichtung zur Hilfeleistung. Wir werden unten sehen,
daß die gesamte deutsche Armengesetzgebung in der Folge sich
vornehmlich auf diese grundlegenden Bestimmungen stützt, und
daß ihr eigentlicher Gegenstand der Kampf zwischen den ver-
schiedenen Gemeinden ist, welchen es auszugleichen gilt. Es
kommt hinzu das Interesse, welches jede • Gemeinde an guter
Armenordnung hat, insofern hieraus sonst schwere Schädigungen
für die öffentliche Ordnung und Sicherheit überhaupt entstehen
können. Ja dies ist in der Tat der eigentliche Beweggrund für
das Eintreten der Gemeinden in die Reihe der Armenpfleger.
Diejenige Körperschaft, welche zuerst sich wirklich eingehend
und hingebend der Armenpflege gewidmet hat, ist die christliche
Kirche. Von dem Augenblicke an, wo sie staatlich anerkannt
wird, muß sie als öffentlich-rechtliche Körperschaft angesehen
werden; somit tritt sie in die deutsche Geschichte bereits als solche
ein. Ihre Betätigung auf dem Gebiete der Armenpflege insbe-
sondere hat bis zur Reformation diesen Charakter wenn nicht aus-
schließlich, so doch vorwiegend. Es wird dies im 4. Kapitel
näher dargelegt werden. Die treibende Kraft zur Armenpflege
ist die Vorschrift Christi, welche in unendlicher Variation immer
wieder den Gläubigen zuruft: Was Ihr einem dieser Geringsten
getan habt, das habt Ihr mir getan ! Das aber, was je länger je
mehr in den Vordergrund tritt, ist der Anspruch der Kirche auf
die alleinige Leitung wenn nicht Berechtigung zur Armenpflege.
Ihre Organisation war aber auf die Dauer nicht ausreichend, weil
sie den eigentlichen Zweck zu sehr in den Hintergrund treten ließ.
Die reformierte wie die lutherische Kirche schoben beide von
neuem das pflegerische Interesse an der Armut in den Vorder-
grund, gaben aber zugleich den Anspruch auf, die allein be-
rechtigten zu sein, wollten vielmehr durch Zusammenarbeit mit
den öffentlichen Gewalten ihr Ziel erreichen. Da aber der Staat
zugleich in vielen Fällen die gesamten, bisher der Armenpflege
— 9 —
gewidmeten Stiftungen in seine Hand nahm oder doch seinen
weltlichen Organen überwies, wurde die Kirche mehr und mehr
aus der organisierten Armenpflege herausgedrängt und blieb in
der Folge auf die Auswirkung in der freien Liebestätigkeit be-
schränkt, soweit es ihr nicht gelang, neue Stiftungen und An-
stalten von sich aus ins Leben zu rufen.
Zweifellos steht der innere Beruf der Kirche kraft ihrer Lehre
zur Aufgabe als Armenpflegerin fest. Aber die Kirche des Mit-
telalters hat ihre Unfähigkeit zu ihrer Zeit dargetan und damit
für alle Zeit in Deutschland die alleinige Leitung und Betätigung
verwirkt. Nach der Reformation^) war es überhaupt unmöglich,
der Kirche allein das gesamte Armenwesen zu überlassen, da die
katholische Kirche alle Angehörigen anderer Gemeinschaften von
ihren geistlichen wie leiblichen Segnungen grundsätzlich aus-
schließt, die lutherische Kirche dagegen einer genügend straffen
Organisation ermangelt, um die nötige Bürgschaft für restlose
Erfüllung ihrer Aufgabe zu bieten. Vollends ergab sich diese
Unmöglichkeit nach der weiteren Zersplitterung der religiösen
Gemeinschaften, welche mit der Sektiererei und schließlich der
Aufhebung des Kirchenzwangs ihren Abschluß erreichte.
Der Staat hat sich von Anfang an wenig um das Armen-
wesen als solches gekümmert. Die Merovinger überließen es völlig
der Kirche, das englische mittelalterliche Königtum ebenfalls. Das
ganze Mittelalter hindurch ließ man die Dinge ihren Gang gehen.
Erst die erstarkenden Städte sahen im Interesse der Handels-
sicherheit sich genötigt, Bettelordnungen zu erlassen. Das Reich
folgte wesentlich später, gab aber dann die Grundlage für die
weitere Regelung ab. Diese spielte sich nunmehr völlig im Rah-
men der territorialen Entwicklung ab. Ihr Ergebnis ist, daß der
Staat in evangelischen wie katholischen Ländern nach und nach
die gesamte Organisation und Leitung in die Hand nahm, ohne
sie doch selbst unmittelbar auszuüben und sich selbst zu belasten.
Wie steht es nun mit der innerlichen, in dem Wesen der
Armenpflege sowohl wie des Staates liegenden Berechtigung dieses
Prinzips.? Es ist hier zuerst zu beachten die Entwicklung, welche
der Staat auf germanischem Boden durchgemacht hat: er wurde
immer mehr aus einem Rechts- und Machtstaat ein Kulturstaat.
Diese Entwicklung führt von den rein idealen Anschauungen der
Reformationszeit über die wirtschaftlichen der merkantilistischen
i) Siehe unten S. 44 ff.
— lO —
Periode hinüber zu dem alles in sich vereinigenden Wohlfahrtsstaat
des Absolutismus und schließlich zu der modernen Auffassung von
der regelnden und pflegenden Aufgabe des Staates auf allen Ge-
bieten der Volkswirtschaft, des Bildungswesens und der sozialen
Verhältnisse. Mit der territorialen Ausweitung und der wirt-
schaftlichen wie rechtlichen Befreiung der Bevölkerung wuchs
auch zugleich der Ideeninhalt des Staates.
Dieser Inhalt des Staatsbegriffs als innerlich sich erweiternde
Gebietskörperschaft muß unserer Fragestellung zugrunde liegen.
Bitaer^) sagt : »Der Staat ist die Gesamtheit der Einrichtungen,
durch welche ein Volk seinem Zusammenleben in einem be-
stimmten Lande seine feste Gestalt und seine volle Wirklichkeil
gibt und bewahrt«. . . . daher kann seine Aufgabe nur darin
bestehen, »die Ordnung dieses Zusammenlebens mit objektiver
Gültigkeit rechtsverbindlich festzustellen, die allgemeine Rechts-
ordnung innerhalb seines Staatsgebiets zu gründen, zu schützen
und mit Macht und Recht zu erhalten ; sofern er aber anderer-
seits die Bestimmung hat, die Erfüllung der Lebensaufgaben seiner
Angehörigen durch die Gesamtkräfte des Volks zu fördern und
zu stützen, muß er die Erfüllung derjenigen menschlichen Lebens-
zwecke, welche die Mitwirkung der Gesamtheit des Volks in An-
spruch nehmen und diesem als nationale Aufgaben erscheinen,
in den Bereich seiner Tätigkeit ziehen«. Die Beziehung auf das
Armenwesen erscheint hiermit gegeben. In demselben Sinne sei
auf Adolph Wagners Gesetz der \vachsenden Ausdehnung der
öffentlichen Tätigkeit'-) hingewiesen, welches in noch stärkerem
Maße nach der Seite der Kultur- und Wohlfahrtspflege als des
Macht- und Rechts/.wecks sich geltend macht ; wenigstens in der
neueren Entwicklung, weil der erstere der jüngere ist und mehr
des Ausbaus bedarf. Um diesen Aufgaben gerecht zu werden,
muß der Staat ein dazu nötiges Organ ausbilden in Gestalt der
gesamten inneren Verwaltung. Nach Stein^) ist es »Begriff und
Idee aller Verwaltung überhaupt, der individuellen Entwicklung
diejenigen Bedingungen durch die Arbeit des Staats zu bieten,
welche sich der einzelne nicht selbst verschaffen kann«. Ueber
den Inhalt der sozialen Verwaltung im besonderen sagt Stein ^) :
1) Bitzer, Recht auf Armenunterst., S. 68.
2) Wagner, Grundlegung, 3. A., i. Abt., 6. Buch.
3) Slein, Handbuch, Hd. 3, S. 47.
4) Ebenda S. 46.
— II —
»Das erste Element ist die Armut, in welcher die Erwerbskraft
überhaupt fehlt. Das zweite ist das Arbeiterwesen, in welchem
die Arbeit nicht die Kraft besitzt, zum Erwerbe zu gelangen.
Das dritte dagegen enthält die Entwicklung eben jener Kraft,
welche die Herstellung der Bedingungen der Erwerbsfähigkeit zu
einer eigenen Verwaltungsaufgabe macht«. Die beiden selbstän-
digen Elemente jedes dieser drei Gebiete der sozialen Verwal-
tung sind ^) erstens: »die Entwicklung der erwerbenden Kraft für
die nicht besitzende Klasse, das zweite ist die Sicherung dessen,
was die damit erzeugte erwerbende Kraft derselben nun wirklich
erworben hat. Aus dem ersten entspringt die positive Seite des-
selben, welche der werdenden Arbeitskraft ihre allgemeinen Be-
dingungen bietet ; wir nennen sie mit einem Worte die Sozial-
politik. Aus dem zweiten ergibt sich die negative Seite, die
den gemachten Erwerb schützende Aufgabe ; wir nennen sie die
Sozialpolizei«.
Die einzelnen Gründe, welche den Staat antreiben, die Ar-
mut zu beseitigen, sind wiederum solche sittlicher und zweck-
mäßiger Art. Der Staat erkennt das Eigentum als Grundlage der
gesellschaftlichen Ordnung an, muß es daher auch schützen. Die
Armut ist erstens eine Folge der Privateigentumsordnung, zwei-
tens aber auch ihr Hauptgegner ^) ; für den, welcher am Rande
des Verderbens steht, gibt es schließlich kein Gesetz mehr, er
wird dazu getrieben, sich am Eigentum zu vergreifen, um seiner
Vorteile dadurch habhaft zu werden. Die Armenpflege wird so-
mit zu einem Mittel, die Geltung der staatlichen Gesetze zu er-
möglichen.
Ferner dient die Armenpflege als Ausgleich 3) zwischen Be-
sitz und Besitzlosigkeit : Das gleiche sittliche Verschulden oder
das gleiche Ereignis wirkt auf den Besitzlosen dahin, ihn arm
zu machen, während unter denselben Umständen der Besitzende
infolge des Rückhalts, welchen ihm sein Besitz gewährt, kaum
eine wesentliche Veränderung in seiner wirtschaftlichen und so-
zialen Lage zu verspüren braucht.
1) Ebenda S. 46. Stein bezieht an dieser Stelle diese Auseinandersetzung
nur auf die allgemeine soziale Verwaltung. Jedoch führt er später dieselbe Ein-
teilung auch für die Gebiete der speziellen sozialen Verwaltung : Armen- und Ar-
beiterwesen durch. S. 87 und 116.
2) Vgl. hierzu die genauen Ausführungen in Mokh Pol.Wiss. Bd. i, S. 307.
3) Hierauf weist bes. hin Löning im Aufs. Armenwesen im Sckönber gschtn.
Handb. Bd. 3, 2, S. 399.
Wie die {gesamte Gcsetzgebun«^, so eil ordern besonders die
polizeilichen Maßnahmen eine positive Ergänzun<[, ja diese gibt
jenen erst ihre sittliche Berechtigung und Grundlaj^e, Zwang und
Verpflichtung stehen in Wechselwirkung miteinander. Wenn der
Staat die Organisation der Gesellschaft ist, so muß er den Pflich-
ten, welche er einzelnen oder der Gesamtheit auferlegt, nicht unbe-
dingt persönliche Rechte, wohl aber eine entsprechende Ver-
pflichtung seiner selbst entgegensetzen. Denn er ist nicht um
seiner selbst willen da, sondern um der Angehörigen willen,
welche ihn bilden.
Aber auch das Interesse an der öffentlichen Sicherheit und
der Vermeidung öffentlichen Aergernisses, welches von manchen
sehr in den Vordergrund gestellt wird, erfordert mehr als rein
repressive polizeiliche Maßnahmen. Ohne hinzukommende Hilfe
ließen sie sich gar nicht durchführen. Noch deutlicher als bei
der Armenpflege tritt dies ursächliche Moment hervor bei dem
Schul- und Erziehungswesen sowie bei der Gesundheitspflege.
Neben dem chirurgischen Eingriff muß eine sorgfältige thera-
peutische Behandlung einhergehen ^).
Dies führt uns hinüber zur Frage nach der Zweckmäßigkeit
der Armenpflege, und der Auswahl ihrer Träger hienach. Hierbei
muß der erste Gesichtspunkt sein, die Armut am Entstehen zu
verhindern, vorzubeugen, wie dies auch in verschiedenen Gesetz-
gebungen, unter anderen in dem Bayerischen Armengesetz von
1868 ausgesprochen wird, l'^rfolge können hier nur erzielt wer-
den durch das Zusammenwirken aller Kräfte; Gemeinschaft und
Gesellschaft, Familie und Gemeinde, Staat und Kirche müssen
sich die Hand reichen. Kirche und Familie sind geeignet, um
auf die sittlichen Ursachen der Verarmung einzuwirken. Gemeinde
und Schule sind vornehmlich zur Verbreitung nützlicher Kennt-
nisse geeignet, private Genossenschaften und öffentliche Körper-
schaften sind auszunutzen zur gegenseitigen Hilfe und Kredit-
gewährung und gemeinsamen wirtschaftlichen Maßnahmen. Der
Staat 2) endlich hat es in der Hand, durch seine wirtschaftliche,
1) Röscher, System Bd. 5 richtet hienach sein ganzes System ein. Das sitt-
liche Motiv allein will Stahl für den Staat anerkennen, ßlunlschli-ßraters, StWB,
1857. Luthard, Armenpflege und Unterstützungswohnsitz dagegen will nur die aus
dem Bettel entstehende Gefahr für die öfT. Sicherheit und das öff. Aergernis als
Motive für den Staat walten lassen.
2) Ueber die einzelnen Maßnahmen, vor allem der staatlichen Verwaltung,
den Zusammenhang der polizeilichen und pflegerischen Maßnahmen sehr eingehend
— 13 —
politische und soziale Gesetzgebung und Verwaltung auf alle äußeren
Bedingungen Einfluß auszuüben, welche der Verbreitung der Ar-
mut nützlich oder hinderlich sind.
Ist die Armut einmal entstanden, so kann es sich darum
handeln, sie zu beseitigen und vor allem an weiterer Verbreitung
zu hindern. Das erstere geschieht am besten durch pflegerische
Maßnahmen, das zweite kann, soweit es nicht in den Rahmen
der Vorbeugung fällt, nur erreicht werden mit Hilfe von polizei-
lichen Maßnahmen. Auch die Art der Pflege ist hierbei von
großem Gewicht, insofern als der unterstützte Arme nie besser
gestellt sein darf als der grade noch über Wasser sich haltende
Arbeiter.
Diese beiden Kategorien sind es : Vorbeugung und Repres-
sion, welche letzten Endes für die Organisation des Armenwesens
maßgebend sein müssen. Privatrechtliche und öffentliche, er-
zwungene oder freiwillige Armenpflege werden darnach bemessen.
Größere und kleinere Verbände, Bürokratie und Selbstverwaltung
sind vom Standpunkte der Armenpflege aus nach ihrer Eignung
für diese Zwecke zu beurteilen.
Betrachten wir die einzelnen Organisationen mit Rücksicht
auf ihre Eignung zur eigentlichen Armenpflege, so können wir
von den Gemeinschaften und der P'amilie absehen. Denn erstens
ist deren P'ürsorge eigentlich gar keine öffentlich-rechtliche Armen-
unterstützung, sondern die Erfüllung eines privatrechtlichen An-
spruchs; was ihre Fähigkeit dazu anlangt, so liegt es auf der
Hand, daß sie wie die natürlichste so auch die beste ist, voraus-
gesetzt daß und solange als der Zusammengehörigkeit auch der
notwendige Gemein- und F'amiliensinn entspricht, und daß die
notwendigen Mittel vorhanden sind. Kenntnis der Person und
ihrer Verhältnisse, lange Verbindung miteinander und persön-
liche Teilnahme gewährleisten unter diesen Voraussetzungen so-
weit irgend möglich eine gute ausreichende individualisierende
Pflege. Einer ähnlichen Beurteilung wird in vielen Fällen die
herrschaftliche Versorgung des Gesindes und der Untergebenen
unterliegen. Doch wird der Kreis der von dieser Unterstützung
Betroffenen mit der wachsenden Beweglichkeit der Bevölkerung
V. Alohl, Bd. I. Besonders instruktiv ist die Darlegung der Verwaltungstätigkeit
im Zusammenhang mit den Verarmungsgründen, sowie die Durchführung der Unter-
scheidung zwischen Einzel- und Massenarmut, S. 352 ff. Vgl. auch Stein, Handbuch
Bd. 3, S. 45 ff., S. 50 ff. »Elemente des Systems. <
— 14 —
wie des Hodens und der Auflösun^^ alter Verhältnisse in Recht
und Wirtschalt immer kleiner und die Beanspruchung öffentlicher
Organe größer.
Als solche öffentlichen Körperschaften kommen für die Ar-
menpflege die Gemeinde und der Staat in Betracht, daneben
aber noch die freiwillige Liebestätigkeit und die Kirche, deren
Beteiligung heute, soweit sie nicht in der Verwaltimg alter Stif-
tungen besteht, allerdings wesentlich als private anzusprechen ist.
Klat- muß jedenfalls daran festgehalten werden, daß dem Staat
ein unbedingtes Aufsichtsrecht ^ über die Armenpflege der Kirche
zukommt; die Kirche erscheint in diesem Zusammenhang als
Beauftragte des Staates ebenso wie die Gemeinden. Wenn der
Staat als letzter Bürge der öff"entlichen Wohlfahrt auftritt, kann
er andere Organisationen nur unter sich dulden, zumal wenn er
in Gestalt polizeilicher Maßnahmen seine Autorität als Macht in
Anwendung bringt.
Die Teilnahme des modernen Staates an der Armenpflege
überhaupt ist aus folgenden Gründen im Interesse guter Pflege
nötig : Er allein hat die Macht, armenpolizeiliche Maßnahmen
durchzuführen, nachdem er überhaupt alle Polizei sich unmittel-
bar unterstellt hat; er allein bietet einen genügend großen Ruck-
halt für alle andern an der Armenpflege beteiligten Verbände,
für die freiwilligen wie auch für die Kirche ; auch ist er kratt
seiner inneren Verwaltung allein befähigt, die Ueberwachung in
nachdrücklicher Weise auszuüben. Er allein ist durch die Große
seines Territoriums imstande, eine möglichst große Freizügigkeit
seiner Bewohner mit ausreichender Versorgung zu verbmden,
durch weithin geltende Verordnungen und gleichartig durchge-
führte Maßnahmen die Interessengegensätze auszugleichen und
schließlich der wandernden Armut entgegenzutreten. Er hat am
ersten die Mittel, kostspielige Anstalten und Einrichtungen ent-
weder selbst zu treffen oder anzuordnen und zu unterstützen.
Ueberhaupt ist eine einheitliche Leitung und ein Ueberblick
über die gesamten Armenzustände von Staats wegen aus dem
Grunde zu begrüßen, weil er zugleich über die Mittel zur Vor-
beugung verfügt, und so eine Seite seiner Verwaltung durch die
andere ergänzen kann.
Die Teilnahme des Staates an der Armenpflege erschöpft
i)T^^/i/, Bd. I, S. 317 ff. KrUs, Englische Armenpflege, ferner Luthard,
Armenpflege und Unterstützungswohnsitz.
\
— 15 —
sich in der Anordnung der Verpflichtung und ihrer Durchführung
sowie ihrer Beaufsichtigung, die eigentUche Ausführung muß er
seinen Organen überlassen. Er muß die Armenpflege in seine
gesamte innere Staatsverwaltung eingliedern. Es bieten sich als
solche Organe neben der Kirche nur die Gemeinden dar, welche
auch sonst zu vielen Staatszwecken benutzt werden. So wird
die Armenpflege zu einem der vornehmsten Gebiete der Selbst-
verwaltung. Indem die Gemeinde ihren familienhaften, genossen-
schaftlichen Charakter mehr und mehr gegen den bürokratischen
einbüßt, um ihn schließlich im 19. Jahrhundert in Gestalt der
Selbstverwaltung teilweise wieder zu erhalten, wandelt sich ihre
Unterstützungspflicht von der privaten zur öffentlichen und
schließlich zum staatlich überwiesenen Auftrage. Die Gemeinde
verbindet alle Vorzüge der privaten Pflege, Kenntnis und per-
sönliches Interesse, bei geeigneter Organisation mit der Autori-
tät des Staates und seiner Hilfe. In kleinen Gemeinden ^) macht
die Organisation der Pflege keine Schwierigkeiten, da einer den
andern kennt, aber es mangelt vielfach an den Mitteln ; umge-
kehrt macht für große Gemeinden im allgemeinen die Aufbrin-
gung der Mittel geringe Schwierigkeiten im Verhältnis zu den
Aufgaben, welche die Einrichtung und Durchführung der Pflege
sowohl der Leitung als auch den ausführenden Organen stellen.
Dem Grundsatze der Selbstverwaltung ^) entspricht es auch, daß
für solche Aufgaben, zu deren Erfüllung eine einzelne Gemeinde
nicht imstande ist, sei es wegen technischer Schwierigkeiten, wie
bei allen Anstalten, sei es um organisatorische Lücken auszu-
füllen, wie bei der Behandlung der Landarmen nicht der Staat
selbst eintritt, sondern, in Preußen wenigstens, seine höheren
Selbstverwaltungskörper, die Kommunalverbände, Kreise und Pro-
vinzen. Entsprechend sind auch in den größeren deutschen Mit-
telstaaten wie Bayern und Sachsen und anderen besondere Land-
armenverbände eingerichtet auf der Basis der Selbstverwaltung.
Schließlich hat auch das Deutsche Reich diese Zwischenstufe in
der Armenverwaltung durch seine Gesetzgebung anerkannt.
Vielfach ist es versucht worden, aus Zweckmäßigkeitsgründen
1) Vgl. hierzu die Verhandlungen des Ver. f. AW., besonders die Ausfüh-
rungen Münsierbergs, 1909.
2) Sieitt, Handbuch, Bd. 3, S. 38, die Organe der sozialen Verwaltung und
die Schriften von Gneist. Wagner, Grundlegung, Abt. i, Buch 5 und Finanzwis-
senschaft, Bd. I, Buch I.
— i6 —
die Betätigung des Staates und der freien und kirchlichen Lie-
bestätigkeit nach festen Kriterien streng zu sondern. Der Kern-
punkt dieser zumeist einigermaßen künsthchen Unterscheidungen
ist immer die absokite Trennung der vorbeugenden und der pfle-
gerischen Tätigkeit. Diese ist in der Praxis gar nicht durchzu-
führen M; der Staat selbst hat allerdings in der Gestaltung des
Armenrechts, seiner Stellung zu dem Unterstützungsanspruch und
seinen Normativbestimmungen über die Pflege selbst, sowie end-
lich in seinen polizeilichen und Strafverordnungen, außerdem in
seiner gesamten volkswirtschaftlichen Betätigung die vornehmsten
Mittel zur Vorbeugung in der Hand, ebenso aber die Kirche
durch ihre sittlichen Einwirkungen und die Städte durch ihre
sozialen Einrichtungen und die Schulen. Und auch in der Re-
pression vorhandener Armut müssen staatliche Anstalten und
Renten in Wettbewerb mit der Hauspflege und den Anstalten
der freien und kirchlichen Organisationen treten ^).
Ein Hand in Hand Arbeiten aller teilnehmenden Kreise ist
bei w'eitem wichtiger als eine reinliche Scheidung, welche eben
unmöglich ist. Der Staat tritt mit seinen Organen ein, sobald
privatrechtliche Ansprüche versagen oder nicht genügen ; doch
läßt er sich vernünftigerweise jederzeit gern durch alle diese an-
deren Organisationen unterstützen. Nur muß er sich die Ober-
leitung vorbehalten, um eine zu ungleiche Pflege zu verhüten,
vor allem um eine zu reichliche und planlose Versorgung im In-
teresse der Abschreckung zu verhüten.
Eine besondere Stellung in der* ganzen Frage nehmen die
i) Vgl. Luthardy Rocholl und Ratziiiger.
2) Hartnäckig ist der Widerstand der kath. Kirche gegen die staatliche Ar-
menpflege. Besonders kennzeichnend ist Kalzingers Urteil über die gewiß mit
vielen Mängeln behaftete englische Armengesetzgebung, welches er allerdings ohne
weiteres auf jede staatliche Armenpflege ausdehnt; er schreibt: »Dieses Urteil von
Chadwick — daß die englische Armengesetzgebung nichts als eine Folge von Miß-
griffen sei — ist nicht bloß für das englische Armenwesen, sondern für die staat-
liche Armenpflege aller Länder zutreffend. Nirgends hat das staatliche Armenwesen
seinen Zweck erreicht, den Beitel zu verhindern, überall hat es größere Uebel her-
vorgerufeji, als es verhüten wollte, und hat es der Verarmung in die Hände gear-
beitet. Das staatliche Armenwesen ist überhaupt keine Armenpflege, sondern eine
Unterstützung sich vordrängender Elemente und wird dadurch erst zur Quelle nie
versiegenden Elends. Jede Staatsarmenpflege geht davon aus, daß die Gemeinde
jedes ihrer Mitglieder, das den formellen Beweis der Dürftigkeit erbringen kann,
unterstützen muß.« Vgl. Kries, Engl. Armenwesen. Ueber die andere Stellung der
Evang. Kirche vgl. Uhlhoni, Realenzykl. d. prot. Theologie. Aufsatz Armenwesen.
— 17 —
Kosten ein, welche die Armenpflege verursacht. Volkswirtschaft-
lich ist hier das erstrebenswerte Ziel, den größten Nutzen mit
den geringsten Mitteln zu erzielen. Da ist zunächst klar, daß
strenge Ordnung die Kosten am meisten vermindert, ohne dem
Erfolge Eintrag zu tun. Ganz planlose freie Wohltätigkeit ar-
beitet am teuersten. Von der rein kirchlichen Pflege des Mittel-
alters ebenso wie von der reinen zentralisierten Staatsarmenpflege
Englands wissen wir, daß sie mit sehr großen Kosten von ihrem
Ziele eher ab als ihm näher kamen. Strenge Organisation ist mit
w^eitgehender Dezentralisation zu verbinden. Art der Pflege und
Höhe des Aufwands sind von den persönlichen Verhältnissen an
Ort und Stelle abhängig und können zweckmäßig nur so beur-
teilt werden. Auch aus diesem Grunde ist daher der Gemeinde-
pflege unter Staatsaufsicht der Vorzug zu geben.
Der Aufwand für die Armenpflege ist für die Gemeinde eine
Last, welche diese von sich abzuschütteln sucht. Sie steht inso-
fern der Privatwirtschaft wesentlich gleich. Die Aufbringung und
Verteilung der Kosten ist bis zum 19. Jahrhundert fast das ein-
zige Problem der Gesetzgebung gewesen. Die F'rage nach dem
Träger der Kosten hat tief in die gesamten inneren Rechtsver-
hältnisse eingegriffen, es hat von jeher die größte Mühe gekostet,
die Interessen der streitenden Gemeinden auszugleichen. Dem
Verfolg dieses Streites unter den Gemeinden ist auch der größte
Teil der vorliegenden Arbeit gewidmet. Eine besondere Armen-
steuer ^) hat die geschichtliche Entwicklung ebenso beseitigt wie
die Uebernahme der ganzen Kosten auf den Staat. Die erstere
ist aus dem Grunde zu verwerfen, weil sie einen gerichtlich ver-
folgbaren Unterstützungsanspruch seitens des Armen voraussetzt.
Die etwas problematische Lösung dieser Frage durch die deutsche
Gesetzgebung besteht darin, daß die Verpflichtung der Gemein-
den zur Armenpflege nur dem Staat gegenüber besteht, nicht
dem Armen selbst gegenüber. Die praktische Folge davon ist die
Verweisung der Verfolgung dieses Anspruchs seitens des Armen
auf den Weg der Beschwerde und der Verwaltungsgerichtsbar-
keit. Von der Umlage der Armenlast auf den ganzen Staat sagt
Schaff le"^) mit Recht: »Die Armenpflege durch das Reich oder
die Länder hat das entscheidende Bedenken gegen sich, daß dann
1) Vgl. Bitzer, S. 114 ff. Ratzinger, S. 541 ff. Stein, S. 98.
2) Schäfße, Die Grundsätze der Steuerpolitik; Lammers, Staatsarmenpflege,
Beispiel Dessaus von 1770 an.
Zeitschrift für die ges. Staatswissensch. Ergänzungsheft 51. 2
— iS —
die Gemeinden, welchen dann die Aiincnvoi waltung doch über-
lassen werden müßte, auf den Landes- und Reichssäckel scho-
nungslos loshauen würden. An eine Zentralisation der Armen-
last, geschweige der Armenpflege kann daher in Reichshänden
praktischerweise nicht gedacht werden.«
Nach allem hat also die Entschließung des internationalen
VVohltätigkeitskongresses in Frankfurt 1857 ^"*-' Gründe der Zweck-
mäßigkeit, Wirtschaftlichkeit und sittlichen Verpflichtung für sich,
wenn sie sagt: >Die Armen})flege der bürgerlichen Gewalten, der
kirchlichen Aemtcr und der freien Vereine sind jede in ihrem
Maße berechtigt und haben organisch zusammenzuwirken« ').
Zweites Kapitel.
Einzelpersönlichkeit und Gesamtpersönlichkeit.
Im ersten Kapitel wurde die Verpflichtung der Gemeinde
zur Armenunterstützung begründet und ihre Eignung dazu aus
ihrer Stellung im Staate sowie aus der Zweckmäßigkeit der
gemeindlichen Armenpflege abgeleitet. Sobald nun die Ver-
pflichtung der Gemeinde theoretisch und rechtlich feststeht, wird
die Entscheidung über den Umfang des ihrer Fürsorge zufallen-
den Personenkreises nötig. Diese Entscheidung ist leicht über
diejenigen zu fällen, welche der Gemeinde aus irgend einem
rechtlichen Titel bereits angehören; sie wird zu einem Problem
erst denen gegenüber, welche keiner Gemeinde rechtlich ange-
hören oder nur in so losem Zusammenhang mit ihr stehen, daß
daraus bislang keine derartig schwerwiegende Verpflichtung ab-
zuleiten war. Für die eigentlichen Gemeindeangehörigen war zu-
dem durch die privaten Gemeinschaften gesorgt, welche eben die
Verbindung zwischen diesen Individuen und der Gemeinde bil-
deten. F"ür die anderen standen nur die Stiftungen zur Verfü-
gung, soweit über deren Verwendung nicht auch besonders be-
stimmt war, oder aber es mußten neue Mittel für diese neue
Aufgabe beschafft werden. Eine direkte Zugehörigkeit der Per-
sönlichkeit zur Gemeinde kannte das Mittelalter kaum, sondern
nur eine durch eine Gemeinschaft vermittelte. Die Gemeinschafts-
angehörigkeit aber beruhte auf Besitz oder Beruf. Die Masse
der besitzlosen Ausbürger, die zum Teil noch in den Vorstädten
wohnten, zum Teil in der Stadt selbst angesiedelt waren, hatte
I) U/ilhorn, Realenzykl., S. loi.
— 19 —
bislang keinen Anspruch auf öffentliche Versorgung gehabt. Noch
größer war die Zahl der gar nicht festansässigen Leute, der flüs-
sigen Bestandteile des Volks, des fahrenden Volks, der vagieren-
den Elemente, um derentwillen die Bestimmung der Gemeinde
zur Fürsorgepflicht eigentlich getroffen war. Denn der Haupt-
bestandteil dieser Elemente waren ja die Bettler und Vagabun-
den, gegen welche die Bestimmungen der Reichstage sich rich-
teten, weil sie die Durchführung des Landfriedens unmöglich
machten. Alle diese wurden aber auch von den verheerenden
Wirkungen der Kriege, Hungersnöte und Seuchen am ersten be-
troffen, und durch dieselben Ursachen wurde ihre Zahl vermehrt
aus den Reihen aller derer, deren Besitzlosigkeit infolge des Auf-
hörens normaler Erwerbsgelegenheiten in Armut überging.
Diesen beiden Elementen der Bevölkerung gegenüber bildete
sich in der Folge ein besonderes Recht aus, nach dem ihre Un=
terbringung bemessen wurde. Das treibende Moment war jedoch
nicht sozialer Natur, sondern vorwiegend sicherheitspolizeiliche
Gründe waren maßgebend. Die Hingehörigkeit der Angehörigen
der besitz- und zunftlosen Klasse wurde zu einem Problem der
Gesetzgebung. Sie hatte zweierlei zu regeln : einmal die Bezie-
hungen der Gemeinden zu diesen ihren »Außenseitern«; anderer-
seits die Beziehungen der Gemeinden dieserhalb unter sich. Die
daraus sich ergebenden Streitigkeiten gaben bald der territorialen
Regierung, welche sich sonst um die inneren Angelegenheiten
der Städte wenig kümmerte, willkommenen Anlaß, sich in deren
Selbstverwaltung einzumischen. Die neue Verpflichtung der Ge-
meinden gewann dem einzelnen gegenüber Gestalt in Beschrän-
kungen seiner Freiheit, welche sich aus der Verpflichtung, für
ihn zu sorgen, natürlich ergaben ; unter den Gemeinden selbst
wurde sie die Ursache erheblicher Streitigkeiten, welche ihren
Austrag in der staatlichen Verwaltung fanden.
Diese beiden nebeneinanderhergehenden Rechtsbeziehungen
der persönlichen Freiheitsbeschränkungen und der Heimatstreite
können nur gemeinsam verfolgt werden, denn die eine bedingt
die andere. Wenn nämlich die Gemeinden unter sich Abma-
chungen über einen besonderen Fall treffen oder von der staat-
lichen Gewalt dazu angehalten werden, so ist doch der Gegen-
stand dieser Verhandlungen immer das einzelne Individuum selbst,
und diese Abmachungen wirken am stärksten auf dasselbe ein.
Die Freiheitsbeschränkungen, welchen der einzelne von der
2 *
— 20 —
armenrechtlichen Fürsorge Betroftene unterliegt, sind solche der
Freizügigkeit und der Ehefreiheit ^). Die ursprüngliche Veran-
lassung derselben ist aber nicht das Armenrecht, sondern sie ist
zu suchen in der gesamten Verfassung des Mittelalters, welche
Stei)! schlechthin als die »ständische* bezeichnet. Es treten auch
hier wieder dieselben Gesellschaftskreise in Tätigkeit, welche wir
mit der Unterstützung befaßt sahen. Das Armenrecht fand so-
mit, indem es in die Freiheit des einzelnen eingriff, schon ein
ganzes System von Beschränkungen vor, welche es seinerseits
beeinflußte und umgestaltete. Bevor daher an die Darstellung
des Armenrechts herangetreten werden kann, muß kurz die Ent-
wicklungsgeschichte dieser Persönlichkeitsrechte im Mittelalter
skizziert werden. Da von Anfang an diese Rechte vorwiegend
von der Gemeinde bestimmt wurden, so fällt in den Rahmen
dieser Skizze das gesamte Recht der Gemeinden, soweit es sich
mit der Niederlassung und der Angehörigkeit befaßt. Darauf
muß daher hier kurz eingegangen w'erden.
Hierbei treten zwei sich kreuzende Rechtsbeziehungen in
den Vordergrund: einerseits das Verhältnis privaten und öffent-
lichen Rechts innerhalb der Selbstverwaltung ; andererseits das
Verhältnis zwischen Staat und Gemeinde, zwischen Amts- und
Selbstverwaltung. Dieses System von Rechtsbeziehungen ist
maßgebend für den Grad der Anerkennung der persönlichen
Freiheit. Die Veränderungen innerhalb desselben, das Vorwiegen
des einen oder des anderen in demselben enthaltenen Katego-
rienpaars bedingen die jeweilige Abliängigkeit der persönlichen
Freiheit von der Gestalt der Gemeindezugehörigkeit.
Das Ergebnis dieser Entwicklung ist einerseits die Aus-
schaltung der privatrechtlichen Bestimmgründe für die persön-
liche Freiheit zugunsten der öffentlichen, sowie anderseits die
Zurückdrängung der selbstverwaltenden Einschränkungen durch
die staatlichen und endlich deren Selbstaufhebung.
Die Familiengemeinschaft, welche im Anfang als Vermitt-
lerin zwischen Staat und Individuum allein über die Freiheit des-
selben bestimmte, wurde infolge der oben geschilderten Entwick-
lung durch die auf genossenschaftlichen Beziehungen beruhende
l) Vgl. hierzu und zu dem Folgenden : Steins innere Verwaltungslehre, Bd. 2,
Verw. d. Pers. Lebens, hier vom Standp. d. Bevölkerungswesens aus ; Wagner,
Grundlegung, 2. Teil, Pers. Freiheit in volksw. Betrachtung vom rein ökon. Stand-
punkt; ßitzer, Recht a. Armenunterst., S. 72 — 179.
— 21 —
Gemeinde abgelöst. Indem diese sich aus einem privaten ge-
meinschaftlichen Kreise zu einem öffentlichen gesellschaftlichen
entwickelte, gewannen auch öffentliche Bedingungen für die Frei-
heit ihrer Angehörigen Einfluß, wenngleich innerhalb derselben
privatrechtliche Bedingungen bestehen blieben, solange die in ihr
enthaltenen genossenschaftlichen Kreise öffentliche Anerkennung
behielten. Mit der Auflösung dieser Kreise vornehmlich durch
die Gewerbefreiheit hörte auch die Existenz privatrechtlicher Be-
schränkungen auf.
Die Gemeinde wiederum, welche im Mittelalter, dem golde-
nen Zeitalter der »ständischen Selbstverwaltung«, souverän über
Form und Inhalt ihrer Angehörigkeit bestimmt hatte, ward mit
der Entstehung der Territorialstaaten unselbständiger. Die Ar-
menbestimmungen der Reichstage sind das erste Anzeichen die-
ser äußeren Eingriffe von dritter Seite. Im Laufe des 17. und
18. Jahrhunderts verstärkt sich der Einfluß der staatlichen amt-
Hchen Gewalt immer mehr. Parallel mit dem Vordringen der
staatlichen Gewalt, welche der Kirchtumspolitik der Gemeinden
das umfassende Staatsinteresse entgegensetzte und dadurch be-
freiend wirkte, ging eine ganz neue Entwicklung, welche den
mit der territorialen Ausweitung entstehenden Verwaltungsge-
sichtspunkten entsprang (vornehmlich also der Sorge für die
Sicherheit und den Reichtum des Landes) und welche Entwick-
lung das Uebergewicht des Staates den Gemeinden gegenüber
nur noch verstärkte. Es wird weiter unten davon noch die Rede
sein. Stellen wir vorher das Recht der Persönlichkeit selbst erst
einmal in den Vordergrund.
Das Recht der Persönlichkeit im modernen Staat ist abzu-
leiten aus dem sittlichen Inhalt ihres Wesens sowie aus dem
Zweck und den Folgen ihres Handelns. Dasein und Wesen der
Persönlichkeit begründet die Rechte, ihr Wollen und Handeln
die Pflichten derselben. Diese beiden Kategorien allein können
maßgebend sein für die Stellung des Individuums in der Gesell-
schaft, das heißt für den Grad ihrer Freiheit. Das Grundprinzip
der Persönlichkeit ist ihre Bestimmung, sich selbst auszubilden
und in der Gemeinschaft zu wirken. Ein System also von Pflich-
ten gegen sich selbst und gegen die Gemeinschaft. Ihre Rechte
sind zunächst zu würdigen als die Bedingungen und Folgen ihrer
Pflichten. Die Persönlichkeit der Gemeinschaft hat somit in wei-
tem Umfange über die Einzelpersönlichkeit zu bestimmen, d. h.
den Grad ihrer Freiheit festzule^^cn. l'ersönlichkeit und Gemein-
schaft bedingen und ergänzen sich gegenseitig, sie haben daher
einander zu dienen und sich Zugeständnisse zu machen.
In bezug auf die PersönHchkeit ist nun der gesellschaftliche
Staat aufzufassen als Gemeinschaft, aufgebaut auf dem Grund-
satze der Gleichheit^). Diese Gleichheit erfährt aber sogleich er-
hebliche Einschränkungen durch die Individualität, d. h. das be-
sondere Wesen der Kinzelpersönlichkeit, welche eben eine allge-
meine gleiche Behandlung der einzelnen nicht zuläßt. Dies We-
sen besteht in der Verschiedenheit des sittlichen Wollens, des
wirtschaftlichen Könnens und der intellektuellen Einsicht.
Auf diesen drei Kategorien darf allein jede Ungleichheit be-
ruhen. Entwicklung und Zustand des öffentlichen Rechts der
Persönlichkeit sind allein danach zu beurteilen, wieweit sie auf
diesen inneren Verschiedenheiten beruhen. In keinem solchen
Zustande der gesellschaftlichen Ordnung entsprechen sich Wesen
und Recht der Persönlichkeit ganz, in welchem für das ökono-
mische Können der Begriff des Besitzes eingesetzt wird und das
Wesen der Persönlichkeit nur als Angehörigkeit zu einem Stande
oder einer Klasse gewürdigt wurde. Im deutschen Mittelalter
war das Mittel dieser Begriffskorruption die rechtliche, in der
> staatsbürgerlichen <^ Epoche des 19. Jahrhunderts ist es die öko-
nomische Bindung.
Das System der ursprünglich im Wesen der Persönlichkeit
liegenden Freiheitsrechte ist aus jenen Kategorien der Persön-
lichkeitswerte abzuleiten. Das sittliche Element erfordert die
freie Auswirkung der natürlichen Bestimmung des Menschen, also
die Bestimmung über den P'amilienstand. Das technisch-ökono-
mische Element findet seine Auswirkung in der freien Bewegung
— worin es übrigens auch noch mit dem sittlichen konkurriert
— und in der freien Berufswahl. Das intellektuelle Eleinent be-
dingt die freie Meinungsäußerung und Wahl der Religionsge-
meinschaft.
Auf diesen drei Gebieten hat die Auseinandersetzung des
privaten und öffentlichen Rechts vor sich zu gehen; denn indem
der einzelne diese Rechte ausübt, verändert er nicht nur seinen
persönlichen, sondern auch den Zustand seiner Gemeinschaft.
Diese ist daher ebenso stark an der Regelung dieser Rechte in-
teressiert wie jener selbst an ihrer Freiheit. Wir folgen bei der
l) Vgl. oben S. 2 fT. und Stein, Handbuch, Bd. 3, S. 4 ff.
— 23 —
kurzen Aufzählung der historischen Beschränkungen wieder der
Suirischen Einteihing der Gesellschaftskreise. Wir betrachten
bei dieser gedrängten Uebersicht Eherecht und Freizügigkeit ge-
sondert, um das System dieser beiden Rechtsgebiete klar her-
vortreten zu lassen. Später, bei der historischen Behandlung kann
dies nicht durchgeführt werden ohne zahlreiche Wiederholungen,
da die beiden Rechte sich vielfach kreuzen.
Die Eheschließung verändert den privatrechtlichen Stand
innerhalb der Familiengemeinschaft. Diese nimmt ihr Interesse
wahr durch das ursprünglich unbedingte, später immer mehr ab-
geschwächte Zustimmungsrecht des Familienhaupts, sowie in dem
frühmittelalterlichen Hagestolzenrecht, welches man, soviel davon
bekannt ist, auch unter das öffentliche Recht einreihen könnte.
Dies kehrt auch in der Zunftverfassung und in dem Besetzungs-
recht der Städteämter häufig wieder.
Die Genossenschaft wird ebenfalls auf das innigste von jeder
Veränderung des Familienstandes berührt, Vermehrung der bür-
gerlichen Nahrungen in den Städten und der Anteilseigner an
der Gemeindefiur auf dem Lande, die mit der Heirat verbundene
Niederlassung sowie erhöhte Konkurrenz führen grade von die-
ser Seite zu den drückendsten Beschränkungen und völligen Ver-
boten.
Das Verhältnis der Untertänigkeit greift ebenfalls tief in die
Eheschließungsfreiheit ein. Die Herrschaft kann durch Heirat
einen Untertanen verlieren oder gewinnen. Ebenso beansprucht
der Lehnsherr ein Aufsichtsrecht über den Familienstand seiner
Vasallen. Die Bindung an die Scholle und die Forderung des
Gesindedienstes erhöhen dies Herreninteresse noch.
Privatrechtlich ist endlich auch noch in seinen Anfängen das
Staatsdienereherecht zu beurteilen. Doch nimmt dies vermöge
der Stellung der Beamten selbst schon frühe öffentlichen Cha-
rakter an. Diese Beschränkungen haben sich am längsten ge-
halten und werden dies ihrem Wesen nach auch noch lange
tun. Es liegt im Wesen des öffentlichrechtlichen Staatsdiener-
vertrages, daß der Staat auch an den an sich privaten Ehever-
hältnissen seiner Beamten ein materielles Interesse nimmt. Dem
Konsens der Obrigkeit oder der vorgesetzten Behörde entspricht
in seinen Grundbedingungen das unbedingte Eheverbot der ka-
tholischen Kirche für ihre Geistlichen, das Zölibat.
Die öffentliche Gewalt des Staates greift sodann auch un-
— 24 —
mittelbar in das Eherecht der Staatsbürger ein. Er muß im In-
teresse der öffentUchen Ordnung die I'^amilienverbindung als nor-
male und gesetzliche Form des geschlechtlichen Zusammenlebens
und der Kindererzeue^ung und als normalen Rahmen der Kinder-
erziehung aufrecht erhalten. Der christlich-germanische und ro-
manische Staat betrachtet die Familie als Grundlage des gesam-
ten sozialen und vStaatslebens. Infolgedessen stellt der Staat ge-
wisse Normen und Vorbedingungen für die Eingehung der Ehe
auf und zwar sowohl solche materieller Art: Mindestalter; als
formelle Vorschriften; Aufgebot usw. Hierbei ist der Staat zum
■großen Teil Rechts- und Pflichtennachfolger der Kirche, welche
das Flheleben auch mit seinen bürgerlich-rechtlichen Voraus-
setzungen und Folgen ursprünglich mit Erfolg als ihr zuständig
betrachtet hatte. Dahin gehören auch die Vorschriften über
Mischehen und Ehen zwischen Verwandten gewisser Grade. Das
von philosophischen, nationalen und hygienischen Gesichtspunkten
aus häufig geforderte zwangsweise Eingreifen des Staates in die
materielle Eheschließungsfreiheit zum Zweck der Aufrechterhal-
tung der Rassenreinheit und Volksgesundheit hat nur sehr ver-
einzelt Anerkennung und Durchsetzung im wirklichen Recht ge-
funden, wenigstens nicht in den Ländern der west- und mittel-
europäischen Kultur. (Tastenden Versuchen begegnen wir ge-
genwärtig in einigen nordamerikanischen Staaten ^).) Der Staat
ist ferner interessiert an der Zahl der Bevölkerung, welche durch
die der Ehen bedingt wird. Der Polizeistaat 2) des i8. Jahrhun-
derts hat ohne Erfolg versucht, durch Ehebeförderungen auf die
Volkszahl Einfluß zu gewinnen. Seitdem MaltJius nachgewiesen
hat, daß die Gesetze der Bevölkerungsbewegung unabhängig von
jedem staatlichen Eingriff seien, hörte bald dies Bestreben des
Staates auf.
Auch die Kirche hatte grade auf diesem halb sittlichen, halb
wirtschaftlichen Gebiet den größten Ansporn, regulierend einzu-
greifen. Sie verbot religiöse Mischehen und Verwandtenehen
und stellte die Forderung des Zölibats auf. Auf sie ist endlich
noch die Listenführung über den Ehestand zurückzuführen, wel-
che später den öffentlichen Interessen dienstbar gemacht wurden
und schließlich auf den Staat übergingen. Diese sind auch die
1) Aristoteles hatte in seiner »Politeiac hohes Heiratsalter für beide Ge-
schlechter gefordert zur Hebung der Rasse. Vgl. Mohl, Bd. I.
2) Stein, Verwaltungslehre, Bd. 2, S. 114 fT. und 244 ff.
— 25 —
Vorläufer der Heimatlisten, welche in England vorwiegend der
Armenverwaltung dienten.
Die schärfsten und nachhaltigsten Eheverbote gingen von
den Gemeinden aus, welche Besitzlosen überhaupt die T^heschlie-
ßung verbieten wollten und dies zeitweise auch taten. Der Grund
war ihre Verpflichtung zur Armenfürsorge. Es sollte die Ent-
stehung von Verhältnissen von vornherein verhütet werden, welche
eine spätere Verarmung der Beteiligten auch nur entfernt befürch-
ten ließen. Diese Seite des Problems wird uns später noch be-
sonders beschäftigen.
Wir wenden uns jetzt zu einer ebenso kurzen Uebersicht des
Zugrechts.
Das Interesse der gemeinschaftlichen Kreise, Familie, Ge-
nossenschaften und Herrschaft liegt auf der Hand. Nur daß
hierbei die ländlichen Verhältnisse mehr in den Vordergrund
treten : in den freien Gemeinden durch die strenge Ordnung des
Flurzwanges und den Anteil an der Allmende ; in den herrschaft-
lichen Dörfern durch die Bindung an die Scholle und die Grund-
hörigkeit. Somit hatten die ländlichen Gemeinschaften ein In-
teresse daran, ihre Angehörigen festzuhalten, die städtischen zur
Zeit ihrer Blüte und später daran, umgekehrt alle Fremden fern-
zuhalten, als welche sie den ohnehin engen Nahrungsspielraum
noch mehr beschränkten.
Die Folgen der Bewegung von Teilen der Bevölkerung sind
ökonomische, soziale und rechtliche, und hiernach muß sich das
Verhalten der betroffenen Gemeinschaften ebenfalls einstellen.
Wir unterscheiden eine vorübergehende und eine dauernde Nie-
derlassung als unmittelbare Ergebnisse der Wanderungen je nach
ihrem Charakter. Das Wanderungsrecht beruht, wie oben dar-
gelegt, auf der Selbstbestimmung und hat zum Zweck die freie
Betätigung der Persönlichkeit nach Art und Beruf.
Die Gründe der reinen Wanderung ohne die Absicht dauern-
den Aufenthalts sind teils wirtschaftlicher Natur, wie die durch
die Zunftordnungen vorgeschriebenen Gesellenwanderungen, teils
allgemeiner Natur, eigentliche Reisen wie die der fahrenden
Schüler im Mittelalter, oder wie die Reisen zur Belehrung und
zum Vergnügen der jüngeren Söhne aus den oberen Klassen im
i8. Jahrhundert. Darüber hinaus waren immer Angehörige ein-
zelner Stände unterwegs zu den verschiedensten Zwecken. Das
Interesse der öffentlichen Gewalten hieran war zunächst das
— 26 —
an der Ordnung überhaupt ; diese fremden Elemente hatten sich
in die Ordnung der Gemeinschaft, in der sie sich gerade auf-
hielten, zu fügen. Es lag sodann in diesem fluktuierenden Ele-
ment eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit, welcher es durch
Aufsicht und Erforschung der Reiseabsicht vorzubeugen galt.
Eigentliche Reiseverbote finden wir für den freien Teil der Be-
völkerung kaum, wohl aber ein genaues Aufsichtsrecht in Be-
zug auf Stand, Absicht, Herkunft, Ziel, Leumund, und u. a. Ge-
sundheitszustand. Das eigentliche fahrende Volk ohne festen Be-
ruf war jederzeit den willkürlichen Maßnahmen der jeweiligen
Obrigkeit ausgesetzt. Das Mittel der Verwaltung, diese Auf-
sicht durchzuführen, war seit dem 17. Jahrhundert ein System
von Paßkarten und Meldungen, späterhin erleichtert und verein-
facht zu Aufenthaltskarten, Legitimationskarten, Gesindemeldungen,
Wanderbüchern, Gewerbspässen und schließlich der einfachen
Meldung') 2).
Die dauernde Wohnsitzveränderung hingegen hatte ganz an-
dere tiefgreifende Folgen für die bisherige wie für die neue Ge-
meinschaft, sie unterlag daher auch festen durchgreifenden Be-
schränkungen. Hier ist zu unterscheiden zwischen Wanderung
innerhalb des Staatsgebietes und der Aus- bez. Einwanderung.
Diese letztere wurde mit der Vergrößerung der Territorien er-
schwert, zum Teil beeinflußt von den Religionsstreitigkeiten,
welche aber gerade schließlich der Anlaß zu einer freieren Aus-
gestaltung der interterritorialen W^anderungen wurde. Die strenge
Durchführung des Grundsatzes .• cujus regio, ejus religio war auf
anderem Wege gar nicht zu erreichen. Ebenso sehr wie der
Polizeistaat bemüht war, die inländische Wanderung zu hindern,
beförderte er unter dem Einfluß des Merkantilismus die Einwan-
derung, aber darüber hinaus nahm noch Friedrich der Große um-
fangreiche »Translozierungen« zugunsten seiner neu eroberten Ge-
biete vor.
Den größten Einfluß öffentlich-rechtlicher Art auf die Wan-
derungsfreiheit hatte hier wie bei dem Eherecht die Gemeinde,
welche sich teils im Interesse der einheimischen Zünfte, teils im
eigenen, um die Armenlast nicht zu vergrößern, gezwungen sah,
die Niederlassung zu verhindern.
i) Stein, Innere Verw., S. 252 und 268 ff.
2) >Passagium innoxiumc wird von den Juristen im 18. Jh. schon vertreten.
Mohl, Bd. 3, S. 105.
Bei dem Eherecht wie bei dem Niederlassungsrecht schalte-
ten die Städte ursprünglich ganz nach eigener Willkür, bis der
Staat im Interesse der ganzen Volkswirtschaft auch hier regelnd
eingriff, und die Entscheidung über diese Verbote seinen »Aem-
tern« vorbehielt, um die kleinlichen Rücksichten vieler Gemein-
den zu bekämpfen ^).
Drittes Kapitel.
Gemeindeangehörigkeit nach Deutschem und
Gemeinem Recht 2).
Von einer Staats- wie Gemeindeangehörigkeit kann erst im
Zustande der Seßhaftigkeit die Rede sein, weil zu diesen Be-
griffen die Beziehung auf ein bestimmtes Gebiet gehört.
Zu Cäsars Zeit hatten die germanischen Stämme bereits den
Zustand der Seßhaftigkeit erworben (aber bis etwa 100 n. Chr.
wechselten die Hundertschaften innerhalb desselben ihre Sitze und
erst gegen 300 wurden die Sippen ganz seßhaft). Von dieser Zeit
an kann erst von einer Gemeindeangehörigkeit gesprochen werden.
Bis in das 5. Jahrhundert hinein deckte sich die Familiengemein-
schaft völlig mit der Markgenossenschaft. Erst jetzt beginnen
sich die zu groß gewordenen Geschlechterverbände aufzulösen
und eigentlichen dörflichen Realgemeinden Platz zu machen. Die
Zugehörigkeit zu dieser bemaß sich fast ausschließlich nach dem
Anteil an dem genossenschaftlich bewirtschafteten Grund und
Boden. Dies bleibt so unter den Merovingern und Karolingern,
nur daß diese den Gemeinden ihren öffentUchen Charakter in
Bezug auf die Gerichtsbarkeit nehmen und sie einer zentralisti-
schen Tendenz folgend in dieser Hinsicht größeren »bürokra-
tischen« Verbänden^), den Grafschaften unterordnen. Die Zu-
i) Zu diesem ganzen theoretischen Abschnitt vgl. außer den oben angeführten
noch Mohh Polizeiwissenschaft, Bd. i, S. 8. JMohh Standpunkt ebenso wie Steins
ist auf der völligen Freiheit des Individuums begründet. Die besondere Persön-
lichkeit des Staats erkennt Mohl kaum an. Nur außerhalb der Grenzen der Ver-
nunft und des Rechts darf das Individuum sich nicht bewegen. Auch Bitzer, S. 75,
billigt dem Staat als solchen kein Recht gegenüber der Persönlichkeit zu, sondern
nur gegen Gemeinde und Familie, welch letztere Mohl scheinbar auch ganz selb-
ständig zum Staat stellen will.
2) Lamprecht, Deutsche Geschichte, Bd. i. Rehm, Erwerb der Staatsangehörig-
keit in den Annalen.
3) Rehm erwähnt hierbei die Dorfgemeinden gar nicht, welche doch daneben
bestehen blieben und ihre Angehörigkeit wie früher bemaßen.
— 28 —
gehörigkeit zu diesen bemißt sich nach der Tatsache des »ma-
nere, commoratum esse«, was wohl mit »Wohnunj^ haben ^, nicht
mit eigner Ansässigkeit übersetzt werden muß. Auch die Rechts-
regeln der Rechtslnicher beziehen sich nur auf die Gerichtsspren-
gel, zu denen alle Einwohner gehören mußten, um überhaupt die
gerichtliche^) Zuständigkeit zu finden. Der Sachsenspiegel hat
für den Ausdruck »manere« des Ripuarischen Rechts das Wort
»Wonunge«, daneben kennt er aber auch schon die >herberge«,
den nicht dauernden Aufenthalt und die eigentliche Ansässigkeit,
»gut binnen haben«. Die Gemeindeangehörigkeit selbst wurde
dadurch nicht berührt.
In ein zweites Stadium treten wir erst ein mit der Ausbil-
dung des Städtewesens -). Diese neuen Gemeinden unterschieden
sich zuerst weder in ihrem Verhältnis zu der Obrigkeit noch in
den Regeln für ihre Angehörigkeit von den alten Landgemein-
den. Auch sie waren abhängig. Nach und nach erwarben sie
erst besondere Rechte. Die Angehörigkeit wurde begründet
durch die gemeinschaftliche Ansässigkeit. Mit der Verleihung
der Immunitäten an die sich bildenden Grundherrschaften ent-
stand erst ein Unterschied zwischen den „cives, incolae«^ in den
»gemeinen der bürgere« den »communitates«. Diese traten den
»subditi^ in den Territorien gegenüber. Dadurch zugleich wird
auch die Absonderung der alten städtischen Markgenossen gegen
die neuen Zuzügler begründet. Die »incolae-^ hatten minderes
Recht als die »cives^. Aber die Städte hatten zunächst gar kein
Interesse daran, sich abzusondern, ihre wirtschaftlichen und poli-
tischen Ziele drängten auf eine freundliche Aufnahme aller Be-
gehrenden. Der Zuzug war infolge der sich verschlechternden
Lage der ländlichen Bevölkerung sehr stark. Die Zahl der Pfahl-
bürger war eine große. Diese waren die eigentlichen ^incolae«-
Daneben spielte das Institut der »Ausbürger« eine große Rolle,
1) Buch 3, Art. 8l. Das »sitzen im Gericlitc bemaß sich darnach, >war he
wonunge oder gut binnen hat«, ebenso Buch 3, Art. 25. Buch 2, Art. 71 >und
alle, die darinnen wonunge oder herberge haben, ne sollen schwerd tragen. c Cod.
Dipl. Brandenb. 2, i, S. 49 bezeichnet »homines comitatus« als »manentes<.
2) Bitzer, S. 171 und andere sieht die Grundlage der Deutschen Städte in
dem freien Zug und dem Frieden in den Mauern. Daneben spielt vor allem der
Staatsfriede eine große Rolle. Die Aufnahme von Pfahlbürgern wurde seit iioo
als Privileg anerkannt, noch Prag II 50, Eisenach 1283; aber von den Grund- und
Territorialherrn und schließlich auch dem Reiche bald bekämpft. Vgl. Rehm, Art.
Freizügigkeit HWSt. Sugenheim in den Abschn. über Deutschland u. Frankreich.
— 29 —
welche auf dem Lande sitzen blieben, aber durch dieses rein
rechtliche Verhältnis zur Stadt ihre Lage zu verbessern suchten.
Doch auch Freie, ja Edle sahen ihren Vorteil in der Uebersied-
lung oder doch der Verleihung des Bürgerrechts. Dies wirkte
auf das Städterecht dahin zurück, daß die Begründung des Bür-
gerrechts eine andere wurde : an die Stelle von Wohnsitz und
Ansässigkeit traten Geburt und Aufnahme.
Anders gestaltete sich die rechtliche Lage auf dem Lande.
Die alte Markgenossenschaft bestand zwar noch, aber sie hatte
tiefgreifende Veränderungen durchgemacht. Sie war keine freie
Höfergenossenschaft mehr, sondern in den meisten Gegenden in
Abhängigkeit von den Grundherren geraten, und während die
Städte sich davon befreiten, sanken die Dorfgemeinden nur im-
mer tiefer. Trotzdem blieb die Dorfgemeinde aber meistens Ge-
nossenschaft mit eigenem Höferrecht und hatte über ihre Ange-
hörigkeit wohl nach denselben Grundsätzen zu bestimmen wie
früher, nur daß dem Grundherren ein gewisser Einfluß auch in
dieser Beziehung zustand. Die Grundherren suchten jedenfalls
dem Entweichen ihrer Untertanen durch Beschränkungen der
Freizügigkeit ebenso wie durch Verbesserung ihrer Lage zu
steuern. So finden sich denn die ersten und nachhaltigsten Zug-
beschränkungen auf dem Lande, im Zusammenhang mit der
Schollenbindung. Strenge Abzugsverbote schließlich seitens des
Reichs^), 1220 und 1232 hatten aber gegenüber den Verlockungen
der städtischen und kolonisatorischen Werbungen wenig Erfolg.
Der innige Zusammenhang von Zug- und Eherecht tritt in dieser
Zeit besonders deutlich hervor : dem Grundherrn unterstand der
Hintersasse auch in bezug auf seine Verheiratung '^) ; konnte der
Herr doch durch die Verheiratung einen Untertanen gewinnen
oder verlieren. Das Bestreben, nur Heiraten von unfreien Leuten
desselben Herren zuzulassen, ging bald in das andere über, Ver-
träge mit Nachbarn abzuschließen, wodurch im Wege der Gegen-
seitigkeit den Leuten das »Unterzugsrecht« gewährt werden
konnte, ohne den Herrn zu schädigen. Dieses Unterzugsrecht
wurde im Einklang mit der gesamten Gerichtsverfassung dann
auf große Gebiete erstreckt. Aber das Ehebewilligungsrecht
selbst ward hierdurch nicht berührt. Diese Freiheitsbeschrän-
i) HeAm, HWSt.
2) Hierüber genauer Laviprecht, DWG., S. 1203 ff. und Sugoiheim.
— 30 —
kungen sind ihrer ursprünglichen Entstehung nach immer noch
als privatrechtliche anzusehen.
Die dritte Periode in der Geschichte der Gemcindezugehörig-
keit wird durch das Eindringen des römischen Rechts eingeleitet.
Dies erstreckte seinen Einfluß bald von dem eigentlichen Prozeß-
recht auch auf die anderen Gebiete des öffentlichen Kechts. Im
Gemeinderecht drang es fast völlig durch. Die Tatsache der An-
sässigkeit ward nun mehr und mehr beseitigt aus den begründe-
ten Ursachen des vollen Bürgerrechts, dafür trat der
-animus perpetuo habitandi« ein. Sodann wurde die Schranke
zwischen Bürgern und Beisassen erhöht. Der römische Rechts-
grundsatz : jCives quidem origo, manumissio, allectio vel adoptio,
incolas vero domicilium facit; uxor mariti condicionem sequitur'
fand seine volle Anwendung auf deutschem Gebiet. Die Geburt
begründete das Bürgerrecht nur indirekt als Ursache des Wohn-
sitzes. Entsprechend der Verfassung der römischen Munizipal-
städte war ein gleichzeitiges Bürgerrecht in verschiedenen Städten
möglich. Die Juristen des 17. Jahrhunderts schildern diesen Zu-
stand des Rechts: Mevius, Gail, LanterbacJi'^).
In eine neue Plntwicklung trat die Gemeindeverfassung mit
dem 16. Jahrhundert infolge der Reichstagsbeschlüsse, welche die
Gemeinden zur Armenfürsorge verpflichteten. Das bisher jeder-
zeit leicht zu erwerbende Inkolat wurde nun, wo es der Stadt
Verpflichtungen auferlegte, ebenfalls von Bedingungen abhängig.
Zunächst konnte es nur erworben werden durch die Genehmi-
gung der Obrigkeit, außerdem war nur stillschweigende Ersitzung
möglich. Die Entwicklung im einzelnen ist in den verschiedenen
Gebieten ungleich. Hier kommt es nur auf die Grundzüge der
gemeinrechtlichen Entwicklung an. Das Lübische Recht machte
den Erwerb des armenrechtlich gültigen Inkolats von dem Er-
werb des Bürgerrechts abhängig, dieses selbst dagegen verlor
seine Wirkung ohne tatsächlichen Aufenthalt in Beziehung auf
die Armenpflege. Meviiis'^) schreibt: > Welcher Mann mit seinem
Weib und Kindern in die Stadt kömmt oder sich allda befreyet,
1) Rennt, Annalen, WinJscheid, Pandekten.
2) Ad ius Lubecense. lib. i, tit. 2, art. 6. Vgl. auch Gail, observ. 2, 36,
nr. 7. »in civitatibus passim incolatus ex consueludine vel statuto post annum
acquiritur et non patiuntur advenae diutius ibi cominorari, si lapso anno iura civium
redimere nolit.« 1578. Ebenso: A'nipschildt, Lauterhach (nach Rehni). Es heißt
nun: incolas faciunt naiivitas, adoptio, nuptiae, domicilium iustum, d. h. qualifi-
zierter Wohnsitz.
— 31 —
so wohl auch ein ledig Gesell oder andere Person, was Stands
die sein möge, so Rauch und Feuer halten will, der oder die
müssen wohl drei Monate darin wohnen, nach der Zeit, wollen
sie länger wohnen, so sollen sie die Bürgerschaft gewinnen ; doch
stehet es bei dem Rate, ob sie ihm die Bürgerschaft gönnen
wollen oder nicht, t Also hier ist die Möglichkeit der absoluten
Ausschließung gegeben. Diese gewinnt immer mehr an Bedeu-
tung, wie bei der Betrachtung der einzelnen Territorien hervor-
treten wird. Diese aufgenommenen Beisassen haben ein min-
ders Recht »cives minores«, sind aber zur Entrichtung von
Eintrittsgeldern und Bürgerschaftsbeiträgen verpflichtet. Das Bei-
sassenrecht erweitert sich endlich zum Heimatrecht. Dafür kann
es aber ferner nur in einer Gemeinde besessen werden.
»Nonnullis in locis singulari statuto cavetur, ut si quispiam
alibi domicilium constituerit et ibidem per annum et diem habi-
taverit, ipso iure prius domicilium amittat« {Knipschildt lib. 2
Kap. 29 Nr. 167). Auf die Landgemeinden hatte die reichstäg-
liche Armenordnung noch die Folge, daß auch sie in dieser Be-
ziehung wenigstens als öffentliche Korporationen anerkannt wur-
den. Die Ausbildung des verwilligten Wohnsitzes als Hauptmittel
der Repression werden wir in der bayrischen Geschichte sehen.
Hier sei nur noch darauf hingewiesen, daß künftig die Festsetzung
der Fristen für die Ersitzung des Inkolats im einzelnen sehr verschie-
den normiert wird, im Süden im allgemeinen länger als im Norden.
In die letzte Periode der Gemeindeentwicklung treten wir ein
mit dem 18. Jahrhundert. Ursache der Veränderung ist der Mer-
kantilismus, welcher im Interesse der »Peuplierung« des Landes
ein tieferes Eingreifen in die Selbständigkeit der Städte seitens
der Landesherren notwendig macht ^). Auch entstand im Gegen-
satz gegen früher die Auffassung, daß die Ortsangehörigkeit die
Staatsangehörigkeit begründe und auch aus diesem Titel dem
Landesherrn die Aufsicht über die Aufnahme von Ausländern
gebühre -j. Die Juristen^) des 18. Jahrhunderts sprechen dem
i) Als Beispiel sei die rev. Gen. Steuer- u. Konsumtions-O. d. M. -Branden-
burg angeführt. Kap. 8, § 11. »Um die Stadt desto eher popiilös zu machen«,
soll das Bürgergeld ermäßigt werden. Ausführlich auch Stein, VerwL., Bd. 2.
2) Entstanden ist die obrigkeitliche Niederlassungserlaubnis aus dem Kgl.
Judenregal nach den Kreuzzügen, wonach für die Niederlassung der Juden obrig-
keitliche Erlaubnis einzuholen war. Nächstdem waren nur die Reichsgeächteten
und Häretiker von der Niederlassung generell ausgeschlossen.
3) Gegensatz KnipschilJts im 16. und Einininghaus, v. Cra/ner im 18. Jhd,
— 32 —
Landesheirn unbedenklich das >regale majus« in dieser Hinsicht
zu. Die Rücksichten auf die öffentliche Ordnung,' und das liettel-
uesen nach dem 30jährigen Kriege wirken in derselben Richtung.
Dann i,'e\vinnen die Armengesetze völlig die Oberhand.
Betrachten wir so das Recht des Wohnsitzes im Zusammen-
hang, so stellt es sich dar als der Niederschlag der Beziehungen
des einzelnen zur Gesellschaft auf räumlicher Grundlage und der
Beziehungen zum Räume selbst, welche sich ursprünglich decken
und deren Deckung späterhin mit der Erweiterung der territoria-
len Gesellschaftsform mehr oder weniger verloren geht. Die Be-
ziehung zum einzelnen Ort ist der Wohnsitz, zum Staat als Land
und Volk Staatszugehörigkeit. Das Gegenseitigkeitsverhältnis
zwischen Gemeinde- und Staatszugehörigkeit ist schwankend. Ur-
sprünglich begründete die erstere die letztere, im Polizeistaat
wird es teilweise umgekehrt, wie im Bayrischen Recht des 18.
Jahrhunderts. Böhlau ') leugnet für die erste Zeit der ostdeut-
schen Kolonisation jeden Zusammenhang zwischen Individuum
und Staat auf räumlicher Grundlage ; dieser werde nur durch die
rein persönliche Lehensverfassung begründet.
Wichtig ist die Auffassung des Wohnsitzes für die Unter-
scheidung des öffentlichen und privaten Rechts. Das deutsche
Mittelalter leitete beide aus dem Familienzusammenhang ab, ohne
sie irgendwie zu unterscheiden. Der Ort der Ansässigkeit ist
maßgebend für alle Rechtsbeziehungen zwischen den einzelnen
unter sich wie zwischen dem einzelnen und der Gemeinschaft.
Dieselbe Stellung nahm zunächst das römische Recht auf deut-
schem Boden ein, so lange im ständischen Staat die privatrecht-
lichen Beziehungen unmittelbar die öffentlichen begründeten.
Erst der Polizeistaat des 17. und 18. Jahrhunderts mit seinen er-
weiterten Verwaltungsaufgaben führte mit Notwendigkeit zu einer
besonderen Erfassung des öffentlichen Rechts der Person und der
örtlichen Gemeinschaft.
In den Städten des Mittelalters begründete der Aufenthalt
»incolatus«^ den Wohnsitz »domicilium« ; dieser war also nur die
P"olge jenes. Das Domizil wurde in der Rechtssprache selbst
einerseits zum Ort, andererseits zum Recht des Wohnsitzes, ja
zum Ausdruck für das darin liegende Statusrecht der Person-).
1) Die Wandlungen des Heimatrechts in Mecklenburg. Uildebr. Jb., Bd. iq,
S. 321.
2) V. Sicherer, Recht der Eheschließung.
— 33 —
Und sein Inhalt wurde definiert als der Ort, wo jemand den regel-
mäßigen Mittelpunkt seines häuslichen und bürgerlichen Daseins
habe. »Et in eodem loco singulos habere domicilium non am-
bigitur, ubi quis larem rerumque ac fortunarum summam con-
stituit, unde rursus non sit decessurus, si nihil avocet, unde cum
profectus est perigrinari videtur, quo si rediit, perigrinari iam
destitit« ^). Zu seiner Begründung genügt nicht mehr wie bisher
in den Städten der bloße Inkolat ; sondern — wie in den Land-
gemeinden von jeher — die Absicht zu bleiben muß hinzutreten,
der »animus perpetuo habitandi«. Seitdem zum Teil infolge der
Armenverpfiichtung der Gemeinde nicht mehr der einfache In-
kolat, sondern nur noch das obrigkeitlich verwilligte »domicilium
justum« zur Erwerbung des Domizils ausreicht und dadurch in
Verbindung mit dem Einfluß des Landesherrn auf die Aufnahme
neuer Gemeindemitglieder auch auf diesem Gebiete die Scheidung
zwischen öffentlichem und privatem Wohnsitz eintritt — seitdem
war auch eine Unterscheidung in der Sprache notwendig. Diese
trat denn auch im 1 8. Jahrhundert ein: das privatrechtliche Ver-
hältnis zur Gemeinde hieß nun eigentliches Domizil, prozeßrech-
liches, auch Domizil oder Wohnsitz schlechtweg. Für den öffent-
lichen Wohnsitz fand man je nach seiner speziellen Bedeutung
den Ausdruck: polizeiliches, armenrechtliches, publizistisches Do-
mizil, oder einfach im Gegensatz zu dem mehr Rechte in sich
schließenden »Domizil« : »Inkolat« schlechthin. In armenrecht-
licher Beziehung bildete sich die Bezeichnung »Heimat« heraus.
Diese unklare Bezeichnung erschwert im i8. und noch im 19.
Jahrhundert die Unterscheidung der gemeinten Rechtsverhältnisse
außerordentlich. In Mecklenburg ist die Trennung von öffent-
lichem und privatem Recht noch im 19. Jahrhundert nicht klar
durchgeführt in der Bezeichnung : wesentlicher Wohnsitz, in Bayern
auch : Wohnung, in Preußen : Hingehörigkeit, zu Hause. Bei der
Mannigfaltigkeit der Rechtsverhältnisse und der Bezeichnungen
ist man genötigt, von dem Worte ganz abzusehen und in jedem
einzelnen Falle erst zu prüfen, welches Recht mit dem jeweiligen
Ausdruck gemeint ist. Auch die besonderen erforderten Be-
dingungen des Wohnsitzes gelten vielfach in der Gesetzessache
einfach für das Recht selbst. In Bayern: Ansässigkeit^), »die An-
sässigkeit ist das politische Domizil, die Ansässigmachung die
i) Const. 7, cod. de incolis lo, 39.
2) Vgl. Rehm, S. 228 und 247, Riedel-Müller, S. 31, Seydel, Bd. 3, S. 97.
Zeitschrift für die ges. Staatswissenscli. Ergänzungsheft 51. "X
— 34 —
Begründung dieses Domizils durch wirkliche rechtmäßige Nieder-
lassung, die Ansässigmachungserlaubnis die obrigkeitliche Domi-
zilsbewilligung — die Heimat ist der Inkolat.« Und trotz der
Ausschließung des einfachen wie des qualifizierten Wohnsitzes
als Erwerbsgrund der Gemeindemitglicdschaft hält die deutsche
Gesetzgebung weiter in Sprache und Konstruktion an dem Wohn-
sitzbegriff fest. Die prozeßrcchtlichc Zuständigkeit verliert jeden
Einfluß auf die politische, polizeiliche und armenrechtliche Hin-
gehörigkeit; die Begriffe Wohnsitz und Heimat aber werden
weiter für beide angewandt. Auch das rein gerichtliche > forum
domicilii et habitationis« wird in der Maximi/ianeischen Gesetz-
gebung auf das Arm.endomizil übertragen. Für Bayern bringt
erst das Jahr 1825, für Preußen das Jahr 1842 die reinliche Schei-
dung der Begriffe und der in ihnen enthaltenen Rechte, welche
Scheidung durch den dauernden Wechsel der Rechte selbst und
die unklare Beziehung zwischen ihnen inbezug auf Ort und Staat
noch mehr erschwert war. Der Stand der Rechte und ihrer Be-
zeichnungen um die Mitte des 19. Jahrhunderts war folgender:
Die Staatsangehörigkeit begründet erst die Gemeindeangehörig-
keit. Beide haben verschiedene Grade : das Indigenat ist ein
Rechtsverhältnis zwischen dem Staate und der Person und be-
gründet für diese alle Rechte und Pflichten, welche die allge-
meine Gesetzgebung den Inländern einräumt. Der Wohnsitz in
polizeilicher Hinsicht, Heimat, auch gewöhnlicher Aufenthalt ge-
nannt, begreift die entsprechende Stellung der Person zur Ge-
meinde in sich. Die Verpflichtung äes Staates, für seine Ein-
wohner im Notfalle zu sorgen, beruht auf gleichen Voraussetzun-
gen für alle ; verschieden ist nur dem Grade nach der Inhalt,
aber dem Wesen nach die Form der gleichen Verpflichtung sei-
tens der Gemeinde, welcher der Staat diese seine Verpflichtung
übertragen hat. Das Staats- und Gemeindebürgerrecht stellen
beide einen höheren Grad der Angehörigkeit der Person zu seiner
Gemeinschaft dar, welcher größere Rechte verleiht, dafür aber
auch bedeutendere Voraussetzungen für den Erwerb dieses hö-
heren Grades erfordert. Die Ansässigkeit ist kein für sich be-
stehendes besonderes Rechtsverhältnis mehr, doch ist ein Teil
ihres Inhalts in das Bürger- oder Heimatsrecht übergegangen.
Unter Wohnsitz endlich wird der mit der Absicht dauernder
Niederlassung gewählte Aufenthalt verstanden, dessen rechtliche
Wirkungen sich hauptsächlich in bezug auf die Zuständigkeit der
— 35 —
Zivilgerichte äußern, dessen Voraussetzungen sich wesentlich mit
dem für die polizei- und armenrechtliche Zuständigkeit maßgeben-
den Wohnsitz decken.
Für die Absicht der dauernden Niederlassung als Grundlage
für die rechtliche Gültigkeit des Wohnsitzes haben sich im Laufe
des Mittelalters bestimmte Merkmale herausgebildet, an welchen
sie erkannt wurde. Das Recht des Aufenthalts über »Jahr und
Tag« ist die erste Stufe, welches durch die notwendige Unter-
scheidung der rechtlich-städtischen und rechtlich-ländlichen Be-
völkerungsteile hervorgerufen war. Infolge der Armenvorschriften
und der Abschließung der Zünfte wurde diese Frist nach und
nach verlängert und außerdem teils daneben, teils in Verbindung
mit ihrer Ansässigkeit in verschiedenen Formen verlangt. Ge-
wissen Personenkreisen aber wurde von vornherein die Fähigkeit
der Absicht zu dauerndem Aufenthalt abgesprochen. Im Zu-
sammenhang hiermit steht die Unfähigkeit aller unselbständigen
Personen, den Wohnsitz zu erwerben, wobei wiederum die Tren-
nung des öffentlichen und privaten Rechts zu verfolgen ist. Die
durch privatrechtliche Verträge freiwillig Unselbständigen (Dienst-
boten) werden in Ansehung ihrer öffentlichen Rechte erst kurz
vor oder mit dem 19. Jahrhundert als selbständig anerkannt. Der
Familienstand und das Alter bleiben allein als Gründe der Un-
selbständigkeit bestehen. Dagegen fehlt den Beamten und dem
Gesinde nach der Rechtsauffassung des 17. und 18. Jahrhunderts
die Selbständigkeit des Aufenthalts. Beamte, Pächter, Gesinde
und Taglöhner, auch Studenten ^) haben wenigstens nicht die Ab-
sicht des dauernden Wohnens. Beamte, welche in auswärtigen
Staaten dienen, werden von der Verpflichtung zur Entrichtung
der Nachsteuer von den Juristen des 18. Jahrhunderts aus diesem
Grunde freigesprochen. Die bayrischen Gesetze des 18. Jahr-
hunderts, auch die würzburgischen Erlasse nehmen Tagelöhner,
Schäfer und Gemeindebeamte von der Wohnsitzerwerbung aus-
drücklich aus. Doch die Gesetze des 19. Jahrhunderts in Bayern,
Preußen, Hannover 2), Sachsen u. a. m, billigen die Absicht dauern-
den Aufenthalts bereits allen Beamten und dem Gesinde zu;
1) Vgl. Mevius, Kreitlmayr, Knipschildt, cap. 29, Nr. 105 »illi, qui studiorum
causa in Academiis aliis quam in quibus originem suam ex nativitate habent, do-
micilium sibi habere non censentur, licet per mille annos ibidem studiorum causa
commorentur, quia animum redeundi habent.« Vgl. Rehm, Annalen, S. 211.
2) Hann. Domizilordn. 1827, Bad. Ges. 16/2. 1838.
3*
- 36 -
dem Gesinde nach längerer Frist, den Beamten mit der Anstel-
lung selbst ^).
l) Diese begrifTlichen Unterscheidungen können kaum erschöpfend behandelt
werden, ohne die überaus scliarfsinnigen Unterscheidungen Steine zu erwähnen,
die er aus seinem System der administrativen Bevölkerungsordnung ableitet. Inn.
VerwLehre, Bd. 2. S. 273 — 352.
Der Verwaltungsorganismus des Staates in bezug auf die Organe des Staates
selbst ist die administrative Organisation der vollziehenden Gewalt, welche die
Grundsätze aufstellt, nach denen die Angehörigkeit des einzelnen an das Verwal-
tungssystem sich regelt.
Die allgemeine Grundlage aller Beziehungen der Verwaltung und der hinter
dieser stehenden Staatsgewalt ist zum einzelnen die Angehörigkeit an den Staat
und an die in ihm enthaltenen Selbstverwaltungskörper. Die Funktionen des
Staates werden ausgeübt durch die direkte amtliche Staatsgewalt und durch die
Selbstverwaltungskörper. Zu unterscheiden ist hierbei zunächst die Beziehung des
einzelnen zum Willen und zu der Tätigkeit jener beiden Organismen. Diese heißt
gegenüber dem Willen des Staats je nach dem Maß der politischen Rechte : Staats-
bürgertum oder Untertanschaft; gegenüber der Selbstverwaltung: Gemeindebürger-
tum (früher Landsassiatus) und Heimat. Das Verhältnis des einzelnen zur voll-
ziehenden Gewalt überhaupt ist das Indigenat ; zur eigentlichen Verwaltung hat der
einzelne ein doppeltes Verhältnis : einmal zum amtlichen Staatsorganismus, sodann
zur Selbstverwaltung. Die Erstreckung der staatlichen Verwaltungstätigkeit auf
Personen und Sachenkreise wird begrenzt und bestimmt durch die Kompetenz ; die
Unterwerfung der Persönlichkeit unter die Verwaltung ist ihre Zuständigkeit.
Soweit die Angehörigkeit des einzelnen zu einem Selbstver\valtungskörper
nur auf der räumlichen Anwesenheit beruht, wird sie gleichfalls von dem System:
Kompetenz, Zuständigkeit umfaßt. Sobald aber diese Beziehungen auf der Ange-
hörigkeit der ganzen Person unabhängig von der räumlichen Kompetenz beruhen,
tritt ein anderer Begriff, der der Heimat ein.
Ursprünglich regelte sich die Zuständigkeit nach der Geschlechtsangehörig-
keit; die Kompetenz lag bei dem Geschlechtsverbande. Später traten an dessen
Stelle die ständischen Korporationen: Adel, Kirche, Städte. Gerichts- und Ver-
waltungszuständigkeit fallen unter beiden Verbindungsarten zusammen.
Bei beiden gibt die Abstammung die Zuständigkeit, u. U. auch noch beson-
dere Aufnahme in den Sippen- oder Standesverband. Hiernach bemißt sich unter
der reinen Selbstverwaltung die Heimat, das »forum< im öffentlichen Sinne. Die
Kompetenz der Verwaltungskörper folgt dagegen ausschließlich aus der Ansässig-
keit. Ihr entspricht die Angehörigkeit, das »domicilium« im öffentlichen und pri-
vaten Sinne.
In den Städten ist die Angehörigkeil entweder durch Grundbesitz oder später
durch zünftigen Gewerbebetrieb begründet. Die geschichtliche Entwicklung läuft
auf die Herstellung der Gleichberechtigung der Grund- und der Gewerbe-Ansässig-
keit hinaus. Diese Ansässigkeit, wie auch die auf bloßem Aufenthalt beruhende
verleiht der Gemeinde die Kompetenz. Die nicht ansässigen Scliutzbürger und
Ausbürger erwerben durch dieses rechtliche Verhältnis die Zuständigkeit in der Stadt.
Im Mittelalter war die Bemessung der Zuständigkeit zu einem Selbstverwal-
tungskörper völlig in die Hand dieser freien Körper gelegt. Es konnte also wohl
- 37 —
vorkommen, daß ein Individuum, welchem die Aufnahme oder Niederlassung ver-
wehrt war, überhaupt keine Zuständigkeit im Sinne der Selbstverwaltung besaß.
Es war dies eine Abschwächung der alten in der Geschlechterverfassung bestehen-
den >Friedlosigkeit<. Der Polizeistaat schuf hierin Wandel: jedermann mußte eine
lokale Zuständigkeit haben , eine gerichtliche , polizeiliche und armenrechtliche.
Diese letztere insbesondere gewann neben der polizeilichen bald eine ausschlag-
gebende Bedeutung, was mit der Ueberweisung der staatlich garantierten Armen-
pflege an die Gemeinden zusammenhing. Das Mittel der generellen Einrichtung
der Zuständigkeit in diesem Sinne war die Amtsverfassung, da die Selbstverwaltung
hierin naturgemäß Lücken gelassen hätte. Denn sie bemißt stets von sich aus ihre
Kompetenz nur nach ihrem besonderen Gemeinschaftsvorteil.
Die Folge der generellen staatlichen Zuständigkeitsanweisung war zum Aus-
gleich der damit für die Selbstverwaltungskörper verbundenen Lasten eine allge-
meine Beschränkung der freien persönlichen Bewegung. Diese hätte vermieden
werden können, wenn die Trennung zwischen Zuständigkeit und Kompetenz be-
grifflich und tatsächlich durchgeführt worden wäre. Auf dem Gebiete des privat-
rechtlichen Prozesses war dies der Fall.
Auf die Bedeutung der beiden Kategorien im 19. Jhd. werden wir im letzten
Kapitel zurückkommen.
- 38
Zweiter historischer Teil.
Viertes Kapitel.
Deutsches Armenwesen im Mittelalter.
Im frühen ^) Mittelalter lag die Armenpflege (wie schon oben
ausgeführt) in den Händen der Kirche. Zwar das kommunistische
Prinzip hatten schon die ersten Christengemeinden gleichzeitig mit
ihrer Vergrößerung und ihrer Ausbreitung und staatlichen Aner-
kennung fallen gelassen ; aber den Grundsatz der Unterstützung
der armen Gemeindemitglieder als praktische Betätigung der durch
Christus verordneten Nächstenliebe hatte die Kirche als solche
beibehalten und dafür auch die staatliche Anerkennung gefunden.
In den einfacheren Verhältnissen der Merovinger- und Karolinger-
zeit war für eigentliche Armenpflege nur wenig Platz, denn der
verwandtschaftliche Zusammenhang blieb noch die Grundlage der
politischen Verbände. Der Sippe und der Markgenossenschaft
lag zunächst die Regelung der privaten wie der öftentlichen Ver-
hältnisse ihrer Mitglieder ob. Die öffentlichen Beziehungen des
einzelnen wie der Gesamtheit beruhten vornehmlich auf dem pri-
vaten und damit dem verwandtschaftlichen Status. Verwundung,
Siechtum, Alter und Verwaisung waren in den Zeiten einer sich
entwickelnden Wirtschaft, in welcher von Arbeitlosigkeit als so-
zialer Erscheinung keine Rede sein konnte, diejenigen Ursachen,
welche ein Mitglied der Sippe, Markgenossenschaft oder Gefolg-
schaft auf die Hilfe anderer hinwies. Und Sitte wie Satzung sorg-
ten dafür, daß dem unverschuldet in Not Geratenen die not-
wendige Unterstützung wurde.
Als die Kirche mit dem Germanentum in Berührung trat, war
sie in sich selbst fertig und hatte grade auf dem Gebiet der
Liebestätigkeit eine reiche Entwicklung hinter sich. Die großen
l) Vgl. hierzu Emmitighaus, S. II ; Kehtn in Annalen ; Lamprecht, Deutsche
Geschichte, Bd. i.
Vermögen, welche ihr nach ihrer staatlichen Anerkennung bald
zufielen, machten sie von den Oblationen unabhängig und, indem
sie eine umfassende Anstalts- und Almosenpflege ermöglichten,
verführten sie schon in der alten Welt zur Uebertrcibung ^) ; Kaiser
Valentinian II. hat als erster um 370 Bettel verböte erlassen. Auf
germanischem Boden, wo die staatlichen Vereinigungen eben erst
unter starken Zuckungen entstanden, fiel der Kirche vollends alle
kulturelle Betätigung zu : Bildung, Gesundheit und Armenwesen.
Der Staat hatte Mühe, seine Machtzwecke durchzusetzen, und die
Gemeinde war ein vorwiegend wirtschaftliches Organ. Im frän-
kischen Reiche wie auf englischem Boden bestimmten schon frühe
königliche Verordnungen, daß die Kirche ein Drittel bis ein Viertel
des Zehnten für die Armen zu verwenden habe^).
Die Bedeutung der Kirche für die Armenpflege darf in keiner
Weise unterschätzt werden. Ihre Anstalten und Stiftungen halfen
jederzeit der vorübergehenden Armut. Jedes Kloster und Spital
hatte besondere Einrichtungen hierfür. Aber dauernde Unter-
stützung gewährten diese Anstalten doch meistens auch nur einem
beschränkten Kreis von Berechtigten, der teils durch den Stifter,
teils durch die Kirche bestimmt war. Auch bildeten hier die
Berechtigten eine Art von Genossenschaften, welche sich nach
außen ängstlich abschlössen. Sie standen als solche neben den
privatrechtlichen Gemeinschaften der Städte. Die Zahl derer da-
gegen, welche an keine Genossenschaft Anschluß hatten, war auf
den freien Bettel angewiesen. Die kirchlichen Anstalten reichten
zu ihrer Versorgung bei weitem nicht aus. Um so mehr tat diese,
um die Privatwohltätigkeit zu steigern. Auch das Almosenwesen
des Mittelalters muß als Teil der kirchlichen Tätigkeit angesehen
werden. Denn die Kirche veranlaßte die Gläubigen zum reich-
lichen Geben und beaufsichtigte sie dabei wenigstens indirekt.
Das Mittel hierzu war die Ausbildung der Lehre von den guten
Werken, wodurch sie sich allerdings der Lehre des Islam nähert.
Das Almosen ist ein gottgefälliges Werk, das vor allem dem
Geber nützt. Die Kirche war die »lukrative Vermittlerin zwischen
Geber und Empfänger* ^). Neigt schon an sich die Privatwohl-
tätigkeit dazu, unregelmäßig und planlos, auch ohne Ueberlegung
1) Vgl. Ratzivger, Gesch. d, kirchl. Armenwesens vom katholischen und
Uhlhorn in Realenz. vom evangel. Standpunkt.
2) Eniminghaus , S. 4 — 5: Ges. 6. Kg. Aethelred 1014.
3) Eniminghaus, S. 4.
— 40 —
und Berücksichtigung des einzelnen Falles zu j^a^ben, so wurden
alle diese Mängel noch über jedes Maß hinaus gesteigert durch
die unaufhörliche »Aufhetzung« zum »Almußen^ durch die Kirche.
Die schrankenlose Freigebigkeit der Bevölkerung züchtete gradezu
die Bettler, welche sie zu ihrem Seelenheil brauchte und die sie
als Boten Gottes willkommen hieß. Der Bettel ward zu einem
eignen Beruf mit zünftischer Ordnung^). Ein unglaublich großer,
in Zahlen für jene Zeit natürlich nicht auszudrückender Teil der
Bevölkerung lag so auf der Straße, ohne festen Unterhalt. Ja
das Bedürfnis der Kirche und der Bevölkerung ging soweit, daß
besondere Bettelorden gegründet wurden und eine Macht im
im Volke wurden, die das Bettelwesen organisieren wollten, es
aber nur noch mehr verschlimmerten. Die allgemeinen poli-
tischen und gesundheitlichen Zustände taten das ihre, um die
Masse des »fahrenden Volks« noch zu vergrößern. Scharenweise
zogen die Bettler durch das Land; ein Eingreifen von weltlicher
Seite war nicht mehr zu umgehen. Bettel- und Almosenverbote
waren die Mittel, welche angewandt wurden, um des Uebels Herr
zu werden. Mit welchem Erfolg, erhellt am besten aus der Tat-
sache, daß bis ins i6. Jahrhundert hinein die Durchführung des
gemeinen Landfriedens überhaupt nicht zu erreichen war. So-
lange die ergriffenen Maßnahmen sich nur gegen die Symptome
der Krankheit wandten, ohne auf die treibenden Ursachen zu
sehen, solange die Armut nicht als soziales Problem gewürdigt
und behandelt wurde und den Verboten und Strafen nicht die
notwendige positive ergänzende Hilfe hinzugefügt wurde, war an
eine eigentliche Beseitigung und Ueberwindung dieser sozialen
Frage des Mittelalters nicht zu denken. Eine organische Ord-
nung über das ganze Reich hin war außerdem für die Wirksam-
keit der ergriffenen Maßnahmen unbedingt nötig, im Hinblick auf
die Zersplitterung der Territorien ebensosehr wie mit Rücksicht
auf die leichte Beweglichkeit der vagierenden Bevölkerungsschich-
ten, die es zu beseitigen galt.
Wir verfolgen die Bestrebungen, dem Bettelwesen zu steuern,
bis in das frühe Mittelalter hinunter und bemerken vor der Zeit
der Alleinherrschaft der Kirche im Armenwesen recht kräftige
Ansätze zu einer regen Beteiligung der weltlichen Gewalten hier-
bei, die aber später durch die Wirksamkeit der Kirche über-
wuchert wurden oder in das Dunkel des Privatrechts versanken.
l) Löning im Schönberg^c!tvtrv Handb., Bd. 3, Röscher, Armenwesen,
— 41 —
Das Konzil zu Tours im Jahre 567 beschloß, außer der Wid-
mung des dritten Teils des Zehnten an die Armen, auch die
weltliche Armenpflege anzuregen^).
In demselben Sinne verordnen die wiederholten Vorschriften
in den Kapitularen Karls des Großen ^), dem Bettel und der Ar-
mut zu steuern, und weisen auf die Pflicht der Herren hin, für
ihre Untertanen zu sorgen. Kap. ad. Nimaguam 806. Die von
Amts wegen bestehende Armenpflege der Comites und Mini-
sterialen sowie die mehr vertragsmäßige Verpflichtung der Se-
nioren, für ihre Gefolgsmannen einzustehen wurde auf das ganze
Reich ausgedehnt. Auch für die Grundherren ward dieser Grund-
satz ausdrücklich festgelegt. Die Armenfürsorge Karls des Großen
hatte keinen langen Bestand : in den dauernden äußeren und
inneren politischen Kämpfen, den Einfällen der Hunnen, Nor-
mannen usw. und den tiefgreifenden sozialen Umwälzungen, welche
vor allem die Wehrverfassung im Gefolge hatte, gingen die letzten
Reste dieser Fürsorge unter. Besseren Bestand hatten die Ver-
ordnungen König Egberts für England aus derselben Zeit, ihr Er-
folg war gleichwohl gering. In Deutschland finden wir seitdem
keine Spur von einem Eingreifen der Reichsleitung in ein Gebiet,
welches als zum Privatrecht gehörig völlig der Kompetenz der
Stände zugewiesen galt.
Nur in Frankreich greift im Laufe der Jahrhunderte häufiger
die königliche Gewalt ein. Im 13. Jahrhundert ließ Ludwig der
Heilige ein Verzeichnis der arbeitsunfähigen Armen aufnehmen
und errichtete zu diesem Zweck eine besondere Kommission.
Ueberhaupt zeichnet sich Frankreich außer durch Bettelverbote
im Mittelalter durch den Versuch wenigstens staatlicher Pflege
auch sonst aus.
In eigentümlicher Ausprägung hat sich in Skandinavien den
alten Rechtsbüchern, »den Grougans«, zufolge auch über das
Christentum hinaus die germanische genossenschaftliche Fürsorge
in das öffentliche Recht hinübergerettet. Emminghau^ berichtet
darüber: »Hiernach ist jede kirchliche Mitwirkung ausgeschlossen
bei der Armenpflege. Der Bettelei und dem Almosengeben an
Bettler und Landstreicher folgt die Strafe der Friedlosigkeit. Die
i) >Ut unaquaeque civitas pauperes et egenos alimentis congruentibus pascat
secundum vires, et tarn vicini presbyteri, quam cives unusquisque suum nutriat.<
2) Capitulare de anno 850, 5. unusquisque honoratus noster se suosque ex
suo pascat. n. Emniinghaus, S. 5.
— 42 —
Unterstützungspflicht liet^ft zunächst den Verwandten ob. Zu-
gunsten der so hilflos bleibenden Armen steuern die Freien einen
Armenzchnt. Ueber die Dürftigkeit der zu Unterstützenden ent-
scheidet die Versammlung der Freien. Wer auch aus dem Armen-
zehnt, weil dieser nicht ausreicht, nicht unterhalten werden kann,
wird in der Gemeinde von Hof zu Hof unterstützt, aber nach
strenger Vorschrift und unter Gewähr dafür, daß er nicht zum
Bettler werde oder nicht Not leide.« In ähnlicher Weise haben
wir uns auch die Armenpflege der deutschen Dörfergenossen vor-
zustellen, wenn auch nur privatrechtlich und unter Aufsicht des
Grundherrn, und mit Hilfe der Kirche.
Mit armenpolizeilichen Maßnahmen gingen in Deutschland
die Städte voran, deren Lebenselement, der Handel und Ver-
kehr, durch die öffentliche Unsicherheit in- und außerhalb der
Stadt am meisten gefährdet wurde. Darum handelten die Städte
in wohlverstandenem eigenen Interesse, wenn sie energisch gegen
die Auswüchse der ungeregelten Armenpflege vorgingen. Anders
konnte der Marktfriede nicht durchgeführt werden.
Schon im Jahre 1256 hatte der rheinische Städtebund') ein
Abkommen wegen gemeinschaftlicher Regelung der vagierenden
armen Bevölkerung getroffen und sogar eine Armensteuer von
einem Pfennig und fünf Mark ausgeschrieben. Dieser Schritt zeugt
von dem politischen Weitblick und sozialen Sinne dieser kul-
turell vorangehenden Gemeinwesen.
Die reichen in den Städten angelegten Stiftungen halfen
ebenso, wie sie auf der anderen Seite die Scharen des fahrenden
Volkes grade anlockten.
Wirkliche Bettlerordnungen begegnen uns zuerst in Braun-
schweig 1400, in Eßlingen 1384, in Wien 1453, in Köln 1446
und vielen anderen Städten, auch Nürnberg und Straßburg dar-
unter (1478). 1437 richtet Frankfurt am Main eine städtische
Armenpflege ein mit der Maßgabe, daß nur an solche Bettler,
die seit acht Jahren in der Stadt ansässig seien, Almosen ge-
geben werden sollen. Diese werden durch ein Blechschild kennt-
lich gemacht.
Unter den Territorien erließ die kurpfälzische Regierung 1574
die erste spezifische Armenordnung.
Das Vorgehen der Städte ist ein Beweis für den kolossalen
Umfang, welchen das Bettel wesen im 15. Jahrhundert angenom-
l) Löning in HWSt. und Bluntschit-Brater.
— 43 --
men hatte. So wird endlich auch der Reichstag damit befaßt.
Die reichsgesetzliche Regelung reiht sich in die Reformen Maxi-
milians ein; sie soll an ihrem Teil zu der Durchführung des Land-
friedens beitragen. Der Abschied des königlichen Tages zu Lindau
1497 setzt im § 20 fest: »Item: soll ayn yede Oberkait der Bett-
ler halb ernstlich Einsehen tun, damit niemands zu betteln ge-
stattet werd, der nit mit Schwachheit oder Gebrechen seins Leibs
beladen, und des nit notdürfftig sey. Daß auch der Bettler
Kinder zeitlich, so sie ihr Brot zu verdienen geschickt seien von
Inen genommen, und zu Handwerkern oder sunst zu Diensten
geweist werden, damit sie nit also für und für dem Bettel an-
hangen, das ayn yede Oberkait fürnemmen und auf die nechste
Versammlung fürbringen soll, davon weiter zu handeln, doch sollen
die armen Schüler, so der Lere nachziehen, hierinnen nit begriffen
sein.« § 21 befiehlt dann ferner, die Zigeuner zu beobachten.
Von nun an kehren dieselben Vorschriften in mehreren
Reichstagsabschieden wieder, teils in der Form von Verweisungen
auf die früheren Beschlüsse, teils Wiederholungen des Wortlauts,
hier und da durch neue Bestimmungen ergänzt. So werden zu
Augsburg 1500 die »Artikel des Kammergerichts zu Lindau und
Freyburg hiermit ratifizieret«, ebenso 1530, 1548 und 1576^).
In der »Kaiserlichen reformation guter polizey« von 1530
bestimmt die Ziffer 34: »daß auch die Oberkait Vorsehung tue,
daß ein jede Stadt und Commune ihre Armen selbst ernähren
und unterhalten, und Frembden nit gestattet, an einem jeglichen
Ort zu betteln im Reich. Und so darüber starke Bettler befun-
den, sollen dieselbigen vermöge der Recht oder sonst gebührlich
gestrafft werden andern zu Abscheu und Exempel. Es wäre dann
Sach, daß eine Stadt oder Ambt mit also vielen Armen beladen,
daß sie der Ort nit möchten ernähret werden, so soll die Obrig-
keit dieselben Armen mit einem briefflichen Schein und Urkund in
ein ander Ambt zu befördern Macht haben. Item ein yede Oberkait
soll auch an Stellen, da Spital seyn, daran und darob sehn, daß
solche Spital auffs wenigst im Jahr einmal von der Obrigkeit visi-
tieret und ihre Nutzung und Gefälle zu keinen andern Sachen denn
allein zu Unterhaltung der nothdürfftigen Armen und zu gütigen
und barmherzigen Sachen gekehrt und gebraucht werden.«
In der Kammergerichtsordnung von 1495 findet sich auch
i) Neue und vollständige Sammlung der Reichsabschiede. Frankfurt 1747,
Theil 2, S. 32.
— 44 —
ein ausgebildetes Armenrecht, der Arme ist in Verfolg seines
Rechts grundsätzlich geschützt. Jiedingung für den Eintritt in
den Genuß dieses Vorzuges ist die Ableistung eines Eides, wel-
cher mit unserem Offenbarungseid nach Form und Inhalt große
Aehnlichkeit hat. Es ist das >juramentum paupertatis«. Hier-
nach ist er von Sportein und Gebühren befreit. Die mißbräuch-
liche Ausnutzung dieses Privilegs durch mutwillige Arme wird
mit schweren Ordnungsstrafen bedroht.
In diesen Verordnungen erschöpft sich die Tätigkeit des
Reichs auf dem Gebiete des eigentlichen Armenwesens. Bei dem
weiteren Verfolg des öffentlichen Rechts in dieser Hinsicht sind
wir darauf angewiesen, die Gesetzgebung in einzelnen Territorien
zu beachten. Die nächste Folge dieser neuen Ordnung ist eine
Umgestaltung des Gemeinderechts, welche im vorigen Kapitel in
großen Zügen vorgeführt w^urde. Das Verhältnis von Bürgern
und Beisassen wird geändert, die Freizügigkeit und Ehefreiheit
außer durch Zunftordnungen nun auch noch durch armenrecht-
liche Rücksichten eingeengt. Das Heimatrecht entsteht.
Die entscheidende Neuerung besteht in der öftentlich-recht-
lichen Verpflichtung der politischen Gemeinde
als solcher, Land- wie Stadtgemeinde. Sie rückt somit recht
eigentlich in den Mittelpunkt der gesamten Armenpflege, und
innerhalb ihrer Aufgaben wird diese bald die wichtigste und be-
stimmt fast ausschließlich über die Gemeindeangchorigkeit. Die
privatrechtlichen Titel der Armenfürsorge treten mit dem Nieder-
gang der deutschen Städte und der Zünfte zurück. Der Staat
als solcher übernimmt die Aufsicht über das Armenwesen und
delegiert es auf seine Selbstverwaltungskörper, die allerdings
grade infolgedessen einen großen Teil ihrer Selbständigkeit ver-
lieren. Von den Gemeinden noch lange nur als Last empfun-
den, wird die Armenpflege im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts
allmählich zum Gegenstand bewußter wirtschaftlicher und dann
sozialer Fürsorge der Staaten.
Vorderhand war das praktisch in Anwendung kommende
Mittel zur Armenversorgung die Ausstellung von Bettelbriefen,
welche noch bis ins 19. Jahrhundert hinein benutzt werden. Vor-
nehmlich Religionsflüchtlinge und Abgebrannte, auch entlassene
Kriegsleute wurden damit ausgestattet und versorgt.
Die Reformation schien zuerst einen bedeutenden Einfluß
auf die Armenpflege auszuüben. Die evangelische Kirche machte
— 45 —
gute Ansätze, verfiel aber bald wieder in die alte Wirtschaft.
Bemerkenswert sind hier besonders die von Luther selbst aus-
gehenden Anregungen. In der Schrift »an den christlichen Adel
deutscher Nation« heißt es im Artikel 21: »Es ist wohl der
größten Noth eine, daß alle Bettelei abgetan würde in der Chri-
stenheit ... Es wäre auch eine leichte Ordnung darob zu ma-
chen, . . . nemlich daß eine jegHche Stadt ihre Armen Leute ver-
sorge und keine fremden Bettler zuließe ... So müßte da sein
ein Verweser oder Vormund, der alle die Armen kennt und was
ihnen not wäre, dem Pfarrer oder Rat ansagt . . . Ich hab's über-
legt, die fünf oder sechs Bettelorden kommen des Jahrs an einen
Ort, ein jeglicher mehr denn sechs oder sieben Mal, dazu die
gemeinen Bettler, Botschafter oder Wallbrüder, so daß sich die
Rechnung gefunden hat, wie eine Stadt bei 50 Mal im Jahre
geschatzete wird, außer was der weltlichen Obrigkeit an Gebühr,
Steuern und Schätzung gegeben wird . . ., daß mir's der größten
Gotteswunder eins ist, wie wir doch bleiben mögen und ernährt
werden.« Und diese Grundsätze suchte er auch in die Tat um-
zusetzen in Gestalt der gemeinen Kasten in verschiedenen Städten
seiner Umgebung. Am besten durchgeführt ist die »Ordnung
eines gemeinen Kastens. Ratschlag, wie die geistlichen Güter
zu handeln sind«-'). 1523 in Leisnig, ähnlich in Wittenberg
selbst und in Nürnberg u. a. Alle Stiftungen und kirchlichen und
zünftischen Vermögen werden zusammengeschlagen und daraus
alle gemeinschaftlichen Bedürfnisse des Kirchspiels befriedigt,
Pfarrer, Küster und Schullehrer besoldet, Gebäude unterhalten,
Darlehen gegeben und die Armen versorgt, auch »Getraide ge-
kauft in gemeinen Vorrat«. Kurz eine großzügige kommunale
Finanzordnung mit starker Betonung der sozialen Bedürfnisse.
Diese Kastenordnungen hatten jedoch nur kurze Zeit Bestand,
die Begeisterung ließ nach und die Zeitläufe waren wenig gün-
stig. Auch mischte sich bald die weltliche Obrigkeit herein.
Luthers Ziel war die Durchdringung der weltlichen Gewalt mit
der geistlichen und gemeinsame Arbeit. Mehr Erfolg und Be-
stand hatten diese Ordnungen in den reformierten Landesteilen,
so in den niederrheinischen Städten und in Holland '^). Auch
1) Vgl. Luthers Vorrede hierzu sowie zu dem Büchlein: »Von der falschen
Bettler Büberei«, 1528. Sämtliche Werke Bd. 22 und 63. Frankfurt 1854.
2) Auch Augsburg 21/3, 1522, Antwerpen 1448, infolge humanistischer An-
regungen. Vgl. Uhlhorn^ Realenzyklopädie.
- 46 -
Straßburg hatte eine vorzügliche Armenordnung. Lchrmeisterin war
hier die Stadt Ypern. Das in unserer Zeit bevorzugte Elberfelder
System reicht in seinen letzten Wurzeln bis in die Zeit der Refor-
mation zurück. Die katholische Kirche gesteht diese Wirkungen
der Reformation nur widerwillig zu oder leugnet sie wie Ratzinger.
Sie selbst aber ließ sich unter äußerlichem Protest selbst innerlich
gern beeinflussen. Die religiösen Pflegegenossenschaften des hl.
Vinzent u. a. leiten hinüber zur heutigen katholischen Charitas.
Das Tridentiner Konzil erklärte nach wie vor die Armenpflege
als eine kirchliche Angelegenheit, die dem Bischof unterstünde.
Vorbemerkung zu Kapitel 5 und 6.
Preußen und Bayern.
Die Uebernahme der Armenversorgung auf die öffentlichen
Verbände hatte wie gesagt die Ausbildung eines Heimatrechts
und Beschränkungen der persönlichen PVeiheit zur Folge. Im
dritten Kapitel ist der Versuch gemacht worden, einen kurzen
Ueberblick über die Gestaltung des gemeinen Rechts zu geben.
Wenn jetzt nun daran gegangen wird, diese Entwicklungen im
einzelnen zu verfolgen, so muß von den Freiheitsbeschränkungen
die interterritoriale Bindung abgetrennt werden, da diese natur-
gemäß nur in allgemeinerem Rahmen zur Darstellung gebracht
werden kann. Sie wird im 7. Kapitel zusammen mit der Ent-
wicklung des Deutschen Heimatrechts behandelt werden.
Es kann nicht Aufgabe dieser Arbeit sein, die Geschichte
des Armenrechts aller, nicht einmal der größeren Territorien zu
geben. Dies erübrigt sich auch dadurch, daß sich in der Viel-
heit der einzelnen Gesetzgebungen nur wenige grundsätzliche
tiefgreifende Unterschiede linden. Es kann und soll nur eine
Gegenüberstellung der typischen Unterschiede versucht werden.
Wenn zur Darstellung dieser Typen auf Preußen und Bayern
zurückgegriffen wird, so sind dafür folgende Gründe maßgebend:
Einmal verkörpern diese beiden Staaten die größten wirtschaft-
lichen, politischen, sozialen und überhaupt kulturellen Gegensätze
innerhalb des Deutschen Reichs ; sodann zeigt ihr Wesen und
ihre Geschichte ebenso einschneidende Verschiedenheiten : Bayern,
ein altes deutsches Kulturland im Mittelpunkt der mittelalter-
lichen Geschichte stehend, trägt bis in die neuere Zeit hinein
alle Merkmale seiner Schicksale und seiner Ueberlieferung an
sich, ist erst spät zu einer territorialen Einheit gekommen und
— 47 —
hat bis in die neuere Zeit unter starkem katholisch-kirchlichen Ein-
fluß gestanden; Preußen, auf mittelalterlichem Kolonialboden er-
wachsen, führt ein staatliches wie kulturelles Sonderleben, hat
früh einen größeren Umfang und territoriale Geschlossenheit er-
langt und ist die Vormacht der evangelischen Kirche geworden;
Bayern ist mit seiner wirtschaftlichen Entwicklung, der Lebens-
und Sinnesart seiner Bewohner und der Ausgestaltung seiner
Verkehrsverhältnisse wesentlich heute noch Agrarstaat geblieben,
Preußen vereinigt extrem agrarische und extrem industrielle Ge-
bietsteile miteinander und ist im ganzen auch auf dem Gebiet
der Industrie und des Verkehrswesens vorangegangen ; Bayern
hat fast bis heute an dem alten Heimatrecht festgehalten, Preu-
ßen ist als erster Staat davon abgewichen und hat das Recht
des Unterstützungswohnsitzes in Deutschland eingeführt und zur
allgemeinen Geltung gebracht ; schließlich sind diese beiden Staa-
ten die größten Territorien, was gerade für die Freizügigkeit von
Wichtigkeit ist, und überhaupt die Repräsentanten der verschie-
denen Kulturgebiete, in welche heut wie von jeher der Main das
gesamte deutsche Kulturgebiet scheidet.
Bayern (Altbayern) und Preußen (hier vorwiegend das ost-
elbische) werden gerade in letzterer Beziehung gewürdigt werden,
und ihre Nachbarn w^erden, sobald dies im Interesse der Dar-
stellung nötig wird, ergänzungsweise herzugezogen werden.
FünftesKapitel.
Bayern ^).
Wir dürfen Bayern um das Jahr 700 als ein im wesentlichen
deutsches Land ansehen. Die deutsche und bayrische Stammes-
art hat bereits in den Jahren 628 — 638 ihren Niederschlag in den
dann um 750 neu verkündeten »leges Bajovariorum« des Herzogs
Dagobert gefunden ^). Die alte Agrarverfassung ist im allgemei-
i) Nach Buchtier, Geschichte von Bayern, 1820 fF. Eiezler , I, S. 391 — 97.
2) Riezler, Bd. I, S. 113 ff. Leyer, Baj. sind gleichzeitig mit den Ripuaria
entstanden, ohne von ihnen beeinflußt zu sein. Der älteste Teil (Tit. IV, V, VI)
rührt vielleicht von Dagobert in letzter Fassung her, Tit. VIII — XXII sind beein-
flußt von der lex antiqua des i. westgot. Königs christlichen Glaubens Rekared,
der 3. Teil rührt zum Teil von Piphi her, der Bayern um 750 unterwarf. Gleich-
wohl haben die ersten Aufzeichnungen bereits unter Theoderich {^w — ^^iä,), spätere
Zusätze unter Childebert (575 — 596) und Chlothar 2. (613 — 622) stattgefunden. In
letzter Fassung, wie oben gesagt, rühren die ältesten Teile von Dagobert her.
- 48 -
nen dieselbe wie bei den Franken, nur weichen die Ausdrücke
vielfach für die gleichen Rechtsbegriffe voneinander ab. Die
Wirkungen der Karolingischen Verfassung erstrecken sich in der-
selben Weise auf Bayern. Die Lehensverfassung tritt hier zu
derselben Zeit und mit denselben Folgen ein wie im übrigen
Deutschland. Wie die nördlichen deutschen Gebiete von den
Normannen, so wird Bayern bis vor das Jahr looo von den Hun-
nen- und Ungarnschwärmen regelmäßig und häufig heimgesucht
und verheert^). Nach der Besiegung der Ungarn im Jahre 985
wird dem Bischof Pilgrim von Passau freie Besiedelung und Ko-
lonisation der Länder bis zur Leitha zugebilligt, welche in der
Folge auch sogleich in Angriff genommen ward und neben dem
Erzbistum Salzburg den Grundstock des heutigen (Jesterreich ab-
gab. Dem üppig wuchernden Raubritter- und Fehdevvesen suchte
Herzog Ludwig im Jahre 1340 durch Erlaß des ersten Landfrie-
dens zu steuern. Die von ihm zwei Jahre später erlassenen
Rechtsbücher bleiben in Geltung bis zu ihrer Ablösung durch
das Römische Recht im 16. Jahrhundert. Dieses seit 1487
durch Herzog Georg und seinenKanzlerKolber-
ger bevorzugt, brauchte bei dem erheblichen Widerstände
eine geraume Zeit, um sich allseitige Durchsetzung und Gel-
tung zu verschaffen. Natürlich ward das R. R. nicht formell
eingeführt, aber seit dieser Zeit ward es offensichtlich von dem
Herzog bevorzugt. Hier wie überall drang das R. R. nur all-
mählich durch die Gerichtspraxis ein. In München waren die
Stadtschreiber seit 1459 graduierte Personen. Von großer Be-
deutung hierfür war auch die Errichtung der Universität Ingol-
stadt 1472. {Ringler, Bd. 3, S. 706 ff.)
Die wirtschaftliche Entwicklung Bayerns ist am Anfang des
13. Jahrhunderts abgeschlossen. Lavip7'echt rnxnmX. um diese Zeit,
ausgehend von den Verhältnissen des Mosellandes, für das ganze
altdeutsche Kulturgebiet eine Sättigung des Landes an 2). Die
Möglichkeit der Rodung war bis zur Grenze ausgenutzt und die
Städte waren überfüllt. Eine w-eitere Bevölkerungsvermehrung
war unter der herrschenden Agrarverfassung und Wirtschaftsweise
i) Seit 995 wurden die Ungarn tatsächlich zurückgedrängt. 973 schickt Her-
zog Geisa bereits Gesandte an den König nach Quedlinburg. Pilgrims Absichten
auf ein Erzbistum mißlangen, aber seine Ansprüche auf Oesterreich wurden mit
Salzburg geteilt anerkannt. Riezler, I, S, 971—91.
2) Lamprec/it, Deutsche Wirtschaftsgesch. im MA., S. 129 (f.
— 49 —
nicht möglich. Soweit nicht Fehden, Hungerjahre und Seuchen
Raum schafften, war der Geburtenüberschuß auf die Auswande-
rung angewiesen. Die Kreuzzüge und die auch als Kreuzzüge
gepredigten Kolonisationen im Osten und Südosten wiesen den
Weg der Wanderung. Dies war auch die einzige rechtlich ge-
stattete Art der Lösung von der Scholle für das untertänige Volk.
Trotz der Bindung des einzelnen warf doch die mit den oben
erwähnten Aderlässen zusammenhängende wirtschaftliche und poli-
tische Unsicherheit einen großen Teil der Bevölkerung auf die
Straße, welche nun der ansässigen Masse zur Last fiel. Die voll-
ständige erbliche Bindung der Bauern an die Scholle ward im
Laufe der Zeit durch die oben dargelegten Ursachen bis zur Ein-
führung des römischen Rechts erleichtert und ward auch dann
nicht in derselben Weise erschwert wie in Norddeutschland ^).
Der Durchführung der Zugbeschränkungen bot auch die terri-
toriale Zersplitterung unüberwindliche Schwierigkeiten über einen
gewissen Grad hinaus. Sobald sich Grundherrschaft und Terri-
torium nahezu deckten, wie es im schwäbischen Kreise oft ge-
nug vorkam, konnte eine nachdrückliche Verfolgung entlaufener
Bauern nicht durchgesetzt werden. Verträge überSukzeß (Unter-
zug) und gegenseitige Auslieferung waren nur ein sehr proble-
matisches Hilfsmittel. Zudem hinderten auch daran die zahlreich
eingestreuten Reichsstädte, welche die Flüchtlinge gern aufnahmen,
bis auch sie keinen Platz mehr hatten. Doch war unter Bei-
bringung des »Laudemium« ein Abziehen der zu Erbpächter-
Recht sitzenden Bauern rechtlich erlaubt. Und das Hufengericht
»Judicium hubaticum« gab dem Recht der Bauern den Grund-
herren gegenüber doch einen gewissen Nachdruck^).
Das einzige eingesprengte größere Territorium Bayern hatte
unter dem über die Grenze dringenden fremden herrenlosen Volk
besonders zu leiden^). 1483 und 1489 ergehen die ersten Bett-
ler- und Vagantenordnungen unter Albrecht IV., 1497 Ehehalten-
und Tagwerkerordnungen, 1498/1500 ein Landgebot gegen die
herumziehenden Landsknechte und im Jahre 150 1 eine neue große
Landesordnung Herzog Georgs in Anlehnung an die von 1474.
Auch die Landesordnung Georgs von 1507 hatte hierfür viele
besondere Bestimmungen.
i) Knapp, Grundherrschaft im südw. Deutschland, in Ztschr. f. Rechtsgesch.
Bd. 22. 2) Vgl. Knapp in Ztschr, f. Rechtsgesch,
3) Vgl. Buchner, Freyberg, Riezler.
Zeitschrift für die ges. Staatswissensch. Ergänzungsheft 51. A
— 50 —
Die Polizeiordnung des Jahres 1553 übernimmt zum ersten
Male die Bestimmungen der Reichstage über die Armenpflege,
Inländischen Bettlern sollen von der Obrigkeit des Orts wo sie
geboren sind, schriftlich jährlich zu erneuernde Urkunden ausge-
stellt werden zum Betteln, die nur für diesen Ileimatsbczirk gel-
ten. Diese Vorschrift wird 1599 von Maximilian I. und wieder
1610 durch die l^ettelordnung vom 10. Dezember erneuert und
verschärft. ^In Städten und Märkten sind sämtliche Armen ge-
nau mit ihren Umständen in einem Buch zu beschreiben.« Hier
ist eine Wirkung der Reformationsbestrebungen zu verzeichnen.
Leute ohne Bürgerrecht sind auszuweisen. Tagwerkern soll kein
Bürgerrecht mehr erteilt werden. Auf die Ehen soll Acht gege-
ben werden. 1 lierdurch soll sichtlich den Grundsätzen des Rö-
mischen Rechts Geltung verschafft werden; zugleich kündigen
sich die ersten Wirkungen der Armenverordnungen auf die per-
sönliche Freiheit an. Das Landrecht von 161 6 bestimmt das-
selbe, bemüht sich aber auch, der Verarmung vorzubeugen durch
Verbot der Parzellierung und durch Heiratsbeschränkungen ').
Das gleichzeitige Landrecht ^) Tit. 4 Art. 6 und Tit. 40 Art. 9
sowie die »erklärte Landesfreiheit« Tit. 3 Art. 10 und li besei-
tigen die privatrechtlichen Heiratsverbote der Grundherrn, die
Hintersassen können heiraten zwar mit Wissen der Herrn, aber
sonst frei und »sollen die Herren die aignen Leute wegen sol-
cher Heuraten nit beschweren«. Nach der Landes- und Polizei-
ordnung Buch 4 Tit. 10 — 12 dürfen Dienstboten, solange sie im
Dienste sind, nicht heiraten oder anläßlich der Heirat nicht früher
aus dem Dienst treten. Das Heiraten »junger Ehehalten, die
nachmalen in die Winklherberg ziehen«, soll nicht geduldet wer-
den. Auch sollen sie, »wo dieselben jungen winkl Eheleut er-
funden, außgetrieben, w'eiter nit geduldet noch zugelassen wer-
den <'. Geistliche dürfen Trauungen nur vornehmen, wenn diese
Leute »einen Schein fürweisen, daß die Obrigkeit ihnen dieses
bewilliget, bei welcher Bewilligung die Obrigkeiten den gemeinen
Nutzen, Pflantzung, Zucht, Ehr und Ehrbarkeit wol in obacht
nemmen sollen«. Endlich sollen die »Bürgerliche Obrigkeiten in
i) 1610 wird den Abbrändlern und Türkengefangenen das Betteln mit obrig-
keitlichen Urkunden gestattet, 1655 ebenso den armen Landsknechten und alten
Soldaten der kurbayrischen oder der Reichsarmee. Freyberg, Gesch. d. pragmati-
schen Gesetzgebung und Staatsverwaltung, Bd. 2, S. 41 — 59, 1836.
2) Vgl. Riedel, Einleitung zum Kommentar z. Ges. von 1868.
— 51 — .
Stätten und Märckten, die leichtfertige Heurat nit gestatten, auch
solche unvermögliche Leut, die ihr Nahrung one Beschwer der
andern Burger nit haben künden, zu Bürgern nit aufnemmen,
noch sie in Stätten und Märckten unterkommen lassen« ^).
Buch 5 behandelt die Bettler selbst und unterscheidet zwi-
schen in- und ausländischen. Den inländischen, »den recht wis-
sentlich armen nothdürfftigen Personen, die sich Alters, Krankheit
und anderer Gebrechen halb one das Almosen nit erneren kön-
den allein an den Orten, da sie geboren seynd oder bisher lang
ire Wonung gehabt« ist das Betteln gestattet. Alle Leute, >die
nicht Haimat haben noch sich sonst von den ihrigen zu unter-
halten« sind den Ausländern gleich zu achten. Diese Bestim-
mung ist eine vorweggenommene Umkehrung des späteren hei-
matrechtlichen Satzes : jeder Bayer muß eine Heimat haben —
wer keine Heimat hat ist eben kein Bayer — und nur aufzu-
fassen als Vermutung des Mangels der Staatszugehörigkeit. Im
übrigen liegt der RR. Grundsatz vor : Inkolat begründet durch
Geburt und Aufenthalt, und zugleich die erste Beschränkung der
Aufenthaltsfreiheit. Diese aus armenrechtlichen und sicherheits-
polizeilichen Bedenken gemischte Maßnahme ist aber noch nicht
zum eigentlichen obrigkeitlich verwilligten Aufenthalt ausgebildet.
Einen Schritt weiter geht die Gesetzgebung des Jahres 1726.
Die Landgebote von 1627 und 1629 bleiben auf dem Stand-
punkt von 1616 stehen. Ihr unbedingtes Bettelverbot ward zwei
i) Vorbeugend wird bestimmt: 3. Art. i~3, Tit. 10. »Der gemaine Mann
soll seine Kinder nicht in Müßiggang aufwachsen lassen, sondern in Lernung,
Dienst und Arbeit unterbringen« und im Unvermögensfall der Obrigkeit dies mitteilen.
Zugunsten der Bauernkinder wird sogar der Zunftzwang gelockert. Vor allem aber
wird der Parzellierung entgegengewirkt. Bd. 4, Tit. 12, Art. 8. Söldenhäusl, dabei
weder Wiesen noch Wasser sein und welche »nit durch richtige Bauersleut, sondern
allein durch dergleichen aus Leichtfertigkeit zusammenheuratende heillose, unver-
mögliche und den benachbarten ganz beschwerliche und schädliche Personen be-
wohnt werden« sollen nicht mehr aufgerichtet werden, »es künden denn zu den-
selben soviel Wiesen und Acker füglich gelegt werden, dabei sich ein Söldner
ziemlich erhalten und sein Nahrung one Beschwer und Schaden finden möcht«.
Auch soll »kein Hof oder ein gantzes Gut in Sölden zerrissen, sondern allein ein-
schichtige, keinem Hof oder gantzen Guet einverleibte, Stuck zu den neu erbauten
Sölden gelegt werden«, lieber die bäuerliche Besitzzersplitterung im Erbgang in
Schwaben vgl. Knapp in Zeitschr. f. Rechtsgesch. Die »gemähneten, Bauern, Hüb-
ner, Lehenbauern oder Lehner« stehen gegenüber den »Söldnern, Häuslern, Köh-
lern« (fränk.). Die Bauern sind spannfähig, diese haben nur ein Hausanwesen und
wenig Land »Seide. KobeU, entsprechen also den ostdeutschen Katenleuten, in
abhängigem und Taglöhnern in freiem Recht.
4*
— 52 —
Jahre später als undurchführbar wieder aufgehoben. 1699 be-
müht man sich vergeblich, nach englischem ^) Muster durch Ar-
beitshäuser und Errichtung staatlicher Wollhäuser den Bettel zu
bekämpfen. Das Mandat vom 13. September 1726^) bestimmt
nun: »i. Wenn ein Armer sich extra locum nativitatis 10 bis
12 Jahre aufgehalten hat und hierauf wieder eben solange va-
giert hat, so ist er nicht an seinen Geburtsort zu verweisen, son-
dern an den Ort, wo er das decennium ersessen hat. 2. Wenn
die Kinder eines ad locum nativitatis verwiesenen Armen an ver-
schiedenen Orten geboren sind, so sollen sie gleichwohl der Ge-
meinde des Geburtsorts ihres Vaters eingeschafft werden, wenn
ihrer aber viel sind, verteilt werden. 6. Ledige Menscher, welche
Kinder haben, sind in Dienst zu schaffen, und die Kinder an den
Ort ihrer — der Mutter.? — Geburt einzuweisen. 3. Tagwerker
soll man dort, wo sie sich mit Arbeit fortbringen, nicht etwa
ausweisen dürfen aus Furcht, daß sie das decennium ersitzen
möchten. 4. Solche, deren Geburtort nicht zu ermitteln ist, sind
dort, wo sie sich zuletzt aufgehalten haben, durch Concurrenz
verschiedener Orte zu unterhalten. 5. Die Armen, welche mit
Konsens geheiratet haben, gehören ad locum nativitatis oder dort-
hin, wo sie das domicilium ersessen haben.« Hieraus geht her-
vor, daß die Geburt im Gegensatz zum gemeinen Recht als Er-
werbstitel des Inkolats in Bayern nicht anerkannt wird. Maß-
gebend bleibt der väterliche Wohnsitz. Für diesen aber ist noch
nicht die obrigkeitliche Erlaubnis der Niederlassung, sondern nur
die Ersitzung durch das Dezennium bedingend. Der Einfluß des lan-
desherrlichen »regale majus« zeigt sich in der Vorschrift Nr. 3.
Auch die Ehebewilligung tritt als Erwerb der Heimat zurück
gegen das Dezennium. Endlich wird die erste Andeutung spä-
terer Armenverbände in der Konkurrenzpflicht deutlich^).
Voll ausgebildetes neues Recht tritt uns entgegen in der Ge-
setzgebung Maximilians des Dritten vom Jahre 1751/53*). Die Ge-
i) Vgl. Aschroit, Englisches Armenwesen. Das Bettelmandat von 17 13 wie-
derholt dies nur. Außerdem geht aus ihm hervor, daß durch" gegenseitige Zu-
schiebung von Bettlern zwischen Oesterreich und Bayern ein unhaltbarer Zustand
eingerissen war. Vgl. Freyberg. 2) Wörtlich nach Freyberg Bd. 2, S. 55.
3) Freyberg führt für die Zwischenzeit nur noch die Errichtung einer Armen-
deputation und einer Lotterie aus dem Jahre 1745 an. Das Urkundenmaterial selbst
für diese ältere Zeit war mir in der Berliner Bibliothek nicht zugänglich.
4) Sie besteht in dem Cod. Maxim, criminal. 175 1, Cod. M. juris Bav. judi-
ciarii 1753 und dem Landrecht, C. M. civilis 1756.
- 53 —
richtsordnung über die gerichtliche Zuständigkeit sagt in den ein-
leitenden §§ : »Wo der Vater seinen beständigen Wohnsitz hat,
da seynd auch seine rechtmäßigen Kinder domiciliert, und dieses
heißt zu Latein: forum originis«, das forum domicilii aber wird
von dem »häuslichen Anwesen« hergeleitet. »Hat der Vater
selbst keinen rechtmäßigen Wohnsitz, so ist bei Kindern mit dem
domicilio auf den Ort der Geburt zu sehen. Dasselbe bleibt auch
einem jeden bevor, so lange er sich nicht selbst freiwillig oder
aus Noth anderwärts, in der Absicht allda zu wohnen, wirklich
niederläßt«. Die Angehörigen folgen dem Familienvater. Nur
Bevormundete und Leibeigene sind in der Freizügigkeit beschränkt.
Das Bürgerrecht berechtigt allein zum Zunft- und Meisterrecht,
wird seinerseits bedingt durch »soviel an Gut, Geld, Kunst und
Profession, daß er sich mit Weib und Kind ehrlich zu ernähren
vermöge«. Der Kommentator und Bearbeiter dieser Gesetze,
Kreittmayr, bemerkt zu dem Domizil, daß man nicht auf das
Domizil des Ahnherrn zurückgehen solle, »damit nicht ein pro-
gressus in infinitum daraus entstehe, und man endlich gar ad
originem Adami zurückzugehen bemüßigt sei«, man soll daher,
wenn der Vater kein Domicilium fixum hat, bei dem Domizil der
Kinder sofort auf den Geburtsort sehen. Eine Veränderung des
domicilium originarium muß in jedem Falle erst bewiesen werden.
Hier wird also die Geburt (domicilium necessarium) dem erwor-
benen Domizil (dom, voluntarium) schon fast gleichgeachtet.
Der Inhalt des Domizils ist die armenrechtliche Heimat ; die Bet-
telverbote haben lediglich sicherheitspolizeilichen Charakter, die
Heimat selbst ist nicht mehr frei zu wählen. »Was die jura des
verbotenen Betteins halber determinieren oder sonst specialiter,
diene noch zu keiner Generalregul und sei mithin in denen an-
deren unbenannten Fällen — Gemeindeangehörigkeit überhaupt,
Rehni — nicht auf die Zeit allein, sondern auf den Ort, die Per-
son, deren Kondition und andre Umstände das Augenmerk zu
richten« ^). Da die Heimat ersessen werden kann, so ist hier-
durch das freie Aufenthaltsrecht nach Kreittmayrs maßgeblicher
Auffassung doch beschränkt, d. h. da die Obrigkeit auf diese
i) Vgl. Riedel, Einl. S. 7 fF. Wir können mit Riedel das Domizil als Heimat
auffassen, denn da nur in Gerichts-Ordnungen hierüber Bestimmungen getroffen
werden und die Bettel-Ordnungen nach Kreittmayr nicht maßgebend sind, so hat,
übrigens auch nach RR. Observanz, diese Bestimmung auch für das öffentliche
Recht zu gelten.
- 54 —
Umstände sehen soll, von deren Erlaubnis abhän^M^f. Uebcr die
Folijen der Verheiratung spricht sich keins der Maximilianschen
Gesetze eingehender aus.
Die Kriminalgesetzgebung enthielt auch eine neue Bettler-
ordnung mit drakonischen Vorschriften. Ohne auf die Einzel-
heiten einzugehen, sei hier nur Buc/uiers Urteil in seiner Baye-
rischen Geschichte zitiert: »Dieses Gesetzbuch ist nicht mit Dinte,
sondern mit Blut geschrieben gleich den Drakonischen. AIso-
bald nach dem Erscheinen dieses Gesetzbuches wurde das von
Spitzbuben so ziemlich leere Land Bayern auf einmal voll Gau-
ner, Schelmen, Diebe, Mörder und Verbrecher aller Art. Schergen,
Schinder und Scharfrichter hatten jahraus jahrein in allen Städten,
IMärkten, Gerichten mit Torquieren, Henken, Köpfen, Rädern, Ver-
brennen und Vierteilen zu tun. Nie sind in einem Lande mehr
Menschen hingerichtet worden als in den 20 Jahren, in welchen
dieses Gesetzbuch galt .... Und doch wurde die Zahl der Ver-
brecher nicht minder, sondern immer mehr, denn das Volk ver-
wilderte, und verboste und achtete am Ende das Leben für nichts
mehr .... Nach langem Würgen fühlte man endlich, daß dies
der wahre Weg zur Reinigung des Landes von Missetätern nicht
sei und ließ nach von der übertriebenen Härte, obgleich das
Gesetz nicht abgeändert wurde, sondern bis gegen Ende des
vorigen Jahrhunderts in Geltung blieb.« Es ist nicht etwa Vor-
eingenommenheit des aufgeklärten Historikers gegen Maximilian,
welche ihn zu diesem Urteil verleitejt; im Gegenteil wird er ihm
vollkommen gerecht und rühmt die Gerichtsordnung ganz be-
sonders, sie bringe die Vorschriften des RR. in klarer und ver-
ständlicher Form zum Ausdruck. Allerdings hat er auch diesem
gegenüber seine Bedenken ^). Wir müssen also seiner Schilde-
rung wohl Glauben schenken.
Das Interesse, welches die Regierung an der Landeskultur
nimmt, ist in Bayern nicht geringer als in den anderen Geltungs-
gebieten des gemeinen Rechts ; davon zeugen allein schon die
vielen Verordnungen, welche hierüber ergehen; zu ihnen sind
I) Bd. 9, S. 243 und 247. »Eine schwere Beschuldigung ist die, daß die
nur auf Herkommen bisher beruhenden drückenden Rechte der privilegierten Stände
durch Einrücken in CC. M. eine bleibende gesetzliche Kraft erst erhalten haben.
Verhältnisse des Standes und der Geburt beschränken die Freiheit der ehelichen
Verbindungen, Gesamtgut eines Geschlechtes die Erbfolge, Jagdrechl und Ober-
eigentum den freien Gebrauch des Landeigentums. Selbst vom Erwerb der Zivil-
eigenschaft spricht das Gesetzbuch.«
— 55 —
auch die Bettelordnungen von 1770 und 1780 zu zählen. Diese
weichen von der gemein-deutschen Entwicklung ab, indem sie die
Freizügigkeit mit Rücksicht auf die Armenlast noch mehr be-
schränken. Auch das 19. Jahrhundert hält in Bayern hieran noch
fest'). Den Bettlern wird »weiters aufgetragen, sich sogleich und
längstens in dem oben bestimmten I4tägigen Termin an ihr Geburts-
ort oder rechtmäßigen Wohnsitz zu begeben <■. Die über den ur-
sprünglichen Aufenthaltsort vielfach entstandenen Zweifel werden
dahin erläutert, »daß unter dem domicilio originario nicht sowohl
der Ort, wo man geboren ist, als vorzüglich der Ort, wo der Vater
domiziliert war, verstanden ist, und sich dieses domicilii jeder-
mann zu erfreuen hat, bis er gleichwohl in einem andern Ort ein
Domizil gemäß der Rechten und Landesgesetzen erlangte. Es
hat also keine Gemeinde — noch minder eine Obrigkeit jemandem
das domicilium originarium zu verweigern, der nicht rechtmäßiger-
weise anderer Orten eins erhalten, wenn er schon 10, 20 Jahre
von seinem ursprüngUchen Aufenthaltsort abwesend gewesen«. Das
Heimatrecht erlischt also nicht, bevor ein neues erworben ist.
Eine Ersitzung findet nicht mehr statt, sondern nur noch das
domicilium justum, d. i. mit polizeilicher Erlaubnis. Dies erhellt aus
dem Privilegium favorabile der Dienstboten. Diese erwerben die
Heimat durch 15jährigen Dienst an einem Ort, Personen, welche
bei öffentlicher Hilfeleistung verunglücken, sofort. Jeder Zweifel
wird behoben durch den von Weber mitgeteilten Abs. 9 der BO.
»Die bloße Vorschützung, an einem Ort längere Jahre gedient
oder gearbeitet zu haben, soll niemand das jus domicilii ein-
räumen; sohin sind jene, welche nach verlorenen Kräften sich
nicht mehr mit Dienen ernähren können, an ihr durch Geburt
erlangtes Aufenthaltsort zu verweisen.« Vorzüglich aber an das
Domizil des Vaters nach Ziffer 7.
Wichtiger für die Rechtsbildung noch sind die Bestimmungen
derselben BOO. über die Ehen. Ziff. 11: »Unansässige Leute
haben sich an das Ort zu begeben, wo sie mit ordentlicher
weltlicher Erlaubniß kopuliert worden«. Personen, die ohne
solche Erlaubnis geheiratet haben, sowie die sich unter Um-
gehung der heimischen Verbote im Auslande verheiratet haben,
sind aus dem Lande zu weisen. Geistliche, welche eine Trau-
ung ohne Erweis der obrigkeitlichen Erlaubnis vorgenommen haben,
müssen diese Leute im Falle der Verarmung: bis zur Grenze von
I) Weber, Neue Gesctzs., S. 191 IT. Riedel S. 10 ff.
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loo Rthl. alimenticron. Den Beamten, sowie den Stadt- und
Marktobrigkeiten wird befohlen, »keine sich zu ernähren unver-
mögende Leute zusammenheuraten zu lassen, auch den Leer-
häuslern, Innleuten und Tagwerken, Handlangern und andern der-
gleichen ohne Einstimmung der Gemeinde, welche alsdann im
Falle des Bedürfnisses zur Verpflegung verbunden wäre — der
Gemeinde also des lleiratsorts für Unansässige, sonst des ordent-
lichen Domizils, Ziff. 1 1 — keine I leurats- oder Aufenthaltsbe-
willigungen zu geben« — gegen die fehlig erfundenen Obrig-
keiten soll auf die nämliche Art wie gegen die Pfarrer verfahren
werden.«
Die Rechtslage ist also die, daß in erster Linie domicilium
justum, sodann voluntarium justum durch Aufnahme und Erlaubnis,
unter Fortfall der Ersitzung (Verheiratung nur als besondere Form
der Erlaubnis) und in letzter Linie Geburt die Heimat begründen.
Die Heiratsbewilligung ist völlig in die Macht der interessierten
Gemeinde gelegt. F'ür die Erteilung der Heiratslizenz hatte jede
Person den Brautgulden (2 Fl.) ad fundum pauperum zu ent-
richten, der aus den quarta pauperum, gewissen Lustbarkeits-
steuern, Strafgeldern vom Staat für seine Hilfe gesammelt wurde.
Die Entwicklung in den übrigen Staaten Süddeutschlands ^) war
in bezug auf das Armenrecht und die Gemeindeangehörigkeit von
der bayerischen nicht wesentlich verschieden, in einigen etwas
strenger, in anderen etwas milder. Ansbach und Bayreuth wurden
nach dem Preußischen Allg. Landrecht regiert. Schwierigkeiten
machte hier nur die interterritoriale Regelung betreffs der Aus-
länder. Von dem Verhältnis zwischen Bayern und Oesterreich
war schon oben die Rede. Seit dem 17. Jahrhundert bildete sich
in Oesterreich eine eigentümliche Methode heraus, der Bettler
sich zu entledigen, der Wiener Schub. In jedem Jahr wurden
an einem Tage alle ausländischen Bettler in Wien gesammelt und
an die bayerische Grenze geschafft, dort von der bayerischen Re-
gierung übernommen und in den fränkischen Kreis abgesetzt. In
l) Als Beispiel sei hier noch die Württembergische Landesordnung von 1552,
wiederholt 1567 und 162 1 erwähnt. Dort hieß es Tit. 2 § 6: >Es soll auch fürder
keiner, was Stands oder Wesens der sey, weder in Städten, noch Flecken Unseres
Herzogtumbs ohne Unsere Vorwissen und Beweiche zu wohnen eingelassen oder
geduldet werden, er sey dann als zu Burger angenommen.« § i : >Es soll auch
. . . keiner angenommen werden, er bring zuvor sein Mannrecht, gebe das Bürger-
recht und thue auch die Erbhuldigung«.
— 57 —
dem Gewirr von kleinen und kleinsten Staaten verlief sich dann
der Schwann.
Diesem auf die Dauer unerträglich werdenden Zustande
wurde endlich abgeholfen durch den fränkischen Kreisschluß ^)
vom 24. März 1791 zu Nürnberg: Die höchst und hohen Herren,
Fürsten und Stände des löblichen fränkischen Kreises kommen
»in nachfolgenden allgemeinen Grundsätzen überein, daß jedes
Land und jeder Ort in demselben seine Armen zu versorgen habe,
durchaus kein Bettel geduldet werden dürfe und jeder Arbeits-
fähige, der um sich zu ernähren kein eigenes Vermögen hat, zur
Arbeit anzustellen sei.« »2. Erklären sie für einen einheimischen
Armen, der auf Versorgung Ansprüche zu machen hat, und von
seiner Ortsherrschaft zur Arbeit anzuhalten ist, den Gemeinde-
genossen und Schutzverwandten des Orts, auch denjenigen, wel-
cher in einem der nämlichen Herrschaft gehörigen Dorfe oder
Amte 6 Jahre lang geduldet worden ist (insbesondere Dienst-
boten, Hirten usw.). Wessen Aufenthalt kürzer war, soll zunächst
an seinen vorigen Aufenthaltsort und wenn er dort nicht durch
6 Jahre aufgenommen war, an seinen Geburtsort verwiesen wer-
den.« Die übrigen Bestimmungen decken sich mit den baye-
rischen. Alle anderen Bestimmgründe der Heimat fallen künftig
fort. Die Frage nach der Geltung dieser Bestimmungen beant-
wortet Riedel^) nach der Praxis dahin, daß sie nicht etwa nur
für den Ueberweisungsverkehr heimatloser Subjekte, sondern auch
für alle internen bayerischen Streitigkeiten entscheidend waren,
mithin das ganze bisherige Armenrecht aufhoben.
Den Erfolg dieser Maßnahmen ersehen wir am besten aus
einer Würzburgischen ^) Verordnung vom 8. Juni 179I, worin es
heißt: »Nachdem jetzt alle jene Fremde für Einheimische gehal-
ten werden sollen, welche 6 Jahre lang in einem Land, Dorf oder
Amt geduldet worden sind, dergleichen Leute vordersamst den
Beweis ihres angeblichen Staatenaufenthalts zwar immer erst bringen
müssen ; um so mehr aber verbieten wir ein für alle Mal, einem
Fremden auf längere Zeit und ohne obrigkeitliche Erlaubnis
1) Löning in Bluntschlis StWB. erwähnt ein ähnliches Abkommen des Kon-
stanzer Viertels im Schwäbischen Kreise vom Jahre 1783 (welches diesem darnach
wahrscheinlich als Vorbild gedient hat), wonach als Kriterium der Heimat der zwei-
jährige Aufenthalt diente.
2) Riedel, S. 22. Weber, S. 192.
3) Patent des Bischofs von Augsburg 14. 5. 1737 und andere schon früher
ebenso. Weber, ebenda S. 192 ff.
- 58 -
irgendwo in unserem Lande einen Aufenthalt oder eine Unter-
kunft zu geben, als nach Verlauf dieser 6 Jahre zuletzt der-
gleichen Aufgenommene dem Ort und Lande zu Unterhalt und
Last fallen. Wir wollen deswegen unsere sämtlichen Obrigkeiten,
Gemeinden und guten Untertanen hierüber um so aufmerksamer
machen, als ihr eigenes Interesse am meisten hierunter befangen
ist.« Aehnlich werden auch die anderen betroffenen Stände ihre
Maßnahmen eingerichtet haben, so daß die in diesem Gebiet un-
umgängliche interterritoriale Freizügigkeit noch mehr als zuvor
beschränkt gewesen sein dürfte. Diese Wirkung trat um so sicherer
ein, als es für »Beständner, Knechte, Mägde, Dienstboten, Ge-
meindediener, Schäfer« usw. beim alten blieb. Nur für die Pächter
wurde eine Ersitzung in lo Jahren zugebilligt.
Dieses ist der Abschluß des i8. Jahrhunderts und zugleich
ein bezeichnender Uebergang in das 19., dessen Anfang wie überall
so auch in Bayern eine Reihe von wirtschaftlichen sozialen Re-
formen sah, welche tief in das private wie öffentliche Recht ein-
schnitten. Die Reform der inneren Verwaltung in Bayern ging
von der Absicht aus: »das Grundeigentum und die Gewerbe mehr
und mehr zu entfesseln und die Herstellung eines ordentlichen
Nahrungsstandes zu erleichtern .... die Hindernisse des Kunst-
fleißes zu beseitigen und die Ausbildung in den Gewerben zu
befördern«^). Die Zünfte wurden ebenso wie in derGewO. 1867
ihrer verwaltungsrechtlichen Bedeutung entkleidet, der Zunftzwang
aufgehoben, Maßnahmen zur Hebung der gesamten Landeskultur
und inneren Kolonisation, welche übrigens auch schon in den
BOO. von 1770/80 befohlen worden war, aufs neue getroffen, und
wesentliche öffentliche und private Beschränkungen der persön-
lichen Freiheit aufgehoben. Die Regierung des Kurfürsten und
späteren Königs Max Joseph I. ging mit einer bemerkenswerten
Entschiedenheit vor, und bis zum Jahre 1825 ist die liberale Rich-
tung im Vordringen, von wo an sie allerdings wieder bis in die
50er Jahre zurückgedrängt wird.
Die Konstitution vom i. Mai 1808 hebt im Artikel 3 die
Leibeigenschaft auf und verheißt weitere Freiheiten. Der Ein-
fluß der französischen Gesetzgebung auf das zum Rheinbund ge-
hörige Bayern ist nicht zu verkennen. Ganz klar weist darauf
hin die VerO. vom 22. Februar 1808, die Armenpflege be-
i) Vgl. Vortrag z. Ges. -Entw. Verh. d. 2. Ständekamm., 1825, Beilagebd. 4,
S. 21 ff., nach Riedel S. 32.
— 59 -
treffend^), welche die Armenpflege völlig in der Hand des Staates
zentralisieren will, hauptsächlich wohl um den Einfluß der Kirche
zu beseitigen. »Der Anspruch auf Armenpflege setzt im allge-
meinen voraus, für ein jedes Individuum, daß es entweder durch
Geburt oder durch das Domizil oder durch die Verehelichung
dem Reiche angehört. Die wirkliche Gewährung der Armenpflege
fällt sodann auf jenen Kommunaldistrikt im Reiche, mit welchem
das Individuum aus einem jener vorstehenden 3 Titel in beson-
derem Verbände steht.« Der praktische Erfolg dieser VerO. ist
eigentlich nur der, daß die Armenpflege als besondere Aufgabe
des Staates anerkannt wird, was sie ja im letzten Grunde vorher
in eminentem Maße gewesen war. Uebrigens wurde sie durch
VerO. vom 17. November 18 16 wieder aufgehoben. Wichtiger
ist die VerO. vom 8. Juli 1808, die Beförderung der Heiraten auf
dem Lande betreffend 2). Die Einwilligung oder auch nur An-
hörung der Gemeinden bei der Verehelichung unangesessener
Leute fällt fort. Dagegen fällt der Konsens jetzt der Polizei-
obrigkeit zu, in deren Bezirk die Heiratenden mit hinreichender
Aussicht auf Nahrung ihren Wohnsitz nehmen. Die Obrigkeit
bleibt im Falle der Verarmung infolge einer von ihr bewilligten
Ehe haftbar wie früher. Die Heiraten der Untertanen, welche
»sich über Sittlichkeit und Arbeitsamkeit ausweisen, sollen nicht
erschwert und nur dann untersagt werden, wenn körperliche Un-
fähigkeit zur Ehe oder zur Arbeit vorhanden, oder mit Rück-
sicht auf den früheren Lebenswandel der Verlobten Gefahr für
den Familienstand oder die bürgerliche Gesellschaft vorliegt.
Zifif. 4.« Gebühren und Bedingungen fallen fort. »Diejenigen,
welche im Bettel herumziehen oder zur Arbeit unfähig geworden
sind, sollen ohne Rücksicht darauf, wo sie geheiratet haben, an
den Ort ihrer Ansässigkeit oder ihres Wohnsitzes oder in deren
Ermangelung an ihren Geburtsort gebracht werden. Ziff. 13.«
Für den Aufenthalt in den Städten bleibt es bei den alten engen
Bestimmungen.
Das Gemeindeedikt ^) vom 14. September 1808 erklärt im
§ 3 alle Einwohner der Gemeinde, welche in der Markung be-
1) Weber S. 192.
2) Weber Bd. i, S. 196 und Riedel S. 24.
3) Vgl. Weber Bd. i und Riedel. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang
noch die VerO. 28. 11. 1816 die Bettler und Landstreicher und die Errichtung von
Zwangsarbeitshäusern betr., in welcher besonders eingehende Bestimmungen über
das Schubwesen enthalten sind.
— 6o —
steuerte Gründe oder Wohnhäuser besitzen oder besteuerte Ge-
werbe ausüben, für GemeindemitgHeder. Der Inhalt dieses neuen
Begriffs aber wird nicht näher präzisiert, wahrscheinlich deckt er
sich mit dem Bürgerrecht und nicht mit der Heimat. Schon am
17. Mai 181 8 wurde ein neues Gemeindeedikt') erlassen, in wel-
chem die Aufnahme der Bürger und Schutzverwandten wieder
völlig in das Belieben der Gemeindebehörden, ebenso wie die
Erteilung der Ileiratslizenz gelegt wurde.
Das Jahr 1825 brachte wiederum eine Neuordnung dieser
Materien durch die getrennten Gesetze über die Heimat, die
Ansässigmachung und Verehelichung und die Grundbestimmun-
gen betr. das Gewerbswesen. Alle vom 11. September. Die
Trennung der beiden ersten bisher gemeinsam behandelten Stoffe
scheint später vorbildlich auf die preußische Gesetzgebung ge-
wirkt zu haben.
In diesem Heimatsgesetz wird zum erstenmal vom Gesetz-
geber über den Inhalt des Heimatrechts ausführlich gesprochen
(in dem Ministerialvortrag zu dem Gesetzentwurf) ^). Dieser In-
halt ist nicht wesentlich neu, schon die Bettelordnungen des 18.
Jahrhunderts ließen ihn erkennen, aber hier wird seine Bedeu-
tung eigentlich erst gewürdigt. Die Heimat ist darnach : »die
Wiege mannigfaltiger schöner Beziehungen und Gefühle, aus wel-
cher der Sinn für die Mitwirkung für gemeinsame Zwecke sich
entwickelt, und die Pflanzschule bürgerlicher Tugend und Ord-
nung, deren Gewährleistung und Pflege durch das Gesetz ver-
mittelt werden soll.« Die Begriffe werden genauer gefaßt und
unterscheiden die erworbene, die ursprüngliche und die ange-
wiesene Heimat. Diese Fassung bleibt auch in der späteren Er-
neuerung erhalten. Die Erwerbung deckt sich im wesentlichen
mit der RR. allectio und tritt an die Stelle des domicilium ju-
stum. Die ursprüngliche ist das Domizil des Vaters und u. U.
dessen Vorfahren. Die angewiesene tritt ein, im Falle keine der
beiden anderen Heimaten zutrifft, wenn entweder nachweislich
keine Heimat oder keine nachweisliche Heimat vorliegt. Er-
werbsgründe sind Vertrag mit der Gemeinde (adoptio, allectio),
Ansässigmachung (domicilium) und Heiratskonsens (nuptiae) nicht
i) Vgl. Weber Bd. I und Riedel. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang
noch die VerO. 28. II. 1816 die Bettler und Landstreicher und die Errichtung von
Zwangsarbeitshäuser betr., in welcher besonders eingehende Bestimmungen über
das Schulwesen enthalten sind.
— 6i —
in dem Sinne, daß die Frau die Heimat des Mannes, sondern
daß das Ehepaar durch die Verehelichung als solche die Hei-
mat erwirbt. Der Geburtsort (nativitas) ist völlig ausgeschaltet.
Für Ausländer bestehen besondere Bestimmungen, die an an-
derer Stelle angeführt werden. Jeder Bayer muß eine Heimat
haben, zwei Heimaten sind nur unter besonderen Bedingungen
möglich.
Ueber die Ansässigmachung erging ein besonderes Gesetz.
Dieses^) soll an die Stelle des älteren vielfach bestrittenen Hei-
materwerbs durch Domizil einen unbestreitbaren und von den
Bestimmungen des Zivilrechts unabhängigen Titel setzen und für
die Erteilung der Heimatsbewilligungen allgemeine oder feste
Normen geben. Die Dehnbarkeit des alten Domizilbegriffs wird
beseitigt durch die genauen Kriterien der an seine Stelle treten-
den Ansässigmachung, und zugleich ihre Erwerbung wesentlich
erleichtert, Sie geschieht durch eine Nachweisung geringen Ver-
mögens, den Besitz eines realen, radizierten (oder konzessions-
pflichtigen) Gewerbes, durch einen auf andere Weise gesicherten
Nahrungszustand. Die Parzellierung und Erbteilung ist bis zum
Betrage der geringsten Steuerfähigkeit gestattet. Bezüglich der
Sicherung des Nahrungsstandes wird eine besondere Prüfung er-
fordert, wobei auch das Vorhandensein des einfachen Lohner-
werbs genügen soll ^). In den übrigen Fällen tritt der Erwerb
der Ansässigkeit kraft Gesetzes ein. Die Uebersiedelung soll
möglichst erleichtert werden nach Maßgabe vorstehender Bestim-
mungen, die Gebühren sollen ermäßigt werden. Allgemeine Vor-
aussetzung der Ansässigmachung ist das Fehlen zivilrechtlicher
Hindernisse und solcher aus dem Militärkonskriptionsgesetz sich
ergebenden, guter Leumund und vorschriftsmäßiger Religions- und
Schulunterricht. Die Verehelichung unterliegt nur noch zivil- und
kirchenrechtlichen Hindernissen. Die wichtigste Neuerung ist die,
daß die Bewilligung in allen Fällen der Gemeinde entzogen ist
und ihr auch kein Veto zusteht. Die staatliche Obrigkeit hat
allein zu bestimmen.
Die Gewerbeordnung ist insofern heranzuziehen, als sie auf
i) Wörtlich nach Riedel S. 31. Die Bemerkung, daß der Heimaterwerb vom
Zivilrecht unabhängig gemacht werden soll, ist ein indirekter Beweis für die S. 54
angeführte Behauptung, daß die Gesetzgebung Maximilians diesen Zusammenhang
enthielt.
2) Vgl. Riedel S. 32 und 34.
— 62 —
die Ansässigmachung sich erstreckt. Die Zunftgerechtigkeit
bleibt aufgehoben, die Konzession tritt an die Stelle der Zünftig-
keit, Entscheidend bei dieser obrigkeitlichen Konzession sind
nur die Fähigkeit und Einrichtung des Handwerkers; allerdings
soll auf den Nahrungsstand des Neulings geachtet werden, die
»Uebersetzung« aber ist nur in wenigen Gewerben ein absoluter
Hinderungsj'rund.
Das Jahr 1825 war der Höhepunkt der freiheitsfreundlichen
Maßnahmen. In dem Kampf der entgegenstehenden Interessen
von Staat, Gemeinde und Individuum siegten wieder die Ge-
meinden, und die Kirchturmspolitik der Zünfte drang durch. Am
I. Juli 1834 ward das Gesetz betr. die Ansässigmachung und
Verehelichung einer eingehenden Revision unterzogen, welche
fast den Zustand der Gesetzgebung vor dem Jahre 1800 her-
stellte ^).
Erstens wird das Steuerminimum des für die Ansässigkeit
maßgebenden Vermögens auf das Dreifache des bisher erforder-
lichen Betrages heraufgesetzt. Dieses Minimum beträgt jetzt
I fl. 30 kr. Die Erwerbung eines realen und radizierten Ge-
werbes bleibt. Sodann darf die Erteilung der persönlichen Ge-
werbskonzession nur ;^nach sorgfältiger Würdigung des Nahrungs-
standes des Bewerbers und der übrigen Gewerbsmeisterc erteilt
werden, die Uebersetzung ist also für alle Gewerbe ein gesetz-
licher Hinderungsgrund geworden und der Willkür Tor und Tür
geöffnet. Schließlich wird der auf »sonstige Weise vollständig
gesicherte Nahrungsstand« bedingt:' i. durch ein das Steuer-
minimum nicht erreichendes, aber in Verbindung mit sonstigen
Umständen das Fortkommen der Familie noch sicherndes Grund-
vermögen, 2. durch eine ausreichende Rente, 3. durch eine den
Gewerben nicht zuzählende Erwerbsart, wenn ihr Ertrag aus-
reicht, 4. aus dem Lohnerwerb, sofern dieser vermöge des ört-
lichen Bedarfs und im Gegenhalte zu den bereits vorhandenen
Lohnarbeitern als nachhaltige Nahrungsquelle betrachtet werden
kann. Bei Bewerbungen auf Grund dieses letzteren Titels ist in
Konkurrenzfällen ausgedienten Soldaten und Dienstboten, welche
15 Jahre treu gedient haben, der Vorzug zu geben ^).
Die Zerschlagung gebundener Güter in kleinere Parzellen
i) Riedel S. 37.
2) Der Heimaterwerb der Dienstboten durch 15 jährige Dienstzeit war 1815
fortgefallen.
- 63 -
als solche, auf welchen das oben erwähnte — erhöhte — Steuer-
minimum ruht, ist von der Zustimmung der Grund-
herren abhängig. Alle nicht kraft Gesetzes eintretenden An-
sässigmachungen sind durch einen rechtskräftigen Beschluß aller
Beteiligten bedingt, und die Gemeinde hat unter Zuziehung des
Armenpflegschaftsrates das Recht des absolut hindernden Wider-
spruchs. Die Aufnahmegebühren wurden wieder erhöht.
Das Ergebnis dieses Gesetzes ist mithin eine neue Abschlie-
ßung der Gemeinden gegen alle nicht Besitzenden, vor allem die
Lohnarbeiter, und eine nahezu vollständige Aufhebung der Frei-
zügigkeit und der mit der Ansässigmachung in enger Verbindung
stehenden Ehefreiheit.
Die Folgen für das wirtschaftliche und soziale Leben konn-
ten nicht ausbleiben. Die Zunahme der Bevölkerung war unbe-
deutend, die Auswanderung sehr groß, die Zahl der Ehen ging
zurück, die der unehelichen Kinder stieg auf 33 vom Hundert,
während sie in der Pfalz, wo eine freiere Gesetzgebung in An-
lehnung an die französische eingeführt und abweichend von der
allgemeinen beibehalten wurde, nur 10 Proz. betrug. Die Zahl
der Gewerbetreibenden nahm ab und die der Armen in den
öffentlichen Listen stieg von 80000 auf 123000^). Der Land-
tagsabschied vom I. JuU 1856 verordnete noch einmal, daß der
Ansässigmachung auf reale und radizierte Gewerbe eine Prüfung
des erforderlichen Nahrungsstandes voranzugehen habe, und daß
die Männer verwitweter Meisterfrauen den Vorzug erhalten
sollen.
Der Widerstand gegen die geltende Gesetzgebung des Jahres
1825/34 stieg von Jahr zu Jahr, die Einsicht, daß das Interesse
der Gemeinden nicht allein maßgebend sein könne für die »staats-
bürgerlichen« Rechte der Persönlichkeit und ihre schlechte Be-
währung in der Verwaltung führte im Jahre 1861 zu einem Land-
tagsabschied, worin die Regierung aufgefordert wurde, künftighin
milder in der Handhabung der Gesetze über Heimat, Ansässig-
machung und Verehelichung zu verfahren und baldmöglichst
Abänderungsvorschläge einzubringen ^j. Die Milderung in der
Verwaltung trat sofort ein durch die Vollzugsinstruktion vom
21. März 1862, und die Gesetzesnovellen wurden im Jahre 1867
i) Die von Riedel S. 36 Anm. gegebene hier benutzte Statistik entspricht der
von Aschrott für England aufgestellten. — Gleiche Ursachen, gleiche Wirkungen.
2) Die historischen Einzelheiten nach Riedel S. 48, auch S. 64 f.
- 64 -
eingebracht. Fünf Entwürfe bildeten zusammen die »soziale Ge-
setzgebung^ ^ ; sie waren verteilt in zwei Abteilun<^en, deren eine
die Ansässigmaclumg und Vcrchelichung, deren andere die Hei-
mat und den Aufenthalt behandelte. Nachdem die Landtags-
mehrheit sich für die Beseitigung des »formalen Rechtsinstituts c
der Ansässigkeit ausgesprochen hatte, schlug die Regierung die
übrigen Materien in ein Gesetz zusammen, welches in der Folge
mit geringen Veränderungen endgültig zum Gesetz erhoben
wurde. Dieses umfassende Gesetz war formell ein völlig neues,
inhaltlich aber sollte es nur eine Revision darstellen, ist aber
auch materiell wesentlich ein neues. Im einzelnen sind die Ver-
änderungen folgende :
Die Heimat hat ihre zentrale Stellung in der Gemeindever-
fassung Bayerns behalten, jeder Bayer muß eine Heimat haben,
die Bestimmungen über die angewiesene Heimat beziehen sich
eigentlich nur auf solche, die die bayrische Staatsangehörigkeit
erst erworben haben, und auf solche, deren Heimat nicht ermit-
telt werden kann, also Findelkinder und Vagabunden. Die Hei-
mat wird nunmehr mit dem Bürgerrecht erworben. Dieses kann
in mehreren, die Heimat unter allen Umständen nur in einer Ge-
meinde besessen werden ^).
i) Das Bürgerrecht wird bemessen nach dem Gemeindeedikt von 1818. Dar-
nach ist die räumliche Grundlage die Gemeinde, unterschieden in Städte, Märkte
und Ruralgemeinden. Diese letzteren bestehen in Ortschaften, Dörfern, Weilern,
einzelnen Höfen, Mühlen, Einöden usw., welche entweder einem anderen Armen-
verband angehören müssen oder einen eigenen bilden, doch soll die Bildung grö-
ßerer Verbände begünstigt werden. Folgen des Bürgerrechts sind die staatsbürger-
lichen, Teilnahme an Beratungen und Wahlen. Die Novelle von 1834 teilt die
einem Gemeindebezirk Angehörigen, aber mit dem Gemeinderecht nicht begabten
Personen ein in i. Schutzverwandte oder Passivbürger, in Städten und Märkten
Insassen, in Landgemeinden Beisassen genannt; Grundlage ihrer Ansässigkeit ist
z. B. Lohnerwerb oder Staatsdienst. Diese haben Teil an den Gemeindeanstalten,
nicht an der Verwaltung. 2. Die ohne Ansässigkeit Heimatberechtigten. 3. Miet-
oder Inleute, d. h. solche, die ohne Ansässigkeit in der Gemeinde wohnen. 4. Ge-
meinde-Forensen oder Ausmärker, die nur in dinglicher Beziehung zur Gemeinde
stehen. Das Gemeindebürgerrecht ist seiner Natur nach ein öffentlich-rechtlicher
Status innerhalb der Gemeinde, der bei gegebener Befähigung' durch Verleihung
oder kraft Gesetzes erworben wird. Das Bürgerrecht als solches ist ebensowenig
wie Staatszugehörigkeit oder Heimat ein Recht mit bestimmt zu umschreibendem
Inhalt, sondern eine rechtliche Eigenschaft der Person, welche die eine oder andere
Voraussetzung für den Bestand gewisser Rechte oder Pflichten bildet. Das Bürger-
recht wird nur durch ausdrückliche Verleihung seitens der Gemeindebehörde er-
worben, seine Voraussetzungen sind l. Bayrische Staatsangehörigkeit, 2, männliches
- 65 -
Sie wird nur verloren durch Erwerb einer neuen Heimat oder
Ausscheidung aus dem Staatszusammenhang. Die Ehefrau und
Kinder haben die unselbständige Heimat an dem Orte des selbstän-
digen Heimatrechts ihres Familienhauptes. Der Haussohn erwirbt
mit der Verheiratung oder Gründung eines selbständigen Haus-
halts die selbständige Heimat in derselben Gemeinde. Ebenso
die Kinder oder Gattin mit dem Tode des Vaters, seinem Aus-
scheiden aus dem Staate oder der Scheidung. Staatsdiener er-
werben die Heimat mit der Anstellung. Die Verleihung der Hei-
mat seitens der Gemeinde beruht entweder auf der Erfüllung
eines gesetzlichen Anspruchs oder einem nur durch die Grenzen
der guten Sitten beschränkten freien Vertrage. Dieser gesetz-
liche Anspruch ist gegeben mit dem ZusammentreiTen folgender
Bedingungen : Staatsangehörigkeit, Selbständigkeit, Volljährigkeit,
freiwilliger, ununterbrochener fünfjähriger Aufenthalt in der Ge-
meinde unter Veranlagung zu direkten Steuern, Erfüllung der ge-
meindlichen Verpflichtungen. Armenunterstützung darf während
dieser Zeit nicht empfangen sein. Diejenigen, welche keine
Steuern bezahlt und keine gemeindlichen Verpflichtungen zu er-
füllen haben, erwerben die Heimat, wenn sie nicht unterstützungs-
bedürftig werden, in zehn Jahren. Die sonstigen Voraussetzun-
gen vorwiegend privatrechtlicher Natur bleiben bestehen. Diese
Bestimmungen gelten sowohl für bisher Heimatlose wie auch für
den Erwerb einer neuen Heimat für eine alte. Gebühren für den
Erwerb der Heim.at dürfen gefordert werden in allen Fällen mit
Ausnahme der Staatsdiener und der Erwerber durch zehnjährigen
Aufenthalt, wenn dieser in der Eigenschaft als Dienstbote, Ge-
werbsgehilfe, Fabrikarbeiter oder Lohnarbeiter ohne gerichtliche
Bestrafung zugebracht ist. Es wird in allen gesetzlich eintreten-
den Fällen nicht die Heimat selbst, sondern nur der Anspruch
auf Verleihung erworben, welchen seit 1896 jeder Interessierte,
also sowohl die bisherige Heimatsfemeinde wie der Erwerber
Geschlecht, 3. Volljährigkeit, 4. Selbständigkeit, 5. ständiger Aufenthalt und Ver-
anlagung zu den Staatssteuern. Anspruch auf Verleihung haben alle, welche unter
diesen Bedingungen seit 2 Jahren in der Gemeinde beheimatet oder wohnhaft sind.
Verpflichtet sind diese zu seinem Erwerb nach 5 Jahren Es kann versagt werden
nur nach erfolgter Armenunterstützung und bei polizeilicher und gerichtlicher An-
rüchigkeit (im einzelnen genau normiert). Auch juristische Personen können das
Bürgerrecht erwerben. Es wird verloren mit dem Fortfall einer seiner Vorbe-
dingungen. Eintrittsgeld ist gestattet. Nach Seydel, Bayr. Staatsrecht, Bd. 3, Teil 2,
Das Meimatrecht, ebenso wie auch die Ausführungen im Text teilweise.
Zeitschrift für die ges. Staatswissensch. Ergänzungsheft 51. C
— 66 —
selbst geltend machen kann. Die Heimat gewährt das Recht, in
der Gemeinde sich aufzuhalten, und für den Fall eintfetender
Hilfsbedürftigkeit Anspruch auf Unterstützung durch die Gemeinde
nach Maßgabe des Gesetzes über die Armenpflege. Die Anwei-
sung einer vorläufigen Heimat mit denselben Wirkungen wie die
wirkliche Heimat geschieht bei Findelkindern in der Fundgemeinde,
bei anderen heimatlosen Personen in der Gemeinde, in welcher
sie sich während der letzten 5 Jahre zuletzt mindestens 6 Monate
freiwillig und ununterbrochen aufgehalten haben. Diese vorläufige
Heimat ist auch neu aufgenommenen Staatsangehörigen in der
Gemeinde ihres Aufenthalts zuzuweisen Die Unterstützung sol-
cher Zugewiesener allerdings fällt, bis sie die wirkliche Heimat
nicht erworben haben, dem Staate ^j und nicht der Gemeinde zu.
Jede Gemeinde hat dem Erwerber der Heimat eine Heimatbe-
scheinigung auszustellen. In Streitigkeiten hat jeder Beteiligte
das Beschwerderecht.
Der dritte Teil des Gesetzes behandelt das Recht des Aufent-
halts. Die Ansässigkeit ist als Erwerbstitel der Heimat fortge-
fallen und begründet jetzt nur noch neben anderen Titeln das
Bürgerrecht, welches seinerseits wieder die Heimat begründet.
Für den Aufenthalt sind alle privatrechtlichen »Angehörigkeits-
titel« beseitigt, nur das Fehlen einer Heimat, welches aber jetzt
jederzeit leicht beseitigt werden kann, und außerdem gesetzlich
normierte Gründe der Sicherheit und Sittlichkeit können zur Aus-
weisung führen. Diese sind Unterlassung der vorgeschriebenen
polizeilichen Meldung, Fehlen einer nachweislichen Heimat,
Armenunterstützung bei bloßem Aufenthalt, Rückstand mit den
Gemeindeabgaben, Fehlen einer ständigen Wohnung oder Be-
schäftigung während ausgesetzter Frist, gewerbliche Unzucht, Ge-
fährdung der öffentlichen Sicherheit. Ferner sind ausgeschlossen
Studierende und Lehrlinge, welche zur Strafe entlassen sind,
schließlich minderjährige Personen ohne Bewilligung der Eltern
zum Aufenthalt. Außerdem findet die Ausweisung als Neben-
strafe nach Vorschrift des Polizeistrafgesetzbuches 1861 statt.
Alle diese Beschränkungen sind aber nicht mehr absolut, son-
dern auf im einzelnen P"all verschieden normierte Zeit be-
schränkt. Ueber Ausländer sind besondere Bestimmungen ge-
troffen.
1) Ges. 1825 schrieb deren Unterstützung dem Kreise, erst Ges. 1846 über
die Verteilung der Kreislasten dem Staate zu.
- 67 -
Ueber die Verehelichung bestimmt der zweite Teil des Ge-
setzes von 1868 in folgender Weise. Das Gesetz erkennt das
Recht der Verehelichung als ein natürliches und allen Staatsan-
gehörigen unbedingt zustehendes an. Die Verweigerung der
obrigkeitlichen Heiratserlaubnis fällt fort und wird durch ein Zeug-
nis ersetzt, daß keine gesetzlichen Hindernisse entgegenstehen.
Insbesondere können keine »außerordentlichen Polizeirücksichten«
wie nach dem Gesetze von 1834 mehr die Verehelichung hin-
dern. Die Ansässigkeit hat keinen Einfluß auf die Verehelichung.
Wird eine Ehe vor Einlauf des obrigkeitlichen Verehelichungs-
zeugnisses geschlossen, so ist sie bürgerlich ungiltig. Dieses
Zeugnis ist bedingt durch den Nachweis, daß keine militärischen
und zivilrechtlichen, strafrechtlichen, beamtenrechdichen Rück-
sichten entgegenstehen. Die Gemeinde der Heimat des Mannes
ist zum Einspruch berechtigt, wenn er eine gerichtliche Strafe
noch nicht abgebüßt hat oder in Untersuchung befindlich ist,
Armenunterstützung innerhalb 3 Jahren empfangen oder bean-
sprucht hat und mit Leistungen gegen die Gemeinde im Rück-
stand oder unter Kuratel befindlich ist. Die zur Ausstellung- des
Zeugnisses befugte und verpflichtete Distriktspolizeibehörde muß
vor der Ausstellung desselben ein öffentUches Aufgebot am Rat-
hause der Heimatgemeinde des Mannes während 10 Tagen an-
schlagen und sich vergewissern, daß seitens dieser Gemeinde
kein Einspruch erhoben wird. Die Verheiratung begründet nicht
mehr wie früher das Recht auf Niederlassung am Orte der Ehe-
schließung, überhaupt kein öffentliches Recht mehr; nur erwirbt
der Ehemann, der bisher als Familienangehöriger die Heimat
besessen hatte, die selbständige Heimat durch die infolge der
Eheschließung getätigte Ansässigmachung und Begründung eines
eigenen Haushalts. Ausländer unterliegen besonderen Bestim-
mungen, müssen vor allem ein Zeugnis der heimatlichen Staats-
behörde darüber beibringen, daß keine Ehehindernisse nach dor-
tigem Rechte vorliegen.
Dies war der Rechtszustand Bayerns zur Zeit seines Beitritts
zum Deutschen Reich. Während aber in den anderen süddeut-
schen Staaten, Baden, Württemberg und Hessen trotz anfäng-
licher Schwierigkeiten seit 1873 schließlich doch alle norddeut-
schen Gesetze öffentlich-rechtlichen Charakters zur Einführung
gelangten, ließ sich Bayern durch Reservatrechte volle Selbstän-
digkeit in der Gesetzgebung über die Armen-, Heimats-, Ehe- und
5*
— 68 —
Niedcrlassun<;svcrhältnissc garantieren. In dem SchlußprotokolP)
der Verhandlungen zwischen Preußen und Bayern über ein Ver-
fassungsbündnis zu Versailles vom 28. November iX;o wurde von
den preußischen Beauftragten anerkannt, nachdem sich das Ge-
setzgebungsrecht des Bundes bezüglich der Hcimats- und Nieder-
lassungsverhältnisse auf das Königreich Bayern nicht erstreckt,
die Bundeslegislativc auch nicht zuständig sei, das Verehelichungs-
wesen mit verbindlicher Kraft für Bayern zu regeln, und daß also
das für den Norddeutschen Bund erlassene Gesetz vom 4. Mai
1868, die Aufhebung der polizeilichen Beschränkungen der Ehe-
schließung betreffend, jedenfalls nicht zu denjenigen gehört, deren
Wirkung auf Bayern ausgedehnt werden könnte . . . Die unter-
zeichneten Bevollmächtigten kamen dahin überein, daß in Anbe-
tracht der unter Ziffer i statuierten Ausnahmen von der Bundes-
legislative der Gothaer Vertrag . . ., dann die Eisenacher Kon-
vention . . . für das Verhältnis Bayerns zu den übrigen Staaten
fortdauernde Geltung haben sollen.«
Die Reservatrechte selbst enthält dann der Vertrag über den
Beitritt Bayerns zum Deutschen Bunde vom selben Tage im
3. Abschnitt, § l : »Das Recht der Handhabung der Aufsicht
seitens des Bundes über die Heimats- und Niederlassungsverhält-
nisse und dessen Recht und Gesetzgebung über diesen Gegen-
stand erstreckt sich nicht auf das Königreich Bayern.«
Alle anderen bezüglichen Gesetze mit Ausnahme des Unter-
stützungswohnsitzgesetzes und des .über die Beschränkungen
der Eheschließung fanden daher ihre Geltung in Bayern. Der
Einfluß der Reichsgesetzgebung auf die bayrische Sozialgesetz-
gebung war daher gleichwohl ein bedeutender: Norddeutsche
gelten von nun an als Inländer; die bayrische Staatsangehörig-
keit wird nicht mehr durch Erwerb der Heimatangehörigkeit oder
der Gemeindeangehörigkeit erworben. Norddeutsche, welche als
bayrische Staatsbürger aufgenommen sind, stehen nunmehr besser
da als Altbayern, da ihnen nicht erst eine Heimat angewiesen
wird, sondern sie eine solche kraft Gesetzes besitzen-). Bayrische
1) Vgl. Riedel, Die Reichsverfassungsurkunde usw.
2) Heimatges. Art. 15, Abs. 3, in neuer Fassung 1872. >Bundcsangehörige,
welche in den Bayrischen Staatsverband aufgenommen sind, besitzen, solange sie
nicht eine wirkliche Heimath nach Maßgabe des Gesetzes erworben haben, die
vorläufige Heimalh in jener Gemeinde, in welcher sie sich zur Zeit ihrer Aufnahme
niedergelassen hatten. <
- 69 -
Staatsangehörige, welche zugleich eine andere Staatsangehörig-
keit besitzen, können zugleich in Bayern die Heimat und in Nord-
deutschland den Unterstützungswohnsitz haben, brauchen aber
letzteren nicht zu erwerben, so daß Bayern in diesem Punkte im
Falle der Verarmung benachteiligt und zur Uebernahme allein
verpflichtet ist^).
Bayern sah sich zur Aufrechterhaltung seiner Gesetzgebung
dadurch veranlaßt, daß es seine eben fertig gewordenen sozialen
Gesetze nicht sofort wieder umstoßen wollte. Wären nicht diese
mehr formalen Schwierigkeiten gewesen, so hätte vielleicht schon
damals die Einführung des Unterstützungswohnsitzes in Bayern
erfolgen können und wäre damit von vornherein in ganz Deutsch-
land die so wünschenswerte Rechtseinheit herbeigeführt worden.
Aber die materiellen Widerstände, das Festhalten an dem alten
Heimatwesen selbst kamen hinzu, um diese Entwicklung hintan-
zuhalten. Die enge Verquickung des Heimatwesens mit der Ehe,
ja ursprünglich mit der kirchlichen Schulverfassung bewirkten es
vor allem, daß Bayern seine Sonderstellung beibehielt-). In Ba-
den und Württemberg lagen die Dinge doch wesentlich anders,
das erstere war schon 1870 in hohem Maße industrialisiert, die
Bevölkerung daher stark fluktuierend, das andere war von der
Kirche unabhängiger, beide Länder aber mit dem unitarischen
Reichsgedanken durch Volksstimmung oder Fürstenverbindung
weit mehr durchdrungen. Die späteren Aeußerungen der bay-
rischen Regierung weisen vornehmlich auf die verhältnismäßig
größere Seßhaftigkeit der Bevölkerung hin, die inzwischen auch
stark abgenommen habe.
Bayern hat so bis in die neueste Zeit an seinem Heimat-
grundsatz festgehalten, im übrigen aber durch mehrere Ergänzungs-
gesetze Aenderungen getroffen.
Was zunächst die Heimat selbst betrifft, so wurde die Er-
sitzungsfrist des Heimatrechts durch Gesetz von 1896 von 5 Jah-
ren für den höher qualifizierten Aufenthalt auf 4 Jahre und von
1) Vgl. Brater in Bl. f. d. administrative Praxis, Bd. 27.
2) Ebenso lagen die Verhältnisse in Oesterreich. In Salzburg war die Auf-
rechterhaltung des rechtlich bestrittenen politischen Ehekonsenses ein wichtiger
Bestandteil des Programms der klerikalen Partei. Dieser war noch 181 1 durch
AB. GB. dem Belieben der einzelnen Länder anheimgestellt, seitdem überall, vor
allem 1866/68 aufgehoben mit Ausnahme von Salzburg, Vorarlberg und Tirol, wo
er noch heute besteht. Vgl. Art. Eheschließung HWSt. von Rehm.
— 70 —
lo Jahren auf 7 Jahre für eUejenigen, welche ohne Steuerzahlung
in der Gemeinde gewohnt hatten, herabgesetzt. Außerdem wurde
in demselben Gesetz auch der bisherigen Heimatgemeinde, im
Falle jene Vorbedingungen erfüllt waren, der Anspruch aufllei-
matverleihung an ihren bisherigen Ilcimathörigen seitens der Er-
sitzungsgemeinde gegeben, wodurch die Heimatverleihungen we-
sentlich erleichtert und über das Maß der Bevölkerungszunahme
hinaus vermehrt wurden '). Das Ziel, die Heimatgemeinde in
höherem Grade mit dem tatsächlichen Aufenthalt zusammenzu-
bringen, wurde jedoch in dem wünschenswerten Umfange nicht
erreicht, wenn es auch auf Grund des Anspruchs der alten Hei-
matgemeinde in den meisten Fällen gelang, die ganz antiquier-
ten, auf Generationen zurückgehenden Heimatsbeziehungen zu
lösen.
In entsprechender Weise wurde auch das Recht der Ehe-
beschränkungen modernisiert durch die Novelle vom 17. Februar
1892. Bis dahin entbehrte eine ohne das obrigkeitliche Verehe-
lichungszeugnis geschlossene Ehe in der Regel nach außen so
lange jeder bürgerlich- und öffentlichrechtlichen Gültigkeit, als
die Ausstellung des Zeugnisses nicht nachträglich erwirkt wurde.
Durch die Novelle von 1892 wurde der ohne Verehelichungs-
zeugnis abgeschlossenen Ehe die Wirkung einer gültigen Ehe nur
mehr in bezug auf den Heimaterwerb und nur für die Ehefrau
und die aus der Ehe hervorgehenden Kinder abgesprochen.
Diese starke Entwertung des Zeugnisses wurde noch vergrößert,
als durch das Ausführungsgesetz des bürgerlichen Gesetzbuches
die bisher einen Bestandteil des Zeugnisses bildende Beurkun-
dung^), daß der Verehelichung Militärdienstpflicht oder berufs-
mäßiger öffentlicher Dienst und zivilrechtliche Ehehindernisse nicht
entgegenstehen, und damit im Zusammenhang das gemeindliche
Aufgebotsverfahren beseitigt wurden. Seit 1900 also ist das
Verehelichungszeugnis auf die Feststellung zusammengeschrumpft,
1) Vgl. Denkschrift über die Abänderung der B. -Heimat- und Armengesetz-
gebung, 1912, Beil. 100, Kammer d. Abgeordn.
2) Das Gesetz betr. Eheschließung und Beurkundung des Personenstandes
von Bundesangehörigen im Auslande vom 4. 5. 1870 war in Bayern unter dem
22.4. 187 1 eingeführt worden, da sein § 3 Abs. 2: >die zustimmende Erklärung
derjenigen Personen, deren Einwilligung nach den Gesetzen der Heimath der Ver-
lobten erforderlich ist« forderte. Das Ges. 6. 2. 1875 betr. Beurkundung des Per-
sonenstandes und die Eheschließung hatte für Bayern keinerlei Aenderungen im
Gefolge.
— 71 —
daß von der Heimatgemeinde des Mannes gegen die Verehelichung
kein Einspruch erhoben wird.
Diese Sonderstellung Bayerns blieb bestehen, bis im Jahre
191 2 vielfachem Drängen vor allem der Städte zufolge Regierung
und Landtag sich in dem Wunsche begegneten, das Unterstütz-
ungswohnsitzprinzip zu adoptieren und dem Geltungsgebiet des-
selben in vollem Umfang beizutreten, somit allen Reservatrechten
hierüber zu entsagen. Nach umfangreichen statistischen Erhe-
bungen, welche vom Landtag veranlaßt wurden, legte die Regierung
am 14. März 191 2 dem Landtag einen entsprechenden Gesetzent-
wurf vor. der am 23. Oktober 191 2 zum Gesetz erhoben wurde.
Seit diesem Jahre also ist das Prinzip des Unterstützungs-
wohnsitzes in ganz Deutschland durchgeführt, nachdem es im Jahre
1908 auch durch Reichsgesetz in Elsaß-Lothringen Eingang ge-
funden hatte und die Rechtseinheit im ganzen Reichsgebiete her-
gestellt war. Der Streit um Unterstützungswohnsitz und Heimat-
recht ist also aus der politischen Diskussion ausgeschieden und
nur mehr eine wissenschaftliche, wesentlich historische Streitfrage;
wenngleich die Möglichkeit nicht von der Hand zu weisen ist,
daß es den starken überall vorhandenen Minoritäten noch einmal
gelingen möchte, das bestehende Prinzip zugunsten des Heimat-
wesens umzustoßen, oder doch wenigstens ihm graduell wieder
näher zu kommen.
Sechstes Kapitel.
Preußen 1).
Die Gebiete östlich der Elbe sind Kolonisationsboden. Bis
ums Jahr lOüO ein völlig slavisches Land wurde es erst seit die-
ser Zeit nicht nur mit den Waffen, sondern auch durch kulturelle
Bearbeitung nach und nach eingedeutscht. Das 12. Jahrhundert
ist im wesentlichen erfüllt von kriegerischen Kämpfen der deut-
schen Markgrafen gegen die slavischen Stämme, welche mit der
Eroberung dieser Länder gegen das Ende des Jahrhunderts ab-
schlössen. Das 13. Jahrhundert bringt dann die eigentliche Ko-
lonisation und Besiedelung des Landes mit deutschen Bauern und
Gründung deutscher Städte. Am Ende dieses Jahrhunderts dürfen
die Lande zwischen Elbe und Oder im wesentlichen als deutsche
l) Vgl. Lamprecht, Deutsche Geschichte, Bd. 3, S. 330 ff. und weitere histo-
rische Literatur.
— 72 —
angeschen werden. Etwas später vollzog sich die Germanisie-
rung der entfernten Gebiete des heuti-^en Ostj)reußens und der
dazwischen liegenden westpreußischen und Pomerellens, welche
letztere niemals gelanjj. Fürsten, Ritter, Bauern und Mönche
arbeiteten hier in überaus fruchtbarer Weise Hand in Hand.
In der Folge galt es zunächst, die sozialen Verhältnisse die-
ses Neulandes zu ordnen: im 14. und noch mehr im 15. Jahr-
hundert spielt sich der Kampf zwischen den zu besserem Rechte
angesetzten Bauern und den auf Erweiterung ihrer Macht und
ihres Gebietes erpichten Rittern und Klöstern ab, in dem die
Bauern immerhin sich leidlich behaupteten. Schlimmer war der
Einfluß der äußeren Kriege, der slavischen Einfälle in der ersten,
der Hussitenzüge in der späteren Zeit und das unausrottbare
Raubritter- und Fehdewesen, welches sich hier länger und in
größerer Unbekümmertheit erhielt als in den alten deutschen Lan-
den ^). Erst das Eingreifen der Hohenzollern schuf hierin durch-
greifenden Wandel. Seit dieser Zeit machen sich hier alle Vor-
züge einer größeren territorialen Macht geltend, welche sich aus-
schliefilich mehr und mehr der Ordnung der inneren Verhältnisse
widmet, unbekümmert um außen liegende politische Rücksichten.
Die Durchführung des Landfriedens war die erste große Auf-
gabe, welche die Hohenzollern unternahmen und mit Erfolg er-
ledigten. Aber alle Erfolge machte der dreißigjährige Krieg
wieder zunichte, welcher das an sich nicht dichtbevölkerte Land
völlig blutleer machte und die sozialen Verhältnisse im Zusam-
menhang damit zu Ungunsten der bäuerlichen Bevölkerung ver-
änderte. Die wüstgewordenen Hufen und Dörfer wurden großen-
teils von der Ritterschaft eingezogen oder zur Verminderung des
Rechts der alten und neuen Besitzer ausgenutzt. Doch sogleich
setzte auch die Reaktion hiergegen seitens der Landesherren ein,
welche in dem Bauernschutz Friedrich Wilhelms I. und Fried-
richs des Großen und schließlich in der Bauernbefreiung ihren
Abschluß fand.
Von entscheidendem Einfluß auf die Zusammensetzung der
Bevölkerung, ihr Recht und die gesamte soziale Struktur der
östlichen Länder ist der Umstand gewesen, daß sie nicht nur in
der Zeit der eigentlichen Kolonisation selbst, sondern darüber
I) Nach dem Landbuch des Amtes Wittenberg (sächsisches Gebiet) lagen
auf dem hohen Fläming bereits um das Jahr 1500 15 Dörfer wüst, welche von
Flamen angelegt waren.
— 73 —
hinaus weit hinein ins i8. Jahrhundert auf den dauernden Zu-
strom neuer Wanderer aus dem Westen angewiesen waren ^).
Bestand die ursprüngliche Einwanderung aus Mitgliedern fast
aller deutschen Stämme, welche sich teils in wirrem Durch-
einander, teils in gesonderten Bezirken nach Stämmen und Art
der agrarischen Kultur getrennt auf dem wilden Boden oder in
alten verlassenen Slavendörfern niederließen, so zeigte die neue
Wanderungswelle, welche sich nach langer Ruhepause im 17. und
18. Jahrhundert in die Wüsten des dreißigjährigen Krieges ergoß,
einen ganz anderen Charakter : Ihre Ursache war nicht mehr der
Tatendrang des Ueberschusses der überfüllten Länder wie im
Mittelalter, sondern die Vertreibung einer hochgebildeten Bevölke-
rung aus religiösen und politischen Gründen von Haus und Hof.
Diese siedelten sich meist in geschlossenen Gebieten an. Nur so-
weit sie städtisch waren, wurden diese Zuzügler in einzelne Städte
nach dem Bedarf und Raum verteilt. Die sonst durch Werbung
herbeigerufenen Einwanderer waren vorwiegend ebenfalls städti-
sche Gewerbetreibende. Nur in den durch Friedrich den Gro-
ßen neu eroberten polnischen Gebietsteilen wiederholten sich
fast genau die Vorgänge des Mittelalters. Hierher wurden auch
umfangreiche Translozierungen aus westlichen Gebieten der Mon-
archie vorgenommen.
In der Zeit von dem Ende des dreißigjährigen Krieges zum
Jahre 1800 findet so eine massenhafte Einwanderung aus dem
Westen statt, welche von der Regierung mit allen Mitteln der
Begünstigung gefördert wurde. Zugleich wurde auch ein starker
Zwang auf die Städte ausgeübt, welche geneigt waren, in der
Zeit stillstehenden Wirtschaftslebens sich nach außen abzuschlie-
ßen ^j. Das »regale majus« des Landesherrn kommt zur mäch-
tigen Geltung. Rußland, Oesterreich und Preußen wetteifern im
18. Jahrhundert in der Heranziehung von Einwanderern. »In den
preußischen Staaten wurde so das vollständigste und zusammen-
hängendste System zur Beförderung und Erleichterung nützlicher
Einwanderung befolgt.« Man muß hier unterscheiden zwischen
dem eigentlichen Kolonialrecht und dem allgemeinen Einwande-
rungsrecht. Das Kolonialrecht ist auf der Einrichtung besonderer
Gemeinwesen begründet und beginnt mit der Aufhebung des
i) Vgl. Schäfer S. 336 und Lamprecht, Deutsches Wirtschaftsleben, Bd. i.
2) Vgl. Stein, Verwaltungslehre, S. 180, und Berg, Teutsches Polizeirecht,
Bd. 2, S. 38 und S. 40.
— 74 —
Edikts von Nantes 1685. Der Einladung' Kurfürst I'riedrich Wil-
helms folgten gegen 14000 Reformierte und erhielten an ver-
schiedenen Orten eine besondere Gemeindeverfassung. Ebenso
die pfälzischen Auswanderer 1688 und die salzburgischen und
böhmischen Auswandere 1721, 1726 und 1736. Die allgemeine
Grundlage der diesen erteilten Privilegien ist stets neben freier
Religionsausübung und direkter Unterstützung das Zugeständnis,
als Selbstverwaltungskörper sich in bürgerlichen Rechtsstreitig-
keiten nach eigenem Recht zu richten. Neben diesem eigent-
lichen Kolonialrecht bestand das Einwanderungsrecht für einzelne,
das in Preußen ebenso wie übrigens in Braunschweig sehr frei-
sinnig war. Unterstützungen öffentlicher und privater Art wur-
den reichlich verliehen. Die Einwanderer erhielten Ersatz der
Transport- und Beihilfe zu den Baukosten, Befreiung von öffent-
lichen Lasten und 10 oder 15 Freijahre, innerhalb welcher sie
auch noch nicht als Untertanen galten, sondern ohne Nachsteuer
wieder abziehen konnten. Das preußische Patent über die Neu-
anziehenden vom 27. November 17 12 befiehlt: »Es sollen keine
anderen als des Ackerbaus und der Viehzucht kundige Bauers-
leute, auch der übrigen Landnahrung erfahrene hiezu angenom-
men w'erden«-, und ein Jeder, der sich auf diese Weise nieder-
lassen wolle, müsse einen Schein von seiner Obrigkeit unter wel-
cher er gewohnt mitbringen, daß er sich bishero redlich genährt
und geführet, auch mit derselben Vorwissen abgereist sei ^). Die
rev. Gen. Steuerordnung 1684 ermäßigt auch das Bürgergeld. Es
erhellt hieraus, mit welcher Sorgfalt das Interesse der Landeskul-
tur gewahrt wurde Die Betteledikte nehmen von dem generellen
Bettelverbot regelmäßig die Religionsflüchtlinge aus, solange sie
sich bestreben, sich ansässig zu machen. Zuletzt 1748.
Bei den Bestimmungen über den Heimats- oder Bürgerrechts-
erwerb der Neuziehenden wird überall ein großer Unterschied
zwischen In- und Ausländern gemacht ^). »Im allgemeinen hat
1) In Vorpommern besagt die Kgl. Verordnung wegen der Freyheiten derer,
die sich in den Pommernschen Landen zu wohnen begeben wollen, 10.4. 1669 und
7. 3. 1681: >0b sie auch wohl bei ihrem Antritt den Bürgereid abzustatten, und
dagegen des Bürgerrechts zu genießen haben, sollen sie doch weder wegen der
gewöhnlichen Recognition, noch des Bürgerschosses oder Grundgeldes, vor oder in
den 10 Jahren, nicht molestiert werden, nach Ablauf solcher Zeit aber allein für
das Bürgergeld ein Leidliches, und wie sie sich mit dem Magistrat am besten ver-
tragen können, zu geben schuldig sein.« Pommersches Urkundenbuch, Cap. 6.
2) Das Braunschw. Patent 12. 7. 17 18 bestimmt: >daß alle, welche über
•— 75 —
die Verwaltung der großen deutschen Staaten den Grundsatz zur
Durchführung gebracht, daß die Einwanderung von Ausländern
mit allen Mitteln zu befördern sei, während sie der inneren Be-
wegung der Einwanderung, der Wanderung von Provinz zu Pro-
vinz und von Stadt zu Stadt große Hemmnisse entgegensetzte.«
. . . »Bei der Strenge des meistens auf Zunftinteressen oder auf
der Gutshörigkeit beruhenden Heimatsrechts war es von vorn-
herein wahrscheinlich, daß ein wandernder Inländer besitz- und
erwerblos sein werde . . .« dies trifft auf Preußen in besonderem
Maße zu. Bei der dünnen Bevölkerung in alten und neuen Sie-
delungsgebieten mußte auch auf die Seßhaftigkeit der Einwohner
Wert gelegt werden, denn auf dem Lande wenigstens ist erst die
Folge von Generationen imstande, wirklich durchgreifende Kultur-
leistungen zu vollbringen ; der einzelne ist hier heut wie im Mittel-
alter nicht nur als Persönlichkeit, sondern grade als Mitglied sei-
ner Familie, als ein Glied in der Generationenkette wertvoll.
Hierin hat vielleicht auch die Schollenbindung nicht ihre schlech-
teste Rechtfertigung. Der Staat als Förderer der Landeskultur
und zugleich im Interesse der öffentlichen Sicherheit sowie der
wohlerworbenen Rechte der Zünfte und Gutsherrschaften hatte
somit gar kein Interesse an der Freizügigkeit innerhalb seines
Gebiets zu einer Zeit, wo die landwirtschaftliche Kultur und
Technik fast allein auf die Handkräfte angewiesen war. Gegen-
über den Uebertreibungen der Ausschließungsberechtigten, Städ-
ten sowohl wie Herrschaften aber machte das preußische König-
tum die Interessen des Landes sowohl wie des Individuums nach
Möglichkeit geltend. Doch war dies schwieriger gegen das pri-
vate Recht der Gutsherrschaften als das öffentliche der Städte.
Wenn es auch der altpreußischen Verwaltung somit völlig fern-
gelegen hat, die Freizügigkeit zu begünstigen, so hat sie doch
von sich aus die persönliche Freiheit der Bewegung nur in dem
von ihr verstandenen Landesinteresse beschränkt.
Was dagegen die Verehelichungsfreiheit anlangt, so wissen
wir, entgegengesetzt der sonstigen deutschen Gesetzgebung, von
keinen öffentlichen oder polizeilichen Beschränkungen, wenngleich
auch hier sich solche in dem Dunkel mancher Stadtverfassung
lange erhalten haben mögen. Der größte Teil der ländlichen Be-
2000 Rthl. in's Land bringen und keine bürgerliche Nahrung treiben, nicht schuldig
sind, die Bürgerschaft zu gewinnen, auch unter keiner Stadtobrigkeit stehen.« Vgl.
Rehm. Stein, Verwaltungslehre, Teil i, S. 177.
- 70 —
vülkcrung unterlag allcl■dinl,^s den örtlich verschiedenen, teilweise
jedenfalls recht harten Beschränkungen, welche eine Folge der
Gutsuntertänigkeit, somit aber privatrechtlichcr Natur waren. Je-
doch hebt schon ein Mdikt vom i8. März 1/37 'j einen Teil der-
selben auf, indem es jegliches Loskaufgcld von sich verheiraten-
den L'ntertanentöchtern verbietet.
Das ALR., um dies hier gleich im Zusammenhang vorweg-
zunehmen, erhält diese Beschränkungen der Eheschließungsfrei-
heit in dem Sinne aufrecht, daß die polizeilichen Interessen der
öffentlichen Ordnung und die privatrechtlichen der Gutsherrn
gleichermaßen gewahrt bleiben. Aber das Maß dieser Beschrän-
kungen ist doch so gemindert, daß von einem absoluten Ehe-
verbot füglich nicht mehr die Rede sein kann. — Der große und
grundsätzliche Unterschied der preußischen landrechtlichen Ver-
bote gegenüber den bayrischen besteht darin, daß dort die ein-
mal geschlossene Ehe unbedingt gültig bleibt, ihren bürgerlichen
wie ihren öffentlich-rechtlichen Folgen nach (Armenpolizei), wäh-
rend sie hier einfach als nicht geschlossen gilt. Auch die Be-
amten und Geistlichen, welche bei der Eheschließung ohne herr-
schaftlichen Konsens mitgewirkt haben, bleiben in Preußen frei
von jeder Haftung. Die geringfügige Strafe der Eheschließenden
scheint sich in Preußen mehr auf die Uebertretung eines poli-
zeilichen Verbots zu beziehen, als daß sie als Mittel gegen die
Verarmung wirksam werden könnte. Der Herrschaft blieb nach
ALR. nur die Entsetzung der Untertanen übrig ^), zum mindesten
1) Mylius, C. C. M. 1737, 15.
2) § 161. Unterthanen sind bei beabsichtigter Heirat die Genehmigung der
Herrschaft nachzusuchen verbunden.
§ 162. Die Herrschaft aber kann ihnen die Erlaubniß ohne gesetzmäßigen
Grund nicht versagen.
§ 163. Gesetzmäßige Weigerungsursachen sind, wenn die Person, welche der
Unterthan heiraten will, sich groben Verbrechens schuldig gemacht hat.
§ 164. Ferner wenn diese Person wegen Liderlichkeit, Faulheit oder Wider-
spenstigkeit bekannt ist und dessen durch glaubwürdige Zeugnisse überführt wer-
den kann.
§ 165. Im gleichen, wenn dieselbe wegen körperlicher Gebrechen unfähig
ist, den wirtschaftlichen Arbeiten, deren Verrichtung ihr obliegt, gehörig vorzustehen.
§ 166. Auch Leuten, welche selbst körperlicher Gebrechen wegen sich und
ihre Familie zu ernähren außer Stande sind, kann die Herrschaft die Erlaubniß
zu einer Heirat, durch welche ihre Umstände nicht verbessert werden, versagen.
§ 167. Der Unterthan männlichen Geschlechts, welcher die Erlaubniß zur
Heirat nachsucht, muß in der Regel, wenn es die Herrschaft verlangt, an dem Ort,
wo er unterthänig ist, sich häuslich niederlassen. (§§ 114, 115, 517.)
— 17 —
ein zweischneidiges Schwert, um sich der Fürsorgepflicht zu ent-
ziehen.
Einen wichtigen Bestandteil der allgemeinen Landeskultur-
pflege, wie wir sie bisher verfolgt haben, bilden die Bettelord-
nungen, welche wir nun bis zu ihrer Aufhebung durch das ALR.
zu betrachten haben. 1 549 schließen die Herren von Branden-
burg, Pommern und IMecklenburg einen Vertrag zur gemeinsamen
Durchführung des von Karl V. erlassenen Landfriedens, welcher
alle 4 Wochen in den Kirchen verlesen werden soll. Jegliche
Fehde und »Austreten« zum Zwecke eigenmächtiger Rechtsver-
folgung werden streng bedroht. Der Erfolg war allerdings zu-
nächst nicht bedeutend. Von hier an bis zum Ende des 17. Jahr-
hunderts ergehen fast alljährlich neue Edikte und Wiederholungen
der alten mit immer schärferen Bestimmungen wider die »Bettler,
Landstreicher, Zigeuner, Betteljuden, Müßiggänger, gardende
Knechte und abgedankte Soldaten« und wie dies lose Gesindel
sonst noch bezeichnet wird.
Das Brandenb. Ed. Montags vor Margarethen 1565 »wieder
die frembde Bettler und Landstreicher, wie wieder dieselben zu
verfahren, und daß die einheimische und einländische Armen zu
versorgen« bestimmt: »Mit anderen Bettlern aber, so in unsern
Landen gesessen, und allda verarmt sein, soll es allso gehalten
werden, Daß ein jede gemeine in Stedten und Flecken und Dörf-
fern ihre Armen, die wegen ihrer Gebrechlichkeit oder Leibes
Schwachheit und aus Noth, Ihren unterhalt zu suchen gedrungen,
bey sich behalten und sie aus den Gefeilen der Gotteskasten und
sonst durch tegliche Allmosen der Einwohner, erneren lassen,
auf daß die Leute an anderen Oertern, fortan, diesfalls unbe-
schwert bleiben mögen«. Und weiter ergehen in der Folge bis
zum Jahre 1624 allein 15 weitere Bettelordnungen in der Kur-
mark. Das Edikt von 1 565 führt also die Vorschrift des Reichs-
tagsschlusses von Lindau u. a. m. für Brandenburg durch, wonach
§ 168. Ehen, die ohne herrschaftliche Erlaubniß abgeschlossen sind, sind
zwar gültig, die Uebertreter aber mögen mit verhältnißmäßiger Gefängnißstrafe oder
Strafarbeit von 3 Tagen bis zu 4 Wochen belegt werden.
§ 169. Hat ein angesessener Unterthan eine Person, welcher die 163, 164
erwähnten Ausstellungen entgegenstehen, ohne Consens der Herrschaft geheiratet,
so ist die Herrschaft auf seine Entsetzung aus der Stelle anzutragen berechtigt.
§ 170. Wenn die Herrschaft nach erfolgter gehöriger Prüfung ihren Consens
in die Heirat eines Unterthanen ohne rechtlichen Grund versagt, so muß derselbe
auf Anrufen des Unterthanen durch das Obergericht der Provinz ergänzt werden.
- 78 -
die Armenpflege den politischen Gemeinden in Stadt und Land
überwiesen wird, ohne genaue Kriterien über die Ilingchörigkeit
derselben anzugeben. Erst im 17. Jahrhundert, nach dem dreißig-
jährigen Kriege bildet sich ein neues und eignes Recht über die
Bemessung des Inkolats für die Armenversorgung entsprechend
der Entwicklung des römischen Rechts heraus. Gegen Ende des
17. Jahrhunderts finden wir denn in den Bettelordnungen auch
zuerst nähere Bestimmungen über die Heimatgehörigkeit der
Armen ^). Zwar wiegen auch in der P'olge immer noch die poli-
zeilichen strafenden Vorschriften allgemeiner Art vor, aber da-
neben werden jetzt doch schon allmählich die Grundsätze heraus-
gebildet, nach welchen die Hingehörigkeit der Armen zu be-
messen ist. Dem Begriff: >ihre Armen« wird ein genauer begrenzter
Inhalt gegeben. Die bis dahin nur in den Stadtrechten und den
Schriften der Juristen aufgestellten Grundsätze werden in die
territoriale Gesetzgebung übernommen : neben die Verweisung an
den Geburtsort tritt je mehr und mehr die später erlangte Wohn-
sitzgemeinde. Das Interesse der allgemeinen Landeskultur macht
sich gegenüber den einzelnen Stadtrechten geltend. Das >Regale
majus«; des Landesherren wird wirksam sowohl in bezug auf die
Aufnahme der Bürger wie auf die Verpflegung der Armen. Das
Edikt wider die Zigeuner und fremden Bettler, auch über die
Versorgung der Armen im Lande vom 10. April 1696 befiehlt
l) Entsprechend bestimmt die Polizeiordnung im Herzogthum Pommern vom
18. 12. 1672, revid. 1681 im Kap. 6 von Zigejunern und Bettlern: »Es sollen keine
gardende Knechte, starcke Bettler und Landstreicher tolerieret , noch jemand zu
bettlen und um Almosen zu bitten gestattet werden, der nicht mit kundbarer Ge-
brechlichkeit, Unvermögen und Preßhaftigkeit belegt, und sich durch seine Hand-
arbeit seinen Unterhalt nicht suchen noch acquirieren kann .... Eine jede Stadt
und Commune ihre Armen Selbsten ernähre, zu solchem Ende arme Häuser auf-
richte und dazu eine Collekte oder Beysteuer, nach Gutbefindung von den Ein-
wohnern erfordere, und also dieselben erhalte und den Fremden zu betteln
gar nicht nachgelassen, noch daß sie über eine Nacht in der Stadt verbleiben
mögen, permittieret werde, sondern, daß sie, so bald sie angetroffen werden, selbige
entweder ad prästandas operas geadieret oder durch die Wacht Knechte in Städten
und durch die Schulzen mit Hülfe der Bauersleute auf dem Lande weggenommen
und in die nechste Vestung gebracht und zu obgedachter Arbeit gebracht werden.
Würde es sich aber begeben, daß entweder einheimische oder fremde Bettler Kinder
mit sich führen, so ir Brod verdienen könnten, alsdann sollen solche auf dem
Lande oder in den Städten von ihnen genommen und zu Handwerckern oder zu
Dienst geadhibieret werden. € Diese Polizeiordnung wurde 1702 noch einmal in
kürzerer Form erlassen, um sie an den Wegen in effigie anzuschlagen und all-
monatlich in den Kirchen zu verkündigen.
— 79 —
jeder Gerichtsobrigkeit auf dem Lande und in den Städten die
Versorgung derjenigen Bettler, so in ihrem Gerichtssprengel ge-
boren oder daselbst zuletzt gedient haben, dergestalt, daß sel-
bige zu betteln außerhalb nicht Ursache haben. Die Edikte vom
19. November 1698 und die Armen- und Bettlerordnung vom
18. März 1701 verpflichten die Städte und die Ritterschaft, den
Arbeitsfähigen Beschäftigung zu verschaffen, den weniger Ar-
beitsfähigen Almosenunterstützung zu geben und den Arbeits-
unfähigen Unterhalt in Kranken-, Waisen- und Armenhäusern zu
gewähren, auch hierzu die Vereinigung mehrerer Orte zu bewirken.
Morose Kontribuenten sollen zwangsweise zum Armenbeitrag ge-
zwungen werden und die Ortsgeistlichen sollen die Gesamtauf-
sicht über die Armenanstalten der Gemeinde haben. Zur Vor-
beugung sollen unordentliche Wirte in Aufsicht genommen und
die Gesellen von den Gewerken beaufsichtigt werden.
Die hierauf unter dem 19. September 1708 ergangene Armen-
und Bettlerordnung erweitert die früheren Vorschriften in An-
sehung der Städte dahin, daß sie denjenigen Ort zum Unterhalt
verpflichtet, worin der betreffende Arme das Bürgerrecht gewon-
nen, in eine Innung aufgenommen, oder 10 Jahre wohnhaft ge-
wesen ist, und die Magisträte und Geistlichen zur Einsammlung
freiwilliger und in deren Ermangelung auferlegter Beiträge er-
mächtigt. Das Edikt Friedrich Wilhelms I. vom 10. Februar
171 5 stimmt hiermit wörtlich überein, das Edikt vom 10. De-
zember 1720 erwähnt wieder nur den Geburtsort als verpflichtet.
Das »erneuerte und verschärffte Edikt« vom 25. Februar 1731
dagegen setzt abermals fest, daß sich die einheimischen Bettler
»nach den Orten, wo sie geboren, oder wo sie sich sonst ge-
nährt oder aufgehalten haben, begeben sollen.« Wir haben diese
Edikte wohl im wesentlichen als inhaltlich übereinstimmend an-
zusehen, wenn auch der Wortlaut oder die Vorschriften nicht
immer genau dasselbe besagen. Denn die Verweisungen in einem
jeden auf die vorangegangenen Edikte überhoben in einzelnen
Fällen wohl der Aufzählung aller in Betracht kommenden Merk-
male.
Eine vollständige Zusammenfassung der bisherigen Vorschriften
bringt dann wieder das Edikt ^) Friedrichs des Großen vom 28. April
1748 »Wie die wirklichen Armen versorgt und verpflegt, die muth-
willigen Bettler bestraft und zur Arbeit angehalten, auch über-
i) Vgl. Mylius, C. C. M. Teil 5, Art. 5 und Teil i, Art. 2. Dökl S. 6 ff.
— 8o —
haupt keine Bettler mehr geduldet werden sollen, c Die Landes-
regierungen, Kriegs- und Domänenkammern und Obrigkeiten sind
für gute Armenpflege verantwortlich. Dies ist der Grundsatz,
daß der Staat als solcher für die Wohlfahrt seiner Mitglieder ver-
antwortlich ist, welcher nachher auch in das ALR. übergegangen
ist, wie überhaupt dies Edikt den Ucbergang zum ALR. be-
deutet. Errichtung von Armenkassen, Hospitälern und Waisen-
häusern wird vorgeschrieben, Unterstützung von Eltern bei der
Erziehung ihrer Kinder und Ausübung einer strengen Bettelpolizei
durch > Bettelvögte«. § 15 lautet: »Es sollen demnach alle fremde
und ausländische Bettler von Zeit dieses Ediktes Publikation an
längstens innerhalb 14 Tagen Unsere Lande räumen, die ein-
heimischen oder einländischen wahren Bettler aber binnen gleicher
Zeit sich an den Ort ihrer Heimat, allwo sie gebürtig, oder wo
sie die letzten drei Jahre gewohnt, oder sich sonst genährt ge-
habt, zurückbegeben.« Diese Voranstellung der Fürsorge für die
Armen selbst und die Normierung einer bestimmten Zeit als
alleiniger Maßstab neben der Geburt ist das charakteristische Neue
an diesem Friederizianischen Edikt. Die formelle Aufnahme ist
abgeschafft und nur die Geburt und Aufenthalt als heimatbe-
gründend geblieben ').
l) Es mag sich hier ein kurzer Ueberblick über die Entwicklung des Anstalts-
wesens anschließen, welches überhaupt in inniger Verbindung mit dem Armenwesen
steht, in Preußen aber ganz besonders berücksichtigt werden muß. In Verbindung
damit steht die Bildung von Armenverbänden. Die kirchlichen Hospitäler und
städtischen Siechenhäuser fallen nicht unter den Begriff der Anstalten in diesem
Sinne; das eigentümliche der staatlichen Anstalten ist ihr öffentlicher Charakter und
ihre Ausnutzung für polizeiliche Zwecke. In dieser Hinsicht ging England allen
voran. Das Elisabetlianische Gesetz von l6oi ordnete die Unierbringung der ar-
beitsfähigen Armen in »houses of correction< an, welche seitdem eine Eigentüm-
lichkeit des englischen Armenwesens geblieben sind. 1723 in die »workhouses<
umgewandelt, erfüllten sie ihren Zweck doch nicht.. Trotz der größten Aufwen-
dungen der zu diesem Zweck gebildeten parish-Verbände gelang es nicht, die
Bettler darin tmterzubringen. Durch die Gilbert-Acte 17S2 abgeschafft, wurden sie
im Jahre 1824 wieder eingeführt. Ihr strenger Strafanbtaltscharakter sollte die nur
Arbeitsscheuen abschrecken und so eine leichtere Ausscheidung .der wirklich Be-
dürftigen herbeiführen. Doch machte sie eben dieser Strafcharakter und die Tren-
nung der Familienglieder darin zu einer ordentlichen Pflege, geschweige zur Vor-
beugung völlig ungeeignet. Im Jahr 1867 trat die notwendige Reform ein, welche
die Strafanstalten von den Pflegeanstalten trennte, besondere Häuser für Kranke,
alte Leute und Kinder einrichtete. (Vgl. Aschrott, Engl. Armenwesen.)
Frankreich kennt an staatlichen Armenanstalten nur die Irren- und Waisen-
häuser, welche von den Departements eingerichtet werden. Alle übrigen Anstalten
— 8i —
Die Bestimmungen des Allgemeinen Landrechts gehen in
ihren Grundzügen auf das Friderizianische Edikt von 1748 zurück,
werden unter Aufsicht der Kirche von den »bureaux de bienfaisance« unterhalten
und entbehren des eigentlich öffentlichen Charakters. Jene datieren auch erst von
der Neuordnung nach der durch die Revolution verursachten Einziehung der Kir-
chengüter her.
In Deutschland gehen mit der Anstaltseinrichtung Preußen und Bayern voran.
In Bayern werden um 1700 Staatsfabriken zur Unterbringung der Bettler nach eng-
lischem Muster vorgesehen. Der Fränkische Kreisschluß von 1791 und der
Schwäbische von 1783 sehen die Einrichtung eines gemeinsamen Arbeits- und
Zuchthauses vor, zu deren Ausführung es aber in der Folge nicht kam. Die
bayrische Gesetzgebung ließ der Kirche unter staatlicher Aufsicht die Verwaltung
der Anstalten für größere Bezirke; die kleinen Gemeindearmenhäuser sind keine
Anstalten, sondern nur Unterkunftshäuser in Konkurrenz mit der reihenweisen Ver-
pflegung. Erst 1825 wurden die Kreise und Distrikte 'mit der Verwaltung der
Armenanstalten beauftragt. Doch bestand für diese keine Verpflichtung zur Errich-
tung neuer Anstalten, sondern nur zur Erhaltung der bereits bestehenden. Den
polizeilichen Zwecken dienten hier die ordentlichen Strafanstalten,
In Preußen ist man schon wesentlich früher auf die Unterbringung der Va-
gabunden bedacht. In Brandenburg und in Pommern befehlen die Bettelordnungen
des 16. und 17. Jahrhunderts die Einlieferung derselben in die Festungen zur
Fronarbeit. Die Armenordnungen vom Jahre 1701 und 1708 sehen die Unterbringung
der wirklich Armen zur Verpflegung in Armen-, Waisen- und Krankenhäusern vor.
Diese Edikte ebenso wie das Friederizianische von 1748 verfügen die Einlieferung
der einheimischen und nicht auszuliefernden Vagabunden aus dem Auslande in die
staatlichen Spinn- und Arbeitshäuser. Eine genaue Trennung dieser verschiedenen
Anstalten wird aber noch nicht vorgenommen. Einen größeren Fortschritt in dieser
Richtung machen erst die Landarmenreglements der 90 er Jahre des 18. Jahrhunderts.
Das Landarmen- und Invaliden-Reglement für die Churmark vom 16. 6. 1791
befiehlt die Errichtung von fünf solchen Häusern in Tangermünde, Wittstock,
Straußberg, Brandenburg und Prenzlau, Die Invaliden- und Armenhäuser sollen
getrennt gebaut und verwaltet werden, nur eine gemeinsame Oekonomie zur billi-
geren Unterhaltung erhalten. Die Invaliden sollen besser behandelt werden als die
Armen. Die Kosten tragen die Landstände, und zwar nach Maßgabe der bisheri-
gen Belästigung durch die Bettler. Bei der Aufsicht ist einem Kgl. Kommissar
bedeutende Mitwirkung gesichert. § 108 lautet : »So gemeinnützig auch diese
Anstalt für das Beste unserer Untertanen ist, so kann doch dadurch die Verbindlich-
keit einer jeden Commune und Obrigkeit, für die Versorgung der Armen ihres Orts
Sorge zu tragen, so wenig in den Städten als auf dem Lande für aufgehoben be-
trachtet werden. Diese gehört zu den ersten Grundsätzen der gesellschaftlichen
Verbindung ; sie ist eine der ersten Pflichten der Mildtätigkeit, deren Ausübung, da
sie auf den sittlichen Charakter der Nation einen so großen Einfluß hat, wir nicht
nur von neuem bestätigen, sondern auch darauf um so mehr gehalten wissen wollen,
da bei deren Vernachlässigung zugleich die Erreichung des durch diese Anstalt
beabsichtigten Zwecks in Gefahr gesetzt wird,« Vgl, Mylius, C. C. M. Contin.
Bd. 9, S. 123, Außerdem werden die oben erwähnten diesbezüglichen Edikte er-
Zeitschjift für die ges. Staatswissensch. Ergänzungsheft 51. O
— 82 —
welches im übrigen daneben ebenso wie die einzelnen provin-
ziellen Landarmenrejrlements in Geltung bleibt. Das Edikt von
neuert. Im Anschluß daran wird iSoi die erste selbständige Irrenanstalt in Neu-
ruppin errichtet. Unter dem 31. 10. 1793 erging ein entsprechendes Reglement für
die Provinz Preußen, am 6.4. 1799 für Pomnii,rn und am 12.5. 1800 für die Neu-
mark. Für Schlesien blieb das Alte Reglement von 1749 in Geltung.
Die weitere Entwicklung des Anstaltswescns ist gekennzeichnet durch die
immer mehr im 19. Jahrhundert einsetzende Arbeitsteilung. Irren-, Waisen-,
Kranken-, Invaliden-, Strafanstalten werden gesondert, das Gefängniswesen ausge-
bildet und schließlich als vorläufig letztes Glied die Fürsorgeerziehung als geson-
derte Aufgabe der staatlichen und kommunalen Wohlfahrtspflege eingerichtet.
Mit der Erweiterung der Aufgaben der Armenpflege geht Hand in Hand die
Erweiterung der zu ihrer Durchführung über den Rahmen der einzelnen Gemeinde
hinaus errichteten Verbände, ja überhaupt erst deren Piegründung. Zwei Ursachen
sind für die Verbandsbildung maßgebend: die Ordnung des Heimalwesens (im
weiteren Sinne als der Zuständigkeit) und die Errichtung von Anstalten. Durchweg
ist jene öffentliche polizeiliche Ordnung früher in diesem Sinne wirksam als diese
pflegerische, weil diese eben viel später von der öffentlichen Gewalt übernom-
men wurde.
Die englische Armengesetzgebung ging von vornherein nicht von der Ge-
meinde, sondern von dem größeren Kirchspielverband aus. Die Gemeinden waren
den ihnen gestellten Aufgaben : Verbindung der Polizei mit der Anstaltsunter-
bringung nicht allein gewachsen. Die »parishes« waren die Träger der Fürsorge-
pflicht und begrenzten daher zugleich völlig die Bewegungsfreiheit der Bevölkerung.
Die rigorose Bestimmung, daß 40tägiger Aufenthalt schon die Fürsorgepflicht be-
dinge, war wegen der damit verbundenen kurzfristigen Ausweisungsbefugnis die
Ursache der Unmöglichkeit, die Bevölkerung des Bezirks ausreichend zu beschäfti-
gen, des Zwanges, die Arbeitshäuser einzurichten und somit der ungeheuren
Armenlasten. Erst das 19. Jahrhundert brachte von 1847 an schrittweise eine
Verlängerung der Aufenthaltsfrist, damit der Freizügigkeit und zugleich die Erwei-
terung und teilweise Ersetzung der »parishes« zu den >unions«. Die Grafschaften
mußten die Kirchspiele ergänzen.
In Deutschland war die Unfähigkeit einzelner Gemeinden, die staatlich über-
wiesene Verpflichtung zur Armenpflege zu erfüllen, die Ursache, daß schon im
16. Jahrhundert die bayrischen Bettelordnungen die Obrigkeiten in solchen Fällen
ermächtigten, für einen größeren Bezirk gültige Bettelbriefe auszustellen. Entspre-
chend verordneten die preußischen Edikte, die Armen verschiedener Gemeinden
»conjunktim« zu verpflegen. Das schlesische Edikt von 1749 befahl zuerst den
förmlichen Zusammenschluß von Domanien, Gütern und Dorfschaften zu diesem
Zwecke. Und generell wurden durch die Landarmenreglements in Preußen größere
Verbände errichtet. Zu gleicher Zeit findet der Zusammenschluß der süddeutschen
Territorien zu gemeinsamen Armenverbänden statt. Im 19. Jahrhundert organisiert
Bayern seine inneren Verwaltungsdistrikte und Kreise als Armenverbände, und läßt
Preußen nach dem Muster jener schlesischen Verordnung die Bildung von Samt-
gemeinden im Westen (auch in Verfolg der französischen Einrichtungen) imd von
Gesamtarmenverbänden im Osten, neuerdings die Bildung von Zweckverbänden in
- 83 -
1748 wird in vollem Umfange erst durch die Gesetzgebung von
1842 abgelöst^).
Der 19. Titel des 2. Teils ALR. handelt von Armenanstalten
und anderen milden Stiftungen. Doch sind den sehr ins einzelne ge-
henden Anstaltsbestimmungen sehr eingehende Vorschriften all-
gemeiner Natur vorangestellt. § i. »Dem Staate kommt es zu,
für die Ernährung und Verpflegung derjenigen Bürger zu sorgen,
die sich ihren Unterhalt nicht selbst verschaffen, und denselben
auch nicht von anderen Privatpersonen, welche nach besonderen
Gesetzen dazu verpflichtet sind, erhalten können.« §4: »Fremde
Bettler sollen in das Land nicht gelassen oder darin geduldet
werden, und wenn sie sich gleichwohl einschleichen, sofort über
die Grenze geschafft werden«. § 5. »Auch einheimischen Armen
soll das Betteln nicht gestattet, sondern dieselben an den Ort
wohin sie gehören, und wo für sie nach den Vorschriften des
gegenwärtigen Titels gesorgt werden muß, zurückgeschafft wer-
den.« Die nächsten Paragraphen handeln von den vorbeugenden
staatlichen Maßregeln. § 9 handelt von den privilegierten Kor-
porationen überhaupt, nach § 10 müssen insbesondere »auch
Stadt- und Dorfgemeinden für die P2rnährung ihrer verarmten
Mitglieder und Einwohner sorgen.« § 11. »In Ansehung aus-
drücklich aufgenommener Mitglieder entsteht die Verbindlichkeit,
sobald die Aufnahme wirklich geschehen ist.« § 12. *In An-
sehung anderer Einwohner hingegen ist nur diejenige Stadt- oder
Dorfgemeinde zur Ernährung eines Verarmten verpflichtet, bey
welcher derselbe zu den gemeinen Lasten zuletzt beigetragen
hat.« § 15- »Aller Armen und Unvermögenden, denen ihr Unter-
halt auf andere Weise nicht verschafft werden kann, muß die
Polizeiobrigkeit eines jeden Ortes ohne Unterschied des Standes
und sonstigen Gerichtsstandes derselben sich annehmen.« § 16.
»Arme, deren Versorgung nach obigen Grundsätzen einzelnen
der ganzen Monarchie zu, zur besseren Durchführung der allgemeinen Kommunal-
aufgaben.
Somit ist die Wirkung der Armenverbände eine zweifache : einmal erleichtern
die Ortsarmenverbände den Pflichtigen Gemeinden die Durchführung einer guten
Armenpflege ; andererseits ermöglichen die Landarmenverbände der gesamten Be-
völkerung eine größere Bewegungsfreiheit. Sie sind das Korrelat der Freizügigkeit.
Auf diesen Boden hat sich auch die neue deutsche Armengesetzgebung gestellt.
i) Vgl. unten Kap. 6.
6*
- 84 -
Privatpersonen, Corporationen, oder Communcn nicht obliegt,
oder von denselben nicht bestritten werden kann, sollen durch
Vermittclung des Staates in öffentlichen Landarmenhäusern un-
tergebracht werden.* Des weiteren wird Bettel und Almosen
überhaui)t verboten M- Ferner wird über die Art der Aufbringung
der Mittel zur Armenpflege und die Unterhaltuncj;, Hausordnung
der Armenanstalten und Befugnisse der Obrigkeiten gehandelt.
Eine Armensteuer soll nicht stattfinden. Die Armenanstalten
haben das Recht der Erbfolge gegen ihre Insassen und des Er-
satzes ihrer Aufwendungen, sowie der Flntgegennahme von Schenk-
ungen 2). An die Stelle der Generaldirektionen der Landarmen-
häuser treten später die Regierungen, welche überhaupt das Ar-
menwesen verwalten. Die oberste Gewalt hierüber hat das Mi-
nisterium des Innern. Die Sorge des Staates besteht in Preußen
nicht in der Pflege selbst, sondern in der Einrichtung vorbeugen-
der Anstalten und Beseitigung von Anstalten, welche die Armut
befördern ^J. »Die Sorge des Staates besteht ferner darin, daß
er die Verpflichteten zur Leistung der Armenpflege anhält, nicht
aber, daß er die Fonds dazu hergebe.« Die Armenpflege ist also
durchaus Sache der Selbstverwaltung, wenn auch die staatliche
Aufsicht besonders aus Gründen der Sicherheit sehr scharf ist.
Fremde Bettler und Betteljuden sind unter allen Umständen zu
beseitigen oder fest unterzubringen. Sehr eingehend wird das
Transportwesen geregelt in Fortbildung älterer provinzieller Be-
stimmungen *).
Was nun den Kreis der zu unterstützenden Armen einer Ge-
meinde betrifft, so unterscheidet das Landrecht ^Mitglieder und
Einwohner. Ueber die Mitglieder wird das nähere im 7. und 8.
Titel ALR. Teil 2 bestimmt. »Die Besitzer der in einem Dorfe
oder in dessen Feldmark gelegenen bäuerlichen Grundstücke
machen zusammen die Dorfgemeine aus.« »Nur die angesessenen
Wirthe nehmen, als Mitglieder der Gemeinen, an den Berathschla-
gungen derselben Teil.« In den Gutsherrschaften findet nur das
i) Mutwillige Belik-r müssen zur Arbeit angehalten, sonst bestraft werden.
ALR. 2, 20, § 4. Zur Durchführung dieser Ordnungen werden Bettelvügte an-
gestellt. Edikt 1748, § 13 Zelter, Armenpolizei S. 7 und 15.
2) Verordn. 27. Okt. iSio und 16. Juni 1830. Zeller, S. I und 2.
3) Min.-Reskr. 8. Jan. 1830. Zeller, S. 90.
4) Generaltransportinstruktion 16. Sept. 1816. Zeller, S. 24. ALR. 2, 7,
§§ 18, 20, 113.
- 85 -
Verhältnis der Untertänigkeit statt, welches durch die Ansässig-
keit begründet wird. Doch können auch Personen des »gemeinen
Bürger- und Bauernstandes ohne Uebernahme eines unterthänigen
Grundstückes in einem Dorfe sich niederlassen. Derartige Ein-
lieger werden Schutzunterthanen genannt.« In den Städten werden
die Mitglieder Bürger und die sonstigen Einwohner Schutzver-
wandte genannt. Bürger, welche aus irgend einem Grunde von
der Gerichtsbarkeit ihres Wohnortes befreit sind, heißen Exi-
mierte. Doch ist dies nur in privatrechtlicher Hinsicht erheblich.
Das Bürgerrecht ist in der Regel die Vorbedingung des Gewerbe-
betriebes und an folgende Voraussetzungen gebunden : privat-
rechtliche Freiheit (für Gutsuntertanen), Freiheit in militärischer
Hinsicht, Majorennität, unbescholtener Wandel und Fähigkeit zum
Gewerbebetriebe. Treffen diese Bedingungen zu, so darf das
Bürgerrecht nicht verweigert werden ; allerdings können durch
Ortsstatut Beschränkungen darüber hinaus eingeführt werden.
Jeder Bürger muß den Bürgereid leisten. Auch Bürgerkinder
müssen das Bürgerrecht für ihre Person erwerben. Das Bürger-
recht wird durch Verlegung des Wohnsitzes verloren ; wird wo
anders kein neuer Wohnsitz begründet, so findet die gewöhnliche
Verjährung statt ^). »Schutzverwandte sind, auch für ihre Perso-
nen, der Jurisdiction der städtischen Obrigkeiten der Regel nach
unterworfen.« »Solange sie das Bürgerrecht nicht erworben ha-
ben, dürfen sie weder bürgerliche Gewerbe treiben, noch andere
Rechte wirklicher Bürger ausüben.« »Inwiefern sie zu den bür-
gerlichen Lasten mit beitragen, und Abgaben an die gemeine
Stadt zu entrichten schuldig sind, hängt von der besonderen Ver-
fassung eines jeden Ortes ab '^). «
Nach dem Wortlaut des Gesetzes könnte zunächst die Mei-
nung entstehen, als ob nur der tatsächliche Beitrag zu den Ge-
meindelasten diese zur Unterstützung verpflichtete, in allen an-
deren Fällen hingegen der Staat — oder vielmehr die Provinz ■ —
die Verpflegung in den Landarmenhäusern zu übernehmen habe.
Die Praxis ist dieser Auslegung jedenfalls nicht gefolgt, sondern
der älteren Observanz des Ediktes von 1748. Ein Ministerial-
reskript vom 28. November 1825 verpflichtet die Schutzverwandten
i) Buch 2, 8, §§ 14 ff.
2) Ebenda §§ 72 ff. Ferner Min.-Reskr. 2. Juli 1801 stellt allgemein 3 jährigen
Aufenthalt als Bedingung auf.
— 86 —
auch zu ]>eiträgcn zur Armenpflege und sichert ihnen dafür An-
spruch auf Verpflegung zu. Ein anderes vom 26. Januar 1S22
führt ausM: »Da ein Jeder, der in der Stadt ein Domizil genom-
men hat, verhältnismäßig zu den Lasten herangezogen werd(-n
kann ; so ist es Schuld der Communen, wenn dies nicht geschehen
ist. An manchen Orten wird gar keine Abgabe zu den Commu-
nallasten erhoben, sondern alle Lasten werden aus der Kämmerei
bestritten. Wollte man es schlechterdings zum Grundsatze an-
nehmen, daß nur Derjenige, welcher zu den Communallasten bei-
getragen hat, Ansprüche auf Armenverpflegung zu machen habe;
so würde solche Commune zur A.rmenpflege gar nicht verpflichtet
sein.« »Für einen lünwohner des Orts ist jede selbständige Per-
son zu betrachten, welche daselbst ihren festen Wohnsitz (Domi-
zil) im rechtlichen Sinne genommen hat.f »Vm Ortsarme sind
nur die wirklichen Einwohner eines jeden Orts und deren hilfs-
bedürftige Kinder zu achten.« Für den armenrechtlichen Wohn-
sitz ist also der zivilrechtliche maßgebend. Ein Min.-Reskr. vom
Jahre 1799 geht noch durchweg auf den Geburtsort zurück, doch
schon 1824 bestimmt ein Reskript vom 9. April"), daß »auf den
Geburtsort bei einem Menschen, der sein in demselben früher ge-
habtes Domizil aufgegeben hat, nicht zurückgegangen werden«
kann. Zunächst weicht der Geburtsort dem veränderten Wohn-
sitz der Eltern, denn der unselbständige Mensch kann keinen eig-
nen Wohnsitz erwerben. Dies geht aus dem Min.-Reskr. vom
4. September 1829 indirekt hervor: »Wenn aber ein Vater keinen
Domizil gehabt hat, so ermangeln auch seine ehelichen Kinder
eines Domizils, und es ist daher kein Ort vorhanden, dem sie zu-
geschoben werden können.« Ganz allgemein bestimmt ALR.
Einl. § 15: »So lange jemand noch keinen bestimmten Wohnsitz
hat, werden seine persönlichen Rechte und Verbindlichkeiten nach
dem Orte seiner Herkunft beurthcilt.«: Obwohl hierunter zunächst
nur die zivilrechtlichen Folgen gemeint sind, so leitet doch das
oben erwähnte Patent von 1804 den armenrechtlichen Status von
dem bürgerlichen ab. Es ist also das eigentliche RR. domicilium
vorliegend, welches auch die Grundlage der bayrischen Heimat
ist. Ein Domizil aber entsteht durch dreijährigen Aufenthalt. Das
Reskript von 1799 sagt: »Wenn ein Mensch drei Jahre lang an
i) Patent vom 8. Sept. 1804. N. Ediktensammlung. ZelUr, S. 102.
2) Vgl. ZelUr, S. 102 ff.
- 87 -
einem Ort sich aufgehalten hat, so liegt dem Orte die Verbind-
lichkeit ob, ihn, wenn er verarmt, zu verpflegen.« Entsprechend
das Patent 1804: -Die Verpflichtung zur Verpflegung der Armen
liegt den Landarmenanstalten ob, wenn ein Armer noch nie einen
eignen Wohnsitz gehabt hat, seine Eltern gestorben sind, und der
Arme länger als drei Jahre von dem Orte des letzten Wohnsitzes
der Eltern abwesend gewesen ist. Der Wohnsitz wird also in
drei Jahren ebenso erworben wie verloren^). Ebenso die Allg.
GerichtsO. i, 2, §23: »Derjenige welcher, ohne irgendwo einen
Wohnsitz genommen zu haben, den Gerichtsstand seiner Herkunft
schon seit länger als drei Jahren verlassen hat, oder dessen Ge-
burtsort unbekannt oder außerhalb der Königlichen Lande ge-
legen ist, ist als ein Vagabunde im rechtlichen Sinne zu betrach-
ten« 2). Zum Domizil gehört neben der bloßen Befugnis und Ge-
legenheit zu wohnen auch die persönliche Anwesenheit (Pat. 1804).
Mithin wird »die Domizilierung hauptsächlich dadurch bestimmt,
wenn Jemand sich an einem Orte persönlich und in der Absicht
zu bleiben, aufgehalten hat.« Es ist nicht zulässig, diesen Begriff"
noch anderweitig zu verengen. »Die Absicht, seinen beständigen
Wohnsitz an einem Orte nehmen zu wollen, kann sowohl aus-
drücklich, als durch Handlungen oder Tatsachen geäußert wer-
den« (Allg. GerO. i, 2, § 10). Ein Amt oder jede Art der Ansäs-
sigmachung und dauernder Beschäftigung lassen diese Absicht, den
Wohnsitz zu begründen, vermuten. Es gibt also für das Domizil
keine besondere Aufnahme und Bedingungen, sondern nur Er-
sitzung mit der bez. Absicht oder Geburt. Wieweit kommt nun
noch die obrigkeitliche Erlaubnis in Betracht > Diese Frage muß
gestellt werden, da sie vor allem den Maßstab der bestehenden
Zugbeschränkungen bildet.
Die Einschränkungen in der freien örtlichen Bewegung sind
hauptsächlich privatrechtlich begründet^). Die Untertänigkeit er-
streckt sich zuvörderst auf diese Seite der menschlichen Rechte.
Die ländliche Bevölkerung war zum größten Teil untertänig, für
i) »Nach ost- und westpreußischen Provinzialgesetzen ist eine i jährige Ab-
wesenheit nach erlangter Majorennität hinreichend, den Ort von der Verbindlich-
keit der Armenpflege zu befreien.« Min.-Reskr. 13. Dez. 1829.
2) »Es ist mithin ein Vagabunde ein Mensch, der keine Heimath hat« im
Min.-Reskr. 7. Mai 1818 aus der Definition der GerO. unter direkter Uebertragung
aus dem privaten in das öfFenthche Recht hergeleitet.
3) Vgl. hierzu Ze/Zer S. 104 fF.
— 88 —
diese kamen also öffentliche Zuf^beschränkungcn in letzter Linie
in Betracht '). Die öffentlichen Hintlcrnisse waren vornehmlich
solche militärischer und sicherheitspolizeilicher Art. Dagej^^en
treten die armenrechtlichen gegenüber den bayrischen sehr stark
zurück. Das Patent von 1S04 bestimmt in i^ 18: »Einer Person,
welche nicht zur Klasse der Armen gehört und in einer Commune
Wohnung und Unterhalt finden kann, darf die Aufnahme in einer
anderen Commune nicht verweigert werden.* Die bloße Besorg-
nis, daß jemand künftig verarmen und auf Almosen Anspruch
machen könne, reicht nicht hin, um ihm den Aufenthalt an einem
Orte zu verweigern. Die Wohnurig muß er sich selbst verschaffen ;
verliert er die eingerichtete Wohnung durch Kündigung oder sonst
und kann keine andere bekommen, so kann er deswegen nicht
ausgewiesen werden, sondern muß reihenweise beherbergt werden.
Doch soll diese gewährte Wohnung möglichst den Charakter der
Armenpflege haben, um den Betreffenden anzutreiben, sich eine
Wohnung recht schnell zu verschaffen. Die Aufnahme kann auch
keiner Person versagt werden, deren Aufführung keinen rechtlichen
Grund zu ihrer Entfernung an die Hand gibt-). Hierzu bemerkt
Merket'^): »Wenn das Patent sich nicht ausspricht, welches Ver-
schulden in der Aufführung einer Person einen rechtlichen Grund
zu ihrer Fortweisung an die Hand gibt; so muß vorausgesetzt
werden, der Gesetzgeber habe bei der Fassung des Patents die
Ueberzeugung gehabt: es sei der von ihm in das Patent auf-
genommene Satz durch frühere Gesetze, durch Verordnungen
oder' Observanz bereits allgemein verständlich und so bekannt,
daß solcher keines Kommentars bedürfe. Halten wir uns bei
der Auslegung des Satzes lediglich an die bis auf die neuere
Zeit übergegangene Observanz; so waren Trunksucht, der Hang
zu Widersetzlichkeit gegen obrigkeitliche Anordnungen und die
Verübung gemeiner Verbrechen die vorzüglichsten Thatsachen,
welche als Verschuldungen gegen die gute Aufführung ange-
sehen worden sind.« Nur für Berlin bestehen besondere Be-
stimmungen. Die Haupt- und Residenzstadt soll möglichst rein
gehalten werden, indem sich dort schon ohnedies genug licht-
scheues Gesindel aufhält. Entlassene Sträflinge dürfen nicht des-
i) Für diese bestand FZ. nach abgeleisteter Kantonalpflicht.
3) ALR, 2, 7, §§ 163, 164. Allg. GerO. i, 2, § 13 und 24.
3) Erwerb der Heimath und die solidarische Verpflichtung zur Armenpflege.
Zitiert bei ZelUr Bd. 14.
\
- 89 -
halb an der Niederlassung gehindert werden, sie dürfen sich in
einer Gemeinde aufhalten, erwerben aber dort das Heimatrecht
nur bei guter Führung. Widrigenfalls sie auch gleich ausgewiesen
werden. Der Gesindedienst allein begründet keinen Wohnsitz.
Die Dienstboten sind zwar keine Vagabunden, erwerben aber
keinen Wohnsitz durch den Dienst allein, weil sie den Personen,
die unter einem Vormund stehen, rechtlich gleichgeachtet werden.
Begründen sie neben ihrem Dienst eine eigene Niederlassung, so
erwerben sie auch den Wohnsitz. Natürlich wird durch diese
Freiheiten die Verpflichtung einer zuziehenden Person, sich bei
der Obrigkeit zu melden, in keiner Weise berührt, ja diese ist
sogar die notwendige Voraussetzung für die Durchführung der
polizeilichen Ortsaufsicht. Pässe werden nur den eigentlichen
Bettlern zu Transportzwecken und den untertänigen Personen in
Gestalt von Erlaubnisscheinen zum Wegzug ausgestellt und be-
gründen für diese Personen erst das Aufenthaltsrecht ^). Hierbei
soll die Herrschaft »keinem Unterthan die Entlassung bewilligen,
der nicht vorher auf eine glaubhafte Weise angezeigt hat, womit
er sich künftig im Lande nähren wolle«. Widrigenfalls die Herr-
schaft zur Uebernahme im Falle der Verarmung verpflichtet ist.
Dies aber fällt nur mit dem allgemein statuierten Verlust des
Domizils zusammen. Ueberhaupt sind die Untertanen eben an
die Scholle gebunden, doch nur auf Grund privatrechtlicher Titel,
welche durch Vertrag geändert werden können.
Die Verehelichung unterliegt von vornherein nur der Ein-
willigung der Eltern oder des Vormundes, wenn die allgemeinen
Bedingungen erfüllt sind ^). Ehehindernisse sind nur: nahe Ver-
wandtschaft, Polygamie, Ehebruch, Trauerjahr, Ungleichheit des
Standes zwischen Adeligen und Bauern. Die Eltern sollen die
Eheschließung verhindern, wenn erhebliche Gründe vorliegen ^) ;
dies sind Besorgnis, »daß den künftigen F^heleuten das nöthige
Auskommen fehlen würde,« Verurteilung zu einer infamierenden
Strafe, Trunkenheit, Liederlichkeit, gewisse Krankheiten. Gegen
die Entscheidung der Eltern findet die richterliche Entscheidung
statt. Die eigentliche Verwaltung hat also mit der Eheschließung
als solche nichts zu tun, diese bleibt vielmehr völlig im Rahmen
des privaten Familienrechts. Zwischen Christen und Juden findet
1) ALR. 2, 7, § 498.
2) Ueber Untertanen vgl. ALR. II, 7, § 161 — 170.
3) ALR. 2, I, §§ 59-65.
— 90 —
keine Ehe statt. Der Trauuni,^ muß ein kirchliches Aufj^ebot in
den Wohnsitzen beider Verlobter vorangehen, für das Gesinde
auch in der Aufenthaltsgemeinde'). Nur »Untertlianen sind bey
ihrer vorhabenden Heirath die herrschaftliche Genehmigung nach-
zusuchen verbunden«. »Die Herrschaft aber kann ihnen die Er-
laubnis ohne gesetzlichen Grund nicht versagen«, sie hat also
etwa die Stellung der Eltern. Ehen ohne diese Erlaubnis sind
zudem gültig, werden aber polizeilich geahndet. Aus Armen-
rücksichten kann nur die l'2he unter Verarmten zwar nicht ge-
hindert, aber doch bedingt werden^). Die Gemeinde des armen
Mannes kann zwar >> diese Ehe nicht hindern, indessen kann der
Magistrat des Wohnorts demselben aufgeben, vor Vollziehung
der Ehe die Zustimmung der Gemeinde, wo die Braut desselben
ihren Wohnsitz hat oder gehabt hat, beizubringen, weil die Ge-
meinde des Wohnsitzes des Bräutigams auch nach eingegangener
und durch den Tod getrennter Ehe von der Gemeinde des ge-
wesenen Wohnorts der Braut die Rücknahme derselben zur Ver-
pflegung nach § 1 1 des Patents vom 8. September 1804, verlangen
kann«. Diese Bestimmung ist nur die Folge des anderen Grund-
satzes in demselben Patent, wonach nur der Beweis der früheren
Verarmung die neue Gemeinde zur Abweisung des Verarmten
berechtigt.
Ebenso wie Bayern erlebt Preußen im ersten Jahrzehnt des
19. Jahrhunderts eine große Umwälzung seiner innerpolitischen
und sozialen Zustände, die Stein-Hardenbergsche. Reform. Diese
hat zwar unmittelbar mit der Armenpflege nichts zu tun, aber
ihre Wirkungen erstrecken sich mittelbar doch auf sie. Durch
die Verordnung vom 9. Oktober 1807 und 28. September wird
die Leibeigenschaft, Erbuntertänigkeit und überhaupt das Unter-
tänigkeitsverhältnis gänzlich aufgehoben und dadurch eine Un-
masse bisher privatrechtlicher Bindungen beseitigt, die Masse der
ländlichen Bevölkerung kommt für den Verkehr jetzt erst in Be-
tracht und gegen die Mitte des Jahrhunderts tatsächlich in Be-
wegung. Der Güterverkehr und die Berufswahl werden völlig
freigestellt. Die Verehelichung ist künftig privatrechtlich nur noch
durch Familienrücksichten beschränkt. Das Edikt über die Ein-
führung einer allgemeinen Gewerbesteuer vom 2. November 18 10
i) ALR. 2, 7, § 161 ff.
2) Min.-Reskr. 28, Sept. 1829 nach Zeller, S. 106.
— 91 —
gestattet die Verlegung des Wohnsitzes ohne alle Einschränkung,
stabiliert hierdurch also den Grundsatz der Freizügigkeit. Es war
hier bei weitem nicht derselbe klaffende Unterschied zwischen
dem i8. und 19. Jahrhundert wie in Bayern, aber die einsetzende
Verschiebung in der Bevölkerung machte doch aus Gründen der
Sicherheit und öffentlichen Ordnung wie der Armenfürsorgepflicht
eine umfassende Neuregelung notwendig. Diese wurde verwirk-
licht durch die Gesetzgebung des Jahres 1842^). Am 31. Dezember
l) Ges. -Samml. S. 5 ff., Bd. 1843. Dohl, Armenpflege. Bilzer, Recht auf
Armenunterstützung. Flottwell, Obertrib. Von höchstem Interesse für die Be-
urteilung der gesetzgeberischen Arbeit sowohl wie der Tendenzen dieser Gesetz-
gebung ist ihre Geschichte, welche Flottwell in den Aufsätzen: »Das Bundesgesetz
über den Unterstützungswohnsitz, seine Väter und seine Feinde« und »Das Bundes-
gesetz über die Freizügigkeit« in den Preußischen Jahrbüchern, Bd. 43, S. 588,
Bd. 44, S. 8 und Bd. 45 S. 602 nach den Akten des Staatsarchivs schildert.
Die ersten Schritte der Regierung in dieser Sache fallen in die Jahre 1825
und 183 1. In diesem letzteren Jahr ging den Provinziallandtagen ein diesbezüg-
licher Gesetzentwurf zu, welcher von ihnen einer eingehenden Kritik unterzogen
wurde. Der Hauptgrundsatz des Entwurfs lautete: »daß vor allen Dingen die
Heimath oder das Domizil über die Verpflichtung zur Armenpflege zu entscheiden
habe, in den Fällen aber, wo der Begriff der Heimath oder des Domizils nicht aus-
lange, suppletorisch der eine gewisse Zeit hindurch fortgesetzte Aufenthalt am Orte
maßgebend sein solle.« Der Aufenthalt sollte also die alten Prinzipien nicht so-
wohl verdrängen als vielmehr ergänzen. Es wird weiter ausführlich der verbreiteten
Ansicht entgegengetreten, als ob unter der Heimat der Geburtsort zu verstehen sei.
Dies ist nicht der Fall, vielmehr kommt nur die Heimat oder der Wohnsitz der
Eltern in Betracht. Es soll nun künftig mehr als bisher auf die Wohnsitzabsicht
und auf den moralischen Anspruch des mehrjährigen bloßen Einwohners gesehen
werden. »Um die Lücke auszufüllen, welche der Begriff des Wohnsitzes im recht-
lichen Sinne des Wortes gelassen«, .... »ist die Gesetzgebung offenbar die
beste, welche das generellste Prinzip und das erkennbarste Merkmal aufstellt, und
dieses ist in Beziehung auf Niederlassung und Erwerbung der Armenrechte, in Er-
mangelung ausdrücklicher Aufnahme und sonst unzweifelhafter Begründung des
Wohnsitzes, die an den Aufenthalt in einem bestimmten Lebensberuf geknüpfte
Folge der Erwerbung des Heimathrechts, an einen Aufenthalt, dessen Dauer nicht
zu kurz bestimmt ist, um den Schluß auf die Absicht der Erwählung des —
dauernden — Wohnsitzes daraus zu ziehen, und nicht so lange, daß durch den
Ablauf der Zeit die Ermittlung und Erkenntnis der Verhältnisse des zu Unter-
stützenden schwer geworden, und bei der Gemeinde, welche er verlassen, das Inter-
esse an seiner Person für erloschen erachtet werden muß « Der Aufent-
halt als Kriterium, einen Wohnsitz zu begründen, darf seiner Dauer nach nicht zu
kurz sein. Der Grund davon leuchtet ein, er liegt in den Worten; aber die Frist,
an welche die rechtliche Präsumtion der von Anfang an vorhandenen Absicht der
Niederlassung mit ihren Folgen zu knüpfen ist, darf auch nicht zu geräumig fest-
gesetzt werden, sonst verwickelt sich die Administration in nicht minder große
— 92 —
ergingen die Gesetze über die Aufnahme neu anziehender Per-
sonen, über die Verpflichtung zur Armenpflege, über die Erwer-
bung und den Verlust der Eigenschaft als preußischer Staats-
angehöriger, sowie über die Bestrafung der Landstreicher, Bettler
und Arbeitsscheuen. Dieses letztere erst am 6. Januar 1843. l^ie
Verwaltung hatte vorher schon nach und nach einzelne Folge-
rungen der veränderten rechtlichen und wirtschaftlichen Verhält-
nisse gezogen, wovon die oben mehrfach angeführten Ministerial-
reskripte zeugen ; aber grade dadurch war ein unsicherer Rechts-
zustand erzeugt worden, welcher eine Kodifizierung des allmählich
sich herausbildenden Rechts ebenso wie die Aenderung und Neu-
aufnahme einzelner Bestimmungen notwendig machte. Schließlich
sollte das Gesetz ein einheitliches Armenrecht für die gesamte
Monarchie schaffen. § 36 des Armengesetzes hebt denn auch
alle bisherigen sowohl allgemeinen wie besonderen Bestimmungen
über die hier behandelten Gegenstände auf.
Die öffentliche Armenpflege tritt nur subsidiär ein, wenn
privatrechtliche Ansprüche nicht vorhanden oder nicht durchzu-
setzen sind. Es werden Orts- und Landarmenverbände unter-
schieden. Die Landarmenverbände treten ein, im Falle kein ver-
Schwierigkeiten, als jene sind, davon sie enthoben werden soll. Wer in einem
bestimmten Lebensberuf sich ein Jahr lang in einer Gemeinde aufgehalten, von
dem ist anzunehmen, daß er die Zwecke des Zusammenlebens gefördert, der Ge-
meinde genützt, Bekannte und Freunde erworben hat.c
Von den Landtagen sprach sich der rheinische gegen das Prinzip der obli-
gatorischen Armenpflege überhaupt und zugunsten der französischen hier in
Geltung gewesenen Einrichtungen aus ; der westfälische wollte an dem alten
deutschen Heimatprinzip festhalten ; aber alle anderen (östlichen) Provinzen erklärten
sich einhellig einverstanden mit den Grundsätzen des Gesetzes. Nur wurde auf
Verlangen des schlesischen und brandenburgischen Landtags die Ersitzungsfrist
auf drei Jahre für diejenigen, bei welchen nicht von vornherein die Absicht des
dauernden Wohnsitzes gemutmaßt werden kann, also, vornehmlich Arbeiter, Dienst-
boten und Einlieger, festgesetzt.
Es ist hier bemerkenswert, daß gerade die konservativen, östlichen agrarischen
Teile der Monarchie es in ihrem Interesse gelegen fanden, dem Grundsatz mög-
lichster Freizügigkeit zuzustimmen — — bei der Beratung des Ergänzungsgesetzes
1855 allerdings trat bereits die Erste Kammer für den stärkeren Schutz der An-
zugsgemeinde ein . Es entspricht dies der parallelen Haltung in rein wirt-
schaftlichen Dingen, der freihändlerischen Richtung der konservativen Agrarier und
Kornproduzenten, solange eine überseeische Konkurrenz nicht zu befürchten war.
Dieselbe Schwenkung jener Kreise in beiden Materien trat erst ein mit der kolos-
salen Steigerung der Bahnbauten und der damit zusammenhängenden Landflucht
und mit der Ausbildung der überseeischen Verkehrstechnik auch für landwirtschaft-
liche Produkte.
— 93 —
pflichteter Ortsarmenverband vorhanden ist. Die Gemeinde hat
die Armenpflege zu übernehmen, wenn der Verarmte als Mitglied
ausdrücklich aufgenommen ist, oder nach Maßgabe des Gesetzes
einen Wohnsitz erworben hat, oder endlich nach erlangter Groß-
jährigkeit drei Jahre lang vor dem Zeitpunkt, in welchem seine
Hilfsbedürftigkeit hervortritt, seinen gewöhnlichen Aufenthalt ge-
habt hat. Gutsherrschaften, Land- und Stadtgemeinden stehen
sich in dieser Beziehung gleich. Verschiedene selbständige Ge-
meinden können zu Ortsarmenverbänden ^) zusammengeschlagen
werden. Wo noch keine Landarmenverbände bestehen, sollen
sie schleunigst eingerichtet werden. Was nun die Aufnahme
selbst betrifft, so bemißt sie sich nach den Bestimmungen des
ALR. über Erwerb des Bürgerrechts und der Mitgliedschaft in
den Stadt- bez. Landgemeinden wie bisher. Die Erwerbung
des Wohnsitzes wird in dem Gesetze über die Aufnahme neu
zuziehender Mitglieder eingehend geregelt. Darnach kann keinem
»selbständigen Preußischen Unterthan an dem Orte, wo er eine
eigne Wohnung oder ein Unterkommen sich selbst verschaffen
kann, der Aufenthalt verweigert oder durch lästige Bedingungen
erschwert werden«.
Es wird also die Freizügigkeit in vollem Umfange sta-
tuiert. Ausnahmen finden nur statt durch Strafurteil oder als
Nebenstrafe im Interesse der öffentlichen Sicherheit in der
Form der Polizeiaufsicht, gegen Ausländer und . Juden. Hin-
sichtlich des Aufenthaltsrechts wird kein Unterschied gemacht
zwischen Bürgern und Schutzverwandten, Gemeindemitgliedern
und Beisassen oder Einliegern. Die Selbständigkeit, welche hier
verlangt wird, ist nur die öffentliche, nicht die durch private
Verträge, Dienst usw. einzuschränkende ^). Ihre Vorbedingung
sind nach der Gerichtsordnung Geschäftsfähigkeit und Großjährig-
keit. Infolgedessen kann nunmehr abweichend von der bisherigen
Praxis auch Gesinde den Armenwohnsitz erwerben, wenn auch
nicht der Dienst selbst, sondern nur der damit verbundene drei
Jahre lang fortgesetzte Aufenthalt in der Dienstgemeinde den
Wohnsitz begründete^). Das Patent von 1804 sah die Dienst-
1) Derartige Ortsverbände sind zuerst in Preußen begründet durch die Vor-
schrift des Edikts vom 14. Dez. 1747 wegen Ausrottung der Bettler in Schlesien
und über die Konkurrenz der Guts- und Dorfgemeinden bei der Verpflegung.
2) Vgl. Döhl S. 84, Flotiwell, Grundsätze des Obertribunals.
3) Flottwell führt einen hierauf bezüglichen Streit zwischen Obertribunal und
Ministerium an. ObTr. hielt in Entsch. 24. Juni 1857 an der alten Auffassung fest,
— 94 —
boten noch als Unselbständige an, welche also überhaupt auch
durch noch so langen Dienstaufenthalt den Wohnsitz nicht er-
werben können. Der armenrechtlich die Gemeinde verpflichtende
Wohnsitz beginnt erst mit der Meldung des Anziehenden bei der
Ortsobrigkeit, welche im Gesetz vorgeschrieben ist. Jedoch kann
die Unterlassung dieser Meldung den Erwerb des Wohnsitzes
durch dreijährigen Aufenthalt nicht hindern ^).
Der Unterschied des Wohnsitzerwerbs kraft Wohnung und
Aufenthalt besteht einmal darin, daß mit der Einrichtung einer
eigenen Wohnung die Absicht, den Wohnsitz zu ergreifen, ebenso
deutlich zum Ausdruck kommt wie durch eine Erklärung ; daß da-
gegen der bloße Aufenthalt ohne Begründung eines eignen Haus-
halts, welcher in einer Schlafstelle, auch im Gasthof genommen
werden kann, die Absicht zu bleiben erst aus seiner längeren Fort-
setzung — drei Jahre lang — ex post erkennen läßt. Dieser Auf-
enthalt braucht aber nur der gewöhnliche zu sein, nicht ununter-
brochen, doch muß eben die Absicht zu erkennen sein. Es liegt
also hier die RR. Bedingung des »animus permanendi« vor, ferner
»domicilium« und »adoptio«. »Nativitas« ist ausgeschaltet. Der
Erwerb durch Aufenthalt ^) hat alle Merkmale der Ersitzung, indem
indem es aus der GerO. die Bestimmungen über den Gerichtsstand auf den Wohn-
sitz übertrug. Das Ministerium hielt an der Unterscheidung fest und wies vor allem
nach, daß den Dienstboten durch das Armengesetz mit der Gleichstellung mit den
Fabrikarbeitern, deren Wohnsitzerwerb nicht bestritten wurde, auch Selbständigkeit
im Sinne des Gesetzes verliehen sei. Min.R. 30. April 1860. Uebrigens mußte die
Aufenthaltsgemeinde nach ArmGes. auch vor Wohnsitzervverb erkrankte Dienstboten
verpflegen.
1) Auch hierüber bestand Verschiedenheit in der Auffassung zwischen dem
Obertribunal und dem Ministerium. Jenes hatte in der Entsch. 24, Okt. 1854 die
Ausstellung des Meldescheins, welcher im Gesetz vorgeschrieben war, als wesentliche
Bedingung des Wohnsitzervverbs hingestellt, so daß also durch Unterlassung der
Ausstellung der Wohnsitzervverb verhindert würde. Der Meldeschein wurde gleich-
gestellt der Naturalisationsurkunde nach Ges. vom 31. Dez. 1842, welche zugleich
die Niederlassungserlaubnis in sich enthält. Diese hat aber eine andere Bedeutung:
für Ausländer besteht ein allgemeines Niederlassungsrecht nicht, dieses muß ihnen
also durch eine Urkunde erst verliehen werden. Entsprechend würde in gleichem
Falle die Freizügigkeit aufgehoben sein, wenn jede Niederlassung an eine besondere
Erlaubnis gebunden wäre. Für Inländer ist die Niederlassung generell erlaubt, und
ihre nach Gesetz erfolgende Versagung ist eine Ausnahme. Die Meldung hat so-
wohl sicherheits- wie armenrechtliche Bedeutung. Sie soll der Gemeinde die Mög-
lichkeit geben, sich nach einer zuziehenden Person zu erkundigen, ob ein Grund
zu ihrer Ausschließung vorliegt.
2) Der so freigestellte Aufenthalt hat natürlich auf andere Rechtsverhältnisse
i
- 95 —
er auch ohne Kenntnis der Obrigkeit bei Unterlassung der Meldung
erworben wird. Das Moment der Absicht tritt so beherrschend in
den Vordergrund, daß die tatsächliche Ansässigmachung in Be-
ziehung auf Gemeindebeiträge und Armendomizil durch Erklärung,
den Wohnsitz nicht ergreifen zu wollen, unwirksam wird ^).
Verloren wird der Wohnsitz im öffentlich-rechtlichen Sinn
nur durch dreijährige fortgesetzte Abwesenheit, gleichgültig, ob
in dieser Zeit nach obigen Bestimmungen ein anderer Wohnsitz
erworben wird oder nicht. Doch ist diesem Mangel eines Wohn-
sitzes der Charakter als Vagabundentum genommen, in Verfolg
des Grundsatzes der Freizügigkeit; Aufenthalt ohne Wohnsitz-
begründung führt die Eigenschaft als Landarmer herbei, welcher
von der Provinz zu verpflegen ist.
Die Besorgnis vor künftiger Verarmung gibt der Gemeinde
kein Recht, einen Zuziehenden abzuweisen^). In dieser Hinsicht
namentlich Bürgerrecht, Steuerpflicht, Teilnahme an Gemeindenutzungen usw. keinen
Einfluß. § 12.
1) Auch das andere im § 14 gegebene Mittel, unvermögende Gemeinden durch
Zuschüsse aus dem Landarmenfonds zu unterstützen, hat verhältnismäßig wenig
Erfolg, weil Anwendung gefunden. Die Schwierigkeiten eines Maßstabs für die
Bemessung der Gemeindelasten sind zu groß gewesen,
2) Interessant und wichtig ist die Geschichte dieser Bestimmungen, auf welche
hier kurz eingegangen werden mag. Nach Flottivell und Arnold.
§ 14 des Entwurfs eines Armengesetzes von 1825 lautete: »Keine Behörde
darf Jemand aus dem Grunde, weil dessen Verarmung künftig zu besorgen sein
möchte, in der Freiheit beschränken, seinen Aufenthalt beliebig zu wählen; Per-
sonen aber, bei denen die Armuth schon eingetreten ist, soll die Gemeinde des
anderweit von ihnen gewählten Aufenthaltsorts nur dann bei sich aufzunehmen ver-
pflichtet sein, wenn dieselben nachweisen können, daß die von ihnen gewünschte
Ortsveränderung das Mittel sei, ohne Almosen leben zu können.«
§ 9 des Entwurfs von 1831, welcher nachher endgültig den Provinzialland-
tagen zur Beurteilung vorgelegt wurde, wollte zur Erleichterung der Freizügigkeit
auch in diesem Falle den anderwärts vielfach gebräuchlichen Heimatschein ein-
führen. Er lautete: »Armen, d.h. solchen Personen, welche weder hinreichendes
Vermögen noch die Kräfte besitzen, sich und den nicht arbeitsfähigen Ihrigen die
zur Lebensnothdurft erforderlichen Mittel zu beschaffen und folglich der öffentlichen
Unterstützung bedürftig sind, kann die Niederlassung an einem anderen Orte als
dem bisherigen Wohnorte versagt werden; es wäre denn, daß .... wie 1825
oben . . . und zugleich letzterenfalls die Gemeinde, zu welcher sie bisher gehörten,
sich anheischig machte, die noch ferner nötige Unterstützung ihrerseits zu gewähren.«
§ IG desselben Entwurfs enthält schon die später in das Gesetz von 1842 über-
gegangenen Bestimmungen.
Der nach Anhörung der Landtage vom preußischen Staatsministerium fest-
gestellte Entwurf nimmt von den beiden vorgeschlagenen Bestimmungen Abstand
- 96 -
kann nur denjenigen, »welche weder hinreichendes Vermögen
noch Kräfte besitzen, sich und ihren nicht arbeitsfähii^^en An-
gehörigen den nothdürftigen Lebensunterhalt zu verschaffen,
solchen auch nicht von einem zu ihrer Ernährung verpflichteten
Verwandten zu erwarten haben, der Aufenthalt an einem an-
deren Orte, als dem ihres bisherigen Aufenthalts verweigert
werden«. »Die Besorgnis künftiger Verarmung eines Neuan-
ziehenden genügt nicht zu dessen Abweisung; offenbart sich aber
binnen Jahresfrist, nach dem Anzüge die Nothwendigkeit einer
öffentlichen Unterstützung und weiset die Gemeinde nach, daß die
Verarmung schon vor dem Anzüge vorhanden war, so kann der
Verarmte an die Gemeinde seines früheren Aufenthaltsortes zu-
rückgewiesen werden.« Also nur solche, welche im Augenblicke
ihres Anzuges bereits verarmt sind, kann die Gemeinde später
zurückweisen. Dabei ist es jedoch gleichgültig, ob dieser Zu-
stand des Zuziehenden sofort oder erst im Laufe des ersten
Jahres der Gemeinde erkennbar wird. In der Praxis hat dieser
Paragraph den auf ihn gesetzten Erwartungen nicht entsprochen.
Die Schwierigkeit, nach Jahresfrist nachzuweisen, ob ein Ver-
armter bereits im Augenblick seines Anzuges in diesem Zustand
sich befunden habe, hat den hierdurch gegebenen Schutz der
Gemeinden illusorisch gemacht.
Des weiteren wird in dem Gesetz noch die Unterstützung
der Angehörigen behandelt, worin es jedoch mit dem ALR. völlig
übereinstimmt. Die Ehefrau folgt dem Manne, die Kinder dem
und erschwert die Feststellung der bestehenden Verarmung im Augenblick des An-
zugs für die Anzugsgemeinde noch dadurch, daß dieser Armutszustand nur dann
gemutmaßt wird, wenn nachgewiesen wird, daß die betr. Person vorher in der
alten Gemeinde Unterstützung empfangen habe. Das Gesetz von 1842 ist also in
dieser Beziehung schon ein Fortschritt gegen die Vorlagen im Sinne der zu
schützenden An zu gs gemeinde, wurde aber dennoch 1855 noch mehr erleichtert,
bis es in derselben Form in das Freizügigkeitsgesetz überging.
Der endgültigen Fassung lag die Erwägung zugrunde : Genügt zur Nieder-
lassung an einem Orte das Dasein oder der Nachweis der nötigen Fähigkeiten, um
durch Arbeit irgendwelcher Art den Unterhalt zu gewinnen ? Oder soll außerdem
noch der spezielle Nachweis der an diesem Ort vorhandenen Gdegenheil zu der
qualifizierten Arbeit gefordert werden? »Diese Frage der Berücksichtigung der Ueber-
setzung wurde ebenfalls in denkbar freiheitlichem Geiste abgelehnt, da dadurch
gerade den Staatsbürgern, welche ihre Lage verbessern wollten, die Möglichkeit
hierzu durch fragliche Gemeindeinteressen beschnitten würde.«
Das Institut der Heimatscheine aber wurde abgelehnt, um die Ansammlung
von förmlichen Bettlerkolonien an bestimmten für die Armen günstig gelegenen
Orten zu verhindern.
— 97 —
Vater, uneheliche der Mutter. Scheidung und Tod des Mannes
verschaffen der Witwe den bisher unselbständigen Wohnsitz des
Mannes als selbständigen.
Die Mängel, welche sich im Laufe der Zeit in der Verwal-
tung nach Maßgabe dieses Gesetzes herausgestellt hatten, besei-
tigte das Gesetz »zur Ergänzung der Gesetze vom 31. Dezember
1842 über die Verpflichtung zur Armenpflege und die Aufnahme
neu anziehender Personen« vom 21. Mai 1855. Der Artikel i
führt nun wirklich einen besseren Schutz der Gemeinde gegen
die Neuanziehenden herbei. Die Verpflichtung zur Armenfürsorge
entsteht in denjenigen Fällen, »in welchen sie nach § i Nr. 2
des Gesetzes . . . vom 31. Dezember 1842 durch Erwerbung des
Wohnsitzes begründet werden soll , fortan nicht mehr gleich mit
der Erwerbung, sondern erst dann, wenn der Neuanziehende diesen
Wohnsitz ein Jahr lang fortgesetzt hat«.
»Ergibt sich vor Ablauf dieses Jahres, daß der Neuanziehende
sich in einem solchen Zustande der Verarmung befindet, welcher
die öffentliche Unterstützung notwendig macht, so muß der zur
Zeit dieses Ergebnisses zur Fürsorge für ihn verpflichtete Verband
denselben übernehmen.« Es wird also im Interesse der Armen-
gemeinschaft eine Karenzzeit für die Erwerbung des Wohnsitzes
geschaffen, wodurch jedoch die Freizügigkeit im bisherigen Um-
fange nicht berührt wird. Denn die Besorgnis der Verarmung
gibt keinesfalls eine Handhabe zur Ausweisung. In beiden Ge-
setzen befinden sich keine Vorschriften irgendwelcher Art über
Beschränkungen der Verehelichung. Es bleiben also diesbezüglich
die Bestimmungen des ALR. in Kraft, welche auch die Wahr-
nehmung des öffentlichen Interesses hierbei wesentlich in die
Hände der Eltern legen.
Die unmittelbare Gesetzgebung Preußens in bezug auf die
Armenpflege hatte mit dem Gesetz von 1855 ^^r Ende erreicht,
aber mittelbar hat die Gesetzgebung auf anderen Gebieten, vor
allem die kommunale auf dieselbe auch später eingewirkt. Schon
1853 hatte die Städteordnung vom 30. Mai die besondere Auf-
nahme als Bürger beseitigt, welche nach dem Gesetz von 1842
sofort den Erwerb des Armendomizils in sich schloß. Das Bür-
gerrecht trat nunmehr kraft Gesetzes ein, unabhängig von Statuten
und Verträgen bei Erfüllung folgender Bedingungen: Einwohner-
schaft während eines Jahres ohne Inanspruchnahme von Armen-
unterstützung, Zahlung der Gemeindeabgaben und Ansässigkeit
Zeitschrift für die ges. Staatswissensch. Ergänzungsheft 51. 7
- 98 -
oder Gewerbebetrieb oder Steuerminimum von 4 Talern. In den
Landgemeinden trat der Erwerb des Bürgerrechts, hier Gemcinde-
mitgliedschaft genannt , weiterhin unverändert auch nach den
neuen Landgemeindeordnungen mit der Ansässigkeit durch ein
Wohnhaus ein.
Weiterhin wurden neue Bestimmungen über die Eintritts-
gelder getroffen: Das alte seit 1809 für ganz Preußen zugelassene
Bürgerrechtsgeld wurde durch die Gemeindeordnung von 1850
generell verboten. Die späteren Gemeinde- und Städteordnungen
führten statt seiner dann Abgaben für den Anzug und die Be-
gründung eines eigenen Hausstandes ein. Das Gesetz über das
städtische Einzugs-, Bürgerrechts- und Einkaufsgeld vom 14. Mai
1860 schaffte die in den alten Provinzen bestehenden Eintritts-
und Hausstandsgelder wieder ab und führte statt ihrer wieder
Bürgerrechtsgelder ein, w'elche durch Gemeindestatut beschlossen
werden konnten, in der ganzen Monarchie. Die endgültige Rege-
lung dieser Materie brachte das Gesetz vom 2. März 1867 über
die Aufhebung der Einzugsgelder, welches für die alten Provinzen
durch den § i alle etwa noch bestehenden Einzugsgelder aufhob ^).
»Vom I. Juli 1867 ab darf in den Provinzen Preußen, Branden-
burg, Pommern, Schlesien, Sachsen, Westfalen und in der Rhein-
provinz von Neuanziehenden ein Einzugs- oder Eintrittsgeld oder
eine sonstige besondere Kommunalabgabe wegen des Erwerbes
der Gemeindeangehörigkeit — der Niederlassung am Ort — nicht
mehr erhoben, auch kein Rückstand an solchen Abgaben mehr
eingefordert werden.«
Damit ist diese Möglichkeit, die Freizügigkeit durch Ver-
mögensrücksichten zu beschränken, völlig beseitigt. Weiter be-
stehen also nur mehr Bürgerrechtsgelder infolge Gemeindestatut,
Einkaufsgelder als spezieller Entgelt für Gemeindenutzungen und
Ablösungen durch eine jährliche Abgabe hierfür. Damit ist die
Unterscheidung zwischen Bürger- und Einwohnergemeinde auch
finanziell streng durchgeführt.
Schließlich ist hier noch die Gesetzgebung über die Beschrän-
kungen des bloßen Aufenthalts zu erwähnen^). Diese hatte jedoch
keine armen- sondern nur sicherheitspolizeiliche Bedeutung und liegt
dem Institut der Polizeiaufsicht zugrunde. Schon die Kriminal-
ordnung von 1805 hatte in den §§ 410 und 569 polizeiliche Auf-
i) Vgl. Schoen, Recht d. Komm.-Verb. S. 252 ff. Arnold S. 66.
2) Vgl. Stengels WB. Art. Polizeiaufsicht von Meyer.
— 99 —
sieht über vorläufig freigesprochene und wegen Wohlverhaltens
Entlassene gesetzlich eingeführt neben dem freien Ermessen der
Polizei, den Aufenthalt verdächtiger Personen zu beschränken. Das
Strafgesetzbuch von 185 1 stellte nun nach dem Vorgange der
in Rheinpreußen bestehenden französischen Gesetzgebung ganz
bestimmte gesetzliche Normen in Verbindung mit dem Gesetz
über die Polizeiaufsicht von 1850 auf ^). Die Polizeiaufsicht war
darnach als Nebenstrafe neben Freiheitsstrafen vom Richter zu
verhängen. Dies System ist im wesentlichen vom Deutschen
Reiche adoptiert worden. In Geltung blieb auch § 2 Abs. 2 Ges.
betr. Aufnahme neuanziehender Personen von 1842: Ausnahmen
von der Freizügigkeit finden statt durch Strafurteil und »wenn
die Landespolizeibehörde nötig findet, einen entlassenen Sträf-
ling von dem Aufenthalt an gewissen Orten auszuschließen ^).
Hierzu ist die Landespolizeibehörde jedoch nur in Ansehung sol-
cher Sträflinge befugt, welche zu Zuchthaus oder wegen eines
Verbrechens, wodurch der Täter sich als ein für die öffentliche
Sicherheit oder Moralität gefährlicher Mensch darstellt, zu irgend
einer andern Strafe verurteilt worden oder in einer Korrektions-
anstalt eingesperrt gewesen ist ^)«. Diese Bestimmungen sind durch
1) In Fortführung des Art. 131 Sen.-Cons., 28 Floreal, a. 12 hatte der Code
Penal lebenslängliche und zeitliche Stellung unter Polizeiaufsicht bei denjenigen
eingeführt, »qui auraient ete condamne pour crimes ou delits interessant la surete
Interieure ou exterieure de l'etat.« Meyer in Stengels WB.
2) Anerkannt durch Entsch. Oberverwaltungsger. 24. Febr. 1883, Bd. 9,
s. 41S ff.
3) Eine exzeptionelle Stellung hatte nur die Stadt Berlin. Reskripte an den
Min. d. Innern und d. Polizei 20. Juli 1822, erneuert 1824 und 1832, ließen die
Möglichkeit zu, dort die Aufnahme Neuanziehender von der Bedingung der Un-
bescholtenheit und Erwerbsfähigkeit abhängig zu machen. Bei der Beratung des
Aufnahmegesetzes 1841 aber ließ der Staatsrat absichtlich diese Bestimmung still-
schweigend fallen.
Eine allerhöchste Kabinettsorder vom 2. Febr. 1S44 aber führte diese Aus-
nahmebestimmung wieder ein. »Auf den Bericht des Staatsministeriums vom 20.
V. M. bin ich damit einverstanden, daß neben dem allgemeinen Gesetz . . . 1842 . .
die besonderen wegen dieses Gegenstandes für die Stadt Berlin ergangenen . . .
Bestimmungen dahin fortbestehen, daß ein Jeder, welcher sich in Berlin nieder-
lassen will und nicht schon der dortigen Gemeinde angehört, über die Mittel zu
seinem Unterhalt und über seine untadelhafte Führung sich auszuweisen hat, und
die Erlaubnis zur Niederlassung zu versagen ist, wenn gegründete Besorgnis vor-
handen ist, daß derjenige, welcher jene Erlaubnis nachsucht, wegen Mangels an
Mitteln dem gemeinen Wesen zur Last fallen werde, oder durch seinen Aufenthalt
die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährden könne.« Sehr charakteristisch
7*
— lOO —
die Anerkennung der landesgesetzlichen Ordnung auf diesem Ge-
biet in § 3 Freizügigkeitsgesetzes bestehen geblieben.
Hiermit ist die preußische Armengesetzgebung beendigt, soweit
sie öffentliche Rechte der Person berührt. Sie geht nunmehr
restlos auf in der gesamtdeutschen, auf welche sie den nachhaltig-
sten lünfluß ausübte, ja deren Bestimmungen meistens dem Sinne
nacli, viefach sogar dem Wortlaut nach den altpreußischen Ge-
setzen entsprachen. Der preußische Unterstützungswohnsitz be-
seitigte den altdeutschen Heimatsbegriff, und bei der Verfechtung
des Prinzips der Freizügigkeit fand Preußen die nachhaltigste
Unterstützung Sachsens. Preußen ging im Deutschen Reiche
mit vielen seiner Rechte auf und drückte jenem dabei meistens
seinen Stempel auf. Dies lag in der Natur der Sache, weniger
wegen des Stimmenverhältnisses im Norddeutschen Bund als
wegen der Größe seines Territoriums, in welchem es eben allein
Gelegenheit gehabt hatte, die für das weite Gebiet des Deut-
schen Reiches passenden Grundsätze zu erproben.
betonte der Minister in einem Reskript an das Berliner Polizeipräsidium vom 8. März
1844: >Bei der Anwendung der AHC. ist der Grundsatz festzuhalten, daß die darin
erteilten Vorschriften auf polizeilichen Rücksichten — beruhen, nicht aber das
Kommunalinteresse der Stadt Berlin bezwecken. Letztere kann daher ein Wider-
spruchsrecht gegen die Niederlassung neuanziehender Personen in weiterem Um-
fange, als es das Gesetz von 1842 gestattet, nicht hieraus ableiten.«
Hier ist mit aller wünschenswerten Deutlichkeit der fundamentale Unterschied
zwischen allgemeinen staatlichen Polizeirücksichten und Armeninteressen der Ge-
meinde festgehalten, wie er sich im Laufe der Zeit herausgebildet hat.
Uebrigens ist das Privileg der Stadt Berlin bei der Beratung des Freizügig-
keitsgesetzes fallen gelassen. Ebenso hörte stillschweigend durch die Nichtaus-
übung in der Verwaltungspraxis die Vorschrift des Paßediktes vom 22. Juni 18 17
auf, wonach in gewissen großen Städten und vor allem in Festungen auch der
bloße Aufenthalt an das Erfordernis von Platzkarten geknüpft war.
Die obigen Ausführungen nach Arnold, S. 36. Vgl. auch Entscheidung
OB. VerwGer. ; ferner Möller, Stadtrecht S. 276.
— lOI —
Siebentes Kapitel.
Gesetzgebung des neuen Deutschen Reiches.
Der Grundsatz, daß der Einzelne mit dem Staate erst durch seine
engere Gemeinschaft, Familie, später durch Gemeinde und Lehens-
verband verbunden ist, hat jene frühzeitige Beschränkung der Frei-
zügigkeit und die Schollenbindung verursacht, welche im ii. Jahr-
hundert bereits Schranken zwischen den Kommunen aufrichteten.
Die Schranken zwischen den Gemeinden beruhen wesentlich auf
privatrechtlichen Titeln, erst die Fürsorgeverpflichtung der Ge-
meinden macht sie zu öffentlichen. Anders verhielt es sich mit
der Freizügigkeit von Territorium zu Territorium. Die Territo-
rien sonderten sich wesentlich später streng von einander ab als
die Gemeinden, sie sind ein viel höherer Grad der staatlichen
Entwicklung und setzen schon eine durchgebildete innere Ver-
waltung voraus, welche sich erst in den Städten ausbildete und
dann das Vorbild für die Territorien abgab. Die Unsicherheit
des mittelalterlichen Lebens war noch merklicher auf dem Gebiete
des öffentlichen als des privaten Rechts. Das römische Recht
griff auch zuerst in das Privatrecht ordnend ein, und hat über-
haupt das öffentliche Recht niemals in so intensiver Weise um-
gestaltet wie jenes.
Es konnte sich im Mittelalter nur eine Auswanderung aus
den übervollen altdeutschen Gebieten in die östlichen entwickeln,
welche dauernd auf Nachfüllung angewiesen waren. Und die-
ser Austausch wurde auch wenig behindert, er diente beider
Parteien Interesse. Erst im 15. Jahrhundert und mehr noch im
16. fanden generelle Verbote der Auswanderung vom platten
Lande in die Städte statt, welche jetzt schon als besondere Staats-
gebiete anzusehen sind. Der Landfrieden von 1530 fordert für
diesen Fall die Vorweisung von Abzugsbriefen. Diese aber wer-
den vom Territorialherren nur ausgestellt nach Entrichtung von Ge-
— I02 —
bührcn, der Nachsteuer >gabella cmigrationis, dctractus pcrsona-
lis«. 1594 führt der ReichstaL,f.sabschicd diese i^cnercll ein (i^ 8iS).
Und schon im Reichstagsabschied von 1555 wird den Rehgions-
flüchtHngen die Auswanderung »unter ziemHcher Entrichtung Nach-
steuer« gestattet. Das war das Ende des im eigentUchen Mittel-
alter ideell und praktisch geltenden allgemeinen Reichsindigenats').
Jetzt erst wird die trennende Schranke zwischen den Deutschen
aufgerichtet. Die Auflösung des Reichs in Territorien ist in ihrem
wesentlichsten Punkte durchgeführt. Durch dieselben Reichstags-
schlüsse wird das Recht der Nachsteuer den Grundherren ab- und
den Landesherren zugesprochen. Doch konnte diese Bestimmung
wohl erst später im absolutistischen Staat durchgeführt werden.
Berg, Teutsches Polizeirecht, § 55, stellt für das 18. Jahrhundert
demgegenüber fest, daß die gemeinschädliche Auswanderung über-
haupt verboten werden konnte. Wo aber war da die feste Grenze.?
Die Auslegung der reichsrechtlichen Bestimmungen blieb in der
Praxis doch im wesentlichen der einzelstaatlichen Gesetzgebung
überlassen. Auch die freie Bewegung im ganzen Reich ohne Ab-
sicht dauernder Niederlassung wurde, wie innerhalb der Staaten
für die Einheimischen, so noch mehr für die Ausländer durch
die polizeiliche Beaufsichtigung und den Paßzwang erschwert.
Die Territorien schlössen sich immer mehr von einander ab. Eine
gute Illustration zu diesem Zustande bilden ja die Bettelordnun-
gen, w'elche die Ausländer mit den schwersten Strafen, immer
aber rücksichtslos mit der Ausweisung, bedrohen. Vielfach muß-
ten sie hierbei Urfehde schwören und wurden gebrandmarkt.
Traten sie dann wieder über die Grenze, so galt dies als Bre-
chung geschworenen Eides. Mindestens lebenslängliche Einsper-
rung und Festungsarbeit, in vielen Staaten (bayrische Gesetze von
1753) Todesstrafe stand darauf. Die Husarenkorps in Mecklen-
burg, Hartschiere in Oesterreich, Bettelvögte in Preußen sollten
in regelmäßigen oder außerordentlichen Streifen oder Landes-
visitationen vor allem die ausländischen Bettler und Vagabunden
aufgreifen.
Privatrechtlich genossen die Ausländer zwar Schutz, aber
vom Erwerb irgend welcher öffentlichen Rechte waren sie aus-
i) Rechtlich stand die Auswanderung zwar immer frei, auch im l8. Jahrh.
So bestimmt noch das Reichshofratskonklusum vom S.März 1723. Aber tatsächlich
wurde es durch die Höhe der zu Recht bestehenden Nachsteuer wieder aufgehoben.
Vgl. Meyer, Staatsrecht.
— I03 —
geschlossen. Bürgerrecht und irgend welche Grade der Gemeinde-
angehörigkeit waren ihnen verschlossen. Die Aufsicht über die
Ausländer wurde den Selbstverwaltungskörpern gänzlich genom-
men und den staatlichen Behörden überwiesen. Der Erwerb der
Staatsangehörigkeit war denkbar erschwert, selbst Beamte er-
warben erst durch die Observanz des i8. Jahrhunderts die Staats-
angehörigkeit in dem Staate ihrer Anstellung. Nur die auf Ein-
wanderung angewiesenen östlichen Gebiete machten hiervon eine
Ausnahme und begünstigten dieselbe in besonderer Weise.
Eine Aenderung trat hierin erst im 19. Jahrhundert ein. Die
Einheitsbestrebungen der auf die Freiheitskriege folgenden Zeit
führten zwar nicht zu einem Bundesindigenat, erleichterten aber
doch den gewerblichen und persönlichen Verkehr zwischen den
Einzelstaaten erheblich. Schon vorher hatten diese Bestrebun-
gen ihren Niederschlag in einzelnen Verträgen gefunden, wodurch
die Nachsteuer wenigstens aufgehoben wurde. Besonders Preu-
ßen ^) traf im ersten Jahrzehnt derartige Abmachungen in großer
Zahl mit deutschen und ausländischen Staaten.
Mit der Frage des Bundesindigenats beschäftigen sich die
Artikel 14 bis 18 der Wiener Bundesakte vom 9. Juni 181 5- § 14
billigt nur den Fürsten und gräflichen Häusern Deutschlands zu,
»die unbeschränkte Freiheit, ihren Aufenthalt in jedem zu dem
Bunde gehörigen und mit ihm im Frieden lebenden Staate zu
nehmen.« Dieses »Privilegium favorabile« schließt also um so deut-
licher alle andern Staatsbürger aus. § 16 schafft wenigstens Gleich-
stellung der Bekenntnisse : »Die Verschiedenheit der christlichen Re-
ligionsparteien kann in den Ländern und Gebieten des Deutschen
Bundes keinen Unterschied in dem Genuß der bürgerlichen und
politischen Rechte begründen.« Art. 18 sichert den Untertanen fol-
gende Rechte zu: a) »Grundeigentum außerhalb des Staats, den
sie bewohnen, zu erwerben und zu besitzen, ohne in dem fremden
Staate deshalb mehreren Abgaben und Lasten unterworfen zu
sein als dessen eigne Untertanen.« Unter b) erhalten sie »die
Befugnis i. des freien Weggehens aus einem deutschen Staat in
einen anderen, der sie erweislich zu Untertanen aufnehmen will,
i) Hier hatten Ausländer schon nach dem Recht ALR.s die gleichen Rechte
wie Inländer. Einl, § 34 und 31. AGO. §§ 26 und 28, Teil i, Tit. 2. Doch
hatten sie kein Recht, wohl aber die Möglichkeit der Wohnsitzerwerbung.
In Bayern wurden Ausländer nach lojährigem Aufenthalt im Inlande wie In-
länder behandelt. BO. 1726.
— 104 —
auch 2. in Zivil- und Militärdienste desselben zu treten ; c) die
Freiheit von aller Nachsteuer (jus detractus, <:,rabclla emii^rationis),
insofern das Vermögen in einen andern deutschen Staat über-
geht und mit diesem nicht besondere Verhältnisse durch Frei-
zügigkeitsverträge bestehen.« Artikel 20 der Schlußakte bestimmt
ganz allgemein die »Freiheit der Auswanderung und Ausführung
des Vermögens«. Schwierigkeiten ergaben sich des weiteren vor-
nehmlich aus dem verschiedenen Alter der Militärpflichtigkeit in
den einzelnen Staaten, durch welches die Auswanderungsfreiheit
fortan weiter behindert wurde. Dem wurde durch einzelne Staats-
verträge abgeholfen. So zwischen Bayern und Preußen am 1 5. Sept.
1818, welcher Vertrag das 25. Lebensjahr als Norm festsetzte.
Die weitere Regelung der Behandlung der Ausländer über
die ihnen durch die Bundesakte verliehenen Freiheiten hinaus war
lediglich Sache der einzelstaatlichen Gesetzgebung. Bayern und
Preußen waren hierin recht freisinnig. P2in Pr. Min.-Reskr. vom
5. Juli 1826 befiehlt zur Durchführung der Bundesbestimmungen,
daß die Gemeinden jeden Ausländer, der nicht arm ist, aufzu-
nehmen haben. Ein Ausländer, der sich im Inlande niederlasse
und ein Domizil konstituiere, werde dadurch von selbst ein In-
länder. Und die bayrische Gesetzgebung des Jahres 1825 läßt
den bedingten Heimatserwerb der »Landfremden« bis zum end-
gültigen Erwerb der Staatsangehörigkeit zu.
Große Schwierigkeiten ergaben sich aus der interterritorialen
Freizügigkeit namentlich hinsichtlich dßv Armenverpflegung. Hier-
bei waren die Staaten, welche den Ausländern den Erwerb der
Gemeindeangehörigkeit erlaubten und den Erwerb des armen-
rechtlichen Domizils erleichterten, also vornehmlich Preußen, de-
nen gegenüber stark benachteiligt, welche starr an dem alten
deutschen Heimatrecht mit gar keiner oder doch sehr lange-
dauernder Ersitzung festhielten — und das waren alle übrigen.
In Preußen trat die Notwendigkeit einer Vereinbarung hierüber
vor allem nach der Einführung des Gesetzes von 1842 hervor, in
welchem reisenden Ausländern die gleiche Unterstützung zuge-
sichert wurde wie den Inländern. P^rner ergaben sich Schwie-
rigkeiten aus der verschiedenen Behandlung der lästigen Ausländer,
als welche auch Bundesangehörige immer noch galten. Hierbei
waren wiederum diejenigen im Vorteil, welche leichter mit der
Ausweisung umgingen als die anderen. Gut waren hierin aber-
mals die kleineren Staaten daran.
— I05 —
Die Beseitigung dieser Mängel der Bundesverfassung ließ sich
schließlich nicht länger umgehen und führte im Jahre 1851
zunächst zur Gothaer Konvention vom 15. Juli 1851, welcher
sich die meisten kleineren und die größeren Staaten mit Aus-
nahme von Württemberg, Baden, Hannover, Oesterreich, Mecklen-
burg und den freien Städten anschlössen i). Die Einleitung
dieses Vertrages, welcher abgeschlossen wurde »in der Absicht,
das in bezug auf die Uebernahme von Auszuweisenden oder
Heimatlosen zwischen ihnen bestehende Verhältnis auf möglichst
einfache und leicht zu handhabende Grundsätze zurückzuführen«,
weist bereits auf die Notwendigkeit einer gesamtdeutschen Rege-
lung hin. Die Staaten beabsichtigen, »soviel an ihnen ist, ein all-
gemeines deutsches Heimatrecht vorzubereiten«. Der Inhalt der
Konvention ist der, daß jede Regierung sich verpflichtet, frühere
Staatsangehörige, welche zwar schon ihre frühere Staatsangehörig-
keit verloren aber noch keine neue erworben haben, falls sie in
einem anderen Staate lästig fallen sollten, wieder aufzunehmen.
Hat eine Person überhaupt keine Staatsangehörigkeit in einem
der vertragschließenden Staaten ^j gehabt, so ist für die Ueber-
nahme maßgebend etwaiger fünfjähriger Aufenthalt^), Eheschlie-
ßungsort und in letzter Linie Geburtsort. Bei der Ausweisung
sollen die Familien nicht getrennt werden. Die Ausweisung darf
nicht erfolgen, bevor der verpflichtete Staat sich zur Uebernahme
bereit erklärt hat. Das Transportwesen und die Entscheidung der
Streitigkeiten werden eingehend geordnet.
»Ueber die Grundsätze, welche gegenseitig in bezug auf die
Verpflegung erkrankter und Beerdigung verstorbener Angehörigen
des anderen Staates Anwendung finden« sollten, wurde eine Ver-
einbarung de dato Eisenach*) den 11. Juli 1853 geschlossen, wel-
cher Oesterreich beitrat, die süddeutschen Staaten aber fernblieben.
Es wird hierin der Grundsatz der gleichen Behandlung der In-
länder und Ausländer festgestellt, wie er bisher bereits in einigen
Staaten, vor allem in Preußen bestanden hatte. Ersatzansprüche
an irgendwelche öffentlichen Kassen, also auch an Armenverbände
i) Zwischen Mecklenburg und Preußen bestand bereits seit 14, Nov. 181 1
eine »Konvention wegen wechselseitiger Anhaltung und Auslieferung der Vaga-
bunden«.
2) Also Fall der Herkunft aus einem unbeteiligten Staate.
3) Vgl. die Bestimmungen des Fränkischen Kreisschlusses. 1791.
4) Die beiden Konventionen häufig abgedruckt. GesS. Preußens, Rocholl,
System d. D. Armenpflegerechts. S. I, Anh.
— io6 —
oder Heimatgemeinden des anderen Staates hat die verpflegende
Gemeinde nicht. Diese Kosten werden nach Maßt^abe der Lan-
desgesetze entweder von dem Verpflegungsstaate oder von dem
zuständigen Landarmenverbande getragen. Die verpflegende Ge-
meinde hat dagegen einen Erstattungsanspruch gegen die privat-
rechtüch zur Alimentation verpflichteten Angehörigen des anderen
Staates ').
Der nächste Schritt der geschichtlichen Entwicklung ist dann
die gemeinsame Regelung durch den Norddeutschen Bund und
in der Folge das Reich, auf welche nunmehr eingegangen wer-
den muß. Zuvor aber muß rückwärtsschauend noch auf die
beachtenswerten Grundsätze, welche das Parlament der Pauls-
kirche hinsichtlich eines »Deutschen Heimatgesetzes« aufgestellt
hat, welche aber im Entwurf stecken geblieben und nicht einmal
zur Beratung in der Plenarversammlung gekommen sind, einge-
gangen werden -).
Das Heimatgesetz, ^) welches die Kommission der Paulskirche
i) Zur Wahrung der internationalen Rechtsordnung wurde unter den Bundes-
staaten, welche den Gothaer Vertrag schlössen, zugleich ausgemacht, >daß von jeder
Regierung, soweit dies nicht bereits geschehen, Anordnung getroffen werde, da-
mit in ihrem Gebiet keine Verheiratung eines Angehörigen der anderen kontrahie-
renden Staaten, sei es mit einer Inländerin oder einer Ausländerin, ohne Konsens
der Heimatbehörde gestattet werde«.
Vgl. hierüber v. Sicherer, Personenstand und Eheschließung, und Döllinger,
Verordnungen-Sammlung 26.
2) Verhandl. d. Frankfurter Parlam. Beilagen Bd. 2 S. 695.
3) Da der historisch wie allgemein so wertvolle Entwurf der Kommission von
1848 m. W. außer in den schwer zugänglichen Parlamentsakten selbst nirgends
abgedruckt ist, mag dieses kulturhistorisch wichtige Dokument aus einer Zeit,
welche die Grundlagen der Gesetzgebung unserer staatsbürgerlichen Zeit gelegt hat,
hier im Wortlaut folgen :
Entwurf eines Heimatgesetzes. Beilage zum Protokoll der 127. Sitzung vom
2. Dez. 1848. Beilagen S. 693 ff.
>§ I, Das Gebiet eines jeden Deutschen Staates zerfällt in bestimmt ab-
gegrenzte Gemeindebezirke; diese bilden zugleich Heimatsbezirke.
Den einzelnen Staaten bleibt es überlassen, mehrere Gemeindebezirke zu
einem Heimatbezirk zu vereinigen.
§ 2. Der Aufenthalt und Wohnsitz in einem Heimatbezirke, sowie das Recht
zum Gewerbebetrieb, soweit dies nicht durch die Deutsche Gewerbeordnung be-
schränkt wird, darf keinem Deutschen verweigert werden, solange er nicht daselbst
der öffentlichen Armenunterstützung anheimfällt oder wegen eines gemeinen Ver-
brechens verurteilt wird.
§ 3. Das Heimatrecht wird erworben
a) durch Geburt. Eheliche Kinder folgen der Heimat des Vaters, uneheliche
— loy —
im Jahre 1848 entwarf, ist bemerkenswert einmal dadurch, daß
es in seinen Motiven sich sehr genau mit den bestehenden Lan-
der Heimat der Mutter, Findlinge erlangen das Heimatrecht in dem Heimatbezirkei
in welchem sie gefunden werden, fallen aber der Fürsorge des Staates anheim.
b) durch Verheiratung. Ehefrauen erwerben die Heimat in dem Heimatbe-
zirke des Mannes.
c) durch ausdrückliche Aufnahme. Diese darf keinem Deutschen verweigert
werden, welcher erwerbsfähig ist und zur Zeit seiner Aufnahme weder öffentliche
Armenunterstützung genießt, noch wegen eines gemeinen Verbrechens bestraft ist.
d) durch mehrjährigen Aufenthalt. Wer sich 5 Jahre ununterbrochen durch
sein Vermögen oder seine Tätigkeit in einem Gemeindebezirk redlich ernährt hat,
erwirbt daselbst das Heimatrecht, wenn er nicht sein früheres Heimatrecht sich
erhalten hat.
e) durch Erwerbung des Gemeindebürgerrechts. Dasselbe schließt das Heimat-
recht stets in sich ein.
§ 4. Wer in einer Gemeinde Heimatsrecht erwirbt, verliert dasselbe in seiner
Heimatsgemeinde, wenn er nicht daselbst Gemeindebürger ist.
§ 5. Das Heimatrecht kann ohne Besitz des Gemeindebürgerrechts bestehen
und begründet noch kein Recht auf die Nutzungen des Gemeindevermögens.
§ 6. Das Heimatsrecht gewährt den Anspruch, im Falle der Arbeitsunfähig-
keit und Verarmung, von dem Heimatsbezirke notdürftig unterhalten zu werden.
Liegt in diesem Falle Dritten die Verpflichtung ob, für den Unterhalt des Heimat-
berechtigten zu sorgen, so kann die Gemeindebehörde diese zur Erfüllung ihrer
Verpflichtung anhalten.
§ 7. Die weiteren Rechte der Heimatsberechtigten und derer, welche, ohne
Heimatsberechtigte zu sein, in einem Heimatsbezirke Wohnsitz haben, gegen die
Gemeinde, werden durch die Gemeindeverfassung bestimmt.
§ 8. Hilfsbedürftige haben in jeder Gemeinde, in welcher sie sich zur Zeit
ihrer Hilfsbedürftigkeit befinden, Anspruch auf notdürftige Unterstützung.
Die betreffende Gemeinde hat dieselbe vorschußweise für Rechnung des ver-
pflichteten Heimatbezirks zu leisten. Der Anspruch auf Wiedererstattung des ge-
leisteten Vorschusses verjährt drei Monate nach eingetretenem Verpflegungsfall,
beziehungsweise nach Ermittlung des verpflichteten Bezirks.
§ 9. Wer 15 Jahre von seinem Heimatbezirk freiwillig abwesend w-ar und
an keinem anderen Ort Heimatrecht erworben hat, behält zwar daselbst sein Heimat-
recht, fällt aber im Verarmungsfall der Versorgung desjenigen Staates anheim, zu
welchem der Heimatbezirk gehört.«
Die nachher in die Verfassung übernommenen Grundrechte des deutschen
Volkes wiederholen im § 3 den § 2 des obigen Entwurfes, und fügen dem noch
die Freiheit hinzu, an jedem Ort das Gemeindebürgerrecht zu gewinnen, § 6 hebt
alle Beschränkungen der Auswanderung auf, welche bisher noch den außerdeutschen
Staaten gegenüber galten. § 16 stellt die staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten
noch einmal unabhängig vom religiösen Bekenntnis fest, hier mit Einschluß des Juden-
tums. § 20 lautet: »Die bürgerliche Gültigkeit der Ehe ist nur von der Vollziehung
des Zivilaktes abhängig; die kirchliche Trauung kann nur nach Vollziehung des
Zivilaktes stattfinden. Die Religionsverschiedenheit ist kein bürgerliches Ehehin-
— loS —
desgesetzen auseinandersetzt und deren Bestimmungen eingehend
würdigt, und sodann aus dem Grunde, weil es auf die spätere
Bundesgesetzgebung Einfluß gehabt hat. Die Motive zu dem
Entwurf wie dieser selbst zeigen alle Vorzüge der Behandlung
in diesem philosophischen Parlament; jeder Radikalismus wird
vermieden und nur das mögliche, aber auch das nötige verlangt.
Die Rechte der Gemeinden und des Individuums sind sorgfältig
gegeneinander abgewogen, die bisherige gemeinrechtliche Rege-
lung wird im wesentlichen verworfen, es wird neues geschaffen.
Unverkennbar ist dabei der Einfluß der preußischen Gesetz-
gebung. Die Abhängigkeit von der Staatsbehörde und der Ge-
meinde wird auf das unumgänglich notwendige beschränkt, die
bisher meist üblichen Heimatscheine werden beseitigt, ebenso
alle Anforderungen persönlicher Art, wie Vermögen, Arbeits-
kraft, Nahrung und Unbescholtenheit. Es heißt in den Motiven:
»In dem vorliegenden Gesetz war die Aufgabe zu lösen, jedem
Deutschen die möglichst große Freiheit des Aufenthalts, der
Niederlassung und der Verwertung seiner Arbeitskraft innerhalb
des ganzen Reichsgebiets zu garantieren, ohne dadurch die Selb-
ständigkeit und das Wohl der Gemeinden zu gefährden.« Diese
klare Forderung einer allgemeinen deutschen Ordnung auf diesen
Gebieten ist sicherlich eins der größten Verdienste des 1848er
Parlaments.
Die bisherigen Beschränkungen des Polizeistaats werden mit
folgenden Worten abgetan: »Man .sieht, alle jene präventiven
Schutzmaßregeln gegen die Gefahren der Freizügigkeit, wie wir
sie aus dem alten Polizeistaate überkommen haben, sind trüge-
risch, verfehlen ihren Zweck und heben den größten Teil der
Segnungen auf, welche aus der P^reizügigkeit der Nation er-
wachsen sollen, sie hemmen die frische, gesunde Saftströmung
in den Adern des Volkes und müssen deshalb dem freieren
System, welches nur repressive Mittel zuläßt, weichen.« >Es
mußte daher i. den Gemeinden die Pflicht auferlegt werden,
jedem P'remden Aufenthalt und Wohnsitz zu gestatten ; es mußten
dernis.« § 27 stellt die Berufswahl und Ausbildung frei und § 32 hebt jeden
Untertänigkeits- und Herrschaftsverband auf.
Alle diese Bestimmungen sind nachher in die deutsche Reichsverfassung und
die ausführenden Gesetze über Unterstützungswohnsitz, Freizügigkeit und Aufhebung
der Ehebeschränkungen übergegangen, und haben darum ein nicht nur historisches,
sondern ein eminent politisches Interesse auch vom Standpunkte der Armenver-
waltung aus.
— I09 —
ferner 2. die Fälle bestimmt werden, in welchen die Schutzbe-
dürftigkeit der Gemeinden ein Recht für sie begründet, dem bei
ihr wohnenden Fremden, der ihr wirkliche Nachteile bringt, sei
es weil er verarmt, sei es weil er durch Verbrechen ihre Sicher-
heit bedroht, wegzuweisen. Und um den Weggewiesenen nicht
hilf- und heimatlos zu lassen, mußte 3. für jeden Deutschen eine
Heimat festgesetzt werden, in der er nicht nur das Recht unge-
hindert zu verbleiben, sondern in der er auch im Verarmungs-
falle Anspruch auf Unterstützung hat. Die Bestimmungen über
Erwerbung und Verlust der Heimat waren notwendige Konse-
quenzen des obersten Zwecks des Gesetzes.«
Das Streben nach einem allgemein-deutschen Recht kommt
noch einmal in den Worten zur Geltung: »Vielmehr kam es hier
darauf an, neben dem Gemeindebürgertum, dessen Regelung den
einzelnen Staaten und Kommunen verbleibt, und welches überall
lokal und staatlich verschieden sein kann, auch eine Gemeinde-
angehörigkeit zu schaffen, welche in ganz Deutschland dieselbe
ist, und deren Gewinn und Verlust lediglich vom Reiche aus
normiert wird.«
Von der Auffassung, welche bei der Abfassung des Ent-
wurfes leitend war, und welche zugleich zeigt, daß der Kom-
mission nichts ferner lag, als eine radikale Aufhebung aller Be-
schränkungen ohne Rücksicht auf die Nützlichkeit, ihrer sach-
lichen Arbeit also, zeugt die Art der Abweisung eines Minori-
tätserachtens, welches der Gemeinde die Wegweisung gestatten
will bei der Verletzung der öffentlichen Sicherheit, bei Bettel
und »wenn derselbe sich sonst nicht auf redliche Weise ernährt«
mit den Worten: »die Kommission hat diese Punkte abgelehnt,
da sie alle in die beiden vorgeschlagenen Rubriken : Armen-
unterstützung und Verbrechen entfallen«.
Die Regelung öffentlicher Rechtsverhältnisse auf interterri-
torialer Grundlage ist wegen der Gemeinsamkeit der Interessen
stets der erste Schritt bei der Schaffung internationalen Rechts
überhaupt. Das Privatrecht folgt immer wesentlich später; dies
war auch der Weg, welchen der Deutsche Bund ging. Es war
aber auch die allererste Aufgabe, der er sich nach Ueberwin-
dung der politischen Hindernisse unterzog, und hierbei wiederum
der öffentliche Status der Person, soweit seine Wirkungen sich
über die einzelstaatlichen Grenzen hinaus erstreckten.
Der Norddeutsche Bund ging demgemäß sofort ans Werk,
— HO —
um ein einheitliches Personenrecht zu schaffen und somit den
oben geschilderten Bestrebungen gerecht zu werden, lüleichternd
wirkte es hierbei, daß der Norddeutsche Bund völlii,' staatlichen
Charakter hatte, während der Deutsche Bund mehr völkerrecht-
licher Art, international gewesen war. Erst jetzt war ein gemein-
sames Indigenat überhaupt praktisch möglich. Dies fand seinen
Ausdruck im § 3 der Verfassung: »Für den ganzen Bund be-
steht ein gemeinsames Indigenat mit der Wirkung, daß der An-
gehörige (Untertan, Staatsbürger) eines jeden Bundesstaates in
jedem anderen Bundesstaate als Inländer zu behandeln und dem-
gemäß zum festen Wohnsitz, zum Gewerbebetriebe, zu öffent-
lichen Aemtern, zur Erwerbung von Grundstücken, zur Erlan-
gung des Staatsbürgerrechtes und zum Genüsse aller sonstigen
bürgerlichen Rechte unter denselben Voraussetzungen wie der
Einheimische zuzulassen, auch in betreff der Rcchtsverfolgung
und des Rechtsschutzes demselben gleich zu behandeln ist.
Kein Deutscher darf in der Ausübung dieser Befugnisse durch
die Obrigkeit seiner Heimat oder durch die Obrigkeit eines
anderen Bundesstaates beschränkt werden.
Diejenigen Bestimmungen, welche die Armenversorgung und
die Aufnahme in den lokalen Gemeindeverband betreffen, werden
durch den im ersten Absatz ausgesprochenen Grundsatz nicht
berührt.
Ebenso bleiben bis auf weiteres die Verträge in Kraft, wel-
che zwischen den einzelnen Bundesstaaten in Beziehung auf die
Uebernahme von Auszuweisenden * und die Verpflegung er-
krankter und die Beerdigung verstorbener Staatsangehörigen be-
stehen.
Hinsichtlich der Erfüllung der Militärpflicht im Verhältnis
zu dem Heimatslande wird im Wege der Bundesgesetzgebung
das nötige verordnet werden.
Dem Auslande gegenüber haben alle Deutschen gleichmäßig
Anspruch auf den Schutz des Reiches.«
Was hier vor allem in die Augen fällt, ist die organische
Entwicklung, Ausweitung und Vertiefung des Begriff"s: deutscher
Bundesangehöriger und der in ihm enthaltenen Rechte. Wir
glauben dem am besten Ausdruck zu geben dadurch, daß dieser
Begriff allmählich im Eaufe des 19. Jahrhunderts von der Bundes-
akte über die 1848er Bewegung und die Gothaer und Eisenacher
Verträge, sowie die Militärpflichtigkeitskonventionen hinweg aus
— III —
dem Bereich der bundesstaatlichen Verträge heraus und in den
Bereich der einheitlichen Bundesgesetzgebung übernommen wor-
den ist. Grade jene erwähnten Bestrebungen und Verträge haben
der Begründung enger staatsrechtlicher Bindung in hervorragen-
dem Maße vorgearbeitet. Für die einzelnen Rechtsgebiete, wel-
che bisher bereits Gegenstand von Verträgen gewesen waren,
wurden nicht gleich in der Verfassung selbst neue Normen auf-
gestellt, aber ihre Regelung auf der neuen einheitlichen Grund-
lage sofort in Aussicht genommen.
Artikel 4 unterstellt der bundesgesetzlichen Aufsicht vor
allem in Nr. i unter 16 Nummern »die Bestimmungen über Frei-
zügigkeit, Heimats- und Niederlassungsverhältnisse, Staatsbürger-
recht, Paßwesen und Fremdenpolizei und über den Gewerbebe-
trieb, einschließlich des Versicherungswesens, soweit diese Gegen-
stände nicht schon durch den Artikel 5 dieser Verfassung er-
ledigt sind.«
Diese einleitenden Bestimmungen der Bundes- und nach-
herigen Reichsverfassung sind eine verkürzte Wiedergabe des
Hauptinhalts der Grundrechte des deutschen Volkes aus der
Verfassung von 1848, soweit sie sich auf die Staatsbürgerrechte
beziehen.
Den allgemeinen in der Verfassung ausgesprochenen Grund-
sätzen folgte die nähere Ausführung auf dem Fuße. Außerdem
mußten vor allen Dingen die bisherigen interterritorialen Ver-
träge über Armenversorgung und Ausweisung ein integrierender
Bestandteil der Bundesgesetzgebung werden. Das war die erste
Folgerung aus dem aufgestellten Grundsatz des Unitarismus :
alles was irgend einheitlich geregelt werden kann, muß in be-
zug auf seine Erstreckung über die Grenzen des Einzelstaates
hinaus durch den Bund selbst in die Hand genommen werden.
So folgt denn in den ersten Jahren bis 1870 eine umfassende
bundesgesetzliche Arbeit, welche vor allem die persönlichen
Statusrechte umfaßt, so daß dem endgültig gegründeten Deut-
schen Reich diese Materie im wesentlichen fertig vorgelegt wer-
den kann.
So wird bereits am 12. Oktober 1867 jeder Paßzwang für die
Bundesangehörigen beseitigt und somit das erste Erfordernis für
die freie Bewegung innerhalb des gesamten Bundesgebietes erfüllt.
Am I. November folgt dann das Gesetz über die Freizügig-
keit. Die Schwierigkeiten, welche der Regelung dieser Materie
— 112 —
entcjcgenstanden, waren aus dem Grunde sehr j^noße, weil die
Bestiinnuin^en hierüber in allen Bundesstaaten die verschieden-
sten waren. Die Einigung war aber andererseits dadurch er-
leichtert, daß die beiden größten Staaten : Preußen und Sachsen
in ihrer bisherigen Ordnung ziemlich üjjereinstimmten und nicht
überstimmt werden konnten, und daß ferner diese beiden Staaten
diejenige Ordnung bei sich bereits eingeführt hatten, welche den
Bedürfnissen des Bundes und den Wünschen seiner Bewohner
denkbar weit entgegenkamen : sie waren die freiheitlichsten. Preu-
ßen hatte seit 1804, iSio, bez. 1842, Sachsen seit 1834 das
Prinzip der Freizügigkeit befolgt. Preußen stand außerdem
vor der Notwendigkeit, innerhalb seines eigenen Staatsgebietes
zwischen seinen alten und neuen Provinzen, welche letzteren
durchweg dem alten Heimatsprinzip folgten, einen Ausgleich zu
schaffen. Was lag also näher als diese beiden Neuregelungen
miteinander zu verbinden und dem Beispiele der Großen, wel-
ches zudem sichtlich die wirtschaftlichen Kräfte der Länder ent-
fesselt hatte, zu folgen.^ Es war die einzige Möglichkeit, um zu
einer Einigung zu gelangen.
Die Frage war nun nur noch, wieweit man das Prinzip der
Freizügigkeit erstrecken sollte. Ein Antrag der Kgl. Sächsischen
Regierung bezweckte, die gewerbliche Freizügigkeit in vollem
Umfange in dies Gesetz hereinzuziehen. Diese Anregung hatte
einen Beschluß des Bundesrates zur F'"olge, der Regelung der
Gewerbefreiheit in einem besonderen Gesetz näher zu treten,
nicht aber in diesem Gesetz. Der »gegenwärtige Gesetzentwurf
sei bestimmt^): »auf Grundlage des gemeinsamen Bundesindigenats
nach Maßgabe der durch Artikel 4 geregelten Kompetenz die in
einzelnen Bundesstaaten noch bestehenden Beschränkungen des
Niederlassungsrechts aufzuheben und in sämtlichen Bundesterri-
torien die Freizügigkeit in gleichem Umfange einzuführen«. Der
Entwurf erstreckte sich ebenfalls nicht »auf Regelung des Staats-
bürgerrechts, des Gemeindebürgerrechts und der Heimatsberech-
tigung; ebenso werden die Armenunterstützungsvorschriften nur
wenig berührt ; diejenigen Beschränkungen der wirtschaftlichen
Freizügigkeit, welche ihren Grund in der Gewerbegesetzgebung "^)
haben, bleiben vorerst bestehen^.
i) Vgl. Motive zum Präsidialgesetzentw. Arnold, S. 10.
2) Ein Amendement: >Das den Zünften oder sonstigen Korporationen zu-
stehende Recht, andere von dem Betrieb eines Gewerbes auszuschließen, desgleichen
— 113 — .
§ I des Gesetzes lautet: »Jeder Bundesangehörige hat das
Recht, innerhalb des Bundesgebietes :
I. an jedem Orte sich aufzuhalten oder niederzulassen, wo
er eine eigne Wohnung oder ein Unterkommen sich zu verschaffen
imstande ist;
das Verbot, Gewerbe und Handel auf dem Lande zu treiben, wird aufgehoben*
wurde von dem Vertreter des Bundeskanzleramts Delbrück bekämpft, . . . >Indessen
sei man zu der Ueberzeugung gekommen, daß das vorliegende Gesetz nicht der
Ort noch die Zeit ist, um so einschneidende Bestimmungen zu treflfen, wie sie in
dem vorliegenden Amendement vorgeschlagen seien. In Beziehung auf die Frage
auf welchem Wege am zweckmäßigsten die gewerbliche Freizügigkeit herzustellen sei,
hätten sich die Ansichten dahin gestellt, daß, gegenüber dem unzweifelhaft vorhandenen
Bedürfnis und gegenüber namentlich dem großen Werte, welcher von dem Reichstag
selbst auf die baldige übereinstimmende Regelung dieser Frage gelegt werde, die Be-
schreitung des Weges der Bundesgesetzgebung derjenigen des Weges der Landesgesetz-
gebung vorzuziehen sei. Es sei dabei zweierlei zu unterscheiden. In einem Teile der
Bundesstaaten bestehen Beschränkungen des Gewerbebetriebes, die auf Privatrechts-
titeln beruhen und unter dem Namen der ausschließenden Gewerbeberechtigungen,
Zwangs- und Bannrechte, Rechte zur Erteilung gewerblicher Konzessionen und Rechte
zur Erhebung gewerblicher Abgaben bekannt sind. Die Regulierung dieser auf Privat-
rechtstiteln beruhenden Verhältnisse könne schon aus dem Grunde nicht zum Gegen-
stande der Bundesgesetzgebung gemacht werden, weil es sich hier überall um Entschä-
digungen der Berechtigten handeln werde, und um eine Entschädigung, die der Natur der
Sache nach nicht aus Bundesfonds gewährt werden könne, sondern nur aus Landes-
fonds zu gewähren sei. Dieser Teil der Gewerbegesetzgebung, welcher wesentlich
das Terrain für eine gemeinschaftliche Bundesgesetzgebung zu präparieren habe,
werde unzweifelhaft den Territorialgesetzgebungen überlassen bleiben müssen. Da-
gegen erscheine es wohl zulässig, den anderen Teil der Gewerbegesetzgebung, und
zwar denjenigen, auf welchen es im großen und ganzen hauptsächlich und nach
den im Reichstage gefallenen Aeußerungen und gestellten Anträgen wesentlich auch
hier ankomme, nämlich den Teil der Gewerbegesetzgebung, der sich mit den im
Staatsinteresse für nötig befundenen Beschränkungen des Gewerbebetriebes beschäf-
tige, füglich im Wege der Bundesgesetzgebung und zwar hoffentlich bald zu er-
ledigen.«
Nach der Ueberzeugung des Abg. Miquel gab das Gesetz »nicht bloß eine
persönliche, sondern auch eine volle gewerbliche Freizügigkeit. Das Gesetz gebe
keine Gewerbefreiheit, aber es stelle in betreff der Wahl des Wohnorts, des Ge-
werbebetriebes und der Erwerbung des Grundeigentums den Auswärtigen, den Nicht-
Einheimischen dem Einheimischen völlig gleich und darin allein beruhe der Begriff
der Freizügigkeit«.
Diese Trennung der Begriffe drang vernünftigerweise durch. Die Gewerbe-
beschränkungen beider Art wurden jedoch entgegen den Ausführungen Delbrücks
später gleichermaßen durch die Bundesgesetzgebung aufgehoben, bez. festgestellt,
was durch die Bundes-, dann Reichsgewerbeordnung vom 2i. Juni 1869 geschah.
Vgl. §§ I, 2, 4, 7, 8, 10.
Zeitschrift für die gas. Staatswissensch. Ergänzungsheft 51. 8
— 114 —
2. an jedem Orte Grundci.i,rentum aller Art zu erwerben;
3. umherziehend oder an dem Ort seines Aufenthalts, be-
ziehungsweise der Niederlassung Gewerbe aller Art zu betreiben,
unter den für die l'2inhciniischcn geltenden gesetzlichen J5estim-
mungcn.
In der Ausübung dieser Befugnisse darf der Bundesange-
hörige, soweit nicht das gegenwärtige Gesetz Ausnahmen zu-
läßt, weder durch die Obrigkeit seiner Heimat, noch durch die
Obrigkeit des Orts, in welchem er sich aufhalten oder nieder-
lassen will, gehindert werden oder durch lästige Bedingungen be-
schränkt werden.
Keinem Bundesangehörigen darf um des Glaubensbekennt-
nisses willen oder wegen fehlender Landes- oder Gemeindean-
gehörigkeit der Aufenthalt, die Niederlassung, der Gewerbebetrieb
oder der Erwerb von Grundeigentum verweigert werden^).«
Die Motive bemerken dazu: Ȥ l stellt den Grundsatz der
Freizügigkeit im wesentlichen so auf, wie derselbe in Preußen
besteht«.
In der Kommission ebenso wie in der Plenarversammlung
fanden sodann noch Erörterungen über die Begriffe : Wohnung,
Niederlassung, Aufenthalt usw. statt, aus welchen nur hervorgeht,
daß die Absicht bestand, jede Art von Aufenthalt, vorübergehend
oder dauernd, mit oder ohne Ansässigkeit völlig sicher und un-
abhängig von der Willkür der Gemeinden zu stellen ^).
§ 3 des Gesetzes behandelt die polizeiliche Ausweisungs-
befugnis von bestraften Personen. Diese regelt sich nach den
Landesgesetzen. Von Reichs wegen hat das Strafgesetzbuch für
den Deutschen Bund eigene Grundsätze darüber aufgestellt, neben
welchen die landesgesetzlichen Bestimmungen bestehen bleiben.
Hier ist von Wichtigkeit Abs. 2 des § 3 : »Solchen Personen,
1) Alle auf der Verschiedenheit des religiösen Bekenntnisses beruhenden Be-
schränkungen der Niederlassungsfreiheit und der staatsbürgerlichen Rechte wurden
generell aufgehoben durch das Gesetz betr. die Gleichberechtigung der Konfessionen
in bürgerlicher und staatsbürgerlicher Beziehung vom 3. Sept. 1869, welches vom
ganzen Deutschen Reich einscliließlich Bayerns übernommen wurde.
2) Maßgebend für Aufenthaltsbeschränkungen ist nur das Sicherheitsinter-
esse. Jede Ausweisung muß beruhen auf Landes- oder Reichsgesetz, auf richter-
licher nach Gesetz auferlegter Nebenstrafe, durch die Polizeibehörde bei vorläufig
entlassenen Gefangenen und infolge Verhängung der Polizeiaufsicht durch den
Richter. Das Reichsgesetzbuch normiert dann noch einige besondere Verbrechen
und Vergehen, welchen die Polizeiaufsicht folgt.
— 115 —
welche derartigen Aufenthaltsbeschränkungen in einem Bundes-
staate unterliegen, oder welche in einem Bundesstaate innerhalb
der letzten zwölf Monate wegen wiederholten Betteins oder wegen
wiederholter Landstreicherei bestraft worden sind, kann der Auf-
enthalt in jedem anderen Bundesstaate von der Landespolizei-
behördc verweigert werden.
Die eigentlichen armenrechtlichen Freizügigkeitsbeschrän-
kungen behandeln sodann die §§ 4 und 5. Diese §§ stellen sich
vollkommen auf den Standpunkt der preußischen Gesetzgebung
des Jahres 1842, wie das abermals die Motive des Bundespräsi-
diums ausdrücklich feststellen. § 4 lautet: »Die Gemeinde ist
zur Abweisung eines Neuanziehenden nur dann befugt, wenn sie
nachweisen kann, daß derselbe keine hinreichenden Kräfte be-
sitzt, um sich und seinen nicht arbeitsfähigen Angehörigen den
notdürftigen Lebensunterhalt zu verschaffen, und wenn er solchen
weder aus eigenem Vermögen bestreiten kann, noch von einem
dazu verpflichteten Verwandten erhält. Den Landesgesetzen
bleibt vorbehalten, diese Befugnis der Gemeinden zu beschränken.
Die Besorgnis vor künftiger Verarmung berechtigt den Ge-
meindevorstand nicht zur Zurückweisung.«
Es wird hierdurch die Beweislast hinsichtlich der Arbeitsun-
fähigkeit der ausweisenden Gemeinde zugeschoben. Der zweite
Absatz ist dem preußischen Gesetz betr. Aufnahme usw. § 5
wörtlich entnommen, aber erst durch die Kommission eingefügt.
§ 5 bezieht sich auf die Fortsetzung des Aufenthalts, nach-
dem der Anzug einer Person gemäß § 4 durch die Gemeinde
nicht verhindert worden ist, verlangt also die Nachweisung der
bei dem Anzug vorhanden gewesenen Verarmung ex post ebenso
wie das preußische Aufnahmegesetz. Als Kriterium ist hier
ebenso wie bisher in Preußen nach 1855 die völlige Verarmung
innerhalb einer bestimmten — bis zum Erlaß des Unter-
stützungswohnsitzgesetzes der Landesgesetzgebung überlassenen
— Frist festgesetzt, welche dann die Vermutung begründet, daß
dieselbe schon vor dem Anzüge vorgelegen hat und somit der
Gemeinde die Beweislast erleichtert. Andererseits enthält der §
auch die notwendigen Kautelen gegen den Mißbrauch der Ge-
meinden, indem in den Verhandlungen die Begriff"e der »öftent-
lichen Armenunterstützung« und der ^vorübergehenden Arbeits-
unfähigkeit« eingehend behandelt werden. § 5 lautet: »Offenbart
sich nach dem Anzüge die Notwendigkeit einer öffentlichen
— ii6 —
Armenunterstützung, bevor der Anziehende an dem Aufenthalts-
orte einen Unterstützungswohnsitz (Ileimatrccht) erworljen hat,
und weist die Gemeinde nach, daß die Unterstützung aus anderen
Gründen als wegen einer nur vorübergehenden Arbeitsunfähigkeit
notwendig geworden ist, so kann sie die Fortsetzung des Auf-
enthalts versagen.*
§ 8 hebt alle Einzugs- und Einkaufsgelder auf, § 9 stellt die
Ortsarmenverbände und Gesamtarmenverbände den Gemeinden
gleich, § 10 überläßt die Meldevorschriften weiter der Landes-
gesetzgebung, § II lautet: »Durch den bloßen Aufenthalt oder
die bloße Niederlassung, wie sie das gegenwärtige Gesetz ge-
stattet, werden andere Rechtsverhältnisse, namentlich die Ge-
meindeangehörigkeit, das ürtsbürgerrecht, die Teilnahme an den
Gemeindenutzungen und der Armenpflege nicht begründet.
Wenn jedoch nach den Landesgesetzen durch den Aufent-
halt oder die Niederlassung, wenn solche eine bestimmte Zeit
hindurch ununterbrochen fortgesetzt werden, das Heimatsrecht
(Gemeindeangehörigkeit, Unterstützungswohnsitz) erworben wird,
behält es dabei sein Bewenden.« § 6, welcher die Ausweisung
tatsächlich erst nach Einwilligung der Heimatsgemeinde zur Auf-
nahme gestattet, ist hernach in die Ausführungsgesetze der Bun-
desstaaten übergegangen. § 7 endlich, welcher das Verfahren in
Streitfällen bei der Ausweisung behandelt und auf die Gothaer
Konvention verweist, ist durch § i Abs. 2 des Ges. ü. d. Unter-
stützun^swohnsitz formell und durch die in demselben Gesetze
bestimmte Einrichtung des Bundesamts für das Heimatswesen
materiell aufgehoben. Nur Bayern gegenüber bestand er noch
weiter, bis auch dieses im Jahre 191 2 unter Aufgabe seines
Reservatrechtes dem reichsgesetzlichen Unterstützungswohnsitz-
prinzip beitrat.
Das Gesetz über den Unterstützungswohnsitz selbst stieß nun
bei seiner Vorbereitung auf weit größere Schwierigkeiten als das
Freizügigkeitsgesetz, obwohl der Reichstag von Anfang an die
Forderung auf Einbringung eines bezügl. Entwurfes wiederholt
aufstellte. Die Ansichten der im Bundesrat vertretenen Regie-
rungen gingen hier viel mehr auseinander als dort. Der von der
preußischen Regierung am 19. Februar 1869 vorgelegte, von
Flottivell ausgearbeitete Entwurf, welcher sich im wesentlichen
an die preußische Gesetzgebung anschloß, fand nicht die Mehr-
heit des Bundesrats, indem hier auch Sachsen auf die Seite der
— 117 —
Anhänger des Heimatgrundsatzes trat. Somit hielt auch der am
14. Februar 1870 dem Bundestag vorgelegte Entwurf i) an dem
Heimatsprinzip fest und statuierte den Unterstützungswohnsitz
nur in den Fällen, wo von dem Hilfsbedürftigen die Grenze des
Heimatstaates überschritten wird, aber »Ein Unterstützungswohn-
sitz kann im Heimatsstaate auf Grund dieses Gesetzes nicht er-
worben werden«. Innerhalb des Heimatstaates behielt also die
Heimatgesetzgebung ihre volle Geltung. Der Rechtszustand auf
Grund der Gothaer und Eisenacher Konvention sollte auf alle
Fälle der Unterstützungsbedürftigkeit ausgedehnt und so ver-
längert werden.
Die Kommission des Reichstages aber und dieser selbst
stellten im Gegensatz dazu den alten preußischen Entwurf im
wesentlichen wieder her, um die Reichseinheit zu wahren und
die interterritoriale Freizügigkeit und damit das alldeutsche Bun-
desindigenat in jeder Beziehung voll durchzuführen ; und somit
wurde durch das endgültige Gesetz das preußische Prinzip in
vollem Umfange adoptiert. Nur Bayern stand auf Grund seiner
Reservatrechte abseits und galt auch fernerhin als Ausland, und
für die Beziehungen mit ihm blieben die Verträge von Gotha
und Eisenach weiter in Geltung.
Vorher waren durch das Gesetz betreffend die Aufhebung
der polizeilichen Beschränkungen der Eheschließung 2) vom 4. Mai
1868 noch die vielartigen in außerpreußischen Bundesstaaten be-
stehenden Ehehindernisse abgeschafft. Nur die landesgesetzlichen
Bestimmungen über Eheschließungen der Beamten und Militär-
personen sowie der Ausländer blieben auch fernerhin in Geltung.
(§ 2 Abs. 2 und 4.)
§ I dieses Gesetzes besagt: ^ Bundesangehörige bedürfen zur
Eingehung einer Ehe oder zu der damit verbundenen Gründung
eines eigenen Haushalts weder des Besitzes noch des Erwerbes
einer Gemeindeangehörigkeit (Gemeindemitgliedschaft) oder des
Einwohnerrechts, noch der Genehmigung der Gemeinde (Guts-
herrschaft) oder des Armenverbandes, noch einer obrigkeitlichen
Erlaubnis.
Insbesondere darf die Befugnis zur Verehelichung nicht be-
schränkt werden wegen Mangels eines bestimmten die Groß-
1) Vorlage des Bundespräsidiums § 2, Abs. 2.
2) Auch diesem Gesetz trat Bayern dann auf Grund seiner Reservatrechte
nicht bei.
— ii8 —
jährii^keit überstci^^enden Alters oder des Nachweises einer Woh-
nunü^, eines hinreichenden Vermöf^ens oder Erwerbes, wegen er-
littener Bestrafung, bösen Rufes, vorhandener oder zu befürchten-
der Verarmunf^, bezogener Unterstützung oder aus andern polizei-
lichen Gründen. Auch darf von der ortsfremden Braut ein Zu-
zugsgeld oder eine sonstige Abgabe nicht erhoben werden.«
Ferner wurde durch Gesetz vom 3. Juli i<S69 die völlige
»Gleichberechtigung der Konfessionen in bürgerlicher und staats-
bürgerlicher Hinsicht'; [)roklamiert, welches seine Wirkung vor-
nehmlich auf die Rechtsstellung der Juden erstreckte^).
Endlich ist für die hier behandelten Rechtsverhältnisse das
Gesetz vom i. Juni 1870 über die Erwerbung und den Verlust
der Bundes- und Staatsangehörigkeit von Bedeutung, auf welches
am geeigneten Orte zurückzukommen sein wird.
Am 6. Juni 1870 endlich wurde das die ganze Entwicklung
abschließende Gesetz über den Unterstützungswohnsitz erlassen.
Hierüber sagen die dem bundespräsidialen Entwurf beigefügten
Motive-): »Mit diesen Gesetzen — über Freizügigkeit, Eheschlie-
ßung usw. — einen so großen Fortschritt auf der Bahn der wirt-
schaftlichen und sozialen Entfesselung der nationalen Kraft sie
auch enthalten, ist indessen die Bundesgesetzgebung auf diesem
Gebiete keineswegs als abgeschlossen zu betrachten. Es läßt
sich nicht verkennen, daß die volle und gleichmäßige Freizügig-
keit und die unbeschränkte Befugnis zur Verehelichung und zur
gewerblichen Niederlassung so lange höchst ungleichmäßig wirken
müssen, als nicht die sehr verschieden'artigen Bestimmungen der
Territorialgesetzgebungen über den Erwerb und Verlust des
Heimatrechts und die Verpflichtung zur Armenpflege im Wege
der Bundesgesetzgebung ebenfalls ihren Ausgleich gefunden
haben
»Die für das Gesetz gewählte Bezeichnung deutet von vorn-
herein auf einen fest begrenzten Rahmen für dessen Inhalt hin.
Nach dem Entwicklungsgange, welchen die Bundesgesetzgebung
auf diesem Gebiete genommen, kann überhaupt von einem das
gesamte unter dem gemeinrechtlichen Begriff der »Heimat« fallende
Rechtsgebiet einheitlich zusammenfassenden Gesetze nicht die
Rede sein. Denn durch die vorerwähnten Gesetze ist bereits
ein wesentlicher Teil der in der Mehrzahl der Bundesstaaten bis-
i) Vgl. Anm. I, S. 32.
2) Vgl. sten. Ber. Bd. 3 S. 163 ff. Arnold, S. 140 ff.
— 119 —
her ausschließlich an das Heimatsrecht geknüpften bürgerlichen
Rechte, nämlich : das Recht des Aufenthalts und der Nieder-
lassung, das Recht zum Gewerbebetriebe und zur Erwerbung von
Grundeigentum , sowie zur Verehelichung , Begründung eines
eigenen Hausstandes von diesem Zusammenhange losgelöst und
zu selbständigen und jedem Bundesangehörigen im ganzen Bun-
desgebiete zustehenden Befugnissen geworden. Von dem ganzen
Inhalt des Heimatrechts ist demnach, abgesehen von der hier
überhaupt nicht in Betracht kommenden Gemeindeangehörigkeit,
nur noch der Unterstützungswohnsitz geblieben
»Der traditionelle Zug der deutschen Rechtsentwicklung ist
kaum auf irgend einem Gebiete zu so systematischer Ausbildung
bei Schaffung partikulärer Rechtsnormen gelangt, als auf dem
Gebiete des Heimatrechts, so daß die Herstellung völliger Rechts-
gleichheit auf demselben nicht ohne tief eingreifende Verände-
rungen nach einer oder der anderen Richtung hin möglich sein
würde. . . .
»Die Frage, welchen Weg die Bundesgesetzgebung einzuschla-
gen habe, um zu einer befriedigenden Ausgleichung der aus der
oben dargestellten Verschiedenheit der Heimatsgesetzgebungen
für die volle Entfaltung der Freizügigkeit entspringenden Hinder-
nisse zu gelangen, ist nicht leicht zu entscheiden. Der einfachste,
direkt zum Ziel führende und am meisten in der Konsequenz des
im Schöße des Reichstags angeregten Gedankens liegende Weg
würde unzweifelhaft darin bestehen, unter Aufhebung aller parti-
kulären Gesetzgebungen, für das ganze Bundesgebiet ein einheit-
liches Recht auf der Grundlage zu schaffen, daß für jeden Nord-
deutschen in jeder Gemeinde des Bundesgebiets der Erwerb be-
ziehentlich der Verlust des Unterstützungswohnsitzes nach gleich-
mäßigen Normen geregelt würde. Es ist indessen Bedenken
getragen, diesen Weg zu betreten. Die Heimatsgesetzgebung
bildet, namentlich in ihrem engen Zusammenhang mit dem Ge-
meindewesen, in den meisten Bundesstaaten einen so wichtigen
Bestandteil des gesamten öffentlichen Rechtszustandes, daß ihre
gänzliche Aufhebung, beziehentlich Umgestaltung nicht ohne tief
einschneidende, in ihrer Tragweite kaum zu übersehende Rück-
wirkungen auf die mannigfachsten, in das soziale Leben seit lange
eingebürgerten und eben darum lieb gewordenen Verhältnisse
würde vor sich gehen können. Eine derartige bundesgesetzliche
Maßregel würde von einem Teile der Bevölkerung wahrscheinlich
— 120 —
nur mit Widerstreben aufi^cnommen werden. Es ist daher in Er-
wägung, daß die Bundesgesetzgebung nicht wohl daran tun würde,
gerade auf dem vorliegenden Gebiete über das allseitig anerkannte
notwendigste Bedürfnis hinaus, mit Aenderungen des bestehenden
Rechtszustandes vorzugehen, vorgezogen worden, nach einer Lö-
sung der Frage zu suchen, welche geeignet schien, unter mög-
lichster Schonung wertgehaltener Eigentümlichkeiten wenigstens
den erheblichsten im Gefolge der Freizügigkeit auf dem Gebiete
des I Icimatwesens und der Armenpflege hervorgetretenen Miß-
ständen im gegenseitigen Verhältnisse der verschiedenen Bundes-
staaten zueinander Abhilfe und damit dem für den Augenblick
dringendsten Bedürfnisse Befriedigung zu verschaffen. Eine solche
Lösung ist darin gefunden worden, daß die Bundesgesetzgebung
sich des Eingreifens in die innere Armengesetzgebung der ein-
zelnen Bundesstaaten enthält, also die einzelnen Heimatsgesetze
im wesentlichen unberührt läßt, daß sie dagegen für jeden Nord-
deutschen die Möglichkeit eines im ganzen Bundesgebiete wirk-
samen, nach gleichmäßigen Normen entstehenden und erlö-
schenden Unterstützungswohnsitzes außerhalb des Heimatsstaates
schafft.«
Die Kommission des Reichstags war hiermit nicht einver-
standen, sie zog die Geltungsgrenzen des zu erlassenden Gesetzes
viel weiter. »Die Bundesverfassung schuf in Artikel 3 das Bun-
desindigenat und bezeichnete als dessen rechtliche Wirkung die
Gleichstellung aller Bundesangehörigen innerhalb des Einzelstaats :
bezüglich der Zulassung zum Gewerbebetrieb, zur Erwerbung
von Grundstücken und zu öffentlichen Aemtern, zur Erlangung
des Staatsbürgerrechts und zum Genuß aller sonstigen bürger-
lichen Rechte, sowie bezüglich der Rechtsverfolgung und des
Rechtsschutzes. «
»Diese verfassungsmäßige Gleichstellung hatte zunächst nur
die negative Konsequenz, die Schranken hinwegzuräumen, welche
innerhalb jeden Einzelstaats die eigenen Angehörigen von den
Angehörigen anderer Einzelstaaten trennten. Sie konnte nicht
bewirken, daß für alle Bundesangehörigen ein gleiches selbstän-
diges und von den Landesgesetzen unabhängiges Recht auf Nie-
derlassung mit den sich hieran knüpfenden Folgen erwachse.
Fehlte es zunächst an einem solchen Recht, so mußte für die
Zeit des Mangels Fürsorge getroffen werden. Es mußte vorläufig
bestimmt werden, was gelten sollte, wenn ein dem Einzelstaat
— 121 —
nicht angehöriger Norddeutscher nach den Landesgesetzen dieses
Einzelstaats des Rechts zum Aufenthalt entbehre und folgeweise
der Ausweisung verfalle. Diese Fürsorge traf die Verfassung,
indem sie Art. 3 Abs. 4 die Verträge weiterbestehen ließ . .«
(sc. Eisenach und Gotha).
»Das Bundesindigenat an sich, gemäß seinem wesentlich ne-
gativen Charakter, konnte ferner nicht bewirken, daß die Be-
stimmungen des Gemeinderechts, welches innerhalb jedes Einzel-
staats für die Mitgliedschaft in der Gemeinde, für die Teilnahme
an hieraus folgenden Benefizien besondere Voraussetzungen auf-
stellte, ohne weiteres zugunsten jener Gleichberechtigung außer
Kraft traten. Es konnte dies nicht, weil die Ungleichheit, um
deren Aufhebung es sich handelte, nicht eine Folge der beson-
deren Landesangehörigkeit war, sondern vielmehr eine F'olge der
besonderen Gemeindeangehörigkeit und des besonderen Gemeinde-
rechts.« Darum wurden die Armenbestimmungen von der Ver-
fassung ausgenommen.
»Der Unvollkommenheit des Bundesindigenats nach der Rich-
tung seiner sofortigen, in unmittelbarer Konsequenz eintretenden
Wirksamkeit hin, war man sich, als die Verfassung gegeben
wurde, wohl bewußt, und wenn dem ohnerachtet man sich erst
dabei beschied, den Begriff »bundesangehörige Ausländer innerhalb
des Einzelstaats« zu beseitigen, so geschah dies nicht, um hier-
mit abzuschließen, um die negative, unvollständige Form für alle
Zeit beizubehalten, sondern in der Absicht, im Wege der Bun-
desgesetzgebung alle diejenigen Institutionen einzeln aufzurichten,
welche in ihrer Totalität und in ihrer lebendigen Wechselwir-
kung das Bundesindigenat zu einem selbständigen und vollen
Rechte norddeutscher Bundeszugehörigkeit erweitern, verstärken
und ein wahres Bundesbürgerrecht herstellen müssen.« Diese
Absicht manifestierte A. 4 der Verfassung, welcher die Beauf-
sichtigung seitens des Bundes auf jene Gebiete erstreckte.
Artikel 3 der Verfassung stellte also die Beschränkungen der
vollen Wirksamkeit des Bundesindigenats fest, und Artikel 4 be-
hielt der Bui\desgesetzgebung die weitere Regelung gerade dieser
Materien vor.
»Abgesehen von den anderen im Text angeführten Gesetzen
war es vor allem das Freizügigkeitsgesetz, welches die Nieder-
lassungsverhältnisse bundesrechtlich ordnete und den norddeut-
schen Bundesangehörigen ein von den Landesgesetzen unabhän-
— 122 —
giges Recht auf Niederlassung j^ab. Legislatorisch korrekt wäre
es gewesen, gleichzeitig mit der Freizügigkeit und der Nieder-
lassung diejenigen Verhältnisse zu regeln, welche sich in untrenn-
barem Zusammenhange mit dem Niederlassungsrechte bewegen,
und welche man mit einem allgemeinen Ausdruck als Heimats-
verhältnisse zu bezeichnen pflegt.«
Daß dies unterblieb, lag nur an Umständen äußerlicher Art,
vor allem der Ueberbürdung des Reichstages mit noch dring-
licheren Gesetzgebungsarbeiten.
>Indem das Freizügigkeitsgesetz neben anderen Gründen im
§ 5 in der Negative feststellt, unter welchen Voraussetzungen ein
Norddeutscher wegen Hilfsbedürftigkeit von dem freigewählten
Aufenthaltsorte hinweggewiesen werden kann, so läßt es ungelöst die
korrelaten Fragen :
1. Welches ist derjenige Ort, an den der nach Freizügig-
keitsgesetz Auszuweisende hinzuweisen ist, und welches ist der
Ort, von dem, welches sind die Voraussetzungen, unter denen auch
der Hilfsbedürftige nicht ausgewiesen werden darf.^
2. Wie regelt sich unter den möglicherweise konkurrierenden
Orten die öffentliche Pflicht, diejenigen Leistungen zu gewähren,
welche kraft staatlichen Zwangs als Folge der Hilfsbedürftigkeit
eintreten ?
Die positive Lösung dieser Fragen in ihrem prinzipiellen und
systematischen Zusammenhang untereinander und mit den an-
grenzenden Rechtsgebieten, wairde als die Aufgabe des vorliegen-
den Gesetzes anerkannt« ^).
Der Entwurf des Bundespräsidiums beruhte auf der Grund-
anschauung, daß die von dem Gesetz zu lösenden Fragen eine
verschiedenartige Behandlung zu erfahren hätten, je nachdem der
Bezirk, welcher in Anspruch genommen werden sollte, dem Hei-
matsstaate angehörte oder nicht. »Nicht nach der im Gegen-
stande selbst liegenden Ungleichartigkeit, sondern nur nach der
Abstammung des Hilfsbedürftigen sollte verschiedenes Recht gel-
ten.« Die Kommission ging von dem entgegengesetzten Stand-
punkt aus, daß diese Ordnung eine gleichartige für das gesamte
Bundesgebiet sein müsse. »Dem Geiste der Bundesverfassung
und ihrer ausdrücklichen Disposition im § 4 entspreche es allein,
l) Wir führten die Motive des Präsidiums und der Kommission so genau und
vielfach im Wortlaut an, weil sie die Rechtslage sowohl wie auch die entgegen-
stehenden Interessen und den Zweck des Gesetzes genau und klar formulieren.
— 123 —
ein einheitliches Heimats- und Niederlassungsrecht zu gründen,
nicht aber ein Heimatsrecht einzuführen, welches erst lebendig
wird, wenn der Norddeutsche die Grenze des Staats seiner spe-
ziellen Angehörigkeit überschreite.«
In den parlamentarischen Kämpfen, welche sich über dies
Gesetz entspannen, drang die Meinung der Kommission und des
mit großer Mehrheit hinter ihr stehenden Reichstags um so leichter
durch, als im Bundesrat selbst Preußen und der an diesem Ge-
setz persönlich anteilnehmende Reichskanzler nur notgedrungen
der Mehrheit der kleinen Bundesstaaten unter der Führung
Sachsens nachgegeben hatte. Wäre doch bei Annahme des
Heimatsprinzips unter gleichzeitiger Geltung der Freizügigkeit
Preußen, weil es die leichteste Ersitzung des Armendomizils
eingeführt hatte, leicht zum »Landarmenverband« und Abschie-
bungsgebiet für die kleinen Staaten geworden, welche an ihrer
Heimatsgesetzgebung in weniger weitherziger Weise festhielten.
Von dem Gesetz selbst kommen hier nur die Abschnitte in
Betracht, welche sich mit dem Bundesindigenat, den Armenver-
bänden und dem Erwerb und Verlust des Unterstützungswohn-
sitzes befassen.
§ I stellt die allgemeine Grundlage her : »Jeder Norddeutsche
ist a) in Bezug auf die Art und das Maß der im Falle der Hilfsbe-
dürftigkeit zu gewährenden öffentlichen Unterstützung, b) auf den
Erwerb und Verlust des Unterstützungswohnsitzes als Inländer zu
behandeln.« Absatz 2 hebt in Konsequenz die alten Verträge und
§ 7 des Freizügigkeitsgesetzes auf. Die Bundesangehörigkeit be-
mißt sich nach dem Gesetz vom i. Juni 1870 über Erwerb und Ver-
lust der Bundes- und Staatsangehörigkeit. »Nativitas, allectio,
nuptiae« begründen die Staatsangehörigkeit, diese hinwiederum
die Bundesangehörigkeit. Jene kann in mehreren Staaten be-
sessen werden. Der Wohnsitz, »domicilium« also allein begründet
die Staatsangehörigkeit nicht mehr. Die Aufgabe der Staatsan-
gehörigkeit steht wie die Auswanderung frei, wenn nicht staats-
rechtliche Gründe oder solche der Wehrpflicht entgegenstehen.
Sie tritt kraft Gesetzes durch Ersitzung ein in 10 Jahren.
Die weiteren Paragraphen des Gesetzes sind eigentlich nur
Ausführungsbestimmungen des § i, von denen uns nur die auf
Absatz b bezüglichen interessieren.
Die §§ 2 — 7 regeln die Verhältnisse der Armenverbände
untereinander und zu den Armen und zu der staatlichen Gewalt.
— 1^4 —
Armenverbände auf konfessioneller Grundlage gelten nicht als
öffentliche Verbände. (§ 6.)
§ 8 weist den Landesgesetzen ihren Geltungsbereich zu :
>Die Landesgesetze bestimmen über die Zusammensetzung und
Einrichtung der Ortsarmenverbände und Landarmenverbände, über
die Art und das Maß der im Falle der Hilfsbedürftigkeit zu ge-
währenden öffentlichen Unterstützung, über die Beschaffung der
erforderlichen Mittel, darüber, in welchen Fällen und in welcher
Weise den Ortsarmenverbänden von den Landarmenverbänden
oder von anderen Stellen eine Beihilfe zu gewähren ist, und end-
lich darüber, ob und inwiefern sich die Landarmenverbände der
Ortsarmenverbände als Organe der öffentlichen Unterstützung
Hilfsbedürftiger bedienen dürfen.« Also der ganze materielle In-
halt des § I Abs. a, nichts dagegen von- dem Abs. b ist der
Landesgesetzgebung zur Ausführung überwiesen. Abs. b ist die
Ursache, der Zweck und der Mittelpunkt des ganzen Gesetzes, er
ermöglicht erst das Durchdringen des preußischen Systems im
ganzen Reiche. Er ist an die Stelle des Abs. 2 § 2 des Präsid.-
Entwurfs getreten, welcher die Heimatsbestimmungen ebenfalls
der Landesgesetzgebung überweisen wollte. Mit diesem Absatz
sind auch die §§ 29 und 49 jenes Entwurfes gefallen, von denen
der erstere das Nebeneinander des bundesgesetzlichen L'nter-
stützungswohnsitzes und des landesgesetzlichen Heimatsrechts ord-
nete, während dieser eine Art von nur armenrechtlicher Staats-
angehörigkeit schuf, welche in dem endgültigen Gesetz aber dem
Institut der Landarmen gewichen ist. (§ 5-)
Die §§ 9 ff. handeln von dem Erwerb und Verlust des Unter-
stützungswohnsitzes. Dieser wird erworben durch Aufenthalt,
Verehelichung, Abstammung. Maßgebend ist in erster Linie der
Aufenthalt, der gewöhnliche, nicht qualifizierte Wohnsitz, »domi-
cilium oder incolatus«. Verehelichung und Abstammung sind un-
selbständige Erwerbsgründe und stehen jenem immer nach. Als
Frist der Ersitzung durch einfachen Aufenthalt hatte der präsi-
diale Entwurf entsprechend seiner dem Heimatprinzip näher-
stehenden Tendenz 5 Jahre vorgeschlagen, die Kommission sich
für 3 Jahre entschieden, der Reichstag selbst aber nur 2 Jahre
beschlossen. Diese Ersitzungsfrist ruht während der Dauer der
von einem öffentlichen Armenverband gewährten Unterstützung,
er wird unterbrochen durch den Antrag seitens des unterstützen-
den Verbandes an einen andern auf Uebernahme des Hilfsbe-
— 125 —
dürftigen. Die im § 5 Freizügigkeitsgesetzes gegebene Beschrän-
kung der Freizügigkeit wird hierdurch wieder wesentUch einge-
engt. (§ 14.)
Es bestehen also als Erwerbsgründe für den Unterstützungs-
wohnsitz noch »domicilium, nativitas, nuptiae«. § 13 stellt als
Erfordernis, allerdings nur auf die Ersitzungsfrist beschränkt, den
»animus perpetuo habitandi« auf. § 12 fügt als weiteres Er-
fordernis die freie Selbstbestimmung bei der Wahl des Wohn-
sitzes hinzu, deren zeitweises Fehlen die Ruhe der Ersitzungsfrist
herbeiführt. Erstes Erfordernis für den Erwerb ist die Groß-
jährigkeit als Selbständigkeit. Als Termin der Großjährigkeit
wurde noch nicht das in Preußen seit dem Gesetz vom 9. De-
zember 1869 maßgebende Alter von 21 Jahren für das Bundes-
gebiet adoptiert, wie dies von vielen Seiten gewünscht und er-
wartet wurde, sondern das 24. Lebensjahr, welches unter Ueber-
springung des seit 1875 im ganzen Reich gültigen Großjährigkeits-
termins von 21 Jahren gleich auf 18 Jahre 1894 und auf 16 Jahre
1909 herabgesetzt wurde. Gesetz vom 17. Februar 1875 hatte
die preußische Großjährigkeit im Reiche eingeführt.
Im übrigen war als freie Selbstbestimmung nicht die tat-
sächliche, privatrechtliche Selbständigkeit, welche durch Dienst-
und andere Verträge eingeschränkt werden konnte, angesehen,
sondern nur die öffentlichrechtliche Geschäftsfähigkeit, die freie
Entschlußfähigkeit nach Maßgabe der Gesetze ^). Auch Gesinde
und Beamte sind in bezug auf den Unterstützungswohnsitz selb-
ständig. Dagegen schließt Mangel der Willensfähigkeit und
dadurch herbeigeführte Geschäftsunfähigkeit oder Geschäftsbe-
schränktheit ^) die Erwerbsfähigkeit auch in dieser Beziehung aus.
Ausgeschlossen vom Erwerb sind also die Personen, welche unter
Vormundschaft stehen, in Haft befindliche und Militärpersonen,
sowie endlich Ehefrauen ^), solange sie nicht aus rechtlich zu-
i) Entsprechend der Rechtsentwicklung in Preußen. Vgl. oben Kap. 6 und
Entsch. Obertrib. 2g. Nov. 1861. »Die Bestimmungen der Gesetze von 1842 können
nur auf Personen Anwendung finden, welche aus freier Wahl und Selbstbestimmung
sich an einem Ort niederlassen oder ihren Wohnsitz wählen. Arnold^ S. 195 und
Eget\ S. 99, der verschiedene spätere Entscheidungen der Gerichte anführt, Reichs-
gericht für die privaten und BAH. sowie OVG. für die öffentlichen Momente.
2) Mangel der Willensfähigkeit entweder »im Zustande der Bewußtlosigkeit
oder krankhafter Störung der Geistestätigkeit, durch welche seine freie Willens-
bestimmung ausgeschlossen war«. BGB. § 104, StGB. § 51.
3) Ueber die Unselbständigkeit der Ehefrauen, vgl. hierzu ALR. 2, i, § 175,
sowie Code Napoleon i, 5, 6, § 214.
— 126 —
lässigem Grunde von ihrem Manne getrennt leben, und Mino-
renne im Sinne dieses Gesetzes. Zeitweise Beschränkuni; der
Willensfähigkeit wird schließlich noch herbeigeführt durch Gewalt,
Drohung und Zwang ^).
Der Verlust des Unterstützungswohnsitzes findet unter genau
den entsprechenden Bedingungen statt wie der Erwerb, mit den-
selben Kautelen und Vorbehalten, vor allem hinsichtlich der
Unterbrechung und Ruhe der Verlustfrist. (§ 22 ff. -).)
Weiterhin behandeln die §i> 28 ff. die Abgrenzung der Auf-
gaben und Verteilung der Kosten unter den einzelnen Armenver-
bänden, §s; 37 ff. das Streitverfahren, für welches als letzte Instanz
in allen Fällen und als einzige Instanz in Streitfällen zwischen
Armen verbänden verschiedener Staaten das Bundesamt für das
Heimatwesen eingerichtet wurde. §§ 42 ft. endlich werden in
§ 60 die Ortsarmenverbände zur Fürsorge auch für die Aus-
länder verpflichtet, wofür die Kosten durch den Bundesstaat zu
ersetzen sind, welcher sie im Wege der Landesgesetzgebung
allerdings auf seine Landarmenverbände abwälzen kann. § 61
erhält die privatrechtlichen Verpflichtungen zur Armenpflege auf-
recht und § 62 gibt den Armenverbänden Alimentationsansprüche
gegen die privatrechtlich Verpflichteten.
Die spätere Gesetzgebung hat dieses Gesetz mehrere Male
wesentlich verändert. Die Novelle vom 12. März 1894 setzte
das zum Erwerb des Unterstützungswohnsitzes befähigende Alter
von 21 auf 18 Jahre herunter, um so der immer mehr in Be-
wegung geratenden Bevölkerung zu 'folgen, deren ökonomische
Gesamtentwicklung auf eine immer frühere Selbständigmachung
der heranwachsenden Jugend der arbeitenden Klassen hinwirkte.
Die Novelle vom i. April 1909 setzte das Mindestalter noch mehr
herab und zwar auf 16 Jahre und beförderte dadurch die Locke-
rung der Familienbande nur noch mehr. Ferner verminderte
diese Novelle auch die Erwerbs- und Verlustfrist des Unter-
stützungswohnsitzes von 2 auf I Jahr, demselben Zuge der fluk-
tuierenden Arbeitermassen folgend.
Die hier besprochenen norddeutschen Bundesgesetze wurden
in Baden ^) und den südlich des Mains belegenen Teilen des Groß-
1) Vgl. hierzu die Bestimmungen ALR. i, 3, §§ 31 — 44, sowie SGB. § 52.
2) Ueberflüssig ist eigentlich § 28, Abs. 2, welcher den Verlust UWS. ein-
treten läßt mit dem Erwerb eines andern. Hierfür kommen nur sich verheiratende
Ehefrauen in Betracht, diese werden aber dadurch unselbständig.
3) Vgl. Etiwünghaus. In Baden hatte die seit dem Ges. 4. Okt. 1862 betr.
— 127 —
herzogtums Hessen durch die Verfassung des Norddeutschen Bun-
des laut Protokoll vom 15. November 1870, im Königreich Bayern
(jedoch mit Ausnahme der Gesetze über den Unterstützungs-
M^ohnsitz und betreffend die polizeilichen Beschränkungen der
Eheschließung) durch Vertrag vom 23. November 1870, bezüglich
des Gesetzes vom 22. April 1871 betreffend die Einführung nord-
deutscher Gesetze in Bayern; im Königreich Württemberg laut
Protokoll vom 25. November 1870 eingeführt. In Elsaß-Loth-
ringen war das Unterstützungswohnsitzgesetz ebenfalls nicht einge-
führt, diese selbständige Stellung ist jedoch durch die Novelle
des Jahres 1909 beseitigt, indem das Gesetz von Reichs wegen
die bis dahin bestehende französische Gesetzgebung ablöste.
Seitdem unter dem 23. Oktober 191 3 nunmehr auch Bayern
sich dem Prinzip und Geltungsbereich des Unterstützungswohn-
sitzes angeschlossen hat, herrscht auch auf diesem Gebiete in
ganz Deutschland Rechtseinheit.
Niederlassung bestehende völlige gewerbliche Freizügigkeit eine Klasse von Men-
schen geschaffen, für welche armenrechtlich nicht gesorgt war. Bereits 1869 lag
ein Ges. -Entw. vor, welcher den norddeutschen Unterstützungswohnsitz adoptierte,
— 128 —
Dritter abschließender Teil.
Achtes Kapitel.
Unterstützungswohnsitz und Heimatrecht.
Aufgabe der bisherigen Darstellung war es, die Entwick-
lung des öffentlichen Armenrechts geschichtlich zu verfolgen.
Es bleibt nun noch übrig, die wirtschaftlichen und rechtlichen
Folgen der beiden bestehenden Grundsätze, nach welchen die
Zuweisung der Verpflichtung zur Armenpflege erfolgt, festzu-
stellen, soweit dies nicht schon im Rahmen der historischen
Darstellung geschehen ist. Dabei ergibt sich die Notwendig-
keit einer nochmaligen strengen, systematischen Gegen-
überstellung der Prinzipien, welche am besten an der Hand des
Materials der Gesetzgebung selbst erfolgt. Heimatwesen und
Unterstützungswohnsitz sind in ihrem begrifflichen Inhalt zu er-
fassen und die spezifischen Unterschiede noch einmal zusammen-
zufassen.
Die vom Bundespräsidium dem norddeutschen Reichstag
vorgelegten Motive ^) zum Gesetz über den Unterstützungswohnsitz
schildern das Heimatrecht in folgender Weise: »Die Armen-
gesetzgebungen der übrigen Bundesstaaten — außer Preußen —
einschließlich der neu erworbenen preußischen Landesteile,
tragen, so wesentlich sie sich auch in vielen Beziehungen von
einander unterscheiden, doch insofern ein und dasselbe Gepräge,
als sie ohne Ausnahme in dem alten deutschen Heimatbegriffe
wurzeln, wenngleich der Inhalt desselben in manchen Staaten
z. B. im Königreich Sachsen, bereits vor dem Eingreifen der
Bundesgesetzgebung auf den bloßen Unterstützungswohnsitz be-
schränkt worden ist.«
Es ergibt sich hieraus die Folgerung, daß der Unterschied
zwischen den beiden Prinzipien nicht nur ein materieller des In-
l) Vgl. Arnold, S. 143 ff.
— 129 —
halts, sondern auch ein solcher der Form und des Erwerbs ist.
Die Denkschrift fährt fort :
»In den meisten anderen deutschen Bundesstaaten bildet da-
gegen das Recht auf Armenversorgung nur einen der mannig-
fachen Ausflüsse des Heimatrechts, welches in seiner Totalität
die dem Individuum angeborene volle Angehörigkeit an einen
bestimmten Ort bedeutet, und neben dem Unterstützungswohn-
sitze die durch die Bundesgesetzgebung inzwischen selbständig
geregelten bürgerlichen Rechte des Aufenthalts, der Niederlas-
sung, des Gewerbebetriebs, der Verehelichung und Gründung
einer Familie in sich schließt.«
Hierzu bemerkt die bayrische Denkschrift von 191 2 ^) noch
sehr instruktiv: »Da die Heimat sich nicht auf die ihr durch
das Heimatgesetz selbst verliehenen Wirkungen beschränkt, son-
dern mit ihren Beziehungen in eine Reihe anderer Gesetze und
verbindlicher Vorschriften eingreift, indem sie teils als Grundlage
für die Zuständigkeit der Behörden gilt (z. B. Artikel 12 des
Zwangserziehungsgesetzes, §§ i, 7, 23 der Zuständigkeitsverord-
nung vom 4. Januar 1872, § 2 der Verordnung vom 24. Dezem-
ber 1899 [Vornamensänderung]), teils die sachliche Voraussetzung
für den Erwerb von Rechten oder Rechtsansprüchen bildet (vgl.
namentlich die Vorschriften der Gemeindeordnungen über die
Teilnahme an den Gemeindenutzungen und das Bürgerrecht), so
müßte, soweit nötig, für den Ersatz der wegfallenden Heimat
durch einen anderen Rechtsbegriff Sorge getragen werden. Wo
es sich hierbei um Verhältnisse mehr formeller Art handelt, wird
an die Stelle der Heimat je nach der Sachlage der Wohnsitz,
der Aufenthalt oder auch der Unterstützungswohnsitz zu treten
haben. In anderen Fällen wird möglicherweise die Heimat
durch einen qualifizierten Wohnsitz zu ersetzen sein. Insbeson-
dere wird hiebei die Rückwirkung der Heimat auf das Gemeinde-
recht in Betracht zu ziehen sein.« Ueber diese Beziehung sagt
die 1870er Denkschrift:
»Mit der Gemeindeangehörigkeit steht das Heimatrecht ^) in
der Mehrzahl der Bundesstaaten dergestalt in organischer Ver-
1) K. d. Abg. Beil. loo Entw. e. Ges. betr. Abänderung d. bayr. Heimat- u,
Armengesetzgebung S. 49.
2) Daraus, daß die Ausführungen der 1870er Denkschrift, welche ganz ohne
Berücksichtigung Bayerns abgefaßt ist, und die bayrische von 19 12 sich ohne wei-
teres ergänzen, erhellt das Typische des Begriffs.
Zeitschrift für die ges. Staatswissensch. Ergänzungsheft 51. 9
— I30 —
bindung, daß beide zusammenfallen, sei es, daß erstcre durch
das letztere, wie z. B. in Anhalt, Koburg, Braunschweig, Olden-
burg, oder sei es, daß das letztere durch die erstere, wie z. B.
in Bremen, Sachsen-Meiningen, Hessen formell bedingt ist.
])ie Heimat ist ein Grundrecht auch in dem Sinne, daß die
Gesetzgebung fast aller Staaten Vorsorge dafür getroffen hat, in
der Regel jedem Inländer einen bestimmten Heimatort im In-
lande anzuweisen ; in manchen Heimatgesetzgebungen ist sogar
die gesetzliche Notwendigkeit des Besitzes einer Hcimatbercchti-
gung in einer inländischen Gemeinde für jeden Untertan aus-
drücklich ausgesprochen. (Anhalt, Koburg-Gotha, Sachsen-Wei-
mar, Lippe.)
»Die hauptsächlichste Art des Erwerbes der Heimat, oder
wie es in Hannover und Braunschweig genannt wird, des VVohn-
rechts, ist der Erwerb durch die Geburt, welcher subsidiarisch
überall da eintritt, wo das Heimatrecht nicht auf eine andere
Weise erworben ist. In der Regel hat jeder Inländer die Hei-
mat an dem Orte, wo zur Zeit seiner Geburt sein Vater das
Heimatrecht besessen hat. Partikulär ist die Vorschrift, wonach
in Sachsen und Schleswig-Holstein die Heimat am Geburtsort
stattfindet, eine Vorschrift, welche in beiden Gesetzgebungen
besondre Bestimmungen über die Heimat der im Auslande von in-
ländischen Eltern geborenen Individuen erforderlich machte^) . . .
»Eine fernere Art des Heimaterwerbs ist diejenige durch aus-
drückliche Aufnahme in den Gemeindeverband. Die Aufnahme
kann erfolgen durch einen spontane'n Akt der Gemeinde. Die
Einwilligung kann aber nach den meisten Gesetzgebungen im
Weigerungsfalle durch die Obrigkeit suppliert werden, wenn der
die Aufnahme Nachsuchende die Erfüllung gewisser, die Ge-
meinde sicher stellender Bedingungen — Besitz einer Wohnung,
eines hinreichenden Vermögens, der erforderlichen Arbeitskraft
und Arbeitsgelegenheit, Unbescholtenheit — nachweist.
»Kurhessen macht in dieser Beziehung eine Ausnahme, indem
hier die Gemeinde niemals zur Aufnahme eines Fremden ge-
zwungen werden kann, und in Sachsen, wo an Stelle der Auf-
nahme in den Gemeindeverband die Erteilung der Heimat durch
l) Einzigartig ist die hierdurch notwendig werdende Bestimmung, daß diese
Geburtsheimat im eigentlichen Sinne erst in Geltung tritt mit dem Augenblick der
Großjährigkeit, bis dahin jedoch die jeweilige Heimat der Eltern auch die des
Kindes ist. Flotlwell, in Pr. Jb,
— 131 —
die Obrigkeit tritt, darf die Erteilung nicht ohne die verfassungs-
mäßige Zustimmung der Gemeinde erfolgen.
»Die Anstellung im Staatsdienst vertritt in den meisten Staaten
die Aufnahme in den Gemeindeverband.
»Der Erwerb des Heimatsrechts durch Zeitablauf kommt zwar
in einzelnen Staaten vor, aber er ist meistens dadurch erschwert,
ja in einzelnen Gesetzgebungen so gut wie illusorisch gemacht,
daß der Aufenthalt ein besonders qualifizierter sein muß.
»In Anhalt durch 3jährigen Aufenthalt, während dessen der
Aufzunehmende sich und den Seinigen den notdürftigen Lebens-
unterhalt auf ehrliche Weise verschafft, keiner öffentlichen Unter-
stützung bedurft und nicht gebettelt hat. Handlungsdiener,
Handw^erksgesellen, Dienstboten, Schäfer und Gärtner müssen, um
auf diese Weise die Heimat an einem Ort zu erwerben, eine
eigne Wohnung und Wirtschaft gehabt und sich polizeilich ge-
meldet haben ^).
»Nach lojährigem ununterbrochenen Aufenthalt ist die Hei-
mat auch ohne Erfüllung obiger Bedingungen erworben. In Braun-
schweig erwirbt der Ortsfremde durch 6jährigen ununterbrochenen
und in selbständigen Verhältnissen zugebrachten Aufenthalt einen
gerichtlich verfolgbaren Anspruch auf Verleihung des Wohnrechts,
vorausgesetzt, daß er seine Abgaben entrichtet, nicht wegen
mangelnder Unterhaltsmittel der Gemeinde zur Last fällt, und
nicht wegen bestimmter gemeingefährlicher Vergehen oder Ver-
brechen bestraft ist oder in Konkurs gerät.
»In Lippe durch selbständigen, fünf Jahre hindurch fortge-
setzten Wohnsitz, für Zeitpächter und Gesinde durch lojährigen
Aufenthalt.
»In Lübeck durch 3 jährigen, unter Beobachtung der polizei-
lichen Meldevorschriften gegründeten Wohnsitz.
»Im Herzogtum Oldenburg und im Fürstentum Lübeck durch
3 jähriges ununterbrochenes Wohnen ohne Bestrafung wegen ent-
ehrender Verbrechen, wegen Betteins oder Trunkenheit. Ver-
i) Nach Gesetz vom 24. Mai 1844 betr. die Untertanen- und Heimatsverhält-
nisse. Die Heimat schließt in sich die Befugnis zur Verehelichung, zum Wohnen
und »nach Maßgabe der darüber bestehenden besonderen Vorschriften sich zu
nähren« und zur Armenunterstützung. Die Heimat wird namentlich nicht verloren
durch einseitigen Verzicht des Berechtigten, durch die bloße Veräußerung der
Grundbesitzungen, womit der Heimatberechtigte ansässig ist, auch nicht durch Ver-
lust des Bürger- oder Gemeinderechts. Vgl. Bitzer, S. 260.
— 132 —
armung, Konkurs und bei Frauenzimmern außereheliche Schwanger-
schaft unterbrechen ebenfalls den Erwerb der Heimat ').
In Sachsen durch 5 jähriges Wohnen am Orte bei Ansässig-
keit mit einem Wohnhause ^).
In Schwarzburg-Rudolstadt durch lojährigen Aufenthalt.
In Schwarzburg-Sondershausen desgleichen.
In Waldeck durch fortgesetzten 5jährigen Aufenthalt.
In Mecklenburg-Schwerin durch 2 jähriges Wohnen am Orte
mit eigenem Herde oder Gewerbebetrieb oder Lebensunterhalt
durch W^rmögen.
In Sachsen- Weimar durch lOJährigen, selbständigen, ununter-
brochenen Aufenthalt.
Im vormaligen Königreich Hannover durch den in einer Ge-
meinde 5 Jahre hindurch mit der Absicht, sich dauernd nieder-
zulassen, und unter Führung eines eignen Haushalts ununter-
brochen fortgesetzten Aufenthalt.
In Schleswig-Holstein durch 5jährigen Aufenthalt.
Die Zuweisung einer Heimat ist das subsidiarische Aushilfs-
mittel durch die Obrigkeit für diejenigen vereinzelten Fälle, wo
eine Heimat weder durch Aufnahme, noch durch Geburt, noch
auf eine andere gesetzliche Weise begründet wird.
Zu dieser Kategorie gehören besonders solche Personen,
1) Ges. betr. Gemeindeordnung vom i. Juli 1855, Gemeindebürger sind alle
diejenigen, welche Heimatrechte in der Gemeinde haben. Es wird erworben durch
Geburt, Legitimation, Verheiratung, Anstellung im öffentlichen Dienst, Aufnahme
und selbständige Niederlassung. Die Aufnahme geschieht durch Beschluß des Ge-
meinderats und darf keinem Staatsangehörigen, welcher seine Uebescholtenheit nach-
weist, und den Besitz der Mittel, für sich und die Seinigen den nötigen Lebens-
unterhalt auf die Dauer zu finden, wahrscheinlich macht, versagt werden. Vgl.
Biizer, S. 253.
2) In Sachsen hat sich ganz ähnlich wie in Bayern seit der ersten Armen-
ordnung 1555 das Heimatrecht streng entwickelt. Früh, schon 1729 wird jedoch
der Obrigkeit maßgeblicher Einfluß eingeräumt bei der Bemessung der Heimat-
gehörigkeit. Die letzte gesetzliche Regelung brachte das Heimatgesetz vom 26. Nov.
1834 in Verbindung mit der Armenordnung vom 22. Okt. 1840. Erwerbsgründe
sind : Erteilung, Ersitzung, Geburt. Selbst Ansässigkeit und Bürgerrecht begründen
die Heimat erst nach 5 jähriger Karenzzeit, ebenso wie die preußische Novelle
von 1855. »Jeder Heimatsbezirk hat die Verbindlichkeit, seine Heimatgehörigen . .
bei sich aufzunehmen und . . . ihnen Unterhalt und Unterkommen zu verschaffen.«
§ 4. >Die Ortspolizeibehörde hat auf Verlangen desjenigen, der ein Interesse daran
hat, über die nach den Bestimmungen des Gesetzes begründete Heimatsangehörig-
keit einen Schein auszustellen. Dieser Schein (der Heimatschein) begründet die
Verbindlichkeit des Heimatbezirks. € § 15. Bitzer, S. 200.
— 133 —
deren Heimat auf keine Weise zu ermitteln ist, oder welche
wegen bestehender Staatsverträge, namentlich mit Rücksicht auf
die Gothaer Konvention, nicht ausgewiesen werden können, neu-
aufgenommene Untertanen, Findlinge usw. Die Zuweisung er-
folgt zu dem Orte, dessen Verpflichtung nach den obwaltenden
Verhältnissen relativ am nächsten liegt.
Der Verlust der Heimat durch fortgesetzte Abwesenheit
kommt gemeinrechtlich nur ganz vereinzelt vor, z. B. in Waldeck
durch fünfjährige Abwesenheit aus der Gemeinde. In den beiden
Mecklenburg ging bis in die neueste Zeit die Ortsangehörigkeit
durch zweijährige Abwesenheit und (einziger Fall) durch ein-
seitige Erklärung des Berechtigten verloren. Gegenwärtig hat
indessen ausdrücklich der Grundsatz Geltung erlangt, daß das
einmal erworbene Anrecht an einen Ort nur mit dem Erwerbe
einer anderweiten Heimat erlischt.
Da die Heimatlosigkeit ein nahezu unbekannter Begriff ist,
so hat sich ein Bedürfnis zur Bildung von Landarmenverbänden
im preußischen Sinne nicht herausgestellt. Den Landarmenver-
bänden ähnliche Anstalten bestehen dessenungeachtet in mehreren
Bundesstaaten, teils zur Unterstützung solcher Gemeinden, denen
die Tragung der ihnen gesetzlich obliegenden Armenlast zu schwer
fällt, teils unmittelbar zur Uebernahme der Kosten der Armen-
pflege in besonderen Fällen, z. B. bei Unterbringung Geistes-
kranker in Heilanstalten, bei Epidemien, oder zur Uebernahme
der durch die Verpflegung solcher Armen entstandenen Kosten,
denen eine Heimat durch eine Obrigkeit angewiesen ist (Waldeck,
Weimar, Reuß, Birkenfeld ^).)«
i) Das Heimat wesen in Hannover. Das hannoversche Heimatrecht
ist geordnet gewesen durch die Domizilsordnung vom 6. Juli 1827, später ergänzt
durch Ausschreiben der Landdrostei Lüneburg vom 6. Okt. 1840. Die Heimat
heißt hier Wohnrecht. Das Recht, an einem Orte zu wohnen, wird erworben durch
Geburt, Verheiratung, Anstellung im Staatsdienst und durch bloßen Aufenthalt. (§ i.)
§ 3. »Die Aufnahme in die Reihe der Gemeindeglieder geschieht i. durch Er-
langung des Bürgerrechts und durch obrigkeitliche Erlaubnis zum Aufenthalt in den
Städten und Flecken. 2. auf dem Lande a. durch öffentlichen eigentümlichen Er-
werb und Besitz eines Wohnhauses, b. durch die Zustimmung der Gemeinde und
hinzukommende Genehmigung der Obrigkeit, c. durch Bestimmung der Obrigkeit
wider den Willen der Gemeinde nach folgenden Grundsätzen: i. Wenn ein Ge-
werbetreibender nachweist, daß er soviel Vermögen besitzt, um sein Gewerbe an-
fangen zu können, eine Konzession der Regiminalbehörde oder die Aufnahme in
eine Gilde für einen bestimmten Ort erhalten hat, und eine Wohnung daselbst
findet. 2. Wenn ein zu der Klasse der Handarbeiter oder Taglöhner Gehörender
— 134 —
Soweit die Denkschrift des Bundespräsidiiims 1870. Ueber
das bayrische Ileimatrccht insbesondere sagt noch die bayrische
die Wahrscheinlichkeit, seinen Unterhalt auf längere Zeit zu finden, nachweiset.
Dahin gehört besonders, a) daß er arbeitsfähig ist, b) daß ei Arbeit gefunden hat.
Außerdem muß derselbe c) eine Wohnung gefunden haben, d) Wenn Jemand ein
sonstiges hinreichendes Vermögen, um sich und seine Familie zu ernähren, nach-
weiset und Wohnung findet. c § 5. >Wenn Jemand, ohne die Befugnis zum dauern-
den Aufenthalte auf die oben unter i bis 3 bestimmte Weise erhalten zu haben,
sich mit der Absicht, sich dauernd niederzulassen, fünf Jahre hindurch in einer
Gemeinde ununterbrochen aufhält, und seinen eigenen Haushalt führt, so daß die
Gemeinde oder in Städten die Obrigkeit eine Kenntnis davon hat erlangen können,
und seine Absicht, einen dauernden Wohnsitz zu nehmen, deutlich gewesen ist, so
hat derselbe das Recht zum ferneren Aufenthalte an diesem Orte erworben. c
In Hannover halte die Einrichtung der Heimatscheine eine besonders häufige
Anwendung gefunden. Diese Scheine, anderswo wie in Sachsen u. a. Rückkehrscheine,
Rückatteste, Heimholungsscheine, Ausweisscheine genannt, fanden in allen deutschen
Staaten mit dem Prinzip der Heimat Anwendung, um dadurch die Wirkung der
Freizügigkeitsbeschränkungen in etwas zu paralysieren. In Preußen stand ihre Ein-
führung 1842 in Erwägung, wurde aber in richtiger Erkenntnis, daß sie bei der
Regelung durch den Unterstützungswohnsilz überflüssig tei , nicht ver^virklicht.
Diese Scheine wurden von der Heimatgemeinde ausgestellt , mußten ausgestellt
werden gesetzlich teils ipso jure, teils nur auf Wunsch und enthielten die Ver-
pflichtungsanerkennung seitens der Gemeinde zur Uebernahme. Keinem, der hier-
mit ausgestattet war, durfte der Aufenthalt in einer anderen Gemeinde verweigert
werden, da ja der Aufenthaltsgemeinde keine Lasten mehr erwachsen konnten. In
Hannover jedoch wurde ihre Wirksamkeit anders als in mehreren anderen Staaten
bereits 1840 durch ein Ausschreiben der Landdrosteien eingeschränkt: waren sie
bisher imstande gewesen, die Ersitzung der Heimat nicht nur hinauszuschieben,
sondern auch überhaupt zu vereiteln, also die gesetzliche Bestimmung aufzuheben,
so hörte diese Wirkung jetzt auf : die Ersitzung ^rat trotz der Heimatscheine ein.
Zum bloßen Aufenthalte ist fürder die Beibringung eines Wiederaufnahme-
scheins nicht mehr notwendig, sondern nur polizeiliche Erlaubnis. Doch bleibt
es in jedem Falle der Gemeinde überlassen, die nicht heimathörige Person
vor Ablauf der 5 Jahre der Ersitzungsfrist zum Verlassen des Ortes zu veranlassen.
Ob sie dieselbe dazu polizeilich zwingen kann, bleibt nach den Vorschriften unklar.
Vgl. Bitzer, S. 216. Emminghaus, S. 98.
Für Oesterreich ist maßgebend das Gemeindegesetz vom 17. März 1849
in Verbindung mit dem Staatsgrundgesetz vom 21. Dez. 1867, später durch Gesetz
vom 5. März 1862 abgeändert. Darnach werden innerhalb der Gemeinde unter-
schieden : Personen, welche a) sich vorübergehend in der Gemeinde aufhalten, die
Auswärtigen, b) Gemeindeangehörige, die das Heimatrecht darin haben, c) Ge-
meindebürger, d) Gemeindegenossen, welche zwar kein Heimairecht haben, aber
mit Grundeigentum oder Gewerben ansässig sind, welche also die Heimat noch
nicht ersessen haben. Ferner werden innerhalb der Gemeinde noch besondere
engere Verbände unterschieden und zwar: l. die Ortschaften mit Sondervermögen,
2. Kultusgemeinden, 3. Konkurrenzverbände zur Aufteilung öffentlicher Lasten, im
Interesse Einzelner, 4. eine engere Realgemeinde mit Sondervermögen, an welcher
— 135 —
Denkschrift 191 2 historisch, was wir an seinem Ort bereits aus-
geführt haben: »Die derzeitige Heimat- und Armengesetzgebung
in Bayern beruht auf dem Heimatprinzip. UrsprüngUch ein Be-
griff des Armen- oder Bettel-PoHzcirechts, wandelte sich die
Heimat schon durch die Gesetzgebung von 1825 zur Grundlage
des Gemeindeverbandes um. Die Heimat ist die Zugehörigkeit
zu einer bestimmten Gemeinde. Die Unterstützungspflicht ist nur
eine Seite der Wirkungen der Heimat.«
Seydel^) definiert den Heimatsbegriff dahin: »Man versteht
die Teilnahme erworben wird durch Bürgerrecht und Liegenschaften innerhalb der
Realgemeinde. Die Heimat wird erworben durch Geburt, nachfolgende Legitimation,
Verehelichung für die Frauen, Anstellung als Staats-, Hof-, Landes-Beamter öffent-
licher Fonds, durch Vertrag mit der Gemeinde und stillschweigende Duldung, bez.
Ersitzung.
Das Staatsgrundgesetz stellt fest, daß jeder Staatsangehörige eine Heimat
haben muß, daß aber jede Gemeinde über die Aufnahme neuer Mitglieder selbst
entscheidet. Die Heimat begründet die Zuständigkeit einer Person, ferner Anspruch
auf polizeilichen Schutz und Benutzung der Anstalten, ungestörten Aufenthalt und
Versorgung nach Maßgabe der Bedürftigkeit.
Die Heimat ist kein politisches Recht, weil sie keinen Einfluß auf die Willens-
bildung der Gemeinde verschafft — dies tut erst das Bürgerrecht — , sondern bür-
gerliches Recht, mit privatrechtlichen Folgen. Die Gemeinde wird hier also noch
ganz als Genossenschaft mit Untergenossenschaften aufgefaßt. Vgl. Bitzer, S. i8o,
sowie Ulbrich, Oesterreichisches Staatsrecht, §§ 97 bis 103 von den Gemeinden.
Emminghaus, S. 420.
In derselben Auffassung von der Gemeinde als Genossenschaft wurzelt die
württembergische Regelung der Heimatsverhältnisse. Zunächst wurde in
den Gene-alverordnungen und Edikten betr. die Polizeianstalten und die Gemeinde-
verfassung vom II. Sept. 1807 und 31. Dez. 1818 die Verpflichtung der Gemeinden
zur Armenpflege festgestellt gegen die Bürger, Beisitzer und Schutzverwandten.
Diese letztere Klasse wird in dem Bürgerrechtsgesetz vom 15. April 1828 durch
die der Heimatberechtigten ersetzt. Diese drei Beziehungen gewähren den Anspruch
auf häusliche Niederlassung, Gewerbebetrieb und Unterstützung. Erwerbsgründe
sind Geburt und Aufnahme durch die Gemeinde unter gesetzlicher Garantie und
Aufsicht der Obrigkeit und Zuteilung durch die Obrigkeit. Die Novellen vom
4. Dez. 1833 und 5. Mai 1852 änderten die Aufenthaltsbestimmungen nur graduell,
aber nichts an ihren wesentlichen Grundsätzen. Bitzer, S. 226 und Emming-
haus, S. 358.
In Baden gelten fast genau dieselben Bestimmungen wie in Württemberg
durch das Gesetz über die Rechte der Gemeindebürger und die Erwerbung des
Bürgerrechts vom 15. Febr. 1851. — Ersitzung findet durch 5jährigen Aufenthalt
statt. Heimatlosen wird eine Gemeinde zugewiesen. Die Bedingungen sind wesent-
lich dieselben wie dort. Die Heimatberechtigten heißen hier Einsassen. Bitzer,
5. 241 und Emminghaus, S. 3S0.
i) Seydel, Bayrisches Staatsrecht, Bd. 2, S. 57 ff.
- 136 -
unter Heimat die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gemeinde.
Die rechtlichen Wirkungen lassen sich ebensowenig durch eine
bestimmte Formel ausdrücken wie die rechtlichen Wirkungen der
Staatszugehörigkeit. Diese Wirkungen können nur im Zusammen-
hang mit der Erörterung jener Rechtsgchicte behandelt werden,
in welchen sie zu Tage tritt.« (liier cjjen im Zusammenhang
mit dem Gebiete des Armenwesens.)
»Als eine allgemeine und begriftlich-notwendige Folge der
Heimat erscheint nur die, daß den Gemeindeangehörigen der
Aufenthalt in der Gemeinde aus polizeilichen Gründen nicht ver-
sagt werden darf Durch diesen letzteren Umstand unter-
scheidet sich der Aufenthalt kraft Heimat von dem Aufenthalt
kraft Freizügigkeit Als leitender Gedanke des bayrischen
Heimatrechts wird häufig der Satz hingestellt, daß jeder Bayer
eine Heimat haben muß. Der Satz lautet in richtiger Fassung
so, daß jeder Bayer, der keine eigentliche Heimat hat, eine vor-
läufige Heimat besitzen muß. Im übrigen sind allerdings die
Bestimmungen der bayrischen Gesetzgebung so bemessen, daß
der Zustand der Heimatlosigkeit möglichst vermieden wird und
als Ausnahmezustand erscheint. Man kann es also als die ge-
setzgeberische Absicht der Gestaltung unseres Heimatrechts be-
zeichnen, daß jeder Bayer eine Heimat haben muß. Diese Ab-
sicht kommt in der Bestimmung zum Ausdruck, daß kein Bayer
die Heimat, welche er besitzt, anders verlieren kann als durch
Erwerb einer neuen« ^).
l) Es sei hier noch einmal auf die Gesetzgebung Württembergs über das Recht
der Wohnsitznahme zurückgekommen, welches von der Gemeindegenossenschaft
ausgeht und dasselbe in erster Linie an den Besitz des Ileimatrechts knüpft. »Das
Heimatrecht, welches sowohl das Bürgerrecht, die Grundlage der politischen Rechte
in der Gemeinde, als das ßeisitzrecht, die mehr beschränkte Form der Ge-
meindemitgliedschaft umfaßt, und das, wenn einmal erworben, als erbliches
Recht den Gemeindegenossen und deren Nachkommen erhalten bleibt, solange
nicht ein ausdrückliches Aufgeben desselben eintritt, dieses Heimatrecht, das aber
gleichwohl nicht an den Wohnsitz in der Heimat gebunden ist, ist die rechtliche
Grundlage des Wohnsitzes im Staatsgebiete, es gewährt die durch keine Klausel,
keine Verwaltungsmaßregel und keinen Richterspruch antastbare Befugnis, in der
Gemeinde des Heimatorts sich häuslich niederzulassen und unter den gesetzlichen
Bedingungen sein Gewerbe auszuüben. Im Heimatort und hier allein hat der
Staatsbürger die feste Stätte seines Wohnsitzrechtes, in allen anderen Gemeinden
genießt er zwar ein gesetzlich geregeltes, aber immerhin beschränktes Gastrecht,
denn es kann ihm der schon gegründete Wohnsitz, auf Einsprache des Gemeinde-
rats des Wohnorts aus gesetzlich bestimmten Gründen, ohne eine solche aber wegen
— 137 —
lieber den Unterstützungswohnsitz bringt die amtliche Denk-
schrift von 1870, welche wir bei der Erörterung des Heimatbe-
grifTs mit Erfolg heranziehen konnten, sehr wenig: >Die preußische
Armengesetzgebung beruht wesentlich auf dem Prinzip der Frei-
zügigkeit. Diesem Prinzip widerspricht es, das Individuum für
immer an einen und denselben Heimatsort zu binden. An die
Stelle der mit der Geburt erworbenen und den Besitzer in der
Regel durch sein ganzes Leben begleitenden Heimat ist daher in
Preußen der Erwerb und Verlust des Unterstützungswohnsitzes
durch Zeitablauf getreten Eine Geburtsheimat findet nur
in dem Sinne statt, daß die Kinder den Unterstützungswohnsitz
des Vaters so lange behalten, bis nach erlangter Großjährigkeit
durch ihre eigenen Aufenthaltsverhältnisse eine Veränderung
hierin entsteht Der Verlust des Unterstützungswohnsitzes
tritt ein durch dreijährige Abwesenheit aus der Gemeinde nach
erlangter Großjährigkeit, die Fälle ausgenommen, in welchen die
Abwesenheit aus bloß vorübergehenden Verhältnissen hervor-
geht . . . Die Verpflichtung zur Armenpflege ruht auf den Ürts-
armenverbänden, worunter die Gemeinden, beziehentlich diejenigen
Gutsherrschaften verstanden werden, deren Besitzungen sich nicht
im Gemeindeverbande befinden .... Die Fürsorge für die Ver-
armten, welche keinen Unterstützungswohnsitz haben, liegt den
Landarmenverbänden ob, und zwar demjenigen Landarmenver-
band, in dessen Bezirk das Bedürfnis dazu hervortritt.«
Es ist nun in Kürze erst die geschichtliche Entstehung und
das V/esen des Unterstützungswohnsitzes als eigenartiger ge-
meinde- und armenrechtlicher Institution darzulegen und zu be-
weisen.
Von einer selbständigen Entwicklung dieses Begriffs kann
erst die Rede sein nach Einführung der allgemeinen staatsbürger-
lichen Freiheit und Gleichheit als Prinzip und Institution, sowie
nach ihrer Anerkennung als Grundlage des Staats. Der Unter-
stützungswohnsitz ist vor allem bedingt durch die Beseitigung
aller privatrechtlichen Schranken der Bewegungsfreiheit des Staats-
bürgers als solchen. Der Unterstützungswohnsitz geht davon aus,
daß der einzelne Staatsbürger in erster Linie direkt mit dem
Staate in Verbindung steht, daß er nicht zuerst Gemeindebürger
schlechten Prädikats oder aus anderen gesetzlich nicht näher bestimmten Gründen
polizeilicher Art durch die zuständige Regierungsbehörde entzogen werden.« Vgl.
Bitzer, S. 231.
- 13« -
ist. Kr zerstört das genossenschaftliche privatrechtüche Prinzip
zugunsten des c)ffentHchen einzelpers(")nHchcn. Kr basiert auf
der Gesellschaft, nicht auf der Gemeinschaft. (Vgl. o. S. 84 fif.)
Der Unterstützungswohnsitz ist erst durch die preußische
Verwaltungspraxis und Gesetzgebung in die deutsche Kommunal-
und Armengesetzgebung eingeführt und weiter ausgebildet. Das
entscheidende Merkmal ist die Behandlung der Heimatlosen.
Noch das ALR. sieht denjenigen, welcher keinen festen Wohn-
sitz ersessen oder ererbt hat, als »Vagabonden im rechtlichen
Sinne« an, nimmt ihm durch diese Feststellung allerdings zum
Teil schon den sittlichen Makel und die rechtliche Anrüchigkeit.
Die polizeiliche Behandlung desselben beruht jedoch noch auf
dem gemeinrechtlichen Heimatsbegriff. Der Zustand der Heimat-
losigkeit ist ein unerwünschter und wird mit polizeilichen Maß-
nahmen bekämpft. Die freiere Gestaltung der Krsitzung in Preu-
ßen ist somit nicht als Aufhebung des alten gemeindeutschen
Heimatbegriffes anzusehen, sondern grade als seine Anerkennung,
indem sie dessen allgemeine Gültigkeit durchsetzen will. Die
anderen deutschen Staaten gehen prinzipiell bis 1842 denselben
Weg wie Preußen, auch sie erkennen notgedrungen eine Ersitzung
an, nur mit wesentlich längeren Fristen. Dies ist also nur ein
gradueller Unterschied, kein wesentlicher, wenn er auch viele
Beobachter durch die starke Steigerung dieser graduellen Ver-
schiedenheit getäuscht und zu dem falschen Urteil geführt hat,
als sei es ein wesentlicher Unterschied ^). Ohne Zweifel ist der
Heimatsgrundsatz durch die P^infügunrg einer Krsitzung durch-
brochen, aber darum doch nicht aufgehoben.
Das preußische Armengesetz und Aufnahmegesetz vom Jahre
1842/ 185 5 hat zuerst die grundsätzlichen Bedingungen des Unter-
stützungswohnsitzes abweichend von der Heimat festgestellt, in-
dem es eine nur allein armenrechtliche Gemeindezugehörigkeit
schuf. Und diese neue preußische Institution ist sicherlich durch
die französische revolutionäre Gesetzgebung auf das innigste be-
einflußt worden, wenn sich auch der Grad dieser Beeinflussung
nicht genau feststellen läßt. Tatsache ist, daß, wie allgemein an-
erkannt, die französische Gesetzgebung den Unterstützungswohn-
sitz als solchen geschaffen hat, ferner daß Preußen in seiner
Verwaltungsgesetzgebung auf das tiefste durch diese französische
Gesetzgebung beeinflußt worden ist, wie dies ja in der Natur der
l) So Riedel, Biizer, Mohl, nicht Seydel und Stein.
— 139 —
Sache lag durch seine Verbindung mit den rheinischen und
westfäHschen Gebieten französischen Rechts, und wie dies auch
auf anderen Gebieten voll anerkannt wird in bezug auf die Ueber-
nahme der französischen Gemeindegesetzgebung und des Prinzips
der gesetzlich und richterlich genau festgelegten Grenzen der
Polizeiaufsicht.
Es wird hier nötig, in Kürze diese französische Gemeindege-
setzgebung zu schildern. Die Revolution hat die französische
Selbstverwaltung in Gemeinden und Landschaften von Grund aus
zerstört. Schon das Dekret vom 22. Dezember 1789 sagt:
»L'Etat est un; les departements ne sont que des sections du
meme tout ; une administration uniforme doit les embarrasser
tous dans un regime commun.« »Et le principe d'unite et d'in-
visibilite se formulait en cette maniere par ces mots : Un Etat,
un Budget« ^). Doch blieb vorläufig die Gemeindeverfassung
selbst noch ziemlich freiheitlich. Erst die Gemeindeordnung von
1795 schlägt tatsächlich Bresche in die Selbstverwaltung durch
Anerkennung des Maire als staatlichen Aufsichtsbeamten in erster
Linie. Der Gemeinderat ist in seinen Befugnissen zu sehr be-
schränkt, um hiergegen ein wirkliches Gegengewicht bilden zu
können. Die in der Natur der Revolution liegende zentralistische
Tendenz wurde aber in viel höherem Maße gefördert durch das
napoleonische Kaisertum, welches keine Selbständigkeit dulden
konnte. Das Gemeindegesetz vom Februar icSoo scheidet das
staatliche und das bürgerliche Element ganz klar. Der Magistrat
verschwindet als Organ der Selbstverwaltung vollständig, die
Staatsaufsicht wird in strengster Konsequenz durchgeführt. Die
Gemeinde ist nur ein Abschnitt des Staates zur Durchführung
solcher staatlicher Zwecke, welche nicht zentralisiert werden
können, wie Kirche und Schule und Kommunikationswesen. Die
französische Verwaltung »läßt den Anteil des Volkes an der
Verwaltung nur als Konsequenz eines Prinzips, nicht als Aus-
übung eines Rechtes zu, und daher ist die folgende Form des
Gemeindewesens kurz gesagt das, was wir als die romanische
Form der Selbstverwaltung gegenüber der germanischen be-
zeichnen« ^).
»Zuerst hat Frankreich den Gedanken durchgeführt, die
Selbstverwaltungskörper in bestimmter Hierarchie unter einander
i) Vgl. SUin, Selbstverwaltung, S, 261, 203 und 165.
2) SUin, Selbstverw., S. 205.
— I40 —
zu stellen. Diese Grundvorstellun<^ hatte die deutsche Selbst-
verwahung in sich aufL^enommen .... Allein die Hierarchie
Frankreichs ist nicht etwa eine Unter- und Ueberordnung der
SelbstverwaltuuL;', sondern eine amtliche Hierarchie. Die Hierarchie
jener Körper drückt daher in der Tat kein System der Selbst-
verwaltung, sondern ein S>steni der amtlichen Kompetenz aus.
Und die deutsche Entwicklung, namentlich die preußische hat
dieses durchsichtige, aber keineswegs freie System bei sich auf-
genommen, und die Ueber- und Unterordnung der freien Ver-
waltungskörper zu einer Hierarchie der an ihrer Spitze stehenden
Regierungsorgane gemacht.« »Das zweite Moment der französi-
schen Verwaltung besteht nun in jedem dieser Körper, und
speziell in der Gemeinde darin, daß prinzipiell die vollziehende
Gewalt überhaupt nicht der Gemeinde, sondern nach wie vor
der Regierung angehört. «^^ Diese Sätze Stei?is'^) sind auf die deutsche
Gemeindeverwaltung nur für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts
anwendbar, aber sie zeigen in vorzüglicher Schärfe und Klarheit,
daß und wieweit der ICinfluß der französischen Verwaltung in
Deutschland vorhanden war. Hierbei war die allgemeine zentra-
listische Tendenz stärker und dauernder im Gebiete des Rhein-
bundes, besonders in Bayern wirksamer als im alten Preußen. Nur
in einem Punkte ist sie in Preußen stärker und dauernd durch-
gedrungen, in der Armenordnung. Die zentralistische Tendenz
des Grafen Montgelas fand in Bayern auf diesem Gebiete wie
auf vielen anderen bereits im Jahre 1818 ihr Ende, in Preußen
drang sie später, langsamer aber fester durch in Gestalt der
einheitlichen Regelung auf der Grundlage des Unterstützungs-
wohnsitzes. Preußen hat sonst dem französischen Einfluß besser
widerstanden als Bayern, aber dadurch daß es die Armenver-
sorgung aus dem Rahmen der Gemeindeverwaltung selbständig
herauslöste, mußte hierfür ein neues Prinzip gesucht werden und
wurde tatsächlich in dem französischen Unterstützungswohnsitz
gefunden.
Das Gesetz vom 24. Vendemiaire des 2. Jahres regelt die
offene Armenpflege durch die Gemeinden und die Zuständigkeit
hierin. Artikel i bestimmte: »Le domicile de secours est le lieu
oü l'homme necessiteux a droit aux secours publics.« »Le lieu
de la naissance est le lieu naturel du domicile de secours.«
Der gewöhnliche Wohnort der Mutter zurzeit der Geburt ist maß-
i) Ebenda S. 266.
— 141 —
gebend. Diesen natürlichen, dem deutschen Heimatrecht ver-
wandten Wohnsitz behält der P>anzose bis zum 21. Jahre bei,
darnach ist durch einjährigen Aufenthalt entweder der alte Wohn-
sitz zu behalten oder ein neuer zu erwerben. Diese 12 Monate
werden von der Verwaltungspraxis gefordert, trotzdem das Gesetz
selbst nur 6 Monate zur Ersitzung vorschreibt. Das Gesetz stellt
die Vermutung auf, daß der einmal erworbene W^ohnsitz bewahrt
bleibe, bis die Frist zur Erlangung eines neuen abgelaufen sei.
Für Dienstboten wird übrigens auch hier eine zweijährige Er-
sitzung vorgeschrieben. Arbeitsfähige Bettler, die außerhalb
ihrer Geburtsgemeinde keinen Unterstützungswohnsitz hatten,
sollten zwangsweise durch die Polizei an ihre Geburtsgemeinde
zurückbefördert werden. Die später von Napoleon durch Dekret
vom 5. Juli 1808 verordnete Einrichtung der Bettlerdepots, in
welchen alle Bettler gesammelt werden sollten, ermangelte, nach-
dem 37 derartige Anstalten eingerichtet worden waren, der wei-
teren Durchführung und verfiel in der Folge völlig.
Die französische Armengesetzgebung fand durch die Revo-
lution eine den oben dargelegten Grundsätzen streng folgende
Regelung. Vollständige Zentralisation war Trumpf! Die Stif-
tungen und Kirchengüter, welche bisher der Armenversorgung
gedient hatten, wurden eingezogen und die Armenpflege als eine
Pflicht des Staates proklamiert. Die Verfassung vom 3. Septem-
ber 1791 bestimmte, daß eine »allgemeine Verwaltung der öffent-
lichen Unterstützungen« eingerichtet werde. Die Erklärung der
Menschenrechte stellte den Satz auf: »Die öffentliche Armen-
pflege ist eine geheiligte Schuld,« 28. Mai 1793. Die Konstitution
vom 24. Juni 1793 bestimmte: »Die Gesellschaft schuldet ihren
unglücklichen Bürgern den Unterhalt, sei es, indem sie ihnen
Arbeit verschafft, sei es, indem sie denen, welche außer Stande
sind zu arbeiten, die Existenzmittel sichert.« Ein ferneres Dekret
vom II. Mai 1794 verordnete die Errichtung eines »Buches der
öffentlichen Wohltätigkeit«.
Diese Einrichtungen sind jedoch niemals Wirklichkeit ge-
worden. Das Direktorium kehrte von diesem Wege wieder um,
gab die eingezogenen Güter für die Zwecke der Armenpflege
wieder heraus, behielt sie aber weiter unter der staatlichen Auf-
sicht in Gestalt der »Bureaux de bienfaisance«, während die offene,
Armenpflege den Gemeinden überlassen blieb mit der Maßgabe,
daß die Armenpflege durch die vorhandenen Mittel begrenzt sei.
— 142 —
Hier trat dann die ])rivate Hilfe ein. Hier lief^jt der Ursprung
des UnterstützunL,fs\volinsitze.s.
Diese französische üesetzgebun^') war nun in iJeutschland in
den rheinischen Gebieten, in der Pfalz, Rheinpreußen, Westfalen
und vielen anderen Gebieten direkt oder indirekt in Geltung, sie
behielt diese Geltung zum Teil auch nach der Befreiung von der
französischen Herrschaft, wie ja Preußen im Westen überhaupt
die französische^) Gemeindeverwaltung weiter in wichtigen Punk-
ten beibehalten hat. Von hier geht daher auch die Uebernahme
des Unterstützungswohnsilzprinzips auf den ganzen Staat aus.
Schon 1832 bei der Beratung des Regierungsentwurfs betr. ein
Aufnahmegesetz stand der rheinische Landtag wie auch in an-
deren Dingen völlig auf diesem Standpunkte, und das Armen-
bez. Aufnahmegesetz von 1842 adoptierte ■ darnach das Prinzip
für den ganzen Staat.
Noch klarer wird diese Scheidung der armenrechtlichen von
der allgemeinen Zuständigkeit durch die strikte Gegenüberstellung
des Code civil: öffentlicher, bürgerlicher und Unterstützungswohn-
sitz. Domicile politique, civile et domicile de secours. Ueber
den Wohnsitz im allgemeinen setzen die Artikel 102 — 105 folgen-
des fest. »Le domicile de tout Franq-ais, quant ä l'exercice de
ses droits civils, est au Heu oü il a son principal etablissement.
A. 103. Le changement de domicile s'operera par le fait d'une
habilitation reelle dans un autre lieu, Joint ä l'intention d'y fixer
son principal etablissement. A. 104. La preuve d'intention
resultera d'une declaration expresse tant ä la municipalite du
lieu qu'on quittera qu'ä celle oü on aura transfere son domicile.
A. 105. A defaut de declaration expresse, la preuve de l'inten-
tion dependra des circonstances.« Es ist also fast genau die
Regelung des römischen Rechts, wonach für die Bemessung des
1) Nach Riedel, S. 41 flf., Ruland in SVAW., Bd. 27, S. 12 ff.
2) Das aus den verschiedensten Gebieten zusammengesetzte Kgr. Westfalen
erhielt durch Dekret vom II. Jan. 1808, das Großherzogtum Berg am 18. Dez. 1808
das Herzogtum Warschau 1809, das Großherzogtum Frankfurt am 27. Okt. 1810
Gemeindeverfassungen nach französischem Muster. Auch Nassau, Großherzogtum
Hessen und Bayern blieben nicht unberührt von diesem Einfluß.
Ihr Ende fand diese Gesetzgebung in Hannover und Kurhessen mit der Be-
freiung selbst, in Nassau erst 1848, in den westlichen Gebieten Preußens 1815.
'Im Rheinland wurde das französische Recht jedoch nur teilweise verdrängt, ja es
erhielt auf Verlangen der Bevölkerung noch 1843 eine besondere Kodifikation in
der Gemeindeordnung. Vgl. Könne-Schön, S. 33 ff.
— 143 —
Wohnsitzes die Absicht zu wohnen maßgebend bleibt in Ver-
bindung mit dem »Mittelpunkt seines Lebens«. Nur die Erwer-
bung des Unterstützungswohnsitzes erfährt gewisse Abänderungen,
wenn sie auch (in entgegengesetzter Richtung) lange nicht so
tiefgreifend sind wie die des Heimatrechts. Die Trennung des
öffentlichen und bürgerlichen Wohnsitzes nach Form des Erwerbes
wird verwischt, nach seinem Inhalt womöglich noch verschärft,
indem dieser auf überhaupt nur eine einzige Funktion, eben die
Armenversorgung beschränkt wurde.
Was nun die Freizügigkeit anlangt, so geht aus den ange-
führten Bestimmungen bereits hervor, daß diese durchaus nicht
erundsätzlich beschützt ist. Ferner kann aber die Gemeindebe-
hörde dem Erwerbe eines Unterstützungswohnsitzes entgegen-
treten, wenn der Bewerber nicht mit einem Passe oder mit Zeug-
nissen versehen ist, welche dartun, daß derselbe kein bestim-
mungsloser Mensch sei, das heißt weder Subsistenzmittel noch
Gewerbe, noch Gewährsmänner für sich hat. Der Unterstüt-
zungswohnsitz kann nicht in zwei Gemeinden zugleich besessen
werden.
Es ist klar, daß diese Bestimmung durch das Festhalten
an der Geburt als Erwerbsgrund und dem Einspruchsrecht der
Gemeinde gewisse Aehnlichkeit mit dem deutschen Heimatrechte
immerhin bewahrt, aber der springende Punkt ist der, daß die
französische Gesetzgebung, den Gemeinden jede Selbständigkeit
raubend, die örtliche Zuständigkeit nicht generell regelte, sondern
sie in aen einzelnen Verwaltungszweigen einzeln und verschieden
von einander bemaß. Das ist das Wesen des Unterstützungs-
wohnsitzes : die Trennung aus der allgemeinen öffentlichen und
zivilen Zuständigkeit und die Bemessung der armenrechtlichen
Zuständigkeit nach besonderen Kriterien. Daß diese Kriterien
späterhin immer mehr in dem einen des zeitlichen Aufenthalts
aufgingen, ist zunächst nur ein gradueller Unterschied; doch ist
man zweifelhaft, ob wegen des tiefgreifenden Unterschiedes der
Fristen dies nicht auch ein wesentlicher Unterschied wird. Er
wird es in dem Augenblick, wo die Erwerbung durch Aufenthalt
die einzige Erwerbsart wird.
Arnold sagt über die Geschichte des Unterstützungswohn-
sitzes (S. 65 Anm.). »Der Ausdruck »Unterstützungswohnsitz«
ist der altpreußischen Gesetzgebung entlehnt, welche denselben
augenscheinlich der französischen Gesetzgebung entnommen hat,
— 144 —
in welcher schon das Dekret vom 24. Vendemiairc II. beginnt
mit dem Art. i. Le dom. de secours In der preußischen
Gesetzgebung kommt der Ausdruck »Unterstützungswohnsitz« zum
ersten Male im Gesetze zur Ergänzung der Gesetze vom 31. De-
zember 1842 über die Verpflichtung zur Armenpflege und die
Aufnahme neuanziehender Personen (vom 21. Mai 1855) und zwar
im Art. i in Parenthese, im Art. 2 schon unparcnthesiert vor
und ist, nach Art. i gleichbedeutend mit der ^ Verpflichtung eines
Ortsarmenverbandes zur Armenpflege <;. In der späteren alt-
preußischen Gesetzgebung findet sich der Ausdruck nur noch
einmal, nämlich in dem inzwischen wieder aufgehobenen Gesetz
vom 14. Mai 1860 betr. das städtische Einzugsgcld. Die deut-
sche Bundesgesetzgebung identifiziert, nur in äußerer Zusammen-
stellung, im Gesetz über die Freizügigkeit vom i. November 1867
den altpreußischen Unterstützungswohnsitz mit dem neupreußi-
schen und sonst bundesstaatlichen »Heimatsrecht« und der »Ge-
meindeangehörigkeit « .
Ist nun allerdings auch der Ausdruck »Unterstützungs Wohn-
sitz« erst seit 1855 anzutreffen, so hat doch sein begrifflicher In-
halt bereits im Gesetz von 1842 und vorher bei den Verhand-
lungen Anerkennung gefunden. Damals entsprach dem das Wort
»Armendomizil«, welches auch das Wesen sehr gut wiedergibt,
indem es eben die Beschränkung seines Rechtseinflusses auf das
armenrechtliche Gebiet zum klaren Ausdruck bringt, gerade im
Gegensatz zu der Gesetzessprache d?r am I leimatrecht festhalten-
den Staaten.
Hat nun auch Preußen Wort und Wesen des Unterstützungs-
wohnsitzes von der französischen Revolution übernommen, so ist
es darin doch vollkommen folgerichtig vorgegangen: Preußen
war derjenige Staat, welcher sein Heimatrecht am meisten diesem
Prinzip schon lange vorher angenähert hatte. Die straffe Zen-
tralisation der staatlichen Aufsicht und Verwaltung war im alten
Preußen kaum geringer als im neuen Frankreich. Die in Preußen
zur Anerkennung gekommene Ersitzungsfrist und das Ersitzungs-
prinzip lagen zwar noch im Rahmen der Heimatordnung, stellten
aber doch das äußerste Zugeständnis dar, welches in seinem Rah-
men gemacht werden konnte. Preußen war eben der einzige
deutsche Staat gewesen, dessen Territorium groß und geschlossen
genug war, um eine eigene abweichende Politik in bezug auf die
Zugfreiheit zu ermöglichen: das Mittel dazu war eben straffe Zentra-
— 145 —
lisation und strenge Staatsaufsicht, sowie Abkürzung der Ersitzungs-
frist zuletzt auf 3 Jahre. Die Trennung des Armenwesens von
der übrigen Verwaltung und der Erlaß besonderer Bestimmungen
hierüber war ein folgerichtiges Weiterschreiten auf dem einmal
eingeschlagenen Wege.
W^enn wir nunmehr versuchen, am Schluß die Begriffe Hei-
mat und Unterstützungswohnsitz gegenüberzustellen, so ergibt sich
folgendes : Beide Institutionen bestimmen über die Zugehörigkeit
und Zuständigkeit eines Staatsbürgers in bezug auf die Gemeinde :
die Heimat umfaßt und regelt einheitlich hierbei die Rechtsbe-
ziehungen der gesamten Persönlichkeit deren ganzes Leben lang
und schafft eine enge, letzten Endes im Gemütsleben wurzelnde
Verbindung zwischen Gemeinde und Persönlichkeit, sie faßt die
Gemeinde im altdeutschen Sinne wesentlich als Genossenschaft
auf und als Gemeinschaft; der Unterstützungswohnsitz umfaßt
nur ein eng begrenztes Gebiet des persönlichen Lebens, die
Armenpflege, wird wirksam nur im Ealle der Verarmung, steht
in keiner inneren Verbindung mit den sonstigen Rechtsbeziehungen
der Persönlichkeit, erlischt und wird erworben in verhältnismäßig
kurzer Zeit und appelliert an die Seite des Gefühls gar nicht.
Der andere begriffliche Unterschied beruht auf der Stellung
der Persönlichkeit und der Gemeinden im Staate*). Nach alt-
deutscher Auffassung ist der Einzelne Mitglied zunächst seines
engeren Gemeinschaftskreises, der Familie, der Gemeinde. Da-
durch erst tritt er in Verbindung mit dem Staate. Die notwen-
dige P'olge auf die Gemeindeverfassung ist die, daß infolgedessen
jeder Staatsbürger in engerer persönlicher Beziehung zu einer
derartigen Gemeinschaft stehen muß, und das ist eben die Hei-
mat, auch als Grundlage des Bürger-Beisassen- usw. Rechts. Der
Unterstützungswohnsitz hingegen, da er sich in seiner Wirksam-
keit nur auf die Armenversorgung beschränkt, hat gar keine Be-
ziehungen zu den sonstigen Staats- und gemeindebürgerlichen
Rechten, nur daß er natürlich die Staats- bez. Reichsangehörig-
1) Besonders klar bringt dies die württembergische Verfassungsurkunde zum
Ausdruck (vom 25. Sept. 1819). §§ 62 — 63. »Die Gemeinden sind die Grundlagen
des Staatsvereins. Jeder Staatsbürger muß daher, soferne nicht gesetzlich eine
Ausnahme besteht, einer Gemeinde als Bürger oder als Beisitzer angehören. Die
Aufnahme der Gemeindebürger hängt von der Gemeinde ab, unter Vorbehalt der
gesetzlichen Entscheidung der Staatsbehörden in streitigen Fällen. Indessen setzt
die Erteilung des Bürger- und Beisitzerrechts die vorgängige Erwerbung der Staats-
angehörigkeit voraus. Nach Bitzer, 8. 229.
Zeitschrift für die ges. Staatswissensch. Ergänzungsheft 51. lO
— 146 —
keit zur Voraussetzung^ hat, während die 1 leimat vielfach erst die
Staatsani^ehörii^keit bedingte, was allerdings seit Minführung des
Bundesindigenats abgeschafft worden ist.
Eine praktische Folge hiervon ist die, daß bei der Regelung
auf Grund des Unterstützungswohnsitzes eine Ergänzung der Orts-
durch Landarmenverbände erfolgen muß, welche zu diesem Zwecke
unter der Herrschaft des Heimatprinzips überflüssig ist. Das
Heimatrecht kennt keine Landarmen.
Aus der familienhaften Auffassung der Heimat heraus ergibt
sich die Art ihres Erwerbs. Die ganze Persönlichkeit umfassend,
begleitet sie auch die Persönlichkeit auf ihrem ganzen Lebens-
wege, entsteht mit der Geburt, vererbt sich aut die Nachkommen
und geht erst mit dem Tode unter. Wie schon oben ausgeführt,
kann die Einführung eines Heimaterwerbs durch Aufenthalt und
Ersitzung unabhängig vom Geburtsort niemals das Wesen der
Heimat selbst berühren; es ist eine Modifizierung, ein Durch-
brechen des Prinzips, aber dennoch bleibt dieses selbst unver-
kürzt, denn die Reihenfolge der Erwerbsarten ist letzten Endes
maßgebend. Bei dem Unterstützungswohnsitz ist die Ersitzung
die Regel, soll es auch sein, bei der Heimat wiegt tatsächlich
und beabsichtigt die Geburt weit vor. So ist die Heimat das
Ordnungsprinzip der ruhenden, der Unterstützungswohnsitz das
Prinzip der beweglichen Bevölkerung.
Eine Folge zugleich der Auffassung vom Staate und zugleich
von der Gemeinde als P'amilie ist die Bestimmung, daß, weil
eben ein jeder eine Heimat haben muß, die einmal besessene
Heimat nur durch den Erwerb einer anderen verloren gehen
kann. Dies bezeichnet die bayrische Denkschrift als den tief-
greifendsten Unterschied zwischen den beiden Prinzipien. Sicher-
lich ist er der für die Verwaltungspraxis wichtigste, aber begriff-
lich ist dieser Unterschied aus jenen beiden Grundsätzen abgeleitet.
Um schließlich zu einer genauen systematischen und begriff-
lichen ^) Gegenüberstellung und Unterscheidung der beiden in die
geschichtliche Erscheinung getretenen Institute Heimat und Unter-
stützungswohnsitz und zu klarer Erkenntnis ihrer Wirkungen auf
den Einzelnen wie auf die Gesamtheit zu gelangen, ist es unbedingt
l) Diese Gegenüberstellung nach systematischen Gesichtspunkten ist ein wich-
tiges Ziel der Untersuchung gewesen, ihr dient hier die ganze geschichtliche Dar-
stellung, und um ihretwillen müssen auch die hier unumgänglichen Wiederholungen
in den Kauf genommen werden.
— 147 —
nötig, auf ihr Prinzip selbst zurückzugehen und von der zufäl-
ligen historischen Form abzusehen ; man kommt sonst leicht in
die Versuchung, wesentliche, ökonomische und z u-
fällige, historische Form miteinander zu verwechseln.
Zur Erkenntnis des Prinzips gelangt man am leichtesten, wenn
man die extremste mögliche, durchaus nicht notwendig immer
tatsächliche Ausgestaltung annimmt. Diese zeigt uns die größte
Entfernung zwischen den beiden zu vergleichenden Größen, zeigt
uns jede für sich und verhindert absolut jedes Ineinanderfließen;
ein jeweiliger historischer Zustand aber zeigt immer Abweichun-
gen von dem Prinzip, zeigt dieses niemals in seiner Reinheit,
sondern durch irgendwelche beliebigen äußeren, nicht im Wesen
des Prinzips begründeten Veränderungen »korrumpiert«. Da-
gegen kann diese gewissermaßen »isolierende«, somit exakte
Methode allein zum Ziele führen.
Hierbei ergibt sich nun die Heimat als das administrative
Prinzip der ruhenden Bevölkerung, welche ihre Mitglieder auf
Generationen hinaus an einen Ort bindet, daher auch den recht-
lichen Status, öffentlichen wie privaten, des Einzelnen von seinem
Geburtsort, mehr noch von dem Geburtsort seiner Eltern, von
dem Mittelpunkt seiner Familie wie seiner selbst abhängig machen,
ihn danach bemessen kann. Und selbst wenn die Ruhe der Be-
völkerung keine absolute, sondern über den einen Ort hinaus-
gehende ist, so bleibt doch immer die Nachbarschaft der Orte
maßgebend für die Bewegung des Einzelnen. Die deutsche Ge-
schichte zeigt uns diesen Zustand deutlich an der Kleinheit der
Territorien, durch welche in dem normalen, hier hauptsächlich in
Betracht kommenden Falle die räumliche Bewegung begrenzt
war. Die Auswanderung aus dem Territorium war Fernwande-
rung, welche alle Beziehungen auflöste ; sie scheidet aus der Be-
trachtung aus. In diesem Zustande der Ruhe konnte und mußte
die Umgebung auch die ganze Persönlichkeit in ihren wirtschaft-
lichen und rechtlichen, und zwar öffentlich- wie privatrechtlichen
Beziehungen umfassen und bestimmen. Die Heimat ist somit
das administrative Bevölkerungsprinzip der ruhenden Gemein-
schaft, der familienhaft, genossenschaftlich festgefügten Ge-
meinde, welche bis zu einem gewissen Grade ein abgeschlosse-
nes kommunistisches Sonderleben führt, ohne wesentliche Ein-
mischung äußerer Gewalten, welche als Störung der genossen-
schaftlichen Selbstverwaltung gilt. Einzelleben und Gemeinschaft
- 14« -
unter sich, Verharren darin durch Generationen, Beständigkeit der
Bewohnerschaft und damit zusammenhängend hochentwickelte
Selbstverwaltung sind somit die idealen Vorbedingungen des ex-
tremen Heimatrechts.
Ein ganz anderes Ordnungsprinzip erfordert der entgegen-
gesetzte Zustand der Bevölkerung : rechtliche und wirtschaftliche
Freiheit jedes Einzelnen, tatsächliche Bewegung durcheinander,
Aufgehen der einzelwirtschaftlichen Gemeinschaft in dem großen
Getriebe der gesellschaftlichen Volkswirtschaft, unmittelbare Ver-
bindung des Einzelnen mit der Gesellschaft ohne Vermittlung
einer Gesellschaft und Auflösung dieser bis auf den Rest der
Familie, schließlich infolge davon unmittelbares Eingreifen des
gesellschaftlichen Staates in die Verwaltung der Gemeinschaften,
Amtsverwaltung an Stelle der Selbstverwaltung. Was noch an
Selbstverwaltung bleibt, ist nur abgeleitetes Recht, Ausführung
vom Staat überlassener Aufgaben. Dieser Zustand ist nur mög-
lich auf größerem Räume, in der entwickelten Volkswirtschaft
und in dem entwickelten Staate der »staatsbürgerlichen« Zeit
vornehmlich des 19. Jahrhunderts. Der Zustand der Bewegung
setzt Freiheit in Raum und Zeit und Recht voraus. Die Normen
dieser Freiheit kann nur der große Staat aufstellen, und die Auf-
sicht desselben erfordert eine ausgiebige Teilung seiner Ver-
waltung, nicht mehr nach räumlichem, sondern nach sachlichen,
systematischen Grundsätzen. Die Provinzialministerien werden
durch Fachministerien ersetzt; der E^inzelne untersteht nun nicht
mehr in seiner Totalität einer obersten Behörde (gesellschaftlichen
des Staats oder gemeinschaftlichen der Familien- und Gemeinde-
körperschaft), sondern seine Person wird verwaltungsrechtlich ge-
trennt und aufgeteilt. In gerichtlicher, gewerblicher, militärischer,
steuerlicher und schließlich auch armenrechtlicher Beziehung unter-
steht er gesonderten Aufsichtsbehörden. Entsprechend wird auch
das früher zusammengefaßte, kodifizierte, einheitliche System des
gesamten Rechts in seine einzelnen Bestandteile aufgelöst und in
einzelne Rechtsgebiete getrennt. Der Einzelne hat Jetzt eine be-
sondere armenrechtliche Persönlichkeit neben anderen »sachlichen
Persönlichkeiten«, welche nach besonderen Kriterien bemessen wird,
er hat nicht mehr eine für sein ganzes Leben in allen seinen
möglichen und tatsächlichen Beziehungen maßgebende »Heimat«,
sondern einen besonderen armenrechtlichen Wohnsitz, das Armen-
domizil, den »ünterstützungs Wohnsitz« neben anderen.
— 149 —
Sowohl in dem Rechtszustande der Heimat wie in dem des
Unterstützungswohnsitzes ist das Bestreben maßgebend, den recht-
Hchen dem tatsächlichen Zustande anzupassen, also in diesem be-
sonderen Falle : Aufenthaltsort und Unterstützungsgemeinde zu-
sammenfallen zu lassen; im Zustand der einzelwirtschaltlichen Ge-
meinschaft ist dies leicht geordnet, schwer aber im ewig bewegten
gesellschaftlichen Zustande : In jenem Zustande ist die Geburt,
die Heimat das Kriterium der Zuständigkeit für die gesamte
Person in allen ihren Auswirkungen, in diesem muß die Zustän-
digkeit für alle Seiten des persönlichen Lebens einzeln bemessen
werden, das Idealkriterium bleibt hier nur mehr der gegenwärtige,
der augenblickliche Aufenthalt.
Ferner, indem die Gemeinschaft in den meisten Beziehungen
als Vermittlerin zwischen dem Einzelnen und der Gesamtheit aus-
geschaltet wird, übernimmt die Gesellschaft und somit der Staat auch
einen großen Teil der Funktionen der Gemeinschaft, der Genossen-
schaft, selbst der Familie. Die Gesellschaft übernimmt die Ver-
antwortung für die Erfüllung vieler Aufgaben, welche früher jener
oblagen : Erziehung, Unterricht, Ordnung des gewerblichen Lebens
und auch der F'ürsorge, der Staat w^andelt sich somit in vielen Be-
ziehungen selbst zur Gemeinschaft um und nimmt viele charakte-
ristische Züge derselben an. Der dabei notwendig auszuübende
Zwang der Gemeinschaft und der Gesellschaft ist in beiden Fällen
stark, stärker aber sicherlich seitens der Gemeinschaft, weil sie
die ganze Persönlichkeit einheitlich umfaßt und reglementiert,
als seitens der Gesellschaft, welche nach Anerkennung gewisser
Statusrechte die Persönlichkeit zwar auch in den verschiedensten
Beziehungen, aber immer mit besonderer Berücksichtigung des
gegenwärtigen Zwecks erfaßt. Dem entspricht auch die Auf-
fassung, wonach ursprünglich die Gemeinschaft dem Einzelnen
unbedingt vorgeht, der Einzelne seine Berechtigung wie auch
seinen Schutz erst als Mitglied der Gemeinschaft findet, während
dem gesellschaftlichen Zustande die Anerkennung des Indivi-
duums als Selbstzweck, und der gesellschaftlichen Einrichtungen
und Zwangsrechte nur als Mittel zum Zweck zugrunde liegt.
Dort ist die Gemeinschaft der Zweck des Zusammenlebens aller
Mitglieder, hier ist das Wohl des Einzelnen der Zweck der ge-
sellschaftlichen Ordnung.
Die Armenunterstützung und das gesamte mit ihr verfloch-
tene Rechtsgebiet ist gewiß nur ein Teil, und zwar ein kleiner
— 150 —
Teil der gesamten Rechtsordnung, seine Bedeutung nimmt über-
dies mit Ausbildung größerer persönlicher Freiheit ab; aber
grade dieses Spezialgebiet zeigt die Entwicklung der gesamten
Rechtsauffassung von der ständischen gemeinschaftlichen zu der
staatsbürgerlichen gesellschaftlichen besonders deutlich, und es
war die Absicht dieser Arbeit, diese Entwicklung historisch zu
schildern und systematisch zu begründen: die Verdrängung der
gemeinschaftlichen Gemeinde durch den gesellschaftlichen Staat,
im Rechtsgebiete der Armenversorgung und die Wirkung dieser
Entwicklung auf das Recht und die Freiheit des Einzelnen.
^
ZEITSCHRIFT
FÜR DIE GESAMTE
STAATSWISSENSCHAFT
In Verbindung mit
Oberbürgermeister a. D. Dr F. ADICKES in Krankfurt a. M., Prof. Dr G. COHN in
Göttingen, Ober-Verw.-Ger.-Rat Prof. Dr F. v. MARTITZ in Berlin, Kaiserl.
Unterstaatssekretär z. D. Prof. Dr G. v. MAYR in München, Prof. Dr A. VOIGT
in Frankfurt a. M., VVirkl. Geh. Rat Prof. Dr A. WAGNER, Exz., in Kerlin,
Dr Freiherr v. WEICHS Ministerialrat am k. k. Handelsministerium in Wien
HERAUSGEGEBEN
VON
Dr K. BÜCHER,
o. Professor an der Universität licipzig.
Ergänzungsheft LH.
Die Organisation und Zentralisation des badischen
Arbeitsmarktes.
Von
Dr Helmuth Barck.
TÜBINGEN
VERLAG DER H. LAUPP'SCHEN BUCHHANDLUNG
1914.
Die Organisation
und Zentralisation des
badischen Arbeitsmarktes.
Von
Dr. Helmuth Barck.
TUBINGEN
VERLAG DER H. LAUPP'SCHEN BUCHHANDLUNG
1914.
^
Alle Rechte, insbesondere das der Uebersetzung, behält sich die
Verlagsbuchhandlung vor.
Druck von H. L a u p p jr in Tübingen.
I —
E i n 1 e i t u n e
t>'
Der Begriff des Arbeitsmarktes.
Der Gebrauch des Begriffes Arbeitsmarkt ist heute noch
kein fester. Während z. B. Silbergleit ^) unter Arbeitsmarkt die
Gesamtheit der arbeitsuchenden menschHchen Arbeitskräfte ver-
steht, die sich — wenigstens theoretisch — auch örthch begrenzen
lassen, und für diesen im Angebot sich restlos erschöpfenden Be-
griff des Arbeitsmarktes immer erneut eingetreten ist, sieht ge-
rade umgekehrt Schiiller ^) das Wesentliche des Arbeitsmarktes
in der an einem — enger oder weiter begrenzten — Ort be-
stehenden Nachfrage nach Arbeitskräften ; er läßt also den Be-
griff des Arbeitsmarktes in dem der Nachfrage sich erschöpfen.
Im Gegensatz hierzu unterscheidet Meerivarth ^) den Arbeitsmarkt
in engerem Sinne, als eine Veranstaltung, welche dem Zweck
dient, Angebot und Nachfrage an einem Ort zu konzentrieren,
von dem in weiterem Sinne als der Gesamtheit der Austausch-
bedingungen der Ware Arbeit überhaupt. Letztere Begriffsbestim-
mung scheint mir nun mit der von Silbergleit und Schiiller aufge-
stellten am Ende zusammenzufallen, sodaß wir also zu einem Begriff
des Arbeitsmarktes im engeren und im weiteren Sinne kämen.
Unter Markt an sich versteht man nun in der Volkswirtschaft
Veranstaltungen, mittels welcher Angebot und Nachfrage, Ver-
käufer und Käufer, zusammengebracht werden ^). Für diesen Be-
griff Markt ist daher eine bestimmte Organisation, ein Vermittler,
wesentlich. Und an diesem Begriffsmerkmal der Organisation, des
Vermittlers, möchte ich auch für den »Arbeitsmarkt« festhalten
1) Silbergleit, Beschäftigungsgrad und Arbeitsmarkt, Berlin 1908, S. 5 ff.
2) Schiiller, Die Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt, Archiv für Sozialwissen-
schaft und Sozialpolitik 1911, S. 715 ff.
3) Meerivarth, Betrachtungen über Methoden und Ergebnisse der deutschen
Arbeitsmarktstatistik 191 1, ebenda S. 744 ff.
4) Vgl. Rathgen, Artikel Markt im Handwörterbuch der Staatswissensch. 1910.
Zeitschrift für die gcs. Staatswissensch. Ergänzungsheft 52. I
und darnach unter einem Arbeitsmarkt niu' einen organisierten
Arbeitsmarkt verstehen. Diesem durch das lüfordernis einer be-
stimmten Organisation enger gefaßten Begriff des Arbeitsmarktes
würde dann ein Arbeitsmarkt im übertragenen Sinne nach Meer-
icarths weiterem Begriff sowie nach Silbergleit und ScJiüller gegen-
überstehen.
Für den von mir gewählten Begriff des Arbeitsmarktes scheint
mir dabei weiter zu sprechen, daß allein dem organisierten Ar-
beitsmarkt zunächst praktische Bedeutung zukommt ; denn nur
durch einen solchen kann ja Angebot und Nachfrage in markt-
mäßiger Weise wirklich Befriedigung finden. Was nützt es dem
Arbeitnehmer oder Arbeitgeber, unter dem Gesichtspunkt der
Ware Arbeit, wenn er weiß, daß ihm gegenüber Nachfrage und
Angebot in bestimmter Intensität vorhanden- ist, es ihm aber selbst
überlassen bleibt, den Gegenpart herauszufinden. Damit wäre
gewissermaßen die individuelle Arbeitssuche durch Umschau und
Inserat für den Arbeitsmarkt als eine Besonderheit freigegeben,
was mir doch auch von den Vertretern des Begriffes Arbeits-
markt im übertragenen Sinne als kaum gewollt erscheinen möchte.
Ich glaube deshalb von dem Begriff Arbeitsmarkt im Sinne des
organisierten Arbeitsmarktes weiterhin ausgehen zu sollen.
Damit ist aber zugleich auch die theoretische Möglichkeit
gegeben, den Arbeitsmarkt eines bestimmten staatlichen Gebildes
im Rahmen einer größeren Volkswirtschaft gesondert zu betrachten,
sobald nur dieses staatliche Gebilde besondere Organisationsträger
des Arbeitsmarktes, d. h. also besondere Arbeitsnachweise, be-
sitzt. Dabei wäre es natürlich angebracht, für diese Arbeitsnach-
weise im ganzen wie im einzelnen und für einzelne Berufszweige
auch Angebot und Nachfrage namentlich unter dem Gesichts-
punkte zu behandeln, wie weit die bestehenden Organisationen
dem Bedürfnis nach Nachweiseinrichtungen entsprechen und wie
weit sie etwa eine Förderung der wirtschaftlichen Produktivität
bewirkt haben. Indessen wird sich zeigen, daß bei dem gegen-
wärtigen Stand der Entwicklung der Nachweiseinrichtungen diesen
Fragen mit Erfolg nur in einzelnen Fällen nachgegangen werden
kann, w'eil die gegenwärtige Dezentralisation der Nachweisein-
richtungen dem entgegensteht. Daher muß für den heutigen Ent-
wicklungsstand das Hauptgewicht der Darstellung auf die Art der
Betätigung der verschiedenen Nachweiseinrichtungen gelegt wer-
den, um hieraus Schlüsse zu ziehen auf ihre volkswirtschaftliche
— 3 —
Bedeutung wie auf die Frage der Verbesserung der Organisation
im ganzen.
Auch in meiner Arbeit, die die im Großherzogtum Baden
bestehenden Vermittlungseinrichtungen behandeln soll, und die
sich die Aufgabe einer Erörterung der Zentralisation des badi-
schen Arbeitsmarktes stellt, habe ich deshalb im ersten Teile zu-
nächst hauptsächlich die gegenwärtige Art der Organisation der
Arbeitsvermittlung darzulegen versucht, um dann in einem zweiten
Teil die Frage der Verbesserung der bestehenden Einrichtungen,
d. h. insbesondere die Frage der Zentralisation, zu erörtern. Der
Frage, inwieweit die verschiedenen badischen Erwerbszweige durch
die fortschreitende Ausbildung der Vermittlungseinrichtungen ge-
fördert worden sind, habe ich nur in einzelnen Phallen nachgehen
können. Zu einer weitergehenden Erörterung dieser Frage habe
ich, abgesehen von fehlender Literatur, auch in dem von mir be-
nützten Aktenmaterial, das mir seitens des Großherzogl. Statisti-
schen Landesamts, sowie seitens des Verbandes badischer Arbeits-
nachweise und der städtischen Arbeitsämter in Karlsruhe und Frei-
burg in entgegenkommender Weise zur Verfügung gestellt worden
ist, näheres nicht finden können. Ich bin darnach sogar der An-
sicht, daß, so wertvoll ein gutorganisierter Arbeitsnachweis für
die verschiedenen Erwerbszweige auch sein mag, man seine un-
mittelbar fördernde Kraft für die einzelnen Produktionszweige
neben andern ausschlaggebenden Momenten, die das Auf und
Ab der Konjunktur in erster Linie bedingen, nicht überschätzen
darf, und daß die Vorteile einer Verbesserung der Organisation
der Arbeitsvermittlung in anderem zu sehen sind, als in der un-
mittelbaren Produktionsförderune-
Die Träger der Organisation des badischen
Arbeitsmarktes.
Betrachtet man als wesentlich für den Arbeitsmarkt eine be-
sondere Veranstaltung zur Vermittlung von Angebot und Nach-
frage, einen Organisationsträger, so liegt es nahe, von dem Cha-
rakter desselben auch auszugehen bei Erörterung der vielfältigen
Erscheinungen der Arbeitsvermittlung, ihn gewissermaßen als Ein-
teilungsprinzip zu benützen. Gegenüber der großen Zersplitterung
der Nachweiseinrichtungen, die wir gegenwärtig vorfinden, kann
indessen m. E. diese mehr oder weniger äußerliche Einteilung
nach dem Organisationsträger höher gestellten Ansprüchen nicht
genügen, obwohl sie zurzeit noch die allgemein übliche ist ^), es
muß vielmehr versucht werden, die Darstellung der Arbeitsver-
mittlung zugleich nach Begriffsmerkmalen zu gliedern, die den
funktionellen Bereich und die Entwickelungstendenz der verschie-
denen Vermittlungseinrichtungcn zum Ausdruck bringen. Ist dann
aber bei dieser, in erster Linie das innere Wesen der Nachweis-
einrichtungen ins Auge fassenden Einteilungsmethode, ein teilweises
Zusammenfallen der Gruppierung mit der nach dem Organisations-
träger zu beobachten, so ist das m. E. im Interesse der Vereinfachung
der Darstellung nur zu begrüßen, darf aber nicht wohl zugunsten
der ersteren Einteilung als entscheidend angesehen werden.
Sucht man nun nach einem Prinzip für die Einteilung der
verschiedenen Nachweiseinrichtungen nach ihrem Wesen, so er-
weist sich der Gegensatz von gemeinnützig und eigennützig allein
l) Vgl. Conrad, Die Organisation des Arbeitsnachweises in Deutschland,
Leipzig 1904, S. 23 ff. Denkschrift des Kaiser), staust. Amtes über die bestehen-
den Einrichtungen zur Versicherung gegen die Folgen der Arbeitslosigkeit, Teil II :
Der Stand der gemeinnützigen Arbeitsvermittlung öffentlicher und privater Ver-
bände im Deutschen Reich, Berlin 1906, S. 5; siehe aber auch S. 133. (Die
Denkschrift ist im folgenden kurz als amtliche Denkschrift zitiert.)
— 5 —
als unbrauchbar. Ganz abgesehen davon, daß jeder Träger einer
Nachweiseinrichtung subjektiv diese als der Allgemeinheit dienlich
anzusprechen pflegt, würde auch bei objektiver Betrachtung der
Begriff gemeinnützig die Nachweiseinrichtungen der Gemeinden
und die von Wohltätigkeitsvereinen zusammenführen, während
doch auf der Hand liegt, daß beide mehr trennende als einigende
Momente aufzuweisen haben. Auch hat das Wort gemeinnützig
heute, in der Zeit ausgeprägten Persönlichkeitsbewußtseins, einen
Klang, mit dem man wohl rechnen muß, und der manchen von
der Benützung eines solchen gemeinnützigen Arbeitsnachweises
abzuhalten geeignet ist ^). Ich kann mich deshalb auch nicht da-
mit einverstanden erklären, wenn das neue Stellenvermittlergesetz
vom 2. Juli 1910 in § 2 von »öffentlichen gemeinnützigen« Ar-
beitsnachweisen spricht und hierunter die von Gemeinden usw.
unterhaltenen Nachweiseinrichtungen versteht, ich trete vielmehr
dafür ein, daß das Wort »gemeinnützig« allein in Beziehung auf
die sogenannte charitative Vermittlungstätigkeit Verwendung findet.
Die charitative Arbeitsvermittlung aber, deren
Träger auch in Baden mannigfaltiger Art sind, möchte ich als
eine ihrem Wesen nach zusammengehörende und eigene Art der
Vermittlungseinrichtungen hier ansprechen.
Auch der Begriff »eigennützig« scheint mir bei objektiver
Betrachtung auf die verschiedensten Nachweiseinrichtungen zuzu-
treffen, und nicht etwa auf die gewerbsmäßigen Stellenvermittler
beschränkt zu sein. Denn es kann wohl nicht in Abrede gestellt
werden, daß die Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände, die
die von ihnen eingerichteten Nachweisstellen heute noch vielfach
zu Kampfzwecken gebrauchen, diese in ihrem höchst eigenen
Interesse nutzbar machen. Trotzdem kann nicht zweifelhaft sein,
daß die gewerbsmäßigen Stellenvermittler eine
besondere Gruppe der Vermittlungseinrichtungen bilden, denn
niemand anders macht heute aus der Arbeitsvermittlung noch
einen Erwerb wie sie.
Stellt man aber die charitative Arbeitsvermittlung und die
gewerbsmäßigen Stellenvermittler gesondert heraus, so kann man
m. E. alle übrigen Nachweiseinrichtungen nach einem andern Ge-
sichtspunkt restlos aufteilen, nämlich darnach, ob ihr Vermittlungs-
bereich ein allgemeiner oder ein fachlich begrenzter ist. Legt
l) Vgl. Jastrow, Sozialpolitik und Verwaltungswissenschaf t, Band i, Berlin
1902, S. 182/83.
— 6 —
man diese EinteilunQ im weiteren zu<,'runde, so zcit^^t sich zugleich,
daß die Träger allgemeiner Vermittluni^stätigkeit grundsätzlich
die von Gemeinden und bestimmten, aus öffentlichen Mitteln
unterstützten Vereinen unterhaltenen Nachweiseinrichtungen sind,
während sich die fachliche Vermittlung grundsätzlich bei den von
Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite errichteten Vermittlungsstellen
findet. So komme ich zu zwei weiteren Gruppen von Nachweis-
einrichtungen, den allgemeinen öffentlichen Arbeits-
nachweisen und den Arbeitsnachweisen der
Arbeitgeber und der Arbeitnehmer. Wenn es dabei
in letzter Zeit bezüglich der allgemeinen öffentlichen Arbeitsnach-
weise üblich geworden ist, diese auch dann, wenn sie nicht eigent-
lich in gemeindlicher Regie stehen, als Arbeitsämter zu bezeich-
nen, so möchte ich mich mit diesem das Wesen und die Ent-
wickelungstendenz der allgemeinen öffentlichen Arbeitsnachweise
gut treffenden Ausdruck hier durchaus einverstanden erklären,
und ich bitte in meiner folgenden Darstellung diesen Ausdruck
selbst auch dann benützen zu dürfen, wenn es sich nicht, bez.
noch nicht, um eigentliche gemeindliche Betriebe handelt.
Mit dieser Scheidung der Vermittlungseinrichtungen des
organisierten Arbeitsmarktes aber in 4 Gruppen ist die Frage
noch vollkommen offen gelassen, in welcher Reihenfolge am zweck-
mäßigsten die Erörterung der verschiedenen Nachweisarten zu
erfolgen hat. Da ich mir in meiner Arbeit, wie gesagt, nicht nur
die Aufgabe gestellt habe, die gegenwärtige Organisation auf
dem badischen Arbeitsmarkte zur Darstellung zu bringen, son-
dern insbesondere auch die Frage seiner Zentralisation zu erörtern,
so kann m. E. für die Reihenfolge meiner Ausführungen das ge-
schichtliche Werden der einzelnen Vermittlungsarten an sich nicht
maßgebend sein, vielmehr muß an erster Stelle als ausschlag-
gebend erscheinen die organisatorische und sozialpolitische Be-
deutung der Vermittlungsgruppe. Darnach komme ich dahin, die
badischen Vermittlungseinrichtungen in folgender Reihenfolge zu
besprechen : Allgemeine öffentliche Arbeitsnachweise, Arbeits-
nachweise der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer, charitative
Arbeitsfürsorge und gewerbsmäßige Stellenvermittlung. Bezüglich
des geschichtlichen Entstehens der einzelnen Vermittlungsarten
aber muß auf das in den betr. Abschnitten selbst hierüber Ge-
sagte Bezug genommen werden.
A. Die allgemeinen öffentlichen Arbeitsnachweise.
I. Die Entstehung und der äußere Aufbau.
Zu Beginn der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts, da die
ersten allgemeinen öffentlichen Arbeitsnachweise im Großherzog-
tum entstanden, herrschte auf dem badischen Arbeitsmarkte noch
weitgehende Zersplitterung in der Organisation der Arbeitsver-
mittlung vor. Inserat und Umschau mit all ihren verderblichen
Folgen stehen neben den Bestrebungen zur weiteren Organisation
des Arbeitsmarktes, die auf charitativer Grundlage von gemein-
nützigen Vereinen usw. unternommen werden, und neben den
wenig bedeutsamen Einrichtungen, die von den Innungen usw.
nach alter Tradition weiter geführt wurden. Und doch war auf
dem badischen Arbeitsmarkte aus Mangel einer Großindustrie
von scharfen Kämpfen um eine organisierte Arbeitsvermittlung
zu jener Zeit noch nichts zu spüren. Die Form der individuellen
Arbeitssuche schien für Baden bleibende Bedeutung anzunehmen,
soweit nicht die gewerbsmäßige Stellenvermittlung das Feld be-
herrschte.
Es ist nun von Bedeutung festzustellen, daß die ersten all-
gemeinen öffentlichen Arbeitsnachweise im Großherzogtum Baden,
Karlsruhe (1891) und Freiburg (1892), als Vereinsnachweise ge-
gründet wurden. Als Beispiel dafür, welche Vereine sich zur
Gründung eines allgemeinen Arbeitsnachweises in jener Zeit zu-
sammentaten, möchte ich hier die Mitglieder des Freiburger Ar-
beitsnachweises anführen : es waren dies der Arbeiterbildungs-
verein, der katholische Arbeiterverein, der Luisen-Frauenverein,
der evangelische Frauenunterstützungsverein, der Verein gegen
Haus- und Straßenbettel, die Herberge zur Heimat, der Bezirks-
schutzverein für entlassene Strafgefangene, der Kaufmännische
Verein, der Landwirtschaftliche Verein, die vereinigten Handwerks-
innungen (Küfer-, Schlosser-, Schneider-, Schuhmacher-, Schreiner-,
Bäcker-, Glaser-Innung), die Handelskammer und der Gewerbever-
ein. Schon aus dieser Mitgliederaufzählung kann man ersehen, wel-
ches Interesse im einzelnen die Vereine usw. an der Gründung all-
gemeiner öffentlicher Arbeitsnachweise gehabt haben mögen. Es
war entweder ein unmittelbares Interesse an der Vermittlungstätig-
keit des Arbeitsnachweises oder ein mittelbares an der Verbesse-
rung der Organisation des Arbeitsmarktes. Dabei mag das mittel-
bare Interesse an Verbesserung der Arbeitsvermittlung sogar über-
wogen haben. Aus der Interessentenaufzählung ergibt sich weiter
aber auch zugleich, daß in Baden von Anfang an Arbeitgeber
wie Arbeitnehmer den Vereinsarbeitsnachweisen angehörten, wo-
durch in bedeutsamer Weise der Parität der Verwaltung Vor-
schub geleistet wurde.
Mit der Gründung der ersten allgemeinen öffentlichen Ar-
beitsnachweise als Vereinsarbeitsnachweise hängt es auch zu-
sammen, daß sowohl beim Publikum wie auch bei den gründen-
den Vereinen selbst sich zunächst die Anschauung bemerkbar
machte, diese Vereinsnachweise müßten in erster Linie zugunsten
der Vereinsmitglieder Arbeit vermitteln. Es ist indessen diese
Anschauung in der Praxis keineswegs eingehalten und bald auch
grundsätzlich aufgegeben worden.
Was nun die Vermittlungsergebnisse dieser Vereinsarbeits-
nachweise anfangs der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts be-
trifft, so konnten sie naturgemäß nur geringe sein. Wird dies
gemeinhin insbesondere auf die Beschaffenheit der Arbeiterkund-
schaft, d. h. auf den Mangel an gelernten tüchtigen Arbeitern,
die den Vereinsarbeitsnachweis nicht in Anspruch nahmen, zu-
rückgeführt, so glaube ich weiterhin als Ursache der ersten Minder-
erfolge neben der noch in der Entwicklung befindlichen Organi-
sation auch einmal die mangelhafte Beschaffenheit der Vermitt-
lungsräume, sowie zweitens vornehmlich die damalige allgemeine
Uebung, den Arbeitsnachweis im Nebenamt leiten zu lassen, an-
sprechen zu sollen.
Einen Wendepunkt in der Entwickelung der allgemeinen
öffentlichen Arbeitsnachweise bedeutet ihre Uebernahme in städtische
Regie. Vorbereitet war dieser Schritt meist schon dadurch, daß
die Städte allmählich beträchtliche Zuschüsse bar oder in miet-
freier Ueberlassung von Räumlichkeiten den Vereinsnachweisen
in Anbetracht des Nutzens gewährt hatten, den die Gemeinde
selbst durch die geregelte Arbeitsvermittlung der Anstalten hatte.
Ich denke hier vor allem an die Entlastung der Armenkasse und
die Sicherung des wirtschaftlichen Lebens in der Stadt. Es kann
jedoch für diesen so überaus wichtigen Vorgang kein allgemein
bestimmter Zeitpunkt in Baden angegeben werden ; so wurde der
Vereinsnachweis in Freiburg bereits 1897, der in Karlsruhe erst
1905 und der in Mannheim gar erst 1906 in städtische Regie über-
— 9 —
nommen. Dann wurden, nachdem die Erkenntnis von den kommu-
nalen Vorteilen allgemeiner öffentlicher Arbeitsnachweise einmal
weiteren Fuß gefaßt hatte, eine größere Anzahl von Arbeitsnach-
weisen von vornherein als städtische Anstalten gegründet, so als
erste die Lahrer Anstalt im Jahre 1895.
Die Uebernahme in städtische Regie brachte den Arbeits-
nachweisen zunächst eine wesentliche finanzielle Stärkung, indem
nunmehr die Gemeinde in erster Linie für die Kosten aufzukommen
hat. Sie brachte ferner eine weitere Ausbildung und Befestigung
der Parität der Verwaltung, indem die Leitung der Geschäfte in
die Hand eines städtischen Beamten gelegt wurde, der zudem
regelmäßig einer besonderen Verwaltungskommission unterstellt
ist, die unter Vorsitz eines Bürgermeisters aus Vertretern der
Arbeitgeber und Arbeiter, meist in gleicher Anzahl, gebildet wird.
Dadurch wurde aber der städtische Arbeitsnachweis zugleich den
Parteikämpfen und Einflüssen im Stadtregiment entzogen und die
Herausbildung von Zuständen unmöglich, wie sie sich bei den
französischen, unter dem Einfluß der Arbeitersyndikate stehenden
»Bourses du travail« gezeigt haben ^); endlich hat die Uebernahme
in städtische Regie die Weiterentwicklung der Arbeitsnachweise
zu besonderen kommunalen Arbeitsämtern möglich gemacht, denen
noch weitergehende Aufgaben, wie Wohnungsnachweis, Rechts-
auskunftstelle und Arbeitslosenfürsorge, angegliedert wurden.
Wenn gleichwohl in Baden zurzeit noch drei Vereinsarbeits-
nachweise (Schopfheim, Konstanz und Waldshut) fortbestehen, so
ist das einmal aus Gründen der historischen Entwickelung zu er-
klären, die noch nicht abgeschlossen ist ; weiter ist wohl zu be-
achten, daß dem Vereinsnachweise Konstanz (und ähnlich Walds-
hut) als Filialen die (1888/89 gegründeten) oberbadischen Naturai-
verpflegungsstationen angegliedert worden sind, und daß deshalb
einer Kommunalisierung hier besondere Schwierigkeiten entgegen-
stehen mögen. Es scheint mir aber trotzdem die Frage nach der
zweckmäßigsten Organisation der allgemeinen öff"entlichen Arbeits-
nachweise in Baden durch die eingetretene Kommunalisierung ge-
lö.st zu sein, abgesehen von allem bereits Vorgetragenen auch aus
dem Grunde, weil bei weiterer Ausbreitung der öffentlichen all-
gemeinen Arbeitsnachweise sich in andern Städten kaum mehr
Vereine usw. finden würden, die als Träger des allgemeinen
i) Vgl. E. H. Meyer, Entwicklung und gegenwärtiger Stand der Arbeitsver-
mittlung, Hannover 1912, S. 205.
— lo
öffentlichen Arbeitsnachweises einzutreten gewillt wären. Der
allgemeine öfifentliche Arbeitsnachweis ist für Baden zur aner-
kannten Gemeindeaufgabe geworden.
Zur Förderung ihrer gemeinsamen Interessen hat sich die
überwiegende Mehrzahl der badischen allgemeinen öffentlichen
Arbeitsnachweise bereits im Jahre 1896 zu einem Landesverbände
zusammengeschlossen : dem Verband badischer Arbeitsnachweise').
Die konstituierende Versammlung fand am 4. Mai 1896 zu Karls-
ruhe statt. Dabei verdient besonders hervorgehoben zu werden,
daß den Verband badischer Arbeitsnachweise die Arbeitsnach-
weise selbst ins Leben gerufen haben, während bekanntlich Nord-
deutschland vielfach das umgekehrte Verfahren einschlug, zuerst
den Verband und dann die Arbeitsnachweise. Auch der Cha-
rakter des badischen Verbandes als freier, die Selbständigkeit
der ]\Iitglieder unberührt lassender Vereinigung, bedarf im Ge-
gensatz zu andern Verbänden hier besonderer Erwähnung. Bei
der tatsächlichen Einwirkung der Verbandsleitung geht die Un-
gebundenheit der badischen Anstalten aber nicht so weit, daß
lediglich eine bloße Verkehrsvereinigung vorläge.
Dem Verbände badischer Arbeitsnachw^eise gehören sämt-
Hche 18 allgemeinen öffentlichen Arbeitsnachweise Badens — und
nur diese — , sowie die badische Landwirtschaftskammer an. Nach
der Zeit der Eröffnung geordnet (die nicht immer mit der Zeit des Ein-
tritts in den Verband zusammenfällt) sind dies die folgenden Anstal-
ten: Karlsruhe (1891), Freiburg (1892), ^^lannheim und Schopfheim
(1893), Pforzheim (1894), Lahr, Offenburg, Lörrach und Konstanz
(1895), Heidelberg und Waldshut (1896), Müllheim (189S), Bruch-
sal (1903), Durlach und Weinheim (1906), Rastatt (1907), Baden
(1908) und Eberbach (1909). Geplant ist zur Zeit die Errichtung
einer w'eiteren Anstalt in Villingen.
Nach seiner Satzung hat sich der Verband^) zur Erreichung
1) Der Verband hieß zunächst >Verband der Anstalten für Arbeitsnachweis
im Großherzogtum Baden« ; die ersten Statuten sind im Anhang des Jahresberichtes
des Verbandes von 1896 abgedruckt, die neue Satzung im Geschäftsbericht für
1907/11, S. 9 ff.
2) Die Organe des Verbandes sind die Verbandsversammlung und der Ver-
bandsausschuß. Die Verbandsversammlung besteht aus den gesetzlichen oder sta-
tutarischen Vertretern der Verbandsmitglieder oder deren Bevollmächtigten. Von
den Verbandsversammlungen zu scheiden sind die Verwalterkonferenzen, die neben
den Verbandsversammlungen abgehalten wurden. Ihr Zweck war, die Arbeits-
nachweisbeamten durch geeignete Vorträge und anschließende Debatte mit der Ge-
— II —
seiner Zwecke folgende besondere Aufgaben gestellt : Errichtung
neuer Arbeitsnachweise nach Bedürfnis, Verständigung über ge-
meinsame Grundsätze der Berichterstattung und Verwaltung (auch
durch Veranstaltung von Besprechungen), sodann Pflege der Sta-
tistik über die Ergebnisse der Verbandsarbeitsnachweise, Statistik
der Arbeitslosen im Verbandsgebiete, endlich die Vertretung
aller gemeinsamen Interessen gegenüber den Behörden und im
Verbände deutscher Arbeitsnachweise.
Hat sich der Zusammenschluß der badischen allgemeinen öffent-
lichen Arbeitsnachweise zu einem Verbände bewährt ? Diese Frage
kann schon an dieser Stelle zweifellos bejaht werden. Es sei hier in
Kürze gestattet anzuführen, was der Verband badischer Arbeits-
nachweise bisher in seiner nun 17 jährigen Tätigkeit geleistet hat;
dabei kann jedoch nur das Wesentliche, auf keinen Fall jeder
Erfolg des Verbandes hervorgehoben werden ; das würde zu weit
führen. An erster Stelle möchte ich sein durchaus erfolgreiches
Bestreben stellen, unter Zurückdrängen insbesondere der gewerbs-
mäßigen Stellenvermittler die Arbeitsvermittlung in Baden im
öffentlichen Arbeitsnachweis zu konzentrieren und durch Heraus-
gabe von Vakanzenlisten interlokal zu organisieren. Dieses Be-
streben hat in den nächstbeteiligten badischen Kreisen der Ar-
beitsnachweise selbst, wie überhaupt in der badischen arbeitenden
Bevölkerung noch nicht die gebührende Anerkennung gefunden.
Als weiterer großer Erfolg der Verbandstätigkeit muß sodann der,
schäftsgebahrung vertraut zu machen. Die Verbandsversammlung vom 8. Mai
1899 beschloß jedoch, daß in Zukunft die Versammlungen der Anstaltsverwalter
gleichzeitig mit der Verbandsversammlung stattfinden sollen. Seit 1900 finden denn
auch gewöhnlich die beiden Versammlungen gleichzeitig statt. (Der Wert dieser
Verwalterkonferenzen erscheint mir nicht erheblich. Auf keinen Fall ist damit für
Baden die Frage der Lösung näher gebracht, auf welche Weise tüchtige Verwalter
zu gewinnen sind.) Der Verbandsausschuß, der 1910 an die Stelle des geschäfts-
führenden Vororts — bis dahin Karlsruhe — gesetzt wurde, wird von der Ver-
bandsversammlung je auf drei Jahre aus der Zahl obiger Vertreter gewählt; er be-
steht aus fünf Mitgliedern und wählt aus seiner Mitte einen Vorsitzenden und
dessen Stellvertreter (zurzeit ist Vorsitzender des Ausschusses Bürgermeister Dr.
Horstmann in Karlsruhe). Die Verbandsversammlung soll jährlich einmal von dem
Ausschußvorsitzenden einberufen werden. Beschlüsse der Verbandsversammlung
und des Verbandsausschusses können auch im Wege schriftlicher Abstimmung ge-
faßt werden, falls dagegen von keinem Mitgliede Widerspruch erhoben wird. Die
Veröffentlichungen des Verbandes erfolgen in der Zeitschrift des Verbandes deut-
scher Arbeitsnachweise »Der Arbeitsnachweis in Deutschland« (früher in der Zeit-
schrift »Der Arbeitsmarkt«) sowie in den vom Verbandsausschuß zu bestimmenden
Zeitungen.
— 12 —
allerdings unter Mitwirkung der Staatsverwaltung, nunmehr glück-
lich verwirklichte Grundsatz der Unentgeltlichkeit der Arbeits-
vermittlung gelten. Wer die finanziellen Kämpfe unserer badi-
schen Arbeitsnachweise, insbesondere aus den Vereinszeiten, kennt,
weiß, daß die Annahme dieses Grundsatzes mit ganz geringen
Ausnahmen manchmal Sein oder Nichtsein des Arbeitsnachweises
berührt hat. Diesen zwei großen, bleibenden Verdiensten des
Verbandes stehen eine Menge kleiner Erfolge ebenbürtig zur Seite :
es sind dies die Vereinheitlichung der Statistik, die Erhöhung des
Staatszuschusses, die Einführung der Fahrpreisermäßigung, die
verstärkte Vermittlung von minderqualifizierten Arbeitern, die Orga-
nisation der Lehrstellenvermittlung usw. Nicht unerw-ähnt bleiben
darf auch die Förderung der Reklame. Wohl fand bis in die
Neuzeit hinein die Arbeit des Verbandes nicht immer die allge-
meine Zustimmung, aber aus kleinem heraus muß auch hier großes
geschaffen werden! Mögen deshalb die badischen Arbeitsnach-
weise stets zu ihrem Verbände stehen !
Im Jahre 1898 ist dann der Verband badischer Arbeitsnach-
W'eise dem Verband deutscher Arbeitsnachweise beigetreten; da-
mit sind gemäß den Satzungen des Reichsverbandes sowohl der
badische Verband selbst, wie dessen Einzelanstalten Mitglieder
des deutschen Verbandes geworden. Der badische Verband ist
im deutschen Verbandsausschuß durch seinen Verbandsvorsitzenden
vertreten. Aus der Vorgeschichte des Beitritts darf hier nicht
unerwähnt bleiben, wie die vom deutscTien Verbände ausgegangene
Aufforderung zum Beitritt in Süddeutschland verschiedene Mei-
nungen auslöste. Direkt gegen den Anschluß richtete sich ein
Plan der württembergischen Anstalten, die einen besonderen süd-
deutschen Arbeitsnachweisverband gründen wollten; Bayern nahm
eine abwartende, zögernde Stellung ein. Jedoch fand der würt-
tembergische Vorschlag in Bayern keinen Beifall. Es kann wohl
gesagt werden, daß der Beschluß des badischen Verbandes zu-
gunsten des Reichsverbandes den Ausschlag gab ein Verdienst
des badischen Verbandes, das mancher nicht an die letzte Stelle
setzen möchte.
2. Die Vermittlungstätigkeit.
Ich gehe nunmehr zur Erörterung des inneren Ausbaus der all-
gemeinen öffentlichen Arbeitsnachweise in Baden über und betrachte
deren Vermittlungstätigkeit unter folgenden 4 Gesichtspunkten :
— 13 —
a) die Technik der Vermittlung,
b) das Ergebnis der Vermittlung in seiner Gliederung,
c) die öffentlichen Arbeitsnachweise bei Lohnstreitigkeiten
(Streikklausel),
d) der Arbeitsnachweis und die Arbeitslosigkeit.
a) Die Technik der Vermittlung.
Wie kommt eine Vermittlung zustande, und zeigt die badische
Vermittlungspraxis besondere Eigentümlichkeiten ?
Grundlegend für jede Vermittlungstätigkeit ist das Registrier-
system, d. h. die Art und Weise, wie die Stellengesuche und
Stellenangebote für die Vermittlung bereit gelegt werden. Da
ist nun zu sagen, daß die allgemeinen öffentlichen Arbeitsnachweise
in Baden sich grundsätzlich dem sog. Karten- oder Zettelsystem
zugewendet haben, wenn auch natürlich dieses System zurzeit
noch nicht vollständig, d. h. bei einzelnen kleineren Anstalten
noch nicht allgemein, zur Einführung gelangt ist^). Mag auch
anderwärts der Streit zwischen dem sog. Listen- oder Buch- und
dem Karten- oder Zettelsystem noch nicht ausgetragen sein, für
die badische Praxis ist diese Frage als erledigt zu betrachten.
Das Kartensystem hat sich unter dem Vorgange der Freiburger
Anstalt in Baden allgemeine Anerkennung verschafft. Die mit
ihm gemachten vorzüglichen Erfahrungen lassen ein Abgehen der
badischen Praxis von diesem System als ausgeschlossen erscheinen.
Indem ich mich hiernach einer näheren Erörterung der Vor- und
Nachteile dieses Systems an dieser Stelle wohl enthalten kann,
möchte ich doch insbesondere auf seine Vorzüge bei Aufstellung
der Arbeitsnachweisstatistik kurz hinweisen^). Auch die badische
Praxis der allgemeinen öffentUchen Arbeitsnachweise in Baden
ist zunächst von dem einfachen Buch- oder Listensystem ausge-
gangen, das seinerzeit im Zusammenwirken zwischen dem Stati-
stischen Landesamt und der Verbandsleitung für alle Verbands-
anstalten einheitlich gestaltet wurde. Schwierigkeiten ergaben sich
indessen hierbei insbesondere für die Erfassung der sog. Passanten,
die zunächst in die Arbeitnehmer-Berufsfolien usw. eingestichelt,
und erst dann namentlich in das Arbeitnehmerbuch eingetragen
i) Vgl. Geschäftsbericht des Verbandes für 1912, S. 13.
2) Vgl. hierzu meine Ausführungen über »Die Entwicklung der Statistik der
allgemeinen öffentlichen Arbeitsnachweise in Baden« in der Zeitschrift für Badi-
sche Verwaltung und Verwaltungsrechtspflege 1913, S. 195 ff.
— 14 —
werden sollten, wenn ihnen alsbald Arbeit zugewiesen weiden
konnte. Mit Einführung des Kartensystems bei den größeren
Anstalten (1906) konnte sehr zum Vorteil der Richtigkeit und Voll-
ständigkeit der Arbeitsnachweisstatistik diese Praxis geändert und
die gleichmäßige Aufnahme aller Arbeitsgesuchc mit Erfolg tat-
sächlicher Durchführung gefordert werden. Damit verschwanden
die sog. Passanten aus der Statistik ').
Von größerer sozialpolitischer Wichtigkeit und zugleich von
weittragender Bedeutung für eine erfolgreiche Vermittlungstätig-
keit ist gegenüber dem Registriersystem das bei der Reihen-
folge der Zuweisungen einzuschlagende Verfahren. Die
badische Praxis steht bei Wahrung aller Parität auf dem Stand-
punkt vorhergehender Individualisierung, d. h. grundsätzlicher Ver-
mittlung von nur passenden Persönlichkeiten in passende Stellen.
Es ist gewiß zweifellos, daß hierdurch dem Geschick und dem
Takt der Anstaltsbeamten ein weiter Spielraum eröffnet ist. Es
ist andererseits aber auch durch die langjährige Erfahrung der
Pforzheimer Bijouterievermittlung erwiesen, daß der allgemeine
öffentliche Arbeitsnachweis in Baden sehr wohl in der Lage ist, zu
individualisieren. Richtiger Ansicht nach verstößt der Arbeitsnach-
weis hier auch in nichts gegen die sog. Parität, denn ein anderes
Vorgehen wäre oft gerade unzweckmäßig, wenn den Arbeitsuchen-
den unnötige Gänge usw. erspart bleiben sollen. Erst dann wird
die Reihenfolge der Anmeldungen in Betracht zu kommen haben,
wenn für eine Stelle mehrere gleichgeeignete, gleichwertige Arbeit-
suchende vorgemerkt sind. In diesem Falle wird wohl der Be-
amte grundsätzlich verheiratete wie ortsansässige, sowie längere
Zeit arbeitslose Arbeiter vorzuziehen haben. Indessen mag hier
ausdrücklich festgestellt werden, daß für die im Verband badischer
Arbeitsnachweise vereinigten Anstalten keinerlei bindende Vor-
schriften hinsichtlich der Reihenfolge der Zuweisungen bestehen ^).
Es ist jeder Anstalt überlassen, wie sie nach Maßgabe ihrer örtlichen
Verhältnisse verfahren will. So können selbstverständlich auch
bei Angliederung von Fachabteilungen besondere Vorschriften für
die Art der Zuweisung aufgestellt werden.
F"ür ein technisch 2:utes Vermitteln von nicht zu unterschätzen-
1) Jahresbericht des Verbandes für 1904/6, S. 15, über weitere Vorteile bei
allgemeiner Durchführung des Kartensystems, vgl. Geschäftsbericht für 1912,
S. 12 ff., S. 24 fr.
2) Vgl. Jahresbericht 1904/05, S. 20.
- 15 —
der Bedeutung ist ferner die Person des Schalterbeamten selbst,
so daß ich in diesem Zusammenhange auch die Frage der zweck-
mäßigen Ausbildung der Nachweisbeamten streifen möchte,
die mit den Fortschritten der allgemeinen öffentlichen Vermittlung
immer mehr an Bedeutung gewinnt, und die da, wo der zuwei-
sende Beamte individualisieren muß, von ausschlaggebender Be-
deutung ist. Die badische Vcrbandsleitung steht hier auf dem
Standpunkte, daß der Besuch von Fortbildungskursen, wie sie an
einzelnen Orten außerhalb Badens für Vermittlungsbeamte bereits
eingerichtet worden sind, zu empfehlen ist. Sie ist sogar bereit, die
Kosten der Teilnahme erforderlichenfalls auf die Verbandskasse zu
übernehmen. Ferner beabsichtigt die Verbandsleitung, gegebenen-
falls in den einzelnen Wirtschaftsgebieten des Landes erfahrene An-
staltsleiter zu benennen, bei denen sich die jüngeren Beamten
Rats erholen können. Die badische Verbandsleitung ist grund-
sätzlich auch geneigt, die Kosten für etwaige Bereisungen der
Nachbaranstalten durch jene Anstaltsleiter zu übernehmen (Ge-
schäftsbericht für 191 2 S. 19). Von all dem abgesehen wird aber
m. E. jeder öffentliche Arbeitsnachweis den größten Wert darauf
legen müssen, seine Vermittlungsbeamten nach seinen örtlichen
Bedürfnissen selbst heranzubilden und sich insbesondere den Zu-
gang sorgfältig auszuwählen. Der Vermittlungsbeamte muß ge-
wandt, frisch und aufmerksam sein. Insbesondere muß der lei-
tende Beamte eines kommunalen Arbeitsnachweises neben Liebe
zur Sache auch ein gewisses organisatorisches Talent besitzen, sonst
wird auch die beste fachliche Ausbildung nicht viel Früchte tragen.
Zur Technik eines erfolgreichen Vermittlungsgeschäftes ge-
hört endlich auch die Reklame, und es bedarf wohl keiner be-
sonderen Erörterung, daß Reklame für die allgemeinen öffentlichen
Arbeitsnachweise, vor allem, so lange sie im Wettbewerb mit
anderen Nachweiseinrichtungen, insbesondere den gewerbsmäßigen
Stellenvermittlern stehen, eine unbedingte Notwendigkeit ist ^).
Diese Notwendigkeit ist denn auch von den badischen allgemeinen
öffentUchen Arbeitsnachweisen erkannt, und häufige Reklame in
verschiedenster Art, durch Inserat, Anschlag usw. gemacht wor-
den. Auch der badische Verband hat schon frühzeitig der Re-
klame sein besonderes Augenmerk zugewendet und die Druck-
i) Vgl. das Referat Jastiows über >Die Reklame im Dienste der allgemeinen
öffentlichen Arbeitsnachweise* auf der VII. Verbandsversammlung deutscher Arbeits-
nachweise zu Wiesbaden 1905, Schriften des Verbandes Nr. 6, S. 60 ff.
— i6 —
leguncT eines einheitlichen Plakats für die Verbandsanstalten in
die Wege geleitet, das indessen damals — 1903 — nicht allge-
meine Anerkennung fand. Neuerdings ist seitens des Verbandes
die Herausgabe eines sehr hübschen, künstlerisch ausgeführten
und kolorierten Verbandsplakates erfolgt, das gleichzeitig auf ge-
werbliche und landwirtschaftliche Vermittlung hinweist und dem
mit Unterstützung der staatlichen Behörden weiteste Verbreitung
im Großherzogtum zuteil geworden ist. Gleichzeitig konnte der
letzte Verbandsbericht mitteilen, daß die Großherzogliche Gene-
raldirektion der Staatseisenbahnen in dankenswerter Weise sich
bereit erklärt habe, den Anschlag von Ankündigungen des Ver-
bandes an Bahnhöfen zu gestatten, und daß sie voraussichtlich
auch Anschläge in den Personenwagen zulassen werde. ^)
b) Das Ergebnis der Vermittlung in seiner
Gliederung.
Für die Betrachtung der Gliederung der Vermittlungsergeb-
nisse der bad. allgemeinen öffentlichen Arbeitsnachweise wollen
wir die Ziffern des Jahres 1912 heranziehen^).
Nach den Statistischen Mitteilungen über das Großh. Baden
Jahrgang 191 3, Januarnummer, waren die Vermittlungsergebnisse
der einzelnen Verbandsanstalten im Jahre 1912 folgende :
Anslalten
Offene Stellen
Arbeitsuchende
Vermittlun
Freiburg
23373
44194
21333
Mannheim
21583
41 162
17317
Karlsruhe
301 12
40874
22168
Pforzheim
29883
35595
22923
Heidelberg
8601
18130
6445
Konstanz
7932
16440
5669
Baden
S910
12096
8492
Bruchsal
3543
7003
2538
Lürrach
3118
6865
2511
Offenburg
2159
5175
946
Rastatt
3289
3708
2493
Müllheim
1941
3674-
II70
Waldshut
1292
3619
548
Schopfheira
692
3324
292
Weinheim
1875
2988
766
LaJir
1329
2709
869
Durlach
726
1872
413
Eberbach
44
6
6
Grundlegend ist zunächst die Rohscheidung in männliche
und weibliche Arbeitsuchende. Dabei ist einleitend
zu erwähnen, daß die badischen Anstalten von Anfang an in
j) A. a. O. S. 18.
2) Die Arbeit wurde Anfang des Jahres 1914 abgeschlossen.
— 17 —
richtiger Erfassung ihrer volkswirtschaftlichen Aufgabe für Ar-
beitsuchende männUchen und weiblichen Geschlechts errichtet
waren. Indessen bestand eine organisatorische Trennung zwischen
den beiden Abteilungen, wie sie jetzt allgemein üblich ist, zu-
nächst nicht überall. Die Erfahrungen indessen, die zuerst bei
der Freiburger Anstalt mit besonderer Leitung und räumlicher
Trennung der weiblichen Abteilung gemacht wurden, belehrten
auch die übrigen Anstalten. Heute ist die Bedeutung der Tren-
nung für die Entwicklung der weiblichen Abteilung nicht nur
grundsätzlich anerkannt, sondern in der Leitung überall und in
den Räumlichkeiten regelmäßig auch durchgeführt. Dabei möchte
ich im Hinblick auf die anfänglich geringen Erfolge der weiblichen
Abteilung in Baden nur daran erinnern, daß auf den ersten all-
gemeinen deutschen Arbeitsnachweiskongressen in Karlsruhe und
München die Referate über die weibliche Stellenvermittlung aus-
fallen mußten, weil man keinen Referenten ausfindig machen
konnte. Wir haben es hier also mit einer allgemeinen Entwick-
lungstatsache zu tun. Denn wie anderwärts stand auch gerade
die weibliche Abteilung in Baden zunächst in hartem Wettstreit
mit gewerbsmäßigen und charitativen Vermittlungseinrichtungen.
Natürlich ist die organisatorische Zusammenfassung der beiden
allgemeinen Unterabteilungen dringende Notwendigkeit, wenn nicht
die volkswirtschaftliche Funktion des Ganzen notleiden soll. Diese
engere organisatorische Verbindung bestand nun im Anfang und
besteht bei kleineren und mittleren Anstalten in Baden noch heute
darin, daß die Frau des Verwalters die weibliche Abteilung leitet.
Man wird sich in kleineren Verhältnissen damit einverstanden er-
klären können. Indessen bei weiterem Umfange der Vermittlungs-
tätigkeit gehört natürlich auch an die Spitze der weiblichen Abtei-
lung eine Kraft im Hauptamt, die allerdings zweckmäßig wieder eine
weibliche sein wird, schon des größeren Vertrauens willen, das sie
erfahrungsgemäß bei weiblichen Arbeitsuchenden genießen wird.
Im einzelnen verteilten sich die oben angegebenen Gesamt-
vermittlungsziffern des Jahres 191 2 auf die beiden Abteilungen
wie folgt ^) :
Offene Stellen Arbeitsuchende Vermittlungen
männlich: 99 375 194 201 78438
weiblich: 56027 55233 38461
i) Vgl. die Stat. Mitteilungen a. a. O.; die folgenden Ziffern beziehen sich
alle auf 1912.
Zeitschrift für die ges. Staatswissensch. Ergänzungsheft 52. 2
— i8 —
1 )as \'ci hältnis der beiden Abteilungen zueinander ist dar-
nach im ganzen jetzt als ein besseres zu bezeichnen, obwohl in
obigen Ziffern der weiblichen Abteilung,' die hier besonders häu-
figen kurzfristigen Vermittlungen zu berücksichtigen sind.
Betrachtet man die Vermittlungsergebnisse weiter nach B e-
rufsgruppen, so weist in der männlichen Abteilung die Be-
rufsgruppe Sonstige Lohnarbeit und häusliche Dienste, also die
Gruppe der in der Hauptsache ungelernten Berufe, allerdings noch
die höchsten Zahlen auf:
35962 offene Stellen, 74Q89 Arbeitsuchende, 31274 Vermittl.
Es ist indessen aus der Statistik der badischen Arbeits-
nachweise, auf deren Veröffentlichungen im einzelnen ich
hier verweisen muß, zu entnehmen, daß diese Berufsgruppe der
ungelernten Arbeit relativ an Bedeutung abnimmt. Es mag dies-
bezüglich aus dem Jahresbericht des Verbandes für 191 2 (S. 6)
hier folgendes angeführt werden: >An den gegenüber dem Vor-
jahr in der Zahl der Arbeitsuchenden eingetretenen Veränderun-
gen sind die gelernten Berufe, und an jener in der Zahl der
offenen Stellen die ungelernten Berufe am stärksten beteiligt. . .
Trotzdem die ungelernten Berufe mit 80 % an der Abnahme der
offenen Stellen beteiligt sind, ist die Zahl ihrer Arbeitsuchenden
gesunken, dagegen weisen die gelernten Berufe mit einem Anteil
von nur 20 % (an der Abnahme der offenen Stellen) eine ganz
außerordentliche Zunahme der Arbeitsuchenden auf«. Diese Erschei-
nung ist meines Dafürhaltens in erster Linie auf den Umstand zurück-
zuführen, daß immer mehr auch gelernfe und besser qualifizierte Ar-
beiter sich an den allgemeinen öffentlichen Arbeitsnachweis wen-
den, d. h. also sich von andern ürganisationsformen des Arbeits-
marktes abkehren. Dies ist einmal das äußere Zeichen für die
sorgfältige, individuelle und taktvolle Vermittlungstätigkeit. Diese
Entwicklung zeigt aber auch, daß jene Behauptung nicht zu-
trifft, die da meinte, der besser qualifizierte Arbeiter würde es
stets verschmähen, sich an einen allgemeinen Arbeitsnachweis zu
wenden. Die Zahlen der folgenden männlichen Berufsgruppen
belegen das näher:
Offene Stellen
Arbeitsucher
>de
Vermittlungen
Metall- und Masch. -Arbeiter
17990
32 269
14 157
Baugewerbe
13076
22 008
10064
Industrie der Holz- u. Schnitzstoffe
8596
14688
6377
Land- und Forstwirtschaft
6 153
II 544
4585
— ig-
ln der weiblichen Abteilung sind die folgenden Gruppen aus-
schlaggebend :
Offene Stellen Arbeitsuchende Vermittlungen
Häusliche Dienstboten, Putz-, Wasch-
und Lauffrauen 33 323 32 794 22 938
Gast- und Schankwirtschaft 15320 14389 10 381
Metallverarbeitung 3090 3 34° 2591
Fabrikarbeiterinnen aller Art i 843 2 073 i 344
Im übrigen glaube ich von Aufzählung weiterer Einzelheiten
der Berufsgliederung um so mehr Umgang nehmen zu können,
als die Vermittlungstätigkeit der allgemeinen öffentlichen Arbeits-
nachweise insbesondere in der Landwirtschaft noch an anderer
Stelle, bei der Vermittlungstätigkeit der badischen Landwirt-
schaftskammer, ausführlicher zu behandeln sein wird.
Wie in der Reichberufsstatistik der allgemeinen öffentlichen
Arbeitsnachweise die »Lehrlinge aller Berufsarten« als besondere
Berufsgruppe am Schlüsse zusammengefaßt werden, so möchte
ich an die vorstehende Erörterung anschließend auch hier nun-
mehr von dieser Vermittlung handeln.
Die Frage der Lehrstellenvermittlung muß als
eine der schwierigsten, aber auch als eine der wichtigsten des
allgemeinen öffentlichen Arbeitsnachweises angesehen werden.
Wie diese Frage überall zurzeit noch im Flusse ist und allge-
meiner Erörterung untersteht^), so kann auch die Entwicklung
in Baden heute noch nicht als abgeschlossen gelten ^). Dabei ist
Lehrstellenvermittlung hier gegenüber Lehrlingsvermittlung im
weiteren Sinne zu verstehen, d. h. auch Handel und Landwirt-
schaft umfassend, während die sog. Lehrlingsvermittlung nach
allgemeinem Sprachgebrauch mehr das Handwerk in Betracht
zieht. Es ist die Frage der Lehrstellenvermittlung in diesem Sinne
allerdings geschichtlich aus der Lehrlingsvermittlung erwachsen.
Bevor ich indessen zur näheren Betrachtung der Leistungen
der badischen Arbeitsnachweise auf diesem Gebiete übergehe,
scheint es mir zur Klarstellung ihrer volkswirtschaftlichen Be-
deutung angebracht zu sein, kurz noch auf die Lage der Lehr-
lingsvermittlung im Handwerk in Baden vor dem Eingreifen der
badischen Arbeitsnachweise hinzuweisen. Man kann wohl mit
Recht behaupten, daß die Lehrlingsvermittlung früher, da das
innige Verhältnis zwischen Familie und Handwerk noch bestand,
1) Vgl. Arbeitsmarkt 1910 Nr. i (Verbandstagschrift 1910) S. 42 ff.
2) Vgl. Verbandsberichte 1904/06, S. 11 ff., 1907/11, S. 10 ff., 1912, S. 9, 29 ff.
2*
— 20 —
wesentliche Schwierigkeiten nicht verursacht hat. Der Solin trat
in das Handwerk des Vaters ein, Verwandte und Freunde wie
Bekannte führten dem Meister den LchrUng zu. Mit dem Nieder-
gehen des Handwerks und der fortschreitenden IndustriaUsierung
änderte sich das alles ; neue Elemente, die bi.shcr in keinem Zu-
sammenhange mit dem Handwerk gestanden waren, wandten sich
diesem zu, und übertriebene Hoffnungen scheiterten nach kurzer
Zeit kläglich. Die Folgen blieben nicht aus ! Auch das wirt-
schaftlich berechtigte Handwerk leidet heute Mangel an Nach-
wuchs, und zwar an tüchtigen braven Lehrlingen.
Bei Begründung der ersten badischen Anstalten war natur-
gemäß schon die Vermittlung von Lehrlingen vorgesehen'), allein
es war das eine schwierige Sache, zumal bei der zunächst noch ab-
lehnenden Stellungnahme der Arbeitgeberorganisationen (Innungen
usw.). Das Verdienst, diese Schwierigkeiten im Benehmen mit
Schule und Handw^erkskammer grundsätzlich und zuerst in weiterem
Umfange überwunden zu haben, gebührt der Freiburger Anstalt,
die seit 1902 eine besondere Lehrlingsvermittlung organisierte.
Im Jahre 1905 nahm sich dann der Verband der Organisation
der Lehrlingsvermittlung an. Er erreichte die fördernde Mitwir-
kung der staatlichen Behörden, insbesondere der obersten Schul-
behörde. Diese erließ an die Volksschulen eine Verfügung, nach
der die Lehrer der oberen Klassen veranlaßt wurden, alljährlich
vor Schluß der Schule die zur Entlassung kommenden Schüler
auf die Notwendigkeit, sich nach der Entlassung der Erlernung
eines Berufes zuzuwenden, hinzuweisen, wie auch sonst die Be-
strebungen der allgemeinen öffentlichen Arbeitsnachweise geeignet
zu unterstützen 2j. Auch der Widerstand der Organisationen der
Arbeitgeber tritt, nachdem auch die staatliche Gewerbeförderung
einen dahingehenden Einfluß ausübte, mehr und mehr zurück.
Gleichwohl ist auch heute die Frage der einheitlichen Organi-
sation der Lehrstellenvermittlung in Baden noch nicht gelöst, wie
auch die Verhandlungen auf dem letzten badischen Verbandstag
zeigten ^). Und es scheint auch, daß in dieser Frage die örtlichen
Verhältnisse ausschlaggebend bleiben müssen ! Insbesondere wird
1) Vgl. >Die Lehrlingsvermittlung bei den allgemeinen Arbeitsnachweisan-
staltenc, Zeitschrift für badische Verwaltung und Verwaltungsrechlspflege 1904,
S. 66 IT.
2) Verordnungsblatt des Großh. Badischen Oberschulrats 1907, S. 30 ff.
3) Geschäftsbericht des Verbandes 1912, S. 29 fF.
— 21 —
in den kleinen Städten, wo sich alle Einwohner kennen, die Lehr-
stellenvermittlung wohl niemals in weiterem Umfange auf die
Arbeitsämter übergehen. Und doch ist dem Verbände badischer
Arbeitsnachweise als besonderes Verdienst anzurechnen, daß er
in Baden einmal die Zentralisation der Lehrstellenvermittlung bei
den allgemeinen öffentlichen Arbeitsnachweisen ungemein geför-
dert hat; sodann ein für alle Mal in den Verhandlungen mit den
Beteiligten klargestellt hat, daß auch der paritätische öffentliche
Arbeitsnachweis das Recht hat, den Arbeitsuchenden vor Er-
greifung aussichtsloser Berufe zu warnen. Die der Zahl nach
größten Erfolge in der Lehrstellenvermittlung erreichten die Pforz-
heimer und die Karlsruher Anstalten ; indessen ist wohl zu be-
rücksichtigen, daß die Pforzheimer Anstalt einer einheitlichen
Industrie gegenübersteht, die ihren Nachwuchs von selbst anzieht.
Dabei dürfte es sehr zweifelhaft sein, ob sich die strengen Formen
der Pforzheimer Organisation für alle Anstalten gleich eignen
dürften. Auch sei hier erwähnt, daß, während Pforzheim mit so-
genannten Elternabenden gute Erfolge hatte, andere Anstalten
wie z. B. Freiburg dieser Institution skeptischer gegenüberstehen.
Es können deshalb als Grundsätze einer erfolgreichen Lehrstellen-
vermittlung für Baden hier nur festgestellt werden, einmal die
Mitwirkung der Schulen bei Gewinnung der Lehrlinge, und so-
dann die Mitwirkung der Arbeitgeberorganisation bei Gewinnung
von Lehrstellen ; alles übrige wie Elternabende, Beratungsstunden,
ärztliche Untersuchung, Herausgabe eines Berufsführers ist noch
in weiterer Entwicklung zu klären. Dagegen hat sich bereits
jetzt schon gut bewährt die von der Landeszentrale der badi-
schen Verbandsanstalten zusammengestellte und im Frühjahr wö-
chentlich einmal verbreitete besondere Liste über gemeldete Lehr-
stellen und Lehrlinge. Auch mir scheint es besser, von allen
weitgehenden Vorschriften und Maßnahmen vorerst abzusehen
und die beiden Hauptgesichtspunkte, die Eltern und die "Wünsche
des jungen Mannes, nicht zu weit aus den Augen zu lassen !
Was nun die Berufswahl im einzelnen betrifft, so scheint
mir vorzugsweise auch heute noch die Lehrlingvermittlung als
eine Frage des Handwerks zu betrachten zu sein , und es
kommt das übrige Gewerbe, d. h. die Fabrik (angelernte Ar-
beitskräfte), wie die Landwirtschaft und insbesondere der Han-
del m. E. erst in zweiter Linie in Betracht. Denn was zunächst
die in den Fabriken häufigen sogenannten angelernten Arbeits-
kräftc betrifft, so unterzog sich der allgemeine öffentliche Ar-
beitsnachweis bisher dieser Art Lehrstellenvermittlung nur ungern,
da ein großer Teil der angelernten Arbeiter später in die Klasse der
ungelernten zurückfällt. Auch die Lchrstellenvermittlung im Han-
delsgewerbe bringt den Arbeitsnachweis gemeinhin in eine beson-
ders schwierige Lage. Einem großen Angebot von yVrbeitsuchenden
steht nur ein kleines Angebot an offenen Stellen gegenüber.
Wieviele wenden sich dem Kaufmannsstandc zu, die nur dessen
Proletariat vermehren helfen! Hier ist es dem Arbeitsnachweis
fast unmöglich, helfend einzugreifen. Von besonderer und zu-
nehmender Wichtigkeit ist endlich die Lehrstellenvermittlung in
der Landwirtschaft; sind doch schon Anregungen laut geworden,
in der Landwirtschaft ein ähnliches Lehrverhältnis wie im Hand-
werk einzuführen '). Auch wird von landAvirtschaftlicher Seite
stets nachdrücklich ausgeführt, daß allzu rege Propaganda für
die Lehrstellenvermittlung in der Stadt der Landwirtschaft den
nötigen Nachwuchs abwende ; ob und wo das im einzelnen zu-
trifft, möchte ich dahingestellt sein lassen. Eine Berufsstatistik
der Lehrstellenvermittlung fehlt leider noch den meisten Anstalten.
Im ganzen hat sich die Lehrstellenvermittlungstätigkeit der
badischen Arbeitsnachweise von 1907 bis 1912 in folgender Weise
entwickelt :
Jahr
Offene Stellen
Arbeitsuchende
Vermittlungen
1907
1315
674
279
1908
2059
1123
549
1909
3116
17 10
1058
1910
3307
2282
1298
1911
3549
2202
1182
1912
4043
2753
1258
Die Zahlen zeigen, daß zurzeit die Zahl der zustande ge-
kommenen Vermittlungen noch eine verhältnismäßig niedrige ist,
sie zeigen aber doch, daß es, seitdem der Verband ein Zu-
sammenwirken aller Beteiligten veranlaßt hat. Schritt für Schritt
vorwärts geht.
Nun kann aber für die Bewertung der Vermittlungszahl nicht
ihre Höhe allein ausschlaggebend sein, sondern der Schwerpunkt
der Lehrlingsvermittlung liegt auch hier in der individuellen Aus-
lese : dem entsprechenden Gesuch das passende Angebot.
Aehnlich wie bei der Lehrstellenvermittlung bessere Erfolge
i) Vgl. Mischler, über »Die Lehrlingsvermittlung in Oesterreich«, Arbeits-
markt 19 10, S. 69, insbesondere S. 76.
— 23 —
erst erzielt werden konnten, nachdem die Schulen zur Mitwirkung
verpflichtet worden waren, so konnte auch die sogenannte R e-
servisten Vermittlung nur im Zusammengehen mit den
Kommandostellen der zu entlassenden Reservisten erfolgreich
sein. Auch hier ist das schon frühzeitig erfolgende Eingreifen
des Verbandes vom größten Wert gewesen.
Unter Reservistenvermittlung wird einmal ganz allgemein die
Unterbringung der jeweils im Herbst zur Entlassung kommen-
den Soldaten in geeignete Arbeitsstellen verstanden ; im engeren
Sinne versteht man dann weiter unter Reservistenvermittlung
speziell die Vermittlung von Diener- und Portierstellen, Aufseher-
posten usw. an die Reservisten. Es bleibt jedoch bei dem
großen Andrang auf letztgenannte Stellen die Reservistenvermitt-
lung in diesem engeren Sinne meist im Interesse aller nur ein
frommer Wunsch.
Die erste Fühlungnahme des Verbandes bad. Arbeitsnach-
weise mit den Militärbehörden und zwar durch Vermittlung des
Verbandes badischer Militärvereine erfolgte bereits 1896, also
gleich bei der Verbandsgründung, wie denn überhaupt die Re-
servistenvermittlung in Süddeutschland zuerst in Angriff genom-
men worden ist. Das XIV. Armeekorps zeigte sich der Förde-
rung dieser Bestrebungen des badischen Verbandes im ganzen
nicht abgeneigt. Die zur Entlassung kommenden Soldaten wurden
auf die Bedeutung der allgemeinen öffentlichen Arbeitsnachweise
aufmerksam gemacht und die Benützung dieser Anstalten emp-
fohlen. Ein weiterer Erfolg blieb jedoch zunächst aus. Größere
Erfolge traten vielmehr erst ein, nachdem unter Ausschaltung
der Vermittlungstätigkeit, insbesondere der Bezirkskommandos,
eine unmittelbare Verbindung zwischen Reservisten und den Ver-
bandsanstalten hergestellt war, indem die Reservisten durch ihre
Kommandostellen mittelst gedruckter Belehrungen auf die in
Baden bestehenden öffentlichen Arbeitsnachweise aufmerksam ge-
macht wurden ^). Gleichwohl wird bei Beobachtung der Praxis
der badischen Arbeitsnachweise niemand behaupten können, daß
die Erfolge heute schon so sind, wie sie eigentlich sein sollten.
Denn bekanntlich verlieren viele Arbeitnehmer durch den Militär-
i) Vgl. Geschäftsbericht des Verbandes 1912, S. 19. Ueber die Regelung
der Reservistenvermittlung in Bayern, Württemberg, Pfalz und Elsaß-Lothringen
siehe Dr. Schlotter, Die Reservistenvermittlung der öffentlichen Arbeitsnachweise
und die Militärverwaltungen, Arbeitsmarkt 19 10, S. 389.
— 24 —
dienst Lust und Liebe, zu ihrem früheren Berufe, insbesondere
zur Landwirtschaft, zurückzukehren. Hier sich mit der nötigen
Energie, insbesondere für die Vermitthmg von landwirtsciiaft-
Hchen Arbeitsstellen einzusetzen, kann als eine der wichtigsten
Aufgaben der öffentlichen Arbeitsnachweise bezeichnet werden;
wird dem von verschiedenen badischen Arbeitsnachweisen ent-
gegengehalten, daß ja die zur Entlassung kommenden Reservisten
schon vor dem Dienstantritt die allgemeinen öffentlichen Arbeits-
nachweise benützt hätten und in Zukunft immer mehr benützen
würden, so ist doch, wie die tatsächlichen Verhältnisse erweisen,
hier eherein Zuviel als ein Zuwenig am Platze. Diese Frage kann
nur durch regste Propagandatätigkeit in Verbindung mit den Mi-
litärbehörden zweckmäßig gestaltet werden.
Zusammenfassende Zahlen über die Ergebnisse der Reservisten-
vermittlung der Verbandsanstalten und insbesondere eine nähere
Berufsgliederung derselben können leider mangels einheitlicher
Statistik der Verbandsanstalten hier nicht gegeben werden.
Es bleibt endlich noch übrig, auf die Vermittlung Minder-
erwerbsfähiger und entlassener Strafgefangener einzugehen.
Wie noch bei der Betrachtung der charitativen Arbeitsnach-
weise besonders hervorgehoben werden wird, ist hier auch bei
zunächst der Zahl nach wenig großen Erfolgen die Umwertung
der charitativen Vermittlung in den Augen der Arbeitnehmer in
eine sozialpolitische von gar nicht zu überschätzender Bedeutung.
Mindererwerbsfähig ist derjenige Arbeitnehmer, der infolge körper-
lichen oder geistigen Krankseins nicht mehr den gleichen Ver-
dienst wie früher erzielen kann. Das tertium comparationis ist
also die Höhe des Verdienstes. Auszuscheiden sind jedoch die
Arbeitnehmer, deren Verdienst durch eine natürliche Abnahme
der Körper- und Geisteskräfte, insbesondere also durch das Alter,
sich verringert hat, denn sonst würde der Arbeitsnachweis über-
haupt zu einem Vermittlungsinstitut für minderwertige Arbeiter
werden. Ferner haben natürlich auch alle die Arbeitsuchenden
keinen Anspruch auf die den Mindererwerbsfähigen zuzuwendende
besondere Sorgfalt in der Vermittlung, deren Lohn durch schlechte
Konjunkturen, durch Krisen usw. gefallen ist, denn an diesen Ver-
hältnissen kann der einzelne Arbeitsnachweis nichts ändern.
Liegt indessen in dieser Uebernahme ursprünglich charitativer
Fürsorge nicht etwas dem allgemeinen öffentlichen Arbeitsnach-
weis Fremdes, ja sogar eine Verletzung der Parität, d. h. der
— 25 —
Neutralität gegenüber den persönlichen Verhältnissen ? Und hat nicht
andererseits gerade der tüchtige, fleißige Arbeiter einen Anspruch
auf die leichteren Stellen, die dem Mindererwerbsfähigen zuge-
wiesen werden sollen? Diese für die badische, wie die allgemeine
Praxis bedeutsame Frage muß vom volkswirtschaftlichen Stand-
punkte verneint werden. Die Vermittlung mindererwerbsfähiger
Arbeitsuchender durch den kommunalen Arbeitsnachweis ist ein
Stück Sozialpolitik, das im allgemeinen Interesse liegt, und Zweck
der gesamten Sozialpolitik ist doch Förderung der wirtschaftlich
Schwachen. Auch liegt auf der Hand, daß durch die Vermitt-
lung Mindererwerbsfähiger das Einkommen der Arbeitnehmer ge-
steigert wird, wie zugleich die Konsumtion (Armenkosten usw.)
sich mindert. Es wird daher mit Recht die Vermittlung Minder-
erwerbsfähiger von den allgemeinen öffentlichen Arbeitsnachweisen
in Baden als besonders wichtige Aufgabe angesehen.
Die Schwierigkeiten, die der Arbeitsnachweis bei der Ver-
mittlung Mindererwerbsfähiger zu überwinden hat, sind auch in
Baden besonders große. Wer als geheilt aus Krankenhaus oder
Pflegeanstalt entlassen wird, soll sich zumeist noch längere Zeit
schonen. Zu Hause warten Frau und Kinder auf den Verdienst
ihres Ernährers ! Dabei kann gewöhnlich der alte Beruf nicht
mehr aufgenommen werden, einen neuen zu ergreifen kostet Zeit
und Geld. So kommen für diese Mindererwerbsfähigen insbeson-
dere Diener-, Portier-, Ausläufer-, Aufseherstellen in Frage, zu
denen der Zugang besonders stark ist. Als typisch muß auch
für badische Verhältnisse bemerkt werden, daß alle Entlassenen
an der früheren Lohnhöhe festhalten und sich nur selten dazu
bewegen lassen, eine für sie passende Stelle anzunehmen, weil
sie geringer bezahlt wird. In der Mehrzahl der Fälle handelt es
sich auch in Baden um Lungenkranke, deren Vermittlung gerade
besonders schwierig ist ^).
Die Ergebnisse der Vermittlungen, die die badischen An-
stalten im Zusammenwirken mit Anstaltsleitungen, Frauen- und
Fürsorgevereinen, sowie der Armenpflege auf diesem Gebiete er-
zielten, sind der Zahl nach nicht besonders hoch; für 1912 können
Angaben nicht gemacht werden, dagegen stieg in den Jahren
1907 bis 191 1 die Zahl derartiger Vermittlungen nur von 88 auf 155^)
1) Vgl. Jahresbericht des Verbandes 1904/06, S. 13.
2) In seinem Geschäftsbericht 191 1, S. 12 gibt der Verband der Anschauung
Ausdruck, daß es sich empfehlen dürfte, in größeren Städten für diesen Vermitt-
— 26 —
Noch schwieriger wie bei der Mindererwerbsfähigenvermitt-
lung liegen die Verhältnisse bei Vermittlung von entlassenen
Strafgefangenen. Auch hier geht die zweckmäßig schon früh-
zeitig einsetzende Vcrmittlungstätigkeit der Verbandsanstalten mit
der der Fürsorgevereine '), wie der Strafanstalten Hand in Hand.
Besonderer Wert muß darauf gelegt werden, daß der entlassene
Sträfling sofort in Arbeit kommt. Und darin liegt gerade für den
Arbeitsnachweis die große Schwierigkeit, zu bestimmen, ob zu dem
voraussichtlichen Entlassungstermine die und die passende Stelle
zu besetzen sein wird. Indessen ist jedenfalls das erreicht worden,
daß sich die entlassenen Strafgefangenen an die öffentlichen Arbeits-
nachweise zu wenden pflegen. Wenn auch ein Zuchthäusler sich an
den Schalter eines Arbeitsamtes begibt, ohne daß dessen Beamter
hiervon etwas weiß, so möchte ich beinahe" sagen, es ist gut so.
Als selbstverständlich ist an dieser Stelle noch zu erwähnen,
daß auch der Unterbringung von Zwangszöglingen stets be-
sondere Sorgfalt zugewendet worden ist.
c) Der öffentliche allgemeine Arbeitsnachweis
bei Lohnstreitigkeiten (Streikklausel).
Zur Vermittlungstechnik im weiteren Sinne gehört auch das
Verhalten der allgemeinen öffentlichen Arbeitsnachweise bei Lohn-
streitigkeiten. In den Statuten der allgemeinen öffentlichen Arbeits-
nachweise wird dieses Verhalten durch die sog. Streikklausel ge-
regelt, die sowohl bei Aussperrungen wie bei Streiks anzuwenden ist^).
Eine dreifache Haltung ist für den allgemeinen öffentlichen
Arbeitsnachw^eis möglich :
I. Er mischt sich in die Lohnstreitigkeiten überhaupt nicht
ein (Grundsatz der völligen Nichtbeachtung) ^).
lungszweig einen besonderen Beamten anzustellen. Ich glaube, soweit ist die Ent-
wicklung noch nicht vorgeschritten. Eher dürfte es praktisch sein, einem mit der
Arbeitsvermittlung schon vertrauten Beamten die nötige Zeit zur Vornahme dieses
Vermittlungsgeschäftes in Verbindung mit Vertrauenspersonen zu gewähren,
i) Vgl. Jahresbericht des Verbandes 1896, S. 5 und 9.
2) Inwiefern gerade für Einfügung der Streikklausel die Stellung der Ge-
werkschaften, die auf die Erörterung des Verhaltens eines allgemeinen öffentlichen
Arbeitsnachweises im Falle eines Streikes den größten Wert legten, ausschlag-
gebend war, mag hier dahingestellt bleiben. [Neumauti, Streikpolitik und Organi-
sation der gemeinnützigen paritätischen Arbeitsnachweise in Deutschland 1906, S. 33.)
3) »Aussperrungen und Streiks, beides existiert nicht für uns«, 3. Verbands-
tag des Deutschen Verbandes 1902, Schriften des Verbandes Heft 4, S. 97.
- 27 —
2. Der allgemeine öfifentliche Arbeitsnachweis kann beiden
Parteien von dem Bestehen der Streitigkeiten Mitteilung machen
(Grundsatz der Bekanntgabe).
3. Er mischt sich in die Streitigkeiten irgendwie ein (Grund-
satz der Einmischung).
Die badischen allgemeinen öffentlichen Arbeitsnachweise haben
sich grundsätzlich auf den zweiten Standpunkt gestellt, und dieser
Grundsatz der Bekanntgabe der Lohnstreitigkeiten kann heute als
der allgemein übliche bezeichnet werden. So hat in seinem Sinne
auch eine Besprechung der sog. Streikklausel auf dem Verbands-
tag 1908 stattgefunden. Die Besprechung hatte zum Ergebnis,
der allgemeine öffentliche Arbeitsnachweis solle vor der Bekannt-
gabe der Lohnstreitigkeit zunächst eine Mitteilung seitens der be-
teiligten Organisationen abwarten. Bleibt diese aus, dann hat die
badische Praxis gewissermaßen aus sich selbst heraus den Aus-
weg gefunden. Streiks und Aussperrungen werden dem Arbeits-
nachweis dadurch bekannt, daß einmal die streikenden oder aus-
gesperrten Arbeiter dem Arbeitsnachweis von selbst fernbleiben,
andererseits die Arbeitgeber den allgemeinen öffentlichen Arbeits-
nachweis plötzlich in viel größerem Maße in Anspruch nehmen.
Lehnt es dann in solchen Fällen der allgemeine öffentliche Arbeits-
nachweis ab, dem Arbeitgeber Arbeitskräfte zu vermitteln, so ist
der Arbeitgeber m. E. schwerer geschädigt als der Arbeitnehmer^).
Denn der Arbeitnehmer wird, wenn ihm der Arbeitsnachweis keine
Stelle mehr zuweist, nur in die nächste Stadt zu wandern brauchen,
um hier neue Arbeit zu finden. Der Arbeitgeber dagegen wird
in der Hauptsache auf Inserate angewiesen sein, deren Erfolg in
den meisten Fällen wohl ein negativer sein wird. Es ist bemerkens-
wert, daß die paritätische Haltung der allgemeinen öffentlichen
Arbeitsnachweise im Laufe ihres 20jährigen Bestehens niemals
ernstlich in Zweifel gezogen worden ist.
Die Frage, in welcher Weise Arbeitnehmern wie Arbeitgebern
von Streik und Aussperrungen Mitteilung zu machen ist, hat in
der badischen Praxis bisher keinerlei Schwierigkeiten bereitet.
Es werden hier seitens der Arbeitsnachweise die Arbeitsuchenden
jeweils mündlich (zum Teil erst auf Befragen) durch den Nach-
weisbeamten oder durch Anschlag darauf aufmerksam gemacht,
daß ein Streik oder eine Aussperrung bekannt geworden ist, ein
i) Der gleichen Ansicht sind Neumann a. a. O., S. 33, und Adler, Hand-
wörterbuch der Staatswissenschaften 1908, Art. Arbeitsnachweis und Arbeitsbörse.
— 28 —
Verfahren, das als das allgemein übliche bezeichnet werden kann ').
Die Arbeitgeber wiederum pflegen nur dann besonders verständigt
zu werden, wenn dem Arbeitsnachweis seitens der Arbeitnehmer-
Organisationen eine Angabe gemacht worden ist. Auch in der
indirekten Vermittlung hat die Streikklausel niemals zu Weite-
rungen Anlaß gegeben"-).
Ob bei weiter fortschreitender Zentralisation der Arbeitsver-
mittlung in den öffentlichen Arbeitsämtern der Grundsatz der
Bekanntgabe genügen wird, möchte ich dahingestellt sein lassen.
Xeiinianns ^) Auffassung aber, daß die Gewißheit, der Arbeits-
nachweis arbeitet unter allen Umständen fort, beide Teile zur
Vorsicht veranlassen und auf diese Weise zum sozialen Frieden
beitragen wird, möchte ich nur erwähnen und sie der Ansicht
Mic/iaikes^) gegenüberstellen, der die weitverbreitete Meinung,
man könne durch paritätische Arbeitsnachweise eine völlig neu-
trale Arbeitsvermittlung erzielen, einen schönen Traum nennt.
1) Herkner, Die Arbeiterfrage 1908, S. 83.
2) Die Stellung des Arbeitsnachweises bei Arbeiteraussperrungen und bei
Streiks ist zu unterscheiden von seinen Maßnahmen der sog. Arbeitssperre
(Arbeitsnachweisverbot). Diese Maßnahme richtet sich gegen Arbeilgeber und Ar-
beitnehmer, die sich ungebührlich betragen. Der Arbeitnehmer erhält keine Ar-
beit und der Arbeitgeber keine Arbeiter vermittelt. Der Ausschluß soll in Baden
gemeinhin erfolgen auf Beschluß der dem Arbeitsnachweis vorgesetzten Verwaltungs-
kommission wegen Uebertretung der Hausordnung, wegen unterlassener Benach-
richtigung des Arbeitsamtes, bei mehrmaligem Nichtantreten einer zugewiesenen
Arbeitsstelle. Die bisher vorgekommenen vereinzelten Fälle der Arbeitsnachweis-
sperre richteten sich hauptsächlich gegen die sog. Garde des Arbeitsnachweises, d. h.
der Grund des Ausschlusses war meist Trunkenheit und ungebührliches Benehmen.
Die Arbeitsnachweissperre traf in der Hauptsache Arbeitsscheue, die unter dem
Scheine einer unfreiwilligen Arbeitslosigkeit sich städtische Unterstützung erschleichen
wollten. Das Arbeitsnachweisverbot — der städtischen Anstalten — schließt wäh-
rend seiner ganzen Dauer den Betroffenen vom Bezug städtischer Unterstützung
aus. Es stellt so bei wirklich vorhandener Arbeitslosigkeit eine empfindliche Strafe
dar. Wie jedoch beobachtet werden konnte, wird in einem solchen Falle von der
strikten Durchführung des Verbotes Abstand genommen (Karlsruhe). Satzungs-
gemäß ist die längste Dauer des Verbotes gewöhnlich ein halbes bis ein ganzes
Jahr. Das Arbeitsnachweisverbot ist im Interesse des Arbeitsnachweises unbedingt
geboten, doch wäre es im Rahmen der bisherigen Uebung durchaus angebracht,
älteren erfahrenen Verwaltern die Ermächtigung zum selbständigen Erlasse des Ver-
botes zu geben und die Beschlußfassung der Kommission als Beschwerdeinstanz
vorzusehen.
3) Neumann a. a. O., S. 32.
4) Michalke, Die Arbeitsnachweise der Gewerkschaften im Deutschen Reiche
1912, S. 301.
— 29 —
d) Arbeitsnachweis und Arbeitslosigkeit.
Nachdem ich die Vermittlungstätigkeit der allgemeinen öffent-
lichen Arbeitsnachweise in Baden in bezug auf die Technik, die
Gliederung des Vermittlungsergebnisses und das Verhältnis zu
Lohnstreitigkeiten dargelegt habe, möchte ich jetzt die Stellung
zur Frage der Arbeitslosigkeit betrachten. Es ist dabei die Frage
grundsätzlich zu beantworten, inwieweit die Arbeitsnachweise als
Mittel zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in Betracht kommen
können.
Zunächst was ist Arbeitslosigkeit ? Wir fassen mit Sombart ^)
die Arbeitslosigkeit als eine soziale Erscheinung auf, die dann
eintritt, »wenn der Arbeiter arbeiten will, von sich aus auch
arbeiten kann, trotzdem aber keine Arbeit findet, weil keine Nach-
frage nach seiner Arbeitskraft vorhanden ist«.
Es scheiden also von vornherein Arbeitsunfähige und Arbeits -
unwillige aus. >Von Arbeitslosigkeit im engeren Sinne«, sagt
Ziviedineck-) »kann also füglich nicht geredet werden, wo und
wann noch nicht alle Möglichkeiten der Stellenbeschaffung er-
schöpft sind. Das Problem beginnt also erst dort, wo der denk-
barst vollkommen organisierte Arbeitsnachweis hinsichtlich der
Versorgung mit Stellen unzulänglich wird.«
In dieser theoretischen Abgrenzung, die praktisch nicht genau
durchführbar, ist der Arbeitsnachweis in schärferem Bezug zur
sog. »objektiven Arbeitslosigkeit« (Sombart) gesetzt. Es ist somit
klar, daß der beste Arbeitsnachweis, selbst wenn er alle Ver-
mittlungsmöglichkeiten erschöpft hat, nicht als ein Mittel zur Be-
kämpfung der objektiven Arbeitslosigkeit in Betracht kommt, weil
eben die Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt ausbleibt, der Arbeits-
nachweis also nichts zu vermitteln hat. Die Arbeitslosen bringen
dies selbst zum Ausdruck, indem sie in Krisenzeiten dem Arbeits-
markt zumeist fernbleiben, weil sie von ihm nichts erhoffen.
Der Arbeitsnachweis kann eine gegebene Arbeitslosigkeit
nur lindern bei vorhandener Arbeitsgelegenheit. Er kann es sich
zur Aufgabe machen, »alles vorhandene Angebot und alle vor-
handene Nachfrage nach Arbeit möglichst zusammenzubringen,
damit nicht selbst bei vorhandener Arbeitsgelegenheit Arbeitslosig-
i) Sombart, Die gewerbliche Arbeiterfrage 191 2, S. 122.
2) Z'tviedmeck, Sozialpolitik, S. 356.
— 30 —
kcit entsteht« '). ^Der Arbeitsnachweis kann, auch wenn er ideal
vollkommen organisiert wäre, nur jene Arbeitslosigkeit verhindern,
welche dadurch entsteht, daß Angebot und Nachfrage sich nicht
in entsprechender Weise begegnen. Seine Wirksamkeit in der
Verhinderung von Arbeitslosigkeit ist sonach eine begrenzte.
Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit muß deshalb noch weitere
Maßnahmen ins Auge fassen« ^). Als solche Maßnahmen werden
gemeinhin empfohlen Arbeitslosenversicherung, Notstandsarbeiten,
öffentliche Aufträge bei Krisenzeiten usw. Diese Maßnahmen
sollen dazu dienen, den objektiv Arbeitslosen, für die keine Ar-
beitsgelegenheit vorhanden ist aus Gründen von Bedarfsverschiebung,
Modelaunen, Verlust ausländischer Absatzmärkte, Sinken des Kapital-
profits, Anarchie der Produktion Arbeitsgelegenheit künstlich zu
schaffen oder ihnen auf dem Wege öffentlicher Unterstützungen
usw. es zu ermöglichen, sich während der schlechten Zeit über
Wasser zu halten. Von ihnen unterscheidet sich der Arbeits-
nachweis dadurch, daß er bei immer vollkommenerem Ausbau in
den Stand gesetzt werden kann, einen Teil der Arbeitslosen an
die selbst in Krisenzeiten vorhandene Arbeitsnachfrage zu ver-
mitteln.
»Hier handelt es sich um eine Tätigkeit, die dem Eintreten
größerer Arbeitslosigkeit in gewissem Umfange vorzubeugen be-
fähigt ist dadurch, daß sie ständig auf einen Ausgleich zwischen
Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt hinwirkt. Dadurch
kann bei zweckmäßiger Gestaltung und Organisation des Arbeits-
nachweises eine bessere, dem tatsächlichen Bedarf mehr angepaßte
berufliche, zeitliche und örtliche Verteilung der Arbeitskräfte ein-
treten, und das vermindert die Gefahr einer ausgedehnten Arbeits-
losigkeit ^).«
Der Arbeitsnachweis kann also nur die sog. »subjektive Ar-
beitslosigkeit« (Somhart), die auf Unkenntnis der Arbeitsnachfrage
seitens des Arbeitslosen beruht, beseitigen, indem er den Arbeits-
losen mit der Arbeitsgelegenheit bekannt macht, gegen die >ob-
i) Schanz, Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, Archiv für Soziale Gesetz-
gebung und Statistik 1901, S. 549.
2) Schanz a. a. O., S. 615.
3) V. d. Borght, Grundzüge der Sozialpolitik 1904, S. 107, vgl. Zwiedineck^
Sozialpolitik 1911, S. 359 ff. ; Lindemann, Arbeiterpolilik und Wirtschaftspflege in
der deutschen Städteverwaltung 1904, Bd. i, Arbeiterpolitik, S. 141 ff; Pumpiansky,
Das Problem der Arbeitslosigkeit in England, Archiv für Sozialwissenschaft und
Sozialpolitik 191 1, S. 144 ff.
— 31 —
jektive Arbeitslosigkeit«, d. h. den Ueberschuß des Arbeiter-
angebotes über die Arbeiternachfrage, ist er machtlos.
Gehen wir nun dazu über, die Vermittkingstätigkeit der
öiTentlichen Arbeitsnachweise in Baden in ihrem Verhältnis zur
»subjektiven Arbeitslosigkeit« zu betrachten. Diese Frage hängt
aufs engste mit der sog. interlokalen Vermittlung zusammen,
deren Entstehung und Werdegang in Baden darum zunächst
dargelegt werden soll.
Die interlokale Vermittlung, die Vermittlung von und
nach auswärts, zum wenigsten in bescheidenem Umfange, hatten
die badischen allgemeinen öffentlichen Arbeitsnachweise von Anfang
an in ihr Programm aufgenommen. Sie mußten dies tun, wollten
sie mit ihrer Vermittlungstätigkeit allen Berufszweigen und ins-
besondere auch der Landwirtschaft von vornherein gerecht werden.
Es war jedoch die Form der interlokalen Vermittlung gewisser-
maßen zunächst eine individualistische, die sich seitens der ein-
zelnen Anstalten durch Errichtung von Filialen, Benützung des
Telefons, sowie durch Bekanntgabe ihrer Vakanzen durch die
Tagesblätter wie im gegenseitigen Austausch mit den benach-
barten, auch außerbadischen Nachweisen vollzog ^).
Mit Errichtung des Verbandes badischer Arbeitsnachweise
wurde jedoch das Bedürfnis nach einer organischen Zentralisation
dieser interlokalen Vermittlung immer dringender ; Aufgabe einer
solchen Zentralstelle sollte es sein, Angebot und Nachfrage auf
dem Arbeitsmarkte des ganzen Landes tunlichst auszugleichen.
Es stand deshalb die Errichtung einer Landeszentralstelle wieder-
holt auf der Tagesordnung der Verbandsversammlungen, ohne
jedoch endgültig erledigt werden zu können. Der Bedenken gab
es noch zu viele, und zwar im wesentlichen folgende zwei : Die
kleineren Arbeitsnachweise hielten sich durch eine Landeszentrale
in ihrem örtlichen Wirkungsbereich für ernstlich bedroht, die
Arbeitsuchenden würden dann nur im verstärkten Maße in die
Großstädte gezogen werden. Doch ließ es sich schon damals —
es war am Anfange des 20. Jahrhunderts — gar nicht ermög-
lichen, große und günstige Arbeitsgelegenheiten, wie sie insbe-
sondere in den Großstädten auftreten, längere Zeit verborgen zu
halten, was ja an sich schon ganz widersinnig gewesen wäre.
Für die kleineren Arbeitsnachweise wäre deshalb hier ein Nach-
geben zugunsten des Ganzen durchaus am Platze gewesen. Für
i) Vgl. Jahresbericht des Verbandes 1896, S. 4.
— 3^ —
die Grundlosigkeit ihrer Befürchtung spricht auch, daß z. B. im
Jahre 1911 die weitaus größte Zahl der interlokalen Vermittlung,
nämlich 19 857 von 23739, auf ländliche Orte entfielen, denen
also durch die Zentrale keine Arbeitskräfte entzogen, sondern
zugeführt wurden, um ihre das Arbeitsangebot übersteigende
Nachfrage nach Arbeitern zu befriedigen. Aehnliche Einwände
waren ja auch schon seinerzeit gegen die Errichtung von allge-
meinen öffentlichen Arbeitsnachweisen überhaupt erhoben worden.
So hatte eine kleinere Stadt in der Umgegend von Karlsruhe be-
fürchtet, daß allein die Bekanntgabe von offenen Stellen in Tages-
blättern schon einen so massenhaften Wegzug von Arbeitskräften
zur Folge haben könnte, daß dadurch die Löhne anziehen würden.
Der zweite, zunächst bedeutsamer erscheinende Einwand richtet
sich sodann weniger gegen die Errichtung einer Landeszentrale
überhaupt, als gegen deren örtliche Festlegung in Karlsruhe.
Es wurde insbesondere auf die langgestreckte Gestalt des Groß-
herzogtums und die daraus erwachsende Schwierigkeit schneller
Geschäftserledigung für eineZentrale hingewiesen und vorgeschlagen,
anstatt einer mehrere Zentralen zu errichten. Letztere Bedenken,
aus denen dann glücklicherweise nicht der Schluß gezogen wurde,
überhaupt keine Landeszentrale zu errichten, hat erst die Praxis
der badischen Landeszentrale zerstreuen müssen, und auch heute
noch ist der Wunsch nach mehreren Zentralen nicht ganz erloschen.
Inzwischen hatte Württemberg in Stuttgart eine erfolgreich
arbeitende Landeszentrale eingerichtet, und Elsaß-Lothringen folgte
seinem Beispiele 1903 mit einer Zentrale in Straßburg nach; auch
Bayern war in der Zcntralisationsfrage mit gutem Beispiel vor-
gegangen und vermittelte bereits von mehreren Zentralen aus.
So war in Süddeutschland allein Baden rückständig geblieben.
Es veranlaßte deshalb hier die Gr. Staatsverwaltung unter Zu-
sicherung der Kostendeckung nunmehr eine erneute Prüfung der
Angelegenheit. Es wurde jetzt auf der außerordentlichen Ver-
bandsversammlung in Offenburg 1905 einstimmig die Errichtung
einer Landeszentrale in Karlsruhe beschlossen. Mit ihrer Errichtung
wurde auch in Baden die Arbeitsvermittlung zentralisiert, und zwar
in dem Sinne, daß die Landeszentrale nicht selbst vermittelt,
sondern Angebot und Nachfrage durch rasche Bekanntgabe aus-
zugleichen sucht. Die tatsächliche Vermittlung erfolgt dann durch
die einzelnen Anstalten selbst und zwar unter lebhafter Benützung
des Telefons.
— 33 —
Die Geschäftsführung der Zentralstelle wurde dem Arbeits-
amte Karlsruhe übertragen. Diesem übermitteln die allgemeinen
öffentlichen Arbeitsnachweise zurzeit dreimal wöchentlich auf vor-
gesehenen Formularen Anmeldungen von offenen Stellen, die sie
voraussichtlich in den nächsten Tagen nicht werden besetzen
können , sowie ausnahmsweise auch Anmeldungen von Arbeit-
suchenden. Die Landeszentrale stellt aus diesen Mitteilungen die
Stellenlisten (sog. Vakanzenlisten) zusammen, die Montags, Mitt-
wochs und Freitags versandt werden, und zwar die ausführlichere
Mittwochsliste außer an die badischen Verbandsanstalten an die
württembergischen, die elsässischen, pfälzischen und schweizerischen
öiTentlichen allgemeinen Arbeitsnachweise, bez. deren Zentralen,
ferner an alle badischen Gemeinden über 2000 Einwohner (auch
weitergehend auf Wunsch), Herbergen zur Heimat und Verpfle-
gungsstationen, während die Montags- und Freitagslisten (sog.
Handlisten) nur den Verbandsanstalten und einzelnen auswärtigen
Anstalten zugehen. Diese Stellenlisten enthalten in alphabetischer
Reihenfolge die wichtigsten — insbesondere gelernten — Berufe
vorgedruckt, zu denen handschriftlich noch etwaige Spezialberufe
wie spezielle Wünsche beigefügt werden können. Ferner gibt die
Zentralstelle auf Grund von Mitteilungen der Einzelanstalten
Montags und Mittwochs die sog. landwirtschaftliche Vermittlungs-
liste heraus, über die im Zusammenhang der Vermittlung der
Landwirtschaftskammer noch besonders zu sprechen sein wird,
und drittens von Januar bis Mai einmal wöchentlich die sog.
Lehrlingsliste.
Soll die interlokale Vermittlung gut funktionieren, so muß
es dem Arbeitsuchenden möglich gemacht werden, den trennen-
den Raum zwischen Angebot und Nachfrage leicht zu überbrücken.
Das ist aber bei seiner vielfach fehlenden finanziellen Leistungs-
fähigkeit oft nur möglich durch weitere Beistandsleistung, als
deren hauptsächlichstes Mittel die Fahrpreisermäßigung erscheint.
Die Fahrpreisermäßigung, d. h. die Ermäßigung des
Personentarifs für Arbeitsuchende, denen auswärts Arbeitsgelegen-
heit nachgewiesen ist, ist den badischen allgemeinen öffentlichen
Arbeitsnachweisen im Jahre 1901 insbesondere durch die Bemü-
hungen ihres Verbandes zuteil geworden. Dieser erreichte zu-
nächst auf den badischen Bahnen und dann alsbald auch im Ver-
kehr mit den Nachbarbahnen (zunächst mit Ausnahme des Boden-
seeverkehres) eine Ermäßigung des Fahrpreises um die Hälfte
Zeitschrift für die ges. Staatswissensch. Ergänzungslieft 5a. 2
— 34 —
(d. w. 1,7 Pfi;. für das km) für Personenzüge und auf Strecken
über 25 km. Im weiteren Verlauf der Bewegung wurde Fahr-
preisermäßijTung auch im Verkehr mit der Schweiz, die sich ab-
lehnend verhielt, wie auf Entfernung unter 25 km angestrebt.
Indessen, alle diese Bestrebungen unterbrach die Personentarif-
reform von 1907, die bekanntlich den Fahrpreis in der untersten
W'agcnklasse gewöhnlicher Züge auf 2 Pfg. das km festsetzte,
wodurch nach sich zunächst bemerkbar machender Ansicht die
Weitergewährung der besonderen Fahrpreisermäßigung an Arbeit-
suchende sich erübrigen sollte. Dem gemeinsamen Vorgehen der
süddeutschen Arbeitsnachweisverbände war es hier zu danken'),
daß für die Arbeitsuchenden der Ausnahmesatz für »milde Zwecke»,
1,5 Pfg. das km, in unterster Wagenklasse gewöhnlicher Züge
bei Entfernungen über 25 km und zwar für den ganzen deutschen
Verkehr erreicht wurde. Tatsächlich hatte trotzdem, wie der Jahres-
bericht für 1912 hervorhebt"), die Tarifreform die Wirkung, daß
die P'ahrpreisermäßigung zunächst etwas an Bedeutung verlor, in-
dem bei der geringen Ersparung der Anreiz, sich ihrer zu be-
dienen, abnahm ^). Hieraus wäre indessen kein Grund für Wieder-
aufhebung einer Fahrpreisermäßigung überhaupt zu entnehmen
gewesen. Vielmehr wird mit Recht seitens des Verbandes an-
gestrebt, für die Arbeitsuchenden in gleicher Weise, wie für die
Besucher der sog. Wanderarbeitsstätten, den i Pfg.-Satz zu er-
reichen. Leider hat vom Jahre 1909 ab die P'ahrpreisermäßigung
eine grundsätzliche Einschränkung insofern erfahren, als sie nur
noch Arbeitern zusteht, d. h. also nicht mehr stellungsuchenden
Kaufleuten, was um so mehr zu bedauern ist, als die badischen
allgemeinen öfifentlichen Arbeitsnachweise in letzter Zeit gerade
nach dieser Richtung hin ihre Tätigkeit wesentlich erweitert haben.
Dagegen ist seitens der ständigen Tarifkommission jüngst aus-
drücklich festgestellt worden, daß bei Benützung der Einrichtung
der Fahrpreisermäßigung der endgültige Abschluß eines Arbeits-
vertrages nicht gefordert werden soll, vielmehr die nach Ueber-
zeugung der zuweisenden Anstalt vorhandene sichere Aussicht,
eingestellt zu werden, genügt *).
1) Jahresbericht des Verbandes 1904/06, S. 13 fT.
2) A. a. O., S. 13.
3) Es wurden ausgestellt 1906: 2979 Scheine, 1907: 2600, 1908: 2262,
1909: 2450, 1910: 2315, 191 1: 2773, a. a. O., S. 13.
4) Vgl. Arbeitsmarkt 191 1, S. 753 — 54.
— 35 —
Wie sich aus vorstehender Darstellung ergibt, haben die
badischen Verbandsanstalten die Fahrpreisermäßigung erreicht,
bevor noch die Landeszentrale errichtet wurde ; darf es uns da,
bei der Aehnlichkeit der Wirkung beider Institutionen, wunder-
nehmen, wenn die Einführung der Fahrpreisermäßigung zum Teil
mit denselben Einwendungen bekämpft worden ist, wie später die
Landeszentrale ? Insbesondere fürchteten wieder die kleineren
Arbeitsnachweise, durch die Fahrpreisermäßigung eine Schädigung
ihres Anstaltsbetriebes zu erfahren. Nun ist es ja richtig, daß
vielleicht ein Arbeitnehmer, der eine Stelle sucht, sich es über-
legen wird, ob er nicht bei Benützung der Fahrpreisermäßigung
lieber eine etwas weitere Strecke zurücklegen und in eine Groß-
stadt fahren soll. Indessen zeigt die Statistik der ausgegebenen
Scheine, nach der Größe der Bestimmungsorte geordnet, daß
derartige Befürchtungen, wie schon oben bei der Erörterung der
Landeszentrale dargelegt, nicht begründet waren, denn es wurde
die Mehrzahl der Scheine — 191 1 66,7 % — nach kleineren
Orten bis zu 2000 Einwohner ausgestellt ^).
Es muß aber weiter hier noch hervorgehoben werden, daß
insbesondere die Fahrpreisermäßigung ein nicht zu unterschätzen-
des Mittel im Kampfe der allgemeinen öffentlichen Arbeitsnach-
weise gegen die gewerbsmäßigen Stellenvermittler darstellt. End-
lich mag hier auch noch auf den nicht unerheblichen Reklamewert
der Fahrpreisermäßigung für allgemeine öffentliche Arbeitsnach-
weise hingewiesen werden.
Indessen, wie auch auf der Verbandsversammlung im Jahre 191 2
erneut betont worden ist "), reicht bei vollständiger Mittellosigkeit
des Arbeitsuchenden die Fahrpreisermäßigung allein nicht aus, um
den trennenden Raum zwischen Angebot und Nachfrage zu be-
seitigen, und es muß die Bewilligung von Fahrgeld — und ge-
gebenenfalls weiterer Umzugskosten — dazu kommen. Diese Frage
hat in Baden bisher noch keine einheitliche Regelung erfahren,
obschon von einzelnen Anstalten derartige Vorschüsse guttats-
weise gewährt werden, jedoch beabsichtigt man zurzeit seitens des
Verbandes, zunächst auf den badischen Bahnen ein Gutscheins-
verfahren, ähnlich wie es bereits zwischen Eisenbahnverwaltung
und Landwirtschaftskammer besteht, einzurichten. Ich möchte die
Einrichtung aus volkswirtschaftlichen wie sozialpolitischen Gründen
i) Jahresbericht des Verbandes 1907/11, S. 13.
2) Geschäftsbericht des Verbandes 1912, S. 36.
3*
- 36 -
für besonders wichtig erachten und auch zu diesem Zweck für
eine Erhöhung des Staatszuschusses an die einzelnen AnstaUcn
eintreten, aus den gleichen Gründen, wie ja überhaupt der Staat die
Kosten der Zentralisation in der Hauptsache ersetzt. Aber auch die
Fahrpreisermäßigung wird in Baden erst dann die volle Wirkung zu-
gunsten der allgemeinen öffentlichen Arbeitsnachweise und zum
Nutzen des badischen Arbeitsmarktes entfalten können, wenn sie
einmal mit einem Kilometersatz von i Pfg. auf alle Entfernungen
und w^eiter für mittellose Arbeitsuchende aller Art eingeführt sein
wird.
Nach dieser Darlegung von luitstehung, Entwicklung und
Förderungsmittel der interlokalen Vermittlungstätigkeit der badi-
schen Arbeitsnachweiszentrale ist diese nun als Mittel zur Be-
kämpfung der subjektiven Arbeitslosigkeit zu prüfen.
Bei dieser Beurteilung der Landeszentrale muß von denjenigen
Bedingungen ausgegangen werden, welche eine interlokale Ver-
mittlung erst möglich machen. Diese Bedingungen sind quali-
tative Gleichheit und quantitatives Annähern
von Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt ^).
Nun gibt uns die Statistik keinen Aufschluß über Qualität
und Quantität von Angebot und Nachfrage nach Arbeitern in
den verschiedenen Gegenden des Großherzogtums, denn es ist
noch üblich, eine offene Stelle nicht nur bei den nächstgelegenen,
sondern auch bei den entfernteren Arbeitsnachweisen anzumelden,
um die Besetzung zu beschleunigen. Dadurch kommt in der
Statistik das faktische Ueberangebot von offenen Stellen gegen-
über der Nachfrage seitens der Arbeitsuchenden an kleinen Orten
nicht zum Ausdruck. Die doppelte und mehrfache Anmeldung
von offenen Stellen verfälscht das Bild und verwandelt es sogar
in sein Gegenteil.
Doch läßt sich aus der ganzen wirtschaftlichen Struktur Bailens
ein Schluß ziehen : Die Dezentralisation vieler Industriezweige
über das flache Land macht eine Ausgleichung zwischen städti-
scher und ländHcher Industrie wahrscheinlicher als in anderen
Wirtschaftsgebieten mit äußerst konzentrierter Industrie. Es ist
hier denkbarer, daß städtische Arbeitslose von der ländlichen
i) Mangels dieser Voraussetzungen scheiterte z. B. der im Jahre 1906 von
dem Verband Westfälischer Arbeitsnachweise in Dortmund gemachte größere Ver-
such, für die westfälische Industrie, insb. Bergwerke, Arbeiter aus Süddeutsch-
land zu beziehen, vgl. Jahresbericht des badischen Verbandes 1904/06, S. 8.
— 37 —
Industrie nachgefragt werden und umgekehrt, so daß hier die in-
terlokale Vermittlung der allgemeinen öffentlichen Arbeitsnach-
weise Badens in Funktion treten kann, um eine solche subjektive
Arbeitslosigkeit abzuschwächen bez. ganz zu beseitigen.
3. Entwicklung des allgemeinen öffentlichen Arbeitsnach\veises
zum Arbeitsamt.
Schon bei Betrachtung der Vermittlungsergebnisse war im
einzelnen Anlaß gegeben, auf die organisatorische Erweiterung der
Geschäftstätigkeit der allgemeinen öffentlichen Arbeitsnachweise,
so z. B. bei der w'eiblichen Abteilung, hinzuweisen. An dieser
Stelle soll nun über den allmählichen inneren Ausbau der
öffentlichen Arbeitsnachweise zu Arbeitsämtern in Baden weiteres
gesagt werden.
Für den bisher erfolgten Ausbau der allgemeinen öffentlichen
Arbeitsnachweise in Baden möchte ich zwei, nicht nur zeitlich
verschiedene Perioden unterscheiden :
1. Die Zeit des — sagen wir — extensiven Ausbaues durch
Filialgründungen usw.,
2. die des intensiven Ausbaues, des Anschlusses von Fach-
abteilungen, der Einrichtung von Wohnungsnachweisen, Rechts-
auskunftstellen usw.,
beide Perioden verbunden durch das Bestreben, die sozial-
politische Bedeutung der allgemeinen öffentlichen Arbeitnachweise
zu heben").
Zur Zeit der Entstehung der ersten allgemeinen öffentlichen
Arbeitsnachweise in Baden, d. h. also anfangs der 90er Jahre des
vorigen Jahrhunderts, wurde der Begründung von Filialen großer
Wert beigelegt.
Je mehr Filialen ins Leben gerufen wurden, um so besser
sollte das für die Mutteranstalt sein. Kaum sicher auf eigenen
Füßen stehend, streckte diese ihre Fühler auf die umliegenden
kleineren Städte und Landgemeinden aus. Die Zahl der Filialen,
insbesondere der Karlsruher und der Freiburger Anstalt, war eine
ganz bedeutende.
i) E. H. Mayer, a. a. O. S. 60, versteht umgekehrt unter intensiver Entwick-
lung den räumlichen, unter extensiver den sachlichen Ausbau. Mit Rücksicht dar-
auf, daß die Begründung von Filialen usw. die bewußt billige, d. h. Kapital und
Arbeit sparende Art des Ausbaues war, dürfte die von mir gewählte Ausdrucksweise
dem volkswirtschaftlich üblichen Gebrauch von extensiv und intensiv mehr entsprechen.
- 38 -
Es kann beinahe behauptet werden, daß mancher Arbeits-
nachweis nicht mehr recht wußte, wo er Filialen besaß und wo
nicht. Standen doch die meisten nur auf dem Papier, zumal bei
der geringen Entschädigung des Filialvorstehers sie alle gewisser-
maßen im Nebenamt geleitet wurden. Daran mögen auch die
Berichte der Mutteranstalt nichts ändern, die den guten Fortgang
ihrer Filialen vermelden. J\Ian war damals eben noch anspruchs-
los. Jedenfalls sind diese alten Filialen im Nebenamte heute alle
miteinander verschwunden, und niemand denkt daran, sie in alter
Weise wieder zu errichten. Und doch ist diesen alten Filialen
ein gewisses bleibendes Verdienst nicht abzusprechen ; es liegt
in der Vorbereitung des Bodens für den Gedanken der allgemeinen
öffentlichen Arbeitsvermittlung, auf daß die Saat des erstarkten
allgemeinen öffentlichen Arbeitsnachweises später um so üppiger
aufschießen konnte.
Filialen besonderer Art sind in Baden heute noch die dem
Vereinsarbeitsnachweis Konstanz angeschlossenen schon erwähnten
Natural Verpflegungsstationen in den Kreisen Kon-
stanz und Villingen ^). Ueber die Entstehung der oberbadischen
Verpflegungsstationen wird unter dem Abschnitt der charitativen
Arbeitsvermittlung noch weiteres zu sagen sein, liier ist lediglich
festzustellen, daß die Anstalt Konstanz der Mitwirkung ihrer
Naturalverpflegungsstationen insbesondere ihre guten Erfolge in
landwirtschaftlicher und kleingewerblicher Vermittlung zuschreibt^),
und meiner Ansicht nach nicht mit 'Unrecht. Die Vermittlungs-
ziffer der Filialen war im Jahre 1912 4753, darunter an erster Stelle
890 landwirtschaftliche Dienstknechte, gegenüber insgesamt 5669
Vermittlungen der Anstalt Konstanz selbst. Die Naturalverpflegungs-
stationen stehen in regelmäßigem Vakanzenverkehr mit dem Ar-
beitsamt Konstanz und werden jährlich von einem Beamten dieses
Arbeitsamtes bereist.
Auch der allgemeine öffentliche Arbeitsnachweis für den
Kreis Waldshut arbeitet naturgemäß mit den in diesem Kreise
noch bestehenden Verpflegungsstationen zusammen, ohne sie in-
dessen als Filialen zu betrachten.
i) Von diesen Filialen liegen derzeit 8, die das ganze Jahr im Betriebe sind,
im Kreise Konstanz und 12, von denen 7 ständig und 5 nur in den Wintermo-
naten geöffnet sind, im Kreise Villingen.
2) Vgl. Jahresberichte des Arbeitsamtes Konstanz 191 1, S. 6 ff.
— 39 —
Im übrigen ist aber alsbald neben und an die Stelle des
extensiven Ausbaues bei den badischen Arbeitsnachweisen der
intensive getreten. Hierher gehört die schon erwähnte Scheidung
der männlichen und weiblichen Abteilung in der Leitung, ferner
die Beschaffung besserer Räumlichkeiten, die Einrichtung ver-
schiedener Schalter usw. Als bedeutungsvollstes Stück des inneren
Ausbaues möchte ich indessen — unter Zurückstellung von Woh-
nungsnachvveisen, Rechtsauskunftstellen usw. — die Ausbildung
von Fachabteilungen ansehen.
Als F a c h a b t e i 1 u n g wird nur diejenige Vermittlungs-
tätigkeit anzusprechen sein, die mit einer ganz besonderen Sorg-
falt in Beziehung auf einzelne bestimmte oder doch verwandte
Berufe ausgeübt wird'). Ueblich, wenn auch nicht begrifflich
wesentlich ist, daß diese Fachabteilung von einem besonderen
Beamten und in besonderen Räumlichkeiten geführt wird ; dabei
braucht der Beamte nicht notwendig ein Fachmann zu sein, muß
aber besonders fachkundig sein. Der Anlaß zur Errichtung einer
Fachabteilung kann sich aus der allgemeinen Vermittlungstätig-
keit des Arbeitsnachweises allmählich ergeben , er kann aber
auch von außen, von Seiten der Arbeitgeber- und Arbeitnehmer-
organisationen her an den allgemeinen öffentlichen Arbeitsnach-
weis herangetragen werden, indem diese unter der Voraussetzung
der Errichtung einer Fachabteilung auf ihre besonderen Nachw^eise
verzichten. In Baden ist nun die Errichtung von Fachabteilungen
gewöhnlich aus beiden Wurzeln gleichzeitig erwachsen, d. h. der
allgemeine öffentliche Arbeitsnachweis übte bereits eine besondere
Vermittlungstätigkeit, wenn auch in beschränktem Umfange, in
dem bestimmten Berufe aus, die dann unter der Mitwirkung der
Organisationen umfassender gestaltet und organisatorisch weiter
ausgebaut wurde. Dabei muß weiter zu besonderem Lobe der
badischen allgemeinen öffentlichen Arbeitsnachweise hier gesagt
werden, daß sie Fachabteilungen niemals »auf Propaganda« oder
»auf gut Glück« geschaffen haben, sondern nur bei bestehendem
Bedürfnis. Es liegt ferner in der Natur der Sache, daß Fachab-
teilungen nur errichtet werden können bei Arbeitsnachweisen von
größerer Bedeutung. So finden wir denn auch in Baden Fach-
abteilungen nur bei den größeren Arbeitsämtern, wie in Freiburg
(für kaufmännisches und für Gastwirtspersonal) usw. In Karlsruhe
i) Vgl. Fischer, Fachabteilung bei den gemeindlichen Arbeitsämtern usw.,
Arbeitsmarkt 19 lo, S. 209 fF.
— 40 —
ist dabei für die Fachabteilung je eine besondere \''er\valtungskom-
mission gebildet, in Pforzheim und in Freiburg für die besonderen
Zwecke die allgemeine Vcrwaltungskommission paritätisch er-
weitert worden.
Eine Fachabteilung besteht dagegen an und für sich noch
nicht, wenn für einzelne Innungen usw., wie noch zu erörtern
sein wird, die Vermittlungstätigkeit übernommen wird ; es muß
immer noch eine besonders qualifizierte Vermittlungstätigkeit
(Aufwand von besonderer Sorgfall) dazu kommen. Richtig ist,
daß in manchen Fällen die Einrichtung einer Fachabteilung für
bestimmte Berufe Lebensfrage für den Arbeitsnachweis sein kann.
Neben den allgemeinen Unterabteilungen für männliches und
weibliches Personal und den für diese Abteilungen etwa gebildeten
zusammenfassenden P'achabteilungen bestehen dann beim weiter
ausgebauten Arbeitsamt noch Abteilungen besonderer Art, die
nicht eigentlich Arbeit vermitteln, ich meine Wohnungsnachweis,
Rechtsauskunftsstelle und weiter Arbeitslosenfürsorge ^).
Auf den ersten Blick scheint ein W o h n u n g s n a c h w e i s
durchaus in keinem Zusammenhange mit einem Arbeitsnachweis
zu stehen, und doch verbindet beide ein wichtiger sozialpolitischer
Gedanke ^j. Braucht der Arbeiter, der den Arbeitsnachweis auf-
sucht, auch in erster Linie Arbeit, so ist es besonders für den
von auswärts zugereisten Arbeitsuchenden doch von großer, oft
für den Vermittlungserfolg ausschlaggebender Bedeutung, daneben
noch billige Wohn- und Schlafgelegenheit erfahren zu können.
So finden wir denn schon bei den ersten allgemeinen öffentlichen
Arbeitsnachweisen in Baden, bald nach der Errichtung, vielfach
Fürsorge für Wohnungsgelegenheit für Arbeitsuchende, so z. B.
in Lahr und Offenburg, wo Schlafstellen und kleine Wohnungen
vermittelt wurden. Allmählich wird dieser Nachweis ausgebaut,
und er wird meines Erachtens zu einer besonderen Abteilung,
sofern ähnlich wie beim Fachnachweis diesem Aufgabenkreis ganz
besondere Sorgfalt zugewendet wird. Andererorts ist auch der
Wohnungsnachweis gleich als besondere Abteilung -des Arbeits-
amtes in erweitertem Umfange, so z. B. in Ineiburg, eingerichtet
worden. Dabei ist wohl von Interesse zu erfahren, daß diese
1) Vgl. hierzu die Verhandlungen auf dem V. Deutschen Arbeitsnachweiskon-
greß zu Leipzig 1908, Schriften des Verbandes Deutscher Arbeitsnachweise Nr. 7,
S. 81 flf.
2) Vgl. Geschäftsbericht des Arbeitsamts Freiburg 191 1, S. 4.
— 41 —
Wohnungsnachweise auch in Baden Angriffen insbesondere von
der Seite der Haus- und Grundbesitzervereine ausgesetzt waren,
die ihre Errichtung und ihr Wirken nur höchst ungern sahen, ob-
wohl sie doch auch in ihrem Interesse tätig waren. Ein Umschwung
zugunsten des städtischen Wohnungsnachweises trat vielfach hier
erst bei längerem Bestehen ein^). Die Vermittlung oder besser
der Nachweis leerstehender Wohnungen usw. erfolgt kostenlos.
Während z. B. Karlsruhe noch mit dem Listensystem arbeitet,
hat das führende Freiburger Arbeitsamt auch hier das Karten-
system mit Erfolg eingeführt. Die Vermittlungsergebnisse resul-
tieren zurzeit meist aus Vermittlung von Schlafstellen und mö-
blierten Zimmern ; größere Wohnungen werden nur ausnahmsweise
vermittelt, doch scheint insbesondere nach den Erfahrungen der
Freiburger Anstalt auch hier eine Besserung Platz zu greifen, die
man w'ohl als Ansatz einer Organisation des kommunalen Woh-
nungsmarktes begrüßen darf.
Eine besondere Art des Wohnungsnachweises hat sich ins-
besondere für das weibliche Personal dort ausgebildet, wo mit
dem Arbeitsnachweise besondere Mädchenheime, wie z. B. in
Freiburg und Konstanz, verbunden wurden, welche Einrichtung
sich durchaus bewährt hat.
Auch die den allgemeinen öffentlichen Arbeitsnachweisen an-
gegliederten Rechtsauskunftstellen können erst dann
als besondere Abteilungen angesehen werden, wenn bei ihnen die
gleichen Voraussetzungen, wie bei den Wohnungsnachweisen,
vorliegen, d. h. wenn die Ratserteilung nicht gelegentlich und
nebenbei im Schalterdienst erfolgt, sondern im besonderen Dienst
mit besonderer Sorgfalt vorgenommen w"ird. Obwohl das Bedürf-
nis, insbesondere in Angelegenheiten des Arbeitsvertrages Rat und
Auskunft zu erteilen, schon früh bei den allgemeinen öffentlichen
Arbeitsnachweisen sich bemerkbar machte, und auch, wie z. B.
in Freiburg, schon früh derartiger Rat erteilt worden ist^), ist
bisher in Baden nur einem allgemeinen öffentlichen Arbeitsnach-
weis eine besondere Rechtsauskunftstelle angeschlossen worden
i) Aehnliche Interessengegensätze zeigten sich z. B. in Zittau, Worms, Straß-
burg i. E. und Kaiserslautern (in letzterer Stadt beschäftigt sich auch ein Mieter-
verein mit Vermittlung von Wohnungen) ; ein allmähliches Verschwinden der Gegen-
sätze berichtet z.B. auch das Charlottenburger Wohnungsamt, Soziale Praxis 1913/14,
S. 142.
2) Vgl. Jahresbericht des Verbandes 1898, S. 8.
— 42 —
und zwar in Karlsruhe. Andererseits bestehen im Großherzogtum
gemeindliche Rechtsauskunftstellen in Freiburg, Pforzheim und
Mannheim, aber ohne nähere Verbindung mit dem Arbeitsamt.
Die Frage der Verbindung ist darnach noch eine offene, und sie
muß m. E. jedenfalls für die größeren Arbeitsämter als unzweck-
mäßig abgelehnt werden '). Zwar mag es sein, daß vielfach die-
selben Personenkreise, die zum Arbeitsnachweis kommen, auch
die Rechtsauskunftstelle aufsuchen und es dann nicht wohl an-
geht, gelegentliche Fragen insbesondere aus dem schon erwähnten
Gebiete des Arbeitsvertrages stets an die Gerichtsschreiberei des
Gewerbe- bez. des Gemeindegerichts zu verweisen. Derartige
einfache Auskünfte können und sollen auch in Zukunft am Schalter
des Arbeitsamtes beantwortet werden. Allein wird die Rechts-
auskunftstelle erweitert und besonders ausgtjbaut, wie die gleich
näher zu schildernde in Karlsruhe, so dürfte m. E. das die Rats-
erteilung mit der Tätigkeit des Arbeitsamtes verbindende soziale
Band nicht mehr stark genug sein, um eine organisatorische Ver-
bindung zu rechtfertigen. Soweit gehende juristische Kenntnisse
können dem Leiter eines Arbeitsamtes nur in glücklichen Aus-
nahmefällen zu Gebote stehen, als dann nötig sind, um den weitesten
Ansprüchen der ausgebauten Rechtsauskunftstelle mit Erfolg und
im Bewußtsein der Verantwortung zu entsprechen. Auf einer
gewissen Stufe der Entwicklung müssen deshalb Rechtsauskunft-
stelle wie auch Wohnungsnachweis, dieser wegen der mit ihm
zweckmäßig zu verbindenden Wohnungsaufsicht, von dem Arbeits-
amt wieder getrennt werden, ohne daß hierdurch die freund-
nachbarlichen Beziehungen abgebrochen zu w^erden brauchen.
Hauptzweck des Arbeitsamtes muß immer die Arbeitsvermittlung
bleiben!
Die Karlsruher Rechtsauskunftstelle, die ich hier als Bei-
spiel einer besonders ausgebauten Rechtsabteilung des Arbeits-
amtes anführen möchte, hat die Aufgabe, der minderbemittelten
Bevölkerung der Stadt und des Amtsbezirkes Karlsruhe Rat und
Auskunft in rechtlichen Angelegenheiten zu erteilen, namentlich
im Gebiete des Arbeits- und des Dienstvertrages, ferner aber
auch des Arbeiterschutzes und der Arbeiterversicherung, in Steuer-,
i) Vgl. Lauer, Arbeitsnachweis und Rechtsauskunftstellen, Arbeitsmarkt
1908/09, S. 61, vgl. die Ausführungen von Schulz und Schweikert auf dem V. Deut-
schen Arbeitsnachweiskongreß, a. a. O., S. 95 ff., S. 107 ff,; der Kongreß ließ die
Frage der Verbindung prinzipiell offen.
— 43 —
Schul-, Militär-, Unterstützungs-, Vormundschafts-, Erbschafts-,
Ehe- und Mietsachen und dergleichen, sowie über das Ver-
fahren, wie man sieht, also recht weitgehende Aufgaben. Der
Leiter der Rechtsauskunftstelle ist der Leiter des Karlsruher
Arbeitsamtes, dem zur Besorgung der Kanzleigeschäfte (Fertigung
von Schriftsätzen usw\) ein Gehilfe beigegeben ist. Rat und
Auskunft werden kostenlos erteilt ; ebenso erfolgt die Anferti-
gung notwendiger Schriftsätze völlig unentgeltlich. Die Zahl der
Auskünfte war von Anfang an sehr beträchtlich, sie stieg von
5232 im Jahre 1908 auf 5759 im Jahre 1912, und wenn die Aus-
künfte auch in der Hauptsache sich auf Arbeitsvertrag und
Mietsverhältnisse bezogen (dem Arbeitsamt ist wie schon vor-
erwähnt auch ein Wohnungsnachweis angeschlossen), so wird
man doch wohl nicht im Zweifel sein können, daß hier der
Rechtsauskunftstelle »als besonderer Abteilung des Arbeitsamtes« ^)
Aufgaben gegeben worden sind, die zu weit gehen (Erbschafts-
sachen, Ehesachen). Dabei ist mir wohl bewußt, daß dem Karls-
ruher Arbeitsamt auch die sogleich zu berührende Arbeitslosen-
fürsorge angeschlossen ist, diese aber das Auftreten weiterer
Rechtsfragen aus dem Gebiete des öffentlichen Rechts natur-
gemäß mit sich bringt.
Den Arbeitslosen endlich, für die die Vermittlung von
Arbeit zunächst mangels entsprechenden Angebotes nicht mög-
lich ist, haben die allgemeinen öffentlichen Arbeitsnachweise in
Baden schon frühzeitig ihre Fürsorge zugewendet. Zunächst den
wandernden Arbeitslosen, indem schon auf dem Verbandstag
1897 ^) anerkannt wurde, daß es Aufgabe der allgemeinen öffent-
lichen Arbeitsnachweise sei, mit den Vereinen gegen Haus- und
Straßenbettel, Verpflegungsstationen und ähnlichen Einrichtungen
in Verbindung zu treten, um unter etwaiger Mitwirkung der Po-
lizei es zu erreichen, daß Mißbräuche dieser besonderen Institu-
tionen verhindert und Unterstützungen nur an solche Wanderer
verabreicht würden, deren unverschuldete Arbeitslosigkeit und
Bedürftigkeit feststehe. Ein derartiges Zusammenarbeiten wurde
denn auch tatsächlich angebahnt, jedoch bisher nicht überall und
nicht dauernd. Es sei mir deshalb gestattet, hier auf die beson-
ders günstigen Erfahrungen hinzuweisen, die Bruchsal und Pforz-
heim mit derartiger Zusammenarbeit gemacht haben. Allerdings
1) Geschäftsbericht 07/11, S. 12.
2) Jahresbericht des Verbandes, S. 4.
— 44 —
werden zweifellos größere Erfolge nur in Verbindunjr rnit einer
allgemein besseren Organisation der Wandererfürsorge zu erreichen
sein.
Ferner wird in Baden allen Arbeitslosen, die beim öffent-
lichen Arbeitsnachweis vorsprechen — und der männliche Arbeits-
lose spricht gewöhnlich erst dann vor, wenn er arbeitslos ist — ,
ein besonderes sozialpolitisches Interesse zugewendet, indem seitens
der Arbeitsnachweise eine besondere Bewegungsaufnahme der
Arbeitslosen stattfindet, die allmonatlich in weiterer Entzifferung
als »Darstellung der Dauer der Arbeitslosigkeit« dem statistischen
Landesamt zur Verwertung bei der Beurteilung des Arbeitsmarktes
mitgeteilt wird. Allerdings darf nicht verschwiegen werden, daß
die Meinungen über die sozialpolitische Bedeutung dieser Ein-
richtung recht geteilt sind ^). Auch bei den sonstigen Arbeitslosen-
zählungen (Bestandsaufnahmen der Arbeitslosen), die in den letzten
Jahren in einer Reihe von größeren Städten Badens stattfanden,
haben die Arbeitsämter zum mindesten kontrollierend überall
mitgewirkt, ebenso wie ihnen auch überall da, wo Notstands-
arbeiten stattfanden oder sog. Arbeitslosenversicherungen ein-
gerichtet sind (Freiburg, Mannheim, Karlsruhe), eine weitgehende
kontrollierende Mitwirkung eingeräumt ist.
Die Arbeitslosenfürsorge aus öffentlichen Mitteln, und nur
von dieser kann hier im Gegensatz zu der privatim von Unter-
nehmern gewährten und der von Arbeitnehmerverbänden einge-
richteten die Rede sein, erscheint m.E. im Großherzogtum heute
schon in doppelter Gestalt, einmal in Form der aus öffentlichen
Mitteln unterhaltenen Naturalverpflegungsstationen insbesondere
in den vier oberbadischen Kreisen, worüber noch im Rahmen
der charitativen Arbeitsvermittlung gehandelt wird, und sodann
als Arbeitslosenfürsorge im eigentlichen engeren Sinne in ein-
zelnen größeren Städten, nämlich in T'reiburg, Mannheim und
Karlsruhe. Dabei muß allerdings sogleich hervorgehoben werden,
daß in letzterem Falle die genannten Städte nur mit einem ge-
wissen Widerstreben an die Arbeitslosenfürsorge herangetreten
sind, weil man sich der Unvollkommcnhcit der Einrichtungen
l) Vgl. »Ergebnisse der Bewegungsaufnahme der Arbeitslosen im Geschäfts-
bereich des Verbandes bad. Arbeitsnachweise 1898/1910« in den Stat. Mitteilungen
über das Großherzogtum Baden, Jahrgang 191 1, S. 59 f., ferner Geschäftsbericht
des Verbandes 1903, S. 16 ff,, sowie meine Ausführung in der Zeitschrift f. bad.
Verwaltung und Verwaltungsrechtspflege 1913, S. 195 ff.
— 45 -
nur zu bewußt war und auch in erster Linie ein Eingreifen als
Sache der größeren Verbände, also insbesondere des Staates oder
des Reiches, erachtete. Indem ich hier davon absehen muß, die
in den genannten Städten getroffenen Einrichtungen näher zu be-
schreiben, möchte ich dieselben doch kurz dahin charakterisieren,
daß Freiburg sich einer Verbindung des Genter Systems mit
Spareinrichtung zugewendet hat ^) und auch Mannheim neuer-
dings das Genter System, aber mit Gewährung von Unterstüt-
zungen auch an Nichtorganisierte und zwar ohne Sparzwang" zur
Einführung brachte -), während in Karlsruhe ganz allgemein Ar-
beitslosenunterstützung aus verfügbaren städtischen Wohltätig-
keitsmitteln nach bestimmten Grundsätzen gewährt wird ^'). Ueber-
all ist indessen die Arbeitslosenunterstützung über das städtische
Arbeitsamt geleitet worden, dem auch in Verbindung mit den
Organisationen die Kontrolle der Arbeitslosen, wie gesagt, ob-
liegt, und überall ist der Grundsatz beobachtet, daß Unterstüt-
zung nur gewährt werden soll, wenn Arbeit nicht vermittelt werden
kann.
Meiner Ueberzeugung nach liegt eine Arbeitslosenfürsorge
als Arbeitslosenversicherung im technischen Sinn und, wie sie
sich manche als Ergänzung der schon bestehenden sozialen Ver-
sicherung gegen Krankheit, Unfall und Invalidität denken mögen,
noch in weiter Ferne, wenigstens soweit die unverschuldete Ar-
beitslosigkeit in Betracht kommt. Es wird hier wohl immer nur
eine Verwendung öffentlicher Mittel in Frage kommen können,
die man gewissermaßen in Zeiten der Hausse von der Gesamt-
heit erhebt und in Zeiten der Baisse an Bedürftige wieder ab-
gibt; aber die Form dieser Vergebung scheint mir eine verschie-
dene sein zu müssen, je nachdem der Arbeitslose in der Stadt
oder auf dem Lande sich befindet. So komme ich dazu, die
beiden vorerwähnten Formen der Arbeitslosenfürsorge, die wir
schon heute im Großherzogtum finden, für typisch anzusprechen,
nämlich in der Stadt die geldliche Unterstützung nach bestimm-
ten, an sich verschieden sein könnenden Grundsätzen, und auf
dem Lande die Unterstützung in natura durch die Wanderarbeits-
stätte, wobei aber in beiden Fällen die Unterstützung nur eine
sekundäre sein darf, so oft und so lange wirkliche Arbeit nicht
i) Vgl. Geschäftsbericht des Arbeitsamtes Freiburg 19 lo, S. 4 ff., S. 25 ff.
2) Bürgerausschußvorlage vom 25. 2. 13, die Arbeitslosenfürsorge betr.
3) Vgl. Geschäftsbericht des Arbeitsamts Karlsruhe 191 2, S, 10 ff.
- 46 -
vermittelt werden kann. Ist die Unterstützungszeit hier aber ab-
gelaufen, so müßte, wenn man den Arbeitslosen nicht der Armen-
fürsorge überlassen will, die Aufnahme in sogenannte Arbeiter-
heime (gehobene Arbeiterkolonien) statthaben. Und aus diesen
Gründen möchte ich auch in den von Reichs wegen in Vorberei-
tung befindlichen besonderen Gesetzentwürfen über Wanderar-
beitsstätten und Arbeiterheimc einen Versuch zur Lösung der
Arbeitslosenfrage sehen, wie er weitergehend vom Reich wohl
zurzeit nicht gemacht werden kann. Auch dieser Weg aber
w^ürde sonach grundsätzlich über die Einrichtungen zur Arbeits-
vermittlung führen, womit die Notwendigkeit der Verbindung der
Wanderarbeitsstätten und auch der Arbeiterheime mit dem all-
gemeinen öffentlichen Arbeitsnachweise aufs neue betont werden
soll.
Üb man nun diese Fürsorgetätigkeit für die Arbeitslosen,
soweit sie den allgemeinen Arbeitsnachweisen obliegt, als eine
besondere Abteilung des Arbeitsnachweises bezeichnen soll oder
nicht, erscheint zunächst zweifelhaft. Ich möchte die Frage be-
jahen, sobald diese Tätigkeit als eine besondere Aufgabe orga-
nisationsmäßig dem Arbeitsnachweis übertragen und nicht nur
Gelegenheitsarbeit ist. Auch möchte mir diese Tätigkeit im Gegen-
satz zu Wohnungsnachweis und Rechtsauskunftstelle als eine
dem Arbeitsnachweis durchaus homogene erscheinen, denn wenn
dieser Xotstandsarbeit und Arbeitslosenunterstützung vermittelt,
was tut er da anders, als das Surrogat nicht vorhandener Arbeit
vermitteln!
Am Schlüsse meiner Erörterung über den Ausbau des all-
gemeinen öffentlichen Arbeitsnachweises in Baden sei endlich er-
wähnt, daß eine Fortbildung des Arbeitsamtes zum Arbeitsbe-
schaffungsamt, wie es z. B. durch Beigabe einer Schreib-
stube für arbeitslose Gebildete beiderlei Geschlechts insbeson-
dere beschäftigungslose Kaufleute anderwärts geschehen ist, in
Baden bisher nicht stattgefunden hat ^). Meines Dafürhaltens
möchte sich indessen auch in Baden die Errichtung, von solchen
Schreibstuben im Anschluß an die größeren allgemeinen öffent-
lichen Arbeitsämter wohl empfehlen, da die Gemeindeverwal-
tung besser als irgend ein wohltätiger Verein in der Lage
wäre, für die Schreibstube einen festen Stamm von Arbeitern zu
l) Mittel hierfür sind allerdings im städtischen Voranschlag Freiburg bereits
wiederholt vorgesehen worden.
— 47 —
halten, die das Rückgrat gegenüber den vorübergehend Beschäf-
tigten bilden könnten, so daß Aufträge öffentlicher und privater
Stellen leichter zufließen möchten. Allerdings muß die Entlöh-
nung (am besten Akkordlöhne) eine solche sein, daß sie nur das
Notwendigste bietet und ein starker Anreiz, anderwärts wieder
in dauernde Stellung zu kommen, bestehen bleibt ^).
4. Die Finanzgebarung.
Es bedarf keiner weiteren Ausführung, daß es von Anfang
an im Wesen der allgemeinen öffentlichen Arbeitsnachweise als
gemeinnütziger Vermittlungseinrichtungen lag, die Vermittlungs-
tätigkeit nicht gewerbsmäßig zu betreiben. Deshalb waren die
gründenden Vereine für möglichst reichliche Zuschüsse besorgt, wo-
her immer sie nur solche erhalten konnten. Das ging, solange
der finanzielle Bedarf noch gering war. Alsbald reichten jedoch
die freiwilligen Gaben nicht mehr aus, die Arbeitsnachweise
mußten auf andere Weise unterhalten werden, und es ist be-
reits eingangs erwähnt worden, wie hier insbesondere die Städte
eingriffen und wie es mit drei Ausnahmen zur Uebernahme der
allgemeinen öffentlichen Arbeitsnachweise in städtische Regie kam.
Indessen ging nebenher ein anderes Hilfsmittel finanzieller
Bilanzierung des Bedarfs : die Gebührenerhebung. Die
Zeit der Gebührenerhebung zerfällt gewissermaßen in zwei Ab-
schnitte :
zunächst in die Zeit der Erhebung geringer Gebühren mangels
Unmöglichkeit der Unentgeltlichkeit,
und sodann in die Zeit der grundsätzlichen Unentgeltlichkeit
bei teilweiser Erhebung geringer Gebühren.
Dabei hat den Umschwung herbeigeführt einmal die durch
den Verband vermittelte Erkenntnis von der Wichtigkeit der Un-
entgeltlichkeit für die gesamte Entwicklung der allgemeinen öffent-
lichen Arbeitsnachweise, insbesondere im Kampfe gegen die ge-
werbsmäßigen Stellenvermittler ^), und sodann die Stellungnahme
i) Vgl. Glücksmann, auf dem V. Deutschen Arbeitsnachweiskongreß, a. a. O.,
S. 84/85.
2) Verbandstag 1897 und 1898. Wenn E. H. Meyer, a. a. O. S. 60, die
Ansicht vertritt, daß die allgemeinen öffentlichen Arbeitsnachweise zur Gebühren-
erhebung gekommen sind, insbesondere um dem Anschein charitativer Einrichtungen
zu entgehen, so kann dem für die badischen Verhältnisse nicht beigetreten werden;
die Gebühren wurden hier, soweit ich sehe, überall aus finanziellen Gründen erhoben.
- 4S -
der Gioßherzoglichen Staatsverwaltung, die die Staatsunterstützung
für die einzelnen Anstalten i,nundsätzlich davon abhängig machte,
daß wenigstens die gewerblichen Arbeiter unentgeltlich vermittelt
würden. Die Frage der Gebührenerhebung war so bei der Ueber-
nahme in städtische Regie gewissermaßen schon gelöst. Es wird
bei Behandlung der Frage der Zentralisation noch zu erörtern
sein, inwieweit diese Lösung als eine für das städtische Arbeits-
amt endgültige angesehen werden darf).
Als typisch für die erste Zeit der Gebührenerhebung
kann die Einführung von Kupons- und Abonnementsbüchlein
gelten. Die Gebühren waren .stets außerordentlich niedrig und
haben nie volle Kostendeckung ergeben.
In der Zeit der grundsätzlichen Unentgeltlich-
k c i t bahnt sich dann eine Scheidung der Gebühren, soweit sie
überhaupt noch erhoben werden, in bloße Kontrollgebühren und
in Finanzgebühren an. Die Kontrollgebühr ist eine niedrige Ein-
schreibgebühr — auch Vormerkungsgebühr genannt — , die bei
Angehen des Arbeitsamtes zu entrichten ist. Eine solche Gebühr
wollte z. B. Mannheim 1899 zur Einführung bringen. Darnach
sollten die Arbeitnehmer beim Einschreiben 20 Pf. entrichten,
sie aber wieder zurückerhalten, sobald sie dem Arbeitsamte die
Annahme oder die Ablehnung einer Arbeitsstelle meldeten. Die
Finanzgebühr, gewöhnlich etwas höher als die Kontrollgebühr,
wird erhoben bei Zustandekommen einer Vermittlung.
Eine Einschreibegebühr verlangt z. B. noch heute Konstanz,
in Höhe von 25 Pfg. von den Dienstherrschaften, die den Ar-
beitsnachweis wegen Dienstboten in Anspruch nehmen; diese
Einnahme kommt dann allerdings dem mit dem Arbeitsamt ver-
bundenen Mädchenheim zugute. Eine Finanzgebühr erhebt z. B.
Pforzheim in Höhe von i Mark für die Vermittlung von Dienst-
boten von den Dienstherrschaften, welche Gebühr zurückbezahlt
wird, wenn die Vermittlung nicht innerhalb drei Monaten zu-
stande kommt. Dabei ist es kein Zufall, daß die Gebühren ins-
besondere bei der Vermittlung von Dienstboten sich finden, denn
es ist bekannt, daß gerade auf diesem Gebiete die gewerbs-
mäßige Stellenvermittlung die Tätigkeit des allgemeinen öffent-
lichen Arbeitsnachweises herunterzusetzen suchte, weil sie unent-
geltlich und daher minderwertig sei. Ueberall treffen heute, so-
i) Vgl. Entgeltlichkeit oder UnenlgeUlichkeit der städt. Arbeitsvermittlung?
Arbeitsmarkt 1911/12, S. 423.
— 49 —
weit mir bekannt, Einschreibe- und Finanzgebühren nur mehr
Arbeitgeber.
Ein Staatszuschuß für die allgemeinen öffentlichen Arbeits-
nachweise in Baden ist erstmals im Staatsvoranschlag 1896/97
vorgesehen worden. Begründet wurde die Position mit dem Hin-
weis auf die volkswirtschaftliche Bedeutung der Arbeitsnachweise
insbesondere für den Ausgleich der Schwankungen auf dem Arbeits-
markte und für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, sowie mit
Hinweis auf den dringenden finanziellen Bedarf der damals noch
vorherrschenden Vereinsnachweise. Im Hinblick auf die volks-
wirtschaftliche Bedeutung einer geregelten und guten Arbeitsver-
mittlung, die der gesamten Volkswohlfahrt zugute kommt, ist dann
der Staatsbeitrag nicht nur beibehalten, sondern noch ständig
erhöht worden, auch nachdem die Anstalten in städtische Regie
übernommen waren. Betrug der staatliche Zuschuß im Jahre 1896
insgesamt 9400 Mark, so bezifferte er sich für das Jahr 191 2
bereits auf 30000 Mark ^), welche Steigerung erreicht zu haben
ein Verdienst insbesondere auch des Verbandes ist. Dabei ge-
währt die Großherzogliche Regierung diese Unterstützung einmal
dem Verbände (einschließlich der Landeszentrale) als solchem,
sie deckt hier die Kosten nahezu ausschließlich. Sodann gewährt
die Großherzogliche Regierung Staatsunterstützung den einzelnen
dem Verbände angehörenden Arbeitsnachweisen durch Vermitt-
lung des Verbandes. Der Zuschuß zu den Kosten des Verbandes
(einschließlich der Landeszentrale) ist ein fester; für das Jahr 19 12
betrug er 8000 Mark. Für die Verteilung des Staatsbeitrages auf
die einzelnen Anstalten kommt vom Jahre 1907 ab gerechterweise
neben dem Vermittlungsergebnisse auch der sonstige Aufwand
und überhaupt die Größe des Geschäftsbetriebes in Betracht.
Eine weitere Erhöhung der Staatszuschüsse ist wohl mit Sicher-
heit zu erwarten.
Das gleiche Interesse wie der Staat an geregelter Arbeits-
vermittlung haben m. E. auch die größeren Verwaltungskörper,
das sind in Baden die Kreise, letztere insbesondere hinsichtlich
des Ausgleiches des Arbeitsmarktes in Stadt und Land. Die
badischen Kreise gewähren nun den allgemeinen öffentlichen
Arbeitsnachweisen Zuschüsse von Bedeutung erst mit allgemeiner
Durchführung der Unentgeltlichkeit, als eben der Bedarf immer
i) Davon 500 M. der badischen Landwirtschaftskammer für landwirtschaft-
liche Vermittlung.
Zeitschritt für die ges. Staatswissensch. Ergänzungsheft 5^. 4-
— 50 —
dringender wurde. Sie haben diese Zuschüsse, zum Teil wohl
aus organisatorischen Gründen, stets nur mit einem gewissen
Widerstreben gegeben. Vorbehaltlich späterer Ausführungen
möchte ich doch hier schon sagen, daß dieses Widerstreben nach
Lage des badischen Verfassungsrechtes als ein völlig unbegründetes
nicht bezeichnet werden kann. Auch ist es richtig, daß, so lange nicht
alle Kreise gleichmäßig an der Unterstützung des allgemeinen Ar-
beitsnachweises sich beteiligen, bez. sich beteiligen müssen, natur-
gemäß bei interlokaler Vermittlung ein Kreis, der nichts gab, aus den
Beiträgen der andern Vorteil zog. Vielfach waren aber auch die
Ablehnungsgründc andere: so glaubte z. B. der Kreis Mosbach
durch Unterstützung eines allgemeinen öffentlichen Arbeitsnach-
weises den Zug in die Stadt zu vermehren; so beanspruchte
z. B. der Kreis Baden im Falle eines Zuschusses an die Anstalt
Karlsruhe eine Filiale, obschon die Errichtung und der Betrieb
derselben der Anstalt Karlsruhe mehr gekostet hätte, als der
Kreisbeitrag betragen hätte. Derartige Ablehnungen sind unent-
schuldbar! Indessen diese Anschauungen änderten sich, und auch
die Kreiszuschüsse stiegen in den letzten Jahren. Für das Jahr 191 2
haben die badischen Kreise zu den Verbandskosten 775 Mk. und
zu den Kosten der Verbandsanstalten 1 1 800 Mk. beigesteuert.
An sonstigen Einnahmen hatten im Jahre 1912 der Verband
300 Mk. und die Verbandsanstalten insgesamt 11917 Mk., den
Rest des Aufwandes der letzteren mit 7i7io]\Ik. haben die
Träger der Anstalten, also insbesondere die Gemeinden, gedeckt.
Nach einer Berechnung im letzten Geschäftsbericht des Ver-
bandes ') kostete im Durchschnitt eine Vermittlung im
Jahre 191 2 unter Zuschlag der Kosten des Verbandes 99,6 Pf.;
durch den gesamten Staatsbeitrag sind gedeckt 23,4 Pf. und
durch die Kreisbeiträge 9,5 Pf., der freie Rest beträgt darnach
66,7 Pf. Das Verhältnis zwischen Aufwendungen von Gemeinden
einerseits und Kreis und Staat andererseits ist sonach 2:1, während
das Verhältnis zwischen lokaler und interlokaler Vermittlung etwa
4,5:1 ist (117463:23739 im Jahre 191 1).
Darnach kann das Verhältnis der Kostendeckung als ein
schlechtes nicht bezeichnet werden, wenn auch zweifellos der
kommunale Aufwand sehr erheblich gewachsen ist^). Allein es ist
i) A. a. O., S. 4-
2) Im Geschäftsbericht des Verbandes 191 1, S. 69 finden sich hierüber wei-
tere prozentuale Berechnungen.
— 51 —
doch zu berücksichtigen, daß die interlokalen Vermittlungen be-
sondere Mühe und Sorgfalt erfordern und deshalb auch — abge-
sehen von den ersetzten Telcphonkosten — für die Arbeitsämter
wesentlich teuerer sind als die lokalen Vermittlungen. An diesem
kommunalen Aufwand nehmen nun aber all diejenigen Nachbar-
gemeinden nicht teil, die im wirtschaftlichen Bezirk des allgemeinen
öffentlichen Arbeitsnachweises liegen und von seiner Tätigkeit
unmittelbar berührt werden. Es erscheint mir daher billig, auch
diese — soweit die Kostendeckung grundsätzlich den Gemeinden
zur Last zu legen ist — zu Beiträgen heranzuziehen. Dies wird
eine Forderung der zukünftigen Entwicklung sein müssen !
B. Die Arbeitgeber- und Arbeitnehmernachweise.
Daß sich die hier zu behandelnden sogenannten Interessenten-
arbeitsn.achweise von den eben dargestellten allgemeinen öffent-
lichen Arbeitsnachweisen durch die grundsätzliche Beschränkung
ihrer Vermittlungstätigkeit auf bestimmte Berufszweige unter-
scheiden, habe ich schon in der Vorbemerkung zum ersten Teil
meiner Arbeit ausgeführt. Diese charakteristische Beschränkung
der Vermittlungstätigkeit auf bestimmte Berufszweige ist zu er-
klären aus dem Entstehen der sogenannten Interessentenarbeits-
nachweise aus Berufsverbänden der Arbeitnehmer und der Arbeit-
geber. Sie stellt, wie insbesondere bei der landwirtschaftlichen
Arbeitsvermittlung noch näher darzulegen sein wird, einerseits
eine gewisse Schwäche dar, wenn es gilt, aus einem bestimmten
Berufszweig aus irgendwelchen Gründen zurückflutende Arbeit-
nehmermassen in andere Gewerbszweige unterzubringen , wie
andererseits gerade wieder die Kraft und die Stärke der Interessen-
tennachweise auf diese Selbstbeschränkung zurückzuführen ist.
Diese Beschränkung hat endlich aber auch, sobald der Nachweis
nur noch als Selbstzweck und nicht mehr als Kampfzweck ange-
sehen wurde, in Einzelfällen es ermöglicht, für bestimmte Berufs-
zweige den Berufsnachweis an den allgemeinen öffentlichen Ar-
beitsnachweis leichter anzuschließen.
Nicht dagegen möchte ich als durchgreifendes Unterschei-
dungsmerkmal der Interessentenarbeitsnachweise gegenüber den
allgemeinen öffentlichen Arbeitsnachweisen ihre Imparität an-
sprechen; denn abgesehen davon, daß sich auch bei den letzteren
die Parität der Verwaltung erst allmählich entwickelt hat, zeigen
4*
— 52 —
auch die Interessentenarbeitsnachweise Ansätze zu einer gewissen
Parität, so z. B. im Gesellcnausschuß bei den Innunc,^snachweisen'),
ohne daß jedoch hierdurch der <,'rundsätzlich einseitige Charakter
dieser Arbeitsnachweise aufgehoben würde ; kommt es aber auch
gewissermaßen nach Beendigung des Kampfes zu einem paritätischen
Zusammengehen der beiden bisherigen Gegner, wie bei den sog.
paritätischen Facharbeitsnachweisen, so trennt sie doch auch dann
von dem allgemeinen öffentlichen Arbeitsnachweise immer noch
das grundsätzliche Merkmal der Berufsbeschränkung der Arbeits-
vermittlung.
Für die Arbeitgeber- und Arbeitnehmernachweise charak-
teristisch ist ferner die von ihnen angestrebte besondere Straff-
heit in der Organisation, die im sog. Obligatorium, Meldezwang,
und im sog. Nummerzwang, d. h. in der Vermittlung grundsätz-
lich nach der Reihenfolge der Anmeldungen, zum Ausdruck kommt ;
es wird Sache der folgenden Darstellung sein, zu zeigen, wie in-
dessen diese straffen Normen bei der praktischen Durchführung
auf besondere Schwierigkeiten gestoßen sind und teilweise in sehr
formlose Vermittlungstätigkeit umgeschlagen haben.
Endlich ist bei der Darstellung der verschiedenen Arbeit-
geber- und Arbeitnehmernachweise zu beachten, daß sich ihr
Wirkungskreis vielfach in weit höherem Grade (nicht Maße) über
die Grenzen des Großherzogtums Baden hinauserstreckt, als das
bei der interlokalen Vermittlungstätigkeit der allgemeinen öffent-
lichen Arbeitsnachweise der Fall gewesen ist. Dieses Hinaus-
greifen über die Landesgrenze geht bei den Arbeitnehmer- und
den paritätischen Facharbeitsnachweisen sogar so weit, daß viel-
fach spezielle Vermittlungszahlen für das Großherzogtum gar nicht
gegeben werden können.
I. Die Arbeitgebernachweise ^).
Die Arbeitgebernachweise sind heute noch überwiegend als
Kampfesorganisationen zu betrachten ^), und der wichtigste Ar-
1) Auch hat z. B. der Arbeitsnachweis des Hamburger Hafeobetriebsvereins,
ein typischer Arbeitgebernachweis, eine paritätische Beschwerdeinstanz.
2) Vgl. insbesondere Kessler, Die Arbeitsnachweise der Arbeitgeberverbände,
Leipzig 191 1. Diese Arbeit bringt zum erstenmal umfangreiches Tatsachenma-
terial über die Arbeitgeberarbeilsnachweise, deren Beschaffung nicht immer leicht
gewesen sein mag; ob indessen die Beleuchtung dieses Materials immer in genü-
gend weiter Distanz erfolgt ist, möchte ich dahingestellt sein lassen.
3) Vgl. Bericht über die Gründung und erste Mitgliederversammlung der Ver-
— 53 —
beitgebernachweis, über den wir im Großherzogtum verfügen,
der Arbeitsnachweis der Industrie Mannheim-Ludwigshafen, ist
m. E. in erster Linie als solche Kampfesorganisation anzusehen.
Daneben bestehen aber auch Arbeitgebernachweise, denen
der Charakter als Kampfesorganisation mangelt. Es sind das
einmal die teilweise an größere Verbände von Arbeitgebern, so
z. B. an den Internationalen Verband der Gasthofbesitzer, ange-
schlossenen Nachweiseinrichtungen, die in erster Linie den Ar-
beitsuchenden von der gewerbsmäßigen Stellenvermittlung und
von der Umschau fernzuhalten bestrebt sind, wenn auch natur-
gemäß gewisse Nebenzwecke, wie insbesondere Kontrolle des ein-
zustellenden Arbeitnehmers, hierbei mit unterlaufen. Sodann
sind das ferner die von einzelnen teilweise öffentlichen Arbeit-
gebern für Zwecke ihrer Betriebe und für unteres Personal ein-
gerichteten Nachweisstellen, wie wir eine solche Einrichtung in
Baden z. B. bei der Generaldirektion der badischen Staatseisen-
bahnen finden^).
Wenn ich nun im folgenden in Abweichung des von mir im
allgemeinen beobachteten Behandlungsprinzipes zunächst nicht
dem wichtigsten badischen Arbeitgebernachweis, nämlich dem Ar-
beitsnachweis der Industrie Mannheim-Ludwigshafen, mich zuwende,
sondern an erster Stelle die von der Badischen Landwirtschafts-
kammer eingerichtete Vermittlungstätigkeit für die Landwirtschaft
behandle, so geschieht das nur deshalb, weil der Arbeitsnach-
weis der Landwirtschaftskammer in Baden in engster Verbindung
mit den allgemeinen öffentlichen Arbeitsnachweisen in Baden
steht, und zwar so weitgehend, daß man ihm beinahe Selbstän-
digkeit absprechen könnte, so daß mir daher seine Darstellung in
unmittelbarem Anschluß an die Vermittlungstätigkeit der allge-
meinen öffentlichen Arbeitsnachweise am zweckmäßigsten erschei-
nen möchte. Jedoch werden wir sehen, daß seine Vermittlungs-
tätigkeit, wenn auch nach den Grundsätzen des Verbandes badi-
einigung deutscher Arbeitgeberverbände im Verbandsorgan >Der Arbeitgeber« 1913,
S. 89 fF., 129 if.
l) Vgl. Arbeitsmarkt 1911/12, S. 382 ff. Die Vermittlung erfolgt insbeson-
dere als interlokale durch Veröffentlichung der Zahl der Stellensuchenden und der
offenen Stellen im Nachrichtenblatt der Generaldirektion, sowie durch Aufstellung
von Vakanzlisten, bei Gewährung von freier Fahrt. Genauere Zahlen für die Ver-
mittlung können nicht gegeben werden. Austausch mit anderen Eisenbahndirek-
tionen findet nicht statt. Die Ergebnisse der Vermittlung erscheinen nicht als
bedeutend.
— 54 —
scher Arbeitsnachweise ausgeübt, doch als eine selbständige, von
der Landwirtschaftskammer geleitete erscheint, so daß die Dar-
stellung an dieser Stelle meiner Arbeit, bei den Spezialnachwei-
sen der Arbeitgeber, wohl gerechtfertigt ist, da eben die Land-
wirtschaftskammer als die Interessenvertretung der selbständigen
Landwirte d. h. der landwirtschaftlichen Arbeitgeber anzusprechen
ist ^). Der Darstellung der speziell landwirtschaftlichen Vermitt-
lung soll dann die Erörterung des erwähnten Industrienachweises
und endlich der Innungsnachweisc nachfolgen, da letztere auch
in Baden, wie schon angedeutet und noch näher zu zeigen, eben-
falls überwiegend als Arbeitgebernachweise erscheinen.
Endlich möchte ich aber hier besonders darauf hinweisen,
daß ich an dieser Stelle meiner Arbeit, d. h- bei Betrachtung der
Arbeitgebernachweise, allein in der Lage war, einiges Material
darüber beizubringen, inwieweit der Arbeitsnachweis die Produk-
tion zu beeinflussen imstande ist, indem er den Arbeitsmarkt zu
regulieren sucht. Gleiches war mir, wie ich hier nochmals be-
tonen möchte, weder bei den allgemeinen öffentlichen Nachweisen,
noch bei den Arbeitnehmernachweisen möglich, weil es hier, so-
weit eine solche Beeinflussung überhaupt stattfinden kann, noch
an der entsprechenden Konzentration fehlt. Daß aber die chari-
tative Arbeitsfürsorge und heutzutage auch der gewerbsmäßige
Stellenvermittler 2), soweit sie als Organisationsträger des Arbeits-
marktes erscheinen, nicht in der Lage sind, irgendwelche regu-
lierende Funktion auf demselben auszuüben, dürfte sich m. E.
aus der Darstellung dieser beiden Vermittlungsgruppen noch des
näheren ohne weiteres ergeben.
a) Die Vermittlungstätigkeit der badischen
Landwirtschaftskammer.
Bevor ich auf die Vcrmittlungstätigkeit der badischen Land-
wirtschaftskammer näher eingehe, möchte ich hier in Kürze dar-
auf hinweisen, daß und warum der Arbeiterbedarf der
badischen Landwirtschaft an sich geringer ist als in
Nord- und Ostdeutschland, denn ich glaube, daß diese Vorbe-
merkung notwendig ist, um die nachstehend aufgeführten Ver-
i) Vgl. §§ 7 und 9 des Gesetzes vom 28. Sept. 1906, die Landwirtschafts-
kammer betr., Bad. Gesetz- und Verordn.-Bl., S. 445 fT., vgl. auch Kessler, a. a. O.,
S. 30.
2) Abgesehen vielleicht von den Theateragenturen.
— 55 —
mittlungsziffern, wie überhaupt die besondere Organisation der
landwirtschaftlichen Arbeitsvermittlung in Baden richtig würdi-
gen zu können.
Für die badische Landwirtschaft ist typisch der Kleinbetrieb.
Es haben gerade die vom sozialpolitischen wie kulturellen Stand-
punkt so bedeutsamen, auf familiärer Arbeitsvereinigung beruhen-
den Wirtschaften unter i ha im Laufe der letzten Jahrzehnte
wesentlich zugenommen. Während 1882 nur 80153 solcher Be-
triebe gezählt wurden, betrug ihre Zahl 1907 1 10655. Hierzu
kommt, daß nach den Berechnungen der badischen Landwirt-
schaftskammer von den insgesamt 200000 landwirtschaftlichen
Betrieben des Großherzogtums ca. 80 % mit eigenen und nur
20 % mit fremden Arbeitskräften bewirtschaftet wurden, d. h.
also nur ca. 50000 Betriebe fremder Arbeitskräfte bedurften.
Nur für diese, d. h. die größeren Betriebe, kommt also Leutenot
in Frage. Nach den noch zu erwähnenden Erhebungen des Ver-
bandes badischer Arbeitsnachweise beliefen sich im Sommer (Juli,
August und erste Hälfte September) des Jahres 1908 die fehlen-
den Arbeitskräfte der badischen Landwirtschaft insgesamt auf
4815 Personen, also auf rund 5000, und für die oben angege-
bene Betriebszahl je eine Person gerechnet, damit auf 10 0/0 ^)^ also
auf eine wenn auch nicht große, so doch immerhin fühlbare Zahl.
Wenn nun trotzdem 1907 in der badischen Landwirtschaft im
ganzen nur 2 270 ausländische Arbeiter beschäftigt waren, gegen-
über 25 516 in Industrie und Handel, so rührt das daher, daß
man sich eben so gut es ging noch in anderer Weise zu helfen
suchte, durch stärkere Heranziehung von Frauen und Kindern
gegenseitiges Aushelfen, Benützung von arbeitsparenden Maschi-
nen, Inanspruchnahme von Militär in der Hauptarbeitszeit usw.,
ohne daß damit indessen die Leutenot ganz hätte beseitigt werden
können. In gewissen engeren Grenzen besteht dar-
nach ländlicher Arbeitermangel auch im Großherzogtum Baden.
Der Verband badischer Arbeitsnachweise hat
nun, wie schon in der Darstellung seiner Vermittlungstätigkeit gele-
gentlich erwähnt worden ist, von Anfang an auch der landwirt-
schaftlichen Vermittlung sein besonderes Augenmerk zu-
gewendet. Er empfahl schon in seinem ersten Jahresbericht den
Mitgliedern ein Zusammengehen mit den Bezirksämtern und den
i) Vgl. Tätigkeitsbericht der badischen Landwirtschaftskammer 19 12, S. 22.
- 56 -
landwirtschaftlichen Bezirksvereinen im Interesse der Vermittlung
aufs Land '), und auch die Verbandsversammlung trat schon im
Jahre 1907 nachdrücklich für die landwirtschaftliche Vermittlung
ein-). Dabei vertrat aber der badische Verband noch 1898 auf
der Vcrbandsversammlung wie Arbeitsnachweiskonferenz des deut-
schen Verbandes in München mit Nachdruck den Standpunkt, daß
nach Maßgabe der badischen Verhältnisse mit vorherrschendem
Kleinbetrieb, wie aber auch grundsätzlich es verfehlt wäre, für
die Landwirtschaft besondere Arbeitsnachweise einzurichten ; der
Landwirtschaft werde besser gedient, wenn sich ihre Interessenten
einer allgemeinen öffentlichen Nachweiseinrichtung zuwendeten,
der allein es möglich wäre, überschüssige industrielle Arbeiter
aufs Land zu vermitteln, wie die in die Stadt ziehenden Land-
arbeiter tunlichst in ihrer Beschäftigung zu erhalten ^). Mag sein,
daß bei dieser Argumentation schon der Gedanke möglichster
Zentralisation des Arbeitsmarktes eine ausschlaggebende Rolle ge-
spielt hat gegenüber dem Gesichtspunkt, daß ein eigentlich land-
wirtschaftlicher Arbeitsnachweis ja nur für die Landwirtschaft
vermitteln kann, und er daher stets besondere Schwierigkeiten
haben w-ird, die nach Beendigung der Saisonarbeit zurückflutenden
Arbeiter in andere gewerbliche Arbeit wieder unterbringen. Jeden-
falls haben die badischen Anstalten gemäß dieser Stellungnahme
ihres Verbandes hinfort auch und zwar mit einem steigenden
Erfolge für die Landwirtschaft gearbeitet, wenn schon die Ver-
mittlungsziffern an sich nicht besonders hohe waren; sie erzielten
für die Landwirtschaft 1898 1525, 1903 2459 und 1907 3222
Vermittlungen, wobei noch neben der wie gezeigt wachsenden
Zahl der Kleinbetriebe besonders zu berücksichtigen ist, daß letztere
Steigerung des Vermittlungserfolges teilweise in die Zeit der indu-
striellen Hochkonjunktur fällt, in der die Vermittlung landwirt-
schaftlicher Arbeitskräfte naturgemäß besonderen Schwierigkeiten
begegnet. Aus diesem lebhaften Interesse an der landwirtschaft-
lichen Vermittlung und in dem Wunsche, sie noch weiter zu
steigern, hat der Verband badischer Arbeitsnachweise im Jahre
1908 auch die schon erwähnte Umfrage veranstaltet, die an ins-
gesamt 1 590 Gemeinden erging und auf welche nur i 5 Gemeinden
nicht geantwortet haben. 978 Gemeinden antworteten, daß der
landwirtschaftliche Arbeitsbedarf durch die einheimischen Kräfte
1) Jahresbericht 1896, S. 12. 2) Vgl. Protokoll, S. 7 ff.
3) Jahresbericht des badischen Verbandes 1898, S. 5 ff.
— 57 —
gedeckt werden könnte, während allerdings 597 Gemeinden über
Leutemangel in der Landwirtschaft klagten, und zwar in erster
Linie über Mangelan landwirtschaftlichen Knechten, in zweiter Reihe
häuslicher Dienstboten und in dritter an Arbeiterinnen überhaupt.
Dabei herrschte, wie hier besonders hervorgehoben werden muß,
dieser Arbeitermangel insbesondere im Kreise Freiburg, Konstanz
und Offenburg, also auch dort, wo bewährte alte Arbeitsnach-
weise ihren Sitz hatten.
Unter diesen Umständen mußte wohl der Verband selbst an-
erkennen, daß die Organisation der badischen Arbeitsnachweise
zurzeit im Interesse der Landwirtschaft noch nicht vollkommen
sei, und er hat sich deshalb auch grundsätzlich nicht mehr ab-
lehnend verhalten, als im Jahre 1910 die badische Land-
wirtschaftskammer mit dem Ansinnen an ihn herantrat,
einen besonderen landwirtschaftlichen Arbeits-
nachweis in Verbindung mit den bestehenden allgemeinen
öffentlichen Vermittlungsanstalten einzurichten^).
Dieses gewollte und bewußte Zusammengehen bekundete
die badische Landwirtschaftskammer vor allem damit, daß sie dem
Verbände badischer Arbeitsnachweise als Mitglied beitrat, während
im übrigen die Bedingungen der Angliederung kurz folgende waren :
Die Landwirtschaftskammer richtet einen »Arbeitsnachweis der
Landwirtschaftskammer in Verbindung mit dem Verbände badi-
scher Arbeitsnachweise« bei dem Arbeitsamt Karlsruhe (das ja
auch die Geschäfte der Landeszentrale besorgt) ein, von dessen
Beamten einem die landwirtschaftliche Vermittlung — zunächst
im Nebenamt — übertragen wird. Dieser Beamte hat die Ver-
mittlungstätigkeit nach näherer gemäß dem Wunsche der Landwirt-
schaftskammer aufzustellender Weisung zu besorgen. Im übrigen
sind für die Technik des Vermittlungsgeschäftes selbst-
verständlich die Grundsätze des Verbandes und insbesondere die
des Arbeitsamtes Karlsruhe maßgebend. Den Arbeitgebern ist es
freigestellt, ihren Bedarf an Arbeitskräften bei dem nächstgelegenen
öffentlichen Arbeitsamt oder unmittelbar bei der Landwirtschafts-
kammer anzumelden, womit die mit letzterer aus anderen Gründen
etwa schon bestehenden Geschäftsverbindungen auch für den Ar-
beitsnachweis fruchtbar gemacht werden sollten. Die Zuweisung
der Arbeitnehmer erfolgt dagegen grundsätzlich stets unmittelbar
i) Vgl. Protokoll der Verbandsversammlung 1910, S. 2 ff., Geschäftsbericht
des Verbandes 1 907/11, S. 15 ff.
- 58 -
durch den allgemeinen öffentlichen Arbeitsnachweis. Zur Förde-
rung des interlokalen Ausgleiches wird ferner eine besondere, aus-
führlichere Vakanzliste für die landwirtschaftliche Arbeitsvermitt-
lung herausgegeben. Des weiteren bleiben der Landwirtschafts-
kammer alle Maßnahmen unbenommen, die sie im Interesse ihres
Arbeitsnachweises ergreifen will (Reklame usw.). Dabei ist jedoch
zu beachten, daß dieses Zusammengehen re<,^elmäßig nur statt-
findet bei einheimischem deutschen Personal, während die Vermitt-
lung ausländischer Arbeiter, wie auch von Verwaltern, Aufsehern,
Volontären usw. durch die Landwirtschaftskammer direkt erfolgt.
Durch die Vermittlung des einheimischen Personals für die Land-
wirtschaft über die einzelnen Arbeitsämter kommen diesem natur-
gemäß alle Vergünstigungen zugute, die die Arbeitsuchenden bei
den allgemeinen öffentlichen Arbeitsnachweisen überhaupt genießen,
also insbesondere auch die Fahrpreisermäßigung, und es erfolgt
ferner die Vermittlung für Arbeitnehmer wie -geber völlig kosten-
los, wofür der Landwirtschaftskammer als Entschädigung der am
Ende des vorhergehenden Abschnittes (A.) bereits erwähnte Staats-
zuschuß in Höhe von z. Z. 500 Mk. gewährt worden ist^).
Die neue Organisation ist am i. Januar 19 10 in Kraft ge-
treten, und es kann wohl gesagt werden, daß sich die Vermitt-
lungsziffern unter ihrem Einfluß nicht unwesentlich gesteigert haben:
1910 4357 Vermittlungen einschließlich 869 der Konstanzer Filialen^)
1911 4228 > > 733 > >
1912 4927 > » , 890 > > ;
insbesondere kommt aber m. E. für diese Steigerung auch die
rege Propaganda, die die Landwirtschaftskammer im landwirt-
schaftlichen Wochenblatt usw. gemacht hat, wie überhaupt ihr
vermehrtes Eintreten für die allgemeinen öffentlichen Arbeitsnach-
weise in Betracht, wodurch manches Widerstreben und manches
Vorurteil besiegt wurde. Auch die landwirtschaftliche Vakanzen-
liste, die derzeit zweimal wöchentlich, Montags und Mittwochs,
1) Mit der Zeit wird wohl auch dieser Staatszuschuß zu erhöhen sein. Dagegen
scheint mir der zunächst beanspruchte Staatszuschuß von 5000 M. viel zu hoch
gegriffen zu sein, und ist er m. E. mit Recht abgelehnt worden. Der Staatszu-
schuß wurde übrigens von dem Zusammengehen der Landwirtschaftskammer mit
den allgemeinen öffentlichen Arbeitsnachweisen abhängig gemacht.
2) Diese besonderen Konstanzer Vermittlungsziffern fehlen in der »Darstel-
lung der neueren Entwicklung der landwirtschaftlichen Arbeitsnachweise < im Reichs-
arbeitsblatt 191 3, S. 42 ff. insbesondere S. 122 ff. Der Fehler ist wohl ein unbe-
absichtigter.
- 59 —
hergestellt und an die badischen und an einige angrenzende außer-
badische Arbeitsämter versandt wird, hat sich im Interesse ver-
mehrter Vermittlung wohl bewährt. Endlich hat die badische
Landwirtschaftskammer, wie anläßlich der grundsätzlichen Erörte-
rung der Fahrpreisermäßigung" schon erwähnt wurde, den Ver-
mittlungsdienst weiter gefördert durch ein mit der badischen
Eisenbahnverwaltung getroffenes Abkommen, wonach bei Ge-
währung von P^ahrpreisermäßigung an landwirtschaftliche Arbeit-
nehmer durch den allgemeinen öffentlichen Arbeitsnachweis Gut-
scheine ausgestellt werden können, so daß also die einheimi-
schen, in landwirtschaftliche Stellen vermittelten Arbeiter zu-
nächst völlig freie Eisenbahnfahrt erhalten. Dabei ist zu bemerken,
daß der Ersatz dieser Fahrkosten wesentUchen Schwierigkeiten
nicht begegnet ist; die jährlichen Unkosten der Landwirtschafts-
kammer aus dieser Einrichtung belaufen sich nur auf 30 — 40 M.
Im Vergleich zu den Ergebnissen der gemeinsamen Arbeit
zwischen Landwirtschaftskammer und Verbandsanstalten hat er-
stere, wie ich der Vollständigkeit halber erwähnen möchte, im
Jahre 191 2 unmittelbar vermittelt 40 ausländische Arbeiter, ferner
37 Verwalter und Aufseher, sowie 53 Volontäre^); diese un-
mittelbare Vermittlungstätigkeit fällt also der mittelbaren gegen-
über ziffernmäßig nicht ins Gewicht.
Es mag dahingestellt bleiben, ob die neue Organisation der
landwirtschaftlichen Arbeitsvermittlung in Baden als etwas dauern-
des anzusehen ist, und ob sie insbesondere auch die für die
badische Landwirtschaft bestehende Leutenot zu beseitigen im-
stande sein wird. Denn das Problem des landwirtschaftlichen
Arbeitermangels liegt im Grunde tiefer, als daß es allein auf dem
Boden der Arbeitsmarktorganisation gelöst werden könnte ^). In-
dessen bedeutet zweifellos das Zusammengehen von Landwirt-
schaftskammer und öffentlichem Arbeitsnachweis, wie es jetzt
nach dem Vorgang Elsaß-Lothringens und Hessens auch im
Großherzogtum Baden statthat, einen organisatorischen Fort-
schritt, und eine weitere günstige Entwickelung ist wohl mit
Sicherheit zu erwarten.
i) Tätigkeitsbericht 1912, S. 22.
2) Vgl. bei Meyer, a. a. O., S. 143 fF., vgl. auch die Verhandlungen über
»Maßnahmen zur Bekämpfung der Arbeiternot auf dem Lande« auf dem V. deut-
schen Arbeitsnachweiskongreß, Schriften des Verbandes deutscher Arbeitsnachweise
Nr. 7, S. 40 ff.
— 6o —
Eine weitergehende Förderung der landwirtschaftlichen Ar-
beitsversore^ung, wenigstens was das männliche Personal an-
langt, wird m. E., wie insbesondere das l^cispiel der Konstanzer
l^^ilialen zeigt, aus allgemeiner Einführung von Wanderarbeits-
stätten im Großherzogtum zu erwarten sein, worauf sowohl der
letzte Geschäftsbericht des Verbandes hinweist '), wie auch in
sehr beachtenswerter Weise die von der badischen Landwirt-
schaftskammer gesammelten und im letzten Tätigkeitsbericht ver-
öffentlichten Vorschläge badischer Landwirte, indem diese zur
Behebung der Leutenot eine schärfere Ueberwachung des Bettels
für notwendig erachten ^). Wegen Erörterung der Frage der
Wanderarbeitsstätten muß ich indessen hier auf den zweiten
Hauptteil meiner Arbeit verweisen. Dage-gen ist m. E. für die
vermehrte Vermittlung von weiblichem Personal eine noch inten-
sivere Tätigkeit der allgemeinen öffentlichen Arbeitsnachweise
dringend geboten, deren weibliche Abteilung ja schon an anderer
Stelle als noch weiteren Ausbaus bedürftig bezeichnet werden
mußte (1912 nur 189 Vermittlungen!).
b) Der Arbeitsnachweis der Industrie Mannheim-
Ludwig s h a f e n.
Der Arbeitsnachweis der Industrie Mannheim-Ludwigshafen
ist seitens des Verbandes der Metallindustriellen Badens, der Pfalz
und angrenzenden Industriebezirke im Dezember 1907 zunächst
als P'achnachweis für die in Mannheim und Ludwigshafen an-
sässigen Mitglieder dieses Verbandes gegründet worden. Im
Jahre 1908 traten dann die ebenda ansässigen Mitglieder des
Allgemeinen Arbeitgeberverbandes Mannheim-Ludwigshafen dem
als eingetragenen Verein konstituierten Nachweise bei, so daß
dieser nicht nur die Metallindustrie, sondern weiter insbesondere
die chemische Industrie, Textilindustrie, Nahrungsmittelindustrie
und das Verkehrsgewerbe usw. umfaßte, also zum sogenannten
gemischten Arbeitgebernachweis wurde.
Als Entstehungsgrund des Nachweises wird im ersten Ge-
schäftsbericht ^) auf die Arbeitsnachweise der GewerkschaTten als
Kampfesorganisationen, sowie auf die mit der gewerbsmäßigen
i) Geschäftsbericht 19 12, S. 6, insbesondere Deckung des Saisonsbedarfs!
2) Tätigkeitsbericht 1912, S. 21.
3) Bericht über die Tätigkeit des Vereins Arbeitsnachweis der Industrie
Mannheim-Ludwigshafen 1908, S. i flf.
— 6i —
Stellenvermittlung und mit Inserat und Umschau verbundenen
Mißstände hingewiesen und hiermit das Bedürfnis nach Errich-
tung eines besonderen Arbeitsnachweises für die Unternehmer
begründet; indessen ist es wohl zweifellos, daß auch dieser Ar-
beitgebernachweis im Zusammenhang der gesamten Arbeitergeber-
organisation als Abwehrmaßnahme gegen die erstarkende Ar-
beiterbewegung gegründet worden ist.
Seine Benützung wurde mit Rücksicht auf diesen Kampf-
zweck auch als grundsätzlich obligatorisch den Vereins-
mitgliedern vorgeschrieben, »denn — wie es im ersten Geschäfts-
bericht heißt — wenn man den Arbeitsmarkt beherrschen, An-
gebot und Nachfrage regulieren will, so ist die obligatorische
Benützung des A.rbeitsnachweises die erste Vorbedingung dazu«.
Allein von diesem sogenannten Obligatorium mußten von vorn-
herein Ausnahmen vorgesehen werden ; den Vereinsmit^liedern
blieb überlassen, einmal Lehrlinge, deren Väter, Mütter und Ge-
schwister in ihren Betrieben beschäftigt waren, und sodann ganz
allgemein ihre Arbeiterinnen selbst einzustellen ; jedoch waren sie
verpflichtet, dem Arbeitsnachweis von derartigen Einstellungen
Mitteilung zu machen. Diese prinzipielle Beschränkung des so-
genannten Obligatoriums bei einem Arbeitgebernachweis, der sich,
wie gesagt, die Aufgabe stellt, den Arbeitsmarkt zu regulieren,
scheint in hohem Grade beachtenswert und ein Fingerzeig dafür
zu sein, daß, ganz allgemein betrachtet, das sogenannte Obliga-
torium bei jedem Arbeitsnachweis besonderen Schwierigkeiten
begegnen muß, worauf an anderer Stelle noch zurückzukommen
sein wird. Aber auch in der Beschränkung auf männliche Ar-
beiter scheint dem Arbeitsnachweis Mannheim-Ludwigshafen die
Durchführung des Obligatoriums nicht leicht geworden zu sein,
denn er hat in jedem seiner bisherigen Geschäftsberichte Anlaß
genommen, seine Mitglieder immer erneut auf seine bewährten
Geschäftsgrundsätze hinzuweisen.
Im übrigen ist der Nachweis, wie im ersten Geschäftsberichte
kurz gesagt ^), nach dem Hamburger System eingerichtet worden,
i) a. a. O. S. I. Ueber das Hamburger System im Gegensatz zum Berliner
System vgl. amtliche Denkschrift, S. 104 flf., Meyer a. a. O, S. 96 ff. ; versteht
man unter Berliner System lediglich die Kontrolle der Einstellungen, wobei Um-
schau gestattet bleibt, unter Hamburger System dagegen die Einstellung in den
einzelnen Betrieb gewissermaßen durch den Nachweis selbst, so kann wohl gesagt
werden, daß der Mannheimer Nachweis sein Hamburger Vorbild noch nicht er-
reicht hat.
— 62 —
d. h. er schließt sich in seiner Geschäftsführung grundsätzlich
den Einrichtungen des Arbeitsnachweises des Verbandes der Eisen-
industrie Hamburg an. Seine Benützung ist darnach kostenlos,
jedoch muß der Arbeitsuchende sich vor der Vermittlung ge-
nügend legitimieren.
Vermittelt wird auf Grund von Listen') nach dem Gesichts-
punkt der Auswahl, d. h. nicht nach Reihenfolge der Meldungen,
sondern in dem Bestreben, den geeigneten Mann in die geeignete
Stelle zu bringen, wogegen, wie schon bei Erörterung der gleichen
Praxis der allgemeinen öffentlichen Arbeitsnachweise ausgeführt,
nichts zu sagen ist, sofern regelmäßig unter den gleich tüchtigen
die verheirateten, unter diesen wieder die am längsten gemeldeten
und die ortsansässigen vor auswärtigen berücksichtigt werden.
Allerdings kann dieser Grundsatz der :» Auswahl der Besten« zu be-
sonderen Härten gegenüber den minderbefähigten und insbesondere
den älteren Arbeitern führen, und ich habe schon anläßlich der
Erörterung der Vermittlung INIinderqualifizierter durch die allge-
meinen öffentlichen Arbeitsnachweise ausgeführt, daß das Brach-
liegenlassen derartiger Arbeitskräfte m. E. eine größere Minderung
des Volkseinkommens bedeutet, als das in Arbeitstellen dieser
Kräfte, selbst bei natürlich geringeren Löhnen. Auch bei dem
Mannheimer Industrienachweis steht es zunächst dem Arbeitgeber
wie Arbeitnehmer frei, den zugewiesenen Arbeiter einzustellen
bez. in die nachgewiesene Arbeit zu treten ; ein Arbeitnehmer
jedoch, der, obwohl eingestellt, seine Arbeitsstelle nicht antritt,
wird grundsätzlich auf 2 Wochen ausgesperrt. Im übrigen er-
folgt aber auch bei dem Industrienachweis eine Aussperrung,
von allgemeinen Lohnstreitigkeiten abgesehen, nur auf Beschluß
des Vorstandes und nur wegen Roheitsdelikten usw., sowie groben
Verstößen gegen die Hausordnung, und dieser Beschluß wird erst
gefaßt, nachdem der Arbeiter gehört worden ist, und es wird
diesem dann von der Sperre schriftliche Mitteilung gemacht. Ferner
ist jedem Arbeitnehmer Gelegenheit geboten, Klagen über die
Geschäftsführung des Arbeitsnachweises sowohl bei dem Geschäfts-
führer selbst, wie auch bei den Mitgliedern einer besonderen
Beschwerdekommission anzubringen, von welcher Möglichkeit aller-
dings nur in seltenen Fällen Gebrauch gemacht worden ist. Häu-
figer sind Klagen direkt an das Oberbürgermeisteramt Mannheim
i) Vgl. Kessler a. a. O., S. 139.
- 63 -
gerichtet worden. Zu beachten ist hierbei, daß sowohl im Vor-
stand wie in der Beschwerdekommission Arbeitervertreter nicht
beisitzen').
Nach den von dem Nachweis in seinen Geschäftsberichten
gegebenen Zahlen hat sich seine Vermittlungstätigkeit
ständig vermehrt, und sie ist insbesondere noch dadurch gesteigert
worden, daß der Nachweis im April 1910 eine besondere Filiale
in Ludwigshafen errichtet hat. Im Jahre 191 2 belief sich die Zahl
der Eingestellten insgesamt auf 28623 gegenüber 15 312 im Jahre
1908. Im Vergleich hierzu betrug die Zahl der Einstellungen bei
dem allgemeinen öffentlichen Arbeitsnachweis in Mannheim (ge-
gründet 1893) nur 5647, und selbst, wenn man von obiger Ge-
samtzahl für den Industrienachweis die Einstellungen der Filiale
Ludwigshafen abzieht, bleibt immer noch die sehr erhebliche Zahl
von 2 1 500 übrig. Diese letztere Zahl möchte ich aber gegenüber
der allgemeinen Kritik Kesslers ^) an der Statistik der Arbeitgeber-
nachweise für zutreffend halten, umsomehr als jetzt die Buchfüh-
rung der Kontrolle der staatlichen Behörden untersteht.
Nach einzelnen B e r u f s g r u p p e n der Vermittlung — im
Jahre 19 12 hat der Nachweis keine weiblichen Arbeiter selbst ver-
mittelt — geordnet, steht die Metallindustrie mit 11 631 Einstel-
lungen an der Spitze, es folgen dann die chemische Industrie, die
Holzindustrie, das Verkehrsgewerbe usw., und endlich auch das
1) Neben den dem Vermittlungsdienst unmittelbar dienenden Schalterbüchern
besitzt der Arbeitsnachweis der Industrie Mannheim-Ludwigshafen wie die meisten
anderen Arbeitgebernachweise auch eine sog. Kartenregistratur, in die indessen
nur Vor- und Zuname, Beruf, Geburtsdatum und -ort, sowie Einstellungen und
Entlassungen des Arbeiters vorgetragen werden und die zum Vermittlungsdienst
zunächst gar nicht benutzt werden soll, sie soll vielmehr lediglich .statistischen
Zwecken, und der »Ermöglichung rascher Feststellung in Beschwerdefällen* dienen.
Unter diesen Umständen stehe ich nicht an, die Kartenregistratur für einen ver-
mittlungstechnischen Fortschritt zu erklären, vgl. Kessler a. a. O., S. 149. Auch
eine sog. schwarze Liste führt der Arbeitsnachweis noch, in die indessen nur die
Ziffern der Firma, die den Arbeiter nicht mehr zugewiesen erhalten will, nicht da-
gegen mehr der Grund hierfür eingetragen wird; das »V. d. M.* mit der ominiösen
Bemerkung »z. K.« (zu Keinem) besteht nicht mehr. Vgl. Beilage 32 a zum Pro-
tokoll der Sitzung der 2. badischen Kammer vom 13. Juli 1910 sowie Verhand-
lungen in der Sitzung von 15. Juli 1910, amtlicher Bericht S. 2781 ff. Dafür, daß
»Kinderkrankheiten« beim Nachweis nicht mehr vorkommen, dürfte auch die Unter-
stellung unter strengere behördliche Aufsicht seitens Badens uud Bayerns durch die
Vollzugsverordnungen zum Stellenvermittlergesetz gesorgt haben.
2) a. a. O. S. 92/93.
- 64 -
Handwerk mit 273 Einstellungen, wobei allerding^s gesagt werden
mag, daß für das Handwerk die Vermittlungen im Rückgang be-
griffen zu sein scheinen (191 1: 436, 1910: 623 Vermittlungen).
Lehrlinge wurden im Jahre 191 2 insbesondere als Maschinen-
schlosser und Eisendreher insgesamt 121 vermittelt.
Auch die inte r lokale Vermittlung scheint von dem
Industrienachweis mit Erfolg gepflegt zu werden, und es heben die
Geschäftsberichte in dieser Beziehung insbesondere den Verkehr
mit den Arbeitsnachweisen des Gesamtverbandes deutscher Metall-
industrieller, wie überhaupt des Verbandes deutscher Arbeitgeber-
verbände hervor. Dabei mußte allerdings den Arbeitnehmern das
Aufsuchen der mitgeteilten Vakanzen selbst überlassen werden.
Was umgekehrt das Heranziehen fremder Arbeitskräfte nach Mann-
heim-Ludwigshafen betrifft, so möchte ich im Hinblick darauf,
daß von den oben angegebenen insgesamt 28623 Eingestellten
nur 3509 Fremde waren, hier feststellen, daß diese Zahl nicht
wohl als irgendw^ie auffällig hoch erscheinen kann.
Endlich gibt der Arbeitsnachweis Mannheim-Ludwigshafen in
seinen Geschäftsberichten noch eine sehr beachtenswerte Stati-
stik der Eingestellten nach Altersklassen. Darnach
gliederten sich im Jahre 191 2 die Eingestellten nach Lebensjahren
wie foliJt:
Unter 21 Jahren
36,5%
von 21 bis 30 Jahren
46,7%
> 31 » 40 »
20,0 0/0
> 41 » 50 >
5.5%
> 51 j. 60 »
1,0%
über 61 Jahre
0,3 %•
Müßte man in diesen Gliederungszahlen, die eine auffällige
Bevorzugung der jüngeren Altersklassen bis zu 30 Jahren zeigen,
(73,2 Proz.) allein das Produkt der »Auslese der Besten« sehen,
so wäre diese Erscheinung nicht unbedenklich, allein es spielen
hier auch noch andere Gründe (Tarifverträge usw.) mit herein,
und schließlich ist es ja nicht der Nachweis, sondern der Unter-
nehmer, der den Arbeiter einstellt.
Prägt man zum Schluß, wieweit es dem Indüstrienachweis
tatsächlich gelungen ist, den Mannheimer Arbeitsmarkt zu be-
herrschen, ihn zu regulieren, so kann jedenfalls die in den letzten
Jahren auf dem Mannheimer Arbeitsmarkt herrschende Ruhe nicht
ohne weiteres auf seine Rechnung gestellt werden. Immerhin ist
es aber zweifellos, daß der Industrienachweis auf dem IVIann-
- 65 -
heimer Arbeitsmarkt eine überragende Stellung einnimmt, die
ihm zurzeit auch in keiner Weise von dem aligemeinen öffentlichen
Arbeitsnachweis in Mannheim streitig gemacht wird, von den an-
deren Nachweiseinrichtungen ganz abgesehen. Es war deshalb
wohl verständlich und beinahe vorauszusehen, daß der Industrie-
arbeitsnachweis das anfangs des Jahres 1911 an ihn gestellte
»Ansinnen«, sich zugunsten des neu organisierten städtischen
Arbeitsamtes aufzulösen, ablehnen würde ^), und es kann m. E.
der Stadt Mannheim wenigstens von selten des Außenstehenden
hier nicht der Vorwurf erspart werden, zu spät eingegriffen zu
haben; vielleicht wäre, was 191 1 unmöglich, noch 1906 oder 1907
zu erreichen möglich gewesen ? Ueber kurz oder lang wird in-
dessen der Wettkampf zwischen dem Industrienachweis und dem
allgemeinen öffentlichen Arbeitsnachweis in Mannheim doch schär-
fere Formen annehmen müssen, und ich denke mir diesen wei-
teren Kampf so, daß sich der allgemeine Nachweis zunächst alle
übrigen noch besiehenden Arbeitsnachweiseinrichtungen anglie-
dern wird, um dann in geschlossener Front dem Arbeitsnachweis
der Industrie gegenüberzustehen. Indessen kann m. E. dieser
Wettkampf nur allmählich und mit der wirtschaftlichen Waffe der
besseren Organisation ausgetragen werden, wenn nicht die ge-
werbtreibenden Dritten Schaden erleiden sollen^).
c) Die Arbeitsvermittlung der handwerklichen
Organisationen.
Bei der vom Kaiserlichen Statistischen Amt anfangs 1905
veranstalteten Erhebung über die Wirkungen des sog. Hand-
werkergesetzes (Novelle zur Reichsgewerbeordnung vom 26. Juli
1897) wurden im Großherzogtum Baden Ende 1904 insgesamt
82 Innungen ermittelt, welche Zahl nach den Zusammenstellungen
der Landesstatistik ^), die auf Angaben der Handwerkskammer
sich gründet, bis Ende 191 2 nur um 4, also auf 86 Innungen,
sich erhöhte. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit kann ich na-
türlich auf die Lage des badischen Handwerks im allgemeinen und
i) Vgl. Tätigkeitsbericht 191 1, S. 5.
2) Beachtenswert in dieser Beziehung erscheint mir, daß der Geschäftsführer
der Vereinigung deutscher Arbeitgeberverbände seinerzeit auf dem 7. Deutschen
Arbeitsnachweiskongreß Hamburg 1912 es bemängelt, daß einseitig nur den all-
gemeinen öffentlichen Nachweisen die Fahrpreisermäßigung zustehe! Schriften des
Verbandes deutscher Arbeitsnachweise Nr. 11, S. 188.
3) Statistisches Jahrbuch für das Großherzogtum Baden 1913, S. 137.
Zeitschrift für die ges. Staatswissensch. Ergänzungsheft 52. C
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auf die Gründe der jreringen Entwicklung seiner weiteren Orga-
nisation insbesondere nicht näher eingehen. Dagegen glaube ich
für den Zweck meiner folgenden Betrachtungen hier feststellen
zu sollen, daß die Weiterentwicklung der handwerklichen Selbst-
verwaltung in Baden jedenfalls eine so langsame ist, daß auch
heute noch für den Gegenstand meiner Untersuchungen, d. h. für
die Organisation der handwerklichen Arbeitsvermittlung, sehr
wohl die Ergebnisse der eingangs erwähnten Erhebung, soweit
neuere Zahlen nicht verfügbar sind, zugrunde gelegt werden
können.
Nach der Reichserhebung hatten nun nur 20 badische In-
nungen eigene Arbeitsnachweisstellen eingerichtet, und es waren
weiter nur bei 13 Innungen die Gesellen an deren Verwaltung
beteiligt, wodurch sich m. E. der Arbeitgebercharakter der In-
nungsnachweise auch für Baden deutlich dokumentiert. Von
diesen Innungsnachweisstellen wurden im Jahre 1904 3306 Ar-
beitsuchende vermittelt, während im ganzen 5375 Personen um
Arbeit vorsprachen und von den Nichtvermittelten 2069 insge-
samt 15 16 Reiseunterstützung erhielten. Nach der seit 1905 ein-
geführten Berichterstattung der Innungen zur Reichsarbeitsmarkt-
statistik wurden dagegen für 19 12 seitens 13 badischer Innungen
im ganzen 3957 Vermittlungen gemeldet, so daß man an sich
bei der abnehmenden Zahl der Nachweisstellen auf eine wesent-
lich erhöhte Vermittlungstätigkeit schließen könnte. Dem steht
aber der Gesichtspunkt der größeren Genauigkeit der Statistik
seit Vollzug des Stellenvermittlergesetzes entgegen, ganz abge-
sehen davon, daß sich unter diesen Vermittlungen erfahrungsge-
mäß sehr viele sog. Aushilfsstellen befinden. Der Grund für das
Zurückgehen der Innungsnachweise der Zahl nach liegt dabei,
wie hier schon vorweg bemerkt werden mag, hauptsächlich in
der Angliederung der Nachweisstellen an die allgemeinen öffent-
lichen Arbeitsnachweise ; hatten doch nach der Reichserhebung
schon 1904 36 (44%) der badischen Innungen ihre Vermittlungs-
tätigkeit an die gemeindlichen Arbeitsämter angeschlossen. Im
übrigen verteilen sich die für 1912 gemeldeten Vermittlungen
mit 1933 Stellen auf die Bäckerinnungen, mit 1 148 auf die Bar-
bier-, Friseur- und Pcrückenm.acher-, mit 691 auf die ]\Ietzger-
und mit nur 185 Stellen auf die Wirte-Innungen. Es zeigt aus-
weislich der Berichterstattung seit 1905 die Zahl allein der Ver-
mittlungen der Barbier- usw. Innungen steigende Tendenz, wäh-
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rend die Vermittlungen bei den Metzger- und Wirte-Innungen
stagnieren und die der Bäckerinnungen erheblich zurückgehen.
Ich möchte diese Entwicklungserscheinungen kurz benützen,
um auch hier, wie bei den vorbehandelten Arbeitgebernachweisen,
einiges über den Einfluß der Innungsnachweise auf
die Deckung des Bedarfs in den einzelnen Handwerks-
zweigen zu sagen.
Das Bäckergewerbe hat sich im allgemeinen auch in
den größeren Städten Badens noch den kleingewerblichen Cha-
rakter bewahrt; deshalb finden wir auch 1905 in den Städten
Mannheim, Karlsruhe, Freiburg und Heidelberg noch größere
Vermittlungsergebnisse. Diese gehen nun in den folgenden Jah-
ren dauernd zurück; trotzdem wollen die Klagen der Innungen
über Arbeitermangel nicht verstummen. Sie werden sogar immer
lauter, und es herrscht auf dem flachen Lande geradezu Leute-
not ^). Gleichwohl werden Maßnahmen der Innungen, die diesen
Mangel durch Verbesserungen der eigenen Arbeitsnachweise wirk-
sam zu bekämpfen suchen, nicht bekannt, sie müssen daher wohl
als aussichtslos betrachtet worden sein.
Auch für die Metzger und Wirte glaube ich nach den
mitgeteilten Ergebnissen eine gewisse Bedeutungslosigkeit der
eigenen Innungsnachweise behaupten zu können, w^obei noch zu
berücksichtigen ist, daß einmal im Metzgereigewerbe der sich
unverkennbar zeigende Zug zum Groß- und arbeitssparenden Ma-
schinenbetrieb neben anderen Faktoren die Vermittlungsergeb-
nisse ungünstig beeinflußt haben mag. Ferner ist beim Wirts-
gewerbe der Wettbewerb der andern Nachweiseinrichtungen be-
sonders stark (191 2 berichtete nur mehr ein Wirte- Innungsnach-
weis zur Arbeitsmarktstatistik).
Gegenüber den genannten Gewerben besteht nun nur für das
der Barbiere usw. in Baden im allgemeinen noch eine bessere
Konjunktur, allein wenn hier im Zusammenhange damit die Ver-
mittlungsergebnisse steigende Tendenz zeigen, so ist zugleich zu
beachten, daß der Innungsnachweis der Barbiere usw. besonders
gut organisiert ist; wird doch hier sogar eine interlokale Ver-
mittlung in gewissen allerdings engen Grenzen gepflegt! Trotz-
dem herrscht auch im Barbier- usw. Gewerbe ein Mangel an
i) Vgl. Geschäftsberichte der Handwerkskammern Mannheim 1904/5, S. 115,
Karlsruhe 1907/8, S. 139 und Karlsruhe 1905/6, S. 142.
5*
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tüchtigen Gesellen \), so daß auch hier wohl der Schluß gezogen
werden muß, daß der eigene Innungsnachweis nicht vermocht hat,
die Verhältnisse zu verbessern.
^lit diesem Versagen — um es beim richtigen Namen zu
nennen — der Innungsnachweise hängt m. E. auch die zurück-
haltende Stellungnahme zusammen, die die zur Förderung des
Handwerks eingerichteten weiteren Organisationen, also insbe-
sondere die badischen Handwerkskammern, den Innungs-
nachweiseinrichtungen gegenüber beobachtet haben. Die badi-
schen Handwerkskammern sind vielmehr alsbald dazu überge-
gangen, den Wert der allgemeinen öffentlichen Nachweise auch für
die Mitglieder der Innungen anzuerkennen.
Anläßlich des ii. deutschen Handwerks- und Gewerbekam-
mertages 1910 in Stuttgart hat der Vorsitzende der Freiburger
Kammer gegenüber der sog. Magdeburger Resolution,
die den norddeutschen Standpunkt eigener Arbeitsnachweise zum
Ausdruck brachte, ausgeführt, daß in Baden die allgemeinen öffent-
lichen Arbeitsnachweise sich nicht nur bewährt hätten, sondern
auch die Bedürfnisse des Handwerks entsprechend befriedigen,
es liege also eine Veranlassung zum Abrücken von diesen be-
währten Einrichtungen nicht vor, man würde vielmehr in Baden
die allgemeinen öffentlichen Arbeitsnachweise unterstützen^). Diese
Unterstützung hat sich dann darin gezeigt, daß immer mehr In-
nungsnachweise an die allgemeinen öffentlichen Arbeitsnachweise
angeschlossen wurden.
In welcher Weise aber in Baden insbesondere die Frage der
Lehrlingsvermittlung im Zusammengehen der Hand-
werkskammern mit den allgemeinen öffentlichen Arbeitsnachweisen
gelöst worden ist, habe ich schon oben anläßlich der Erörterung
der bezüglichen Vermittlungstätigkeit dieser Arbeitsnachweise zur
Darstellung gebracht und bringen können ; denn eine eigene
Lehrlingsvermittlung seitens der badischen Handwerkskammer
besteht heute eigentlich nicht mehr.
Im Zusammenhang mit dieser Stellungnahme der badischen
Handwerkskammern zu den allgemeinen öffentlichen Arbeitsnach-
weisen möchte ich hier als charakteristisch für das badische
1) Vgl. Jahresbericht der Handwerkskammer Karlsruhe 1904/05, S. 24.
2) Vgl. Geschäftsbericht der Handwerkskammer Freiburg 1910/II, S. 108/9
an anderer Stelle dieses Geschäftsberichtes (S. 55) bezeichnet dieselbe Kammer
die Errichtung besonderer Handwerkernachweise geradezu als Luxus!
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Handwerk noch erwähnen, daß im Jahre 1903 der Verband
badischer Gewerbevereine an den allgemeinen öffent-
lichen Arbeitsnachweis Karlsruhe mit dem Plan herantrat, im
Landesverband für die hier vereinigten Gewerbe einen besonde-
ren Arbeitsnachweis zu errichten, und hierüber um Rat und Aus-
kunft bat. Der Karlsruher Arbeitsnachweis hat sich nach bestem
Wissen und Ueberzeugen damals gegen diesen Plan ausgespro-
chen, und die Begründung eines besonderen Arbeitsnachweises
im Landesverband ist dann zugunsten des allgemeinen öffentlichen
Arbeitsnachweises auch unterblieben !
]\Iit den Arbeitsvermittlungseinrichtungen der Innungen steht
in einem gewissen organischen Zusammenhange seit altersher das
Herbergswesen. Doch besaßen nach der Reichserhebung
1904 von den 82 badischen Innungen nur mehr i eine eigene Her-
berge, während 13 Innungen sonstige Herbergen benutzten, wo-
für aber nur 3 geringe Beiträge entrichteten ; 3 weitere Innungen
hatten für die Beherbergung ihrer Gewerksgenossen Abkommen
mit Gastwirten getroffen. Das war alles, und wie die Arbeits-
nachweiseinrichtungen keine Fortschritte gemacht haben, so ist
auch im wesentlichen das eigene Herbergswesen nicht weiter aus-
gebaut worden; an seine Stelle sind, wie schon die Ergebnisse
der Reichserhebung erkennen lassen, andere Einrichtungen zu
treten berufen, Herbergen zur Heimat, Naturalverpflegungsstationen,
und in Zukunft wohl auch die Wanderarbeitsstätten.
Was iiun die Vermittlungstechnik der Innungsnach-
weise betrifft, so hat bekanntlich auf Grund des Handwerkerge-
setzes das Reichsamt des Innern ein neues Normalinnungsstatut
ausgearbeitet. Auf Grund dieses Statuts hat der Zentralaus-
schuß der deutschen Innungen versucht, eine einheitliche Rege-
lung der Arbeitsvermittlung herbeizuführen. Darnach wurde vor-
gesehen, überall Geschäftsstellen für Arbeitsnachweis zu errichten,
wo die Gesellen sich melden und gegebenfalls legitimieren soll-
ten, und wo auch die offenen Stellen seitens der Meister gemeldet
werden sollten. War ein Geselle eingestellt worden, so oblag dem
Meister wiederum die Pflicht, dieses zur Gesellenrolle anzuzeigen.
Die Bekanntgabe der offenen Stellen sollte dabei entweder durch
Anschreiben an eine Tafel oder durch den Herbergsvater oder
durch den sog. Sprechmeister geschehen, der in letzterem Falle
die Zuweisungen möglichst nach der Reihenfolge der Anmel-
dungen betätigen sollte, damit niemand bevorzugt oder benach-
— yo —
teiligt werden könnte. Wir hätten iiicr also sowohl den a 1 1-
gemeinen Meldezwang wie das sogen. N u m m e r n-
System, aber auch das sog. Obligatorium ist von ein-
zelnen Statuten für den Meister übernommen worden. Wird eine
Stelle nicht vermittelt, so hat der Geselle gegebenenfalls Anspruch
auf das Innungsgeschenk.
Allein eine solche Vereinheitlichung und genaue Regelung
des Nachweis- und Herbergswesens ist in Deutschland nur in
einigen Gewerben und dann nur bei den größeren Innungen zur
Durchführung gelangt^), und in Baden wie überhaupt in Süd-
deutschland ist eine weitergehende Verbesserung der Technik der
Innungsnachweiseinrichtungen im allgemeinen nicht erreicht worden.
Am weitesten vorgeschritten scheinen mir noch die Nachweis-
einrichtungen der Bäckerinnung in Freiburg im Breisgau zu sein,
wo ein besonderes Innungshaus besteht und die Vermittlung für
diese Innung durch sog. Sprechmeister erfolgt. In anderen Orten
erfolgt die Vermittlung durch den Herbergsvater, d. h. also durch
den Hausvater der Herberge zur Heimat. Ich werde auf diese
Art der Vermittlungstechnik in dem Abschnitt über charitative
Arbeitsvermittlung, wo die Herbergen zur Heimat zur Erörterung
stehen, noch näher einzugehen haben. Eine andere Art der Ver-
mittlung von Gesellen ist die durch Gastwirte, wobei allerdings
bei einzelnen Gewerben, wie z. B. bei der Brauerei-Innung zu
Karlsruhe, diese Art der Vermittlung eine mildere Beurteilung
verdient, weil das Gewerbe mit dem Gastwirtschaftsbetrieb in
engeren Beziehungen steht. Eine Vermittlung im Geschäftslokal
findet weiter statt z. B. bei der Friseurinnung in Karlsruhe, bei
welcher Innung sich auch Meldezwang und Obligatorium findet.
Eine ganz besondere Art der Vermittlung war endlich die durch
den Geschäftsführer der Innungskrankenkasse der Baugewerke-
innung Karlsruhe, die sich indessen — ähnlich wie die noch zu
erwähnende Vermittlung der Ortskrankenkasse der weiblichen
Dienstboten in Mannheim — m. E. mit Recht — einer gewissen
Unbeliebtheit bei den Gesellen erfreut; denn Krankenkasse und
Arbeitsvermittlung haben eigentlich nichts miteinander zu tun.
Die m. E. rückständige Technik der Innungsvermittlung hat
natürlich auch ihrerseits die Erfolge der Vermittlungs-
tätigkeit beeinträchtigt, obwohl man wohl besser umgekehrt
i) Vgl. Meyer a. a. O. S. 115, Amtliche Denkschrift S. 1 1 1 fif., Eckert, Der
moderne Arbeitsnachweis 1902, S. 51 ff.
J
— 71 —
sagt, daß die Technik eben eine so schlechte ist, weil die Be-
deutung der Innungsnachweise ständig zurückgeht. So möchte
denn auch ich hier für Baden dem Urteil der amtlichen Denk-
schrift ^) über die Innungsnachweise beipflichten, daß dieser Zweig
der Arbeitsvermittlung im allgemeinen in primitiven Formen ohne
Ausbildung eines bestimmten Geschäftsverfahrens sich bewegt
und einer gesonderten Weiterentwicklung wohl nicht als fähig
erscheint.
Das Beispiel zeigt, daß gerade die Innungsnachweise bei
gutem Willen leicht dem allgemeinen öffentlichen Arbeitsnach-
weis angegliedert werden können, auch unter Erhaltung alt-
hergebrachter Einrichtungen, wie z. B. des Reisegeschenkes. Für
diesen allgemeinen Anschluß möchte ich auch hier wenigstens für
die badischen Verhältnisse eintreten und zum Schluß noch darauf
hinweisen, daß damit auch die volle Unentgeltlichkeit der Ver-
mittlung für alle Beteiligten erreicht werden würde, die bisher
bei den Innungsnachweisen noch nicht überall besteht.
2. Die Arbeitnehmernachweise.
Die Nachweiseinrichtungen der Arbeitnehmer, denen ich mich
nunmehr zuwende, scheiden sich deutlich in 2 Gruppen, je
nachdem die Arbeitnehmer vorzugsweise den Berufszweigen I n-
dustrie und Gewerbe oder Handel und Verkehr
angehören.
Dabei sind die Nachweiseinrichtungen für letztere wesent-
lich älter als die der ersteren, entsprechend der Zeit der Ver-
bandsgründungen, die bekanntlich im Handel aus hier nicht zu
erörternden Gründen viel früher erfolgten, als bei den gewerb-
lichen Arbeitern^).
Allein nicht nur nach Entstehungszeiten und Berufszweigen
scheiden sich die beiden Gruppen, sondern wesentlich auch nach
ihrer Stellungnahme zu den allgemeinen öffent-
lichen Arbeitsnachweisen, was im Hinblick auf die
weitere Zentralisation insbesondere für die süddeutschen und ba-
dischen Verhältnisse, wo die kommunalen Arbeitsämter am wei-
testen entwickelt sind, von besonderer Wichtigkeit ist und daher
hervorgehoben werden muß. Während die Gewerkschaften jeder
Art sich den allgemeinen öffentlichen — paritätischen — Ar-
1) Amtliche Denkschrift S. I2i.
2) Vgl. Meyer a. a. O., S. 125 ff.
beitsnachweisen unverkennbar nähern'), scheint sicli für den Handel,
je schärfer hier der Gegensatz zwischen l'rinzii)al und Gehilfen
wird, eine entgegengesetzte Bewegung anl)ahnen zu wollen, von
der nur zu hoffen ist, daß sie sich bald wieder wie bei den Ge-
werkschaften wende.
Im übrigen sind die als Träger (der Arbeitnehmer-
nachweise) erscheinenden Berufsverbände regelmäßig interlokale
Reichsverbände und daher die Erörterung ihrer Nachweiseinrich-
tungen für den Bereich des Großherzogtums unter dem Gesichts-
punkt, daß hier doch nur die besonderen badischen Verhältnisse
betrachtet werden sollen, außerordentlich erschwert, zumal bei
ihnen nur ausnahmsweise die speziell badischen Vermittlungs-
ergebnisse angegeben werden können^). Diesen Reichsverbänden
gegenüber erscheinen aber die wenigen im Großherzogtum be-
stehenden lokalen Verbände mit Arbeitsnachweiseinrichtungen von
so unbedeutender Art, daß ich hier davon absehen möchte, sie
aufzuzählen ^).
Ich möchte mich deshalb hier im wesentlichen auf die Er-
örterung der V e r m i 1 1 1 u n g s t e c h n i k beschränken und fest-
stellen, daß abgesehen von den Berufsvereinen, die eine Arbeits-
losenunterstützung irgendwelcher Art gewähren, die Vermittlung
bei den in Baden bestehenden lokalen Verwaltungsstellen der großen
Verbände trotz gewollter Straffheit eine außerordentlich einfache,
um nicht zu sagen, ganz formlose ist. Ein Ve rtrauensmann
nimmt zu gewissen Stunden (abends) die Arbeitsgesuche ent-
gegen und ebenso Meldungen offener Stellen, die, da die Arbeit-
geber sich grundsätzlich fernhalten, von Mitgliedern überbracht
werden. Er sucht dann so gut es geht zu vermitteln, wobei
manchmal natürlich, aus besonderen, außerhalb der Vermittlungs-
technik liegenden Gründen, die Ergebnisse gar nicht so schlecht
sind. Technisch etwas höher stehen die Vermittlungseinrich-
tungen bei den Nachweis stellen (Zahlstellen) der Ver-
bände, die Arbeitslosenunterstützung gewähren, z. B. des Metall-
arbeiterverbandes. Ihre Vermittlungsergebnisse sind grundsätzlich
größere. Dagegen zeigt sich bei den Arbeitnehmernachweisen
eine ins Gewicht fallende interlokale Vermittlungstätigkeit nur bei
1) Vgl. Reichsarbeitsblatt 191 2, S. 906 ff.
2) Vgl. Reichsarbeitsblatt 191 2, S. 907.
3) Z. B. Lithographenverein Lahr (1912 1 Vermittlung), Schifferverein Mann-
heim (14 Vermittlungen), Kaufmännischer Verein Lätitia Freiburg (6 Vermittlungen).
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den größeren Berufsverbänden in Handel und verwandten Be-
rufszweigen (Technikerverbände), wobei die Verwendung schrift-
licher Offertenschreiben und die öffentliche Bekanntgabe von
Vakanzen (Korrespondenzblatt des Buchhändlerbörsenvereins) eine
wesentliche und hier typische Rolle spielt.
Alles in allem kann wohl gesagt werden, daß die Vermitt-
lungsergebnisse der Arbeitnehmernachweise, auch soweit das Groß-
herzogtum Baden in Betracht kommt, nicht so unerhebliche sind,
wie man vielleicht bei flüchtiger Betrachtung und mangels be-
stimmter vorliegender Vermittlungszahlen anzunehmen geneigt ist.
Den allgemeinen öffentlichen Arbeitsnachweisen eröffnet sich hier
noch ein Tätigkeitsfeld, das, soweit die gelernten gewerblichen
Arbeiter in Betracht kommen, wie oben ausgeführt, mit Erfolg
bereits teilweise gewonnen ist, während es den sich ablehnend
verhaltenden Berufskreisen des Handels usw. gegenüber vielleicht
mit Hilfe der Handelskammern und mittelst Bildung von beson-
deren Fachabteilungen gelingen dürfte, weiteren Boden zu ge-
winnen ^). Diesen Weg scheint auch der Verband besonders för-
dern zu wollen.
Anfügen möchte ich endlich, daß die Zahlen der Vermitt-
lungserfolge insbesondere bei den größeren Arbeitnehmerverbänden
auch in einem gewissen Verhältnis zu den hierfür aufgewendeten
Mitteln stehen, daß aber andererseits namentlich im Handel
die Durchschnittskosten einer Vermittlung oft recht hohe sind
(beim Deutsch-Nationalen Handlungsgehilfenverband 1908 3oMark);
treffend bemerkt Meyer ^) hierzu, daß die Möglichkeit, so hohe
Beträge aufzuwenden, sich vielfach nur aus der Teilnehmerschaft
der Prinzipale bei letzteren Verbänden erklärt, und von diesen
wollen sich jetzt die Arbeitnehmer im Handel abwenden !
3. Die paritätischen Facharbeitsnachweise ^).
Auch die paritätischen Facharbeitsnachweise betätigen sich,
wie gesagt, nur im Interesse bestimmter Berufszweige und stehen
daher insofern ebenfalls im Gegensatz zu den allgemeinen öffent-
lichen Arbeitsnachweisen, obschon sie durch die ausgesprochene
Parität der Verwaltung mit diesen näher verwandt sind und ge-
1) Beispiel die Freiburger Handelskammer im Jahresbericht 1907, S. 109,
191 2, S. 28, und die Fachabteilung des Arbeitsamtes Freiburg seit 1909.
2) A. a. O., S. 137.
3) Vgl. Conrad a. a. O., S. 117 ff.
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gcbencnfalls einen Weg^ bieten, auf dem sich bestimmte Berufs-
zvveige unter Aufgabe ihrer Nachweiseinrichtungen dem allgemeinen
öffentlichen Arbeitsnachweis angliedern kcninen.
Als Träger der paritätischen Facharbeitsnachweise erschei-
nen immer die Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände eines be-
stimmten Berufszweiges, auch insofern sind die paritätischen Ar-
beitsnachweise also Interessentennachweise. Ihre Entstehung knüpft
gewöhnlich an Tarifverträge an, die nach Beendigung von Ar-
beitskämpfen zwischen den sich als gleichwertig erkennenden
Parteien abgeschlossen werden, und zu deren Aufrcchterhaltung
und Kontrolle dann der Arbeitsnachweis mit Vorteil benutzt
wird').
Die Art der Anglied erung eines paritätischen Fach-
arbeitsnachweises an den allgemeinen öffentlichen Arbeitsnachweis
erfolgt dann gewöhnlich auf dem Wege, daß die Vermittlungs-
tätigkeit zunächst im Hause des allgemeinen öffentlichen Arbeits-
nachweises stattfindet. Sobald sie dann nicht mehr durch einen
eigenen Beauftragten der Verbände, den Fachmann, sondern durch
einen Beamten des Arbeitsamtes, der natürlich auch Fachmann
sein kann -), und ferner nach den Geschäftsgrundsätzen des Ar-
beitsamtes erfolgt, entsteht aus dem paritätischen Facharbeits-
nachweis die ?""achabteilung in dem oben von mir bezeichneten
Sinne. Es kommt also für die Angliederung der paritätischen
Facharbeitsnachweise insbesondere auch darauf an, daß die Ver-
mittlungsgrundsätze sich denen des allgemeinen öffentlichen Ar-
beitsnachweises nähern. Es ist daher von grundsätzlichem In-
teresse, hier festzustellen, daß das sog. Obligatorium bei den
typischen paritätischen Facharbeitsnachweisen, die wir in Deutsch-
land besitzen, denen der deutschen Buchdrucker und der Ber-
liner Brauer^), in wesentlich gemilderter Form erscheint; an-
dererseits ist bei Erörterung der Vermittlüngstechnik der allge-
meinen öffentlichen Arbeitsnachweise schon vorgetragen worden,
daß mir hinsichtlich der ebenfalls gewöhnlich einen wichtigen
Punkt bei den paritätischen Facharbeitsnachweisen- bildenden
1) Zu beachten ist jedoch, daß Tarifgemeinschaft und Verbandszugehörigkeit
etwas verschiedenes sind und die Tarifgemeinschaft grundsätzlich als der umfas-
sendere Begriflf erscheint. Durch Tarifgemeinschaft ist vielfach auch die Benützung
eines einseitigen Berufsnachweises vorgesehen worden; vgl. Reichsarbeitsblalt 1912,
S. 908 ff.
2) Vgl. oben S. 39.
3) Amtliche Denkschrift, S. 133 ff., Meyer a. a. O., S. 116 (T.
— 75 —
Reihenfol ge der Zuweisungen ein Entgegenkommen der Ar-
beitsämter für bestimmte Berufszweige durchaus als möglich und
diskutabel erscheinen möchte. Der sog. M e I d e z w a n g end-
Hch ist ebenfalls bei den paritätischen Facharbeitsnachweisen sehr
erheblich abgeschwächt, und er besteht z. B. bei den deutschen
Buchdruckern nur für die Gehilfen, alles zugleich Fingerzeige, daß
auch bei den bestorganisierten Facharbeitsnachweisen das Obli-
gatorium und seine notwendige Ergänzung, der Meldezwang, sich
nicht ohne weiteres haben durchführen lassen.
Die Vermittlungstätigkeit der paritätischen Facharbeitsnach-
weise ist grundsätzlich interlokal, soweit die als Träger der Nach-
weise erscheinenden Verbände ebenfalls ein größeres Gebiet
umfassen. So hat das deutsche Buchdruckergewerbe — die Tarif-
gemeinschaft deutscher Buchdrucker — seine Kreiseinteilung für
Zwecke der Arbeitsvermittlung in der Weise nutzbar gemacht,
daß an den Kreisvororten zugleich Arbeitsnachweise errichtet sind,
die als Zentralstellen für die übrigen im Kreise vorhandenen Nach-
weisstellen erscheinen. Von diesen erfolgt eine Verteilung von
Angebot und Nachfrage innerhalb des Kreises ; letzte und oberste
Ausgleichstelle ist dann das Tarifamt in Berlin, das eine Ver-
bindung mit den Kreisnachweisen durch sog. Kontrollkarten auf-
recht erhält, die, in ähnlicher Weise wie die Vakanzenliste der
allgemeinen öffentlichen Arbeitsnachweise aufgestellt, eine Ueber-
sicht über zunächst nicht zu vermittelndes Angebot geben. Für
Baden erreichte der Kreisvorort Freiburg i. B. im Jahre 19 12 in
dieser Weise 129 Vermittlungen. Die Vermittlung erfolgt kostenlos.
Lediglich lokale Facharbeitsnachweise sind dagegen selten,
und ich glaube nach meinen Ermittelungen annehmen zu kön-
nen, daß ein irgendwie bedeutender lokaler Facharbeitsnachweis
etwa nach Art der Berliner Brauer im Großherzogtum nicht be-
steht.
Dagegen findet sich in Baden noch eine eigenartige Ver-
mittlungseinrichtung, die mär in ihrer Beschränkung auf bestimmte
Berufsgruppen und zufolge ihrer gewissermaßen kraft Gesetzes
bestehenden paritätischen Verwaltung noch am meisten Aehn-
lichkeit mit den paritätischen Facharbeitsnachweisen zu haben
scheint. Diese ist deshalb in dem von mir aufgestellten Sy-
stem der Arbeitsnachweise hier am ehesten unterzubringen. Es
ist das die Arbeitsvermittlung, die seitens der Orts k ranke n-
kasse häuslicherDienstboten in Mannheim statt-
- ;^^ -
findet'). Dabei ist natürlich hier die Vcrmitthingstätif;kcit durch
die reichsgesetzHche Meldepflicht zur Krankenversicheruni^ we-
sentlich erleichtert; im übri<j;en aber besteht m. E. der einzige
organisatorische Vorteil der Einrichtung in der Ersparung des
Weges zum allgemeinen öffentlichen Arbeitsnachweis, dem dafür
der Nachteil einer Verbindung zweier an sich nichts miteinander
gemein habender Institutionen — Krankenversicherung und Ar-
beitsvermittlung — gegenübersteht. I''estzustellen ist jedoch, daß
zur Steuerung der Dienstbotennot und im Kampfe gegen das ge-
werbsmäßige Stellenvermittlertum die Arbcitsvermittlungseinrich-
tung bei der ürtskrankenkasse Mannheim sich wesentliche Ver-
dienste erworben hat. Trotzdem möchte ich meinen, daß im
Interesse der Zentralisation des Mannheimer Arbeitsmarktes und
auch zur notwendigen Stärkung des dortigen gemeindlichen Ar-
beitsamtes die Vermittlung an diese abgegeben werden sollte,
besonders, nachdem jetzt durch das Stellenvermittlergesetz der
Kampf gegen die gewerbsmäßigen Gesindevermieter mit anderen
schärferen Waffen möglich ist. Im übrigen ist die Vermittlungs-
tätigkeit der Ortskrankenkasse nicht unbedeutend gewesen. Sie
erzielte im Jahre 191 2 1002 Vermittlungen. Gebühren in ge-
ringem Umfange wurden dabei nur seitens der Dienstherrschaften
zur Kostendeckung erhoben.
C. Die charitative Arbeitsvermittlung^).
Daß die charitative Arbeitsvermittlung im Großherzogtum
Baden im allgemeinen nur von geringer Bedeutung für die Or-
ganisation des Arbeilsmarktes ist, ist bereits eingangs gesagt
worden. Fragt man nach den Gründen hierfür, so ist zunächst
einmal ganz allgemein zu nennen die Tatsache, daß den Trägern
der charitativen Arbeitsvermittlung diese nicht Selbstzweck, son-
dern nur Mittel zum Zweck ihrer sonstigen Fürsorge ist, und so-
dann der Umstand, daß insbesondere der selbstbewußte moderne
Arbeiter die charitative Vermittlung meidet, um nicht mit denen
verwechselt zu werden, die diese Art von Vermittlung mangels
körperlicher, geistiger oder moralischer Kraft notwendigerweise in
1) Vgl. Ludwige Gesindevermittlung, S. 151 ff. Da Ludwig erklärt, daß
diese Einrichtung für Deutschland ganz exzeptionell ist, so möchte ich demge-
genüber doch an die bereits erwähnte, wenn auch geringere ähnliche Vermittlungs-
tätigkeit der Baugewerksinnungskrankenkasse zu Karlsruhe erinnern.
2) Vgl. Conrad a. a. O., .S. 175 ff.
— 17 —
Anspruch zu nehmen gezwungen sind. Es ist deshalb schon an
anderer Stelle auf die große sozialpolitische Bedeutung hinge-
wiesen worden, die dem Zusammengehen von Trägern chari-
tativer Arbeitsvermittlung mit dem allgemeinen öffentlichen Ar-
beitsnachweise innewohnt, und es ist hierbei insbesondere an den
schon frühzeitig erfolgenden Anschluß der Bezirksvereine für Ge-
fangenenfürsorge an die allgemeinen öffentlichen Arbeitsnach-
weise zu erinnern. Aber auch abgesehen von dieser Verbindung
haben die badischen Bezirksvereine für Jugendschutz
und Gefangenenfürsorge auch sonst dem erzieherischen
Werte der Arbeit stets größte Bedeutung beigemessen und viel-
fach Arbeitsstellen auch auf Grund persönlicher Beziehungen ihrer
Vorstandsmitglieder vermittelt; sie haben ferner in zahlreichen
Fällen Reiseunterstützung zur Erreichung von Arbeitsgelegenheit
gewährt, wo andernfalls ein Aufsuchen der Arbeit wegen Mittel-
losigkeit nicht möglich gewesen wäre. Sie haben endlich häufig
durch Bewilligung von Lehrgeldern und Lehrlingsausstattungen
auch das Eingehen junger Leute in gelernte Berufe gefördert.
Sogar eine Schreibstube ist von einem Bezirksverein (Mannheim)
zwecks vorübergehender Beschäftigung eingerichtet worden. Wie
hoch aber auch der Wert dieses Tuns unter dem Gesichtspunkt
christlicher Fürsorge und charitativer Betätigung geschätzt werden
mag, der ziffernmäßig für den Arbeitsmarkt erreichte Erfolg ist
doch nur gering: im Jahre 1910 (spätere Zahlen liegen noch nicht
vor) im ganzen nur 201 Vermittlungen. Eine nähere Entzifferung
der Vermittlungen fehlt leider, es ist indessen nach der Praxis
der Vereine wohl anzunehmen, daß ein großer Teil dieser Ver-
mittlungen der Landwirtschaft und dem Kleingewerbe zugute ge-
kommen ist ; man kann wohl sagen, im Interesse der Individuen
sowohl wie auch dieser Berufskreise selbst.
Aehnlich wie bei den Bezirksvereinen für Jugendschutz und
Gefangenenfürsorge liegen die Verhältnisse bei allen charitativen
Fürsorgeeinrichtungen, soweit sie Arbeit vermitteln. Sie im ein-
zelnen aufzuführen und zu charakterisieren, ist hier unmöglich ;
»denn es handelt sich um eine Fülle von den verschiedensten
Sach- und Organisationsgebieten angehörigen Bildungen, die kaum
für eine einzelne Stadt, geschweige denn für ein ganzes Land
aufgezählt werden können«^). Ich muß mich deshalb hier auf
jene charitative Arbeitsvermittlung beschränken, die anknüpft,
l) Amtliche Denkschrift, S. 169.
einmal an die Fürsorge für wandernde männliche Arbeitslose und
sodann an die für beschäftigungslos in die Stadt kommende Mäd-
chen, und ich glaube bei näherer Beschreibung dieser beiden
Richtungen der charitativen Fürsorge auch die Tendenz genügend
kennzeichnen zu können, die die charitative Vermittlungstätigkeit
den allgemeinen öffentlichen Arbeitsnachweisen näher bringt, wie
andererseits aber auch die Grenze, die die beiden Tätigkeitsge-
biete trennt.
I . Träger der Fürsorge für wandernde Ar-
beitslose sind bekanntlich die Herbergen zur Heimat, die
Naturalverpflegungsstationen und die Arbeiterkolonien ; alle drei
finden sich auch im Großherzogtum Baden vor. Während die
Herbergen zur Heimat sich mit allerdings sehr geringen An-
sprüchen an selbstzahlende Wanderer wenden, sind die Natural-
verpflegungsstationen zur vorübergehenden Unterstützung für
mittellose Wanderer bestimmt, und die Arbeiterkolonie endlich
gewährt arbeitswilligen, aber mittellosen Personen aller Art so
lange dauernden Aufenthalt , bei geeigneter Inanspruchnahme
ihrer Arbeitskraft, bis sie wieder ein anderweitiges Unterkommen
finden können.
Die Herbergen zur Heimat sind in Baden nicht
allein christlich-charitativer Vereinstätigkeit zu verdanken, son-
dern knüpfen teiKveise auch an die alte Fürsorge der Innungen
für ihre wandernden Gesellen an ^). Es ist deshalb von Anfang
an auf die Vermittlung von Arbeit auch in den Herbergen ein
gewisser Wert gelegt worden ; allein, so lange der Herbergsnach-
weis als gesonderter bestand, ist er nirgends über eine primitive
Technik herausgekommen. Persönliches Vorsprechen der Meister,
Angabe der offenen Stellen an der Tafel und äußerstenfalls ein
Vakanzenbuch sind typisch für den Herbergsnachweis. Man ist
deshalb in neuester Zeit dazu übergegangen, wo allgemeine
öffentliche Arbeitsnachweise bestehen, den Herbergsnachweis mit
diesem zu verbinden, so z. B. in Pforzheim ^j. Ich halte diesen
Schritt für den einzig richtigen, obwohl mir wohl bewußt ist, daß
in weiten Kreisen des Deutschen Herbergvereins der Wunsch nach
eigenen Herbergsnachweisen noch ein sehr lebhafter ist. Indessen
ein tüchtiger Herbergsvater, und auf den kommt es doch an,
l) Vgl. oben. S. 69, so z. B. die Vereinsherberge in Freiburg i. B.
^) Vgl. Joos, Regelung des Naturalverpflegungswesens in Pforzheim, Arbeits-
markt 1909/10, S. 339 ff.
— 79 —
wird es sich niemals nehmen lassen, seinen Gästen bei Ermittlung
von Arbeitsstellen an die Hand zu gehen. Er wird, wenn er in
enger (telefonischer) Verbindung mit dem allgemeinen öffentlichen
Arbeitsamt steht, diesen Rat häufig mit mehr Erfolg insbesondere
im Hinblick auf dauernde Einstellung geben können, als wenn
er selbständig vorgeht. Jedenfalls dürfte das für die Verhältnisse
in größeren Städten zutreffen, und nur in solchen bestehen in
Baden eigentliche Herbergen zur Heimat. Wie gering im übrigen
die Vermittlungsergebnisse der besonderen Herbergsnachweise
sind, ergab sich deutlich anläßlich einer im Jahre 1910 vom Ver-
band deutscher Arbeitsnachweise veranstalteten Enquete^): dar-
nach vermittelte im Jahre 1909 die Herberge zu Freiburg bei
23991 Herbergsgästen 5304 in Arbeit, aber nur 104 dauernd, und
die zu Karlsruhe bei 26000 Gästen 2500, davon 300 dauernd ;
wer weiß, welcher Art gewöhnlich die Gelegenheitsarbeit der
Herbergsgäste ist, wird nur den dauernden Vermittlungen, d. h.
im ganzen in den beiden Städten 404, größeren volkswirtschaft-
lichen Wert beimessen können. Im übrigen soll aber hiermit,
wie ich ausdrücklich betonen möchte, ein Urteil über den cha-
ritativen und sozialen Wert der Herbergen nicht gefällt sein.
Die badischen Naturalverpflegungsstationen
haben sich auf Grund von Unterstützungseinrichtungen der Ge-
meinden und innerhalb der Gemeinden gegründeter sog. Anti-
bettelvereine entwickelt. Sie verfolgten ursprünglich vornehmlich
den Zweck, durch Gewährung von Geldgaben die Einwohner vor
lästiger unmittelbarer Inanspruchnahme zu schützen. Es zeigte
sich aber bald, daß eine Scheidung zwischen arbeitswilligen und
arbeitsscheuen Benutzern so ohne weiteres nicht möglich war und
daß diese Unterstützungsstellen den Bettel geradezu förderten.
Es wurde deshalb auch für die badische Entwicklung von ent-
scheidender Bedeutung, daß auf Grund der insbesondere in Würt-
temberg gemachten Erfahrungen der anfangs der 90er Jahre ge-
bildete Gesamtverband deutscher Verpflegungsstationen sich iur
das weitere Strecken umspannende Stationssystem im Gegensatz
zum Gemeindesystem aussprach. Er setzte sich vor allem dafür
ein, daß die Unterstützungen nicht mehr in Geld, sondern in
natura (Beherbergung, Frühstück, Mittagsbrot und Abendbrot)
gegeben werden sollten und wenn irgend möglich von einer Ar-
l) Jahrbuch des Verbandes 1911/12, S. 3239".; Zeitschrift »Der Wanderer«
1910, S. 296 ff.
— 8o —
beitsleistung abhängig zu machen seien, cndHch, daß mit jeder
Naturalverpflegungsstation grundsätzlich ein Arbeitsnachweis zu
verbinden wäre. Indessen haben sich diese Grundsätze in Baden
nur ganz aUmähiich Geltung zu verschaffen vermocht, und es
muß sogar gesagt werden, daß, wenn auch die Geldunterstützung
fast allenthalben verschwand, im übrigen die Sache der Natural-
verpflegungsstationen im Großherzogtum Baden keine wesent-
lichen Fortschritte gemacht hat , ausgenommen in den vier
oberbadischen Kreisen Konstanz, VValdshut, Villingen und Lör-
rach.
Gleichwohl muß meiner Ueberzeugung nach der als Wander-
arbeitsstätten ausgebauten und mit einem allgemeinen öffentlichen
Arbeitsnachweis in Verbindung gebrachten Naturalverpflegungs-
station eine höhere Bedeutung nicht nur unter sozialpolitischem
Gesichtspunkt, sondern auch für die Organisation des Arbeits-
marktes, insbesondere für die Versorgung des Lokalmarktes, zu-
erkannt werden.
Die Organisation der Verpflegungsstationen in den genannten
oberbadischen Kreisen, die wohl in Zukunft noch von besonderer
Bedeutung für die badische Entwicklung sein wird, ist dadurch
ausgezeichnet, daß es hier dem Eingreifen des Großherzoglichen
Landeskommissärs in Konstanz gelang, nicht nur ein einheitliches
Stationsnetz zu schaffen, eine einheitliche Hausordnung und einen
einheitlichen Wanderschein einzuführen, sondern insbesondere
auch die Unterhaltung der Stationen ^zur Kreisangelegenheit zu
machen, indem die Kreise die Kosten teils ganz übernahmen,
teils wesentliche Zuschüsse leisteten. Gleichzeitig wurde ein
näheres Verhältnis der oberbadischen Naturalverpflegungsstationen
zu den benachbarten schweizerischen und später auch vorder-
österreichischen herbeigeführt'). Es gewann damit die Stations-
sache ein ganz anderes Aussehen, und wenn auch der Schritt zu
Wanderarbeitsstätten auch in den oberbadischen Kreisen noch zu
tun ist, so wird doch hier heute schon auf die Leistung von Ar-
beit, soweit möglich, besonderer Wert gelegt und in gewissem
größeren Umfang auch Arbeit vermittelt. Die Vermittlungs-
ziffern für die dem Arbeitsamt Konstanz angeschlossenen Ver-
i) Vgl. Etigelhorn, Die Naturalverpflegung armer Reisender zur Bekämpfung
der Wanderbettelei, Zeitschrift für badische Verwaltung und Verwaltungspflege 1887,
S. 53 ff., und die Naturalverpflegung wandernder Arbeiter, ebenda 1887, S. 225 ff.,
1889, S. 105 ff.
— 81 —
pflegungsstationen in den Kreisen Konstanz und Villingen habe
ich bereits oben angegeben, es waren im Jahre 191 2 4753 Ver-
mittlungen ; die Vermittlungsziffer der Stationen im Kreise Walds-
hut betrug im gleichen Jahre 443 und der im Kreise Lörrach
ca. 250. Die Vermittlungstätigkeit der übrigen im Großherzog-
tum Baden vorhandenen Naturalverpflegungsstationen kann da-
gegen als unerheblich bezeichnet werden, sie haben m. E. keiner-
lei Bedeutung für den badischen Arbeitsmarkt.
Die einzige Arbeiterkolonie, über die das Großher-
zogtum Baden zurzeit verfügt, ist das Hofgut Ankenbuck im
Amtsbezirk Villingen ; Eigentümer dieser Kolonie ist der Landes-
verein für Arbeiterkolonien in Baden, Sitz Karlsruhe. Die Ko-
lonie beherbergte 19 12 im ganzen 346 Kolonisten, von denen 41
(12 %) in anderweitige Arbeitsstellen untergebracht werden konn-
ten^). Diese Zahl möchte ich doch als eine nicht so unerheb-
liche ansehen. Ich kann deshalb das harte Urteil der amtlichen
Denkschrift des Kaiserlichen Statistischen Amtes über die Arbeits-
vermittlung der Kolonien für Baden nicht vollkommen teilen ^).
Denn wer weiß, ob diese 41 ohne die Kolonie überhaupt wieder
in Arbeit gekommen wären ! Allerdings ist es richtig, daß die
Gesellschaft der Kolonisten stets eine besonders gemischte war,
und ist es wohl zweifellos, daß hierdurch auch die Bestrebungen,
Arbeit zu vermitteln, leiden. Indessen tut die Kolonie, was sie
kann, und es verdient hier besonders hervorgehoben zu werden,
daß die badische Kolonie mit den Bezirksvereinen für Gefangenen-
fürsorge ein besonderes Uebereinkommen zwecks Vermittlung
von Arbeitsstellen abgeschlossen hat ^). Damit steht die Ko-
lonie aber, wie oben ausgeführt, mit den einzelnen öffentlichen
Arbeitsnachv/eisen Badens in indirekter Beziehung, wie auch
schon in Einzelfällen ein direktes Angehen derselben stattgefun-
den hat.
Während demnach für den vorstehend behandelten Zweig
charitativer Vermittlung, der sich auf wandernde Arbeitslose
männUchen Geschlechts erstreckt, ein Hinstreben zum allgemei-
nen öffentlichen Arbeitsnachweis in Baden unverkennbar ist, kann
1) Vgl. Jahresbericht des Vereins für 1912.
2) Amtliche Denkschrift, S. 183. Zu beachten ist auch, daß die Kolonie
manchem für seinen Beruf nicht mehr Brauchbaren ermöglicht hat, landwirtschaft-
liche Arbeiten zu erlernen und so für einen neuen Erwerb sich vorzubereiten.
3) Bericht der Zentralleitung der Schutzvereine 1896, S, 19.
Zeitschrift für die ges. Staatswissensch. Ergänzungsheft 52. 6
das gleiche für die weibliciie Fürsorgetätigkeit, soweit sie Arbeit
vermittelt, zurzeit noch nicht in gleichem Umfange behauptet
werden. Indessen liegen hier die Verhältnisse auch insofern
wesentlich anders, als bei der h^ürsorgetätigkeit für weibliche Per-
sonen die Arbeitsvermittlung häufig hinter Beherbergung und
Ausbildung als Mittel des Schutzes zurücktreten muß.
2. Die Träger weiblicher charitativer Ver-
mittlungstätigkeit sind auch in Baden insbesondere kon-
fessionelle Anstalten, und die Hauptmasse der Vermittelten
sind Dienstboten.
Im Großherzogtum wurden die ersten derartigen Anstalten
von der Inneren Mission in den 70er Jahren gegründet, heute
finden sich solche Anstalten beider Konfessionen (Marienhäuser,
Marthahäuser, Franziskushäuser, Josefhäuser usf.) in allen grö-
ßeren Städten, und muß hier von einer Aufzählung Umgang ge-
nommen werden. Abgesehen von dem hohen sittlichen Schutz-
und Ausbildungswerte dieser Häuser, worauf hier nicht näher
eingegangen werden kann, ist auch ihre Vermittlungstätigkeit
von nicht unerheblicher Bedeutung, insbesondere unter dem Ge-
sichtspunkt der Dienstbotennot und im Kampf gegen die ge-
werbsmäßige Stellenvermittlung. Im Gegensatz zu den allge-
meinen öffentlichen Arbeitsnachweisen kommt allerdings die Ver-
mittlungstätigkeit immer nur den Kreisen einer bestimmten Kon-
fession zugute. Letztere Einschränkung fällt weg bei der sog.
Bahnhofsmission, soweit diese von besonderen Heimen (z. B.
Baden-Badener Bahnhofsheim) aus auch Arbeitsstellen vermittelt
und nicht nur die Mädchen zwecks weiterer Fürsorge anderen
Heimen zuführt^).
Neben den konfessionellen Anstalten entstanden in Baden
mit der Zeit aber noch weitere Vereinigungen, die sich der Ar-
beitsvermittlung insbesondere auch sozial höherstehender weib-
licher Personen auf charitativer Grundlage widmen. Es kommen
hier vornehmlich Zweigvereine des badischen Frauen-
vereins in Betracht'^). Im ganzen haben im Jahre 191 2 nach
den Erhebungen des Statistischen Landesamts die charitativen
i) Die Zweigstellen der Bahnhofsmission ziehen auch Erkundigungen über aus-
wärtige Stellen ein, welche Einrichtung auch von den allgemeinen öffentlichen
Arbeitsnachweisen mit Vorteil benutzt werden könnte.
2) Vgl. die Tabelle im Anhange der Geschichte des badischen Frauenvereins
Karlsruhe, 1906, S. 770 ff.
- 83 -
Arbeitsnachweise für weibliches Personal 9751 Stellen besetzt,
davon 8314 Dienstbotenstellen, der Rest verteilt sich auf Wirt-
schaftspersonal, höheres und niederes Erziehungspersonal und
auf kaufmännisches Personal ; eine doch ganz erhebliche Leistung,
da sie vielfach im Kampfe stehen mit dem gewerbsmäßigen
Stellenvermittlertum. Dabei ist die Technik der Vermittlung,
insbesondere bei den Frauenvereinen, gar keine so schlechte, denn
ich habe bei einzelnen sogar Ansätze zu einem indirekten Ver-
mittlungsverkehr gefunden.
Eine Besonderheit der charitativen weibUchen Arbeitsver-
mittlung ist die Erhebung geringer Gebühren, deren Erfas-
sung oft dadurch besonders erschwert ist, daß mit der Vermitt-
lungstätigkeit Beherbergung und weitere Ausbildung verknüpft
ist. Diese Gebühren sind jetzt durch die badische Vollzugsver-
ordnung zum Siellenvermittlergesetz der behördlichen Fest-
setzung, unterworfen. Sie sind allenthalben so niedrig normiert
worden, daß auch hier nur mehr von Kostendeckung, wie bei
charitativer Vermittlung eigentlich selbstverständlich, gesprochen
werden kann. Oft erfolgt auch, insbesondere bei den Arbeit-
suchenden, der Nachlaß der Gebühr. Die Entwicklung geht
unverkennbar dahin, die Erhebung von Gebühren ganz fortfallen
zu lassen.
Vielleicht ergibt sich im Anschluß hieran die AngUederung
der Vermittlungstätigkeit auch der weiblichen Fürsorge an die
allgemeinen öffentlichen Arbeitsnachweise, die, soweit ich urteilen
möchte, gern bereit sein würden, ihre Räume und, soweit ge-
wünscht, auch ihre Beamtinnen der weiblichen charitativen Ver-
mittlung ohne Entgelt zur Verfügung zu stellen. Indessen ist
nicht zu verkennen, daß eine Loslösung der Vermittlungstätig-
keit von den Fürsorgeheimen mit gewissen organisatorischen wie
auch sonstigen Schwierigkeiten verknüpft sein wird, da die im
Schutze des Heims befindlichen Mädchen von diesen selbst aus
wohl auch am besten der Dienstherrschaft übergeben werden.
So sehr deshalb im Interesse einer zentralisierten Arbeitsvermitt-
lung auch die Abgabe der charitativen weiblichen Vermittlungs-
tätigkeit an die allgemeinen öffentlichen Arbeitsnachweise zu
begrüßen wäre, glaube ich doch, daß hier der Anschluß nur
allmählich oder wohl nie vollständig wird erfolgen können. Ein
zu rascher Anschluß aber würde nur zum Vorteil der gewerbs-
mäßigen Stellenvermittlung sein!
6*
- 84 -
D. Die gewerbsmäßigen Stellenvermittler ').
I. Die Einführung der Rcichs^fewerbeonlnung von 1869 be-
seitigte auch in Baden den bis dahin bestehenden Konzessions-
zwang für die gewerbsmäßigen Stellenvermittler, Wie dann die
Reichsgewerbegesetzgebung ihre einer individuahstischen Wirt-
schaftsauffassung entsprechende SteUungnahme gegenüber den
gewerbsmäßigen Gesindevermietern und Stelienvermittlern durch
die Novellen vom 1. Juni 1883 und vom 30. Juni 1900 änderte
und mit letzterer Novelle insbesondere zum Konzessionszwang
kam, kann hier nicht näher erörtert werden. Jedoch möchte ich,
weil es m. E. nicht möglich ist, bei Betrachtung der gewerbs-
mäßigen Stellenvermittler die verwaltungsgemäße Regelung ganz
außer acht zu lassen, hier gewissermaßen im Spiegel der 1 a n-
desrechtlichen Ausführung derReichsgewerbe-
Ordnung die Entwicklung und insbesondere die Mißstände kurz
beleuchten, die das gewerbsmäßige Vermittlertum in Baden mit
sich brachte.
In Baden war zunächst von irgendwelchen Ausführungsvor-
schriften auf Grund des § 38 (erste Fassung) der Reichsgewerbe-
ordnung ganz abgesehen worden. Mag sein, daß man ein Be-
dürfnis hierfür zunächst nicht annahm oder aber die gewerbs-
mäßigen Gesindevermieter bei den damals noch vorherrschen-
den ländlichen und klein^^ ewerblichen Verhältnissen in einem ge-
wissen Grade noch für nüt/.lich hielt, «so daß man ihre Entwick-
lung rechtlich nicht mehr als nötig einengen wollte. Indessen
änderte sich das alsbald, als die weitere wirtschaftliche Entwick-
lunjj des Großherzogtums immer mehr Menschen in die größeren
Städte führte — die auch in Baden der Hauptnährboden der
gewerbsmäßigen Stellenvermittler geworden sind — und als ins-
besondere auch immer häufi-;er Klagen übisr die wenig redliche
und teilweise unsittliche Art der Geschäftsführung dieser Ver-
mittler laut wurden.
Das Ministerium des Innern sah sich daher veranlaßt, in
einer Verordnung vom 18. März 1887^) für die gewerbsmäßigen
Gesindevermieter und Stellenvermittler in Gemeinden mit über
3000 Einwohner insbesondere die Führung bestimmter Geschäfts-
i) Vgl. insbesondere Ludwige Die Gesindevermiitlung in Deutschland, Tü-
bingen 1903, und Der gewerbsmäßige Arbeitsnachweis, Berlin 1906.
2) Gesetzes- und Verordnungsblatt für Großh. Baden 1887, S. loi ff.
- 85 -
bücher vorzuschreiben und ihnen die Aufstellung von Gebühren-
tarifen aufzuerlegen, die von den Bezirksämtern einzusehen und
abzustempeln waren. Durch ortspolizeiliche Bestimmungen konn-
ten diese Vorschriften auch auf Gemeinden mit unter 3000 Ein-
wohner ausgedehnt werden. Wie man sieht, noch eine sehr
zurückhaltende Reglementierung, durch die nur die größten Miß-
stände und auch diese nicht immer beseitigt werden konnten.
Eine Neuregelung erfolgte jedoch erst nach Inkrafttreten der
Gewerbenovelle von 1900, und nachdem man sich auch in Baden
an Hand einer eingehenden Enquete zuvor über die bestehenden
Verhältnisse genauer informiert hatte ^). Die neue Verordnung
vom 10. Oktober 190 1 ^) beseitigte die Unterscheidung von Ge-
meinden mit über und unter 3000 Einwohnern, erweiterte und
verschärfte die Bestimmungen über die Buchführung, machte
wahrheitsgemäße Geschäftsankündigungen und Geschäftsführung
zur besonderen Pflicht und verbot insbesondere die Verleitung
zum Vertragsbruch. Sie untersagte ferner den Vermittlern die
gleichzeitige Ausübung des Gast- und Schankwirtschaftsgewerbes
sowie den Betrieb des Vermiitlungsgewerbes überhaupt in Wirt-
schaften und stellte weiter den Bezirksämtern anheim, auch das
Verbot der Beherbergung stellensuchender Personen wie die Ver-
abreichung von Speisen und nichtgeistigen Getränken ergänzend
auszusprechen. Im Interesse der allgemeinen öffentlichen Nach-
weise, deren Konkurrenz für die gewerbsmäßigen Vermittler be-
reits rechu fühlbar geworden war, wurde verboten, eine diesen
ähnliche Bezeichnung des Geschäftsbetriebes zu wählen oder in
deren Räumen wie auf der Straße Stellensuchende anzusprechen ;
bei Vermittlung von Stellen weiblicher Minderjähriger sowie von
Stellen ins Ausland wurde bedeutendere Sorgfalt zur Pflicht ge-
macht. Endlich wurde hinsichtlich des Gebührentarifes ausdrück-
lich bestimmt, daß die Vermittlungsgebühr nur dann erhoben
werden dürfe, wenn die Vermittlungstätigkeit zum Abschluß eines
gültigen Vertrages geführt habe ; dabei blieb aber die sog. Dop-
pelgebühr zulässig, und es durfte auch bei Entgegennahme des
Auftrages eine mäßige Einschreibegebühr erhoben werden. Im
1) Stat. Mitt. über das Großh. Baden 1897, S. 23 ff. Unmittelbar im An-
schluß an die Enquete ist wohl schon ausgesprochen worden, daß die Aufstellung
eines Gebührentarifes mit Mindest- und Höchstsätzen der Verordnung von 1887
nicht genüge.
2) Gesetzes- und Verordnungsblatt 1901, S. 472 ff.
— 86 —
übrigen sollten Aufwendungen (nicht da(je<(en allc^emeinc Ver-
waltungskosten) nur auf Grund besonderer Vereinbarungen be-
rechnet werden können. Hiermit war nunmehr eine gründliche
und umfassende Reglementierung des Vermittlergewerbes, soweit
reichsgesetzlich überhaupt zulässig, auch in Baden erfolgt, obwohl
noch gelegentlich der eben erwähnten Enquete einzelne badische
Bezirksämter eine Lanze zugunsten der gewerbsmäßigen Stellen-
vermittler unter Verneinung des Bedürfnisses zum weiteren Aus-
bau der gemeinnützigen Arbeitsvermittlung gebrochen hatten ^).
Es will mir zweifelhaft erscheinen, ob der badische Minister des
Innern, der eine so weitgehende Reglementierung für ein Gewerbe
verfügte, noch von dessen volkswirtschaftlich nützlicher Tätigkeit
überzeugt war. Indessen hat, wie ich weiter, unten an den Er-
gebnissen der badischen Stellenvermittlerstatistik zeigen werde,
die Menge der neuen Vorschriften die Gesindevermieter nicht
gehindert, sich weiter emporzuranken, bis das neue Stellenver-
mittlergesetz dafür sorgte, daß die Bäume nicht in den Himmel
wachsen.
Auch die Bestimmungen des Stellenvermittlergesetzes vom
2. Juli 1910 möchte ich hier als im allgemeinen bekannt voraus-
setzen dürfen und will nur kurz daran erinnern, daß durch die-
ses am I. Oktober 1910 in Kraft getretene Reichsgesetz, das
erstmals auch die Herausgeber von sog. Stellen- oder Vakanzen-
listen erfaßte, insbesondere die Prüfung der Bedürfnisfrage bei
Konzessionierung eines Stellenvermittfers vorgeschrieben wurde
mit dem Beifügen, daß ein Bedürfnis insbesondere dann nicht
anzuerkennen sei, wenn für den Ort oder wirtschaftlichen Bezirk
ein öffentlicher gemeinnütziger Arbeitsnachweis in ausreichendem
Umfange bestehe. Ferner wurde vorgeschrieben, daß die Fest-
setzung der Gebühren durch die Behörden zu erfolgen habe, wo-
bei nunmehr die sog. Doppelgebühr, ebenso wie eine Einschreibe-
gebühr verboten wurde. Endlich wurde auch in erheblich er-
weitertem Umfange das Verbot der Verbindung des Stellenver-
mittlergewerbes mit anderen Gewerben ausgesprochen. In dem
Stellenvermittlergesetz erhielt zugleich die Landeszentralbehörde
die Ermächtigung, noch weitere Bestimmungen über den Ge-
schäftsbetrieb der gewerbsmäßigen Stellenvermittler zu erlassen,
sowie auch die Befugnis, gewisse Bestimmungen des Stellenver-
mittlergesetzes auf die nichtgewerbsmäßigen Arbeitsnachweise
i) A. a. O., S. 39.
- 87 -
auszudehnen. In der badischen Vollzugsverordnung zum Stellen-
vermittlergesetz vom 24. September 1910^) ist dann, soweit die
Bestimmungen für meine Arbeit in Betracht kommen, ergänzend
vorgeschrieben worden, daß vor Konzessionierung eines neuen
gewerbsmäßigen Stellenvermittlers stets der für den betr. Ort
oder wirtschaftlichen Bezirk bestehende allgemeine öffentliche
Arbeitsnachweis zu hören ist, wie auch bei der Konzessionsent-
ziehung. Auch vor Festsetzung der Vermittlungsgebühren ist
neben Vertretern aller Beteiligten der allgemeine öffentliche Ar-
beitsnachweis zu hören. Es hat die Festsetzung dieser Gebühren
einheitlich für sämtliche gewerbsmäßige Stellenvermittler einer
Gemeinde durch den Bezirksrat zu erfolgen. Den Polizeibehörden
»und den von ihnen beauftragten Beamten« ist ferner jederzeit
Einsicht in den Geschäftsbetrieb der Stellenvermittler zu gestat-
ten, ebenso wie auch die Geschäftsbücher alljährlich zur Einsicht
vorzulegen sind. Dabei hat das Ministerium des Innern in einem
besonderen Erlasse ausgesprochen, daß bei dieser Kontrolle des
Geschäftsbetriebes und der Geschäftsbücher es sich empfehle, die
Beamten der dem Verbände badischer Arbeitsnachweise ange-
schlossenen gemeinnützigen Arbeitsnachweisanstalten beizuziehen,
wodurch auch in Baden jene vielbekämpfte »Kontrolle durch die
Konkurrenz« ^) allgemein zur Durchführung gelangte, die aller-
dings bei einzelnen badischen Aemtern, so z. B. in Pforzheim
und Karlsruhe, schon vorher bestanden hatte.
2. Ueberschaut man hiernach die verwaltungsgemäße Regle-
mentierung, die den gewerbsmäßigen Stellenvermittlern durch die
drei angeführten Verordnungen zuteil geworden ist, so fällt, ab-
gesehen von der Zurückdrängung von Mißständen, unter dem Ge-
sichtspunkte der Organisation des Arbeitsmarktes insbesondere
ins Auge das rechtlich unterstützte Hineingreifen der allgemeinen
öffentlichen Arbeitsnachweise in die Geschäftstätigkeit der ge-
werbsmäßigen. Im übrigen möchte ich an dieser Stelle zunächst
an Hand der Statistik darlegen,
a) wie sich bei vorstehend geschilderter Rechtslage das Ge-
werbe der Gesindevermieter und Stellenvermittler in Baden ziffern-
mäßig entwickelt hat,
i) Gesetzes- und Verordnungsblatt 191 o, S. 511 ff.
2) Vgl. Verhandlungen des 7. Deutschen Arbeitsnachweiskongresses, in den
Schriften des Verbandes deutscher Arbeitsnachweise Nr. 11, S. 21 fif.
— 88 ~
b) in welchen Berufszwei^en es seine Haupttäti^fkcit ent-
faltete,
c) was für eine Bedeutung für den badischen Arbeitsmarkt
ihm zugemessen werden kann, und
d) mit welchen Kosten (Gebührenaufwand) seine Tätigkeit
für die Allgemeinheit verknüpft ist ').
a) Bei der in den Jahren 1895 — 96 durchgeführten, bereits
erwähnten Enquete wurden im Großherzogtum auf Ende 1895
247 gewerbsmäßige Vermittler ermittelt. Von diesen konnten
jedoch nur für 237 Angaben über den Umfang ihrer Geschäfts-
tätigkeit gemacht werden, wobei in 36 Fällen die Zahl der Stellen-
gesuche so klein war, daß sie nicht einmal 10 erreichte. Ver-
gleicht man diese Ziffern mit den Ergebnissen der ab 1902 regel-
mäßig vorgenommenen Bestandsaufnahme der Stellenvermittlcr,
die für Ende 1902 eine Gesamtzahl von nur 173 ergab, so könnte
man wohl prima facie meinen, daß durch die Verordnung von
1901 eine wesentliche Abminderung der gewerbsmäßigen Ver-
mittler erreicht worden sei ; indessen spricht, wie oben schon an-
gedeutet, die Entwicklung in den folgenden Jahren zu sehr da-
gegen. Bei der Enquete, deren Wert im übrigen hier nicht in
Zweifel gestellt werden soll, konnten eben die Bezirksämter auf
Grund der Bestimmungen der Verordnung von 1887 genauere
Angaben nur bezüglich der Gemeinden über 3000 Einwohner
machen ; sie waren im übrigen auf die Angaben der ürtsbürger-
meister angewiesen, so daß auch ma-nchmal Leutevermittler ge-
zählt sein mögen, deren Vermittlungstätigkeit nicht eigentlich als
Gewerbe anzusehen war. Dagegen können die Zahlen ab 1902,
die von den Bezirksämtern nach Büchern und Angaben der an-
gemeldeten Vermittler zusammengestellt werden, wohl als zuver-
lässig angesehen werden. Darnach hat sich aber die Zahl der
gewerbsmäßigen Stellenvermittler wie folgt entwickelt:
Es stieg die Zahl der Vermittler von 173 im Jahre 1902 auf
229 im Jahre 1908, fiel dann bis Ende 1910 auf 209 und ging
im Jahre 191 1 auf 150 und im folgenden Jahre 1912 auf loi zu-
rück; daß letzterer gewaltiger Rückgang auf die Einwirkung des
Stellenvermittlergesetzes zurückzuführen ist, erscheint zweifellos.
i) Ueber die seit 1902 in Baden durchgeführte Statistik der gewerbsmäßigen
Stellenverraittler vgl. besonders Reichsarbeitsblatt 191 2 »Neuere Erhebungen über
die gewerbsmäßigen Stellenvermittler in Deutschland«, S. 666 ff., insbesondere
S. 674 ff.
- 89 - •
Dabei ist als bemerkenswert hier hervorzuheben, daß in erster
Reihe die Zahl der Betriebe zurückgegangen ist, die sich mit der
Vermittlung weiblichen Personals beschäftigten; in zweiter Linie
gingen die Betriebe zurück, die gleichzeitig männliches und weib-
liches Personal vermittelten, während die Vermittler allein männ-
lichen Personals von 1911/12 sogar um zwei zugenommen haben.
Zugleich wurde, wie das Statistische Landesamt bemerkt^), eine
starke Konzentration der Betriebe unter Ausscheidung der klei-
neren wahrgenommen, zumal in den größeren Städten, was sich
schon daraus ergibt, daß die Zahlen der Vermittlungsergebnisse
nicht in gleichem Maße wie die Zahl der Betriebe abnahmen,
wobei jedoch auch wohl zu berücksichtigen ist, daß die Statistik
der gewerbsmäßigen Stellenvermittler seit 1910 besser ausgestaltet
ist und so Vermittlungen faßbar werden, die früher außer Be-
tracht gelassen wurden (Aushilfspersonal). Von loi Betrieben
des Jahres 1912 wurden in den Amtsbezirken (Städten) Mann-
heim, Karlsruhe, P'reiburg und Heidelberg 51, also mehr als die
Hälfte gezählt, während in den mehr ländlichen Bezirken die Zahl
erheblich geringer war.
b) Die Hauptdomäne des gewerbsmäßigen Stellenvermittler-
tums war in Baden stets die Vermittlung weiblicher Per-
sonen gewesen, und zwar gliedern sich die Vermittlungsergebnisse
des Jahres 1902 in 2583 männliche und 17674 weibliche, dagegen
die des Jahres 1912 in 3523 männliche und 18363 weibliche Ver-
mittlungen; das Verhältnis hat sich also heute zu Gunsten der
weiblichen doch sehr verschoben. Es war auch im Jahre 1912
die Abnahme der weiblichen Vermittlungen gegenüber 1911 in den
absoluten Zahlen stärker wie die der männlichen. Betrachtet man
die Vermittlungen der männlichen Personen näher, so fällt die
Hauptzahl auf männliches Wirtschaftspersonal, im Jahre 1912
1130 Vermittlungen ; doch zeigt sich in den Gliederungszahlen
der verschiedenen Jahre zugleich deutlich, daß sich das Gast-
wirtschaftspersonal relativ, d. h. im Verhältnis zu den übrigen
Berufen, allmählich des gewerbsmäßigen Vermittlertums entwöhnt,
d. h. also sich den gemeinnützigen Arbeitsnachweisen zuwendet 2).
In der weiblichen Abteilung, wenn ich so sagen darf, fällt die
Hauptzahl der Vermittlungen auf Wirtschaftspersonal und häus-
liche Dienstboten. Im Jahre 1912 10965 und 6504 Vermittlungen.
1) Stat. Mitt. über des Großh. Baden 1912, S. 73,
2) Vgl. die Berechnungen im Reichsarbeitsblatt a. a. O., S. 677.
— 90 —
Es ist dabei äußerst beachtenswert, daß hier aus den Gliede-
rungszahlen der einzelnen Jahre festgestellt werden kann, daß sich
die häuslichen Dienstboten relativ mehr und mehr von der ge-
werbsmäßigen Vermittlung abwenden, während bei dem weib-
hchen Wirtschaftspersonal leider das Gegenteil der Fall zu sein
scheint. Ausdrücklich festzustellen ist endlicii noch, daß insbe-
sondere für die Landwirtschaft, wie sich schon aus der geringen
Zahl gewerbsmäßiger Vermittler in den ländlichen Amtsbezirken
ergibt, in Baden das gewerbsmäßige Stellenvermittlertum ohne jede
Bedeutung ist, während ich im übrigen bezüglich der Einzelheiten
der statistischen Ergebnisse auf die landesstatistischen Quellen
verweisen muß.
c) Aus der Statistik der gewerbsmäßigen. Stellenvermittler im
Vergleiche zu der der allgemeinen öffentlichen Arbeitsnachweise
in Baden ergibt sich, indem ich einer Berechnung des Reichs-
arbeitsblattes folge ^), m. E. auch deutlich, wie wenig be-
deutsam die gewerbsmäßige Vermittlung für
den Arbeits markt im weiteren übertragenen
Sinne und damit auch für seine Organisation ist. Setzt man
nämlich die Zahl der Arbeitsuchenden des Jahres 1902 = 100, so
erhält man folgendes Bild :
Jahre
Gevve
rbsmäß
ige Stellenvermittlung
Ot
ffentliche
Arbeitsnachweise
Sie
lensuchende
Stellensuchende
1902
100
100
1903
120
-
94
1904
120
92
1905
121
82
1906
132
84
1907
130
82
1908
124
104
1909
133
112
1910
152
III
1911
136
121
Darnach zeigen die Indexziffern der Stellensuchenden beiden
allgemeinen öffentlichen Arbeitsnachweisen eine ausgesprochene
Kurve entsprechend der Konjunktur, die im Jahre. 1907 ihren
Gipfelpunkt erreichte, wahrend bei den gewerbsmäßigen Stellen-
vermittlern irgend ein charakteristischer Ausschlag für den Wechsel
der Konjunktur nicht erkennbar ist, was doch wohl der Fall sein
müßte, wenn die gewerbsmäßigen Vermittler in irgend einem
engeren Verhältnis zum Arbeitsmarkte ständen. Dabei ändert
i) A. a. O., S. 678.
— 91 —
sich dieses Bild, wie ich hier, um Einwänden zu begegnen,
gleich bemerken möchte, auch nicht, wenn man die Reihen der
gesamten Stellensuchenden in männliche und weibliche auf-
löst. Ich glaube deshalb meine eingangs der Arbeit aufgestellte
Behauptung, daß unter den Arbeitsnachweiseinrichtungen aller
Art nicht nur sozialpolitisch, sondern auch organisatorisch die
gewerbsmäßigen Vermittler an letzter Stelle stehen, hiermit wohl
begründen zu können.
d) Ich komme zu den Vermittlungsgebühren. Diese
Gebühren sind gewissermaßen unter einem doppelten, einem ge-
meinwirtschaftlichen und einem privatwirtschaftlichen Gesichts-
punkt zu betrachten. Daß auch in Baden diese Gebühren usw. un-
verhältnismäßig hohe waren und vielfach mit andern Praktiken der
Vermittler zusammen zu einer Ausbeutung insbesondere der Stel-
lensuchenden geführt haben, ergibt sich schon aus der besonderen
behördlichen Aufmerksamkeit, die von Anfang an den Vermitt-
lertaxen zugewendet wird. Auch bei der Enquete von 1896 wur-
den sehr erhebliche Mißstände in der Gebührenerhebung festge-
stellt, von denen ich den einen, den zu großen Spielraum bei
Bemessung der einzelnen Gebühr bereits anmerkungsweise erwähnt
habe; aber auch die Höhe der verschiedenen Gebühren war da-
mals in einzelnen Fällen geradezu exorbitant, so wenn bei einem
Karlsruher Tarif für Vermittlung eines Dienstboten 10% des Jah-
resgehalts ausbedungen wurden! Je mehr nun die Erkenntnis von
der volkswirtschaftlich geringen Bedeutung des Vermittlergewerbes
sich Bahn bricht, um so stärker wird der Wunsch, diese Ge-
bühren zu ermäßigen. Da das Stellenvermittlergesetz in der be-
hördlichen Festsetzung der Gebühren hierzu die Handhabe bietet,
wird allerseits eine besonders weitgehende Herabsetzung erwartet.
Dieselbe ist jedoch nicht überall in dem erwarteten Umfange ein-
getreten ! Denn die Vermittler stellten nicht ohne Erfolg dem
volkswirtschaftlichen Gesichtspunkteden privatwirtschaltlichen, d. h.
den Gesichtspunkt der Nahrung, entgegen. Es gelang ihnen auf
diese Weise, manche Minderung ihrer Gebühren hintanzuhalten,
auch wo ihr Gewerbe volkswirtschaftlich infolge der Entwicklung
der allgemeinen öffentlichen Arbeitsnachweise als geradezu über-
flüssig erscheinen mußte. Eine amtliche zusammenfassende Ver-
öffentlichung der ermäßigten Gebühren fehlt bisher, jedoch bietet
hierfür eine Erhebung des Verbandes deutscher Arbeitsnachweise
für die Städte über 10 000 Einwohner und für den Stand Ende
— 92 —
1910 einigermaßen Ersatz*). Darnach hat allerdings auch für
Baden eine erhebhche Herabsetzung der Gebühren stattgefunden,
aber es ist m. E. noch zu fordern Gleichmäßigkeit in der Gliede-
rung der Tarife und Gleichmäßigkeit in der Ausgestaltung nach
der Höhe. Forderungen, die, da das gewerbsmäßige Vermiltler-
tum in Baden hauptsächlich in den größeren Städten sich zusam-
mendrängt, doch wohl zu erreichen sind. Vielleicht könnte sogar
für das ganze Land ein einheitlicher Tarif aufgestellt werden.
3. Der bereits hervorgehobene Gegensatz zwischen dem volks-
wirtschaftlichen Nutzen des Vermittlergewerbes und dem Ge-
sichtspunkte der Nahrung leitet mich zum Schlüsse über zu der
Frage nach dem zukünftigen Schicksal der gewerbs-
mäßigen Vermittler. Liegt auch offenbar dem Stellen-
vermittlergesetz und seinen Ausführungsbestimmungen, wie schon
gesagt, die Tendenz zugrunde, die gewerbsmäßigen Vermittler
tunlichst zurückzudrängen, so ist damit doch noch die Frage offen
gelassen, ob man sich mit dieser allmählichen Zurückdrängung
begnügen oder ob man zur gesetzlichen Aufhebung des Gewerbes
schreiten soll. Im letzteren F'alle müßte dann selbstverständlich
eine Ablösung des Gewerbes erfolgen, da es den Grundsätzen eines
Rechtsstaates widersprechen würde, mit einem F'ederstrich einen
Stand Gewerbetreibender brotlos zu machen. Um zu sehen, um
welche Summen es sich hierbei handeln würde, habeich für 191 1
das Einkommen der gewerbsmäßigen Stellenvermittler in Baden
an Hand der Vermittlungsergebnisse* und der neuen Tarife zu
berechnen gesucht. Ich bin dabei zu einem natürlich nur über-
schläglichen jährlichen Gesamteinkommen von 75000 Mark und
damit zu einem Durchschnittseinkommen von 540 Mark für das
Land im ganzen gekommen. Danach würde es sich aber bei
einer entsprechenden Ablösung zurzeit noch um recht erhebliche
Summen handeln, die die nach den mit dem französischen Ab-
lösungsgesetz vom 14. März 1904 gemachten Erfahrungen m. E.
auch in Baden hierfür zunächst in Betracht kommenden Gemein-
den (da das Stellenvermittlergewerbe vorzugsweise ein lokales ist)
wohl nicht so leicht übernehmen möchten"). Man muß sich des-
1) »Die Ta.xen für gewerbsmäßige Stellenvermittler nach dem Gesetz vom
2. Juli iQloc, Sonderabdruck aus dem Arbeitsmarkt 1911/12. Dabei möchte ich
bemerken, daß für Bruchsal in dieser Zusammenstellung ein Fehler unterlaufen zu
sein scheint, denn die Bruchsaler. Taxen stimmen hier nicht mit der amtlichen
Festsetzung vom Oktober 1910 überein, sie sind viel zu hoch angegeben.
2) Vgl. Ludwig, Der gewerbsmäßige Arbeitsnachweis, S. 163.
— 93 —
halb für ein allmähliches Zurückdrängen des Vermittlergewerbes
entsclieiden. Daher muß der Kampf gegen das gewerbsmäßige
Vermittlertum insbesondere vonseiten der allgemeinen öffentlichen
Arbeitsnachweise weitergeführt werden, aber, wie man sich bei
Besprechung dieser Frage auf dem letzten deutschen Arbeits-
nachweiskongreß in Hamburg ausdrückte, unter Beobachtung eines
»fair play«, und insbesondere durch bessere Ausgestaltung der
eigenen Vermittlungstätigkeit ^).
I) Vgl. Protokoll des Verbandstages badischer Arbeitsnachweise 1912, S. 5 ff .
— 94 —
IL
Die Zentralisation des badischen Arbeits-
marktes.
Bei vorstehender Erörterung der einzelnen Träger der Or-
ganisation des badischen Arbeitsmarktes habe ich nicht nur dessen
Wesen, Bedeutung und Vermittlungstechnik, sondern auch ihre
Entwicklungstendenz namentlich in der Richtung darzulegen ge-
sucht, in welcher Weise sie sich zu der Tätigkeit des allgemeinen
öffentlichen Arbeitsnachweises stellen. Ich habe dabei schon mit
der Anlage der ganzen Darstellung deutlich zum Ausdruck ge-
bracht, daß für den badischen Arbeitsmarkt an organisatorischer
Bedeutung an erster Stelle die allgemeinen öffentlichen Arbeits-
nachweise stehen, so daß sie praktisch auch bei jedwelcher Lö-
sung der Frage der Zentralisation des Arbeitsmarktes in erster
Reihe in Betracht zu ziehen sind. Es scheint mir indessen ge-
boten, dieses Urteil von ihrer ausschlaggebenden Bedeutung nicht
als petitio principii an den Anfang meiner folgenden Ausführung
zu stellen, sondern ich möchte mir zunächst auf Grundlage der
Ergebnisse meiner vorstehenden Untersuchungen Rechenschaft
geben einmal über den tatsächlichen Organisationswert der ver-
schiedenen Vermittlungsträger, die wir im Großherzogtum Baden
vorfinden, und sodann anschließend über die Frage der Zentrali-
sation des badischen Arbeitsmarktes unter wirtschaftspolitischem
Gesichtspunkt. Erscheint aber darnach das Urteil über die all-
gemeinen öffentlichen Arbeitsnachweise als Träger jedwelcher
Zentralisationsbestrebungen näher begründet, so wird endlich die
Frage zur Erörterung zu bringen sein, in welcher Weise diese
Arbeitsnachweise etwa noch auszubauen sind, um den an sie
unter dem Gesichtspunkt der Zentralisation zu stellenden höheren
Ansprüchen gerecht zu werden.
Es wird also im folgenden zu handeln sein :
- 95 —
1. über den gegenwärtig erreichten Zentralisationsgrad auf
dem badischen Arbeitsmarkt,
2. über die wirtschaftpohtische Bedeutung der Zentralisation
dieses Marktes und
3. über den weiteren Ausbau der aligemeinen öffentHchen
Arbeitsnachweise.
I. Der gegenwärtige Zentralisationsgrad.
Die Betrachtung des Grades der gegenwärtigen Zentralisation
auf dem badischen Arbeitsmarkt hat auszugehen von der Zahl
der Vermittlungen ^). Dabei ergibt sich nun von vornherein die auf
Mängel der Arbeitsmarktstatistik zurückgehende und von der ge-
schilderten Art der Betätigung der einzelnen Vermittlungsträger
herrührende Schwierigkeit, daß die genaue Zahl der erfolgten Ver-
mittlungen nur für die allgemeinen öffentlichen Arbeitsnachweise
und die gewerbsmäßigen Stellenvermittler angegeben werden
kann, während man im übrigen, also bei den Arbeitgeber- und
insbesondere Arbeitnehmernachweisen, sowie bei der charitativen
Arbeitsvermittlung mehr oder weniger auf Schätzungen ange-
wiesen ist. Trotzdem möchte ich im folgenden den Versuch
machen, die Vermittlungsergebnisse für das Jahr 1912 überschläg-
lich zusammenzustellen, wobei ich glaube, daß ich auch für die
Interessentennachweise wie für die charitative Stellenvermittlung
beiläufig richtige Zahlen zu geben in der Lage war :
Im Jahre 19 12 vermittelten: Stellen
A. Die allgemeinen öffentlichen Arbeitsnachweise (ein-
schließlich aller Vermittlungen für die Landwirt-
schaft)-) 121 920
B. Die Arbeitgeber- und Arbeitnehmernachweise ^) ca. 32000
C. Die charitativen Vermittlungsträger .... ca. 20000
D. Die gewerbsmäßigen Stellenvermittler 21 886
im Summa also 195 800
Vermittlungen, so daß auf die Vermittlergruppe A. 62%, auf B.
17%, C. 10% und D. 11% der gesamten Vermittlungen entfielen.
Darnach besetzten aber die allgemeinen öffentlichen Arbeits-
1) Vgl. Amtliche Denkschrift, S. 207.
2) Zuzüglich auch der mit den Arbeitsämtern Konstanz und Waldshut in Ver-
bindung stehenden Naturalverpflegungsstationen.
3) Arbeitsnachweis der Industrie Mannheim-Ludwigshafen ohne Filiale Lud-
wigshafen.
- 90 -
naclnveise auf dem organisierten badischen Arbeitsmarkte 1912 be-
reits mehr als ^ 5 aller Stellen, womit die ein<^angs aufgestellte
Behauptung, daß sie für diesen Arbeilsmarkt an erster Stelle zu
setzen sind, wohl ziffernmäßig belegt erscheint.
Allein es ist weiter noch zu beachten, daß vorstehende Ver-
mittlungszahlen nur die organisierte Vermittlung umfassen, und
daß die Zahl der tatsächlich jährlich im Großherzogtum abge-
schlossenen Arbeitsverträge erheblich höher anzusetzen ist. Geht
man, um diese Zahlen zu berechnen, von den nach der Berufs-
zählung 1907 im Großherzogtum Baden in Arbeitsverhältnissen
stehenden 723 538 Personen aus ^.), und zugleich von der eher zu
niedrigen als zu hohen Annahme, daß auf jede dieser Personen
nur alle zwei Jahre im Durchschnitt ein neuer Arbeitsvertrag
kommt, so wären jährlich rund 362000 neue Arbeitsverträge ab-
zuschließen, d. h. 362 000 offene Stellen zu besetzen. Darnach
würde aber auf dem organisierten badischen Arbeitsmarkt nur
etwa erst die Hälfte aller Vermittlungen abgeschlossen werden,
während der Rest durch die sog. wilde Stellenvermittlung, Inserat,
Umschau, Vermittlung durch persönliche Beziehung usw. zustande
käme -). Nun zeigen allerdings aucli Inserat und Umschau An-
sätze zu einer gewissen Organisation, d h. zu einem planmäßigen
Hineingezogenwerden in die Tätigkeit der organisierten Stellen-
vermittlung, indem z. B. auch seitens der allgemeinen öffentlichen
Arbeitsnachweise inseriert oder durch den Nachweisschein gewisser
Arbeitgebernachweise (auch bei einzelnen Innungsnachweisen) die
Umschau in engeren Grenzen autorisiert wird , indessen steht
doch hier einer vollkommenen Organisation das Prinzip der F"rei-
heit der Person und der freien Benutzung der Presse so weit-
gehend entgegen, daß mir diese Versuche zur Organisation der
wilden Stellenvermittlung tatsächlich und prinzipiell ohne größere
Bedeutung erscheinen möchten. Als Hauptdomäne von Inserat
und Umschau finden wir auch in Baden heute noch für ersteres
1) Unselbständige, sog. b und c Personen in den Berufsabteilungen A, B,
C, D ; im Arbeitsverhältnis (c) standen ohne Familienangehörige in den Berufs-
abteilungen A. und C. insge^amt 414937 Personen (nach dem Urmaterial des Gr,
Slat. Landesamtes).
2) Vgl. Meyer a. a. O., S. 107 ff. Derselbe berechnet für das Reich im
ganzen, daß knapp nur */» aller Arbeitsverträge durch die organisierte Stellenver-
mittlung zustande kommen, so daß also nach meiner vorstehenden Berechnung für
das Großherzogtum sich ein wesentlicher Fortschritt der Organisation des Arbeits-
marktes gegenüber dem Reich ergeben würde.
— 97 —
die sog. höheren Berufe und für letztere insbesondere die länd-
lichen Verhältnisse, d. h. beides Gebiete, von denen man wohl
sagen muß, daß hier Inserat und Umschau auch in Zukunft stets
eine gewisse Rolle spielen werden.
Endlich möchte ich als wichtig bei Beurteilung des gegen-
wärtig erreichten Zentralisationsgrades auf dem badischen Arbeits-
markte noch darauf hinweisen, daß die oben gegebenen relativen
Organisationsquoten für die einzelnen Vermittlungsträger sich
natürlich verschieben würden, sofern man männliche und weib-
liche Arbeitnehmer scheiden wollte. Indessen ist es mir nicht
möglich, zahlenmäßig diese Scheidung durchzuführen, und es kann
deshalb im allgemeinen nur gesagt werden, daß bei dieser Tren-
nung die für die weibliche Arbeitsvermittlung auf die allgemeinen
öffentlichen Arbeitsnachweise fallende Quote sich mindern würde
zugunsten der charitativen und insbesondere der gewerbsmäßigen
Stellenvermittlung, so daß hiernach abermals die noch verhältnis-
mäßige Rückständigkeit der weiblichen Abteilung bei den all-
gemeinen öffentlichen Arbeitsnachweisen zu betonen wäre.
Alles in allem genommen ist also der organisierte Arbeits-
markt auch im Großherzogtum Baden noch weiterer Ausdehnung
fähig, ebenso wie auf dem organisierten Arbeitsmarkt das öffent-
liche Arbeitsamt noch weiteren Ausdehnungsraum hat, was mich
nunmehr zu der Frage überleitet, ob und aus welchen Gründen
sich eine derartige zentralisierende Entwicklung wirtschaftspolitisch
empfehleu würde.
2. Die wirtschaftspolitische Bedeutung der Zentralisation.
Die vollkommene Zentralisation des Arbeitsmarktes würde ein
Doppeltes umfassen müssen, einmal die Einbeziehung der ge-
samten sog. wilden Stellenvermittlung in die Arbeitsmarktorgani-
sation und zweitens die Zusammenfassung der so lückenlos organi-
sierten Arbeitsvermittlung durch einen einheitlichen Träger. In-
dem ich die Frage, wer als Träger dieser gesamten zentralisierten
Stellenvermittlung in Betracht kommen könnte, zunächst offen
lassen will, wäre dann in diesem einheitlichen Arbeitsmarkt offen-
bar ein volkswirtschaftliches Organ geschaffen, bei dem Angebot
und Nachfrage der Ware Arbeit ausschließlich zusammenliefe,
und das also über ein Nachweismonopol verfügen würde. Indem
ich wieder die Frage der Durchführung eines solchen Monopols
zunächst dahingestellt sein lasse, würde dann allerdings dieser
Zeitschrift für die ges. Staatswissensch. Ergänzungsheft 52. '1
- 98 -
monopolisierte Arbeitsnachweis in der La^^c sein, Angebot und
Nachfrage besser — weil einheitlich — in Beziehung zu setzen,
als das bisher der Fall ist, und er müßte dimit auch zweifellos
die gesamte Produktion lediglich durch seine Vermittlungstäiigkcit
in weit höherem Grade mittelbar fördern können, als die einzelnen
Vermittlungsträger, wie ich ausgeführt habe, heute dazu imstande
sind. Darin würde ein außerordentlicher volkswirtschaftlicher Vor-
teil liegen. Allein sobald dieser Monopolnachweis sich nicht auf
die reine, neutrale Vermittlungstätigkeit beschränkte, sondern
irgendwie unmittelbar in den Gang der volkswirtschaftlichen Pro-
duktion eingreifen würde, würde er, um es kurz zu sagen, die
Grundlagen der heutigen Wirtschaftsverfassung aus den Angeln
heben; er würde in gleicher Weise einerseits den Arbeiter der
Freizügigkeit und der freien Verwertung seiner Arbeitskraft be-
rauben, wie andererseits dem Unternehmer einen großen Teil des
Unternehmerrisikos entwinden. Da unter diesen Umständen wohl
nur der Staat als Träger des monopolisierten Nachweises in Be-
tracht käme, würde er unweigerlich zu einer Art Staatskollektivis-
mus führen.
Deshalb möchte ich an den Anfang meiner Ausführungen
über jegliche weitere Zentralisation des Arbeitsmarktes den Satz
stellen, daß dabei die Selbstbeschränkung des Arbeits-
nachweises von ausschlaggebender Wichtigkeit sein muß, und
daß, wie ich mich ausdrücken möchte, der monopolisierte Nach-
w^eis keinerlei aktive Wirtschaftspolitik, sondern nur mittelbare
Wirtschaftsförderung, insbesondere sozialpolitischer Art, treiben
darf. Bevor ich mich indessen der Erörterung dieser P'ragen
weiter zuwende, möchte ich zunächst kurz auf die Frage der
technischen Durchführung des monopolistisch zentralisierten Ar-
beitsnachweises näher eingehen, weil ich aus dieser vorangestellten
Betrachtung mir weitere Gesichtspunkte auch bezü'^lich der Er-
örterung der wirtschafispolitischen Fragen versprechen möchte.
Soll also der Arbeitsnachweis in einheitlicher Art monopolistisch
organisiert werden, so ist m. E. dazu technisch offenbar- notwendig
einmal die Konstituierung des Benutzungszwanges, des sog. Ot)li-
gatoriums, und zweitens als Ergänzung hierzu die Festlegung der
Meldepflicht für alle abgeschlossenen Arbeitsverträge, die ge-
gebenenfalls als rechtlich ungültig anzusehen wären, wenn sie
nicht über den Monopolnachweis geleitet werden. Abgesehen
davon nun, daß auch in diesen Zwangsvorschriften eine mit den
— 99 —
gegenwärtigen Reclitsanschauungen unvereinbare Beschränkung
der persönlichen Freiheit liegen würde, würde m. E. selbst der
straffsten gesellschaftlichen Organisationsform, dem Staate, die
Macht fehlen, dieses Obligatorium trotz Kontrolle durch die An-
zeigepfiicht der abgeschlossenen Arbeitsverträge und Strafe der
Ungültigkeit derselben tatsächlich durchzuführen. Denn überall,
wo bisher durch die Macht der Organisation die Durchführung
eines Benutzungszwanges versucht worden ist, sind diese Versuche
an der Macht der tatsächlichen Verhältnisse in gewissem Grade
zerschellt. Es spricht also die Erfahrung der Gegenwart deutlich
auch gegen eine Durchführbarkeit in der Zukunft, selbst mit den
Machtmitteln des Staates, und es ist vielmehr anzunehmen, daß
der staatliche Benutzungszwang ausarten würde einmal, wie schon
Meyer ^) anführt, zu indirekter Konstituierung einer öffentlichen
Vermittlungspflicht, d. h. praktisch zur Beanspruchung des Rechts
auf Arbeit, das der gegenwärtige Staat nicht gewähren kann, und
zweitens zu direkter Förderung der sog. wilden Stellenvermittlung,
insbesondere der Umschau, die ja, soweit sie ein Ausdruck der
persönlichen Freiheit ist, ebenfalls nicht verboten werden könnte.
Und wie ferner, wenn, abgesehen von Lohnstreitigkeiten usw., für
die aus den oben angeführten Gründen der Selbstbeschränkung
naturgemäß das Prinzip der Nichteinmischung für den monopoli-
sierten Arbeitsnachweis gelten müßte, aus Gründen des Haus-
rechts usw. die Nachweissperre verhängt würde.?' Würde das
nicht konsequenterweise für den Arbeitnehmer eine Strafe be-
deuten, die den Getroffenen schließlich zur Auswanderung ver-
anlassen müßte ^) ?
Schon aus Gründen der praktischen Durchführbarkeit ist das
absolute Nachweismonopol etwas Unmögliches, und ich komme
so zur Beanspruchung lediglich eines relativen Nachweismonopols
und damit zur Forderung eines zentralisierten Nachweises, dessen
Leistungen unter gemein- wie privatwirtschaftlichen Gesichts-
punkten so bedeutende sind, daß er nicht nur besonderer Förde-
rung durch die Allgemeinheit teilhaftig zu werden verdient, son-
dern auch hinsichtlich der seitens der einzelnen Interessenten zu
stellenden Ansprüche den Wettbewerb mit andern Nachweisein-
1) A. a. O. S. 182, vgl. dagegen v. Zwiedineck-Südetihorst , Sozialpolitik,
1911,5. 339.
2) Vgl. yastroiu, auf dem V. Deutschen Arbeitsnachweiskongreß in Leipzig
1908, Protokoll des Verbandstages, S. 193.
— lOO —
richtungen erfolgreich besteht. Das aber wird nur der Fall sein
können, wenn dieser Nachweis in möglichst rascher, zuver-
lässiger und umfassender Weise tätig wird M, und hierin
die übrigen Nachweisarten übertrifft.
Die hiermit einmal beanspruchte möglichste Ausdehnung der
Vermittlungstätigkeit wird dabei m. K. gewährleistet durch eine
möglichst umfassende Organisation nicht nur in räumlicher, son-
dern auch in sachlicher Beziehung. Für die umfassende sachliche
Zentralisation besteht dabei meiner Ueberzeugung nach, soweit
lediglich Arbeitsvermittlung in Frage kommt, keine Grenze, und
ich habe im vorhergehenden I. Teil meiner Arbeit gezeigt,
daß — jedenfalls für badische Verhältnisse — auch die Land-
wirtschaft einer derartig allgemeinen Arbeitsvermittlung mit Vor-
teil angeschlossen werden kann. Aber auch für die höheren
kaufmännischen und technischen Berufe halte ich den Anschluß
wenigstens an eine Landeszentralstelie für durchaus möglich -),
ebenso wie endlich auch die Einbeziehung der künstlerischen
Berufe, obwohl hier die Verhältnisse noch besonderer Art sind ^).
Schließlich würde der umfassend organisierte Arbeitsnachweis
auch am besten in der Lage sein, in den Fällen, wo es sich um
die Ergreifung eines Berufes handelt, also bei der Lehrstelle-
vermittlung, auf die jeweils aussichtsreichste Berufsart hinzuweisen.
Unter zuverlässiger Vermittlung sodann ist das zu verstehen,
was gemeinhin als Vermittlung nur geeigneter Arbeitskräfte in
geeignete Arbeitsstellen bezeichnet wird, so daß tunlichste Ständig-
keit des Arbeitsverhältnisses im wohlverstandenen Interesse so-
wohl der Arbeitnehmer wie der Arbeilgeber erreicht wird. Dabei
schließt m. E. dieser Grundsatz der Zuverlässigkeit nicht aus, daß
auch den körperlich oder geistig Schwachen geeignete Arbeits-
stellen vermittelt werden, wenn auch, wie schon bei Erörterung
der charitativen Arbeitsvermittlung angedeutet, die neben der
Arbeitsvermittlung hergehende körperliche oder geistige Siäi-kung
natürlich der charitativen Fürsorge verbleiben soll, und daß bei
I
1) Vgl. Heitzenslein-Freund, Der Arbtitsnachweis, Schriften der Zentralstelle
für Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen Nr. ii, Berlin 1897, S. 350 fF.
2) Gegen den Anschluß von Landwirtschaft und der höheren kaufmänni-
schen und technischen Berufe war noch Doni'niicus auf dem V. Deutschen Arbeits-
nachweiskongreß in Leipzig, Protokoll S. 67, der im übrigen für Begrenzung der
Zentralisation auf den Bereich der Reichsinvalidenversicherung eintritt.
3) Vgl. Ludwig, Der gewerbsmäßige Arbeitsnachweis, 1906, S. loi ff.
— lOI —
gleicher Geeignetheit zunächst der Ortsansässige vor den Fremden,
der Verheiratete vor dem Ledigen, der länger Arbeitslose vor
dem erst kurz Arbeitslosen vermittelt wird, während allerdings
der sog. Nummernzwang mir mit der beanspruchten zuverlässigen
Vermittlung unvereinbar erscheinen möchte.
Was dann endlich die rasche Vermittlung anbetrifft, so scheint
mir diese vor allem unter dem Gesichtspunkt von besonderer
Wichtigkeit, als durch sie, insoweit die Möglichkeit produktiver
Tätigkeit überhaupt vorhanden ist, Verzögerungen im Gange der
Produktion tunlichst hintangehalten werden. Der Förderung rascher
Vermittlung dienen beim zentralisierten Nachweis namentlich die
sog, Vakanzenlisten und die Institution der Fahrpreisermäßigung,
und ich möchte bezüglich letzterer hier ausdrücklich bemerken, daß
auch in der Fahrpreisermäßigung mir keine Verletzung der wirt-
schaftspolitischen Selbstbeschränkung des zentralisierten Arbeits-
nachweises zu liegen scheint, als hierdurch etwa irgendwie auf
die Lohnhöhe eingewirkt werden könnte.
Betrachtet man nun unter diesen vorstehend entwickelten
Gesichtspunkten der einem zentralisierten Arbeitsnachweis volks-
wirtschaftlich notwendigen Eigenschaften rascher, zuverlässiger
und umfassender Vermittlung die verschiedenen im ersten Ab-
schnitt meiner Arbeit erörterten Nachweiseinrichtungen, so ergibt
sich m. E. ohne weitere Ausführung, daß nur die allgemeinen
öffentlichen Arbeitsnachweise diesen höheren wirtschaftspolitischen
Ansprüchen grundsätzlich entsprechen können und daß daher
nur sie in Richtung eines relativ monopolistischen zentralisierten
Arbeitsnachweises weiter entwicklungsfähig sind.
So bleibt mir nach dieser Begründung der notwendigen Fort-
entwicklung der allgemeinen öffentlichen Arbeitsnachweise in Baden
nur noch die Erörterung der Frage übrig, wie denn deren zu-
künftiger Ausbau in Richtung einer tatsächlichen Beherrschung
des badischen Arbeitsmarktes erfolgen soll.
3. Der zukünftige Ausbau der allgemeinen öffentlichen Arbeits-
nachweise.
Ueber den weiteren Ausbau des allgemeinen öffentlichen
Arbeitsnachweises in Baden hat der badische Verband im Anschluß
an eine Besprechung, die auf Grundlage einer von der Staats-
verwaltung mitgeteilten Denkschrift über die Arbeitslosenver-
— I02 —
Sicherung ') Endo des Jahres igoo im badischen Ministerium des
Innern stattfand, gewisse Richtlinien aufgestellt ^), von denen auch
ich hier zweckmäßigerweise ausgehen zu sollen glaube.
An die Spitze dieser Richtlinien wurde der Satz gestellt,
daß von einem gesetzlichen Eingreifen zugunsten der weiteren
Ausdehnung der allgemeinen öffentlichen Arbeitsnachweise zu-
nächst abzusehen sei und daß man diesen weiteren Ausbau von
der Initiative des Verbandes, wie der einzelnen Verbandsanstalten
mit Unterstützung der Staatsverwaltung wie der Kreisverwaltungen
erhoffe. Damit war von vornherein zu der Frage Stellung ge-
nommen, die heute noch nicht ausgetragen ist ^), ob das erstrebte
tatsächliche Nachweismonopol für den allgemeinen öffentlichen
Arbeitsnachweis ohne weiteres Eingreifen der Gesetzgebung in
irgend einer Form, insbesondere gegen die Arbeitgeber- und Ar-
beitnehmernachweise, zu erreichen sein wird oder nicht. Es war
ein Bedürfnis nach einem solchen Eingreifen zunächst verneint
worden! Ferner wurden in den Richtlinien Grundsätze aufgestellt
über den sachlichen Ausbau der Vermittlungstätigkeit (Ausdehnung
auf alle gelernten und ungelernten Berufe in Handel, Gewerbe,
Industrie, Landwirtschaft und Haushalt), über die Neugründung
von Arbeitsämtern nach Bedarf, aber nur da, wo mindestens ein
Beamter im Hauptamt angestellt werden kann, sodann über die
lokale Konzentration der Stellenvermittlung durch Anschluß aller
Verbands- und Facharbeitsnachweise und über weitere Ausbildung
der interlokalen Vermittlung durch Erweiterung der Tätigkeit
der Landeszentrale (häufigere Vakanzenlisten, Vereinheitlichung
der Vermittlungstechnik, Reklame usw.), alles Punkte, die bereits
im ersten Teile meiner Arbeit behandelt worden sind.
Die fördernde Mitwirkung der Staatsverwaltung an dem wei-
teren Ausbau der allgemeinen öffentlichen Arbeitsnachweise wurde
in diesen Grundsätzen, abgesehen von dem allgemeinen Eintreten
der Staatsbehörden für dieselben, insbesondere in Richtung ener-
gischer Bekämpfung der gewerbsmäßigen Stellenvermittler und
sodann in Form wesentlicher Erhöhung des Staatszuschusses für
Zwecke des interlokalen Verbindungsdienstes, sowie auch zur Neu-
1) Denkschrift über die Arbeitslosenversicherung, Karlsruhe 1908.
2) Abgedruckt im Geschäftsbericht des Verbandes 1907/11, S. 6 ff .
3) Vgl. auch die Verhandlungen auf dem VII. Deutschen Arbeitsnachweis-
kongreß über die bisherige Wirksamkeit des Stellenvermittlergesetzes, Protokoll
S. 21 ff.
— I03 —
gründung und zum weiteren sachlichen Ausbau der einzelnen
Nachweisanstalten verlangt, ebenso wie auch die Kreisverwaltungen
grundsätzlich Zuschüsse zu allen diesen Zwecken gewähren sollten.
Auch über die Zuschüsse aus öffentlichen Mitteln habe ich bereits
gelegentlich der Erörterung der Finanzgebarung der allgemeinen
öffentlichen Arbeitsnachweise gesprochen und dabei zum Aus-
druck gebracht, daß insbesondere der interlokale Dienst und die
Tätigkeit der Landeszentrale im Interesse des Staates wie der
weiteren Selbstverwaltungskörper liege. Ich habe dabei schon
darauf hingewiesen, daß mir abgesehen von den Kosten der Lan-
deszentrale ^) insbesondere die interlokale Vermittlungstätigkeit
auch emen Maßstab für die Bemessung dieser Beiträge zu bieten
scheint, und ich meine deshalb, daß, wenn es anläßlich der Er-
richtung der sogleich zu erwähnenden Wanderarbeitsstätten in
Baden zu einer Aenderung des badischen Verwaltungsgesetzes
kommt, auch die Unterstützung der allgemeinen öffentlichen Ar-
beitsnachweise den Kreisverwaltungen zur gesetzlichen Pflichtauf-
gabe in bestimmtem Umfange gemacht werden sollte ~).
Endlich wurde in den vom Verbände aufgestellten Richt-
linien als wünschenswert bezeichnet die allgemeine Errichtung von
Wanderarbeitsstätten in organischer Verbindung mit den allge-
meinen öffentlichen Arbeitsnachweisen, eine Frage, die den Ver-
band im Hmblick auf die für die Versorgung des flachen Landes
und insbesondere der Landwirtschaft mit Arbeitskräften so gün-
stigen Ergebnisse der oberbadischen Verpflegungsstationen, ins-
besondere der Konstanzer Filialen, schon wiederholt beschäftigt
hatte, ohne aber bei der badischen Staatsverwaltung zunächst
auf besondere Gegenliebe zu stoßen ^). Der Verband hatte seiner-
zeit beantragt, derartige Wanderarbeitsstätten im ganzen Lande
zu errichten und zu ihrer Unterhaltung allgemein die Kreise
heranzuziehen, diesen aber zu den Kosten einen Staatszuschuß
zu gewähren; das Ministerium hatte sich jedoch auf den Stand-
punkt gestellt, daß die Frage zur Entscheidung noch nicht reif
i) Die übrigens m. E. über kurz oder lang zu einer selbständigen Verwal-
tungsstelle mit besonderen Verwaltungsaufgaben (Kontrolle der gewerbsmäßigen
Stellenvermittlung, Herausgabe von kurzen Arbeitsmarktsituationsberichten an Hand
der Vakanzenlisten usw.) auszubauen sein wird.
2) § 25 des Gesetzes über die Organisation der inneren Verwaltung vom
5. Okt. 1863, Bad. Ges.- und Verord.-Blatt 1863, S. 399 ff.
3) Vgl. Roth^ Die Wandererfürsorge in Baden, Arbeitsraarkt 1909/10, S. 220 ff.;
vgl. Protokolle der Verbandsversammlungen 1905/07, 1908 nebst Beilagen.
— I04 —
sei und auch die anderwärts mit der Errichtunj^f von Wander-
arbeitsstätten zu machenden Erfahrungen noch abgewartet werden
müßten. Diese in Preußen und insbesondere in Württemberg ge-
machten Erfahrungen müssen aber als überaus günstig ange-
sehen werden, so daß jetzt sogar von reichswegen die Vorberei-
tung eines Gesetzes zur allgemeinen Einrichtung von mit Arbeits-
nachweisen verbundenen Wanderarbeitsstätten in die Wege ge-
leitet worden ist.
In einer zweiten im Ministerium des Innern abgehaltenen
Besprechung über diese vom Verband für den weiteren Aus-
bau aufgestellten Richtlinien ^) fanden dieselben grundsätzliche
Zustimmung, und es ist danach anzunehmen, daß ihnen ent-
sprechend auch der weitere Ausbau der allgemeinen öffentlichen
Arbeitsnachweise im Großherzogtum erfolgen wird. Dabei sind
heute, wie schon in der Einzeldarstellung gezeigt, einzelne Vor-
schläge des Verbandes bereits zur Durchführung gekommen,
während andere, wie z. R. die vertragsmäßige Verpflichtung der
staatlichen wie städtischen Unternehmer zur Benützung der all-
gemeinen öffentlichen Arbeitsnachweise noch in Verhandlung
stehen ^).
Zwei weitere Gesichtspunkte der allgemeinen öffentlichen
Arbeitsvermittlung endlich scheinen mir danach aber für das Groß-
hetzogtum Baden außer Streit zu stehen, die Organisation als
paritätische gemeindliche Anstalt und das Prinzip unentgeltlicher
Vermittlung. Mit ersterem möchte auch ich mich grundsätzlich ein-
verstanden erklären, und wenn wir auch im Großherzogtum noch
drei allgemeine öffentliche Arbeitsnachweise aus Gründen der
historischen Entwicklung als Vereinsnachweise haben, so wird
man doch, wie schon eingangs geschehen, als Entwicklungsergebnis
feststellen müssen, daß es in Zukunft zweifellos zu keinen der-
artitjen Vereinsbildungen mehr kommen wird, sondern daß in
Baden der allgemeine öffentliche Arbeitsnachweis zur anerkannten
Gemeindeaufgabe geworden ist. Dagegen möchte ich hinsichtlich
der Unentgeltlichkeit doch zum Schluß die Frage stellen, ob nicht,
sobald bei fortgeschrittener Entwicklung der einheitlich zentrali-
sierte gemeindliche Arbeitsnachweis ein relatives Nachweismono-
pol tatsächlich erreicht haben wird, entsprechend den Grundsätzen
bei den andern, vorzugsweise den Interessen einzelner dienenden
1) Karlsruher Zeitung vom 2b. Jan. 191 1, Nr. 20.
2) Vgl. Geschäftsbericht des Verbandes 1912, S. 18.
J
— I05 —
Gemeindeeinrichtungen wieder Gebühren erhoben werden sollen,
wenigstens von selten der leistungsfähigen Arbeitgeber ^). In-
dessen liegt die Entscheidung dieser Frage unter dem Gesichts-
punkt der tatsächlichen und nicht gesetzlich herbeizuführenden
Monopolstellung der allgemeinen öffentlichen Arbeitsnachweise
noch in weiter Ferne.
i) Dominicus a. a. O., S. 150, vgl. auch v. Reitzenstein-Freujid a. a. O.
>79 ff-
Zeitschrift für die ges. Staatswissensch. Ergänzungsheft 52.
lo;
Inhalts-Uebersicht.
Seite
Einleitung: Der Begriff des Arbeitsmarktes i
I. Die Träger der Organisation des badischen
Arbeitsmarktes 4
A. Die allgemeinen öffentlichen Arbeitsnachweise 4
B. Die Arbeitgeber- und die Arbeitnehmernachweise 51
C. Die charitative Arbeitsvermittlung 76
D. Die gewerbsmäßigen Stellenvermittler 84
II. Die Zentralisation des badischen Arbeits-
marktes 93
/o
H Zeitschrift für die gesamte
5 Staatsv/issenschaft.
Z42 Ergänzunt^sheft
Mr. ^3-52
PLEASE DO NOT REMOVE
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