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Full text of "Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft. Ergänzungsheft"

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ZEITSCHRIFT 

FÜR  DIE  GESAMTE 

STAATSWISSENSCHAFT 

In  Verbindung  mit 

Oberbürgermeister  a.  D.  Dr.  F.  ADICKES  in  Frankfurt  a.  M.,  Prof.  Dr.  G.  COHN 
in  Göttingen,  Ober-Verw.-Ger.-Rat  Prof.  Dr.  F.  v.  MARTITZ  in  Berlin,  Kaiserl. 
Unterstaatssekretär  z.  D.  Prof.  Dr.  G.  v.  MAYR  in  München,  Prof.  Dr.  A.  VOIGT 
in  Frankfurt  a.  M.,  Geh.  Reg.-Rat  Prof.  Dr.  A.  WAGNER,  Exz.,  in  Berlin,  Dr.  Freiherr 
V.  WEICHS,  Ministerialrat  am  k.  k.  Handelsministerium  in  Wien. 

HERAUSGEGEBEN     ' 

VON 

Dr.  K.  BÜCHER, 

o,  Professor  an  der  Universität  Leipzig. 


Ergänzungsheft  XLVIII. 

Die  Einkommensteuer  in  England. 

Von 

Dr.  Friedrich  Harzendorf. 


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TÜBINGEN 
VERLAG  DER  H.  LAUPP'SCHEN  BUCHHANDLUNG 

1914. 


Die  Einkommensteuer 
in  England 


von 


Dr.  Friedrich  Harzendorf 


Tübingen 

Verlag  der  H.  Laupp'schen  Buchhandlung 

1914 


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Inhaltsübersicht. 

Seite 
Einleitung i 

I.  Teil.    Die  Einkommensteuer  in  der  englischen  Finanzpolitik. 

1.  Kapitel.    Das    englische    Finanz-    und    Steuersystem    des 

i8.    Jahrhunderts. 
§     I.    Die  Entwicklung  der  englischen  Finanzwirtschaft  im  i8.  Jahr- 
hundert       ; 4 

§     2.    Die  Entwicklungstendenzen      lo 

2.  Kapitel.    Die  erste  Einkommensteuerperiode 

§     3.    Der  Übergang  zur  direkten  Vermögens-  und   Einkommens- 
besteuerung          15 

§     4.    Die  Pittsche  Einkommensteuer 21 

§     5.    Die   Geschichte  der  Einkommensteuer  bis  zum   Jahre   1816       28 
§     6.    Die  finanzpolitische  Wirkung  der  Einkommensteuer  und  ihr 

Charakter  in  der  ersten  Existenzperiode 33 

§     7     Die  Beseitigung  der  Einkommensteuer  1816 38 

3.  Kapitel.    Die  Reform  der  ind  irekten  Besteuerung. 

§     8.    Reformmethoden  bis  1836 42 

§     g.    Das  Reformproblem 45 

§  IG.    Die    Peel  sehe    Tarif  reform    von    1842    und    die    Wiederein- 
führung der  Einkommensteuer 51 

§  II.    Die  Fortführung  der  Peelschen  Tarifreforraen  bis  185 1    ...  62 

§  12.    Das  Problem  der  direkten  Besteuerung 69 

§  13.    Das  System  der  Freihandelsfinanz 82 

4.  Kapitel.    Das  moderne  Steuersystem. 

§  14.    Die  Motive  der  neuen  Entwicklung 93 

§  15.    Die  Entwicklung  der  direkten  Besteuerung 100 

§  16.    Der  moderne  Bedarf  und  die  Lösung  der  Einkommensteuer- 
frage      HO 

§  17.    Das  Zukunftsproblem 125 

II.  Teil.    Einkommensteuerorganisation  und  Einkommensteuerertrag. 

Überleitung :    Die  finanzpolitische  Bedeutung  der  Einkommensteuer- 
organisation und  des  Ertrags iT 

I.   Kapitel.    Die  Einkommensentwicklung. 

§    I.    Die  Bestimmung  der  subjektiven  und  objektiven  Steuerpflicht 

in  der  Pitt-  und  in  der  Peel-Steuer I34 


—    VI    — 

Seite 
§  2.    Die    begriffliche     Fortentwicklung    der     objektiven     Steuer- 
pflicht       148 

§  3.    Die  Bedeutung   und  die   Ursachen  der  Einkommensentwick- 
lung       154 

2.  Kapitel.     Die    Entwicklung    der   Einkommensteuerorgani- 
sation. 

§  4.    Das  Problem  der  Einkommensteuerreform 161 

§  s.    Das   Abatementsystem    und    die    Deklaration    des    Gesamt- 
einkommens     167 

§  6.    Differentiation  und  Super-tax 176 

3.  Kapitel.    Die  Ertragsentwicklung. 

§  7.    Die  Faktoren  der  Ertragsbildung 182 

§  8.    Die  Einkommensverteilung 190 

§  9.    Ergebnisse ^94 

Anhang 

1.  Quellen " ^97 

2.  Literaturverzeichnis 198 

3.  Übersicht  über  die  englischen  Finanzminister  seit  Pitt   ....  201 


Einleitung. 

Eine  vergleichende  Betrachtung  des  enghschen  Finanz- 
und  Steuerwesens  der  neuesten  Zeit  mit  dem  aus  der  Zeit, 
die  der  Einführung  der  Einkommensteuer  in  England  un- 
mittelbar vorausgeht,  läßt  eine  Entwicklungsreihe  erkennen, 
die  sich  in  der  Verschiedenheit  der  jeweils  ausgeprägten  finanz- 
politischen Anschauung  sowie  in  der  Verschiedenheit  der  rein 
äußerlichen  Struktur  des  Verhältnisses  der  Einnahmezweige 
unter  sich  und  zum  Gesamtbudget  zeigt  und  die  von  einem 
geschichtlich  gegebenen  Ausgangspunkt  ausgehend  eine  wesent- 
liche Umbildung  des  ganzen  Systems  bedeutet.  Es  bedarf  hier 
keiner  ausführlichen  Darlegung,  daß  diese  Entwicklungsreihe, 
die  innerhalb  der  Gesamtentwicklung  eines  großen  Staatswesens 
verläuft,  den  allgemeinen  Bedingungen  dieser  mit  unterworfen 
ist,  daß  sie  in  ihrem  Verlauf  und  in  ihrem  endlichen  Ergebnis 
nur  im  Zusammenhang  mit  dieser  begriffen  und  gewürdigt 
werden  kann.  Noch  deutlicher  wird  die  Einsicht,  daß  die  ganz 
spezielle  Entwicklung  einer  einzelnen  Steuerart  überhaupt  nicht 
aus  dem  allgemeineren  Zusammenhang  herausgerissen  werden 
kann,  aus  welchem  sie  erwachsen  ist,  von  dem  sie  in  jeder  Phase 
ihrer  Entwicklung  bedingt  wird,  auf  den  sie  aber  vermöge  der 
Tatsache  ihrer  Existenz  selbst  wieder  bedingend  zurückwirkt. 
Greifen  wir  dennoch  in  der  analytischen  Methode  geschichtlicher 
Einzelbetrachtung  einen  gesonderten  Zweig  aus  dem  Gesamt- 
verlauf einer  umfassenden  Entwicklungsreihe  heraus,  um  deren 
Ausgangspunkt,  Verlauf  und  schließliches  Ergebnis  festzustellen, 
so  kann  das  eben  nicht  anders  als  unter  steter  Beachtung  der 
Gesamtentwicklung  erfolgen,  wenn  die  Untersuchung  zu  mehr 
als  einer  chronologisch  schematisierenden  Fixierung  des  Ent- 
wicklungsverlaufes  gelangen  will. 

Diese  Notwendigkeit  wird  besonders  deutlich,  wenn  im 
Rahmen  einer  finanzwissenschaftlichen  Untersuchung  eine  ein- 

Zeitschrift  für  die  ges.  Staatswissensch.     Ergänzungsheft  48.  l 


zelne  Steuer  von  einer  so  ausgeprägten  Eigenart,  wie  sie  der  eng- 
lischen Einkommensteuer  zukommt,  dargestellt  werden  soll.  Die 
bedeutsame  Rolle,  welche  die  Steuer  in  der  englischen  Finanz- 
geschichte gespielt  hat,  und  die  stete  Wechselwirkung  ihrer 
finanzpohtischen  Wirkungsweise  und  ihrer  steuertechnischen  Or- 
ganisation lassen  schon  deshalb  eine  genaue  Darstellung  des 
finanzpolitischen  Teils  der  Einkommensteuergeschichte  nicht 
vermeiden.  Da  aber  das  Verständnis  für  die  technische  Ge- 
staltung der  Steuer  nur  durch  ihre  Einordnung  in  das  um- 
fassendere Ganze,  die  Finanzgeschichte,  gewonnen  werden  kann, 
so  mußte  in  der  vorliegenden  Arbeit  die  Darstellung  der  Politik 
der  Darstellung  des  Mittels,  dessen  sich  diese  bediente,  voraus- 
gehen. 

Die  allgemeinere  Grundlage,  auf  der  sich  die  allmähliche 
Umwandlung  des  englischen  Finanz-  und  Steuersystems  im 
19.  Jahrhundert  unter  der  Einwirkung  eines  bestimmt  erkenn- 
baren treibenden  Moments  (der  Einkommensteuer)  vollzieht, 
bietet  die  Gestaltung  des  Finanzwesens  unter  dem  Ministerium 
William  Pitts,  die  sich  etwa  bis  zum  Jahre  1798  als  ein  Produkt 
verschiedenartigster  historischer  Faktoren  herausgebildet  hat. 
Die  am  Schlüsse  dieses  Jahres  dem  Parlament  vorgelegte  Ein- 
kommensteuer (income  tax),  stellt  als  das  nun  in  die  Entwick- 
lung eintretende  neue  Moment  dann  den  eigentlichen  Ausgangs- 
punkt dar.  Dieser  Versuch  fand  zwar  im  Jahre  18 16  einen  vor- 
läufigen Abschluß,  so  daß  die  Zeit  von  181 6  bis  1842  (dem 
Termin  der  Wiedereinführung  der  Einkommensteuer  durch 
Robert  Peel)  in  ihrem  finanzpolitischen  Grundcharakter  der 
Zeit  vor  1799  wieder  wesentlich  analog  erscheint,  während  somit 
der  Umwandlungsprozeß,  den  wir  eingangs  festgestellt  haben, 
erst  unter  der  Einwirkung  der  Einkommensteuer  von  1842  sicht- 
bar zutage  tritt.  Die  Tatsache  jedoch,  daß  bedeutsame  Ver- 
suche, selbst  wenn  sie  gescheitert  sind,  in  der  Geschichte  nie  ganz 
verloren  gehen,  daß  sich  vielmehr  von  ihnen  aus  deutliche  Nach- 
wirkungen ableiten  lassen,  rechtfertigt  die  Verlegung  des  Aus- 
gangspunktes der  zu  untersuchenden  Entwicklung  vom  Jahre 
1842  auf  das  Jahr  1799  durchaus.  Die  Geschichte  der  nächst- 
folgenden Zeit  wird  beherrscht  durch  das  Problem  der  Tarif- 
reform und  die  allmähliche  Veränderung  des  Finanzsystems, 
in  welchem  der  Einkommensteuer  zunächst  noch  ganz  die  Be- 
deutung eines  dem  höheren  Zweck  untergeordneten  Mittels  zu- 


kam.  Mit  dem  Zweck,  dem  sie  dienstbar  gemacht  wurde,  än- 
derte sich  der  finanzpohtische  Charakter  der  Steuer,  bis  sie  am 
Ende  ihrer  langen  Entwicklungsgeschichte  in  dem  Finanzsystem 
die  Rolle  einer  selbständigen  und  grundlegenden  Besteuerungs- 
methode erlangte.  Nach  diesem  Gesichtspunkte  vollzieht  sich 
die  Gliederung  des  finanzpolitischen  Teils  der  Arbeit,  an  den 
sich  der  speziellere,  nach  den  für  die  innere  Entwicklung  der 
Steuer  charakteristischen  Momenten  geordnete  zweite  Teil  der 
Arbeit  anschließt.  Beide  Teile  stehen  aber  nicht  unabhängig 
neben-  oder  nacheinander,  sondern  bilden  ihre  wechselseitige 
Ergänzung  und  Erläuterung. 


I.  Teil. 

Die  Einkommensteuer  in  der  englischen 
Finanzpolitik. 

I.  Kapitel. 
Das  englische  Finanz-  und  Steuersystem  des  18. Jahrhunderts. 

§^- 

Die  Entwicklung  der  englischen  Finanz  Wirtschaft 

im   i8.  Jahrhundert. 

Die  Feststellung  der  Grundlage,  auf  der  sich  und  von  der 
aus  sich  die  zu  untersuchende  Parallelentwicklung  der  Ein- 
kommensteuer einerseits  und  der  Umbildung  des  Finanzsystems 
andererseits  vollzogen  hat,  ist  schwer  durchzuführen,  denn  diese 
Grundlage  ist  keine  einheitliche  unveränderliche  Größe,  sondern 
setzt  sich  selbst  wieder  aus  zahlreichen  Komponenten  zusammen, 
die  gesonderte  Einzelentwicklungen  darstellen.  Wenn  diese 
auch  Glieder  einer  sie  alle  in  sich  begreifenden  allgemeineren 
Reihe  bedeuten  und,  nebeneinander  herlaufend,  auf  ein  gemein- 
sames Ziel  sich  richten,  so  kann  dieses  Ziel  doch  nicht  als  gemein- 
samer Schnittpunkt  der  einzelnen  Entwicklungslinien  in  jeden 
beliebigen  Zeitpunkt  verlegt  werden.  Besonderen  Schwierig- 
keiten aber  begegnet  der  Versuch,  für  einen  gewissen  Zeitpunkt 
eine  einheitliche  Grundlage  zu  finden,  auf  dem  Boden  finanz- 
wissenschaftlicher Untersuchungen,  wo  der  gesamte  Tatsachen- 
bestand in  beständigem  Fluß  ist,  und  wo  die  einzelnen  Erschei- 
nungsreihen mit  verschiedener  Geschwindigkeit  und  oft  auch  in 
entgegengesetzter  Richtung  verlaufen.  Wenn  dies  die  Schwierig- 
keiten sind,  die  sich  einer  Charakterisierung  der  Finanzzustände 
in  England  vor  dem  Jahre  1799  entgegenstellen,  so  bietet  uns 
doch  wieder  gerade  für  diese  Zeit  eine  Tatsache  einen  festen, 
ziemhch  günstigen  Stützpunkt,  von  dem  aus  die  gesuchte  Grund- 
lage leichter  gefunden  werden  kann.    Diese  Tatsache  bilden  die 


—     5     — 

von  William  Pitt  in  der  Zeit  seines  ersten  Ministeriums  etwa 
bis  1798  durchgeführten  finanzpolitischen  Maßnahmen,  die  sich 
unter  folgenden  Punkten  zusammenfassen  lassen : 

1.  Herstellung  des  finanziellen  Gleichgewichts  zwischen  Aus- 
gabe- und  Einnahmebudget  durch  Beseitigung  des  chronisch 
gewordenen  budget-  und  rechnungsmäßigen  Defizits. 

2.  Ordnung  der  Schuldenpolitik. 

3.  Ordnung  der  Staatsausgaben. 

4.  Zoll-  und  Steuerreform  und  in  Verbindung  damit  Ausbau 
des  Steuersystemsi). 

Der  Erfolg  dieser  Maßnabmen  berührt  uns  hier  nur  insofern, 
als  dadurch  eine  gewisse  Ordnung  in  die  frühere,  fast  unüber- 
sehbare Wirrnis  der  englischen  Finanzwirtschaft  gebracht  wurde, 
die  es  ermöglicht,  die  Gesamttendenz  des  Systems  zu  erkennen. 
Die  Grundlage  der  Finanzwirtschaft  des  Staates  bildet  im  letzten 
Grunde  die  Ausgabenentwicklung,  indem  die  Bedarfsdeckung 
sich  notwendig  an  den  gesteigerten  Finanzbedarf  anschließen 
muß.  Dabei  wird  die  Bedarfssteigerung  wesentlich  durch  Fak- 
toren verursacht,  die  von  dem  Willen  der  Finanzleitung  un- 
abhängig sind,  so  daß  sie  also  nicht  nach  freiem  Ermessen,  etwa 
im  Hinblick  auf  die  in  Aussicht  stehenden  Einnahmequellen, 
eingeschränkt  werden  kann.  Dieser  Umstand  tritt  in  England 
im  18.  Jahrhundert  klar  hervor,  indem  hier  die  Ursache  der 
Bedarfssteigerung  vor  allem  in  den  kostspieligen  Kriegen  liegt, 
die  in  diesem  Jahrhundert  zur  Sicherung  der  politischen  Vor- 
machtstellung Englands  gegen  die  damaligen  kontinentalen 
Großmächte  geführt  wurden.  So  sind  es  denn  auch  namentlich 
die  Ausgabeposten  für  Kriegszwecke,  für  Heer  und  Marine,  die 
den  ordentlichen  Bedarf  immer  höher  anschwellen  ließen,  wäh- 
rend diesen  gegenüber  sich  die  Ausgaben  für  Verwaltungszwecke 
fast  stabil  hielten.  Hier  ist  es  nun  überaus  interessant  zu  sehen, 
wie  die  finanzpolitischen  Maßnahmen,  die  eine  der  Bedarfs- 
steigerung entsprechende  Steigerung  der  Staatseinnahmen  zu 
erreichen  suchten,  selbst  wieder  eine  erhebliche  Steigerung  des 
jährlichen  ordentlichen  Bedarfs  zur  Folge  hatten. 

Einen  bedeutsamen  Wendepunkt  in  der  Geschichte  der  Ein- 
nahmegewinnung in  England  bildet  die  große  Revolution  des 
17.   Jahrhunderts,   die   auch  für  die  Finanzgeschichte  den   Ab- 


I)  S.  Buxton,  Finance.    I,  S.  2ff. 


—     6     — 

Schluß  des  Mittelalters  und  den  Beginn  der  modernen  Zeit  mar- 
kiert. In  ihr  liegen  die  Anfänge  für  die  hauptsächlichsten  Ein- 
nahmezweige, die  im  Verlaufe  des  folgenden  Jahrhunderts  zur 
Ausbildung  kamen,  der  Finanzzöllc  und  der  Verbrauchssteuern, 
wie  auch  der  direkten  Landsteuer  und  der  Stempelsteuer.  Aber 
auch  ein  anderer  großer  Zweig  der  Staatseinnahmen  nimmt  hier 
seinen  Anfang,  die  Staatsschulden,  die  nach  anfänglich  schüch- 
ternem Gebrauch  bald  in  ungeheurem  Umfang  zur  Bedarfs- 
deckung verwendet  wurden.  Während  man  sich  einerseits 
scheute,  die  direkte  Vermögensbesteuerung  umfassend  auszu- 
bauen, andererseits  aber  die  mit  der  langsamen  Entwicklung  der 
gesamten  Volkswirtschaft  zusammenhängende  Starrheit  und  ge- 
ringe Beweglichkeit  der  indirekten  Besteuerung  dem  durch  die 
Kriege  unverhältnismäßig  gesteigerten  Bedarf  nicht  entsprechen 
konnte,  boten  die  Anleihen  ein  überaus  bequemes  Mittel  dar, 
dringlich  auftretende  Finanzbedürfnisse  zu  befriedigen.  Gleich- 
zeitig fand  man  in  der  eben  begründeten  Bank  von  England 
eine  einfache  Handhabe,  Anleihen  rasch  und  sicher  unterzu- 
bringen. So  bewirkte  jeder  Krieg  eine  erhebliche  Zunahme  der 
englischen  Staatsschuld;  je  mehr  aber  von  dieser  Einnahme- 
quelle Gebrauch  gemacht  wurde,  desto  deutlicher  trat  die  Kon- 
sequenz davon  zutage  in  den  steigenden  Verzinsungssummen, 
die  nunmehr  alljährlich  als  ordentliche  Ausgaben  in  das  Budget 
eingestellt  werden  mußten  und  so  ihrerseits  die  Steigerung  des 
Bedarfs  immer  höher  trieben.  Sobald  sich  die  Schuldenlast  in 
dem  raschen  Anwachsen  der  zur'  Verzinsung  erforderlichen 
Summen  drückend  bemerkbar  machte,  setzte  natürlich  auch 
die  Schuldentilgungspolitik  ein,  die  dem  entstehenden  Dilemma 
auszuweichen  suchte.  In  dieser  Hinsicht  glaubte  man  durch  die 
Errichtung  eines  Tilgungsfonds,  des  von  Walpole  1716  errich- 
teten „Sinking  fund",  dem  ein  Teil  der  ordenthchen  Einnahmen 
zugewiesen  wurde,  eine  automatische  Reduktion  der  Staatsschuld 
erreichen  zu  können*).  Es  war  aber  wiederum  nur  eine  Folge 
der  unverhältnismäßigen  Ausnutzung  des  Staatskredits,  daß  der 
Tilgungsfonds    die    ihm    zugedachte    Aufgabe    einer    Schulden- 


*)  Der  Walpolesche  Tilgungsfonds  wurde  aus  einem  bestimmten  Teil 
der  jährlichen  dauernden  Einnahmen  gebildet,  die  aus  den  laufenden  Ge- 
samteinnahmen ausgeschieden  und  zur  \'erzinsung  und  zur  Tilgung  der  auf- 
gelaufenen Staatsschuld  verwendet  wurden.  Die  so  festgelegten  Beträge 
waren  daher  der  Kontrolle  des  Parlaments  entzosren. 


/      — 


tilgung  wirksam  nur  durchzuführen  vermochte,  wenn  er  aus  den 
ordenthchen  Einnahmen  mit  wachsenden  Beträgen  verstärkt 
werden  konnte,  was  ebenfalls  nur  möglich  war,  wenn  die  übrigen 
Einnahmezweige  derart  ausgebaut  wurden,  daß  ihnen  diese  Be- 
träge entnommen  werden  konnten.  In  dieser  Hinsicht  hat  die 
englische  Finanzpraxis  zunächst  einen  Einnahmezweig  zum  Aus- 
bau gebracht,  für  den  sich  in  der  älteren  Finanzgeschichte  ein 
Anknüpfungspunkt  finden  ließ :  die  von  der  englischen  Mer- 
kantilpolitik eingeführten  Ein-  und  Ausfuhrzölle.  Diese  ver- 
lieren ihren  bisherigen,  fast  ausschließlichen  Charakter  als 
Schutzzölle,  die  nur  der  Förderung  des  heimischen  Wirtschafts- 
lebens dienten,  und  werden  zu  ausgesprochenen  Finanzzöllen,  als 
das  Revolutionsparlament  in  seinem  Kampf  gegen  das  Königtum 
einer  ergiebigen  und  hinreichend  gesicherten  Finanzquelle  be- 
durfte. Und  diese  fand  das  Parlament,  das  London  und  die 
meisten  der  größeren  Seehäfen  beherrschte,  eben  in  der  Be- 
lastung der  hier  ein-  und  ausgeführten  Waren  durch  Zölle  (Cu- 
stom  duties)  2). 

Diesen  Charakter  bewahren  die  Zölle  auch  nach  der  Re- 
stauration des  Königtums,  indem  sie  vom  Parlament  unter  der 
Bezeichnung  „Old  Subsidy"  Karl  II.  auf  die  Dauer  seiner  Re- 
gierungszeit als  Einnahmequelle  bewilligt  wurden.  Die  Zu- 
sammenfassung dieser  Zölle  in  dem  als  „the  Great  Statute"  be- 
kannten Gesetz  und  die  Festsetzung  eines  neuen,  allerdings  nach 
verschiedenen  Grundsätzen  normierten  Tarifs  bilden  die  Grund- 
lage für  die  Weiterentwicklung  der  Zölle,  die  in  den  nächst- 
folgenden Jahrzehnten  wesentlich  in  einer  immer  mehr  Gegen- 
stände des  Verbrauchs  erfassenden  Ausbreitung  lag.  Die  finan- 
zielle Ergiebigkeit  der  Zölle  war  nicht  übermäßig  groß  und  die 
vielfachen,  nach  den  verschiedenartigsten  Grundsätzen  durch- 
geführten teilweisen  oder  allgemeinen  Erhöhungen  hatten  we- 
niger eine  Steigerung  des  Ertrags,  als  eine  zunehmende  Ver- 
wirrung des  Systems  zur  Folge.  Hierin  hat  William  Pitt  eine 
Reform  durchgeführt,  indem  er  1787  alle  bestehenden  Zölle  in 
dem  sogenannten  „Customs  Consolidation  Act"  zusammenfaßte. 
Der  Tarif,  der  etwa  1200  Artikel  umfaßte,  blieb  trotz  teilweiser 
Reformen  in  seinem  Charakter  unberührt.  Seit  dieser  Konsoli- 
dierung  erfahren   die   Zölle   in   den   französischen   Revolutions- 


z    )  Dowell,  History.    II,  S.  6. 


kriegen  eine  mächtige  Ausdehnung,  so  daß  sie  am  Ende  des 
Jahrhunderts  im  ordentlichen  r^innahmebudget  eine  bedeutende 
Stelking  einnehmen. 

In  finanzieller  Hinsicht  winden  die  Zölle  zunächst  jedoch 
überflügelt  durch  die  ILntw  i(  klung  des  anderen  großen  Ein- 
nahmezweiges, auf  dem  am  Ende  des  i8.  Jahrhunderts  der  in- 
direkte Charakter  des  englischen  Steuersystems  wesentlich  be- 
ruhte. Wenn  die  Zölle  bei  ihrer  Umwandlung  in  Finanzzölle  auf 
historische  Tradition  gegründet  werden  konnten,  so  stellen  die 
1643  nach  holländischem  Muster  eingeführten  indirekten  Ver- 
brauchsteuern (Excise  duties)  in  England  eine  durchaus  unge- 
wohnte, der  Tradition  widersprechende  Erscheinung  dar,  und  wir 
begreifen  so  den  heftigen  Widerstand,  den  die  Bevölkerung  fast 
ein  Jahrhundert  lang  ihnen  entgegengesetzt  hat.  Die  „Inland  du- 
ties", mit  welcher  Bezeichnung  man  die  Verbrauchsteuern  von  den 
Zöllen  unterschied,  wurden  nach  der  Restauration  in  dem  Umfange 
beibehalten,  den  sie  während  der  Revolution  durch  Ausbreitung 
auf  fast  alle  Gegenstände  des  täglichen  Verbrauchs  angenommen 
hatten.  Nur  die  schwer  drückende  Besteuerung  der  notwendig- 
sten Lebensmittel,  wie  Fleisch  und  Brot,  wurde  aufgegeben.  Die 
weitere  Entwicklung  der  „Excise  duties"  fällt  zusammen  mit 
einer  Ausdehnung  der  Steuer  auf  bisher  steuerfreie  Verbrauchs- 
objekte und  mit  den  immer  wiederkehrenden  Erhöhungen  der 
Steuersätze.  Die  Ertragssteigerung  vollzog  sich  in  stetiger,  aber 
starker  Progression,  so  daß  die  Excise  duties  bald  den  Haupt- 
zweig der  ordentlichen  Einnahmen  darstellten. 

Neben  diesen  beiden  Haupteinnahmequellen,  die  dem  eng-- 
lischen  Steuersystem  des  18.  Jahrhunderts  seinen  ausgeprägt  in- 
direkten Charakter  geben,  ist  eine  ergänzende  Besteuerung  in 
direktem  Sinne  nur  in  schwacher  Weise  durchgedrungen.  Eine 
168S  eingeführte  Vermögenssteuer  3),  die  das  Grund-  und  Ka- 
pitalvermögen sowie  Einkommen  aus  öffentlichen  Amtern  treffen 
sollte,  verkümmerte  bald  zu  einer  Grundsteuer,  der  sogenannten 
„Landtax",  die  1698  in  eine  Repartitionssteuer  umgewandelt 
wurde  und  bald  den  Charakter  einer  auf  dem  Grundeigentum 
liegenden  Reallast  annahm.  Durch  Pitt  wurde  die  Steuer,  die 
sich  das  ganze  Jahrhundert  hindurch  ziemlich  stabil  gehalten 
hatte,   in  eine   ablösbare   Rente   umgewandelt,   doch   wurde   die 


3)   Manes,   Einkommensteuer.    S.    134. 


—     9     — 

Ablösung,  deren  Ertrag  Pitt  zu  einer  wirksameren  Schulden- 
tilgung zu  verwenden  hoffte,  nur  im  geringen  Umfang  durch- 
geführt, so  daß  sie  bis  heute  noch  nicht  vollendet  isf*). 

Wenn  die  Landtax  einen  direkten  Versuch  darstellt,  das  Ver- 
mögen nach  seiner  deutlich  sichtbaren  und  bequem  zu  erfassen- 
den Grundlage  steuerlich  zu  belasten  und  dadurch  die  einseitige 
Besteuerungsweise  durch  Zölle  und  Verbrauchsteuern  zu  er- 
gänzen, so  verfiel  man  in  der  gleichen  Absicht  auf  eine  neue 
Steuergruppe,  indem  man  das  Kriterium  für  die  steuerliche 
Leistungsfähigkeit  des  Vermögens  in  dem  Maße  des  damit  ge- 
machten Aufwandes  zu  finden  glaubte.  So  gelangte  man  seit 
der  Mitte  des  i8.  Jahrhunderts  zu  der  Kategorie  der  Aufwands- 
steuern  (der  sogenannten  ,, Assessed  taxes",  d.  i.  Veranlagungs- 
steuern), indem  man  den  Aufwand  dort  besteuerte,  wo  er  eben 
besonders  deutlich  in  die  Erscheinung  trat.  Diese  Steuern, 
die  nach  einem  gerade  auftretenden  Finanzbedürfnis  in  ziem- 
lich willkürlicher  Reihenfolge  die  einzelnen  Gegenstände  des 
Aufwands  erfaßten,  tragen  alle  ein  starkes  Moment  der  Zu- 
fälligkeit an  sich,  indem  man  bei  der  Suche  nach  neuen  Ein- 
nahmequellen immer  dasjenige  Objekt  herausgriff,  das  dem 
momentanen  Bedürfnis  am  meisten  zu  entsprechen  schien.  Es 
ist  deutlich  zu  ersehen,  wie  diese  Steuern  im  Grunde  auf  dem- 
selben Gedanken  beruhten,  wie  die  indirekten  Steuern,  da  sie 
nicht  aus  einer  einheitlichen  Quelle  schöpfen,  sondern  ein  weit- 
verzweigtes System  umfassen,  womit  man  die  Steuer  erträg- 
licher zu  machen  meinte.  Und  hier  wie  dort  glaubte  man  auch 
den  Grundsatz  der  Gerechtigkeit  gewahrt  zu  haben,  da  alle  diese 
Steuern  in  gewissem  Grade  das  Moment  der  Freiwilligkeit  in 
sich  tragen,  indem  Aufwand  und  Verbrauch  eingeschränkt 
werden  konnten,  wenn  die  Steuerlast  drückend  wurde.  Aus 
diesem  Grunde  aber  teilen  die  Assessed  taxes  mit  der  gesamten 
indirekten  Besteuerung  die  Eigenschaft  einer  gewissen  Starrheit 
und  Unsicherheit,  und  beiden  Arten  ist  auch  das  gemeinsam, 
daß  infolge  der  weitgehenden  Zersplitterung  der  Ertrag  zu  den 
Erhebungskosten  oft  in  denkbar  ungünstigstem  Verhältnis  stand. 

Den  so  dargestellten  Einnahmezweigen  gegenüber  haben 
bis  zum  Ende  des  i8.  Jahrhunderts  die  zahlreichen  Stempel- 
steuern finanziell  nur  geringe  Bedeutung.    Zwar  gehören  infolge 


4)  Manes,  Einkommensteuer.    S.    18 • 


lO 

einer  Eigenlünilichkcil  der  englischen  Steiier\er\valtung  auch 
die  Erbschaftssteuern,  die  am  Ende  des  Jalirhunderts  in  der 
Form  einer  XerniiU  hiiiissicuer  eingeführt  wurden,  zu  cHeser 
Gruppe.  Diese  gelangen  aber  in  der  Periode,  die  unserer  Unter- 
suchung unterliegt,  selbst  erst  zu  vollkoninienerer  Entwicklung, 
während  sie  bis  zur  Einführung  der  ersten  Einkommensteuer 
als  ergänzende  Vermögenssteuern  im  indirekten  System  nur 
wenig  Gewicht  hatten.  Die  Einkünfte  aus  den  Domänen,  der 
Püstverwaltung  und  anderen  Erwerbsanstalten  waren  meist  so 
geringfügig,  daß  sie  in  diesem  Zusammenhang  einer  besonderen 
Beachtung  entbehren  können. 

Die  budget-  und  rechnungsmäßige  Zusammenfassung  der 
verschiedenen  Einnahmezweige  und  bestimmter  Ausgabeposten 
wurde  in  jener  Zeit  bewirkt  durch  den  sogenannten  „Consolidated 
fund",  der  in  Verbindung  mit  den  Konsalidationen  der  Zölle 
und  Verbrauchsteuern  von  Pitt  errichtet  worden  war.  Der  Fonds 
wurde  mit  jenen  dauernden  Ausgaben  belastet,  deren  Höhe  von 
der  jährlichen  Bewilligung  durch  das  Parlament  unabhängig 
war,  da  sie  auf  einer  dauernden  Verpflichtung  des  Staates  be- 
ruhten, wie  die  Schuldverzinsung  und  die  Ausgaben  der  Zivil- 
verwaltung. Zur  Deckung  dieser  Ausgaben  wurden  dem  Con- 
solidated fund  bestimmte  Einnalimezweige  oder  Teile  derselben 
zugewiesen,  so  daß  in  diesem  Fonds  bis  zu  einem  gewissen  Grad 
auch  das  Prinzip  der  Kasseneinheit  zum  Ausdruck  kam.  Im 
Gegensatz  zum  Consolidated  fund  stand  der  sogenannte  „/Vnnual 
Supply",  d.  i.  der  Teil  des  jährlichenJ3edarfs,  der  vom  Parlament 
in  seiner  Höhe  beeinflußt  werden  konnte,  und  deshalb  der 
jährlichen  Neubewilligung  durch  dasselbe  unterlag.  Die  Mittel 
zur  Deckung  des  Annual  Supply  wurden  durch  die  jährlichen 
Steuern  sowie  durch  Zusatzsteuern,  die  im  Bedarfsfalle  auf 
Zölle  und  Verbrauchsobjekte  gelegt  wurden,  aufgebracht. 

§2. 

Die    Entwicklungstendenzen. 

Das  markanteste  Moment  der  englischen  Finanzgeschichte 
des  i8.  Jahrhunderts  bildet  das  dauernde  Mißverhältnis,  in 
w^elchem  die  Einnahmegewinnung  zur  Ausgabenwirtschaft  sich 
befand.  Um  diese  Tatsache  Avürdigen  zu  können,  ist  es  durch- 
aus   notwendig,    sich    stets    bewußt    zu    bleiben,    daß    sich   die 


—     II     — 

Finanzentwicklung  nicht  unter  den  steten  Bedingungen  einer 
dauernden  Friedenszeit,  sondern  unter  den  wechselnden  An- 
forderungen langwieriger  Kriegszeiten  vollzog,  in  Jenen  Eng- 
land mehr  als  einmal  um  seine  Lebensinteressen  und  um  seine 
Existenz  zu  kämpfen  hatte.  Die  Aufrechterhaltung  der  natio- 
nalen Ehre  und  Selbständigkeit  ist  für  diese  ganze  Zeit  der 
Blickpunkt,  der  in  allen  Fragen,  und  in  hohem  Maße  auch 
in  Finanzfragen,  die  Entscheidungen  des  Parlaments  bestimmte. 
Man  war  sich  durchaus  bewußt,  daß  die  Selbständigkeit  des 
Landes  nur  mit  den  ungeheuersten  Anstrengungen  zu  erhalten 
sei,  und  diese  Überzeugung  verstärkte  sich  noch  weit  melir 
in  dem  fast  beis2)iellos  zähen  Kampf,  den  England  mit  der 
französischen  Republik  und  späterhin  mit  Napoleon  führen 
mußte.  Das  Finanzj^roblem  gestaltete  sich  demnach  so,  daß 
die  Herstellung  des  finanziellen  Gleichgewichts  zwischen  Ein- 
nahme- imd  Ausgabewirtschaft  von  vornherein  nicht  durch 
eine  Reduktion  der  Ausgaben,  sondern  durch  eine  mächtige 
Steigerung  der  Einnahmen  zu  erreichen  gesucht  wird.  Deut- 
licher bestimmt  wird  dieses  Streben  durch  die  in  den  letzten 
zwei  Jahrzehnten  des  Jahrhunderts  zunehmende  Einsicht  in 
die  Wirkung  der  bisherigen  Schuldenjjolitik,  die  dadurch  in 
neue  Bahnen  gelenkt  wird.  Die  Bedeutung  der  fundierten 
Schulden  für  das  Einnahmebudget  und  andererseits  wieder 
für  das  Ausgabebudget  (infolge  der  wachsenden  Verzinsungs- 
summe) läßt  zunächst  das  Problem  der  Staatsschuld  in  den 
finanzpolitischen  Erwägungen  jener  Zeit  durchaus  in  den 
Vordergrund  treten.  Theoretisch  findet  dieses  Problem  eine 
umfassende  Behandlung  in  einer  kaum  übersehbaren  Flut 
wissenschaftlicher  und  polemischer  Abhandlungen,  denen  gegen- 
über jede  andere  Finanzliteratur  gänzlich  in  den  Hintergrund  tritt; 
seine  praktische  Lösung  versuchte  William  Pitt  1786  durch 
die  Neugründung  des  alten  W  a  1  p  o  1  e  sehen  Tilgungsfonds.  In- 
dem man  die  Schulden  als  außerordentliche  Deckungsweise 
eines  außerordentlichen  oder  eines  die  gegenwärtige  Leistungs- 
fähigkeit überschreitenden  ordentlichen  Bedarfs  erkennen  lernte, 
durch  welche  die  Bedarfsdeckung  auf  eine  größere  Reihe  von 
Jahren  verteilt  wurde,  statt  sie  einem  einzigen  Finanzjahr  auf- 
zubürden, erkannte  man  auch  die  Notwendigkeit,  nicht  nur  für 
die  Verzinsung,  sondern  auch  für  eine  planmäßige  Tilgung 
der  aufgenommenen  Schuld  zu  sorgen.     Diese  Aufgabe  wurde 


—       12       — 

dem  Tilgungsfonds  zugedacht,  der  durch  einen  bestimmten 
Teil  der  jährlichen  Einnahmen  gespeist  und  durch  wiederholte 
außerordentliche  Zuwendungen  verstärkt  wurde.  Die  ursprüng- 
liche Absicht  war,  auf  diese  Weise  Kapital  anzusammeln,  um 
die  Anleihepapiere  nach  und  nach  zurückzukaufen.  A.uf  dieser 
Grundlage  machte  denn  auch  die  Schuldentilgung  sichere  Fort- 
schritte, bis  sie  durch  die  zunehmende  Steigerung  der  mili- 
tärischen Ausgaben  im  französischen  Revolutionskrieg  wieder 
durch  die  Neuaufnahme  von  Schulden  übertroffen  wurde  ^). 
Ohne  das  im  Tilgungsfonds  ausgedrückte  Prinzip  zu  ver- 
lassen, ergänzte  es  Pitt  nun  insofern,  als  er  für  die  Tilgung 
der  neuaufgenommenen  Schulden  und  für  deren  Verzinsung 
durch  Steuererhöhungen  und  durch  Zusatzsteuern,  den  soge- 
nannten war-taxes,  neue  Quellen  eröffnete.  Damit  tritt  das 
eigentliche  Finanzproblem  hervor,  durch  eine  Steigerung  der 
ordentlichen  Einnahmen  das  budgetmäßige  Gleichgewicht  her- 
zustellen und  die  außerordentlichen  Einnahmen  durch  ordent- 
liche zu  ersetzen. 

Indem  sich  die  Einsicht  durchsetzte,  daß  die  ordentlichen 
Jahresausgaben  möglichst  durch  laufende  Einnahmen  zu  decken 
seien,  wurde  damit  in  die  Finanzpolitik  der  Grundsatz  ein- 
geführt, den  Pitt  mit  einer  stehenden  Redewendung  als  ,,the 
principle  to  raise  within  the  year"  bezeichnet.  Seine  natürliche 
Folge  bildet  das  andere,  bei  der  Aufstellung  des  Budgets  nun- 
mehr zur  Geltung  kommende  Prinzip,  die  aus  Anleihen  zu 
gewinnenden  Einnahmen  immer  m6hr  einzuschränken,  oder 
doch  durch  eine  bestimmte  Steuer  für  die  Tilgung  der  unum- 
gänglich notwendigen  Anleihen  zu  sorgen  6). 

Die  damit  anhebende  Fortentwicklung  des  englischen 
Finanzwesens  steht  nun  durchgehend  unter  der  Einwirkung 
des  bestehenden  Steuersystems,  indem  gerade  hier  die  Wir- 
kungsweise eines  wesentlich  auf  indirekten  Steuern  ruhenden 
Systems  anschaulich  hervortrat.  Den  durch  die  Kriegslage 
bedingten  Bedarfssteigerungen  vermochten  die  Einkünfte  aus 
den  indirekten  Steuern  infolge  der  diesen  eigentümlichen  ge- 
ringen Beweglichkeit   um  so   weniger  zu  entsprechen,   als  sich 


5)  In    den    Jahren    von     1793/1802    wurde    die    Staatsschuld    um    rund 
170  Milhonen  £  vermehrt. 

6)  Vgl.  dazu  Pari.   Hist.    Vol.  33,  col.   1036/1067  und  vol.  34,  col.    i  ff . 


—     13     — 

ihre  natürliche  Steigerungsfähigkeit,  wie  sie  sich  aus  der  Zu- 
nahme des  Volkswohlstandes  und  des  allgemeinen  Verbrauchs 
ergibt,  in  ihr  Gegenteil  verwandelt,  indem  der  hemmende  Ein- 
fluß eines  opferreichen  Krieges  sich  zuallererst  in  einer  all- 
gemeinen Einschränkung  der  Lebenshaltung  bemerkbar  macht. 
Aus  diesem  Grunde  fehlt  einem  indirekten  System  die  not- 
wendige Elastizität  der  Einnahmevermehrung  oder  -Vermin- 
derung nach  ^Maßgabe  des  Bedarfs,  und  es  ist  leicht  zu  er- 
kennen, daß  in  diesem  Mangel  der  tiefere  Grund  für  die  starke 
Vermehrung  der  englischen  Staatsschuld  während  der  Kriege 
des   i8.  Jahrhunderts  liegt. 

Eine  Einnahmesteigerung  bedeutete  somit  eine  Zunahme 
der  steuerlichen  Belastung  durch  Erhöhung  der  bestehenden 
Steuern  oder  durch  Erschließung  neuer  Steuerquellen.  Beide 
Mittel  hat  Pitt  zur  Durchführung  seines  Prinzips  ,,to  raise 
within  the  year"  zu  ausgiebiger  Anwendung  gebracht.  Dabei 
aber  ergab  sich  wiederum  aus  der  Praxis  eine  Tatsache,  die 
sich  schließlich  als  einfaches  Rechenexempel  bei  jeder  neuen 
prozentualen  Erhöhung  der  Zölle  und  Verbrauchssteuern  fest- 
stellen ließ.  Indem  diese  nämlich  eine  Verteuerung  der  da- 
mit belegten  Gegenstände  zur  Folge  hat,  tritt  damit  auch 
ein  Rückgang  im  Konsum  ein,  der  auf  die  Ertragssteigerung 
der  Steuern  hemmend  wirkt.  Diese  Tatsache  trat  in  dem 
französischen  Revolutionskrieg  trotz  des  stark  gesteigerten  ab- 
soluten Ertrags  der  Zölle  und  der  Verbrauchsteuern  klar  genug 
hervor,  um  die  Überzeugung  zu  wecken,  daß  beide  Steuer- 
quellen an  der  Grenze  ihrer  natürlichen  Leistungsfähigkeit  an- 
gelangt seien.  Wenn  so  die  zur  Gesundung  des  Finanzwesens 
und  zur  Erhaltung  und  Stärkung  des  ohnehin  angespannten 
Staatskredits  notwendige  Einnahmeerhöhung  durch  eine  noch 
stärkere  Ausnutzung  der  beiden  Haupteinnahmequellen  des 
Staates  nicht  erreicht  werden  konnte,  so  war  diese  Möglich- 
keit von  vornherein  auch  bei  der  Landsteuer  ausgeschlossen, 
da  der  hohe  Satz  derselben  eine  weitere  Einnahmegewinnung 
ebenfalls   unmöglich   machte ''). 

So  blieben  zu  einer  Einnahmesteigerung  innerhalb  des 
bestehenden  Systems  nur  die  Stempelsteuern  und  die  Assessed 
taxes  übrig,  und  in  diesen  beiden  Steuerkategorien  Hegen  denn 


7)  Vgl.  Manes,  S.   135  u.  1S5. 


—     14     — 

auch  die  wesentlichen  Momente  verborgen,  die  den  Ausbau 
des  Systems  in  der  für  die  gedeihHchc  Fortentwicklung  der 
Finanzen  notwendigen  Richtung  ermöglichten,  die  aber  gleich- 
zeitig damit  die  Umwandlung  des  einseitig  indirekten  Steuer- 
systems in  ein  auf  indirekter  Verbrauchsbesteuerung  und 
direkter  Vermögens-  und  Einkommensbcstcuerung  gegründetes 
gemischtes  System  einleiteten  und  bedingten. 

Dazu  komnu  nun  aber  noch  ein  weiteres  Moment  für  die 
Notwendigkeit  einer  Systemänderung.  Man  konnte  sich,  je 
mehr  man  sich  bei  der  Unzulänglichkeit  der  bestehenden  Ein- 
nahmequellen nach  neuen  ergiebigeren  Quellen  umsah,  doch 
nicht  der  Tatsache  verschließen,  daß  durch  alle  bestehenden 
Steuerarten  breite  Vermögensteile  nicht  erreicht  werden  konnten, 
die  doch  einer  kräftigen  Besteuerung  gegenüber  sich  als 
durchaus  leistungsfähig  gezeigt  hätten.  Wenn  man  auch  mit 
den  Stempelsteuern  Vermögensteile,  soweit  sie  rechtlichem  oder 
handelsmäßigem  Verkehr  unterlagen,  und  durch  die  Assessed 
taxes  solche  Vermögensteile  traf,  die  ihre  Leistungsfähigkeit 
durch  den  mit  ihnen  gemachten  Aufwand  erwiesen,  so  gab  es 
in  der  Entwicklungszeit  des  modernen  Kapitalismus  doch  Ver- 
mögensteile genug,  die  von  diesen  Steuern  nicht  erreicht  wurden 
und  deren  Belastung  durch  die  allgemeinen  indirekten  Ver- 
zehrssteuern in  keinem  Verhältnis  zu  ihrer  Leistungsfähigkeit 
stand.  Und  da  gerade  in  England  der  Grundsatz  der  Gleichheit 
und  Gerechtigkeit  sowohl  in  der  Theorie  als  auch  längst  schon 
in  der  Praxis  unbezweifeltes  Geltungsrecht  erlangt  hatte,  so 
konnte  die  Einsicht  nicht  länger  unterdrückt  werden,  daß  bei 
der  schweren  Belastung  durch  die  Masse  der  indirekten  Steuern 
die  reicheren  und  reichsten  Kreise  des  Volkes  über  diese  Be- 
steuerung hinaus  nach  dem  Grade  ihrer  Leistungsfähigkeit  heran- 
gezogen werden  müßten.  Dazu  mußte  aber  ein  neuer  Be- 
steuerungsmodus gefunden  werden,  der  auf  anderen  Prinzipien 
beruhte  als  die  bisherigen  Steuerarten,  und  der  auch  ein  anderes 
Erhebungsverfahren  zur  Anwendung  brachte  als  das  bisher  an- 
gewandte, wenn  wirklich  die  Besteuerung  nach  dieser  Richtung 
hin  erfolgreich  ausgebaut  werden  sollte.  Den  Verlauf  dieser 
steuertechnischen  Versuche  und  finanzpolitischen  Maßnahmen 
darzustellen,  wird  der  Gegenstand  der  folgenden  Unter- 
suchung" sein. 


2.  Kapitel. 
Die  erste  Einkommensteuerperiode. 


Der    Übergang   zur    direkten    Vermögens-    und   Ein- 
kommensbesteuerung. 

Die  machtvolle  Entwicklung  des  englischen  Wirtschafts- 
lebens in  dem  Jahrzehnt,  das  zwischen  der  Beendigung  des  nord- 
amerikanischen Unabhängigkeitskrieges  und  dem  Beginn  der 
französischen  Revolutionskriege  liegt,  hat  trotz  der  Nachwir- 
kungen des  ungünstig  verlaufenen  Krieges  auf  die  Finanzlage 
Englands  fördernd  eingewirkt.  Und  nicht  in  letzter  Linie  ist 
es  dem  Zusammentreffen  der  Pitt  sehen  Reformen  mit  der 
allgemeinen  wirtschaftlichen  Aufwärtsbewegung  (ein  Umstand, 
der  für  jede  Finanzreform  von  größter  Bedeutung  ist)  zuzu- 
schreiben, wenn  ein  Erfolg  derselben  eintrat.  Die  günstige 
Entwicklung  schlug  aber  mit  dem  Ausbruch  der  Revolutions- 
kriege in  ihr  Gegenteil  um.  In  den  Jahren  von  1793  bis  1798 
konnten  zur  Deckung  der  Gesamtausgaben  von  rund  235  Mil- 
lionen £  aus  den  ordentlichen  Einnahmezweigen  nur  123,5  Mil- 
lionen £  aufgebracht  werden.  So  griff  man  in  dieser  Zeit  wieder 
in  ausgedehnter  Weise  zur  Schuldenaufnahme,  so  daß  von 
1794  bis  1798  die  englische  Staatsschuld  sich  um  mehr  als 
1 1 5  Millionen  £  vermehrte.  Demgegenüber  erscheint  die  Ver- 
mehrung der  dauernden  Einnahmen  durch  fortgesetzte  Aus- 
dehnung und  Erhöhung  der  indirekten  Steuern  und  der  Auf- 
wandsteuern für  die  Beurteilung  der  Finanzlage  kaum  von  Be- 
lang, da  die  gleichzeitige  Steigerung  der  jährlichen  Ausgaben 
sich  weit  rascher  vollzog  als  die  der  Einnahmen.  Das  Wesent- 
liche ist  hier  aber  der  Umstand,  daß  sich  trotz  der  Erhöhungen 
und  Vermehrungen  der  indirekten  Steuern  der  Ertrag  derselben 
doch  nicht  so  steigern  ließ,  daß  die  Aufnahme  neuer  Anleihen 
durch  den  Mehrertrag  der  Steuern  hätte  ersetzt  werden  können. 
Infolge  der  Kriegslage  verhielten  sich  die  Zölle  so  überaus 
schwankend,  daß  sie  überhaupt  keine  verläßliche  Einnahme- 
quelle darstellten.  Die  Verbrauchssteuern  aber  zeigten  von 
1 793/1 798  wohl  eine  Ertragssteigerung  von  3,5  Millionen  £, 
doch  waren  sie  damit  bereits  an  dem  Punkte  angekommen,  wo 


—     i6     — 

eine  weitere  Erhöhung  notwendig  zu  einem  Mißerfolg  führen 
mußte.  Da  so  das  indirekte  Besteuerungssystem  sich  als  unzu- 
länglich erwies,  den  Grundsatz,  einen  möglichst  großen  Teil 
des  jährlichen  Bedarfs  durch  Steuern  innerhalb  des  Bedarfs- 
jahres zu  decken,  durchzuführen,  mußte  der  Gedanke  durch- 
dringen, durch  eine  Änderung  im  System  selbst  neue  Einnahme- 
quellen zu  erschließen  und  dabei  die  wohlhabenderen  Schichten 
des  Volkes  über  die  Besteuerung  durch  die  indirekten  Ver- 
brauchsabgaben hinaus  stärker  heranzuziehen.  Wenn  demnach, 
wie  Man  es  richtig  hervorhebt^),  durch  die  indirekten  Steuern 
der  Einkommensteuergedanke  auch  nicht  direkt  gefördert  wurde, 
so  drängte  doch  eben  die  Unzulänglichkeit  der  indirekten  Be- 
steuerung zusammen  mit  der  Erschöpfung  des  Staatskredits  auf 
eine  Ergänzung  des  Besteuerungssystems  durch  direkte  Ver- 
mögenssteuern hin. 

Die  beiden  Einnahmezweige,  deren  Ausbau  noch  mög- 
lich schien,  und  die  bisher  neben  den  Zöllen,  den  Verbrauch- 
steuern und  der  Landsteuer  nur  eine  geringe  Bedeutung  zu 
erlangen  vermocht  hatten,  waren  die  Stempelsteuern  imd  die 
Aufwandsteuern.  Die  eigentlichen  Stempelsteuern,  die  sich  an 
Verkehrsakte  jeder  Art  anschlössen,  waren  einer  erheblichen 
Mehrbelastung  kaum  fähig,  da  bei  einer  allzu  drückenden  Be- 
steuerung des  Verkehrs  die  stempelpflichtigen  Akte  möglichst 
vermieden  und  umgangen  werden  konnten,  der  Ertrag  da- 
durch also  nicht  der  Erhöhung  entsprechend  gesteigert  wurde. 
Diejenigen  Steuern  jedoch,  die  eine  wirksame  Erhöhung  zu 
tragen  vermochten,  waren  nur  uneigentlich  Stempelsteuern. 
Sie  schlössen  sich  an  den  wirtschaftlichen  Verkehrsakt  der 
Vermögensübertragung  an  und  sind  so  eigentliche  Vermögens- 
steuern, bei  denen  aber  nicht  das  übertragene  Vermögen  einer 
direkten  Besteuerung  unterworfen  wurde,  sondern  vielmehr  der 
Akt  der  Übertragung,  sofern  er  durch  irgendeine  amtliche 
Bescheinigung  faßbar  wurde.  Es  sind  das  die  ,, Probate  and 
administration  duties",  die  bereits  1694  zum  ersten  Male  unter 
den  Stempelsteuern  auftauchten  und  im  amerikanischen  Un- 
abhängigkeitskrieg durch  die  Einführung  einer  Wertskala  des 
testamentarisch  übertragenen  Vermögens  schärfer  ausgestaltet 
wurden.      Pitt    ging    durch    Ausdehnung    und    weitere    Diffe- 

8)  Manes,  S.  112. 


—     17     - 

renzierung  der  Skala,  die  er  mit  einer  Erhöhung  der  jewcihgen 
Steuersätze    verband,    1795    in   dieser   Richtung   weiter  ■>). 

Neben  diesen  Steuern,  die  durch  ihre  Gebundenheit  an 
Stempelpapiere  den  Charakter  von  Stempelsteuern  deutlicher 
hervortreten  lassen,  kam  seit  1780  unabhängig  von  diesen 
eine  andere  Reihe  von  Steuern  auf,  deren  erste  die  1780  von 
North  eingeführte  Vermächtnissteuer  (Legacy  duty)  bildet. 
Der  Ertrag  dieser  Steuer  blieb  gering,  und  1795  schlug  Pitt 
deshalb  den  Weg  einer  direkten  Vermögensbesteuerung  mit 
der  Vorlage  einer  Erbschaftssteuer  (collateral  succession  duty) 
ein,  die  aber  im  Unterhaus  auf  das  bewegliche  Vermögen  be- 
schränkt wurde,  während  das  Grundvermögen  frei  ausging  10). 
Damit  war,  wenn  auch  nur  einseitig,  in  der  Form  der  Nach- 
laßbesteuerung die  direkte  Vermögensbesteuerung  begonnen 
und  der  Anfang  zu  den  Erbschaftssteuern,  die  im  nächsten 
Jahrhundert    umfassend    ausgebaut    wurden,    gemacht. 

Eine  zweite  Möglichkeit,  innerhalb  des  bestehenden  Systems 
über  dessen  Wirkungsweise  hinauszugelangen,  boten  die  Auf- 
wandsteuern dar.  Diese  beruhten  in  gewisser  Hinsicht  zwar 
auf  demselben  Steuergedanken  wie  die  allgemeine  Verbrauchs- 
besteuerung, andererseits  lag  in  ihnen  aber  doch  ein  Moment, 
das  sie  von  jener  unterschied.  Während  die  allgemeine  Ver- 
brauchsbesteuerung gerade  in  ihren  ertragsfähigsten  Zweigen 
sich  an  solche  Verbrauchsobjekte  anschloß,  die  als  unent- 
behrliche Bestandteile  einer  normalen  Lebenshaltung  betrachtet 
werden  mußten,  schlössen  sich  die  Assessed  taxes  an  einzelne 
Aufwandobjekte  an,  deren  Gebrauch  eine  Steigerung,  deren 
Nichtgebrauch  eine  Minderung  der  Lebenshaltung  offenbarte. 
Damit  lag  in  dem  System  der  Assessed  taxes  das  Prinzip  einer, 
allerdings  freiwilligen  und  nicht  allgemeinen,  Progression  ver- 
borgen und  von  dieser  faktischen  Besteuerungsweise  nach  ver- 
schiedenen Klassen  der  Leistungsfähigkeit  (in  den  Assessed 
taxes  dargestellt  durch  die  verschiedenen  Aufwandobjekte)  ist 
der  Fortschritt  zu  einer  Erfassung  abgestufter  Vermögens- 
klassen  nicht   mehr   allzu   groß.    In  der   historischen  Entwick- 


9)  Dowell,  History.  III,  S.  I39ff.  Dowell  gibt  den  Ertrag  dieser 
Steuer  für  1805  auf  0,312  Millionen  £,  für  181 5  auf  etwas  über  1/2  Million 
ü  an. 

10)  Dowell,  III,  S.  149. 

Zeitschüft  für  die  ges.  Staatswissensch.     Ergänzungsheft  48.  2 


—      18      — 

hing  schiebt  sich  aber  als  Zwischenghed  ein  eigenartiger  Be- 
steuerungsversuch ein,  der  von  den  Aufwandsteuern  ausgeht 
und  in  die  Vermögensbesteuerung  einlenkt.  Dieser  Besteue- 
rungsversuch, der  nur  als  Versuch  zu  betrachten  ist,  und  als 
selbständiges  Besteuerungsverfahren  einen  vollen  Mißerfolg 
der  Pitt  sehen  Finanzkunst  bedeutet,  ist  das  sogenannte 
,,Triple  Assessment"  von  1/97,  auf  dessen  Geschichte  wir 
hier    näher    eingehen    müssen. 

Der  Gedanke,  durch  eine  allgemeine  Erhöhung  der  As- 
sessed taxes  die  dauernden  Einnahmen  zu  erhöhen,  war  nicht 
neu  und  in  den  Debatten  der  letzten  Jahre  öfters  hervor- 
getreten. Und  zwar  war  es  gerade  in  diesem  Fall  ausdrücklich 
der  traurige  Stand  des  Staatskredits,  der  seit  Beginn  des  Krieges 
ein  so  bedenkliches  Niveau  erreicht  hatte,  daß  alle  finanziellen 
Bestrebungen  notwendig  auf  eine  Hebung'  des  Kredits  abzielen 
mußten,  wenn  die  Zukunft  der  Staatsfinanzen  nicht  auf  das 
Schlimmste  gefährdet  werden  sollte  i^).  Die  Grundlage  des 
neuen  Finanzplanes  sollten  die  Assessed  taxes  bilden,  und  Pitt 
hob  deutlich  die  Gründe  hervor,  die  ihn  zwangen,  zu  dieser 
Einnahmequelle  seine  Zuflucht  zu  nehmen.  Es  sind  drei  Prin- 
zipien, die  Pitt  hier  aufstellt,  und  wir  werden  in  der  späteren 
Gestaltung  der  ersten  Einkommensteuer  dieselben  Prinzipien, 
wenn  auch  etwas  modifiziert,  wirksam  finden:  Erstens  sollte 
die  neue  Steuer  so  umfassend  wie  möglich  sein;  zweitens  sollte 
die  Gestaltung  der  Steuer  so  gerecht  und  gleich  sein,  wie  immer 
nur  möglich,  und  drittens  sollte  der  Grundsatz  der  Leistungs- 
fähigkeit so  zur  Geltung  kommen,  daß  durch  Gradabstufungen 
und  Steuerbefreiungen  den  minderbemittelten  Schichten  des 
Volkes  möglichst  viel  Erleichterung  geboten  werden  könnte. 
Die  Möglichkeit,  diese  drei  Leitsätze  zu  verwirklichen,  fand 
Pitt  nur  in  den  Assessed  taxes  gegeben.  Nach  ihren  Objekten 
zerfielen  diese  in  zwei  leicht  zu  trennende  Kategorien.  Unter 
der  einen  Kategorie  waren  solche  Steuern  einbegriffen,  die  wie 
die  Häuser-  und  Fenstersteuer  einer  Vermögenssteuer  ihrer 
Wirkung  nach  sehr  nahe  kamen  und  einen  notwendigen  Auf- 
wand besteuerten.  Die  andere  Kategorie  aber  umfaßte  eigent- 
liche Luxussteuern,  und  diese  waren  es,  die  Pitt  für  geeignet 
hielt,    durch   eine   allgemeine   Erhöhung   ihrer  bisherigen   Ver- 

ii)  Manes,    S.    184. 


—     19     — 

anlagung  den  erforderlichen  Mehrertrag  herauszuholen,  wäh- 
rend die  Steuern  der  ersten  Kategorie  mehr  durch  eine  ver- 
hältnismäßige Modifikation  der  Steuersätze  dem  neuen  System 
angepaßt  werden  sollten  12).  Die  steuertechnischen  Maßnahmen, 
als  deren  Produkt  die  Gestaltung  des  ,,Triple  Assessment" 
zu  betrachten  ist,  sind  zweifacher  Natur.  Es  trat  erstens  eine 
allgemeine  Erhöhung  der  Steuersätze  um  das  Drei-  bis  Fünffache 
ihres  bisherigen  Betrags  (daher  die  Bezeichnung  Triple  Assess- 
ment) ein,  und  zweitens  wurde  die  Höhe  der  Steuerleistung 
eines  jeden  Steuerpflichtigen  derart  abgemessen,  daß  die  Steuer- 
pflicht mit  einem  Einkommen  von  60  £  begann  und  der  Steuer- 
satz sich  nach  Einkommensklassen  prozentual  abstufte,  um  bei 
einem  Einkommen  von  200  £  den  Höchstsatz  von  10  0/0  zu 
erreichen.  Manes  charakterisiert  diese  Steuern  als  eine  Ab- 
gabe, ,, welche  nach  Höhe  des  Einkommens  in  degressiver  Weise 
erhoben  wurde,  wobei  jedoch  dieses  Einkommen  nicht  direkt, 
sondern  mittelbar  durch  Erfassung  derjenigen  Gegenstände, 
für  die  es  ausgegeben  wurde,  getroffen  werden  sollte"  ^^).  Deut- 
licher als  durch  diese  Definition  wird  der  Charakter  dieser 
Steuer  und  ihr  Zusammenhang  mit  dem  bestehenden  System 
und  der  bisherigen  Steuerpolitik  durch  die  Erklärung,  die  Pitt 
für  sie  gab,  hervorgehoben,  wenn  er  sie  als  ,,a  tax  on  income, 
on  the  visible  criterion  of  the  assessed  taxes"  bezeichnete.  Denn 
dieser  Besteuerungsversuch  ging,  und  Pitt  hat  das  selbst 
offen  ausgesprochen,  aus  der  Absicht  hervor,  das  Vermögen 
oder  Einkommen  zu  treffen;  doch  fand  man  zur  Erfassung  des 
Vermögens  oder  Einkommens  kein  anderes  ,,visible  criterion" 
als  die  Vermögensverausgabung.  Wenn  man  bedenkt,  daß  in 
letzter  Linie  alle  Steuern  aus  dem  Einkommen  bezahlt  werden, 
so  tritt  hier  deutlich  die  enge  Beziehung  hervor,  in  der  dieser 
Versuch  zum  gesamten  indirekten  System  stand.  Das  finanz- 
politisch Neue  und  Fortwirkende  liegt  denn  auch  nicht  in  dem 
steuertechnischen  Modus  der  Erfassung  des  Steuer- 
objektes, sondern  in  dem  Modus  der  Bemessung 
des  Steuerbetrags  nach  Einkommensklassen. 
Das  Steuerobjekt  stellt  nichts  Neues  dar,  sondern  ist  identisch 
mit  einem  längst  vorhandenen  und  steht  so  durchaus  auf  dem 


12)  Pari.   Hist.    Vol.   33,  col.   1067. 

13)  Manes,   S.    186. 


—       20       — 

allen  BdcUmi.  Die  1' o  r  l  c  n  l  u  i  <  k  1  u  n  g  gestaltet  sich 
aber  so,  cl  a  13  dieses  (J  b  j  e  k  t  einfach  aufgegeben 
und  mit  kühnem  Griff  die  bisherige  Bemessungs- 
grundlage an  seine  Stelle  gesetzt  wird.  Hierin  liegt 
finanzpolitisch  nicht  nur  der  Anfang  des  neuen,  sondern  auch 
der  Zusammenhang  mit  dem  alten,  so  daß,  historisch  betrachtet, 
die   Kontinuität   der  Entwicklung  gewahrt  bleibt. 

Außer  diesem  wesentlichsten  Moment  sind  aber  mit  dem 
Triple  Assessment  noch  einige  andere  Momente  verbunden, 
die  bei  der  Gestaltung  der  folgenden  Einkommensteuer  her- 
vortreten werden.  Das  eine  ist  die  Steuerfreiheit  (exemption) 
von  Personen,  die  ein  jährliches  Einkommen  unter  6o  £  hatten, 
sowie  von  einer  Reihe  von  Anstalten  mit  gemeinnützigem  Zweck. 
Das  andere  ist  die  Gewährung  von  Steuernachlässen  (abate- 
ments)  nach  der  Kinderzahl  des  Steuerpflichtigen.  Außer 
diesen  Momenten  aber  ist  die  finanzpolitische  Bestimmung, 
die  dem  Triple  Assessment  zugeteilt  wurde,  für  die  Zukunft 
höchst  bedeutsam.  Pitt  umschreibt  diese  folgendermaßen: 
,,Not  only  do  I  think  that  the  principle  is  wise  and  the  attempt 
practicable  to  provide  large  supplies  out  of  the  direct  taxes 
of  the  year,  but  I  think  it  to  be  equally  wise  and  not  less 
practicable  to  make  provision  for  the  amount  of  the  debt 
incurred  and  funded  in  the  year"  i*).  Darnach  sollte  der  Er- 
trag des  Triple  Assessment  nicht  nur  eine  Verminderung  des 
Anleihesolls  ermöglichen,  sondern  es  sollten  durch  seine  Bei- 
behaltung auch  gleichzeitig  die  Mittel  erlangt  werden,  die 
in  einem  Finanzjahr  kontrahierte  Schuld  über  die  Leistungs- 
fähigkeit des  sinking-fund  hinaus  zu  verzinsen  und  zu  tilgen. 
Wenn  eine  Anleihe  aufgenommen  wurde,  war  damit  durch  die 
Steuer,  die  ihr  auf  diese  Weise  zugeordnet  wurde,  auch  für 
ihre  Tilgung  gesorgt.  Wir  werden  sehen,  wie  in  dieser  Be- 
ziehung die  Pitt  sehe  Einkommensteuer  einfach  an  die  Stelle 
des   gescheiterten  Triple  Assessment  tritt. 

Das  Schicksal  des  Triple  Assessment  kann  kurz  geschildert 
werden.  Die  Beredsamkeit  P  i  1 1  s  hatte  trotz  heftiger  Oppo- 
sition die  Annahme  seiner  Vorlage,  gegen  die  fast  alle  er- 
denklichen  Einwände   erhoben   wurden,   leicht   gesichert.     Den 


14)   Pitts   Budgetrede  vom   24.  November   1797.     Pari.   Hist.    Vol.  33, 
col.  1053. 


—       21       — 

Ertrag  der  Steuer  hatte  Pitt  auf  Grund  der  bisherigen  As- 
sessed taxes  auf  ungefähr  7  MilHonen  £  geschätzt.  Das  budget- 
mäßige Defizit  dieses  Jahres  beHef  sich  auf  19  Millionen  £, 
welches  durch  den  Ertrag  des  Triple  Assessment  auf  .12  Mil- 
lionen herabgemindert  werden  sollte,  während  der  Restbetrag 
durch  eine  Anleihe,-  deren  Tilgung  aber  durch  die  Fortführung 
des  Triple  Assessment  gesichert  werden  sollte,  aufgebracht 
werden  mußte.  Der  finanzielle  Mißerfolg,  der  sowohl  durch 
absichtliche  Steuerhinterziehung,  als  auch  durch  die  Schwer- 
fälhgkeit  des  ganzen  Systems  verursacht  wurde,  genügte,  um 
diese   Steuer   nach  Jahresfrist   wieder   verschwinden  zu   lassen. 

§  4. 
Die  Pittsche  Einkommensteuer. 

Der  finanzielle  Mißerfolg  des  Triple  Assessment  hatte  genügt, 
die  Unzulänglichkeit  dieses  Besteuerungsversuchs  zu  erweisen, 
und  Pitt  zögerte  nicht,  die  Steuer  ohne  Verteidigung  aufzu- 
geben, um  eine  wirksamere  an  ihre  Stelle  zu  setzen.  Die  Fi- 
nanzlage an  sich  war  einfach  genug ;  den  vorgesehenen  Aus- 
gaben des  „annual  supply",  d.  i.  des  jährlichen  Bedarfs,  der 
nicht  durch  den  Consolidated  fund  gedeckt  werden  konnte,  in 
Höhe  von  29  Millionen  £  konnte  Pitt  nach  dem  Wegfall  des 
Triple  Assessment  und  infolge  der  Landsteuerablösung  an  or- 
dentlichen dauernden  Einnahmen  nur  etwa  1/5  dieser  Summe 
entgegensetzen.  Sofern  Pitt  auf  der  Durchführung  seines  Fi- 
nanzplaner,  beharren  wollte,  stand  er  einfach  vor  der  Notwendig- 
keit, diejenige  Form  der  Vermögensbesteuerung  zu  finden,  die 
eine  derart  wirksame  Erfassung  des  leistungsfähigen  Vermögens 
sicherte,  daß  seine  finanzpolitische  Absicht  verwirkhcht  werden 
konnte.  So  gelangte  Pitt  zu  seinem  Einkommensteuerprojekt, 
das  er  dem  Parlament  in  der  Budgetrede  vom  3.  Dezember  1798 
vorlegte.  Zunächst  erscheint  dieser  Übergang  zu  einem  schein- 
bar völlig  neuen  Besteuerungsprinzip  unvermittelt  genug,  so- 
bald man  sich  aber  von  unserem  heutigen  Einkommensteuer- 
begriff freimacht  und  die  Pitt-Steuer  in  ihrer  Eigenheit  zu  er- 
fassen sucht,  wird  man  die  Linien  auffinden  können,  die  vom 
Triple  Assessment  zu  ihr  hinüberführten. 

Dabei  entsteht  die  Frage,  wie  weit  der  Einkommensteuer- 
gedanke in  England  theoretisch  vorbereitet  war,  als  Pitt  sein 


Projekt  vorlegte,  und  auf  welche  i)raktischen  X^jraussetzungen 
das  Pitt  sehe  Projekt  sich  stiitzc  n  koUDte.  Ik'iden  Fragen  ist 
Manes  in  seiner,  in  der  Festschrift  für  Lexis  abgedruckten 
Arbeit  über  „Die  Einkommensteuer  in  der  enghschen  Finanz- 
pohtik"  nachgegangen!^).  Soweit  die  theoretische  Entwicklung 
des  Einkommensteuergedankens  und  der  damit  verbundenen 
Steuergrundsätze  in  Frage  kommt,  ist  für  jene  ganze  Zeit  der 
Umstand  zu  beachten,  daß  der  Begriff  des  Einkommens  selbst 
noch  durcliaus  nicht  so  feststehend  war,  daß  unter  ihm  überall 
dasselbe  wäre  verstanden  worden  oder  daß  aus  ihm  heraus 
ohne  weiteres  eine  für  die  Steuerpraxis  taugliche  Besteuerungs- 
form hätte  abgeleitet  werden  können.  Diesen  Umstand  erwähnt 
auch  IManes,  doch  berücksichtigt  er  ihn  in  seiner  historischen 
Darstellung  der  Entwicklung  des  Einkommensteuergedankens 
und  der  Einkommensteuerprinzipien  so  wenig,  daß  gerade  hier- 
über sich  aus  seiner  Arbeit  keine  Klarheit  gewinnen  läßt.  So 
viel  aber  steht  fest,  daß  etwa  seit  1780  in  Zusammenhang  mit 
den  aus  der  Schuldenpolitik  entstehenden  Fragen  auch  eine 
allgemeine  direkte  Vermögens-  oder  Einkommensbesteuerung  in 
weiteren  Kreisen  erwogen  und  zum  Gegenstand  zahlreicher  theo- 
retischer und  polemischer  Abhandlungen  gemacht  wurde.  Um 
das  Jahr  1797  stand  der  Einkommensteuergedanke  durchaus  im 
Mittelpunkt  des  öffentlichen  Interesses,  wie  aus  den  zahlreichen 
Petitionen,  Denkschriften  und  ausgearbeiteten  Projekten  hervor- 
ging, in  denen  dieser  Besteuerungsgedanke  Pitt  nahe  gerückt 
wurde. 

Auf  Grund  von  Studien,  die  Manes  im  Londoner  Staats- 
archiv in  den  Akten  des  Pitt  sehen  Ministeriums  vornehmen 
konnte,  berichtet  er  in  seiner  Arbeit  auch  über  die  praktischen 
Vorläufer  des  Pitt  sehen  Einkommensteuerentwurfs.  Interessant 
ist,  daß  man  sich  schon  vor  der  Einführung  des  Triple  Assess- 
ment  mit  einem  Projekt  beschäftigte,  das  deutlich  die  Momente 
einer  wirklichen  Einkommensbesteuerung  enthielt,  wie  aus  einem 
Manuskript  hervorgeht,  das  sich  in  den  Pitt-  Akten  befindet 
und  das  Manes  auszugsweise  mitteilt.  In  dem  Manuskript,  das 
vom  21.  Dezember  1797  datiert  ist,  wird  eine  ausführliche 
Tabelle   mit   Einkommensklassen,    dem   prozentualen   Steuerfuß 


i)  Manes,    S.    142 ff.,    über   die   Finanzliteratur,    und   S.    175 ff.,    über 
die  Einkommensteuerprojekte  aus  dem  englischen  Staatsarchiv. 


—      23      — 

und  dem  zu  zahlenden  Steuerbetrag  gegeben.  In  einem  zweiten 
von  Manes  mitgeteilten  Manuskript  wird  zwar  das  Triple  Assess- 
ment  noch  weiterhin  als  Grundlage  beibehalten,  doch  fordert 
der  Verfasser  einen  genauer  bestimmten  INIodus  zur  Erfassung 
der  verschiedenen  Einkommensarten,  um  die  Steuer  wirksamer 
zu  machen.  Auf  demselben  Standpunkte  verharrt  auch  der 
Verfasser  eines  anderen  Manuskripts,  indem  er  zur  wirksameren 
Durchführung  der  Steuer  nur  die  Aufstellung  einer  alle  Ein- 
kommensarten umfassenden  Tabelle  vorschlägt.  Wichtiger  als 
diese  Vorschläge  ist  ein  Manuskript,  das,  von  einem  Steuer- 
beamten herrührend,  mit  einem  ausgearbeiteten  Plane  einer 
wirklichen  Einkommensteuer  hervortritt.  Der  Verfasser  hebt 
zunächst  die  Gerechtigkeit  der  direkten  Besteuerung  und  die 
Zweckmäßigkeit  einer  Einkommens-  oder  Vermögenssteuer  her- 
vor, erkennt  aber  auch  als  Haupthinderungsgrimd  ihrer  Ein- 
führung die  Schwierigkeit  einer  gerechten  V^eranlagung  an. 
Er  tritt  aber  trotzdem  für  die  Steuer  ein,  denn :  ,,Never  was  there 
a  more  urgent  necessity  for  every  one  to  contribute  according 
to  his  power,  and  for  property  to  show  itself  worthy  of  the  pro- 
tection it  seeks."  Um  eine  gerechte  und  doch  wirksame  Ver- 
anlagung zu  ermöglichen,  schlägt  er  die  Verbindung  einer  eid- 
lichen Selbsteinschätzung  mit  der  kontrollierenden  Einschätzung 
durch  Kommissare  vor,  wobei  das  Einkommen  auf  Grund 
der  drei  letzten  vorausgegangenen  Jahre  berechnet  werden 
sollte  16). 

Aus  allen  diesen  Vorschlägen  und  zahlreichen  Petitionen 
ging  schließlich  der  ausführlichere  Vorentwurf  hervor,  den 
Manes  im  Anhang  seiner  Arbeit  vollständig  mitteilt i').  Wir 
können  hier  daraus  nur  das  Wesentlichste  hervorheben,  das  in 
dem  Vorentwurf  der  Absicht  entsprechend  steuertechnischer 
Natur  ist.  In  Anmerkungen  von  Pitts  Hand  wird  dem  Entwurf 
ein  ausführliches  Verzeichnis  aller  Personen  beigegeben,  die 
unter  die  Steuer  fallen  sollen,  und  in  den  ebenfalls  beigefügten 
Listen  werden  die  Einkommensquellen  genau  spezifiziert.  Der 
Entwurf  sieht  Einkommensdeklaration  und  Steuerfreiheit  für 
Einkommen  unter  60  £  vor.  Für  die  Einkommen  über  dieser 
Mindestgrenze  schlug  der  Entwurf  eine  Progression  des  Steuer- 


16)  Manes,  S.  180. 

17)  Manes,    S.    211  ff.    Anhang. 


—     24     — 

fußes  nach  Jlinkoiiimensklassen  derart  vor,  daß  der  Steuerfuß 
bei  dem  Mindesteinkommen  von  60  £  ^/^oo  tlcs  Einkommens 
betragen  imd  sich  von  da  von  5  zu  5  £  Alchreinkommcn  bis  zu 
i/iQ  des  jährhchen  Einkommens,  welcher  Satz  mit  200  £  er- 
reicht wurde,  steigern  sollte.  Einkommen  über  200  £  sollten 
zu  einem  Betrag,  der  io<^/o  des  Gesamteinkommens  nicht  über- 
steigen sollte,  getroffen  werden.  In  den  Anmerkungen  zum 
Entwurf  wird  die  I'Linkommenseinteilung  in  Klassen  von  60 
bis  100  £,  IOC  bis  150  £  und   150  bis  200  £  abgeändert. 

In  allen  diesen  Vorentvvürfen  läßt  sich  leicht  als  Ausgangs- 
punkt der  Bemühungen,  zu  einer  neuen  wirksamen  Steuer  zu 
gelangen,  das  Triple  Assessment  erkennen,  und  die  Aufgabe,  vor 
die  Pitt  sich  gestellt  sah,  war  einfach  die,  den  Bcstcuerungsmodus 
so  auf  das  Steuerobjekt  einzustellen,  daß  er  es  seinem  ganzen 
Umfange  nach  auch  wirklich  erfassen  konnte.  Daran  war  ja 
das  Triple  Assessment  gescheitert,  daß  trotz  der  Einführung  des 
Einkommensmerkmals  breite  Vermögensteile  überhaupt  nicht 
unter  die  Steuer  fielen  oder  doch  leicht  ihrer  Wirkung  ent- 
rückt werden  konnten.  So  tritt  in  den  oben  erwähnten  Vorent- 
würfen schrittweise  das  Bestreben  hervor,  das  eigentliche  Steuer- 
objekt genauer  zu  bestimmen.  Dabei  verlieren  die  Veranlagungs- 
steuern immer  mehr  an  Bedeutung,  während  das  eigentliche 
Steuerobjekt,  das  Vermögen  oder  Einkommen,  zwischen  denen 
übrigens  zunächst  ein  wesentlicher  Unterschied  noch  nicht  ge- 
macht wird,  immer  deutlicher  hervorgehoben  wird.  In  dem 
Vorentwurf  zur  Pitt-Steuer  sind  die  Assessed  taxes  dann  gänz- 
lich verschwunden  und  das  Vermögen  ist  zum  alleinigen  und 
ausgesprochenen  Steuerobjekt  geworden.  Zwischen  Vermögen 
und  Einkommen  besteht  dabei  die  Beziehung,  daß  das  Ein- 
kommen zunächst  nur  als  sekundäre  Erscheinungsform  des 
Vermögens,  das  die  eigentliche  Grundlage  bildet,  angesehen 
wurde.  Da  aber  die  Leistungsfähigkeit  sich  mehr  aus  dem 
Einkommen,  als  aus  dem  Vermögen  herleiten  ließ,  so  gewann 
das  Einkommen  damit  die  Eigenschaft  als  Bemessungsgrund- 
lage, nach  der  das  Vermögen  getroffen  werden  sollte.  Von  hier 
aus  gelangte  man  aber  rasch  zu  der  Erkenntnis,  daß  auch  das 
nicht  aus  Grund-  oder  Kapitalvermögen  stammende  Einkommen, 
das  sogenannte  unfundierte  Einkommen,  ebenfalls  eine  Quelle 
steuerlicher  Leistungsfähigkeit  sei,  und  so  wurde  das  Einkommen 
selbst   zum   direkten   Bcstcucrungsobjckt   gemacht.     Diese   dop- 


—      25      — 

pelte  Beziehung  des  Einkommens  einmal  in  seiner  relativen  Höhe 
als  Bemessimgsgrundlage  und  dann  in  seinem  absoluten  Betrag 
als  Steuerobjekt,  spiegelt  sich  in  der  dauernd  gebrauchten  und 
oft  synonym  vertauschten  Doppelbenennung  der  neuen  Steuer 
als  „Property  and  income  tax"  wieder. 

Wenn  damit  das  Steuerobjekt  und  die  Bemessungsgrundlage 
gefunden  war,  so  ergab  sich  hieraus  auch  die  Organisation  der 
neuen  Steuer  selbst.  Das  Steuergesetz  mußte  so  gestaltet  wer- 
den, daß  einmal  alle  Personen,  die  Vermögen  besaßen  oder  Ein- 
kommen bezogen,  erreicht  werden  konnten,  und  daß  zum  andern 
alle  Quellen,  aus  denen  Einkommen  irgendwelcher  Art  floß, 
auffindbar  und  erfaßbar  wurden :  ,,Our  leading  principle  should 
be  to  guard  against  all  evasion,  to  endeavour  by  a  fair  and  strict 
application,  to  realise  that  füll  tenth,  which  it  was  the  original 
purpose  of  the  measure  of  the  assessed  taxes  to  obtain."  Diese 
Aufgabe  suchte  Pitt  zu  erreichen  einmal:  „by  a  more  specific 
Statement  of  income  than  the  loose  scale  of  modification"  und 
dann:  „by  measures,  which  reach  those  resources  which  it  is 
impossible  under  the  present  System  of  the  assessed  taxes  to 
touch"i8).  Die  schärfere  Bestimmung  des  steuerpflichtigen  Ein- 
kommens erfolgte  in  einer  Aufstellung,  die  alle  erkennbaren  Ein- 
kommensquellen unter  vier  großen  Gruppen  zusammenfaßte  und 
in  19  Einzelzweigen  aufzählte  ^9).  Außer  dem  steuerpflichtigen 
Vermögen  oder  Einkommen  wurden  in  der  Pittschen  Vorlage 
auch  die  steuerpflichtigen  Personen  genau  umschrieben.  Das 
einfache  Prinzip  dafür  ist,  der  Steuer  jede  Person  und  jedes 
Einkommen  zu  unterwerfen,  das  überhaupt  durch  die  englische 
Souveränität  erfaßt  werden  konnte.  In  seiner  Anwendung  auf 
die  Personen  bedeutet  dieses  Prinzip,  daß  der  Steuerpflicht  alle 
in  England  wohnenden  Personen  unterworfen  waren,  gleich- 
gültig, woher  ihr  Einkommen  stammte,  ob  aus  England  oder 
aus  dem  Ausland ;  und  in  seiner  Anwendung  auf  das  Einkommen 
bedeutete  es  die  Besteuerung  aller  Einkommen,  die  aus  England 
stammten,  gleichgültig,  an  wen  oder  wohin  sie  gelangten.  Das 
Mittel,  dieses  vielspältige  und  oft  kaum  erkennbare  Objekt  zu 
erfassen,   fand   Pitt   in   der  Einkommensdeklaration,   die   nach 


18)  Dowell,    Histon-,    III,    S.    106   und    Dowell,    Inc.   tax  Acts,    In- 
troduction. 

19)  Pari.  Hist.    Vol.  34,  col.  4  u.   5  (1798)- 


—      26      — 

einem    vorgeschriebenen    Fornuilar    von    jedermann     gefordert 
wurde -"j. 

Als  Bemessungsgrundlage  der  steuerlichen  Leistungsfähig- 
keit kam  das  Einkomnien  durch  die  T3ildung  abgestufter  Ein- 
kommensklassen mit  verschieden  hohem  Steuerfuß  zur  Geltung. 
Die  Steuerfreiheit  der  jährlichen  Gesamteinkommen  unter  60  £ 
ergab  sich  nicht  allein  aus  der  Schwierigkeit,  die  kleinen  und 
kleinsten  Einkommen  überhaupt  ohne  unverhältnismäßige 
Kosten  zu  erfassen,  sondern  auch  aus  den  theoretischen  Er- 
wägungen über  die  Notwendigkeit,  ein  sogenanntes  Existenz- 
minimum unbesteuert  zu  lassen.  Die  prozentuale  Abstufung  des 
Steuerfußes  nach  Einkommensklassen  wurde  übrigens  nur  für 
Jahreseinkommen  zwischen  60  und  200  £  vorgesehen,  während 
alle  Einkommen  über  dieser  Höhe  mit  dem  vollen  Steuerfuß  von 
10 0/0  des  Gesamteinkommens  getroffen  werden  sollten.  In  er- 
gänzender Berücksichtigung  der  Leistungsfähigkeit  und  der  ge- 
samten steuerlichen  Belastung  wurden  Steuemachlässe  nach  der 
Kinderzahl  des  Steuerzahlers  und  für  Versicherungen  in  der 
Höhe  der  gezahlten  Prämie  gewährt.  Anstalten  und  Gesell- 
schaften mit  gemeinnützigem  Charakter  blieben  wie  beim  Triple 
Assessment  steuerfrei.  So  treten  hier  in  der  Einkommensteuer- 
vorlage Pitts  alle  jene  Momente,  die  wir  schon  im  Triple  Assess- 
ment fanden,  in  einfacher  Übertragung  auf  das  neue  Steuer- 
objekt wieder  hervor  vmd  bezeugen  damit  wiederum  die  mannig- 
fache Abhängigkeit  der  Vorlage  vom  Triple  Assessment. 

Die  Verwaltungsorganisation  dtr  Einkommensteuer  wurde 
der  Landsteuer  angegliedert,  indem  aus  der  Zahl  der  Steuer- 
kommissare der  Landsteuer  die  Kommissare  der  Einkommen- 
steuer gewählt  wurden.  Nur  für  die  großen  Städte  und  für 
London  wurden  eigene  Kommissariate  errichtet.  Die  untere  Ver- 
waltung der  Einkommensteuer,  die  sich  mit  der  Veranlagung  des 
Steuerbetrags  und  mit  dem  Steuereinzug  zu  befassen  hatte,  lag 
in  den  Händen  der  ehrenamtlichen  Lokalbehörden,  da  gerade 
die  Veranlagung  zu  dieser  Steuer  eine  genaue  Vertrautheit  mit 
den  örtlichen  Verhältnissen  bedingte.  Die  Einkommensteuer 
wurde  übrigens  nur  für  England  eingeführt,  da  im  Jahre  1799 


20)  Ein   Abdruck   des    Dcklarationsformulars   findet  sich   bei   Do  well, 
Histon',  III,  S.  109. 


—      27       — 

die  Vereinigung  von  Irland  mit  Großbritannien  noch  nicht  er- 
folgt war  und  Irland  bis  1817  getrennte  Finanzverwaltung  besaß. 

Aber  auch  finanzpohtisch  bedeutet  die  Pitt  sehe  Einkom- 
mensteuer den  einfachen  Ersatz  des  Triple  Assessment.  Pitt 
hatte  das  jährliche  Gesamteinkommen  der  britischen  Bevölke- 
rung auf  102  Millionen  £  veranschlagt  und  danach  ursprünglich 
den  Ertrag  einer  loobigen  Einkommensteuer  auf  rund  10  Mil- 
lionen £  berechnet.  Später  hat  Pitt  diese  Berechnung  modi- 
fiziert und  den  Ertrag  geringer  (auf  7,5  Millionen)  angesetzt. 
Genau  wie  das  Triple  Assessment  diente  auch  die  Einkommen- 
steuer nach  dem  bekannten  Finanzprinzip  dazu,  das  Anleihe- 
soll so  gut  wie  möglich  zu  verringern.  Indem  aber  durch  die 
Aufhebung  des  Triple  Assessment  die  1797  vorgesehene  Schul- 
dentilgung unmöglich  geworden  wäre,  trat  auch  in  dieser  Be- 
ziehung die  Einkommensteuer  für  jenes  ein.  Aber  außer  den 
Verpflichtungen,  die  der  Einkommensteuer  an  Stelle  des  Triple 
Assessment  aufgebürdet  wurden,  wurde  sie  auch  mit  der  Ver- 
zinsung und  Tilgung  nach  ihrer  Einführung  aufgenommener 
Schulden  belastet  21). 

Wie  einst  beim  Triple  Assessment,  so  war  es  auch  bei  dieser 
Einkommensteuervorlage  nur  der  Persönhchkeit  Pitts  zu  dan- 
ken, wenn  die  Vorlage  innerhalb  kürzester  Zeit  im  Parlament 
zur  Annahme  gelangte.  Die  Diskussion  über  die  Vorlage  för- 
derte wesentlich  Neues  kaum  zutage,  und  wenn  auch  dabei  eine 
Fülle  von  wirtschafthchen  Einzelkenntnissen  hervortrat,  so  zeigte 
sich  doch,  daß  für  diese  meist  der  Orientierungspunkt,  der  sie 
zu  einer  Einheit  zusammengefaßt  hätte,  fehlte.  So  fand  die  Vor- 
lage, obwohl  sie  scharf  und  von  allen  Seiten  bekämpft  wurde, 
doch  nicht  den  Gegner,  der  Pitt  ebenbürtig  gewesen  wäre. 
Meist  beruhte  die  Gegnerschaft  auf  der  Abneigung  gegen  jede 
direkte  Besteuerung  überhaupt,  obwohl  der  direkte  Charakter 
der  Einkommensteuer  in  den  Debatten  nur  wenig  betont  wurde. 
Oft  gab  auch  eine  hausbackene  Gewinn-  und  Verlustrechnung 
den  Ausschlag  zugunsten  der  oder  gegen  die  Maßregel.  Auch 
im  Oberhaus  traten  in  der  Debatte  keine  besonderen  Gesichts- 
punkte hervor,  so  daß  die  Vorlage  mit  unwesentlichen  Ände- 
rungen schon  am  8.  Januar  1799  angenommen  wurde.  Zu  dem 
Einkommensteuergesetz    wurde    später    noch    ein    Amendement 


21)  Vgl.   Pari.   Hist.,   vol.   34,,   col.    1580. 


-      28      - 

liinzugefügt,  in  dem  die  Aufzählung  der  Einkoinmensarten  ent- 
halten war  22). 

§  5- 

Die    Geschichte    der    K  i  n  k  o  m  m  e  n  s  t  e  u  e  r    bis    zum 

Jahre    1 8 1 6. 

Bevor  wir  auf  die  Bedeutung  und  den  eigentlichen  Charakter 
der  Einkommensteuer  in  ihrer  ersten  Existenzperiode,  die  i8i6 
mit  der  Aufhebung  der  Steuer  endigte,  eingehen,  geben  wir  hier 
den  Verlauf  ihrer  äußeren  Geschichte  bis  zu  jenem  Zeitpunkt 
wieder.  Die  Pitt-Steuer  erfüllte  zunächst  die  Erwartungen,  die 
Pitt  von  ihr  gehegt  hatte,  keineswegs,  sondern  blieb  um  etwa 
iVo  Millionen  £  hinter  dem  geschätzten  Ertrag  zurück 23 j.  Vor 
allem  aber  traten  die  der  Organisation  der  Steuer  anhaftenden 
Eigentümlichkeiten,  wie  sie  mit  der  Deklarationspflicht  ver- 
bunden waren,  in  ihrem  scharfen  Gegensatze  zu  den  indirekten 
Steuern  äußerst  unbequem  hervor  und  machten  die  Steuer,  die 
bald  als  „inquisitorial"  verschrieen  wurde,  völlig  verhaßt.  Schon 
im  ersten  Jahre  nach  der  Einführung  der  Einkommensteuer 
machten  sich  deshalb  im  Parlament  Bestrebungen  geltend,  die 
Dauer  der  Steuer  so  festzulegen,  daß  ihre  Verwendung  über  die 
Kriegszeit  hinaus  unmöglich  gew^orden  wäre,  obwohl  Pitt  über 
ihren  Ertrag  zur  Verzinsung  und  Tilgung  neu  aufgenommener 
Schulden  auch  über  einen  Friedensschluß  hinaus  auf  Jahre  ver- 
fügt hatte.  Der  Friede  von  Amiens  im  Mai  1802  und  der  vor- 
ausgegangene Rücktritt  Pitts  vorn  Ministerium  gab  den  Geg- 
nern der  Einkommensteuer  leichtes  Spiel,  die  verhaßte  Steuer 
rasch  zu  beseitigen.  Als  Grund  der  Aufhebung  hob  der  Nach- 
folger Pitts,  Ad  dington,  hervor,  daß  die  Steuer  als  Kriegs- 
steuer eingeführt  worden  sei  und  als  Mittel  zur  Deckung  eines 
kommenden  Kriegsbedarfs  in  vorsichtiger  Reserve  gehalten 
werden  müsse.  Zudem  sei  die  drückende  Last  der  Steuer  nur 
durch   die   außergewöhnlichen    Anforderungen   einer   Kriegszeit 


22)  Die  Benennung  des  Einkommensteuergesetzes  ist  Act.  39,  Geo.  III, 
13,  die  des  Amendements  Act.  39,  Geo.  III,  c.   22. 

23)  Die  Erträge  der  Einkommensteuer  waren : 

1799  2.690  Millionen  £, 

1800  4,513 

1801  5,804  „  „ 


—      29      — 

zu  rechtfertigen,  während  sie  als  dauernde  Friedenssteuer  un- 
erträghch  sei.  Der  durch  die  Aufhebung  der  Einkommensteuer 
entstandene  Eiimahmeausfall  wurde  durch  eine  Vermehrung 
der  Zölle  und  der  Verbrauchsteuern  sowie  durch  eine  Erhöhung 
der  Aufwandsteuern  ausgeglichen. 

Schon  im  folgenden  Jahr  brach  der  Krieg  zwischen  England 
und  Frankreich  aufs  neue  aus,  so  daß  Addington  sich  ge- 
zwungen sah,  seine  Zuflucht  doch  wieder  zu  einer  Einkommen- 
steuer zu  nehmen,  deren  Steuerfuß  allerdings  auf  50/0  herab- 
gesetzt wurde.  Die  Pitt-Steuer  hatte  jedoch  zu  große  Gegner- 
schaft gehabt,  als  daß  Addington  sie  ohne  weiteres  wieder 
in  ihrer  ursprünglichen  Form  hätte  einführen  können.  Der 
Haupteinwand  gegen  die  Pitt-Steuer  hatte  sich  gegen  die 
zwangsweise  Deklaration  des  Gesamteinkommens  gerichtet,  die 
dem  freien  Engländer  als  unerträgliche  „disclosure"  seiner  pri- 
vaten Verhältnisse  erschien,  und  zweifelsohne  war  auch  die  De- 
klarationspflicht wesentlich  an  den  häufigen  Steuerhinterziehungen 
und  dem  dadurch  verursachten  Ertragsausfall  mit  schuld  gewesen. 
So  ließ  Addington  die  Deklarationspflicht  fallen  und  führte 
jenes  Prinzip  ein,  das  man  als  ,, Erfassen  an  der  Quelle"  (stop- 
page  at  the  source)  bezeichnet.  Dieses  Prinzip  bedeutet  zunächst 
nichts  weiter,  als  daß  das  Einkommen  nicht  in  seiner  Vereini- 
gung mehrerer  Einkommenszweige  zum  Gesamteinkommen  einer 
Person  veranlagt  wurde,  sondern  daß  jedes  Teileinkommen  mit 
seinem  Betrage  dort  erfaßt  wurde,  wo  es  zuerst  entstand.  In- 
dem man  aber  dieses  Prinzip  auf  die  Pitt  sehe  Einkommensteuer 
anwandte,  wurde  der  Charakter  derselben  völlig  verändert.  Die 
vorher  durchaus  einheitliche  und  durch  die  Ermittlung  des  Ge- 
samteinkommens, an  welches  allein  der  Steuerfuß  angelegt 
wurde,  in  sich  geschlossene  Einkommensteuer,  zerfiel  jetzt  nach 
der  Zahl  aller  möglichen  Einkommensquellen  in  eine  Reihe 
von  Einzelsteuern,  die  durch  nichts  als  einige  einheithche  Be- 
stimmungen, die  für  alle  Teilsteuern  galten,  zusammengehalten 
wurden.  Steuergesetzlich  fand  diese  Änderung  in  der  Auf- 
stellung der  fünf  sogenannten  „schedules"  ihren  Ausdruck.  In 
der  Pitt-Steuer  diente  die  x\ufzählung  der  Einkommensarten 
vornehmlich  nur  dazu,  den  Wirkungsbereich  der  Steuer  zu  um- 
schreiben und  die  verschiedenartigsten  Einkommensteile,  die  ein 
Gesamteinkommen  bildeten,  ausnahmslos  der  Steuer  zu  unter- 
werfen.   Während  so  diese  Aufzählung  mehr  einen  beschreiben- 


—     30     — 

den  Charakti-r  trug,  bedeuteten  in  dem  neuen  Steuergesetz  die 
,,schedules",  obwohl  bie  inhaltlicii  mit  der  alten  Aufzählung  fast 
übereinstimmten,  nunmehr  in  sich  selbständige  Teile  des  Stcuer- 
gesetzes,  die  ihr  eigenes  Steucrobjekt  hatten.  Dabei  erfolgte 
gegenüber  der  Pitt-Steuer  eine  Ausdehnung  der  Steuerpflicht 
auf  eine  Einkommensquelle,  die  man  bisher  von  jeder  Besteue- 
rung ängstlich  ausgenommen  hatte.  Es  handelt  sich  hier  um  Ein- 
k(»mmen,  die  sich  aus  der  Kapitalanlage  in  Anlcihepapieren  er- 
gaben, denen  bisher  ausdrücklich  Freiheit  von  jeder  Besteuerung 
zugesichert  worden  war,  um  die  Unterbringung  der  Anleihen 
sicher  zu  stellen.  Ad  dington  hatte  gleichzeitig  mit  seinem 
Einkommensteuerentwurf  eine  zweite  Vorlage  eingebracht, 
welche  die  Einkommen  aus  dieser  Quelle  einer  gesonderten  Be- 
steuerung unterwerfen  sollte.  Dieser  Zerlegung  der  Einkommen- 
steuer in  zwei  auch  äußerlich  getrennte  Steuern  widersetzte  sich 
jedoch  Pitt  mit  dem  Erfolg,  daß  Addington  diese  Vorlage 
zurückzog  und  zum  Ersatz  dafür  in  seiner  Einkommensteuervor- 
lage unter  schedule  C.  nunmehr  auch  die  Einkommen  aus  An- 
leihepapieren der  Besteuerung  unterwarf.  Ausgenommen  wur- 
den, und  zwar  wieder  auf  Pitts  Anregung  hin,  von  der  Be- 
steuerung nur  die  ausländischen,  nicht  in  England  lebenden 
Inhaber  englischer  Staatspapiere,  um  die  Unterbringung  eng- 
lischer Anleihen  im  Auslande  nicht  zu  gefährden. 

Durch  die  Einteilung  der  Steuer  in  die  fünf  schedules  waren 
die  Teilsteuern  zu  einem  guten  Teil  auch  vom  Personalmerkmal 
unabhängig  geworden,  indem  sie  sich  direkt  an  das  Einzelobjekt 
anschlössen,  und  dadurch  verloren  sie  auch  den  Charakter  einer 
wirklichen  Einkommensteuer  und  wurden  zu  einer  Form  der 
Ertragsbesteuerung,  wenn  auch  einzelne  Einkommensteuer- 
momente in  der  Gesamtsteuer  noch  erhalten  geblieben  sind.  Der 
Charakter  als  Ertragssteuer  tritt  besonders  in  jenen  Einkommens- 
gruppen hervor,  die  durch  das  Prinzip,  das  Einkommen  an  der 
Quelle  zu  erfassen,  von  der  Personalbeziehung  fast  völlig  frei 
wurden.  Das  ist  besonders  deuthch  bei  den  Erträgen  aus  Grund- 
und  Hausbesitz,  die  unter  den  schedules  A.  und  B.  verzeichnet 
waren  und  bei  den  unter  schedule  C.  aufgeführten  Kapital- 
erträgen. Dagegen  tritt  die  persönliche  Beziehung  und  damit 
auch  der  Einkommensteuercharakter  bei  den  unfundierten  Ein- 
kommen unter  den  schedules  D.  und  E.  auch  in  der  Fassung 
des  A  dding  t  onschen  Steuergesetzes  deutlicher  zutage. 


—     31     — 

Hergestellt  wurde  die  Einheit  der  Gesamtsteuer  erst  wieder 
durch  die  Deklaration  des  Gesamteinkommens  für  Einkommen 
unter  60  £,  denen  Steuerfreiheit  auf  den  Nachweis  hin  gewährt 
wurde,  daß  das  Einkommen  aus  allen  fünf  schedules  zusammen" 
die  Summe  von  60  £  nicht  überstieg.  Ebenso  galt  die  Gesamt- 
deklaration für  Einkommen  zwischen  60  und  1 50  £,  für  die  eine 
Steuerermäßigung  vorgesehen  war.  Die  Ermäßigung  richtete 
sich  nach  der  Höhe  des  Einkommens  und  wurde  derart  be- 
rechnet, daß  ein  Steuerfuß  angelegt  wurde,  der  bei  dem  Min- 
desteinkommen von  60  £  1^/4 0/0  betrug  und  bei  150  £  den  vollen 
Satz  von  50/0  erreichte.  Die  Steuernachlässe  nach  der  Kinderzahl 
der  Steuerpflichtigen  wurden  außerdem  auch  nach  der  Ein- 
kommensgröße abgestuft. 

Die  Verhandlungen  über  die  Vorlage  Addingtons,  die 
am  13.  Juni  1803  eingebracht  wurde,  bezogen  sich  wesentlich 
auf  die  technische  Gestaltung,  während  prinzipielle  Gesichts- 
punkte kaum  hervorgehoben  wurden,  da  die  Steuer  als  Kriegs- 
steuer, die  man  als  notwendiges  Übel  anerkannte,  von  Ad  ding- 
ton gefordert  wurde.  Rein  äußerlich  trat  der  Umstand,  daß 
man  die  Steuer  als  Vermögenssteuer,  die  nur  durch  die  Kriegs- 
lage gerechtfertigt  werden  konnte,  auffaßte,  in  der  beharrlichen 
Benennung  der  Steuer  als  ,,property  tax"  hervor,  während  die 
Pitt-Steuer  ihr  als  ,,income  tax"  in  den  Debatten  gegenüber- 
gestellt wurde.  Eine  Definition  beider  Begriffe,  durch  welche 
die  Gegenüberstellung  gerechtfertigt  worden  wäre,  findet  sich 
jedoch  weder  im  Steuergesetz  selbst,  noch  wurde  sie  in  den  De- 
batten aufgestellt.  Nach  längeren  Kommissionsberatungen 
wurde  die  Vorlage  am  i.  August  1803  angenommen  2^). 

Der  Ertrag  der  neuen  Steuer  war  mit  4,5  Millionen  £  in  das 
Budget  eingesetzt  worden.  Ihr  wirklicher  Ertrag  sank  aber  schon 
im  folgenden  Jahr  beträchtlich  unter  diese  Schätzungsziffer 
und  Pitt  erhöhte  deshalb  1805  den  Steuerfuß  von  50/0  auf 
öi/gO/o,  ohne  jedoch  etwas  an  der  Steuer  selbst  zu  ändern. 
Wesentliche  Änderungen  in  der  Organisation  der  Steuer  er- 
folgten dagegen  im  Jahre   1806  unter  dem  neuen  Ministerium 


24)    Das  neue  Steuergesetz  ist  Act.  43,  Geo.  III,  c.  122. 
S.  dazu  Dowell,   Inc.  tax  Acts,   Introd.,  S.  51  ff. 
History,  III,  S.  iioff. 
Publ.  Inc.  a.  Exp.   1869.  II,  S.  425. 
Pari.   Hist.   vol.   36,   col.   1 595/16262, 


—     32     — 

Grrn\  illf  clurt  h  cU-n  I'iiianzinini^tcr  Henry  l'clty.  Pcttys 
finanzpolitischer  Stancli)unkl  war  im  ("irundc  dem  von  l^iti  \er- 
trctencn  durcliaus  gleich.  Im  Ijesonderen  aber  diente  der  Stand 
der  Staatsschulden  auch  ihm  als  Orientierungsgrund.  In  seiner 
Budgetrede  vom  28.  .März  1806 2^)  brachte  Petty  seine  Über- 
einstimmung mit  der  von  Pitt  eingeschlagenen  Schuldenpolitik 
zum  Ausdruck  und  schritt  durchaus  im  Sinne  der  Pitt  sehen 
Finanzpolitik  weiter,  wenn  er  das  Addingtonsche  Steuer- 
jgesetz  durch  neue  Modifikationen  wirksamer  und  die  Steuer 
durch  eine  Erhöhung  des  Steuerfußes  auf  loo/o  ertragreicher  zu 
gestalten  suchte.  Demgemäß  setzte  er  die  Befreiungsgrenze 
auf  50  £  jährlichen  Gesamteinkommens  herab  und  beschränkte 
die  Steuerfreiheit  auf  Arbeitseinkommen  aus  Tag-  oder  Wochen- 
löhnen. Damit  kam,  wenn  auch  in  enger  und  sehr  schüchterner 
Weise,  ein  Entwicklungsmoment  zum  Ausdruck,  das  auf  der  ver- 
schiedenen Leistungsfähigkeit  des  fundierten  und  des  unfun- 
dicrtcn  Einkommens  beruht,  das  aber  zunächst  nicht  zu  weiterer 
Durchführung  gelangte.  Das  System  der  Steuerermäßigung  für 
Einkommen  zwischen  50  und  150  C  wurde  ebenfalls  abgeändert. 
Die  bisherige  Einteilung  in  Einkommensklassen  mit  prozentual 
abgestuftem  Steuerfuß  wurde  aufgegeben  und  eine  gleich- 
förmigere Progression  des  Steuerbetrags  in  der  Weise  erreicht, 
daß  von  dem  Einheitssatz  von  loob  für  jedes  £,  um  welches 
das  veranlagte  Einkommen  unter  i  50  £  blieb,  ein  fester  Steuer- 
abzug von  I  sh  gewährt  wurde.  Die  Steuerermäßigung,  welche 
bisher  den  Steuerpflichtigen  mit  mehr  als  zwei  Kindern  gewährt 
worden  war,  wurde  auf  alle  Familien  mit  Kindern  ausgedehnt, 
dagegen  wurden  Steuerabzüge  für  Versicherungsprämien  auf 
Personen  mit  Einkommen  unter  150  £  beschränkt-*^). 

In  dieser  Gestaltung  verblieb  die  Einkommensteuer,  die 
übrigens  durch  Petty  den  Namen  property  tax  erhielt,  unver- 
ändert bis  zu  ihrer  Aufhebung.  Dagegen  machte  die  Steuer  in 
den  folgenden  Jahren  gewissermaßen  eine  negative  Entwick- 
lung durch,  indem  die  öffentliche  Meinung  sich  immer  schärfer 
und  allgemeiner  gegen  sie  richtete   und  auf  ihre   Abschaffung 


25)  Hansard,  I.  vol.  6,  col.  565. 

26)  Act.  46,   Geo.    III,   c.   65   (1806). 

S.  dazu  Dowell,   Inc.  tax  Acts,  Intr.  S.  55. 
Hansard,  I.  vol.  6,  col.  564ff.  und  vol.  7,  col.  5off. 


JJ) 


drang.  Im  Parlament  breitete  sich  die  Gegnerschaft  mit  jeder 
neuen  Budgetdebatte  weiter  aus,  und  es  waren  einzig  die  dauernd 
gesteigerten  Bedürfnisse  des  langwierigen  Krieges  gegen  Na- 
poleon, welche  diese  Steuer,  deren  Ertrag  doch  nich^t  entbehrt 
werden  konnte,  am  Leben  hielten.  Im  folgenden  werden  wir 
auf  die  finanzpolitische  Wirkung  der  Steuer  bis  zu  ihrer  Ab- 
schaffung, auf  ihren  Charakter  während  dieser  Zeit  und  auf  die 
Gründe  einzugehen  haben,  die  schließlich  ihre  Abschaffung 
herbeiführten. 

§6. 

Die  finanzpolitische  Wirkung  der  Einkommen- 
steuer und  ihr  Charakter  in  der  ersten  Existenz- 

p  e  r  io  d  e. 

Um    die    Grundzüge    der    Finanzentwicklung    in;  England 
von  1798  bis  18 16  zu  erkennen,  bedarf  es  nur  noch  einmal  der 
kurzen  Erwähnung,  daß  sie  sich  völlig  in  einer  Kriegszeit  voll- 
zog, welche  an  die  finanziellen  Kräfte  des  Landes  die  größten 
Anforderungen  stellte.    Während  Napoleon  aus  seinen  besiegten 
Gegnern   selbst   wieder  die   Mittel   herausziehen   konnte,   sie  in 
Abhängigkeit  zu  halten  und  neue  Siege  zu  erringen,  sah  sich 
England  zeitweise  nicht  nur  auf  sich  selbst  dem  großen  Feind 
allein   gegenübergestellt,   sondern  befand  sich  oft  auch   in  der 
Lage,  seine  finanziellen  Kräfte  zur  Stärkung  seiner  unterlegenen 
Verbündeten  anstrengen  zu  müssen.    Es  leuchtet  demnach  ohne 
weiteres    ein,    daß    den    Grundzug    der    Finanzentwicklung    in 
dieser  Zeit  eine  ungeheure  Ausgabensteigerung  bilden  mußte. 
Diese    fällt    denn    auch    mit    ihrem    weitaus    größten   Teil   den 
durch  den  Krieg  hervorgerufenen  Militär-  und  Flottenausgaben 
zur  Last.     Aber  auch  die  Wirkung  der  noch  immer  beträcht- 
lichen Inanspruchnahme  des  Staatskredits  zur  Bedarfsdeckung 
zeigt   sich   auch   hier   wieder   in  der   erheblichen  Zunahme  der 
durch   den   Schuldendienst   erforderten   Ausgaben.     Demgegen- 
über  aber  läßt   sich   als   zweiter  Grundzug   der  Finanzentwick- 
lung in  dieser  Epoche  auch  eine  der  Bedarfsvermehrung  ent- 
sprechende  Zunahme   der   ordentlichen   Einnahmen   feststellen, 
und   zwar   gestaltete   sich   diese   so,   daß    der  Mehrbedarf   voll- 
ständig durch  die  Mehreinnahmen  gedeckt  wurde,  wie  aus  der 
folgenden  Tabelle  hervorgeht. 

Zeitschrift  für  die  ges.  Staatswissensch.     Ergänzungsheft  48.  3 


—     34     — 

Tab.   1.    ibcrl)l)ck  ülxr  die  Bedarfsdeckung  wälirt-nd  des  fran- 

zösisclun  Kriegs. 


In  den 
lo  Jahren  von 

btlrugen  die  Ausgaben  in 
Millionen  £. 

Davon 
gedeckt 

wurden 
durch 

Un- 

für Heer 

und 
Mari  ne 

für 

Schuld. - 

Dien.st 

ins- 
gesamt 

dauernde 

Ein- 
nahmen 

durch  d. 
Eink.- 
Steuer 

gedeckt 
blieben 

1797 — 1806 

1807 — 1816 

Zu-  oder 

Abnahme 

283.5 
505.5 

-|-  222,0 

162,5 
231.0 

+    68,5 

490,0 
811,5 

+  321,5 

306. 5 
548,0 

+  241,5 

25,0 
122,0 

+    97.0 

158,5 
141,5 

—  17.0 

So  wurde  mit  anderen  Worten  infolge  der  Anwendung 
des  Pitt  sehen  Finanzprinzips  die  Schuldenvermelirung  zwar 
nicht  vermieden,  aber  doch  auf  ein  normaleres  Verhältnis  redu- 
ziert. Es  ist  klar,  daß  die  Einnahmesteigerung,  durch  welche 
dieser  Erfolg  erzielt  worden  war,  nicht  mit  einer  einzigen 
Steuer  erreicht  werden  konnte.  Die  Bedeutung  der  Einkom- 
mensteuer für  diese  Zeit  kann  deshalb  auch  nicht  die  sein, 
daß  sie  als  sogenannte  ,, Kriegssteuer"  den  durch  den  Krieg 
hervorgerufenen  Mehrbedarf  allein  oder  auch  nur  zum  größten 
Teil  aufgebracht  hätte.  Wesentlich  ist  vielmehr,  daß  die  Ein- 
kommensteuer als  ein  Teil  der  Einnahmengewinnung  in  das 
Finanzsystem  eingefügt  wurde,  der  diejenigen  Quellen  steuer- 
licher Leistungsfähigkeit  erfaßte,  die  bisher  in  dem  einseitig 
indirekten  System  der  Besteuerung  entgangen  waren.  Erst  in 
zweiter  Linie  kommt  dann  der  Umstand  zur  Geltung,  daß  eben 
nur  durch  die  Einreihung  dieses*  Gliedes  das  Besteuerungs- 
system umfassend  genug  wurde,  um  die  Verwirklichung  des 
Pitt  sehen  Finanzprinzips  zu  ermöglichen.  Der  wahre  Cha- 
rakter der  englischen  Einkommensteuer  der  ersten  Periode 
wird  demnach  nicht  erfaßt,  wenn  man  sie  schlechthin  als 
,, Kriegssteuer"  charakterisiert.  Im  Zusammenhang  mit  dem 
ganzen  Steuer-  und  Finanzsystem  betrachtet,  erscheint  sie 
wesentlich  als  Ergänzungssteuer  und  diesen  Charakterzug  trifft 
Leroy-Beaulieu  vollkommen  richtig,  wenn  er  ihn  folgen- 
dermaßen beschreibt:  ,,L'imp6t  sur  le  revenu  est  essentielle- 
ment  une  taxe  compl^mentaire,  une  taxe  d'appoint  et  de  com- 
pensation,  qui  est  destinee  ä  retablir  la  justice  dans  un  Systeme 
fiscal  et  ä  demander  aux  classes  aisees  et  riches  un  Supple- 
ment de  contribution,  parce  que  ces  classes  ont  ete  trop  mena- 


J3 


gees  par  les  impots  indirects"  27j,  Freilich  ist  es  nicht  so,  daß 
die  Einkommensteuer  solchen  Erwägungen  ihre  Einführung 
verdankte,  sie  ist  vielmehr,  wie  B  a  s  t  a  b  1  e  hervorhebt,  wie  alle 
Steuern  der  Notwendigkeit  entsprungen  ^Sj.  Das  hindert  aber 
durchaus  nicht,  daß  sie,  sobald  sie  einmal  in  das  System  ein- 
geführt war,  als  Ergänzungssteuer  wirkte,  und  als  solche  die 
Gesamtstruktur  des  Finanzsystems  in  dieser  Zeit  gegenüber 
der  Zeit  ohne  Einkommensteuer  völlig  veränderte.  Die  in- 
direkten Steuern  bilden  zwar  noch  immer  die  Grundlage  des 
Steuersystems,  daneben  aber  ist  ausgleichend  und  ergänzend 
die  direkte  Besteuerung  getreten.  Dabei  tritt  nun  allerdings 
jenes  Merkmal  an  der  Einkommensteuer  hervor,  das  ihre 
speziellere  Bezeichnung  als  ,, Kriegssteuer"  rechtfertigt.  Die 
Steuer  wurde  nicht  als  dauerndes  Glied  dem  System  einver- 
leibt, sondern  nur  auf  die  Dauer  des  Krieges  beibehalten.  Es 
verhält  sich  hier  aber  durchaus  nicht  so,  als  ob  die  Steuer 
schon  von  Pitt  ausdrücklich  nur  als  Deckungsmittel  des 
Kriegsbedarfs  eingeführt  worden  sei.  Die  finanziellen  Funk- 
tionen, mit  denen  Pitt  die  Steuer  betraute,  nämlich  die 
Deckung  eines  Teils  des  laufenden  Bedarfs  und  die  Verzinsung 
und  Tilgung  neuer  Anleihen,  lassen  vielmehr  Pitts  Absicht 
vermuten,  die  Steuer  dauernd  beizubehalten  ^9).  Die  Stellung- 
nahme Pitts  zur  direkten  Besteuerung  überhaupt  wird  aus 
einer  Antwort  erkennbar,  die  er  in  der  Debatte  vom  18.  Fe- 
bruar 1805  gab,  als  ein  erheblicher  Ausfall  der  Verzehrssteuern 
zu  der  Vermutung  Anlaß  bot,  daß  diese  an  der  Grenze  ihrer 
Ertragsfähigkeit  angelangt  seien:  ,,With  regard  to  direct  taxes 
certainly  they  are  more  inconvenient,  but  they  are  also  more 
economical  than  taxes  upon  consumption.  The  best  writers 
on  the  subject  have  said  of  direct  taxes  that  they  are  more 
inconvenient  in  the  collection  than  doubtful  in  the  principle; 
and  it  would  be  most  desirable  to  levy  direct  than  indirect 
taxes,  if  peculiar  circumstances  did  not  render  that  far  from 
practicable    in    the    whole    extension    of    a  nation's  wants"'^"). 


27)  Lero  y-Beaulieu,   Finances,   I.  S.  442. 

28)  Bastable,   Finance,   S.  477. 

29)  Vgl.  hierzu  Pari.  Hist.  vol.  34,  col.  15 19,  wo  die  Befürchtung  aus- 
gesprochen wird,  daß  durch  die  Pittschen  Maßregeln  die  Einlcommen- 
steuer  dauernd  gemacht  würde. 

30)  Hansard,  I.,  vol.  3,  col.  556. 

3* 


36        - 

Aus  diesen  Worten  klingt  eine  starke  Neigung  zur  direkten 
Besteuerung  heraus,  die  es  nicht  als  sehr  wahrscheinlich  er- 
scheinen läßt,  daß  Pitt  die  Einkommensteuer  so  leichten 
Kaufes  wieder  aufgegeben  hätte.  Dagegen  ist  die  Steuer  von 
Addington  durchaus  in  dem  Sinne  als  Kriegssteuer  auf- 
gefaßt und  behandelt  worden,  daß  sie  nur  und  ausschließlich 
als  Deckungsmittel  des  durch  einen  Krieg  hervorgerufenen 
Mehrbedarfs  und  als  Ersatz  der  sonst  zu  diesem  Zweck  er- 
forderlichen Anleihen  Geltung  hatte.  Die  Einkommensteuer 
der  ersten  Periode  war  demnach  nur  ihrer  äußeren  Veran- 
lassung nach  eine  Kriegssteuer.  Finanzpolitisch  ist  sie  als 
Ergänzungssteuer  zu  betrachten,  insofern  sie  bisher  unberührte 
Steuerquellen  erschloß  und  eine  gerechtere  Verteilung  der 
steuerlichen  Belastung  herbeiführte.  Rein  finanziell  betrachtet, 
wirkte  sie  als  eine  Zusatzsteuer,  durch  welche  der  unzuläng- 
liche Ertrag  der  übrigen  Besteuerung  erhöht  und  die  Durch- 
führung des  Pitt  sehen  Finanzprinzips  allererst  ermöglicht 
wurde. 

Wie  die  Einführung  der  Einkommensteuer  demnach  durch 
den  Krieg  nur  veranlaßt,  keineswegs  aber  einzig  bedingt  war, 
so  bildete  auch  die  Beendigung  des  Krieges  wiederum  nur 
den  Anlaß  zur  Aufhebung  der  Steuer.  Mit  dem  Aufhören  des 
Kriegsbedarfs  und  bis  zur  allmählichen  Reduktion  der  Aus- 
gaben auf  einen  normalen  Friedensetat  wurde  natürlich  all- 
jährlich ein  gewisser  Betrag  der  dauernden  Einnahmen  frei, 
der  zur  Erniedrigung  oder  zur  Aufhebung  drückender  Steuern 
verwandt  werden  konnte.  Daß  als  erste  aller  während  der 
Kriegszeit  eingeführten  Steuern  die  Einkommensteuer  fiel,  wird 
nun  keineswegs  dadurch  erklärt,  daß  man  die  Steuer  als  Kriegs- 
steuer betrachtet,  denn  diese  Bezeichnung  kann  mit  der  glei- 
chen Berechtigung  von  einer  ganzen  Anzahl  anderer  Steuern 
gebraucht  werden,  die  in  der  Zeit  des  großen  Kriegs  ein- 
geführt wurden,  ohne  deshalb  sofort  nach  seiner  Beendigung 
gleich   der   Einkommensteuer  abgeschafft   zu   werden. 

Ebensowenig  wie  in  dieser  rein  äußerlichen  Eigenschaft 
der  Einkommensteuer  scheint  der  letzte  Grund  "zu  ihrer  Auf- 
hebung in  der  Art  ihrer  Organisation  zu  liegen.  Es  ist  zwar 
klar,  daß  die  innere  Ungerechtigkeit  und  Ungleichheit  der 
Steuer  schroff  genug  hervortraten,  um  eine  Gegnerschaft  gegen 
diese  Form  der  Einkommensbesteuerung  zu  begründen.     Aber 


—     37     — 

diese  Gegnerschaft  konnte  sich  nicht  wohl  allein  gegen  die 
Form  der  Steuer  richten,  denn  das  Parlament,  welches  die 
Steuer  einführte  und  wieder  abschaffte,  hätte  auch  eine  gründ- 
liche Reform  der  Steuer  durchzuführen  vermocht.  Das  psycho- 
logische Motiv  dafür,  daß  die  in  der  Steuer  liegenden  Ent- 
wicklungsmomente nur  in  der  Richtung  der  Ertragssteige- 
rung, nicht  aber  nach  der  Richtung  eines  auf  den  Forderungen 
der  Theorie  beruhenden  inneren  Ausbaus  zur  Geltung  kamen, 
ist  leicht  zu  erkennen.  Das  liegt  einerseits  darin,  daß  man 
von  der  Steuer  nur  einen  möglichst  hohen  Ertrag  erwartete 
und  andererseits  darin,  daß  man  sie  ähnlich  wie  die  fran- 
zösischen Zwangsanleihen  ^i),  als  ein  momentanes  Opfer  be- 
trachtete, das  in  der  Zeit  höchster  nationaler  Not  die  reicheren 
Schichten  des  Volkes  dem  Vaterland  darbrachten.  Von  diesem 
Gesichtspunkt  aus  läßt  sich  denn  auch  der  wahre  Grund  da- 
für, daß  gerade  die  Einkommensteuer  wieder  fallen  mußte, 
erkennen.  Das  primäre  Moment,  gegen  das  sich  die  allgemeine 
Gegnerschaft  richtete,  ist  das  von  der  Einkommensteuer  er- 
faßte Steuerobjekt  selbst.  Alle  anderen  Momente,  die  man 
in  der  Debatte  naturgemäß  in  den  Vordergrund  schob,  weil 
sie  einen  viel  besseren  Angriffspunkt  boten,  sind  sekundärer 
Natur.  Die  althergebrachten  Besteuerungsgrundsätze,  die  sich 
an  das  Ausgabeprinzip  anschlössen  und  eine  Ausdehnung  der 
Besteuerung  auf  möglichst  viele  Objekte  forderten,  waren  noch 
zu  tief  gewurzelt,  als  daß  man  das  in  der  Einkommensteuer 
verkörperte  neue  Besteuerungsprinzip  nach  dem  Einkommens- 
merkmal allgemein  anerkannt  hätte.  Dazu  kam  die  theoretische 
Überzeugung  der  damaligen  Nationalökonomie  und  Steuer- 
lehre, daß  eine  Besteuerung  des  Vermögens  oder  des  Ein- 
kommens eine  dauernde  Verminderung  des  Nationaleinkom- 
mens bedeutete,  so  daß  man  Einkommen  und  Vermögen  über- 
haupt nicht  als  steuerbares  Objekt  betrachten  könne.  Er- 
gänzend wirkt  in  dieser  Hinsicht  noch  der  Umstand,  daß  im 
englischen  Parlament  doch  nur  die  wohlhabenderen  Schichten 
der  Bevölkerung,  die  von  der  Einkommensteuer  wie  von  einer 
ihnen     auferlegten     Sondersteuer    betroffen    wurden,    vertreten 


31)  Manes  macht  S.  205 ff.  auf  diese  Analogie  aufmerksam.  Eine 
direkte  Abhängigkeit  der  englischen  Einkommensteuer  von  den  französi- 
schen Zwangsanleihen  ist   aber  nicht  anzunehmen. 


-     38     - 

waren,  während  die  unteren  Schichten,  die  zwar  zur  J:Lin- 
kommensteuer  kaum  beitrugen,  dafür  aber  den  Druck  der 
indirekten  Besteuerung  umso  schwerer  empfanden,  im  Parla- 
ment  überhaupt   keinen  EinfUiß   hatten. 

Schheßhch  muß  man  sich  auch  hier  von  der  Vorstellung 
freimachen,  als  ob  beim  Eintritt  einer  neuen  Idee  diese  in 
voller  Deutlichkeit,  so  wie  sie  sich  am  Ende  einer  langen  Ent- 
wicklung dem  Beschauer  enthüllt,  auch  denen  vorgeschwebt 
habe,  die  sie  zuerst  vertraten.  Es  sind  die  Ausnahmefälle  in 
der  Geschichte  und  nur  die  Anfangspunkte  ganz  umfassender 
Entwicklungsreihen,  deren  Idee  überhaupt  vorausgeschaut  wird. 
In  allen  anderen  Fällen  aber  tritt  das  Neue  in  Abhängigkeit 
vom  Alten,  längst  Bestehenden  und  wirkt  zunächst  durchaus 
in  den  Bahnen  und  Formen  des  Alten,  um  erst  nach  langer 
Entwicklung  über  diese  hinauswachsend  in- der  ihm  eigentüm- 
lichen Form  erkennbar  zu  werden.  So  ist  es  mit  der  Ein- 
kommensteuer gewesen,  die  sich  zunächst  im  Triple  Assessment 
in  die  alten  Formen  hüllte  und  in  der  Pitt-  Steuer  noch  in 
starker  Abhängigkeit  von  diesem  stand.  Die  neue  Idee,  der 
die  alte  Form  unangemessen  war,  zeigte  sich  hier  jedoch  noch 
zu  schwach,  um  sich  selbständig  loszulösen,  so  daß  ihre  Ver- 
wirklichung in  dieser  Periode  scheitern  mußte,  und  darin  liegt 
der  tiefere  Grund,  der  die  Einkommensteuer  zum  Fall  brachte, 
nachdem  die  Notwendigkeit,  die  sie  bisher  allein  stützte,  mit 
dem   Friedensschluß   in  Wegfall  kam. 

§7. 
Die   Beseitigung    der   Einkommensteuer    1816. 

Mit  dem  Jahre  181 5  hatte  der  große  weltgeschichtliche 
Kampf  der  europäischen  Nationen  durch  die  endgültige  Nie- 
derlage Napoleons  seinen  Abschluß  gefunden.  Auf  dem  Konti- 
nent war  damit  das  europäische  Gleichgewicht  in  der  Macht- 
verteilung der  führenden  Staaten  wieder  hergestellt,  für  Eng- 
land dagegen  bedeutete  der  Sieg  über  Napoleon  und  über 
Frankreich,  den  alten  politischen  und  wirtschaftlichen  Rivalen, 
die  Sicherung  seiner  absoluten  Vormachtstellung  in  der  Welt- 
politik des  19.  Jahrhunderts.  Aber  wie  für  die  kontinentalen 
Mächte  war  auch  für  England  die  erste  Forderung  des  Tages 
nicht  die  einer  extensiven  Machtentwicklung,  sondern  die  einer 


—    39     — 

Festigung  der  durch  die  lange  Kriegsdauer  zerrütteten  inneren 
Verhältnisse.  Freilich  war  England  während  des  ganzen  Krie- 
ges von  einer  territorialen  Verheerung  verschont  geblieben,  da 
der  Feind  englischen  Boden  nie  betreten  hatte.  Auch  die 
innerstaatliche  Entwicklung  des  Inselreichs  war  im  Gegensatz 
zu  den  kontinentalen  Mächten  durch  den  Verlauf  und  den 
Ausgang  des  Kriegs  wenig  beeinflußt  worden.  Nur  nach  einer 
Richtung  hin  brachten  die  folgenden  Jahre  eine  innere  Fort- 
entv/icklung  von  höherer  Bedeutung,  die  Parlamentsreform, 
die  den  neuen  Verhältnissen  entsprechend  eine  Ausdehnung  des 
parlamentarischen  Prinzips  anstrebte  und  bis  zum  Jahre  1830  hin 
einen  bald  mehr  bald  minder  heftigen  Kampf  der  Parteien  ver- 
ursachte. Daneben  vollzog  sich  der  riesenhafte  Neubau  des 
englischen  Wirtschaftslebens,  durch  den  die  politische  Vor- 
machtstellung Englands  auch  nach  der  wirtschaftlichen  Seite 
hin  ausgedehnt  wurde.  Unter  der  Förderung  der  national- 
ökonomischen  Literatur  begann  die  Freihandelsidee  ihren  neu- 
gestaltenden Einfluß  auf  allen  Gebieten  des  Wirtschaftslebens 
auszuüben  und  im  Zusammenhang  mit  dieser  Entwicklung  ge- 
langte die  sozialpolitische  Gesetzgebung  und  die  modernere 
Ausgestaltung  des  Zivil-  und  Strafrechts  zur  Durchführung. 
Die  Fabrik-  und  Armengesetzgebung  sind  die  bedeutsamsten 
Ergebnisse   dieser  Entwicklung. 

In  steter  und  enger  Wechselwirkung  zu  den  hier  ange- 
deuteten Entwicklungsreihen  steht  die  Fortbildung  der  eng- 
lischen Finanzen  nach  der  Wiederherstellung  des  Friedens. 
Für  die  aligemeine  Finanzlage  im  Jahre  18 16  bildet  die  dauernde 
starke  Erhöhung  des  Finanzbedarfs  das  wesentlichste  Ergebnis 
des  fast  25  jährigen  Kriegs.  In  den  zehn  Friedensjahren  nach 
dem  nordamerikanischen  Unabhängigkeitskrieg  hatten  die  Aus- 
gaben im  jährlichen  Durchschnitt  19  ^Millionen  £  betragen. 
Dieser  Durchschnitt  war  in  der  ersten  Hälfte  des  französischen 
Kriegs  auf  49  Millionen  £  und  in  der  zweiten  Hälfte  auf 
81  Millionen  £  gesteigert  worden.  Es  ist  klar,  daß  die  Re- 
duktion des  Kriegsbedarfs  auf  einen  normalen  Friedensstand 
eine  Reihe  von  Jahren  erforderte,  da  die  Nachwirkungen  des 
Kriegs  nicht  sofort  aufhörten.  Immerhin  aber  betrugen  die 
durchschnittlichen  jährlichen  Ausgaben  im  ersten  Jahrzehnt 
nach  dem  Friedensschluß  noch  61  Millionen  £  und  in  den 
beiden   folgenden   Jahrzehnten   53    Millionen   £.     Diese   Steige- 


—    40     — 

rung  drr  dauernden  Ausgaben  ist  sovvolil  auf  eine  dauernde 
Erhöhung  der  niiliiärischen  Aufwendungen  und  derjenigen  der 
Zivilverwahung  als  auch  auf  die  erhebhche  Steigerung  der 
durch    den    Krieg    vermehrten    Schuldenlast    zurückzuführen. 

Von  diesem  Stand  des  jährlichen  Staatsbedarfs  muß  man 
ausgehen,  um  die  Finanzpolitik  zu  verstehen,  die  nach  dem 
Frieden  eingeschlagen  wurde;  denn  der  im  Vergleich  zur  letz- 
ten Friedensperiode  ungewöhnlich  hohe  Friedensbedarf  mußte 
den  Wunsch  wachrufen,  diesen  Bedarf  auf  jede  Art  und  Weise 
zu  verringern,  um  dadurch  die  drückende  Schuldenlast  zu  er- 
leichtern. Von  Anfang  an  bestand  nun  im  Parlament  die 
ausgesprochene  Überzeugung,  daß  die  Regierung  zu  einer  Be- 
darfsverminderung gezwungen  werden  könnte,  wenn  man  ihr  die- 
jenigen Einnahmequellen  verschloß,  deren  Ergiebigkeit  und 
leichte  Ausnutzungsmöglichkeit  zu  weiterer  Bedarfssteigerung 
verleiten  könnte.  So  stellte  sich  das  Parlament  auf  den  Stand- 
punkt, daß  eine  Erleichterung  in  der  steuerlichen  Belastung 
nur  durch  eine  umfassende  Steuerreduktion  erreicht  werden 
könnte.  Hierin  liegt  ein  weiteres  Motiv,  das  zur  Aufhebung  der 
Einkommensteuer  drängte,  da  diese  als  dauernde  Finanzquelle 
am  leichtesten  eine  Politik  der  Ausgabensteigerung  gestützt 
hätte  32). 

Die  Regierung  nahm  einen  entgegengesetzten  Standpunkt 
ein,  obwohl  auch  sie  die  Notwendigkeit  einer  Bedarfsverminde- 
rung durchaus  anerkannte.  Diese  ließ  sich  aber  nur  auf  zwei 
Wegen  erreichen:  einmal  indem  durch  eine  wirksame  Schul- 
dentilgung die  Schuldenlast  verringert  wurde,  und  zum  andern, 
indem  das  ganze  Steuersystem  einer  durchgreifenden  Reform 
unterzogen  wurde,  durch  welche  die  Erhebungskosten  herab- 
gemindert und  der  relative  Ertrag  der  Steuern  erhöht  wurde. 
Um  die  Durchführung  dieser  doppelten  Absicht  zu  sichern, 
forderte  der  Finanzminister  V  a  n  s  i  1 1  a  r  t  die  Fortsetzung  der 
Einkommensteuer,  indem  er  der  Auffassung  entgegentrat,  daß 
diese  Steuer  nur  als  Kriegssteuer  mit  der  Verpflichtung,  sie 
nach  der  Beendigung  des  Kri-egs  wieder  abzuschaffen,  ein- 
geführt worden  sei.  Durch  Verbesserungen  des  Einkommen- 
steuergesetzes und  des  Veranlagungsmodus  sollte  übrigens  den 
Einwänden,     die    sich    weniger    gegen    das    Einkommensteuer- 


32)  Hansard,   I.,  vol.  32,  col.  389. 


—     41     — 

prinzip  als  gegen  die  bestehende  Organisation  der  Steuer  rich- 
teten, wirksam  begegnet  werden. 

Die  Notwendigkeit,  die  Steuer  beizubehalten,  ergab  sich 
noch  von  einem  anderen  Gesichtspunkt  aus.  Als  leitendes 
Finanzprinzip  stellte  Vansittart  die  unbedingte  Vermeidung- 
neuer  Anleihen  auf,  um  eine  allmähliche  Erholung  des  fast 
erschöpften  Staatskredits  zu  ermöglichen.  Da  sich  als  Folgen 
des  Kriegs  noch  immer  außerordentliche  Ausgaben  notwendig 
machten,  die  nach  Wegfall  der  Einkommensteuer  durch  die 
verbleibenden  dauernden  Einnahmen  nicht  gedeckt  werden 
konnten,  so  machte  sich  die  Fortsetzung  der  Steuer  auch  not- 
wendig,   um   diesem  zeitweiligen   Bedarf  begegnen  zu   können. 

So  gelangte  die  Regierung  zu  dem  Antrag,  die  Einkom- 
mensteuer zu  dem  Satz  von  50/0  noch  auf  eine  bestimmte  Zeit 
beizubehalten,  und  Vansittart  faßte  bei  der  Einbringung 
dieses  Antrags  am  18.  März  18 16  die  dafür  maßgebenden 
Gründe  folgendermaßen  zusammen:  ,,The  passing  of  this  bill 
would  facilitate  most  materially  the  Operations  of  the  whole 
financial  machine  of  the  country:  while  the  property  tax  was 
affording  a  temporary  supply  to  a  temporary  want,  that  ma- 
chine, of  late  years  much  desorganized  and  complicated,  might 
be  put  into  a  State  of  repair  and  activity,  which  would' facili- 
tate the  whole  proceedings  of  the  nation;  with  the  property 
tax  the  money-market  would  be  relieved  and  he  anticipated  a 
certain  if  not  a  rapid  improvement  in  the  public  pecuniary 
concerns"  33).  In  diesen  Worten  ist  die  auf  die  Einkommen- 
steuer gestützte  Finanz-  und  Steuerpolitik  angedeutet,  wenn 
auch  die  einzelnen  Züge  einer  auf  diesen  Grundsätzen  sich 
aufbauenden  Finanzreform  noch  nicht  hervortreten.  Der  Re- 
gierungsantrag wurde  jedoch  mit  geringer  Majorität  abgelehnt, 
Damit  war  die  Einkommensteuer  gefallen  und  die  Regierung 
vor  die  Aufgabe  gestellt,  einen  neuen  Finanzplan  auszuarbeiten. 


^i)  Hansard,    I.,   vol.   33,   col.  433. 


—     42     — 

3.  Kapitel. 
Die  Reform  der  indirekten  Besteuerung. 

§8. 
Reformmeth  öden  bis  1 836. 

Die  Entfernung  der  Einkommensteuer  aus  dem  englischen 
Steuersystem  bedeutete  keine  einfache  Wiederherstellung  des 
Systems,  wie  es  vor  der  Einführung  der  ersten  Einkommen- 
steuer bestanden  hatte.  Die  wesentlichste  Änderung  lag  darin, 
daß  alle  ordentlichen  Einnahrnezweige  eine  derartige  Steigerung 
erfahren  hatten,  daß  der  Gesamtertrag  der  dauernden  Steuern 
zur  Deckung  des  normalen  Friedensbedarfs  ausreichte,  und  An- 
leihen also  als  Deckungsmittel  des  laufenden  Bedarfs  vermieden 
werden  konnten.  Es  war  somit  ein  Einnahmezweig,  der  in  den 
Budgets  einer  früheren  Finanzepoche  den  übrigen  Zweigen  fast 
völlig  gleichgeordnet  war,  ausgeschaltet  worden,  so  daß  nach 
dem  Wegfall  der  Einkommensteuer  die  überragende  Stellung 
der  indirekten  Steuern  noch  schroffer  hervortrat  als  früher.  Ob- 
wohl von  den  direkten  Steuern  namentlich  die  Vermächtnis- 
steuern und  die  Häuser-  und  Fenstersteuern  eine  erhebliche 
Steigerung  erfahren  hatten,  betrug  doch  im  Jahre  18 16  nach 
dem  Wegfall  der  Einkommensteuer  der  Ertrag  aller  direkten 
Steuern  noch  nicht  einmal  den  fünften  Teil  des  gesamten  Steuer- 
ertrags. Innerhalb  dieses  indirekten  Steuersystems,  das  damit 
seine  äußerste  Ausbildung  erfahren  hatte,  bereiteten  sich  aber 
die  Momente  vor,  die  zunächst  eine  Umbildung  innerhalb  des 
Systems  und  späterhin  die  Umwandlung  in  ein  gemischtes 
System  zur  Folge  hatten. 

Die  Verbrauchsbesteuerung,  die  in  den  letzten  20  Jahren 
ungefähr  eine  Verdoppelung  erfahren  hatte,  war  infolge  der  häu- 
figen Erhöhungen  während  des  Kriegs  zu  einem  äußerst  kom- 
plizierten System  geworden,  in  welchem  sich  die  einzelnen 
Steuern  vielfach  gegenseitig  Abbruch  taten.  Der  -Zolltarif  hatte 
zwar  seit  den  Pitt  sehen  Reformen  in  erster  Linie  fiskalischen 
Charakter,  doch  wurde  der  Ertrag  durch  das  Überwuchern  pro- 
tektionistischer  und  prohibitiver  Rücksichten  nach  dem  Frieden 
wieder  stark  beeinträchtigt.  Eine  Reformation  innerhalb  des 
bestehenden  Steuersystems  mußte  sich  somit  wesentlich  in  der 


—     43     — 

Richtung  einer  allmählichen  Vereinfachung  desselben  vollziehen, 
durch  welche  der  Reinertrag  dieser  beiden  Einnahmezweige 
gehoben  werden  konnte. 

An  diese  Grundlagen  war  nun  die  Finanzpolitik  der  nächsten 
Jahrzehnte  gebunden.  Sie  entfaltete  sich  in  deutlich  erkenn- 
barer Weise  nach  drei  verschiedenen  Richtungen.  Einmal 
richtete  sie  sich  auf  eine  Reduzierung  des  Finanzbedarfs  durch 
eine  weitgehende  Sparsamkeitspolitik.  Dieses  Streben  hatte  den 
Erfolg,  daß  der  jährliche  Bedarf  in  dem  Jahrzehnt  von  1825  bis 
1834  dem  vorausgegangenen  Jahrzehnt  gegenüber  insgesamt  um 
80  Millionen  £  abnahm.  In  dem  folgenden  Jahrzehnt  erfolgte 
zwar  keine  weitere  Verminderung  der  Ausgaben,  doch  ist  dieser 
Umstand  auf  die  außerordentlichen  Ausgaben  zurückzuführen, 
welche  die  seit  dem  Jahre  1836  auf  Staatskosten  durchgeführte 
westindische  Sklavenbefreiung  verursachte. 

Die  zweite  Richtung,  in  der  sich  die  Finanzpolitik  nach  1816 
bewegte,  bezog  sich  auf  die  Schuldentilgungspolitik,  deren  Ver- 
fahren eine  völlige  Umwandlung  erfuhr.  Indem  seit  der  Be- 
endigung des  Kriegs  die  jährlichen  Einnahmen  die  Ausgaben 
überstiegen,  wurde  alljährlich  ein  Überschuß  erzielt,  der  seit 
dem  Jahr  1828  zur  Schuldentilgung  verwendet  wurde,  womit 
die  alte  Pitt  sehe  Tilgungspolitik  verlassen  und  ein  einfacher, 
wenn  auch  nicht  mit  großer  Schnelligkeit  wirkender  Tilgungs- 
modus eingeführt  war. 

Die  dritte  Aufgabe  der  Finanzpolitik  von  18 16  bis  1842 
bildete  schließlich  die  Reform  des  Steuersystems,  die  sich  in 
drei  deutlich  unterschiedenen  Stufen  vollzog.  Solange  eine  Be- 
darfsverminderung erreicht  werden  konnte,  verwandte  man  zu- 
nächst den  Einnahmeüberschuß,  der  sich  dadurch  im  Budget 
ergab,  zur  Reduktion  der  am  meisten  drückenden  Steuern. 
Vor  allem  waren  es  die  während  des  Kriegs  eingeführten  oder 
erhöhten  Aufwandsteuern  und  Verbrauchsteuern,  die  auf  diese 
Weise  eine  Herabsetzung  erfuhren,  während  die  Zölle  ziemlich 
unverändert  blieben.  Die  Folge  davon  war,  daß  die  Verbrauch- 
steuern nach  ihrem  absoluten  Ertrag  hinter  die  Zölle  zurück- 
traten, die  infolge  der  Ausdehnung  des  Wirtschaftslebens  einen 
stets  steigenden  Ertrag  einbrachten.  Allmählich  gelangte  man 
durch  die  Steuerpraxis  in  bezug  auf  die  Steuerreduktion  zu  be- 
stimmten Erkenntnissen  über  deren  Wirkungsweise,  und  daraus 
ließen  sich  dann   auch   die  Grundsätze   ableiten,   die   bei   einer 


44       - 

weiteren  Hcrabscizung  der  Steuern  bea(  htet  werden  mußten. 
Der  wesentlichste  Unterschied  dieser  zweiten  Stufe  der  Steuer- 
reduktionen gegenüber  der  ersten  Hegt  darin,  daß  eine  weitere 
Herabminderung  des  Bedarfs  ohne  Vernachlässigung  wichtiger 
Staatsaufgaben  nicht  mehr  ermöglicht  werden  konnte,  so  daß 
also  ein  Einnahmeüberschuß  nur  durch  eine  Steigerung  der 
dauernden  Einnahmen  erreicht  werden  konnte.  Teilweise  er- 
gab sich  diese  durch  die  natürliche  Ertragssteigerung  der  Zölle 
und  der  Verbrauchssteuern  infolge  der  Zunahme  der  Bevölkerung 
und  ihres  Wohlstands.  Eine  weitere  Steigerung  des  Ertrags 
ließ  sich  aber  auch  vielfach  durch  eine  Ermäßigung  der  Steuern 
auf  gewisse  Verbrauchsgegenstände  erreichen,  indem  der  da- 
durch hervorgerufene  gesteigerte  Konsum  eine  Ertragsvermeh- 
rung bewirkte.  In  anderen  Fällen  konnte  man  diese  durch  die 
Beseitigung  solcher  Steuern  erwarten,  die  eine  Verteuerung  der 
Produktion  zur  Folge  hatten.  Endlich  gestaltete  sich  die  wechsel- 
seitige Abhängigkeit  und  Beziehung  der  einzelnen  Steuerobjekte 
auch  so,  daß  die  Erhöhung  oder  Verminderung  einer  bestimmten 
Steuer  eine  Ertragssteigerung  einer  anderen  Steuer  verursachte. 
Die  Verwertung  dieser  Erkenntnisse,  die  sich  aus  der  Steuer- 
praxis ergaben,  führte  ungefähr  seit  dem  Jahre  1830  zu  einer 
zielbewußteren   Gestaltung   der   Steuerpolitik. 

Es  ist  jedoch  leicht  ersichtlich,  daß  diese  Grundsätze,  soweit 
sie  eine  Steigerung  des  Ertrags  bezweckten,  nur  in  beschränktem 
Umfang  Geltung  behielten,  da  schließlich  überall  die  Grenze 
erreicht  werden  mußte,  über  die  hinaus  durch  eine  Herab- 
setzung der  Steuern  eine  Ertragssteigerung  nicht  mehr  erwartet 
werden  konnte.  Tatsächlich  war  diese  Grenze  auch  bald  erreicht 
und  jeder  Versuch,  sie  zu  überschreiten,  führte  zu  einem  Miß- 
erfolg, der  sich  in  einem  Einnahmeausfall  offenbarte. 

Damit  war  aber  gleichzeitig  die  Grenze  erreicht,  innerhalb 
deren  eine  Reform  des  indirekten  Steuersystems  ohne  die  Unter- 
stützung einer  zeitweiligen  Einnahmequelle,  welche  den  durch 
die  Reform  verursachten  Ertragsausfall  ausglich,  ermöglicht 
werden  konnte.  Wenn  die  Steuerreform  deshalb  nicht  auf 
halbem  Wege  Halt  machen  sollte,  mußte  eine  neue  Reformpolitik 
eingeschlagen  werden,  deren  Grundzüge  Henry  Parnell  in 
seinem  Werk  ,,On  Financial  Reform"  klar  vorgezeichnet  hat. 
Parnell  weist  zunächst  die  Notwendigkeit  einer  weiteren  Fi- 
nanzreform   nach    und    zeigt    den    Weg,    auf    dem    sie    erreicht 


—     45     — 

werden  soll.  Er  stellt  in  den  Mittelpunkt  die  Forderung  einer 
1V2-  bis  2  0oigen  Einkommensteuer,  mit  deren  Ertrag  der  durch 
die  Steuerreform  entstandene  Einnahmeausfall  wett  gemacht 
werden  sollte.  Praktisch  begann  dieser  Gedanke  schon  im  Jahre 
1830  hervorzutreten,  und  im  Jahre  1833  kam  er  durch  den 
Finanzminister  Lord  Alt  hör  p,  der  sich  selbst  als  einen  Schüler 
Parnells  bezeichnete,  seiner  Verwirklichung  sogar  sehr  nahe, 
als  die  Abschaffung  der  Malzsteuer  und  der  Fenstersteuer  ge- 
fordert wurde  und  Althorp  als  Ersatz  dafür  eine  Einkommen- 
steuer in  Aussicht  stellte. 

Diesem  vorgezeichneten  und  grundsätzlich  allein  gangbaren 
Weg  einer  weiteren  Reform  folgte  jedoch  die  Finanzpolitik  erst, 
als  sie  durch  die  finanzielle  Notwendigkeit,  die  sich  mit  der  Be- 
darfssteigerung und  der  tatsächlichen  Unzulänglichkeit  der  in- 
direkten Steuern  ergab,  dazu  getrieben  wurde,  und  als  der  zu- 
erst eingeschlagene  Ausweg  zu  einem  greifbaren  Mißerfolg 
führte. 

§9- 
Das  Reform problem. 

Die  Grundtatsache,  aus  der  heraus  sich  das  Finanzproblem 
in  der  zweiten  Hälfte  der  dreißiger  Jahre  entwickelte,  bildete  die 
Gestaltung  des  Bedarfs.  Das  Reformproblem  war  verhältnis- 
mäßig einfach,  solange  das  bestehende  Einnahmesystem  einen 
genügend  hohen  Ertrag  lieferte,  um  nicht  nur  die  laufenden 
Ausgaben,  sondern  auch  die  Kosten  der  Reformen  zu  decken. 
Das  traf  bis  zur  Mitte  der  dreißiger  Jahre  zu,  wenn  auch  die 
Tendenz,  die  der  Entwicklung  der  Ausgaben  und  der  Einnahmen 
innewohnte,  einem  Punkt  zustrebte,  an  welchem  sich  die  vor- 
handenen Einnahmequellen  zur  Deckung  selbst  des  abnehmen- 
den Bedarfs  als  unzureichend  erweisen  mußten.  Diese  Tendenz 
findet  ihren  Ausdruck  in  dem  abnehmenden  Prozentverhältnis, 
in  welchem  der  jährlich  erzielte  Überschuß  zu  den  gesamten 
Einnahmen  stand,  wie  es  durch  die  umstehende  Tabelle  ver- 
anschaulicht wird. 

Das  Reformproblem  mußte  sich  zu  einem  umfassenden 
Finanzproblem  auswachsen,  sobald  ein  steigender  Bedarf  auf- 
trat, dem  das  bestehende  System  der  Einnahmegewinnung  nicht 
durch   natürliche   oder   leicht   zu   bewirkende   Ertragssteigerung 


-     46     - 


Tab.    2.      ibt-rsicht    über    die    ICiiiiiahim-fni\vi<  klung    18J9 — 39. 
Im  jährlichen   Durchschnitt  l)(.triigen  in  Milhoncn  £: 


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Fehlbetrag 

gaben    brauchs-     0 
steuern 

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1819/20 — 23/4 
1824/5—28/9 
1829/30—33/4 
1834/5—38/9 

57.034 
55.009 
51,30c 
54.172 

41.336 
41,024 
37.309 
37.035 

69.3 
72,2 

71,3 
72,7 

14,770  24,7 
12,582  22,1 
12,502  23,9 
11,342  22,2 

1 
4,508  |6,o 

3.245  15.7 
2.577  {4.8 
2,617  15,1 

59.614 
56,851 
52,388 
50.994 

100 
IOC 
IOC 
IOC 

+2,579 
+  1,842 
+1,087 
—3.178 

4.3 
3.2 
2,1 
6.2 

ZU  folgen  vermochte.  Die  Bedeutung,  welche  der  Bedarfs- 
gestaltung im  Finanzsystem  eines  Landes  zukommt,  liegt  in 
ihrer  wesentlichen  Unabhängigkeit  von  finanzpolitischen  Er- 
wägungen, da  der  Bedarf  sich  notwendig  aus  der  gesamten 
Staatstätigkeit  ergibt,  die  nicht  willkürlich  durch  Rücksichten 
auf  die  augenblicklich  zur  Verfügung  stehenden  Einnahmen  und 
ohne  Schädigung  der  inner-  und  außerpolitischen  Machtstellung 
des  Staates  beschränkt  werden  kann.  Dabei  zeigt  sich  immer 
wieder,  und  in  der  Geschichte  aufstrebender  Staaten  am  deut- 
lichsten, daß  eine  sog.  Sparsamkeitspolitik  als  finanzpolitisches 
Prinzip  völlig  untauglich  ist,  soweit  sie  auf  eine  Verminderung 
des  Bedarfs  durch  Beschränkung  der  inneren  oder  äußeren 
Machtentfaltung  des  Staates  abzielt.  Im  Sinne  rein  ökonomisch 
sparsamer  Finanzgebarung  ist  sie  eine  so  selbstverständliche 
Voraussetzung  jeder  gesunden  Finanzwirtschaft  überhaupt,  daß 
sie  nur  zu  organisationstechnischen,  nicht  aber  zu  finanzpoliti- 
schen Reformen  Veranlassung  geben  kann.  Daß  die  politische 
Tätigkeit  bis  zu  einem  gewissen  Grad  durch  die  Finanzlage  be- 
einflußt werden  kann  und  wird,  ist  klar  genug,  doch  wird  diese 
Rücksichtnahme  auf  die  Ergiebigkeit  vorhandener  Einnahme- 
quellen nie  eine  dauernde  Beschränkung  wesentlicher  Staats- 
aufgaben bewirken  können. 

Erfassen  wir  so  den  Bedarf  als  schlechthin  gegebene  Größe, 
so  ergibt  sich  hieraus  eine  doppelte  Anforderung  an  das  Ein- 
nahmesystem. Einmal  erfordert  die  Notwendigkeit  seiner 
augenblicklichen  Deckung  in  dem  Finanzjahr,  in  welchem  er 
neu  auftritt,  eine  Vermehrung  der  Einnahmen,  zum  andern 
aber  eine  derartige  Ausbildung  der  Einnahmequellen,  daß  sie 
durch   natürliches  Wachstum  oder  leichte  Vermehrbarkeit   die 


—     47     — 

Deckung  eines  steigenden  Bedarf  s  in  kommenden  Jahren  sicher- 
stellen. 

Diese  theoretischen  Anforderungen  werden  nun  aber  ab- 
geändert und  in  ihrer  Durchführung  bestimmt  durch  die  Ge- 
staltung und  Wirkungsweise  des  bereits  bestehenden  Einnahme- 
systems, da  alle  Teile  desselben  durch  die  Beziehung,  die  sie 
zum  Steuerzahler  haben,  in  gegenseitiger  Wechselwirkung  stehen. 
Die  einheitliche  Quelle,  aus  der  alle  Steuern  bezahlt  werden,  ist 
das  Einkommen,  und  die  Vielzahl  der  Besteuerungsweisen  be- 
deutet schließlich  nichts  als  ebenso  viele  Mittel  und  Wege,  die 
vielfachen  Erscheinungsformen  aller  Einkommensarten  zu  er- 
fassen und  der  Besteuerung  zu  unterwerfen.  Eine  Einnahmen- 
vermehrung kann  daher  nur  erzielt  werden,  entweder  durch  eine 
stärkere  Belastung  bereits  erfaßter  Einkommensteile  im  Ver- 
hältnis zum  jährlichen  Einkommenszuwachs,  oder  aber  durch 
eine  Erfassung  solcher  Einkommensteile,  die  bisher  der  Be- 
steuerung entgangen  waren.  Da  jede  Steuerpolitik  aber  nach 
den  bekannten  Grundsätzen  der  Gleichheit  und  Verhältnismäßig- 
keit der  Belastung  in  erster  Linie  auf  die  Heranziehung  solcher 
Teile  gerichtet  sein  muß,  so  erkennen  wir  darin  die  dritte  Grund- 
forderung, der  eine  Finanzreform  genügen  muß. 

Die  tatsächliche  Entwicklung  der  englischen  Finanzen  etwa 
von  dem  Jahre  1836  an  verlief  so,  daß  alle  drei  Momente  scharf 
und  deutlich  in  die  Erscheinung  traten.  Die  Wendung  in  der 
Bedarfsentwicklung  trat  1836  im  Zusammenhang  mit  der  Durch- 
führung der  westindischen  Sklavenbefreiung  und  der  Ent- 
schädigung der  Sklavenhalter  ein.  Außerdem  aber  erfuhr  das 
Ausgabebudget  eine  fortdauernde  Zunahme  durch  die  militäri- 
schen Rüstungen,  die  sich  in  diesen  Jahren  durch  das  gespannte 
Verhältnis  zu  Frankreich  nötig  machten.  Ferner  hatten  die  all- 
gemeinen wirtschaftlichen  Depressionen  und  wiederholte  Fehl- 
ernten nicht  nur  die  Wirkung  einer  Ertragsverminderung  ein- 
zelner Einnahmequellen,  sondern  auch  einer  positiven  Aus- 
gabevermehrung, indem  die  Notlage  der  landwirtschaftlichen 
und  teilweise  auch  der  industriellen  Bevölkerung  staatliche  Unter- 
stützungen erforderte.  Wenn  auch  die  meisten  dieser  Ausgaben 
ihrer  Veranlassung  nach  zeitweilig  waren,  so  ergab  sich  schließ- 
lich aus  ihnen  doch  immer  eine  teilweise  Erhöhung  auch  des 
dauernden  Bedarfs.  Deutlich  erkennbar  ist  dies  bei  den  ge- 
steigerten Ausgaben  für  Rüstungszwecke,  da  die  Erhaltung  des 


-     48     - 

Heeres  und  dcv  Flotlc  auf  dein  einmal  «-rreic  hteii  Stand  eine 
dauernde  Belastung  bedeutete.  Schließlich  aber  erfuhr  das 
jährliche  Ausgabebudget  eine  zunehmende  Steigerung  durch 
die  mannigfachen  wirtschaftlichen  und  sozialen  Reformen,  die 
in  diesen  Jahren  in  Angriff  genommen  und  durchgeführt  wurden. 
Diese  Entwicklung  des  dauernden  Bedarfs  ging  so  weit, 
daß  die  aus  dem  bestehenden  System  verfügbaren  Einnahmen 
nicht  mehr  zu  seiner  Deckung  ausreichten,  so  daß  die  I-inanz- 
jahre  nach  1837  mit  wechselnden,  teilweise  erheblichen  Fehl- 
beträgen abschlössen. 

So  betrug  der  rechnungsmäßige  Fehlbetrag : 

1837/8  0,726  Millionen  £, 

1838/9  0,344 

1839/40  1,531 

1840/1  1,560        ^  „ 

1841/2  2,086  „         „ 

zusammen  6,447  Millionen  £. 

Während  aber  einerseits  trotz  aller  Sparsamkeitsbemühun- 
gen, die  in  mehrfachen  Resolutionen  im  Parlament  zum  Aus- 
druck kamen,  eine  Bedarfsverminderung  nicht  erreicht  werden 
konnte,  offenbarten  auf  der  anderen  Seite  gerade  in  diesen  kri- 
tischen Jahren  die  Hauptzweige  des  Einnahmesystems  ihre 
starke  Abiiängigkeit  von  der  gesamten  Wirtschaftslage  in  dem 
geringen  natürlichen  Wachstum  und  dem  Schwanken  ihres 
Ertrags.  So  fehlte  in  dem  System  ein  Element,  das  von  den 
Verhältnissen  der  Konjunktur  wesentlich  unabhängig,  diejenige 
Elastizität  der  Ertragsvermehrung  besaß,  die  in  Zeiten  steigen- 
den Bedarfs  notwendig  ist.  Die  bisherigen  Reformen  hatten 
zwar  eine  teilweise  Vereinfachung  des  Zolltarifs  und  der  Ver- 
brauchssteuern bewirkt,  ohne  aber  die  Grundlagen  des  Systems 
selber  irgendwie  zu  verändern  oder  zu  berühren.  Der  Grund 
ihrer  schließlichen  Wirkungslosigkeit  aber  lag  darin,  daß  diese 
Reformen  weder  eine  gerechte  Verteilung  der  Steuerbelastung, 
noch  eine  Ertragssteigerung  zur  Folge  hatten,  weil  sie  keine 
wesentlich  neuen  Steuerquellen  zu  erschliefien  vermochten. 

Der  Versuch,  noch  ganz  auf  der  Grundlage  des  bestehenden 
Systems  das  finanzielle  Gleichgewicht  zwischen  Ausgaben  und 
Einnahmen  herzustellen,  wurde  im  Budget  für  das  Finanzjahr 
1 840/1  durch  Prozentzuschläge  zu  den  Zöllen,  \'erbrauchssteuern 


—     49 


und  Aufwandsteuern  unternom- 
men, führte  aber  zu  einem  vollen 
Mißerfolg.  Von  vornherein  lag  es 
in  dem  Wesen  dieses  Auskunfts- 
mittels, daß  seine  Anwendung 
keine  Anpassung  der  dauernden 
Einnahmen  an  den  steigenden 
Bedarf  bedeuten,  sondern  höch- 
stens die  Mittel  schaffen  konnte, 
die  Ausgaben  des  Jahres  zu 
decken  und  ein  erneutes  Defizit 
zu  vermeiden.  Aber  selbst  diese 
Absicht  wurde  nicht  erreicht,  in- 
dem der  Ertrag  der  Zölle  und 
der  Verbrauchssteuern  wesentlich 
hinter  der  Summe  zurückblieb, 
die  nach  dem  Zuschlag  von  50/0 
hätte  erwartet  werden  sollen, 
und  selbst  die  Aufwandsteuern 
überstiegen  erst  im  zweiten  Jahr 
nach  der  Erhöhung  den  veran- 
schlagten Betrag. 

Versuchen  wir,  die  Ursachen  zu 
erfassen,  die  den  Mißerfolg  dieses 
letzten  Versuchs,  allein  mit  dem 
bisherigen  System  der  Ein- 
nahmegewir.nung  auszukommen, 
notwendig  herbeiführten,  so  lie- 
gen sie  weniger  in  einer  abso- 
luten steuerhchen  Überlastung, 
da  die  Gesamtbelastung  in  den 
Jahrzehnten  nach  den  napoleoni- 
schen Kriegen  sowohl  absolut  als 
auch  auf  den  Kopf  der  Bevölke- 
rung berechnet,  durch  den  Weg- 
fall der  Einkommensteuer  und 
durch  Reduktion  der  Verbrauch- 
steuern erheblich  vermindert 
worden  war,  wie  wir  aus  der 
nebenstehenden  Tabelle  ersehen 

Zeitschrift  für  die  ges,  Staatswissensch.    Ergänzungsheft  48. 


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—     50     — 

können.  Die  Hauptursache  lag  \ielmehr  in  der  immer  schärfer 
ausgeprägten  Einseitigkeit  des  Steuersystems,  das  ungefähr  3/^ 
seines  Ertrages  aus  der  indirekten  Besteuerung  von  Verbrauchs- 
gegenständen gewann  und  darum  im  wesenlhchen  nur  diejenigen 
Einkommensteile  zu  erfassen  vermochte,  die  für  den  Konsum 
solcher  Gegenstände  verausgabt  wurden.  Der  hierfür  verwend- 
bare Betrag  des  jährlichen  Volkseinkommens  wächst  zwar  mit 
der  Zunahme  der  Bevölkerung  und  bewirkt  so  im  Verhältnis 
zu  dieser  das  natürhche  Wachstum  der  indirekten  Steuern,  er 
nimmt  aber  infolge  der  langsamen  Konsumsteigerung  nur  bis 
zu  einem  gewissen  Grad  an  der  Zunahme  des  Gesamteinkommens 
teil,  so  daß  einem  solchen  System  der  indirekten  Besteuerung 
die  jährlich  zuwachsenden  neuen  Einkommensteile  fast  völlig 
entgehen.  Während  so  die  Einseitigkeit  des  Systems  eine  im 
Verhältnis  zur  Entwicklung  des  Volkswohlstands  stehende  Er- 
tragsentwicklung verhinderte,  führte  die  Besteuerung  der  haupt- 
sächlichen Verbrauchsgegenstände  zu  einer  unverhältnismäßigen 
Belastung  und  zu  mehrfacher  Besteuerung  der  niederen  und 
mittleren  Einkommensklassen,  die  eine  durch  Steuererhöhung 
verursachte  Preissteigerung  durch  Einschränkung  des  Konsums 
auszugleichen  gezwungen  sind,  wodurch  die  beabsichtigte  Wir- 
kung der  Steuererhöhung  für  die  Finanzen  wieder  ganz  oder 
teilweise  aufgehoben  wird. 

Schließlich  aber  wurde  die  Wirkungsweise  des  ganzen 
Systems  in  allen  seinen  Teilen  sehr  erheblich  durch  den  Um- 
stand beeinträchtigt,  daß  es  sich  hier  nicht  um  ein  rein  finanz- 
wirtschaftliches System  der  staatlichen  Einnahmegewinnung 
handelt,  dessen  Bau  und  Entwicklung  nur  durch  finanzpolitische 
Bedürfnisse  und  Erwägungen  geregelt  wurde.  Vielmehr 
brachten  die  protektionistischen  und  prohibitiven  Absichten 
und  Zwecke,  mit  denen  das  ganze  System  durchsetzt  war,  den 
rein  fiskalischen  Anforderungen  wesentlich  fremde  und  teil- 
weise entgegengesetzte  Wirkungen  hervor  und  machten  die 
Ertragsentwicklung  von  Momenten  abhängig,  die  außerhalb 
finanzpolitischer  Erwägungen  standen  und  diesen  nicht  selten 
zuwiderliefen  3i). 


34)  Nach  dem  „Report  on  Import  Duties"  von  1840  brachten  17  Artikel 
des  Zolltarifs  21,6  MilUonen  £  des  gesamten  Ertrags  der  Zölle  auf,  während 
851    Artikel  zusammen  nur    1,2   Millionen   £  ergaben. 


—     51     — 

So  ist  die  Erfolglosigkeit  des  Versuchs,  das  System  vor- 
wiegend indirekter  Besteuerung  dem  steigenden  Bedarf  durch 
einfache  Erhöhung  der  bestehenden  Steuern  anzupassen,  auf 
drei  Grundursachen  zurückzuführen: 

1.  auf  die  Einseitigkeit  des  gesamten  Steuersystems,  dessen 
Glieder  die  jährlich  neu  hinzuwachsenden  und  besteuerungs- 
fähigen Einkommensteile   nicht   zu   erfassen   vermochten; 

2.  auf  die  Verteilung  der  Steuerbelastung  innerhalb  des 
Systems,  welche  mit  unverhältnismäßiger  Schwere  auf  die 
kleinen  und  vorwiegend  stationären  Einkommen  drückte;  und 

3.  auf  die  schutzzöllnerischen  Momente,  durch  welche  eine 
rein  fiskalische  Handhabung  des  Systems  verhindert  wird. 

Damit  aber  erhält  das  Finanzproblem,  wie  es  durch  die 
Bedarfsentwicklung  gestellt  wurde,  seine  schärfere  Bestimmung 
in  zweifacher  Richtung:  Die  Unzulänglichkeit  der  verfügbaren 
Deckungsmittel  war  eine  Folge  der  Unzulänglichkeit  der  vor- 
handenen Besteuerungsmethoden  überhaupt  und  des  indirekten 
Steuersystems  im  besonderen.  Daraus  ergibt  sich  die  Not- 
wendigkeit, einmal  einer  Neugestaltung  des  indirek- 
Steuersystems  im  besonderen.  Daraus  ergibt  sich  die  Not- 
wendigkeit einer  Ergänzung  der  indirekten  Be- 
steuerung smethode.  So  zerlegt  sich  das  allgemeine  Fi- 
nanzreformproblem in  die  zwei  Teilprobleme  der  Tarif- 
r  e  f  o  r  m  und  der  direkten  Besteuerung,  und  die  fol- 
gende Finanzentwicklung  stellt  in  den  Grundzügen  ihres  Ver- 
laufs nichts  weiter  dar  als  die  Geschichte  und  allmähliche 
Lösung  dieser  beiden  miteinander  allerdings  eng  verknüpften 
Probleme. 

§  lO- 

Die  Peelsche  Tarifreform  von   1842   und  die  Wie- 
dereinführung   der   Einkommensteuer. 

Den  Anfangspunkt  der  Entwicklung  des  modernen  eng- 
Uschen  Finanzsystems  bildet  das  Budget  des  Jahres  1842,  in- 
dem es  zwei  neue  Momente,  Tarifreform  und  Einkommen- 
steuer, einführte,  die  im  Verlauf  von  rund  drei  Jahrzehnten  die 
vollständige  Umwandlung  des  Steuersystems  bewirkten.  Das 
Bedürfnis  der  Einnahmevermehrung,  hervorgerufen  durch 
die    anhaltend    steigende    Tenjienz    des    Ausgabebudgets,    und 

4* 


—     52     — 

das  Scheitern  des  Versuchs,  diesem  Bedürfnis  durch  eine  Er- 
höhung der  indirekten  Steuern  zu  genügen,  haben  wir  als  die 
beiden  Grundursachen  erkannt,  welche  die  Frage  der  Tarif- 
reform zur  finanziellen  Notwendigkeit  machten.  Wir  ver- 
suchen nunmehr  in  den  folgenden  Abschnitten,  die  Bedingungen 
zu  erkennen  und  die  Einflüsse  festzustellen,  unter  denen  sich 
die   Durchführung   und   Gestaltung   der   Reform   vollzog. 

Das  äußere  Ereignis,  das  aber  mit  der  finanziellen  Lage 
des  Landes  ursächlich  verknüpft  war  und  welches  die  neue 
Finanzpolitik  einleitete,  war  der  Sturz  des  bisherigen  hberalen 
^Ministeriums  Lord  Melbournes  durch  Sir  Robert  Peel,  der 
nunmehr  an  die  Spitze  der  Regierung  trat.  Die  Bedeutung 
dieses  Systemwechsels,  der  in  der  inneren  Politik  in  dem  zeit- 
weiligen Verschwinden  der  Chartistenbewegung  zum  Ausdruck 
kam,  ist  auch  finanzpolitisch  zu  verspüren,  obwohl  man  sich 
dabei  hüten  muß,  die  mit  dem  Wesen  der  heutigen  englischen 
Parteien  untrennbar  verbundenen  Ziele  und  Forderungen  auch 
auf  jene  frühen  Parteiansätze  zu  übertragen,  denen  man  die- 
selben Bezeichnungen  zukommen  läßt.  Auch  in  dem  1832 
reformierten  Parlament  waren  die  Whigs  und  T  o  r  i  e  s  nicht 
die  Vertreter  des  ganzen  Volks  und  aller  Klassen,  sondern 
gehörten  nach  wie  vor  fast  ausschließlich  der  grundbesitzen- 
den Klasse  an.  Die  politischen  Gegensätze,  die  in  diesen  Par- 
teien zum  Ausdruck  kamen,  deckten  sich  in  keiner  Weise  mit 
denen,  die  heute  das  trennende  Merkmal  der  beiden  großen 
engHschen  Parteien  bilden.  Die  parteipolitische  Erneuerung 
im  reformierten  Parlament  ging  dagegen  von  einer  kleinen 
Gruppe  radikal  gerichteter  Männer  aus,  die  sozial-,  wirtschafts- 
und  finanzpolitisch  mit  einem  neuen  Programm  hervortraten, 
das  an  sich  sowohl  mit  der  herkömmlichen  Auffassung  der 
Whig-Partei  als  auch  der  Tory-Partei  in  Widerspruch  stand. 
Sozialpolitisch  aus  dem  Gedankengehalt  des  Chartismus,  wirt- 
schaftspolitisch aus  dem  des  Manchestertums  erwachsen,  ent- 
hielt diese  neue  werdende  Partei  im  Keim  alle  die  Forderungen 
in  sich,  die  im  Laufe  des  19.  Jahrhunderts  die  moderne  Aus- 
gestaltung der  Fürsorge-  und  der  Wirtschaftsgesetzgebung  be- 
stimmten. In  ihrer  Finanzpolitik  wurde  diese  Parteigruppe  na- 
türlich von  den  Folgerungen  geleitet,  die  sich  aus  einer  Ver- 
wirklichung des  Manchestertums  ergeben  mußten.  Diese  Folge- 
rungen   richteten    sich   aber    zunächst   nur    gegen   jede    weitere 


i 


—     53     — 

Verbindung  des  Finanzsystems  mit  dem  Wirtschaftssystem 
durch  das  ^littel  der  Schutzzölle,  ohne  aber  damit  jede  in- 
direkte Besteuerung  überhaupt  abzulehnen.  Eine  Förderung  der 
direkten  Besteuerung  läßt  sich  im  allgemeinen  nur  insofern 
annehmen,  als  der  Gedanke  einer  Vermögens-  oder  Einkom- 
mensbesteuerung als  gerechter  Ersatz  für  die  wegfallende  in- 
direkte Besteuerung  mehr  in  den  Vordergrund  zu  treten  begann. 
Die  tatsächliche  Bedeutung  dieser  kleinen  Gruppe  wurde  je- 
doch erst  dadurch  bestimmt,  daß  es  ihr  gelang,  in  der  Bil- 
dung der  Mehrheiten  im  Parlament  den  Ausschlag  zu  geben. 
So  war  es  Peel  nur  mit  der  Unterstützung  der  radikalen 
Tarifreformer  gelungen,  die  zur  Kabinettsbildung  erforderliche 
Mehrheit  zu  erlangen  und  das  erste  Zugeständnis,  mit  dem 
Peel  die  Aufrechterhaltung  seiner  Regierung  sichern  mußte, 
war  die  Einleitung  der  Tarifreform,  mit  deren  Durchführung 
die  Partei  der  Tarif reformer  anwuchs,  bis  sie  in  den  Jahren 
1853  und  1860  durch  Gladstone  als  ein  wesentlicher  Be- 
standteil der  modernen  englischen  liberalen  Partei  zugeführt 
wurde. 

Inzwischen  hatte  sich  die  finanzielle  Lage  des  Landes  durch 
den  Krieg  mit  China,  der  erhebliche  Kosten  verursachte,  und 
durch  die  Unruhen  in  Afghanistan  erheblich  verschlimmert, 
so  daß  Peel  bei  der  Eröffnung  des  Budgets  am  11.  März  1842 
sich  einem  voraussichtlichen  Defizit  für  das  kommende  Jahr  von 
rund  2V2  Millionen  £  gegenübersah,  während  die  Summe  der  Fehl- 
beträge der  letzten  fünf  Jahre  auf  fast  7  Millionen  £  angewachsen 
war.  Von  vornherein  wies  nun  Peel  die  Auffassung,  als  ob  diese 
wiederholten  Fehlbeträge  nur  vorübergehenden  Ursachen  zuge- 
schrieben werden  dürften,  von  sich  ab  und  verschloß  sich  damit 
auch  jedem  finanziellen  Auskunftsmittel,  das  nur  eine  augen- 
blickliche Überbrückung,  nicht  aber  eine  dauernde  Beseitigung 
der  Finanznot  gewährt  hätte,  und  erkannte  so  als  leitendes 
Finanzprinzip  die  Forderung  an,  den  ordentlichen  und 
dauernden  Bedarf  nur  durch  ordentliche  und 
dauernde  Einnahmen  zu  decken.  Die  Anerkennung 
dieses  Prinzips  schloß  aber  als  selbstverständliche  Konsequenz 
die  Aufgabe  in  sich  ein,  die  Einnahmequellen  zu  erschließen, 
aus  denen  der  gesteigerte  Bedarf  gedeckt  werden  konnte,  und 
hier  ging  Peels  Politik  einen  Schritt  über  die  bisher  verfolgte 
Finanzpolitik    hinaus,    indem    er    aus    der    Vergangenheit   seine 


—     54    — 

Lehren  zog:  ,,I  cannot  assent  to  any  proposals  for  increasing 
taxation  on  the  great  articles  of  consumption  by  the  labouring 
classes  of  society.  I  say,  moreovcr,  I  can  give  you  conclusive 
proof  that  you  have  arrived  at  the  limits  of  taxation  on  articles 
of  consumption" -^^J.  In  gleicher  Weise  wie  die  Fruchtlosig- 
keit einer  allgemeinen  oder  teilweisen  Erhöhung  der  indirekten 
Verbrauchssteuern  erkannte  Peel  aber  auch  die  Nutzlosig- 
keit der  früheren  Reformen,  indem  er  einsah,  daß  die  Elastizität 
des  indirekten  Systems  viel  zu  gering  war,  um  durch  eine  Steuer- 
reduktion eine  sofortige  Ertragssteigerung,  die  zur  Deckung 
des  Ausfalls  ausgereicht  hätte,  bewirken  zu  können.  So  ge- 
langte Peel  zu  dem  Schluß,  der  seine  Finanzpolitik  von  der 
seiner  Vorgänger  grundsätzlich  unterscheidet.  Ohne  die  Schutz- 
zollpolitik, zu  der  er  durch  seine  Parteizugehörigkeit  verbunden 
war,  aufzugeben,  erkannte  er  doch  die  Notwendigkeit,  durch 
eine  umfassende  Reform  die  schutzzöllnerischen  Interessen  so 
mit  den  finanziellen  in  Einklang  zu  bringen,  daß  die  Beseitigung 
hemmender  Einschränkungen  eine  Neubelebung  von  Handel 
und  Industrie  und  damit  auch  eine  zunehmende  Steigerung  des 
Ertrags    der   indirekten   Steuern   hervorbringen   mußte. 

Damit  war  das  Problem  der  Tarifreform,  die  das  Mittel  der 
allgemeinen  Finanzreform  bilden  sollte,  in  den  Mittelpunkt  der 
Betrachtung  gestellt  und  aus  seinem  Wesen  heraus  entstanden 
von  selbst  die  beiden  Fragen,  nach  welchen  Grundsätzen  die 
Neugestaltung  des  Tarifs  erfolgen  und  welches  das  Mittel  sein 
sollte,  den  augenblicklich  entstehehden  Einnahmeausfall  auszu- 
gleichen und  unabhängig  von  dem  Erfolg  der  Reform  das 
Gleichgewicht  der  Finanzen  sicherzustellen.  Der  leitende  Ge- 
sichtspunkt für  die  Beantwortung  der  ersten  der  beiden  Fragen 
bildete  die  Wirkungsweise  des  Tarifs  auf  den  ganzen  Umkreis 
industrieller  und  kommerzieller  Unternehmungen,  und  hieraus 
ergaben   sich   für   Peel   die  folgenden   Grundsätze: 

1.  Beseitigung   aller   absoluten  Einfuhrverbote; 

2.  Herabsetzung  prohibitiver  Zölle  auf  eine  derartige  Höhe, 
daß  ohne  Schädigung  der  heimischen  Industrie  doch  ein 
anregender  Wettbewerb  fremder  Waren  ermöglicht  wurde; 

3.  Beseitigung  oder  Ermäßigung  der  Zölle  auf  Rohmaterialien 
und   Halbfabrikate,   die  in   die  heimische   Produktion  ein- 


^^)  Hansard,  III,  vol.  61,  col.  431. 


~     :>t)     — 

traten,  in  der  Absicht,  diese  durch  eine  VerbilHgung  der 
Produktionskosten  zu  größerer  Leistungsfähigkeit  anzu- 
regen; und 
4.  Herabsetzung  der  Zölle  und  Steuern  auf  die  hauptsäch- 
lichsten Gegenstände  des  Massenkonsums,  um  durch  eine 
Verbilligung  der  Lebenshaltung  eine  Steigerimg  des  Kon- 
sums zu  erzielende). 

Die  Durchführung  dieser  Grundsätze  in  der  Tarifreform  war 
aber,  so  sehr  sie  zu  einer  schließlichen  Steigerung  der  Zoll- 
einnahmen zu  führen  versprach,  doch  gleichbedeutend  mit  einer 
augenblicklichen  Vergrößerung  des  veranschlagten  Defizits,  so 
daß  die  Notwendigkeit,  eine  neue  Einnahmequelle  zu  er- 
schließen, noch  deutlicher  hervortrat:  ,,If  it  be  politic  to  abolish 
altogether  prohibitions,  if  it  be  politic  to  reduce  prohibitory 
duties,  if  it  be  politic  to  mitigate  the  duties  upon  certain  articles 
of  consumption  and  upon  certain  raw  materials,  which  enter  into 
every  commercial  enterprise,  and  if  that  policy  be  approved  of 
and  adopted,  a  fresh  addition  must  be  made  to  the  deficit  of 
the  year"  ^''). 

Die  Lösung  der  zweiten  mit  der  Finanzreform  verknüpften 
Frage,  eine  neue  Einnahmequelle  zu  finden,  die  dem  anerkann- 
ten Grundprinzip  eines  ausgeglichenen  Budgets  zu  genügen  ver- 
mochte, war  ihrer  Richtung  nach  ziemlich  genau  bestimmt.  Die 
doppelte  Aufgabe,  das  aus  der  Bedarfserhöhung  und  das  aus 
der  Tarifreform  erwachsene  Defizit  so  lange  zu  decken,  bis  das 
indirekte  Steuersystem  sich  wieder  genügend  erholt  hatte,  stellte 
zwei  Anforderungen  an  die  neu  zu  findende  Steuer,  einmal  den 
erforderlichen  Ertrag  zu  liefern  und  zum  andern  von  den  in- 
direkten Steuern  deutlich  genug  unterschieden  zu  sein,  um  die 
Tarifreform  nicht  zu  beeinträchtigen.  Diese  zweite  Bedingung 
schloß  von  vornherein  alle  indirekten  Steuern,  sowohl  die  be- 
stehenden, als  auch  die  in  der  vorausgegangenen  Periode  auf- 
gehobenen Steuern  aus,  da  ihre  Erhöhung  oder  Wiedereinfüh- 
rung eine  weitere  Komplikation  des  Tarifsystems  verursacht 
hätte. 

So  enthielt  das  bestehende  Steuersystem  nur  zwei  Elemente, 
die  in  Betracht  kommen  konnten,  die  Erbschaftssteuern  und  die 


36)  Hansard,  III,  vol.  63,  col.  354. 
^y)  Hansard,   III,  vol.  61,  col.  901. 


-     56     - 

Aufwandsteuern.  Die  Erbschaftssteuern  waren  jedoch  durchaus 
unentwickelt,  so  daß  eine  bedeutende  Ertragssteigerung  selber 
wieder  eine  völlige  Umgestaltung  ihrer  Urganisation  erfordert 
hätte.  Die  Assessed  taxes  aber  zur  Grundlage  der  Ertragsver- 
niehrung  zu  machen,  wäre  wesentlich  auf  den  Pitt  sehen  Ver- 
such von  1797  hinausgelaufen,  dessen  Mißerfolg  nicht  zu  einer 
Wiederholung  aufforderte.  Beiden  Steuern  war  übrigens  das 
eine  gemeinsam,  daß  ihre  Anwendung  umfassende  Änderungen 
ihrer  Organisation  erfordert  hätte,  die  sich  im  Hinblick  auf  die 
beschränkte  Dauer,  für  welche  der  Mehrertrag  nötig  zu  sein 
schien,    nicht   empfahlen. 

Demgegenüber  schien  nun  eine  Einkommensteuer  vom 
finanzpolitischen  Standpimkt  aus  allen  Anforderungen  genügend 
zu  entsprechen,  um  ihre  zeitweise  Wiedereinführung  zu  recht- 
fertigen. Das  ausschlaggebende  Moment  war  vor  allem  ihre 
Ertragsfähigkeit,  die  sie  im  französischen  Krieg  bewiesen  hatte 
und  die  infolge  der  Zunahme  des  Volkswohlstands  einen  noch 
höheren  Grad  erreicht  haben  mußte.  Verwaltungstechnisch  ver- 
ursachte ihre  Wiedereinführung  weder  erhebliche  Schwierigkeit 
noch  Kosten,  da  sich  die  Steuer  leicht  der  Verwaltung  der  Auf- 
wandsteuern und  der  Landsteuer,  die  ja  auch  eine  Veranlagung 
voraussetzten,  unterordnen  ließ.  Schließlich  aber  ließ  nicht 
allein  die  wesentliche  Verschiedenheit  der  Steuer  von  der  in- 
direkten Verbrauchsbesteuerung  jede  Beeinträchtigung  der 
Tarifreform  als  unwahrscheinlich  erscheinen,  sondern  es  kam 
noch  der  weitere  Umstand  hinzu,  daß  die  Verbilligung  der 
Lebenshaltung  in  letzter  Linie  auch  dem  Einkommensteuerzahler 
zugute  kommen  mußte.  So  gelangte  Peel  zu  dem  Vorschlag, 
die  Einkommensteuer  wieder  einzuführen  ,,for  the  purpose  of 
not  only  supplying  the  Deficiency  in  the  Revenue,  but  of 
enabling  me  with  confidence  and  satisfaction  to  propose  great 
commercial  reforms,  which  will  afford  a  hope  of  reviving  com- 
merce and  such  an  improvement  in  the  manufacturing  interests 
as  will  react  on  every  interest  in  the  country;  and  by  diminishing 
the  prices  of  the  articles  of  consumption  and  the  cost  of  living, 
will  in  a  pecunary  point  of  view,  compensate  you  for  your  pre- 
sent  sacrifices  while  you  will  be  at  the  same  time  relieved  from 
the  contemplation  of  a  great  public  evil"38). 


38)  Hansard,  III,  vol.  61,  col.  439. 


—     57     — 

Damit  gab  Peel  den  wesentlichen  Inhalt  eines  Finanz- 
programms wieder,  das  wir  als  das  erste  Beispiel  einer  vor- 
sorgenden und  umfassenden  „Zukunftsfinanz"  betrachten 
können.  Wenn  wir  uns  den  Charakter  dieser  noch  einmal  in 
Kürze  deutlich  machen,  um  die  Bedeutung  zu  erfassen,  welche 
der  Einkommensteuer  in  dieser  Finanzreform  zukam,  so  er- 
kennen wir  als  Grundabsicht  die  Herstellung  des  finanziellen 
Gleichgewichts,  mit  der  Nebenabsicht,  dadurch  nicht  nur  eine 
fortgesetzte  Schuldenwirtschaft  zu  vermeiden,  sondern  auch 
durch  die  Erzielung  eines  jährlichen  Einnahmeüberschusses, 
der  als  Tilgungsfonds  verwendet  werden  konnte,  eine  allmäh- 
liche und  mühelose  Reduktion  der  Staatsschuld  zu  ermöglichen. 
Als  das  diesem  obersten  Prinzip  untergeordnete  Mittel  haben 
wir  die  Tarifreform  zu  betrachten,  durch  welche  das  indirekte 
Besteuerungssystem  dieser  Aufgabe  angepaßt  werden  sollte.  Da 
aber  die  Wirkung  dieser  Reform  nicht  unmittelbar  sein,  sondern 
erst  nach  einiger  Zeit  hervortreten  konnte,  so  machte  Peel 
die  Erreichung  seiner  Hauptabsicht  durch  die  Einfügung  einer 
zeitweiligen  Einnahmequelle  von  dem  Erfolg  der  Tarifreform 
völlig  unabhängig,  und  so  erhielt  die  Einkommensteuer  in  seinem 
Finanzplan,  um  es  mit  Dowells  Worten  auszudrücken,  die 
Bedeutung  eines  ,,fund  to  secure  a  balance  of  income  over  ex- 
penditure  during  these  Operations"  39).  Die  Wiedereinführung 
der  Einkommensteuer  war  demnach  nicht  Selbstzweck,  um  durch 
die  Einfügung  einer  direkten  Steuer  eine  gerechtere  Verteilung 
der  Steuerbelastung  zu  erzielen,  so  sehr  auch  das  endliche  Er- 
gebnis für  diese  Auffassung  zu  sprechen  scheint.  Wir  dürfen 
jedoch  in  der  historischen  Betrachtung  nicht  vergessen,  daß  die 
Richtung  einer  Entwicklung  durch  Momente,  die  während  ihres 
Verlaufs  eintreten,  der  ursprünglichen  Absicht  entgegen  um- 
gekehrt werden  kann,  das  Motiv  also  nicht  aus  dem  Erfolg  ge- 
schlossen  werden   darf. 

Die  tatsächlichen  Vorschläge,  die  das  Budget  von  1842 
enthielt,  lassen  sich  nach  der  Darstellung  der  Finanzgrund- 
sätze, deren  Verkörperung  sie  waren,  kurz  zusammenfassen. 
Das  veranschlagte  Defizit  für  das  kommende  Finanzjahr  betrug 
rund  2V2  Millionen  £  und  wurde  durch  die  Kosten  der  Tarif- 

39)  Vgl.  hierzu  Dowell,  History,  III,  S.  119;  ferner  Northcote,  Policy, 
S.  368  und  Buxton,  Finance,  I.,  S.  51. 


-     58     - 

reform  um  1.2  Millionen  auf  2i'7  -Millionen  Si  erhöht.  Der  Tarif 
wurde  durchgehend  neugestaltet,  indem  alle  Ausfuhrzölle  auf 
britische  Manufakturen  beseitigt  •'O)  und  die  Einfuhrzölle  von 
76g  Artikeln  ermäßigt  wurden.  Die  Gesamtzahl  der  zollpflich- 
tigen Artikel  erfuhr  zwar  infolge  einer  neuen  Klassifikation  eine 
Erhöhung,  so  daß  der  neue  Tarif  insgesamt  1090  Gegenstände 
umfaßte.  Das  Hauptmerkmal  der  Reform  aber  war  die  Ver- 
einheitlichung und  Vereinfachung  des  gesamten  Zollgesetzes, 
das  seit  der  letzten  Konsolidierung  im  Jahre  1825  in  einen 
ziemlich  chaotischen  Zustand  geraten  war.  Diese  neue  Konso- 
lidierung bildete  die  Voraussetzung  jeglicher  Reform,  indem  sie 
allererst  die  Anwendung  wissenschaftlicher  Grundsätze  und  die 
übereinstimmende  Fortentwicklung  der  Reformen  ermöglichte. 
So  bedeuten  die  in  dem  Budget  1842  enthaltenen  Maßnahmen 
keine  Durchführung  und  Vollendung  der  Tarifreform,  sondern 
ihre  Grundlegung  und  ihren  Anfang,  während  Peel  für  den 
vollständigen  Abschluß  seines  Reformwerks,  das  er  in  zwei  Ab- 
schnitten zu  Ende  zu  führen  gedachte,  eine  Periode  von  fünf 
Jahren   voraussetzte. 

Diese  zeitliche  Bestimmung  der  Finanzreform  gab  gleich- 
zeitig die  Begrenzung  der  Dauer,  für  welche  Peel  die  Ein- 
kommensteuer vorschlug.  Doch  beschränkte  er  seinen  gegen- 
wärtigen Antrag  auf  die  Wiedereinführung  der  Steuer  auf  eine 
Zeit  von  drei  Jahren,  um  nach  deren  Ablauf  eine  freie  Erörte- 
rung und  Entscheidung  des  Parlaments  über  den  Erfolg  seiner 
Reformen  zu  ermöghchen.  Die  Steuer  selbst  übernahm  Peel 
fast  ohne  jeghche  Veränderung  in  der  Form,  die  sie  1806  er- 
halten hatte  und  die  sie  bei  ihrer  Aufhebung  18 16  noch  besaß. 
Der  wesentlichste  Unterschied  bestand  in  der  Veränderung  der 
Befreiungsgrenze,  die  von  50  £  auf  150  £  jährlichen  Gesamt- 
einkommens heraufgesetzt  wurde,  und  in  der  Einführung  eines 
ermäßigten  Steuerfußes  für  die  unter  schedule  B.  veranlagten 
Einkommen  aus  landwirtschaftlicher  Erwerbstätigkeit,  der  für 
England  auf  die  Hälfte  und  für  Schottland  auf  ein  Drittel  des 
normalen  Steuerfußes  festgesetzt  wurde.  Den  Ertrag  der  Steuer, 
die  sich  nur  auf  Großbritannien,  nicht  aber  auf  Irland  erstreckte, 
berechnet  Peel  bei  einem  Steuerfuß  von  7  d  für  jedes  £  jähr- 


40)  Mit  Ausnahme  der  Ausfuhrzölle  auf  Kreide,  Kohle,  Erze  und  Woll- 
und  Pelzmanufakturen. 


—     59     — 

liehen  Einkommens  (^d.  h.  annähernd  3O0)  auf  '}^,'j  MiUionen  £. 
Da  sich  die  Ausdehnung  der  Steuer  auf  Irland  wegen  der  wirt- 
schaftlichen Notlage  dieses  Landes  nicht  empfahl,  so  verband 
Peel  mit  der  Einführung  der  Einkommensteuer  eine  weitere 
finanzielle  Reform,  die  einen  Schritt  zur  Vereinheitlichung  der 
britischen  und  irischen  Steuern  bildete,  indem  er  die  irischen 
Branntweinsteuern  durch  Erhöhung  den  schottischen  gleich- 
stellte und  durch  eine  Erhöhung  der  irischen  Stempelsteuern 
diese  für  alle  drei  Königreiche  einheitlich  machte.  Der  Gesamt- 
ertrag der  neuen  Steuern  wurde  für  das  laufende  Finanzjahr  auf 
4,38  Millionen  £  veranschlagt,  so  daß  für  das  Ende  des  Jahres 
ein  Überschuß  von  rund  1/2  Million  erwartet  werden  konnte, 
der  aber  möglicherweise  einer  Verringerung  durch  vermehrte 
Ausgaben   für   die   Chinaexpedition   ausgesetzt   war. 

Wenden  wir  uns  nunmehr  der  Aufnahme  zu,  welche  das 
Budget  im  Parlament  fand,  so  wandte  sich  die  ganze  Opposition 
fast  ausschließlich  gegen  die  Wiedereinführung  der  Einkommen- 
steuer. Obwohl  beide  Parteien  in  dem  Grundzug  des  Budgets, 
der  Herstellung  des  finanziellen  Gleichgewichts  übereinstimmten, 
und  die  wesentlichen  Momente  der  Tarifreform  nur  geringer 
Kritik  und  kaum  ernstlichem  Widerstand  begegneten,  so  wurde 
von  der  Opposition  unter  der  Führung  Lord  John  Russeis 
doch  die  Notwendigkeit  der  Erneuerung  der  Einkommensteuer 
geleugnet  und  der  Charakter  dieser  Steuer  aufs  schärfste  an- 
gegriffen. Unter  diesen  beiden  Gesichtspunkten  lassen  sich 
die  Gegenargumente  zusammenfassen,  wobei  die  der  ersten  Art 
von  der  Voraussetzung  ausgingen,  daß  die  Einkommensteuer 
nur  als  Kriegssteuer  oder  doch  nur  als  eine  in  Zeiten  der  größten 
finanziellen  Bedrängnis  zu  verwendende  Steuer  angesehen  wer- 
den dürfe.  Die  Gegengründe  der  zweiten  Art  stützten  sich  vor 
allem  auf  die  behauptete  allgemeine  Gegnerschaft  gegen  diese 
Art  der  direkten  Besteuerung,  die  inquisitorisch  und  ungerecht 
sei  und  darum  das  Kapital  aus  dem  Lande  zu  treiben  drohe. 
Schließlich  traten  auch  die  Befürchtungen  gegen  die  Steuer  ins 
Feld,  die  in  ihrer  Wiedereinführung  den  Anfang  der  direkten 
Besteuerung  als  Alternative  der  indirekten  sahen,  oder  die  in 
der  Leichtigkeit,  mit  der  die  Steuer  erhöht  werden  konnte, 
einen  geheimen  Antrieb  zur  Ausgabensteigerung,  die  ihrerseits 
wieder  die  Beseitigung  der  Steuer  unmöglich  machen  würde,  zu 
erkennen  glaubten. 


-     6o 

War  soniil  die  Ojjposiiion  in  der  Ablehnung  der  Ein- 
konnncnstcucr  ziemlich  einmütig,  so  gingen  die  Vorschläge  für 
den  Ersatz,  der  ihre  Stellung  im  Budget  einnehmen  sollte,  um 
so  mehr  auseinander.  Soweit  die  Ciegnerschaft  gegen  die  Ein- 
kommensteuer einer  Gegnerschaft  gegen  jede  direkte  Besteue- 
rung ül3erhau])t  entsprang,  suchte  man  natürlich  Peels  Be- 
hauptung, daß  die  indirekte  Besteuerung  an  der  Grenze  ihrer 
Leistungsfähigkeit  angelangt  sei,  zu  widerlegen  oder  forderte 
eine  Erneuerung  der  seit  dem  französischen  Krieg  aufgehobenen 
Steuern.  Andererseits  wieder  glaubte  man  durch  eine  umfas- 
sendere und  tiefer  greifende  Tarif  reform,  als  Peel  sie  bot,  eine 
derartige  Neubclcbung  der  ganzen  Volks-  und  Finanzwirtschaft 
bewirken  zu  können,  daß  der  gesteigerte  Ertrag  der  indirekten 
Steuern  nicht  nur  die  Kosten  der  Reform,  sondern  auch  das 
Budgetdefizit  decken  würde.  Diejenigen  Gegner  der  Ein- 
kommensteuer aber,  die  sich  der  Steuer  nur  ihrer  inneren 
Fehler  wegen  widersetzten,  die  direkte  Besteuerung  aber  be- 
günstigten, begnügten  sich  damit,  statt  ihrer  irgendeine  andere 
Form  der  direkten  Besteuerung,  sei  es  eine  Vermögenssteuer 
oder  eine  ausgedehnte  Nachlaßbesteuerung,  vorzuschlagen,  wäh- 
rend die  Gegner  jeder  Steuererhöhung  überhaupt  die  Notwendig- 
keit einer  solchen  durch  eine  weitgehende  Kürzung  der  Aus- 
gaben vermeiden  zu  können  glaubten  *i). 

Die  Stellungnahme  des  Oberhauses  wurde  dadurch  aus- 
schlaggebend bestimmt,  daß  die  Ausgabenvermehrung,  soweit 
sie  aus  den  militärischen  Rüstungen  entstanden  war,  als  unum- 
gänglich hingenommen  und  die  Notwendigkeit  einer  Steuer- 
erhöhung darum  frei  anerkannt  wurde.  Doch  kam  die  be- 
sondere Haltung  eines  Teils  der  Lords  gegen  die  Einkommen- 
steuer in  einer  Resolution  zum  Ausdruck,  die  LordBrougham 
kurz  nach  der  Eröffnung  des  Budgets  einbrachte,  und  welche 
die  Einschränkungen  und  Bedingungen  formulierte,  denen  die 
Wiedereinführung  der  Steuer  unterworfen  sein  sollte.  Aus- 
gehend von  der  Auffassung  der  Steuer  als  einem  außerordent- 
lichen Hilfsmittel,  das  für  die  Zeiten  größter  Not  bereit  gehalten 
werden  müßte,  war  es  die  Hauptforderung  der  Resolution,  daß 
eine  solche  Steuer  auf  keinen  Fall  ein  ordentlicher  Bestandteil 


41)  Hansard,  III,  vol.  61,  col.  895/1192. 
„     62,     „       84/694. 


—     6i 


des  Systems  werden  dürfe  und  wieder  entfernt  werden  müsse 
sobald   die   ordentlichen   Einnahmequellen   sich   von   ihrer   zeit- 
weiligen Depression  erholt  hätten.     Andererseits  aber  ging  die 
Resolution  darauf  aus,   die  Anwendung  der  Steuer  durch  den 
Wegfall  jeder  Befreiung  durchaus  allgemein,  ihre  Wirkung  aber 
durch    Anerkennung    des    Prinzips    einer    Differenzierung    fun- 
dierten und  unfundierten  Einkommens  gerechter  zu  gestalten  12) 
Allen   Einwendungen,   Gegenvorschlägen   und  Argumenten 
gegenüber  aber  wurde  Peels  Standpunkt  immer  wieder  durch 
das  oberste  Bedürfnis  aller  gesunden  Finanzwirtschaft    eine  Be- 
darfsdeckung aus  den  dauernden  Einnahmen  zu  erlangen    und 
durch   die   Überzeugung  bestimmt,   daß   die  Erreichung  dieses 
Zwecks   von  dem  Ausfall  der  Finanzreform  völlig  unabhängig 
sein  müsse.     Diesem   einen  Bedürfnis   ordnete  sich  so   für  ihn 
jede   andere   Rücksicht   unter,    und  obwohl   er   die   gegen   den 
mneren  Charakter  der  Steuer  erhobenen  Einwände  offen  zugab 
so  erschien  es  ihm  doch  die  gerechtere  und  politischere  Maß- 
nahme zu  sein  „to  meet  the  difficulty  at  once  by  proposing  a 
tax  upon  incomes,  than  by  reviving  indirect  taxes,  which  entail 
a  heavy  expense  in  collecting,   and  whtch  cannot  be  imposed 
without  greatly  disturbing  the  trade  and  manufactures  of  the 
country"i3).     AUen  übrigen  Gegenvorschlägen  aber  begegnete 
er  einfach   und   wirksam   durch  den  Nachweis,    daß   keine   der 
in  der  Debatte  erwähnten  Steuern  mit  der  Leichtigkeit  den  er- 
forderlichen   Ertrag    zu    bringen    vermochte,    wie    es    die    Ein- 
kommensteuer tat.     Die  Befürchtung  aber,   daß   die  Steuer  zu 
einer  Abwanderung  des  Kapitals   führe,   konnte   er   durch   den 
Hinweis    auf    die    mit    ihrer    Hilfe    erreichte    Verbilligung    der 
Lebenshaltung,  die  als  Wirkung  der  Tarifreform  erwartet  werden 
durfte,  genügend  beschwichtigen,  und  so  konnte  er  am  Schluß 
der  Hauptdebatte,  die  der  Eröffnung  des  Budgets  folgte,  seiner 
Überzeugung  m  machtvoller  Zusammenfassung  Ausdruck  geben  • 
„My  opinions  may  be  overruled  and   yet   I   have  a   confident 
behef   -   that   after   the   lapse   of   a   short   time    after  making 
ineffectual  attempts  to   repair  the  deficiency  by  other   means, 
by  resorting  to  indirect  taxation,  it  will  be  ultimately  acknow- 
ledged  that  the  measure  which  I  now  propose  is  founded  on 

42)  Hansard,    III,  vol.  61,  col.  soSff.   und  vol.  64,  col.  3ff. 

43)  Hansard,  III,  vol.  61,  col.  1183. 


—      62      — 

reason    and   justice,    aiul,    ihuugh    oncc    rcjected,    ought    to    bc 
adopted"  ^^). 

Die  Budgetresolution,  welche  die  Wiedereinführung  der  Ein- 
kommensteuer Aorschlug  und  auf  welche  sich  das  Einkommen- 
steuergesetz gründete,  wurde  am  12.  April  mit  einer  Majorität 
von  106  Stimmen  angenommen,  und  am  31.  Mai  ging  das  Gesetz 
nach  dritter  Lesung  durch  das  Unterhaus  mit  derselben  Ma- 
jorität, nachdem  die  Zwischenzeit  durch  die  erste  und  zweite 
Lesung  und  durch  die  Kommissionsberatungen  ausgefüllt  worden 
war.  Die  Tarifreform  wurde  in  einer  besonderen  Bill  verkörpert, 
die  am  28.  Juni  nach  der  dritten  Lesung  im  ünterhause  ver- 
abschiedet  wurde. 

§  1 1- 

Die   Fortführung   der    Peelschen   Tarifreformen 

bis    1851. 

Die  Finanzmaßnahmen  des  Budgets  von  1842  bedeuteten 
keine  Durchführung  und  Vollendung  der  Peelschen  Reform- 
politik, sondern  deren  vorbereitenden  und  grundlegenden  Be- 
ginn. In  der  weiteren  Fortführung  dieser  Reformen  traten  nun 
aber  bisher  versteckt  wirkende,  und  darum  mehr  oder  weniger 
unbeachtete  Entwicklungsmomente  hervor,  die  untrennbar  mit 
dem  Wesen  der  beiden  Grundzüge  der  Peelschen  Reform  ver- 
bunden waren  und  in  logischer  Weiterbildung  eine  von  der  ur- 
sprünglichen Absicht  abweichende  Entwicklung  der  Finanzen 
bewirkten.  Weniger  deutlich  tritT;  dies  zunächst  bei  der  Ein- 
kommensteuer hervor,  die  bei  ihrer  Wiedereinführung  ohne 
wesentliche  Änderungen  der  Vorratskammer  staatlicher  Be- 
steuerungsmöglichkeiten als  fertiges  Werkzeug,  wie  es  in  einer 
früheren  Periode  geschaffen  worden  war,  übernommen  wurde, 
ohne  in  ihrer  Organisation  der  grundsätzlich  veränderten  Auf- 
gabe angepaßt  zu  werden.  Der  Umstand,  daß  die  Steuer 
durchaus  nur  als  zeitweiliges  Mittel  zur  Durchführung  der  Tarif- 
reform gedacht  war,  hob  darum  in  der  ersten  Zeit,  in  der  ihre 
Beseitigung  noch  erwartet  werden  konnte,  alle  Motive  ihrer  selb- 
ständigen Fortentwicklung  fast  völlig  auf,  so  daß  sie  in  ihrem 
Charakter  kaum  eine   Veränderung  zutage  treten  ließ. 


44)  Hansard,  III,  vol.  61,  col.  1196. 


-     63     - 

Anders  verhält  es  sich  dagegen  mit  der  Tarifreform,  deren 
Entwicklung  sich  um  so  mächtiger  durchsetzte,  als  ihr  Erfolg 
schon  in  ihren  Anfängen  deutlich  hervortrat.  Die  Grundsätze 
der  Pe eischen  Reform  waren  stark  und  begründet  genug,  um 
von  sich  aus  eine  völlige  Umgestaltung  des  bisherigen  Systems 
zu  bewirken,  da  ihrer  Anwendung,  soweit  sie  auf  eine  Ertrags- 
steigerung durch  eine  Neubelebung  aller  wirtschaftspolitischen 
Faktoren  abzielte,  keine  andere  natürliche  und  logische  Grenze 
gesetzt  werden  konnte,  als  eben  die  Erreichung  dieses  vorge- 
setzten Zwecks.  Eine  Beschränkung  freilich  war  in  der  von 
Peel  eingeschlagenen  Politik  gegeben,  die  auf  der  grundsätz- 
lichen Anerkennung  der  auf  den  Schutz  der  heimischen  Pro- 
duktion gerichteten  schutzzöllnerischen  Interessen  beruhte.  Ge- 
rade hier  aber  setzte  in  dem  historischen  Verlauf  der  Entwick- 
lung ein  neues  Moment  ein,  das  auf  die  Beseitigung  auch  dieser 
Beschränkung  gerichtet  war:  die  Freihandelsbewegung, 
die  damit  aus  ihrer  theoretischen  Sonderstellung  heraustrat  und 
ihre  praktische  V^erwirklichung  erstrebte.  Zunächst  jedoch  be- 
deutete die  Einwirkung  dieser  Bewegung  keinen  Gegensatz  zu 
der  von  Peel  befolgten  Politik,  sondern  deren  konsequente 
Durchbildung  bis  zu  dem  Punkt,  an  welchem  die  protek- 
tionistischen  Interessen  mit  den  rein  fiskalischen  in  Widerspruch 
geraten  mußten.  Erst  von  diesem  Augenbhck  an  trat  die  Frei- 
handelspolitik, die  freihch  schon  in  Einzelfragen  zum  Durch- 
bruch gelangte,  mit  dem  Ziel  eines  reinen  Finanzzollsystems 
zur  Schutzzollpolitik  in  entschiedenen  Gegensatz  und  führte 
mit  ihrer  allmählichen  Verwirklichung  über  das  von  Peel  an- 
gestrebte Ziel  hinaus. 

SchließHch  aber  beeinflußte  noch  ein  weiterer  Umstand 
durch  seine  finanzielle  Rückwirkung  die  Gestaltung  der  Peel- 
schen  Reformen  und  trieb  diese  weiter,  als  P  e  e  1  es  hätte  voraus- 
sehen können.  Indem  durch  das  Mittelghed  der  Preisbildung 
die  im  Inland  erhobenen  Verbrauchssteuern  in  starker  Abhängig- 
keit von  den  Zöllen  standen,  erforderte  die  Notwendigkeit  einer 
w^echselseitigen  Übereinstimmung  der  von  den  beiden  Besteue- 
rungsweisen hervorgebrachten  Wirkungen  stets  auch  eine  den 
Zollermäßigungen  entsprechende  Änderung  der  Verbrauchs- 
besteuerung, welche  fast  durchgängig  in  einer  erheblichen  Re- 
duktion bestand.  Galten  auch  hierfür  die  schon  früher  erkannten 
Wirkungen,  daß  der  durch  die  Minderung  der  Steuerbelastung 


^-  64  - 

zu  crwarlcnde  ICiuiiahmcaustall  durch  gesteigerten  Konsum 
wieder  ausgeglichen  werden  konnte,  so  wurden  doch  zu  jedem 
einzehien  Fall  die  augenblicklichen  Kosten  der  Tarifrefcjrm  auf 
diese  Weise  vermehrt,  so  daß  die  Unterstützung  der  Reformen 
durch  einen  Einnahmeersatz  noch  im  verstärkten  Maße  not- 
wendig wurde.  Ferner  aber  äußerte  sich  dieses  Abhängigkeits- 
verhältnis unmittelbar  in  der  Auswahl  derjenigen  Gegenstände, 
bei  denen  sich  die  Wirkungen  der  Reform  leicht  und  schnell  in 
der  Preisgestaltung  der  zoll-  und  verbrauchssteuerpflichtigen 
Artikel  widerspiegelten  und  die  darum  dem  fiskalischen  Interesse 
am  meisten  entgegenkamen.  Alle  diese  Momente  und  Entwick- 
lungsmotive  aber  wirkten  endlich  gemeinsam  und  sich  gegen- 
seitig fördernd,  einschränkend  oder  abändernd  auf  die  Gesamt- 
entwicklung ein,  deren  Verlauf  so  von  finanzpolitischen  Er- 
wägungen und  Absichten  zwar  eingeleitet  vvurdc,  in  letzter  Linie 
aber  sich  nach  den  Bedingungen  und  Notwendigkeiten  richtete, 
die  in  den  einzelnen  wirksamen  Faktoren  selber  gegeben  waren. 
Wenden  wir  uns  nun  dem  Verlaufe  der  Entwicklung  selber 
zu,  so  erfolgte  die  wesentliche  Durchführung  der  Peelschen 
Reformpolitik  in  dem  Budget  des  Jahres  1845.  Dieses  baute  sich 
grundsätzlich  auf  dem  Budget  von  1842  auf  und  unterschied 
sich  auch  nach  der  gesamten  Finanzlage  nur  wenig  von  jenem : 


Tab.  4.    Vergleichende  Darstellung  der  Bedarfsdeckung  1 841/2 

und  1844/5. 


An  dauernden  Einnahmen 

Ohne  die 

Die 

waren  vorhanden: 

Ein- 

Der Er- 

gesamten 
Ausgaben 

kommen- 

trag der 
Ein- 

Steuern 

steuer  be- 

betrugen 

(ohne  Ein- 

Sonstiges 

Ins- 

trug der 

kommen- 

in ]\Iill.  £ 

kommen- 

gesamt 

Fehl- 

steuerwar 

steuer). 

betrag 

184 1/2 

54.314 

50,285 

1,940 

52,225 

2,091 

— 

1844/5 

54,840 

50,229 

2,725 

52.954 

1,886 

5.345 

+0,526 

— 0,056 

+0,785 

+0,729 

— 0,205 

— 

Die  Grundbedingungen  und  Anforderungen  zum  mindesten 
waren  fast  genau  dieselben :  noch  immer  blieb,  wenn  wir  den 
Ertrag  der  Einkommensteuer  außer  Rechnung  setzen,  ein  erheb- 
licher Fehlbetrag  bestehen,  der  durch  die  indirekten  Steuern 
nicht  gedeckt  werden  konnte  und  noch  immer  bedurfte  man 
eines   Ersatzes,   durch   den   die   Kosten   einer   weiteren   Reform 


-    65     - 

gedeckt  werden  konnten.  Im  indirekten  System  selber  war 
freilich  eine  Änderung  vor  sich  gegangen,  indem  durch  den 
Mehrertrag  der  Zölle  und  der  Verbrauchssteuern  die  Kosten 
der  bisherigen  Tarifreform  wiederum  gedeckt  worden  waren. 
Gerade  dieser  Erfolg  der  Reform  von  1842  aber  trug  in  sich 
selber  das  mächtigste  Motiv,  auf  der  eingeschlagenen  Bahn  fort- 
zufahren und  die  1842  aufgestellten  Reformgrundsätze  ihrer 
Verwirklichung  entgegenzuführen. 

So  war  es  denn  1845  genau  wie  früher  die  doppelte  An- 
forderung, die  an  die  Einkommensteuer  gestellt  wurde,  einmal 
die  Deckung  des  notwendigen  Staatsbedarfs  sicherzustellen  und 
zum  andern  die  Fortführung  der  Tarifreform  zu  ermöglichen. 
Die  Reform  selber  aber  wurde  auch  diesmal  wieder  in  der  Ab- 
sicht unternommen,  den  Ertrag  des  indirekten  Systems  derart 
zu  steigern,  daß  er  zur  alleinigen  Deckung  des  Bedarfs  aus- 
reichte, und  schheßlich  fand  auch  das  schutzzöUnerische  Interesse 
noch  immer  uneingeschränkte  Anerkennung.  So  strich  denn  die 
Reform  von  1845  nicht  weniger  als  430  Artikel,  die  einen  kaum 
nennenswerten  Ertrag  lieferten  und  fast  durchweg  Rohmate- 
rialien betrafen,  die  in  die  heimische  Produktion  eintraten,  aus 
dem  Tarif  und  beseitigte  auch  den  1842  noch  beibehaltenen 
letzten  Rest  der  Ausfuhrzölle.  Andererseits  aber  erfuhr  der 
Steuerzahler  für  die  Last  der  Einkommensteuer  einen  bedeut- 
samen Ausgleich  durch  eine  erhebliche  Reduktion  des  Zucker- 
zolles und  anderer  Verbrauchssteuern ^^j.  Die  Einkommen- 
steuer aber  übernahm  für  eine  weitere  Periode  von  drei  Jahren 
genau  dieselbe  Funktion,  die  ihr  1842  zugewiesen  worden  war, 
und  wiederum  wurde  sie  ohne  jede  Änderung  ihrer  Struktur 
dem  Finanzsystem  als  zeitweilige  Ertragsquelle  hinzugefügt. 
Diese  Entwicklung  der  Finanzreform  ging  in  den  folgenden 
Jahren  ihren  vorgezeichneten  Weg,  und  nur  in  einer,  allerdings 
bedeutsamen  Beziehung  erfuhr  sie  eine  Erweiterung  durch  den 
Einfluß  der  Freihandelsbewegung,  indem  1846  die  Kornzölle, 
gegen  die  sich  bisher  die  freihändlerisch  gerichtete  Theorie 
als  der  typischen  Erscheinungsform  der  Schutzzollpolitik  fast 
ausschließlich  gewandt  hatte,  fielen  und  auf  einen  fast  nomi- 
nalen Betrag  erniedrigt  wurden. 


45)  Hansard,   III,  vol.  •]•],  col.  455/96. 

Ferner  Northcote,  Policy,  S.  41/66. 

Zeitschrift  tür  die  ges.  Staatswissenscb.     Ergänzungsheft  48. 


-     66     — 

Aber   auch    die    MinkoiiiiiRiislcucr    erfuhr   in    der   Folgezeit 
nach  dem  Abhiuf  der  zweiten  Dreijahr])eriodc  eine  merkwürdige 
Verschiebung  ihrer  Funktion  imd  der  Stellung,  die  sie  bisher  im 
Einnahmesystem   besaß.     Bis  zum  Jahre    1847    war   die   Finanz- 
reform durch  die  normale  Gestahung  des  Bedarfs,  der  in  diesem 
Jahre  nur  eine  geringe  Steigerung  erfahren  hatte,  sehr  begünstigt 
worden,   dagegen  ließen  sich  die  Jahre    1847    und   48   überaus 
ungünstig  an.     Vor  allem  war  es  die  furchtbare  Hungersnot  in 
Irland,  die  an  den  Bedarf  außerordentliche  Anforderungen  stellte, 
und  der  verzweifelte  und  blutige  Aufstand  der  Kaffern  in  Süd- 
afrika erforderte  zu  seiner  Unterdrückung  ebenfalls  einen  außer- 
ordentlichen  Betrag   für    militärische    Zwecke.     So    ergab    sich 
für  das  Budget  von  1848  zum  ersten  Male  wieder  seit  1842  die 
Forderung  einer  Steuererhöhung  auf  Grund  der  Bedarfsvermeh- 
rung.    Ihrer  Veranlassung  nach  war  diese  aber  durchaus  zeit- 
licher und  Aorübergehcnder  Natur,  so  daß  sich  eine  Erhöhung 
der   dauernden  Besteuerung   keineswegs   empfahl,   und   hier   ist 
es  nun  nicht  nur  charakteristisch  für  den  Wandel  der  Anschau- 
ungen,  der  sich  inzwischen  vollzogen  hatte,   sondern  auch  für 
die  Bedeutung  der  Einkommensteuer,  daß  das  liberale  Ministe- 
rium Lord  Russeis,  der  1842  die  Einführung  der  Einkommen- 
steuer so  energisch  bekämpft  hatte,  nicht  allein  die  Erneuerung 
dieser   Steuer  einer   Erhöhung   der   indirekten   Steuern   vorzog, 
sondern,  darüber  hinausgehend,  sogar  die  Deckung  des  entstan- 
denen  zeitlichen   Mehrbedarfs   durch   eine   Erhöhung   der    Ein- 
kommensteuer auf  1  sh.  vorschlug fc).    Durch  diesen  Vorschlag 
wurde   zunächst   ein   Moment   in   den   Vordergrund   geschoben, 
das   einer  Erweiterung  der   Funktionen  gleichkam,   welche  die 
Einkommensteuer  in  ihrer  bisherigen  Existenzperiode  im  eng- 
lischen Finanzsystem  ausgeübt  hatte,  indem  sie  nunmehr  nicht 
nur  als   Ersatz   des   infolge   der  Tarifreform   verursachten   zeit- 
weiligen    Einnahmeausfalls,     sondern     als     selbständige     Ein- 
nahmequelle zur  Deckung  eines  vorübergehenden  Bedarfs  ver- 
wendet  werden  sollte.    Wurde  auch  dieser  Vorschlag  der  Re- 
gierung abgelehnt  und  die  Einkommensteuer  in  ihrer  alten  Höhe 
von  7  d  auf  3  Jahre   einfach  nur  erneuert,  so   trat  eben   doch 
damit    eine   Schwierigkeit    hervor,    die   bisher   zwar    verborgen, 
aber   tatsächlich  doch   mit   der  Entwicklung  der  Finanzen   seit 
1842  bereits  gegeben  war. 

46)   Hansard,   III,  voL  96,  col.  900/22. 


-    67     - 

Erinnern  wir  uns  noch  einmal  kurz  der  leitenden  Grundidee 
der  Finanzreform  von  1842,  durch  eine  Tarifreform  das  in- 
direkte System  zur  Deckung  des  dauernden  und  eines  steigenden 
Bedarfs  tauglich  zu  machen,  so  erkennen  wir  aus  einer  ver- 
gleichenden Prüfung  der  Finanzen  vor  und  nach  der  Reform, 
daß  diese  Grundidee  nicht  verwirklicht  worden  war.  Obwohl 
die  Tarifreform  an  sich  durchaus  erfolgreich  war,  so  war  es 
doch  nicht  gelungen,  eine  absolute  Ertragssteigerung  der  in- 
direkten Steuern  zu  erlangen,  mit  welcher  die  finanziellen  Ab- 
sichten der  Reform,  Beseitigung  des  Defizits  und  Deckung  des 
steigenden  Bedarfs,  hätten  erreicht  werden  können,  wie  aus 
den    beiden    folgenden    Tabellen    5  und  6    deutlich   hervorgeht. 


Tab.  5.   Übersicht  über  die  finanzielle  Wirkung  der  Tarif  reform 

(1842/3— 50/1). 


Zölle  und  Verbrauchssteuern 

1842/3—44/5 

1845/6—47/8 

1848/9 — 50/1 

Veranschlagter       Ertrag       bei 

gleichbleibendem    Steuersatz 

und  Konsum 

114,762 

111,214 

109,234 

\'eranschlagter      Ertragsausfall 

durch  Steuerreduktion  .    .    . 

1,776 

5.9SS 

2,186 

Veranschlagter  Ertrag  b.  gleich- 

bleibendem Konsum  .... 

112,986 

105,229 

107,048 

Erzielter  Ertrag 

111,214 

109,234 

112,363 

Absolute    Ertragsverminderung 

oder  Vermehrung 

—  3.548 

—  1,980 

+  3.129 

Ertragsausfall   infolge    vermin- 

derten Konsums 

1,772 

— 

— 

Ertragssteigerung    infolge    ver- 

mehrten Konsums      .... 

— 

4,005 

5,315 

Das  Mißverhältnis  zwischen  den  dauernden  Einnahmen  und 
Ausgaben,  wie  es  bis  1842  bestand,  war  so  in  dem  Jahrzehnt 
der  Peel  sehen  Reformen  keineswegs  beseitigt,  sondern  noch 
gesteigert  worden.  Daraus  aber  erkennen  wir  nun  deutlich 
die  Stellung,  welche  der  Einkommensteuer  für  diese  Zeit  im 
englischen  Finanzsystem  zukam,  und  die  Funktionen,  welche 
sie  tatsächhch  ausübte.  Indem  sie  nicht  allein  die  Durch- 
führung der  Tarifreform  und  die  Deckung  des  ursprünglich  vor- 
handenen Budgetdefizits  sicherstellte,  sondern  auch  die  Deckung 
des  vermehrten  Bedarfs  und  die  Erzielung  eines  jährlichen 
Überschusses  ermöglichte,  erfüllte  sie  die  Aufgabe  einer  ordent- 


—     68 


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-     69     - 

liehen  Finanzquelle,  die  in  dem  bestehenden  System  nicht  wieder 
entbehrt  werden  konnte.  Zahlenmäßig  gelangen  diese  Fimk- 
tionen  der  Einkommensteuer  in  der  nebenstehenden  Tab.  7 
zur  Anschauung. 

Noch  deutlicher  wurde  diese  Tatsache,  die  so  gewisser- 
maßen das  negative  Ergebnis  der  Peel  sehen  Reformabsicht 
darstellt,  im  Jahre  185 1,  als  die  Erneuerung  der  Einkommen- 
steuer wiederum  das  Hauptmerkmal  des  Budgets  bildete.  Auch 
hier  trat  zwar  das  Reformmotiv  Peels  wieder  hervor,  jedoch 
schon  in  einer  deutlichen  Modifikation,  indem  die  Erneuerung 
der  Einkommensteuer  nicht  zur  Durchführung  weiterer  Reformen 
überhaupt  gefordert,  sondern  geradezu  als  Ersatz  der  indirekten 
aufgehobenen  Steuern  gerechtfertigt  wurde.  Aber  das  Grund- 
motiv zur  Beibehaltung  lieferte  doch  die  absolute  Höhe  des 
Bedarfs,  der  sich  nicht  so  weit  zurückschrauben  ließ,  um  durch 
den  Ertrag  der  indirekten  Steuern,  deren  Erhöhung  andererseits 
als  ungeeignet  abgelehnt  wurde,  ausreichende  Deckung  finden 
zu  können.  So  verHeh  einfach  die  Höhe  ihres  Ertrags  der 
Einkommensteuer  ein  natürliches  Beharrungsvermögen,  das  sich 
ihrer  Beseitigung  aus  dem  Finanzsystem  widersetzte. 

Indem  sich  damit  aber  die  Unzulänglichkeit  der  indirekten 
Besteuerungsmethoden,  den  Anforderungen  der  stets  weiter  um 
sich  greifenden  und  sich  fortentwickelnden  modernen  Staats- 
und Finanzwirtschaft  zu  genügen,  erwies,  schob  sich  das  Problem 
einer  Ergänzung  des  indirekten  Systems  durch  direkte  Steuern 
immer  mehr  in  den  Vordergrund.  Es  ist  leicht  ersichtlich,  daß 
damit  aber  auch  das  Problem  der  Einkommensteuer  als  einer 
bereits  bestehenden  direkten  Steuer  aufs  neue  gestellt  sein 
mußte.  Diesmal  freilich  von  einem  ganz  anderen  Gesichtspunkt 
aus,  als  dem,  von  welchem  aus  Pitt  1798  und  Peel  1842 
die  Einführung  der  Steuer  für  notwendig  erachtet  hatten. 

§  12. 

Das  Problem  der  direkten  Besteuerung. 

Die  Peelsche  Reformpolitik  hatte  ihre  finanzielle  Grund- 
absicht, das  indirekte  System  zur  Bedarfsdeckung  tauglich  zu 
machen,  ohne  es  seiner  wirtschaftspolitischen  Nebenaufgabe  zu 
berauben,  nicht  erreicht.  Ohne  die  Einkommensteuer  bestand 
das    Mißverhältnis    zwischen    dem    Bedarf    und    den    zu    seiner 


70     -- 

Deckung  verfügbaren  dauernden  Einnahmen  fast  mit  demselben 
Stärke  fort,  mit  der  es  1842  zur  lunleitung  der  Tarif  reform 
getrieben  hatte.  Der  Erfolg  der  I\eformi)()liiik  bestand  nur  in 
der  allerdings  wesentlichen  Vercinfaclunig  des  Systems  der  in- 
direkten Besteuerung  und  darin,  daß  die  Kosten  der  Reform 
durch  die  indirekten  Steuern  selber  wieder  aufgebracht  worden 
waren.  Darin  lag  zweifellos  ein  stark  wirkendes  Motiv,  die 
eingeschlagene  Bahn  weiter  zu  verfolgen  und  durch  eine  Be- 
seitigung der  noch  bestehenden  Schranken  und  Hemmungen 
auf  die  wirtschaftliche  Entwicklung  fördernd  einzuwirken  und 
die  Ertragsfähigkeit  der  indirekten  Steuern  so  zu  heben,  daß 
diese  zur  Deckung  des  Bedarfs  genügten.  Dieser  Absicht  gegen- 
über aber  mufite  doch  die  Tatsache  hervortreten,  daß  die  in- 
direkten Besteuerungsmethoden  nicht  ausreichten,  um  die  der 
modernen  Volkswirtschaft  entstammenden  und  in  den  kapita- 
listischen Betriebsformen  sich  ansammelnden  Einkommensarten 
zu  erfassen  und  in  dem  Maße  der  Besteuerung  zu  unterwerfen, 
wie  es  ihrer  Leistungsfähigkeit  entsprochen  hätte.  Während  in 
der  vorkapitalistischen  Wirtschaftsperiode  die  Gleichartigkeit 
der  Einkommensgewinnung  und  die  geringe  Differenzierung 
der  Einkommensverteilung,  die  für  breite  Schichten  der  Be- 
völkerung mit  einer  weitgehenden  Übereinstimmung  der  Lebens- 
haltung zusammenfällt,  die  Erfassung  der  wesentlichen  Ein- 
kommensarten und  eine  gewisse  Verhältnismäßigkeit  der  Lasten- 
verteilung durch  ein  rein  indirektes  Besteuerungssystem  zu  er- 
möglichen scheint,  wird  dies  um  so  weniger  der  Fall  sein,  je 
mehr  mit  der  Ausbildung  der  großkapitalistischen  Betriebs- 
formen die  ungeheure  Konzentration  des  Kapitals  in  den  Händen 
verhältnismäßig  weniger  Personen  fortschreitet.  Im  selben 
Maße,  wie  sich  diese  Anhäufung  des  Kapitals  vollzieht,  ver- 
ringert sich  im  Gesamteinkommen  eines  Volks  das  Verhältnis 
der  Einkommensteile,  die  in  irgend  einer  Form  der  persönlichen 
Bedürfnisbefriedigung  verausgabt  und  durch  die  indirekten  Steu- 
ern allein  erfaßt  werden  können,  zu  jenem,  die,  aus  der  kapita- 
listischen Betätigung  stammend,  zu  fortgesetzter  Kapitalsbildung 
verwendet  und  einer  gesteigerten  Produktion  dienstbar  gemacht 
werden  und  darum  der  indirekten  Besteuerung  fast  gänzlich  ent- 
gehen. Auf  diese  Weise  aber  bildet  sich  auch  eine  immer 
schroffer  werdende  Unverhältnismäßigkeit  der  steuerlichen  Be- 
lastung heraus,  die  noch  verschärft  wird,  je  mehr  mit  der  Aus- 


—     71     — 

bildung  des  Freihandels  der  Umkreis  der  steuerpflichtigen  Ob- 
jekte auf  Gegenstände  des  unmittelbaren  Massenkonsums  ver- 
engt wird  und  die  Befreiung  der  Rohmaterialien  und  Produk- 
tionsstoffe auch  die  letzte  Möglichkeit  beseitigt,  auf  indirektem 
Weg  das  in  der  Produktion  arbeitende  Kapital  heranzuziehen. 
Indem  aber  gerade  durch  die  Entwickhmg  der  Volkswirtschaft 
der  staatliche  Aufgabenkreis  fortgesetzt  erweitert  und  so  der 
Bedarf  des  Staats  gesteigert  wird,  macht  sich  die  Notwendigkeit 
geltend,  diese  Einkommensarten  der  Besteuerung  zu  unterwerfen, 
um  so  mehr,  als  deren  Leistungsfähigkeit  durch  ihre  ungeheure 
Vermehrung    offenbart    wurde. 

In  England  bestand  diese  Notwendigkeit  schon  seit  der 
Zeit,  als  die  tatsächliche  Aufwärtsbewegung  der  Volkswirtschaft 
und  die  damit  verbundene  Kapitalkonzentration  nach  dem  fran- 
zösischen Krieg  mit  ihrer  vollen  Energie  eingesetzt  hatte,  wobei 
sie  noch  durch  die  mit  der  industriellen  Entwicklung  parallel 
gehende  Monopolisierung  des  Großgrundbesitzes  verstärkt  wurde. 
Nach  außen  trat  sie  jedoch  erst  durch  die  eintretende  Unzu- 
länglichkeit der  indirekten  Steuern,  den  Staatsbedarf  allein  zu 
decken,  auch  als  finanzielle  Notwendigkeit  hervor,  als  der  Peel- 
sche  Reformversuch  eben  in  der  Grundidee,  diese  Unzulänglich- 
keit zu  beseitigen,  sich  als  machtlos  erwies. 

So  war  mit  dem  Ablauf  der  Peelschen  Reformepoche  das 
alte  Finanzproblem,  das  budgetmäßige  Gleichgewicht  zwischen 
Einnahmen  und  Ausgaben  sicherzustellen,  dahin  verschoben 
worden,  eine  neue  und  dauernde  Einnahmequelle,  die  eben  nur 
eine  direkte  sein  konnte,  dem  Finanzsystem  einzugliedern.  Die 
Unterfrage,  welcher  Art  diese  neu  zu  bildende  Steuer  sein 
sollte,  wurde  nun  aber  durch  das  tatsächliche  Dasein  der  Ein- 
kommensteuer in  einer  ganz  bestimmten  Richtung  beeinflußt. 
Gerade  der  Umstand,  daß  man  die  Einkommensteuer  in  dop- 
pelter Weise  als  äußerst  wertvolles  Finanzmittel  zur  Befriedigung 
außergewöhnlicher  Anforderungen  (Kriegsbedarf)  oder  zur 
Durchführung  außerordentlicher  Aufgaben  (Finanzreform)  er- 
kannt hatte,  schien  von  Anfang  an  eine  Handhabung  dieser 
Steuer  als  ordentlicher  Finanzquelle,  mit  der  ihre  Brauch- 
barkeit zu  anderen  Zwecken  aufgehoben  worden  wäre,  völlig 
auszuschließen.  Dazu  kam  die  fast  allgemeine  Überzeugung, 
daß  eine  technische  Reform  der  Steuer,  welche  ihre  tatsächliche 
oder  vermeintHche  Ungerechtigkeit   und  Ungleichheit  beseitigt 


72 

hätte,  unmöglich  sei,  so  daß  auch  in  dieser  Hinsicht  die  Steuer 
durchaus  ungeeignet  erschien,  ein  dauerndes  GHed  der  Staat; 
liehen  Besteuerung  zu  bilden.  Andererseits  aber,  und  in  der 
Folgezeil  wurde  das  wiederum  zum  ausschlaggebenden  Moment, 
machte  sich  die  Beharrlichkeil  der  Einkommensteuer,  die  ihr 
durch  ihre  Ertragsfähigkeit  zukam,  doch  so  sehr  geltend,  daß 
ihre  Verdrängung  nur  durch  eine  mindestens  ebenso  ertragreiche 
Steuer  ermöglicht  werden  konnte. 

Demgegenüber  bot  sich  nun  aber  ein  Ausweg,  indem  durch 
die  Verschiedenheit  der  Erscheinungsformen,  in  denen  das 
leistungsfähige  Kapital  auftritt,  eine  Verschiedenheit  der  Be- 
steuerungsmethoden nahegelegt  wurde,  um  mit  jeder  Steuer  eine 
typische  und  einheitliche  Form  zu  erfassen.  Verzichtete  man 
auf  die  direkte  Einkommenbesteuerung,  so  blieb  noch  immer 
die  Möglichkeit  einer  direkten  Besteuerung  der  Grundlagen 
der  Einkommensgewinnung,  einer  Kapital-  und  Vermögens-, 
oder  einer  direkten  Objektbesteuerung.  Theoretisch  trat  als 
Ersatz  der  Einkommensteuer  namentlich  der  Gedanke  einer 
Vermögenssteuer  immer  und  immer  wieder  in  den  Debatten 
des  Unterhauses  hervor  und  fand  auch  seine  wiederholte  For- 
mulierung. Des  weiteren  machte  sich  aber  auch  der  Gedanke 
einer  ausgedehnteren  Nachlaßbesteuerung,  die  seit  ihrer  ersten 
Einführung  durch  Pitt  noch  immer  in  ihren  verkümmerten 
Anfängen  steckte,  geltend,  um  so  das  angesammelte  Kapital 
bei  seinem  Übergang  in  andere  Hände  in  einmaliger  Besteuerung 
zu  erfassen.  Die  Objektbesteuerung  fand  ebenfalls  in  verschie- 
denen Formen  ihre  Befürwortung  und  vor  allem  war  es  hier 
die  Form  der  Gebäudesteuer,  deren  Einführung  als  ein  Glied 
des  direkten  Besteuerungssystems  aussichtsvoll  und  nützlich  er- 
schien. Von  allen  diesen  Vorschlägen  fand  zunächst  nur  die 
Gebäudesteuer  ihre  Verwirklichung,  die  185 1  an  die  Stelle 
der  veralteten  und  wenig  wirksamen  Fenstersteuer  gesetzt 
wurde.  Außerdem  aber  kam  es  in  diesen  Jahren  zu  keiner 
weiteren  bedeutenden  Finanzmaßnahme,  da  die  Unbeständig- 
keit der  Mehrheitsverhältnisse  im  Unterhaus  seit  der  Ablösung 
des  Peel  sehen  Ministeriums  (1848)  eine  entschiedene  Politik 
unmöglich   machte. 

Zunächst  war  es  die  konservative  Partei  unter  der  geistigen 
Führung  Benjamin  Disraelis,  die  mit  einem  programma- 
tischen Finanzplan  sich  die  Möglichkeit  zu  sichern  suchte,  die 


—   1?>    — 

Gestaltung  der  pülitischen  Zukunft  Englands  durch  eine  neue 
grundlegende  Finanzreforni  zu  beeinflussen.  An  sich  bestand 
auf  beiden  Seiten  des  Unterhauses  nur  eine  geringe  Geneigt- 
heit, die  Einkommensteuer  in  ihrer  vorhandenen  Form  dauernd 
beizubehalten,  und  soweit  demnach  ihre  Beibehaltung  überhaupt 
als  wünschenswert  erachtet  wurde,  hatte  dieser  Wunsch  stets 
die  Forderung  einer  durchgreifenden  technischen  und  orga- 
nisatorischen Reform  der  Steuer  zur  Voraussetzung.  So  lehnte 
das  Unterhaus  185 1  die  Erneuerung  der  Einkommensteuer  für 
drei  weitere  Jahre  auf  den  Antrag  Josef  Humes  ab,  gewährte 
die  Steuer  nur  auf  i  Jahr  und  schloß  sich  auch  dem  weiteren 
Antrag  Humes  an,  zur  Untersuchung  der  Einkommensteuer- 
verhältnisse eine  parlamentarische  Kommission  einzusetzen, 
deren  Aufmerksamkeit  sich  besonders  denjenigen  Fragen  zu- 
wenden sollte,  von  deren  Beantwortung  die  Möglichkeit  einer 
Beibehaltung  der  Steuer  wesentlich  abhing 'i'^). 

An  eben  diese  Frage  aber  schloß  sich  auch  die  Finanz- 
politik Disraelis  an,  der  die  Notwendigkeit  einer  Ergänzung 
des  Steuersystems  durch  irgendeine  Form  der  direkten  Be- 
steuerung grundsätzlich  zugab,  aber  mit  der  Forderung  einer 
möglichst  weitgehenden  Allgemeinheit  jeder  Steuer  eine  Um- 
gestaltung der  Einkommensteuer,  deren  Anwendung  durchaus 
nicht  allgemein  war,  ebenfalls  als  notwendige  Voraussetzung 
ihrer  dauernden  Einfügung  in  das  Finanzsystem  anerkannte. 
Das  wechselseitige  Verhältnis  der  indirekten  und  der  direkten 
Steuern  aber  bestimmte  sich  durch  den  weiteren  Grundsatz,  den 
D Israeli  als  „the  golden  rule  of  all  Chancellors  of  the  Ex- 
chequer"  bezeichnete,  daß  keine  Steuer  ein  Übergewicht  über 
die  anderen  erlangen  sollte,  der  Gesamtertrag  vielmehr  aus  einer 
möglichst  großen  Zahl  von  Steuern  mit  annähernd  gleichem 
Ertrag  gebildet  werden  sollte,  um  auf  diese  Weise  alle  Ein- 
kommensquellen gleichmäßig  zu  erfassen.  In  seiner  praktischen 
Anwendung  auf  die  Steuerpolitik  bedeutete  dieser  Grundsatz 
nicht  nur  eine  Ablehnung  einer  einzelnen  direkten  Steuer  mit 
erheblichem  Ertrag,  sondern  auch  die  bewußte  Abkehr  von  der 
Entwicklungstendenz,  die  sich  auf  eine  Beschränkung  der  in- 
direkten   Besteuerung     auf     wenige    Gegenstände    des    Massen- 


47)  Vgl.    Northcote,    Policy,    S.    161    und    Hansard,    III,    vol.    120, 
col.  9  ff. 


konsums  richtete ^ö).  So  lehnte  Disraeli  die  weitere  Besei- 
tigung indirekter  Steuern  mit  geringem  Ertrag  ab,  schlug  viel- 
mehr eine  allmähliche  Erleichterung  der  Malz-,  Hopfen-  und 
Tccsteuer,  und  andererseits  eine  Erweiterung  der  Gebäude- 
stcuer  vor,  während  die  Einkommensteuer  durch  Ausdehnung 
auf  Irland  und  Einschränkung  der  Befreiungsgrenze  einmal  in 
ihrer  Anwendung  allgemeiner,  durch  eine  ermäßigte  Besteue- 
rung der  Arbeitseinkommen  zum  andern  auch  gerechter  ge- 
macht werden  sollte ^^9).  Das  konservative  Ministerium  Lord 
Derbys  und  Disraelis  vermochte  jedoch  dieses  Budget  nicht 
aufrecht  zu  erhalten  und  machte  darum  im  Dezember  1852 
dem  Koalitionsministerium  Lord  Aberdeens  Platz,  in  welchem 
William  Gladstone  den  Posten  des  Finanzministers  über- 
nahm. 

Damit  tritt  ein  neues  Moment  in  die  Entwicklung  der 
englischen  Finanzwirtschaft  ein,  die  Persönlichkeit  Gladstones, 
dessen  tiefgreifende  Wirkung  aus  dem  Umstand  schon  er- 
schlossen werden  kann,  daß  dieser  Mann  in  einem  Zeitraum 
von  rund  40  Jahren  seinen  mächtigen  Einfluß  auf  die  Ge- 
staltung des  Finanzwesens  teils  unmittelbar  als  Finanz-  oder 
erster  Minister,  teils  als  Führer  einer  starken  Opposition  mittel- 
bar geltend  machen  konnte ^'^j.  Die  besondere  Haltung  Glad- 
stones zu  der  Kernfrage  der  Finanzpolitik  ergab  sich  aus  zwei 
Ideenrichtungen,  die  in  ihm  ihre  Vereinigung  fanden.  Als 
Schüler  Peels,  zu  dessen  Verwaltung  er  gehört  hatte,  hielt 
er  durchaus  an  dessen  Reformpolitik  und  Absicht  fest,  durch 
eine  auf  Vereinfachung  gerichtete  Umgestaltung  eine  Ertrags- 
steigerung der  indirekten  Steuern  zu  bewirken.  Hier  aber 
übte  die  Freihandelstheorie  ihren  Einfluß  auf  ihn  aus,  so  daß 
er,  ohne  die  von  Peel  noch  aufrecht  erhaltene  Schranke  des 
Schutztarifs  anzuerkennen,  die  Vereinfachung  der  indirekten 
Steuern  rein  im  fiskalischen  Interesse  erstrebte.  W^ährend 
Gladstone  somit  den  Umfang  der  Tarif  reform  erweiterte, 
unterschied  er  sich  von  Peel  auch  durch  die  klare  Erkenntnis 
der  Unzulänglichkeit  der  indirekten  Besteuerungsmethoden  und 

48)  Vgl.  Xorthcote,  S.  167. 

49)  Vgl.   Dowell,    History,    II,    S.   319   und   Hansard,    III,   vol.    123, 
col.  836ff. 

50)  Vgl.  über  Gladstones  Bedeutung  als  Finanzminister  Sidney  Bux- 
tons  „Gladstone  as  Chancellor  of  the  Exchequer". 


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erkannte  darum  die  Notwendigkeit  einer  Ergänzung  derselben 
durch  direkte  Steuern  an.  Damit  aber  war  auch  für  ihn  die 
Stellungnahme  der  Einkommensteuer  gegenüber  zur  Kernfrage 
der    Finanzreform    geworden. 

Die  unmittelbare  Beseitigung  der  Steuer  war  trotz  des 
hohen  Ausfalles  von  rund  51/2  Millionen  £,  den  sie  zur  Folge 
gehabt  hätte  ^i),  an  sich  wohl  möglich,  da  durch  eine  Grund- 
und  Häusersteuer,  eine  Gewerbelizenzsteuer  und  durch  eine 
Neugestaltung  der  Vermächtnissteuern  ein  entsprechender  Er- 
trag sicher  hätte  gewonnen  werden  können  ^2^  Dadurch  aber 
wäre  schließlich  doch  nur  die  eine  Absicht  verwirklicht  worden, 
direkte  Steuern  einzuführen,  deren  Ertrag  zwar  das  Einnahme- 
defizit gedeckt,  nicht  aber  die  Fortführung  der  Tarifreform 
gesichert  hätte.  Erschien  so  die  Beseitigung  der  Einkommen- 
steuer im  Hinblick  darauf  als  unzweckmäßig,  so  mußte  anderer- 
seits doch  wieder  eine  möglichst  endgültige  Entscheidung  ge- 
troffen werden,  welche  das  Schicksal  der  Steuer  bestimmte.  Den 
gewichtigsten  Grund  gegen  eine  dauernde  Verwendung  der  Ein- 
kommensteuer als  ordentlichen  Gliedes  des  staatlichen  Be- 
steuerungssystems bildete  vor  allem  die  tiefgewurzelte  und  weit- 
verbreitete Abneigung,  welche  gegen  die  Steuer  bestand  und 
die  durch  eine  Reform  der  Steuer  kaum  beseitigt  werden  konnte. 
Zudem  aber  war  durch  eine  so  tiefgreifende  innere  Umgestaltung 
der  Steuer,  welche  die  gegen  sie  erhobenen  Einwürfe  wirklich 
beseitigt  hätte,  zu  befürchten,  daß  der  finanzielle  Ertrag  beein- 
trächtigt und  die  Möglichkeit  ihrer  Verwendung  als  außerordent- 
liches Hilfsmittel  in  allerlei  Notlagen  aufs  Spiel  gesetzt  worden 
wäre.  Für  Gladstone  wurde  gerade  diese  Gefahr  ausschlag- 
gebend :  „I  believe  it  to  be  of  vital  importance,  whether  you 
keep  this  tax,  or  whether  you  part  with  it,  that  you  either 
should  keep  it  in  a  State,  in  which  it  will  be  fit  for  Service 
on  an  emergency;  and  that  it  will  be  impossible  to  do  it,  if 
you  break  up  the  basis  of  your  Income  tax"  ^3).    Entschied  sich 


51)  Im   Budget    1853/4  belief  sich  der  Voranschlag  der 
Ausgaben    auf                                                 52,083  Millionen  £, 
Einnahmen  (ohne  Einkommensteuer)  auf  46,733          „  „ 
Fehlbetrag  auf                                                  5,35o          „  „ 

52)  Hansard,  III,  vol.  125,  col.  1359. 

53)  Hansard,    III,    vol.    125,    col.    1384,    ferner   Northcote,    S.    190. 


76     - 

(jlatUionc  so  gegen  eine  clanenule  BciljehalUuig,  so.  wurde 
d'w  Notwendigkeit  um  so  deutüchrr,  den  zeitlichen  Charakter 
der  Steuer  zu  betonen,  und  durch  Maßnahmen,  welche  ihre 
Abschaffung  in  absehbarer  Zeit  ermöglichten,  von  vornherein 
sicherzustellen.  Und  hierin  nun  bestand  der  Zug,  der  dem 
Budget  von  1853  sein  besonderes  Gepräge  verleiht.  Die  Deckung 
des  Einnahmedefizits  sollte  zunächst  wiederum  durch  die  Ein- 
kommensteuer erfolgen,  aber  darüber  hinaus  sollte  sie  auch 
wieder  die  Weiterführung  der  Tarifreform  ermöglichen,  durch 
welche  die  indirekten  Steuern  und  Zölle  weiter  vereinfacht  und 
so  zu  erhöhter  Ertragsfähigkeit  angeregt  werden  sollten. 
Der  gewonnene  Ertragsüberschuß  aber  sollte  dann  zu  einer 
planmäßigen  und  bestimmten  allmählichen  Reduktion 
der  Einkommensteuer  verwendet  werden,  um  nach  der  end- 
lichen Beendigung  der  Reformen  die  Steuer  entbehrlich  zu 
machen. 

So  dehnte  Gladstone  seinen  Finanzplan  auf  einen  Zeit- 
abschnitt von  sieben  Jahren  aus,  während  derer  die  Einkommen- 
steuer zunächst  zwei  Jahre  lang  zu  einem  Steuersatz  von  7  d 
erhoben,  für  die  nächsten  zwei  Jahre  auf  6  d  und  für  die  nächsten 
drei  Jahre  auf  5  d  ermäßigt  werden  sollte,  um  dann  am  5.  April 
1860  zu  erlöschen ^^). 

Ging  Gladstone  auf  diese  Weise  der  Frage  einer  durch- 
greifenden Reform  der  Einkommensteuer  auch  aus  dem  Wege, 
so  war  es  im  Hinblick  auf  die  lange  Dauer,  welche  der  Steuer 
noch  beschieden  sein  sollte,  doch  'nicht  möglich,  sie  ohne  jede 
Veränderung  fortzusetzen.  Weniger  im  Interesse  ausgleichen- 
der Gerechtigkeit  als  dem  einer  Ertragssteigerung  erfolgte  die 
Ausdehnung  der  Steuer  auf  Irland,  welches  bisher  zwar  an  den 
günstigen  Wirkungen  der  Tarifreform  teilgenommen,  aber  zu 
ihrer  Durchführung  nur  wenig  beigetragen  hatte,  und  die  Herab- 
setzung der  Befreiungsgrenze  auf  100  £  jährlichen  Gesamtein- 
kommens. Auf  die  Forderungen  einer  gerechten  Lastenvertei- 
lung wurde  dabei  aber  insofern  Rücksicht  genommen,  als  die 
nunmehr  steuerpflichtigen  Einkommen  zwischen  ioo  und  150  £ 
für  den  ganzen  Zeitraum  nur  zu  5  d  besteuert  werden  sollten. 
Zur    tatsächlichen   Beseitigung    innerer    Ungerechtigkeiten    trug 


54)  Hansard,   III,   vo].    125,  col.   1387. 


~   n   — 

jedoch  nur  die  Erlaubnis,  den  Betrag  der  Lebensversicherungs- 
prämie  in  Abzug  zu  bringen,  und  die  Abänderung  des  Ver- 
anlagungsverfahrens der  beruflichen  Einkommen  bei,  die  nun- 
mehr wie  die  gewerblichen  nach  dem  Durchschnitt  der  voraus- 
gegangenen letzten  drei  Jahre  besteuert  wurden  ^äj. 

Mit  dem  durch  diese  Ausdehnung  gesteigerten  Ertrag  sollte 
die  Einkommensteuer  die  finanzielle  Grundlage  der  Budget- 
maßnahmen bilden,  bis  sie  durch  die  Ertragssteigerung, 
welche  von  der  Tarifreform  erwartet  wurde,  entbehrlich  ge- 
worden  wäre. 

Freilich  ließ  sich  kein  derartiges  Wachstum  der  indirekten 
Steuern  erwarten,  daß  ihre  bisherige  Unzulänglichkeit  völlig 
ausgeglichen  worden  wäre.  So  bestand  das  Bedürfnis  fort,  die 
dauernden  Einnahmen  durch  eine  Form  der  direkten  Besteue- 
rung zu  vermehren.  Hier  bot  die  bestehende  Nachlaßbesteue- 
rung durch  eine  Ausdehnung  der  bisher  nur  vom  beweglichen 
Vermögen  erhobenen  Vermächtnissteuer  auf  unbewegliches  Ver- 
mögen nicht  nur  die  Möglichkeit  einer  Ertragssteigerung,  son- 
dern auch  eine  sehr  geeignete  Form  zur  Ergänzung  des  in- 
direkten Steuersystems  durch  eine  entwicklungsfähige  Form 
der  direkten  Vermögensbesteuerung,  während  gleichzeitig  da- 
mit eine  unberechtigte  Anomalie  beseitigt  wurde,  die  in  der 
einseitigen  Besteuerung  des  beweglichen  Vermögens  ge- 
legen hatte. 

Diese  Finanzmaßnahmen  aber  bildeten  nur  die  Vorberei- 
tung und  Grundlegung  des  eigentlichen  Hauptzwecks,  den  das 
Budget  von  1853  zu  erfüllen  suchte,  der  Reform  der  indirekten 
Besteuerung.  Soweit  diese  in  der  Absicht  unternommen  wurde, 
die  Ertragsfähigkeit  der  indirekten  Steuern  zu  heben,  und,  wenn 
auch  nicht  jede  direkte  Besteuerung  überhaupt,  so  doch  die  Ein- 
kommensteuer nach  und  nach  entbehrlich  zu  machen,  stellt  sie 
die  geradlinige  Fortführung  der  Peelschen  Reformpolitik  dar. 
Sie  unterscheidet  sich  aber  grundsätzlich  von  dieser  in  der 
unbedingten  Anerkennung  der  Freihandelsidee  und  durch  die 
Absicht,  das  reine  Finanzzollsystem  zu  verwirklichen.  Die 
Freihandelsidee  fand  ihren  Ausdruck  in  der  Beseitigung 
aller    Fabrikat-    und    aller    Differentialzölle,    während    die    fis- 


55)  Dowell,    History,    II,    S.   320. 


—     7«     - 

kaiische  Absicht  in  der  weitgehenden  Vereinfachung  des  Tarifs 
und  in  der  Beschränkung  auf  produktive  Steuern  sichtbar 
wurde  ^^). 

i'berbhcken  wir  die  Durchführung  der  Finanzreform  von 
1833,  so  wird  uns  die  Tatsache  ohne  weiteres  klar,  daß  das 
eigentliche  und  bedeutungsvolle  Problem  der  damaligen  eng- 
lischen Finanz,  die  Frage  der  ergänzenden  direkten  Besteue- 
rung, in  dem  Budget  von  1853  ihre  Lösung  nicht  gefunden  hatte. 
Das  ursprüngliche  Verhältnis  der  beiden  Besteuerungsmethoden 
war  zwar  durch  die  Wohnhaussteuer  und  durch  die  Ausdehnung 
der  Vermächtnissteuer  etwas  zugunsten  der  direkten  Steuern 
verschoben  worden  und  namentlich  war  mit  der  letzteren  der 
Keim  einer  nicht  nur  praktisch  erfolgreichen,  sondern  auch 
theoretisch  leicht  zu  rechtfertigenden  Form  der  direkten  Ver- 
mögensbesteuerung gegeben.  Die  Frage  der  Einkommensteuer 
aber  war  nur  scheinbar  entschieden,  so  lange  die  beschlossene 
Beseitigung  der  Steuer  von  dem  Erfolg  der  Zoll-  und  Verbrauchs- 
steuerreform abhing,  und  vor  allem  war  das  an  der  Wurzel  aller 
dieser  Fragen  liegende  Problem,  die  zur  Erfassung  der  aus  der 
kapitalistischen  Produktion  entstehenden  Einkommensarten  taug- 
liche Besteuerungsform  zu  finden,  durch  die  Vermeidung  einer 
Einkommensteuerreform  fast  völlig  unberührt  geblieben.  An- 
dererseits aber,  und  darin  liegt  die  Zukunftsbedeutung  der 
Reform,  war  durch  die  Ausdehnung  der  Einkommensteuer  auf 
Irland  und  auf  die  niederen  Einkommensklassen  die  Beharrlich- 
keit dieser   Steuer  erheblich  verstärkt   worden,   während  durch 


56)  Hansard,   III,   vol.    125,  col.   1417. 

Das    endgültige    Budget    von    1853/4    gestaltete    sich    folgender- 
maßen: 

Gesamtausgaben  52,183  Mill.  £, 

Einnahmen : 

ursprünglicher   \'oranschlag  52,990 

Mehrertrag  der  Einkommensteuer  0,295 

Nachlaßsteuern  0,500 

Brennsteuern  0,436 

54,221 
davon  ab:  Kosten  der  Tarifreform  1,656 

Für    1853/4    verfügbare    Gesamteinnahmen  52,565  Mill.  £. 

Überschuß:       0,382  Mill.  £. 


—     79     — 

die  Neugestaltung  der  indirekten  Besteuerung  die  Ergänzung 
derselben  durch  direkte  Besteuerungsmethoden  geradezu  heraus- 
gefordert wurde.  Die  mit  dem  Budget  von  1853  eingeleitete 
planmäßige  Fortentwicklung  der  Finanzen  erfuhr  jedoch  durch 
den  noch  im  selben  Finanzjahr  ausbrechenden  Krieg  mit  Ruß- 
land nicht  allein  eine  Unterbrechung,  sondern  eine  tief  umge- 
staltende Beeinflussung,  durch  welche  das  Verhältnis  der  ein- 
zelnen Einnahmequellen  zueinander  und  ihre  Stellung  im  Gesamt- 
budget verändert  wurde. 

Die  Kosten  des  Kriegs,  der  sich  über  die  drei  Finanzjahre 
1854/56  erstreckte,  beliefen  sich  annähernd  auf  78  Millionen  £. 
Die  Deckungsfrage  konnte  einem  so  hohen  Betrag  gegenüber 
nicht  auf  die  Vermehrung  der  Steuern  beschränkt  werden,  um 
so  weniger  als  die  im  Laufe  des  Finanzjahrs  allmählich  einlaufen- 
den dauernden  Einnahmen  für  die  Staatskasse  nicht  so  zur  Ver- 
fügung gestellt  w^erden  konnten,  als  es  den  wechselnden  und 
meist  dringlichen  Anforderungen  des  Kriegsbedarfs  entsprach. 
So  ließ  sich  schon  aus  rein  finanztechnischen  Gründen  die  Auf- 
nahme kurzfristiger  Anleihen,  wie  sie  die  Ausgabe  von  Kassen- 
scheinen und  Schatzanweisungen  darstellt,  nicht  vermeiden.  So- 
weit aber  die  Deckung  durch  Steuererhöhung  in  Frage  stand, 
bot  sich  hier  wieder  die  Einkommensteuer  als  williges  Werkzeug 
dar,  zur  Bedarfsdeckung  verwandt  zu  werden,  während  Glad- 
stone  eine  Erhöhung  der  indirekten  Steuern  für  unzweck- 
mäßig hielt,  um  den  Erfolg  der  Reform  des  Vorjahrs  nicht  zu 
gefährden.  So  erfuhr  die  Einkommensteuer  zunächst  für  die 
erste  Hälfte  des  Jahres  eine  Verdoppelung,  die  aber  infolge  der 
erhöhten  Kriegsausgaben  auf  das  ganze  Jahr  ausgedehnt  wurde, 
so  daß  die  Einkommensteuer  für  1854/55  zu  einem  Satz  von 
14  d  erhoben  wurde.  Der  Bedarf  freilich  überstieg  den  so  er- 
zielten Mehrertrag  von  61/2  Millionen  £  beträchtlich,  so  daß 
sich  eine  entsprechende  Vermehrung  der  indirekten  Besteuerung 
nicht  umgehen  ließ.  Doch  hielt  Gladstone  an  seiner  ur- 
sprünglichen Finanzpolitik  durchaus  fest,  indem  er  die  Er- 
höhung einigen  wenigen  Steuern  aufbürdete,  die  ertragsfähig 
genug  erschienen,  um  keine  Ertragsverminderung  infolge  einer 
Einschränkung  des  Konsums  befürchten  zu  lassen.  Die  Haupt- 
last trug  hierbei  die  Malzsteuer,  während  durch  eine  Erhöhung 
der  irischen  und  schottischen  Brennsteuem  und  durch  eine 
Veränderung  der  Zuckersteuer  ein   weiterer  Mehrertrag  erzielt 


-  -     8o 

wurde,  wobei  ungefähr  zwei  Drittel  der  ganzen  Steuererhöhung 
von  der  Einkommensteuer  getragen   wurden ''"i. 

Im  lanuar  NS33  wurde  das  Ministerium  Lord  Aberdeens 
durch  Lord  Palmers  ton  ersetzt.  Der  neue  Linanzminister 
Lewis  wich  nun  von  der  Finanzj)olitik  Gladstones  erheblich 
ab,  indem  er  den  Anleihen  einen  weit  größeren  Anteil  an  der 
Bedarfsdeckung  überließ.  Die  Einkommensteuer  erfuhr  zwar 
wiederum  eine  Erhöhung  um  2  d  mit  der  Bestimmung,  daß  die 
ganze  während  des  Kriegs  erfolgte  Erhöhung  von  9  d  (the  war 
nine-pence)  bis  zur  Beendigung  desselben  beibehalten  werden 
sollte.  Von  den  indirekten  Steuern  wurden  namentlich  Zucker 
und  Tee  sehr  schwer  belastet,  aber  auch  Kaffee  mit  herange- 
zogen und  die  Brennsteuern  weiter  erhöht.  Während  aber  die 
von  Gladstone  bewirkte  Erhöhung  der  indirekten  Steuern 
den  veranschlagten  ]\Iehrertrag  hervorgebracht  hatte,  versagten 
diese  im  zweiten  Jahre,  indem  durch  Konsumverminderung  der 
tatsächliche  Ertrag  erhebhch  unter  den  veranschlagten  ging. 
Wesentlich  hierauf  ist  es  zurückzuführen,  daß  Lewis  im  dritten 
Kriegsjahr  von  jeder  Steuererhöhung  überhaupt  absah  und  den 
gesamten  Bedarf,  der  die  verfügbaren  Einnahmen  überstieg, 
durch  eine  Anleihe  deckte.  Das  finanzielle  Ergebnis  des  Kriegs 
war  schließlich,  daß  von  den  rund  77V2  Millionen  £  des  durch 
den  Krieg  verursachten  Mehrbedarfs  etwas  über  die  Hälfte,  näm- 
lich 42I/0  Millionen  £  oder  57 Oo  durch  Vermehrung  der  fun- 
dierten und  unfundierten  Schuld  Deckung  fand,  während  die 
erhöhten  Kriegssteuern  32>^l2  Millionen  £  oder  43  o/o  aufbrachten. 
Dabei  entfielen  allein  rund  24  Millionen  £  auf  die  Einkommen- 
steuer, während  alle  übrigen  Einnahmen  zusammen  nur  etwa 
9  Millionen  £  zur  Bestreitung  des  Kriegsaufwands  beitrugen. 
So  war  die  Einkommensteuer  wieder  ihrer  ursprünglichen  Be- 
stimmung gemäß  zur  Deckung  einer  außerordentlichen  Kriegs- 
last herangezogen  worden  und  hatte  ihre  Brauchbarkeit  hierzu 
wiederum  deutlich  genug  erwiesen.  Denn  während  bei  den  in- 
direkten Steuern  die  harte  Belastung  genau  wie  zur  Zeit  der 
napoleonischen  Kriege  eine  relative  Ertragsverminderung  zur 
Folge  hatte,  zeigte  die  Einkommensteuer  trotz  des  sehr  hohen 
Steuerfußes  keinen  Rückgang  in  der  Ertragsentwicklung. 


57)  Hansard,  III,  vol.  131,  col.  377. 

„     132,     „     1414/61. 
Northcote,  Policy,  S.  243/263. 


Außer  der  Vermehrung  der  Staatsschuld  war  nun  aber  das 
Ergebnis  des  dreijährigen  Kriegs  eine  ganz  bedeutende  Stei- 
gerung des  jährhchen  Bedarfs,  da  die  Aufrechterhaltung  der 
während  des  Kriegs  erhöhten  Kriegsbrauchbarkeit  des  Heeres 
eine  dauernde  Mehrbelastung  verursachte.  Gegenüber  dem  Fi- 
nanzjahr 1853/54  betrug  die  reine  Ausgabenvermehrung  1857/58 
rund  17  Millionen  £,  indem  die  Gesamtausgaben  von  51  Milli- 
onen £  auf  68  Millionen  £  gestiegen  waren.  Mit  dieser  Erhöhung 
der  Ausgaben  war  aber  die  Wiederaufnahme  und  Fortführung 
des  1853  aufgestellten  Finanzplanes  und  die  vorgesehene  Re- 
duktion der  Einkommensteuer  augenscheinlich  zur  Unmöglich- 
keit geworden,  um  so  mehr  als  die  Tilgung  der  während  des 
Kriegs  eingegangenen  Schuldverpflichtungen  für  die  nächsten 
Jahre  neue  Mittel  erforderte.  Noch  aussichtsloser  gestaltete  sich 
die  Finanzlage  im  März  des  Jahres  1857,  als  der  Aufstand  in 
Indien  ausbrach  und  neue  Ausgaben  notwendig  machte.  So 
war  durch,  den  Krimkrieg  die  Frage  der  direkten  Besteuerung 
wieder  in  den  Vordergrund  geschoben  und  durch  die  Schulden- 
tilgungsfrage dringender  als  je  geworden.  Die  Notwendigkeit 
der  letzteren  wurde  von  Lewis  klar  erkannt,  der  mit  rück- 
sichtsloser Deutlichkeit  die  einzige  Möglichkeit  dazu  aussprach : 
„There  is  only  one  resource  to  which  an  honest  legislature  can 
resort  in  our  position :  namely  to  raise  a  surplus  revenue  by 
taxation  and  annually  apply  it  to  the  extinction  of  the  debt"^^). 

Bot  die  überzeugungskräftige  Einfachheit  dieser  Forderung 
wenig  Gelegenheit  zu  einer  grundsätzlich  verschiedenen  Mei- 
nung, so  erhoben  sich  mit  dem  Problem,  Gladstones  Finanz- 
plan trotz  der  Ausgabenerhöhung  durchzuführen,  alle  Schwie- 
rigkeiten und  Streitfragen,  die  1853  dauernd  beseitigt  erschienen, 
mit  erneuter  Heftigkeit,  und  den  Brennpunkt  aller  dieser  Fragen 
bildete  wiederum  die  Einkommensteuer.  Zu  einer  Entscheidung 
in  irgendwelcher  Richtung  kam  es  freilich  zunächst  nicht,  so- 
lange die  noch  völlig  ungefestigten  und  ungeklärten  Partei- 
verhältnisse die  reine  Scheidung  der  beiden  großen  Parteien 
unmöglich  machten  und  darum  keinem  der  zufällig  zur  Re- 
gierung gelangenden  Ministerien  zu  einer  so  sicheren  Mehrheit 
verhalfen,  daß  eine  zielbewußte  und  von  den  Rücksichten  des 
Augenblicks  unabhängige  Finanzpolitik  hätte  durchgeführt  wer- 


58)  Hansard,  III,  vol.  152,  col.  358. 

Zeitschrift  für  die  ges.  Staatswissensch.     Ergänzungsheft  48. 


—      82      — 

den  können.  Fest  stand  dabei  nur  die  eine  Tatsache,  daß  eine 
Reduktion  der  während  des  Kriegs  erhöhten  Steuern  auf  den 
Stand,  den  sie  nach  Gladstones  Finanzplan  erreicht  haben 
soUten,  unmöghch  war.  Die  Steuern  wurden  zwar  ermäßigt  und 
vor  allem  wurde  die  Einkommensteuererhöhung  von  9  d  (the 
war  nine-pence)  aufgegeben,  aber  an  eine  Einhaltung  des  ur- 
sprünglichen Plans  war  nicht  zu  denken.  Die  Ministerien  wech- 
selten und  Lord  Palmerston  machte  Lord  Derby  und  Dis- 
raeli  Platz,  die  aber  von  vornherein  über  keine  Mehrheit  ver- 
fügten. Disraeli  setzte  zwar  dem  Gl ads toneschen  Finanz- 
plan entsprechend  die  Einkommensteuer  auf  5  d  herab,  ver- 
mied aber  ein  Defizit  nur  dadurch,  daß  er  die  Schuldentilgung 
für  dieses  Jahr  (1858/59)  einstellte. 

Nach  Jahresfrist  gaben  Lord  Derby  und  Disraeli  ihr 
Amt  wieder  auf,  und  cndUch  fand  sich  eine  Parlamentsmehrheit 
aus  Liberalen,  Freihändlern  und  Tarifreformern  zusammen,  die 
imstande  war,  das  neue  Ministerium  Lord  Palmerstons,  in 
welchem  Gladstone  wieder  das  Finanzministerium  übernahm, 
in  einer  zielbewußten  Finanzpolitik  tatkräftig  zu  unterstützen. 
Das  nächste  Jahr  (1859)  brachte  wieder  eine  beträchtliche  Er- 
höhung des  Flottenvoranschlags  und  ein  Budgetdefizit  von  fast 
5  Millionen  £.  Da  aber  das  Finanzjahr  bereits  weit  vorgeschritten 
war,  als  das  Budget  eingebracht  werden  konnte,  empfahl  sich 
eine  tief  ergreif  ende  Finanzmaßnahme  nicht.  So  griff  Glad- 
stone zu  zwei  Auskunftsmitteln,  die  sich  ihm  bequem  darboten: 
durch  den  Einzug  eines  erst  spätef  fälligen  Teils  der  Malzsteuer 
und  durch  eine  Erhöhung  der  Einkommensteuer  auf  9  d  half 
er  sich  über  die  bestehende  Schwierigkeit  hinweg  und  sicherte 
sich  auf  diese  Weise  wenigstens  einen  budgetmäßigen  Über- 
schuß. Der  Plan  von  1853  aber  war  gescheitert  und  das  alte 
Finanzproblem,  das  noch  immer  seiner  Lösung  harrte,  mußte 
so  auf  das  nächste  Jahr  verschoben  werden,  während  dem 
diesmal  begangenen  Ausweg  keine  andere  Bedeutung  zu- 
kommen konnte,  als  eben  der  bequemste  zu  sein. 

§  13. 
Das   System   der  Freihandelsfinanz. 

Außer  der  günstigen  innerpolitischen  Lage,  die  mit  dem 
Antritt  des  neuen  Ministeriums  seit  Peels  Zeiten  zum  erstenmal 


-     83     - 

wieder  eine  Festigung  erfahren  hatte,  wirkten  eine  Reihe  von 
Umständen  zusammen,  die  das  Jahr  1860  in  seiner  finanzhisto- 
rischen Bedeutung  vorausbestimmten.  Zunächst  war  es  das 
Jahr,  bis  zu  welchem  sich  der  Finanzplan  von  1853  erstreckte 
und  in  welchem  die  gesetzliche  Dauer  der  Einkommensteuer 
und  der  während  des  Krimkriegs  erhöhten  Tee-  und  Zucker- 
steuer zu  Ende  ging,  so  daß  allein  durch  die  Notwendigkeit,  für 
die  damit  wegfallenden  Einnahmen  einen  Ersatz  in  irgend- 
welcher Form  zu  beschaffen,  das  ganze  Besteuerungsproblem 
wieder  aufgerollt  wurde.  Denn  das  war  das  finanzielle  Ergebnis 
des  Krimkriegs,  daß  der  Finanzplan  von  1853  nicht  nur  seinen 
Berechnungen  nach  vereitelt,  sondern  seiner  eigentlichen  Voraus- 
setzung" einer  normalen  Bedarfsentwicklung  nach  überhaupt  hin- 
fällig gemacht  wurde,  indem  die  durch  den  Krimkrieg  bewirkte 
Ausgabensteigerung  die  Ertragsvermehrung  der  dauernden  Ein- 
nahmen weit  überstieg.  Statt  mit  einem  ausgeglichenen  Budget, 
in  dem  die  dauernden  Einnahmen  nach  dem  Wegfall  der  Ein- 
kommensteuer zur  Bedarfsdeckung  gerade  ausgereicht  hätten, 
wurde  so  das  Finanzjahr  1860  mit  einem  Defizit  von  rund 
9Y2  Millionen  £  eröffnet. 

Bildete  mit  diesem  Fehlbetrag  die  Deckungsfrage  in  dem 
Budget  von  1860  den  Mittelpunkt,  so  waren  die  Richtungs- 
linien ihrer  Lösung  von  außen  her  bereits  durch  den  Handels- 
und Zollvertrag  mit  Frankreich,  der  in  diesem  Jahre  zum  Ab- 
schluß gelangen  sollte,  vorausbestimmt.  Wenn  auch  die  Ver- 
pflichtungen, die  England  in  zollpolitischer  Hinsicht  in  diesem 
Vertrag  einging,  zunächst  nur  dem  anderen  Vertragsgebiet, 
Frankreich,  gegenüber  Geltung  hatten,  so  war  es  doch  im  Cha- 
rakter eben  dieser  Verpflichtungen  gelegen,  daß  sie  in  ihrer 
Durchführung  auf  Verallgemeinerung  in  doppelter  Richtung 
drängten.  Denn  wenn  sich  England  Frankreich  gegenüber  zu 
emer  Beseitigung  aller  Manufakturzölle  und  des  noch  aufrecht 
erhaltenen  Differentialzolles  auf  Branntwein  und  zu  einer  Er- 
mäßigung des  Weinzolls  verpflichtete,  so  war  es  schon  im  Inter- 
esse einer  einheitlichen  Preisgestaltung  geboten,  diese  Maßregeln 
auch  auf  die  Waren  anderer  Bezugsländer  auszudehnen.  Schließ- 
lich aber  bestand  auch  kein  logischer  oder  durch  die  wirtschaft- 
lichen Verhältnisse  bedingter  Grund,  die  in  dem  Handelsvertrag 
mit  Frankreich  verkörperten  Prinzipien  auf  die  darin  genannten 
Objekte  zu  beschränken  und  nicht  auch  auf  andere  Gegenstände 


-     84     - 

anzuwenden.  Ausschlaggebend  kt)nnte  dafür  nur  die  finanzielle 
Rückwirkung  der  Reformen  sein,  denn:  ,,rhe  real  cjuestion  is, 
whether  we  ought  ujwn  this  occasion  to  say  our  necessities  are 
too  great,  our  means  to  narrow,  to  enable  us  to  effect  commer- 
cial  reforms"  ^y).  Und  hier  konnte  doch  der  entscheidende 
Einfluß,  den  die  zweckentsprechende  Ausgestaltung  des  Be- 
steuerungssystems auf  die  Ertragsentwicklung  ausübt,  im  Hin- 
blick auf  die  Geschichte  der  bisherigen  Reformen  nicht  ver- 
kannt werden:  „Our  high  taxation  is  not  a  reason  for  stopping 
Short  in  our  commercial  reforms,  it  is  a  reason  why  we  should 
persevere  in  them.  For  it  is  by  means  of  these  reforms,  that 
we  are  enabled  to  bear  high. taxation" ^'O). 

Damit  war  die  Fortführung  der  Tarifreform  grundsätzlich 
zugegeben  und,  indem  diese  über  den  Zollvertrag  mit  Frankreich 
hinaus  allgemein  durchgeführt  und  auf  alle  Objekte  ausgedehnt 
wurde,  auf  welche  die  zollpoHtischen  Grundsätze  des  Vertrags 
Anwendung  finden  konnten,  wurde  der  Tarif  nicht  nur  von 
den  meisten  Zöllen  mit  geringfügigem  Ertrag  befreit,  sondern 
erfuhr  dadurch  auch  eine  so  wesentliche  Vereinfachung,  daß 
damit  die  Ausbildung  des  reinen  Finanzzollsystems, 
wenigstens  der  Hauptsache  nach,  abgeschlossen  war.  Der 
Tarif  umfaßte  nunmehr  nur  noch  48  Artikel  (gegen  419  im 
Jahre  1859),  wobei  die  Ertragsfähigkeit  des  Systems  nur  auf 
fünf  Artikel  (Tee,  Zucker,  Spirituosen,  Wein  und  Tabak)  auf- 
gebaut war  61).  So  war  nach  einer  fast  20  jährigen  Entwick- 
lung die  Tarifreform  vollendet  und  die  indirekte  Besteuerung 
(denn  die  Umgestaltung  der  Inlandverbrauchsbesteuerung  ging 
entsprechend  nebenher)  auf  wenige  Gegenstände  eines,  teil- 
weise entbehrlichen,  Massenkonsums  beschränkt,  der  aber  all- 
gemein genug  war,  um  eine  mit  der  Bevölkerung  und  ihrem 
Wohlstand  wachsende  Ertragsentwicklung  zu  versprechen.  So 
stellte  die  indirekte  Besteuerung  die  umfassende  Fundamen- 
tierung  des  Besteuerungssystems  dar,  indem  sie  in  ihrer  All- 
gemeinheit   die    kleinen    und    kleinsten   Einkommen,    die    durch 


59)  Hansard,  III,  vol.  156,  col.  826,  Gladstone,  in  der  Budgetrede 
vom   10.  Februar  1860. 

60)  Hansard,  III,  vol.  156,  col.  828. 

61)  1860/1  brachten  Zucker,  Tee,  Braruitwcin,  Wein  und  Tabak  zu- 
sammen 90  0/0  des  gesamten  Zollertrags,  Kaffee  und  Korn  weitere  6  o/o  und 
nur  4  0/0  entfielen  auf  die  übrigen  Artikel. 


-     85     - 

die  direkte  Besteuerung  nicht  leicht  erfaßt  werden  konnten,  zur 
Beitragsleistung  mit  heranzog.  Andererseits  aber,  und  das  wird 
in  der  Fortentwicklung  der  Finanzen  bedeutungsvoll,  konnte 
die  indirekte  Besteuerung  doch  auch  wieder  nicht  mehr  sein,  als 
nur  die  Grundlage  eines  Besteuerungssystems,  da  sie  nicht  ge- 
eignet war,  die  größeren  Vermögen  nach  ihrer  Leistungsfähig- 
keit zu  belasten,  weil  die  Möglichkeit,  den  Konsum  der  für  die 
Besteuerung  verbliebenen  Gegenstände  bei  zunehmendem  Wohl- 
stand zu  steigern,  individuell  doch  sehr  begrenzt  war.  .A.ber  auch 
die  Möglichkeit,  den  absoluten  Ertrag  der  indirekten  Steuern 
durch  Erhöhung  der  Steuersätze  zu  steigern,  war  bei  dieser  Ge- 
staltung des  Systems  beschränkt,  da  die  Einkommensteile,  die 
für  den  Konsum  verausgabt  werden  können,  ebenfalls  einer  mit 
der  Einkommensverteilung  gegebenen  Beschränkung  unter- 
liegen. So  machte  diese  Ausgestaltung  des  indirekten  Systems 
eine  Erweiterimg  durch  direkte  Steuern,  die  sich  auf  ihm  gleich- 
sam als  seine  progressive  Ergänzung  aufbauten,  zu  einer  finan- 
ziellen, aber  auch  steuerpolitischen  Notwendigkeit,  die  allerdings 
erst  dann  hervortreten  konnte,  wenn  der  Gesamtertrag  der  in- 
direkten Steuern  nicht  mehr  zur  Bedarfsdeckung  ausreichte. 

Diese  Notwendigkeit  aber  bestand  gerade  für  das  Budget 
des  Jahres  1860  zwingend  genug,  um  neben  der  Tarif  reform 
die  Frage  der  direkten  Steuern  und  damit  wieder  die  Ein- 
kommensteuerfrage in  den  Mittelpunkt  des  Budgets  zu  stellen. 
Denn  wenn  auch  die  Kosten  der  Tarifreform  durch  die  Aufrecht- 
erhaltung der  erhöhten  Tee-  und  Zuckerzölle  aufgebracht  werden 
konnten,  so  bestand  das  ursprüngliche,  aus  der  Bedarfsvermeh- 
rung erwachsene  Budgetdefizit  unvermindert  fort.  Indem  aber 
der  Fehlbetrag  ziemlich  genau  einer  Einkommensteuer  von  10  d 
(=  10,87  Millionen  £)  entsprach,  gestaltete  sich  für  Gladstone 
die  Lösung  des  Deckungsproblems  einfach  genug,  indem  er 
die  Einkommensteuer  zu  diesem  Satz  beibehielt,  ohne  damit 
aber  eine  grundsätzliche  Anerkennung  der  Einkommensteuer 
als  eines  dauerndes  Gliedes  des  staatlichen  Besteuerungssystems 
auszusprechen  oder  die  Erwartung  derer  zu  erfüllen,  die  gehofft 
hatten,  „that  something  would  be  done  to  place  the  System  of 
direct  taxation,  if  not  on  a  permanent,  at  least  upon  a  less  tem- 
p>oray  footing  than  at  pressent''^^), 

62)  Hansard,  III,  vol.  156,  col.  1535,  Northcote,  in  der  Budget- 
debatte vom   21.   Februar   1860. 


—     86       - 

ibcrblirkcn  wir  s(i  nacli  dem  Budget  von  1860  die  Ge- 
staltung des  englisclicn  Bcsteucrungssystems,  so  läßt  sich  trotz 
des  für  eine  normale  Friedenszeit  außerordentlich  hohen  Anteils 
der  Einkommensteuer  am  Gesamtsteuerertrag  (für  das  Rech- 
nungsjahr 1860/61  :  16,70/0  gegen  65,60/0  der  indirekten  Steuern) 
doch  die  überragende  Bedeutung  der  indirekten  Steuern  nicht 
verkennen :  denn  die  Frage  der  indirekten  Besteuerung  war 
mit  der  Vollendung  der  Tarifreform  grundsätzlich  entschieden, 
während  das  Problem  der  direkten  noch  seiner  Lösung  harrte. 
Freilich  war  der  finanzpolitische  Charakter  der  Einkommen- 
steuer in  dem  neugestalteten  Finanzsystem  völlig  verändert, 
da  ihre  Erneuerung  nicht  mehr  zur  Durchführung  der  Tarif- 
reform notwendig  geworden  war,  sondern  einzig  durch  das  finan- 
zielle Bedürfnis  der  Bedarfsdeckung,  die  durch  den  Ertrag  der 
indirekten  Steuern  allein  nicht  erreicht  werden  konnte,  bedingt 
worden  war.  So  hing  die  Fortdauer  der  Einkommen- 
steuer von  zwei  Momenten  und  ihrer  künftigen  Ent- 
wicklung ab:  einmal  von  der  Ertragsfähigkeit  des  freihänd- 
lerischen Finanzsystems  und  zum  andern  von  der  Gestaltung 
des  Bedarfs. 

Obwohl  infolge  der  Ungunst  der  wirtschaftlichen  Lage 
(Baumwollnot  in  Lancashire,  Hungersnot  in  Irland)  die  nächst- 
folgenden Jahre  nach  beiden  Richtungen  hin  durchaus  ungünstig 
verliefen,  begann  doch  seit  1864  eine  Zeit  wirtschaftlichen  Auf- 
schwungs, die  in  dem  fortgesetzt  steigenden  Ertrag  der  in- 
direkten Steuern  ihren  finanziellen  Ausdruck  fand,  während 
gleichzeitig  die  Ausgaben  eine  allmähliche  Verminderung  er- 
fuhren, so  daß  alljährlich  ein  erheblicher  Teil  der  dauernden 
Einnahmen  aufgegeben  und  zur  Herabsetzung  der  Steuerlast  ver- 
wandt werden  konnte.  In  bezug  auf  die  indirekte  Besteuerung 
war  damit  die  Möglichkeit  gegeben,  die  Ausgestaltung  des 
Freihandelssystems  bis  in  die  kleinsten  Züge  hinein  zu  vollenden 
und  abzurunden,  und  in  einer  Fülle  von  Einzelmaßnahmen 
wurden  in  diesen  Jahren  all  die  Überbleibsel  einer  veralteten 
Finanzpolitik  beseitigt  und  die  großartige  Einfachheit  des  Sy- 
stems sichergestellt 63^     So  wurde  diese  Epoche  einer  der  Glad- 


63)  So  fiel  1861  die  Papiersteuer,  1869  der  letzte  Rest  der  Kornzölle 
und  die  Feuerversichcrungsstcuer,  1870  wurden  die  Assessed  taxes  aufge- 
hoben und  in  Form  von  Lizenzen  den  Verbrauchsteuern  zugewiesen,  aber 
bis  auf  wenige  nach  und  nach  ganz  beseitigt.     Der  Tee-  und  der  Tabakzoll 


-     87     - 

stoneschen  Regicrungszeiten  eine  der  inhaltsreichsten  und  be- 
deutsamsten, aber  auch  der  erfolgreichsten  der  enghschen 
Finanzgeschichte.  Buxton  beschreibt  sie  als  „a  great  epoch 
in  Finance,  in  which  the  coping  stone  was  set  to  the  edifice  of 
fiscal  reform,  and  the  whole  financial  System  was  placed  on  a 
simpler  and  sounder  basis"  '^^). 

Für  die  Einkommensteuer  kam  die  Besserung  der  Finanz- 
lage in  einer  wiederholten  Herabsetzung  des  Steuersatzes  zum 
Ausdruck.  Dabei  aber  trat  das  Bestreben  hervor,  über  diese 
Erleichterung  hinaus,  die  allen  Einkommensteuerzahlern  zugute 
kam,  im  besonderen  auch  die  unteren  Einkommensklassen,  für 
die  neben  der  indirekten  Besteuerung  die  Last  einer  direkten 
Steuer  am  fühlbarsten  war,  zu  begünstigen.  In  dieser  Absicht 
griff  Gladstone  auf  ein  Verfahren  zurück,  das  in  der  Pitt- 
Steuer  seine  Anwendung  gefunden  hatte,  1842  aber  nicht  wieder 
aufgenommen  worden  war.  Indem  er  die  1853  auf  100  £  jähr- 
lichen Gesamteinkommens  festgesetzte  Befreiungsgrenze  beibe- 
hielt, gewährte  er  1863  den  unteren  Klassen  doch  damit  eine 
Erleichterung,  daß  er  ihnen  einen  Abzug  von  60  £,  der  von  dem 
veranlagten  Gesamteinkommen  gemacht  werden  durfte,  zuge- 
stand. Damit  war  in  die  technische  Organisation  der  Ein- 
kommensteuer ein  Entwicklungsmoment  eingefügt,  das  trotz 
seiner  augenblicklichen  Geringfügigkeit  in  späteren  Jahren  doch 
eine  auch  finanzpolitisch  bedeutsame  Umgestaltung  der  Steuer 
nach  sich  zog. 

Wenn  auch  infolge  der  günstigen  Finanzgestaltung  der 
Einkommensteuersatz  bis  1866/67  auf  4  d  herabgesetzt  werden 
konnte,  so  war  der  Ertrag  der  Steuer  trotzdem  noch  immer 
nicht  völlig  zu  entbehren.  In  den  nächsten  Jahren,  in  denen  der 
Ausgabenetat  infolge  kriegerischer  Expeditionen  (Abessinien) 
mannigfache  Schwankungen  zeigte,  wurde  der  Steuer  vielmehr 
eine  neue  und  eigenartige  Aufgabe  zugewiesen,  die  in  ihrer 
Organisation  begründet  war.  Die  Leichtigkeit,  mit  der  die 
Steuer  ohne  jede  technische  Veränderung  und  ohne  jede  Er- 
höhung der  Erhebungskosten  herauf-  oder  herabgesetzt  werden 
konnte,  ließ  sie  sehr  geeignet  erscheinen,  dem  augenblicklichen 
Bedürfnis   entsprechend,   ohne   Störung   des   Finanzsystems   das 

wurden    1863   und   1865   bedeutend  herabgesetzt  und   1874  wurde  sogar  die 
ertragreiche  Zuckersteuer  aufgehoben. 
64)  Buxton,  Gladstone,  S.  25. 


—     88     — 

budgetmäßige  Gleichgewiclu  zwischen  Einnahmen  und  Aus- 
gaben sicherzustellen.  Bei  der  umfassenden  Rückwirkung,  die 
jede  Veränderung  der  indirekten  Steuern  auf  die  Preisgestaltung 
und  damit  auf  die  ganze  Volkswirtschaft  ausübt,  ist  eine  der- 
artige Anpassungsfähigkeit  des  Einnahmesystems  an  den  ge- 
gebenen Bedarf  um  so  wünschenswerter,  je  häufiger  und  je 
geringfügiger  die  Ausgabeschwankungen  zu  sein  pflegen.  Ge- 
rade hierin  aber  mußte  die  Einkommensteuer  doch  bald  einen 
Mangel  ihrer  technischen  Organisation  in  der  Art,  wie  der 
Steuersatz  festgesetzt  wurde,  offenbaren.  Seit  1842  hatte  sich 
der  auf  jeden  Penny  des  Steuerfußes  entfallende  Ertrag  bis 
1870  mehr  als  verdoppelt,  so  daß  die  durch  Erhöhung  der  Steuer 
um  I  d  erzielte  Mehreinnahme  (von  etwa  i^,  o  Mühonen  £)  den 
augenblicklichen  Bedarf  oft  weit  überstieg,  daß  dem  Steuerzahler 
also  ein  größerer  Betrag  entzogen  worden  wäre,  als  das  Be- 
dürfnis des  Staates  erforderte.  Da  der  jährlich  erzielte  Über- 
schuß aber  zur  Tilgung  der  Staatsschuld  diente,  so  wäre  eine 
derartige  Verwendung  der  Einkommensteuer  einer  einseitigen 
Belastung  des  Einkommensteuerzahlers  im  Interesse  einer  der 
Gesamtheit  zugute  kommenden  Schuldentilgungspolitik  gleich- 
gekommen. Aus  diesen  Erwägungen  heraus  gelangte  der  Finanz- 
minister Lowe  1871  zu  dem  Vorschlag,  den  bisherigen  Penny- 
satz  durch  einen  prozentualen  Steuerfuß  zu  ersetzen,  der  eine 
genaue  Anpassung  des  Steuerertrags  an  den  gegebenen  Bedarf 
ermöglicht  hätte  ^^).  Obwohl  es  infolge  des  Vv'iderstands  des 
Unterhauses  bei  dem  Vorschlag  blieb,  so  beleuchtet  er  doch 
die  eigenartige  Stellung,  die  der  -Einkommensteuer  nunmehr, 
nachdem  sie  ihrer  großen  Aufgaben  ledig  war,  im  Finanzsystem 
zukam.  Sie  war  zwar  noch  immer  kein  anerkannt  dauerndes 
Glied  der  staatlichen  Besteuerung,  aber  der  mit  ihr  verbundene 
Begriff  einer  nur  außerordentlichen  Zwecken  dienenden  Steuer 
hatte  mit  der  Veränderung  eben  dieser  Zwecke  selbst  eine  er- 
kennbare Umwandlung  durchgemacht.  Der  Gedanke,  die  Ein- 
kommensteuer ganz  zu  entfernen,  war  in  den  Hintergrund  ge- 
treten und  durch  die  Frage  nach  ihrer  eigentlichen  Zweckbestim- 
mung ersetzt  worden.  In  dieser  einen  Frage  lagen  freilich 
alle  die  Probleme  enthalten,  die  im  Verlauf  ihres  Bestehens  aus 
ihrer    technischen    Gestaltung,     ihrer    Wirkung    auf    den    Ein- 


65)  Hansard,    III,   vol.  205,  col.   1416. 


-     89     - 

kommensteuerzahler  und  ihren  Beziehungen  zum  gesamten 
Steuersystem  erwachsen  waren. 

So  bildete  die  Einkommensteuerfrage  in  dieser  ganzen 
Periode  die  finanzpohtische  Grundfrage,  mit  der  sich  nicht  nur 
rein  finanzielle,  sondern  tiefgreifende  soziale  und  wirtschaft- 
liche und  selbst  moralische  Probleme  verknüpften  und  die  mit 
ihrer  umfassenden  Bedeutung  die  gewöhnlichen  Steuerfragen 
weit  überragte:  ,,It  is  in  fact,  a  subject  so  large  that  it  might 
be  made  the  foundation  not  only  of  a  particular  proposition, 
but  even  of  a  policy"'^öj  Eine  indirekte  Entscheidung  durch 
stillschweigende  Duldung  konnte  schon  darum  nicht  wünschens- 
wert sein,  und  so  bildete  diese  Frage  den  Mittelpunkt  und 
gleichsam  das  Losungswort  des  politischen  Kampfes  der  Glad- 
s  t  o  n  e  -  und  D  i  s  r  a  e  1  i  -Parteien,  der  zwar  die  endgültige 
Lösung  noch  immer  nicht  brachte,  aber  doch  die  Keime  der 
späteren  Lösung  hervortrieb. 

Mit  der  Frage  nach  der  Zweckbestimmimg  der  Einkommen- 
steuer war  aber  die  Vorstellung  von  dieser  Steuer  als  eines 
außerordentlichen  Finanzmittels  noch  immer  untrennbar  ver- 
bunden. Vor  allem  war  es  die  große  Tauglichkeit  der  Steuer, 
in  Zeiten  finanzieller  Bedrängnis  mühelos  große  Summen  aufzu- 
bringen, die  ihr  eine  dauernde  Ausnahmestellung  im  Finanz- 
system zu  sichern  schien.  Es  war  aber  klar,  daß  diese  Tauglich- 
keit mit  dem  Spielraum,  der  für  eine  Erhöhung  des  Steuer- 
fußes gegeben  war,  wachsen  mußte,  und  daraus  ergab  sich 
die  Forderung,  die  Steuer  in  gewöhnlichen  Zeiten  so  niedrig 
wie  nur  möglich  zu  halten.  Andererseits  freilich,  und  damit 
wurde  für  diese  Forderung  eine  Grenze  gezogen,  gestaltete  sich 
das  Verhältnis  der  Erhebungskosten  zum  Ertrag  um  so  ungün- 
stiger, je  niedriger  die  Steuer  war,  da  die  Verwaltungsorgani- 
sation durch  eine  Herabsetzung  des  Steuerfußes  kaum  berührt 
wurde  und  stets  dieselben  Kosten  verursachte.  Diese  Politik 
aber,  welche  die  Einkommensteuer  als  ein  für  außerordentliche 
Bedarfsfälle  dauernd  zur  Verfügimg  gehaltenes  Rüstzeug  der 
staatlichen  Finanz  betrachtete  und  die  Reduktion  der  Steuer 
auf  einen  durch  das  Verhältnis  des  Ertrags  zu  den  Erhebungs- 
kosten bestimmten  normalen  Mindestsatz  erstrebte,  wurde  in 
ihrer    Durchführbarkeit    durch    drei    Momente    bestimmt,    von 


66)  Hansard,   III,  vol.    174,  col.  584  (Gladstone). 


_     90     — 

driH'ii  wir  das  der  Bedarfsgestallung^  und  das  andere  der  Er- 
tragscntwickliniy;  und  Elastizität  der  indirekten  Steuern  bereits 
dargestellt  haben.  Das  dritte  Moment  war  damit  gegeben,  daß 
ein  Teil  des  Einkommensteuerertrags  noch  immer  für  die  Be- 
darfsdeckung imentbehrlich  war,  daß  also  der  Wegfall  dieser 
Einnahmen,  soweit  er  durch  die  Herabsetzung  der  Steuer  auf 
einen  Mindestsatz  verursacht  wurde,  einen  Ersatz  durch  eine 
andere  direkte  Steuer  verlangte,  um  der  im  Laufe  der  Zeit  fast 
zu  einem  finanzpolitischen  Dogma  gewordenen  Forderung  einer 
gewissen  Verhältnismäßigkeit  der  direkten  und  indirekten  Be- 
steuerung zu  genügen.  Nicht  unmittelbar  in  dieser  Absicht,  aber 
doch  aus  dem  Bestreben  heraus,  die  Einkommensteuer  möglichst 
niedrig  zu  haken,  wurde  in  dem  Budget  von  1871  die  Neu- 
gestaltung der  f>bschaftsbesteuerung  durch  eine  Vereinheit- 
lichung ihrer  drei  Formen  (der  probate-,  legacy-  und  der  suc- 
ccssion  duties)  und  durch  Ausdehnung  der  Steuerpflicht  durch- 
geführt und  damit  die  Entwicklungsfähigkeit  der  direkten  Be- 
steuerung gesichert. 

Waren  so  alle  Bedingungen  erfüllt,  damit  der  außerordent- 
liche Charakter  der  Einkommensteuer  gewahrt  werden  konnte, 
ohne  die  Steuer  ganz  aufgeben  zu  müssen,  so  trat  nun  erst 
recht  die  Tatsache  hervor,  daß  die  Steuer  aus  einer  Zeit  über- 
nommen worden  war,  deren  wirtschaftliche  und  soziale  Ver- 
hältnisse, auf  welche  sie  zugeschnitten  war,  von  den  modernen 
doch  grundverschieden  waren.  Je  mehr  aber  die  Überzeugung 
um  sich  griff  und  durch  die  tatsächlich  befolgte  Politik  bestärkt 
wurde,  daß  die  Beseitigung  der  Einkommensteuer  kaum  mehr 
ernsthaft  angestrebt  werde,  desto  stärker  trat  die  Forderung 
einer,  den  veränderten  wirtschaftlichen  Bedingungen  angepaßten 
Reform  der  Einkommensteuerorganisation  hervor,  welche  bis- 
her in  der  Hoffnung,  die  Steuer  überhaupt  entbehren  zu  können, 
immer  und  immer  wieder  vertagt  worden  war.  Am  deutlichsten, 
weil  am  fühlbarsten,  trat  dabei  die  Frage  nach  der  durch  die 
Steuer  bewirkten  Belastung  hervor,  die  durch  die  allgemeine 
Verschiebung,  welche  die  Umgestaltung  der  indirekten  Be- 
steuerung in  der  Lastenverteilung  mit  sich  führte,  seit  1842 
eine  allmähliche,  aber  um  so  tiefer  gehende  Wandlung  erfahren 
hatte.  Durch  die  Einbeziehung  der  zwischen  100  und  150  £ 
liegenden  Einkommensklassen  waren  seit  1853  der  Wirksamkeit 
der  Einkommensteuer  gerade  diejenigen  Schichten  der  Bevöl- 


—     91     — 

kerung  unterworfen  worden,  die  an  dem  Konsum  der  Artikel, 
welche  durch  die  indirekten  Steuern  belastet  wurden,  sehr  er- 
heblich beteiligt  waren,  so  daß  gerade  hier  das  Bedürfnis  nach 
einer  der  Leistungsfähigkeit  entsprechend  abgestuften  Verteilung 
der  Gesamtbelastung  hervortreten  mußte.  Um  dem  entgegen- 
zukommen, hatte  Gladstone  1863  das  Abatementsystem 
wieder  eingeführt,  dessen  Prinzip  augenscheinlich  einfach  genug 
war,  um  sich  ohne  jede  Störung  dem  Gesamtorganismus  der 
Steuer  einzufügen.  Es  ist  aber  auch  leicht  erkennbar,  daß  es 
eine  gewisse  Willkürlichkeit  in  sich  trug,  da  für  die  Beschrän- 
kung des  steuerfreien  Abzugs  kein  natürliches  Merkmal  gegeben 
sein  konnte.  In  dieser  Willkürlichkeit  aber  lag  ein  stark  wir- 
kendes Motiv,  das  Prinzip  immer  weiter  auszudehnen,  da  schließ- 
lich das  Verlangen  nach  einer  Steuererleichterung  in  allen 
Klassen  gleich  verbreitet  und  begründbar  zu  sein  pflegt.  Und 
so  war  ,,the  protection  of  the  lower  classes  of  income  tax  payers" 
der  emzige  Beweggrund,  der  1872  die  Erhöhung  des  steuerfreien 
Abzugs  auf  80  £  und  die  Ausdehnung  dieser  Vergünstigung  auf 
die  Einkommen  bis  zu  300  £  veranlaßte^^).  Dasselbe  gilt  auch 
für  die  weitere  Ausdehnung  des  Systems  der  ,,abatements"  im 
Jahre  1875,  wenn  auch  die  Begleitumstände  sehr  verschieden 
waren.  Während  in  den  beiden  ersten  Fällen  die  Anwendung 
des  Prinzips  mit  einer  Herabsetzung  der  Steuer  verbunden  war, 
machte  sich  in  diesem  Jahr  eine  Erhöhung  der  Steuer  um  i  d 
notwendig.  Da  aber  dadurch  eine  den  augenblicklichen  Bedarf 
übersteigende  Mehreinnahme  erzielt  wurde,  so  bot  sich  hier 
eine  gute  Gelegenheit,  4en  unteren  Klassen  der  Steuerzahler  eine 
Erleichterung  zu  gewähren,  indem  die  Befreiungsgrenze  wieder 
auf  150  £  hinaufgesetzt,  der  steuerfreie  Abzug  auf  120  £  erhöht 
und  auf  Einkommen  bis  zu  400  £  ausgedehnt  wurde  ^^j. 

So  willkürlich  die  Anwendung  dieses  Prinzips  erscheinen 
mag  und  so  wenig  die  Festsetzung  der  jeweiligen  Höhe  des  ge- 
währten Abzugs  aus  den  besonderen  Bedingungen  der  damit  be- 
günstigten Einkommensklassen  begründet  werden  kann,  so  be- 
deutsam wirkte  der  Grundsatz  an  sich  auf  die  Einkommensteuer 
selber  ein,  die  damit  den  Charakter  einer  über  der  indirekten 
Besteuerung,  welche  die  kleinen  und  kleinsten  und  nur  für  den 


67)  Hansard,   III,  vol.  210,  col.  624  (Lowe). 
6S)  Hansard,   III,   vol.   224,  col.   ii24ff. 


—    92     — 

Konsum  \  crausgabien  Kinkoimncn  ertabte,  aufgebauten  Ergän- 
zungssteuer erhirli,  durch  welclic  die  größeren  Einkommen  nach 
dem  Verhähnis  ilirer  die  Befriedigung  der  unmittelbarsten 
Lebensbedürfnisse  übersteigenden  Leistungsfähigkeit  getroffen 
werden  sollten.  So  lag  in  dem  Abatementsystem  der  Keim  einer 
beginnenden  Entwicklung,  der  des  kräftigsten  Wachstums  fähig 
war  und  die  Lösung  der  Einkommensteuerfrage  in  sich  barg. 

Eine  Entscheidung  dieser  Frage  war  allerdings  inzwischen 
doch  erfolgt,  wenn  auch  nicht  durch  eine  grundsätzliche  und  aus- 
gesprochene Anerkennung  der  Einkommensteuer  als  dauernden 
Gliedes  des  Steuersystems.  Der  günstige  Stand  der  Finanzlage 
hatte  1874  die  Ermäßigung  der  Steuer  auf  3  d  ermöglicht,  und 
während  die  Ausgaben  keine  Tendenz  zu  einer  Steigerung 
zeigten,  wiesen  die  Einnahmen  ein  die  Bevölkerungsvermehrung 
weit  übersteigendes  Wachstum  auf.  So  schien  die  Möglichkeit, 
die  Einkommensteuer  doch  noch  zu  beseitigen,  um  so  mehr  in 
greifbare  Nähe  gerückt,  als  auf  die  Auflösung  des  Parlaments 
ein  überaus  heftiger  Wahlkampf  folgte,  in  welchem  von  beiden 
Seiten  die  Aufhebung  der  Einkommensteuer  als  Siegespreis  an- 
geboten wurde.  Gladstone  unterlag  und  sein  Widerpart 
Disraeli  trat  im  März  1874  an  die  Spitze  der  Regierung. 
Wenige  Wochen  darauf,  am  16.  April,  eröffnete  Northcote, 
der  das  Finanzministerium  übernommen  hatte,  das  mit  großer 
Spannung  erwartete  Budget  mit  einem  veranschlagten  Ein- 
nahmeüberschuß von  5 1/2  Millionen  £,  einer  Summe,  die  sich 
genau  mit  dem  Einkommensteuervoranschlag  deckte.  Aber 
Northcote  zögerte,  das  von  Disraeli  vor  der  Wahl  gegebene 
Versprechen  einzulösen,  und  der  Grund,  den  er  dafür  angab,  war 
schließlich  triftig  genug:  ,,The  whole  position  of  the  income 
tax  is  one  of  such  great  magnitude  not  only  financially  but  as 
I  may  even  say  politically  that  it  would  be  wrong  and  culpable 
in  US  if  on  so  short  a  notice  we  were  to  come  forward  with 
a  definite  or  decided  proposition  with  respect  either  to  the 
absolute  remission  or  the  absolute  perpetuation  of  that  tax"^^^). 
Und  so  bot  er  einfach  eine  Ermäßigung  der  Steuer  auf  2  d 
und  eine  entsprechende  Erleichterung  indirekter  Steuern  an, 
wobei  freilich  die  Beseitigung  der  Einkommensteuer  für  das 
nächste   Jahr   zwar   nicht   versprochen,   aber   doch   als   möglich 


69)  Hansar d,  III,  vol.  218,  col.  662. 


—     93     — 

in  Aussicht  gestellt  wurde.  Im  nächsten  Jahr  war  jedoch  diese 
Möglichkeit  nicht  gegeben,  da  der  Einnahmeüberschuß  durch 
eine  Ausgabenvermehrung  aufgezehrt  wurde.  Und  so  forderte 
Northcote  wiederum  die  Erneuerung  der  Steuer  zum  Satz  von 
3  d,  aber  ,,with  the  hope  and  belief  that  it  may  be  regarded  as 
a  tax  useful  in  point  of  amount,  but  as  held  in  abeyance  — 
ready  only  for  some  great  emergency  and  not  to  be  called 
upon  for  trivial  occasions"'Oj. 

War  damit  die  Einkommensteuer  auch  noch  nicht  als 
ordentliches  Glied  des  Besteuerungssystems  ausgesprochen  an- 
erkannt, so  war  doch  die  Frage  ihrer  Beibehaltung  mit  einem 
niederen  Steuersatz  entschieden.  Mit  dem  nächsten  Jahr  setzte 
wieder  eine  Periode  gewaltiger  Ausgabevermehrung  ein,  welche 
die  Einkommensteuer  allmählich  in  die  Höhe  trieb  und  ihren 
finanzpolitischen  Charakter  und  ihre  Funktion  im  System  ver- 
änderte. Damit  aber  wechselte  auch  der  Charakter  des  Be- 
steuerungssystems, das  von  diesem  Wendepunkt  an  eine  all- 
mähliche Umbildung  erfuhr,  bis  es  den  einseitig  indirekten 
Charakter,  der  ihm  bisher  zukam  und  der  im  Gladstone- 
schen  Freihandelssystem  seine  schärfste  Ausgestaltung  erhalten 
hatte,  verlor.  Die  Darstellung  dieses  Umwandlungsprozesses, 
aus  dem  das  moderne  englische  Besteuerungssystem  hervorging, 
wird  die  Aufgabe  des  nächsten  Kapitels  sein. 


4.  Kapitel. 
Das  moderne  Steuersystem. 

§  14. 
Die   Motive   der   neuen   Entwicklung. 

Das  Jahr  1875/6  stellt  den  Wendepunkt  in  der  englischen 
Finanzgeschichte  dar,  von  dem  an  die  moderne  Entwicklung 
des  englischen  Besteuerungswesens  sich  durchzusetzen  beginnt. 
Bis  zu  diesem  Jahr  zeigt  die  Steuerentwickltmg  ihr  charakteristi- 
sches Merkmal,  das  ihr  während  der  ganzen  früheren  Zeit  zu- 
kommt, in  scharfer  Ausprägung:  die  Einseitigkeit  des  Besteue- 
rungssystems, das  fast  ^/^  seines  Ertrags  aus  der  indirekten 
Besteuerung  zog.  Aus  den  nachstehenden  Tabellen  wird  der 
Finanzzustand    und    der    Charakter    des    Einnahmesystems    im 


")  Hansard,    III,   vol.   223,   col.    1043. 


—     94     — 


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Jahre  1S73  crkciniljar,  sie  zeigen  al)er  auch  den  Forlgang  der 
luit wickhing,  so  daß  sie  für  die  ganze  folgende  Darstellung  als 
Unterlage  dienen. 

Das  indirekte  System  hatte  frcilicli  in  den  letzten  drei  Jahr- 
zehnten eine  vollständige  innere  Umwälzung  erfahren,  aber  noch 
immer  beruhte  das  Steuersystem  einseitig  auf  den  indirekten 
Steuern,  während  das  Prozentverhältnis  für  die  direkten  Steuern 
bis  zum  Jahre  1873  mit  der  Reduktion  der  I'Linkommensteuer 
sich  sogar  fortwährend  verringerte.  Der  Ertrag  aller  direkten 
Steuern  zusammengenommen  war  1875  kaum  wesentlich  höher 
als  1853,  so  daß  also,  soweit  die  Steuern  in  Frage  kommen, 
die  Mehrausgaben  fast  vollständig  von  den  indirekten  Steuern 
gedeckt  wurden.  Besinnen  wir  uns  noch  einmal  auf  das  Grund- 
problem, das  den  Anstoß  zum  Beginn  der  Peel  sehen  Tarif- 
reform gab,  durch  eine  Neugestaltung  des  indirekten  Besteue- 
rungssystems dieses  zur  Deckung  des  steigenden  Bedarfs  taug- 
lich zu  machen,  so  erkennen  wir  von  hier  aus  den  großen  Er- 
folg dieses  Versuchs,  der  die  Vorstellung  seines  Urhebers  weit 
übertraf.  Vollständig  war  der  Erfolg  allerdings  nicht,  da  die 
Beseitigung  der  Einkommensteuer,  nachdem  sie  die  ihr  ursprüng- 
lich zugedachte  Aufgabe  erfüllt  hatte,  sich  als  unmöglich  er- 
wies. Das  indirekte  System  aber  erreichte  im  Jahre  1875  doch 
seinen  Höhepunkt,  damit  aber  auch  seinen  Wendepunkt.  Seine 
Entwicklungsfähigkeit  war  zwar  noch  keineswegs  erschöpft, 
aber  sie  stand  nicht  im  Verhältnis  zu  der  allgemeinen  Finanz- 
entwicklung, die  seit  diesem  Jahr  einsetzte.  Deren  Merkmal 
bildet  so  nicht  das  weitere  Wachstum  der  indirekten  Steuern, 
sondern  die  mächtige  Entfaltung  der  Kräfte,  die  bisher  kaum 
berührt  in  der  direkten  Besteuerung  unentwickelt  verborgen 
lagen.  Das  Übergewicht  der  indirekten  Steuern  wird  allmäh- 
lich verdrängt,  bis  sich  die  direkten  Steuern  ebenbürtig  neben 
sie  erhoben  haben,  um  dann  schließlich  ihrerseits  das  Über- 
gewicht zu  erlangen  und  zur  Grundlage  des  Besteuerungs- 
systems zu  werden.  Den  Mittelpunkt  dieser  Entwicklung  aber 
bildete  wiederum  die  Einkommensteuer,  deren  Stellung  und  Be- 
deutung sich  so  lange  wandelte,  bis  sie  zum  Grundstein  des 
ganzen  Besteuerungsgebäudes  geworden  war. 

Zwei  Momente  sind  es  vor  allem,  welche  die  Richtung  der 
nach  1876  einsetzenden  Finanzentwicklung  bestimmten.  Das 
augenscheinhchste    ist    die   Entwicklung    des   Bedarfs^    die    sich 


—     97     — 

unter  mannigfaltigen  Einflüssen  in  mächtiger  und  kaum  unter- 
brochener Steigerung  aufwärts  bewegte  und  in  weniger  als 
40  Jahren  eine  Verdoppelung  der  Ausgaben  bewirkte.  Bemer- 
kenswert ist  hier  zunächst  der  Wechsel  im  Ministerium,  der  an 
sich  zwar  vielleicht  nur  ein  äußerliches  Moment  ist,  das  auf 
die  finanzielle  Gestaltung  einer  Zeit  keinen  Einfluß  zu  haben 
braucht.  Soweit  aber  das  konservative  Regiment,  dessen  Macht- 
periode mit  dem  Wechsel  von  1874  einsetzte,  die  imperialistische 
Politik  Englands  allererst  zur  Entfaltung  brachte,  wird  auch 
die  finanzielle  Bedeutung  dieser  innerpolitischen  Wandlung  in 
der  dadurch  hervorgerufenen  Steigerung  der  Staatsausgaben 
deutlich.  Vor  allem  sind  es  hier  die  Ausgaben  für  Rüstungs- 
zwecke, für  Heer  und  Marine,  auf  die  der  Hauptanteil  an  der 
gesamten  Bedarfsvermehrung  entfällt.  Und  zwar  waren  es  nicht 
nur  die  kriegerischen  Unternehmungen  der  80er  Jahre,  in  Süd- 
afrika, Ägypten  und  Afghanistan,  welche  die  Ausgabesteige- 
rung verursachten,  der  größte  Teil  derselben  ergab  sich  viel- 
mehr aus  dem  einzigartigen  Rüstungswettbewerb,  in  den  die 
europäischen  Staaten  etwa  seit  1890  getreten  waren,  und  dessen 
schon  an  sich  gewaltige  Kosten  mit  dem  raschen  Fortschritt 
der  modernen  Kriegstechnik,  welche  das  vorhandene  Material 
in  kürzester  Frist  veralten  läßt,  vervielfacht  wurden.  Seit  1905 
etwa  kommt  dazu  noch  die  Durchführtmg  der  sozialen  Auf- 
gaben, die  bisher  der  privaten  Tätigkeit  überlassen  worden  war, 
auf  Kosten  des  Staats,  wodurch  der  Etat  der  unproduktiven 
Ausgaben  der  inneren  Verwaltung  in  kurzer  Zeit  auf  eine  solche 
Höhe  anschwoll,  daß  er  den  Hauptausgabeposten  des  Budgets 
darstellt.  Es  ist  leicht  ersichtlich,  daß  bei  der  Kürze  der  Zeit, 
in  welcher  sich  dieser  Umschwung  in  der  Bedarfsgestaltung 
vollzog,  das  indirekte  Besteuerungssystem,  dessen  Wachstum 
an  die  Vermehrung  der  Konsumtionsfähigkeit  durch  Zunahme 
der  Bevölkerung  und  ihres  durchschnittlichen  Wohlstands  ge- 
bunden ist,  nicht  mit  einer  entsprechenden  Ertragssteigerung 
nachkommen  konnte,  so  daß  schon  hieraus  allein  die  Notwendig- 
keit, neue  produktive  Ertragsquellen  zu  entwickeln,  entspringen 
mußte. 

Das  andere  Moment,  das  die  Richtung  der  Finanzentwick- 
lung seit  1875  mitbestimmte,  lag  in  der  Gestaltung  des  indirekten 
Steuersystems,  wie  sie  sich  als  Ergebnis  der  abgeschlossenen 
Tarifreformepoche  darstellte.    Die  Beschränkung  der  indirekten 

Zeitschrift  für  die  ges.  Staatswissensch.     Ergänzungsheft  48.  7 


-    98     - 

Besteuerung  auf  eine  geringe  Zahl  von  Gegenständen  eines 
allgemeinen  Massenkonsums  gestattete  zwar  eine  weit  höhere 
absolute  Belastung  dieser  einzelnen  Objekte,  als  es  in  dem 
früheren  System  möglich  gewesen  war,  da  die  relative  Gesamt- 
steuerbelastung dadurcli  kaum  erhöht  wurde.  Die  Auswahl  der 
Objekte  aber,  die  der  indirekten  Bestcucrimg  unterworfen 
blieben,  trug  die  Tendenz  einer  Ertragsverminderung  in  sich, 
die  bei  jeder  Stockung  des  wirtschaftlichen  Aufschwungs  deut- 
lich werden  mußte  und  tatsächlich  auch  hervortrat.  Nach  dem 
Wegfall  des  Zuckerzolls  rührten  etwa  80 o/o  des  ganzen  Zoll- 
ertrags von  den  beiden  Gruppen  ,, Tabak  und  Alkohol"  und 
etwa  180/0  vom  Teezoll  her.  Die  Ausdehnung,  die  der  Tee- 
konsum in  England  gewann  und  diesem  Getränk  den  Charakter 
eines  entbehrlichen  Genußmittels  immer  mehr  nahm,  ließ  eine 
fortgesetzte  Reduktion  des  Teezolls,  der  namentlich  die  ärmsten 
Schichten  belastete,  wünschenswert  erscheinen.  Die  beiden  an- 
deren Objekte  aber,  auf  denen  so  der  Zollertrag  ganz  wesentlich 
beruhte,  tragen  das  Merkmal  eines  entbehrlichen  Genußmittels 
so  offenbar  an  sich,  daß  sich  nicht  nur  jedes  wirtschaftliche 
Ereignis,  wie  Krisen,  Krieg  oder  namentlich  auch  Streiks,  in  dem 
Ertrag  dieser  Zölle  bemerkbar  machen  mußte,  daß  vielmehr 
auch  jede  Zollerhöhung  hier  eine  Konsumverminderung  be- 
wirkte, die  den  erwarteten  Mehrertrag  beeinträchtigte.  Und 
genau  dasselbe  gilt  für  die  indirekten  Inlandsteuern,  an  deren 
Ertrag  die  Alkoholgruppe  mit  mehr  als  820/0  beteiligt  war 
(vgl.  hierzu  die  Tabelle  8  c).  Dazu  kam  noch  ein  weiteres  Motiv 
der  Ertragsverminderung  mit  der  Ausdehnung  der  Mäßigkeits- 
bewegung, deren  Erfolg  unter  den  alkoholkonsumierenden  Ar- 
beiterklassen in  den  letzten  fünfundzwanzig  Jahren  doch  auf 
den  Ertrag  der  indirekten  Steuern  einwirkte ''i).  Wenn  auch  alle 
diese  Momente  durch  das  Wachstum  der  Bevölkerung  und  durch 
die  Steigerung  der  Konsumtionskraft  infolge  des  zunehmenden 
Wohlstands  der  imteren  Klassen  teilweise  wieder  ausgeglichen 
wurden,  und  finanziell  ein  Ertragsausfall  durch  schärfere  Be- 
lastung wett  gemacht  werden  konnte,  so  haftete  dem  indirekten 
System  doch  das  Merkmal  einer  weitgehenden  Unzuverlässig- 
keit  an,  die  gerade  in  Zeiten  einer  sprunghaften  Bedarfsent- 
wicklung störend  auf  die  Finanzgebarung  einwirkte  und  die  in- 


71)  Vgl.  auch  Blunden,  Econ.  Journ.,  S.  639. 


—     99     — 

direkten    Steuern    zu    weiterer    Bedarfsdeckung    wenig    tauglich 
machte. 

Schheßhch  aber  kam  noch  ein  Umstand  hinzu,  der  die  in- 
direkten Steuern  ungeeignet  machte,  die  Deckung  des  ver- 
mehrten Bedarfs  allein  auf  sich  zu  nehmen,  indem  die  steuer- 
liche Belastung  in  einem  so  einseitig  ausgeprägten  System,  wie 
es  das  englische  darstellte,  nicht  nach  dem  Maßstab  der  Lei- 
stungsfähigkeit, sondern  im  Verhältnis  zum  Konsum  verteilt 
wird.  Und  hier  ist  es  klar,  daß  die  Fähigkeit,  Tabak  und 
Alkohol  oder  Tee  zu  konsumieren,  von  einer  gewissen  Unter- 
grenze an  keineswegs  durch  einen  wachsenden  Wohlstand  ge- 
steigert wird,  daß  also  die  Entwicklungsmöglichkeit  dieser  Ein- 
nahmegruppen nicht  so  sehr  intensiv  (durch  Vermehrung  des 
individuellen  Konsums),  als  extensiv  (durch  Erweiterung  der 
Untergrenze)  sein  kann.  Um  es  anders  auszudrücken,  bedeutet 
also  eine  indirekte  Besteuerung  dieser  Art  wesentlich  eine  Be- 
lastung der  vermögenslosen  Volksschichten,  die  den  Steuerbetrag 
aus  ihrem  Arbeitseinkommen,  das  ihnen  allein  zur  Verfügung 
steht,  aufbringen  müssen,  während  die  vermögenden  Schichten 
darüber  hinaus,  also  mit  den  Vermögensteilen,  auf  denen  ihre 
Leistungsfähigkeit  beruht,  jeglicher  Besteuerung  entgehen.  Da 
nun  durch  jede  Erhöhung  der  indirekten  Steuern  die  Unter- 
grenze, bis  zu  der  die  Konsumfähigkeit  geht,  verengt  wird,  so 
liegt  hierin  ein  weiteres  Motiv,  die  durch  die  Bedarfsgestaltung 
notwendig  gewordene  Vermehrung  der  Steuern  nicht  durch 
die  indirekten  allein  zu  bewirken,  sondern  andere  Besteuerungs- 
möglichkeiten zu  benutzen  und  auszubauen. 

Aus  der  gemeinsamen  Einwirkung  aller  dieser  Momente 
ging  nun  die  Grundtendenz  hervor,  welche  die  Finanzentwick- 
lung der  neuesten  Zeit  charakterisiert:  die  Bestrebung,  die 
direkten  Steuern  zur  Entwicklung  zu  bringen  und  als  min- 
destens gleichbeteiligtes  Glied  neben  den  indirekten  dem  Steuer- 
system einzuordnen.  Zeitweilig,  und  namentlich  auch  theo- 
retisch, schloß  sich  dem  eine  auf  die  gänzliche  Beseitigung 
der  indirekten  Besteuerung  gerichtete  Bewegung  an,  die  aber 
praktisch  keine  Bedeutung  erlangte.  Werden  damit  wesent- 
lich die  Forderungen  des  politischen  Liberalismus  und  Radikalis- 
mus bezeichnet,  so  setzte  sich  dem  die  konservative  Forderung 
entgegen,  durch  eine  Erweiterung  der  besteuerten  Objekte  das 
Übergewicht   der  indirekten  Besteuerung   dauernd  aufrecht  zu 

7* 


—       lOO      — 

erhalten.  Diese  beiden  gegensätzlichen  Tendenzen  ringen  nun 
in  der  nach  1875  beginnenden  Finanzentwicklung  lun  den  Sieg, 
bis  dieser  Widerstreit  in  der  neuesten  Zeit  mit  der  l-Irrichtinig 
des  modernen,  auf  der  Einkommens-  und  V'ermogensbesteue- 
rung  beruhenden,  aber  durch  die  indirekten  Steuern  nach 
unten  ergänzten  Finanz-  und  Steuersystems  eine  vorläufige  Ent- 
scheidung fand.  Vorläufig  ist  diese,  weil  sie  von  den  augen- 
blicklichen parteipolitischen  Machtverhältnissen,  die  stetem 
Wechsel  unterworfen  sind,  abhängt,  und  am  Schluß  unserer 
Darstellung  werden  wir  die  Bedingungen  erkennen  können,  unter 
denen  sich  eine  Abänderung  dieser  Entscheidung  vollziehen 
wird. 

§15- 
Die   Entwicklung   der   direkten   Besteuerung. 

Der  historische  Verlauf  der  Finanzentwicklung  nach  1875 
wurde  im  einzelnen  bestimmt  durch  die  Sprunghaftigkeit,  mit 
der  sich  die  Ausgabegestaltung  vollzog  und  aus  der  sich  nicht 
nur  immer  wieder  eine  dauernde  Erhöhung  des  Bedarfs,  son- 
dern auch  die  Notwendigkeit  ergab,  für  den  zeitweiligen  Mehr- 
bedarf eine  Deckung  zu  finden,  die  das  Steuersystem  wesentlich 
unberührt  ließ.  Für  diesen  Zweck  war  die  besondere  Taug- 
lichkeit der  Einkommensteuer,  durch  eine  einfache  Erhöhung 
ihres  Steuersatzes  den  erforderlichen  Betrag  zu  liefern,  um  so 
vorteilhafter,  je  mehr  die  allgemeine  wirtschaftliche  Depression 
am  Ende  der  70  er  Jahre  ungünstig  auf  den  Ertrag  der  indirekten 
Steuern  einwirkte.  Während  aber  durch  die  gelegentlichen 
Zuschläge  die  Einkommensteuer  immer  höher  geschraubt  wurde, 
machte  die  Erhöhung  des  dauernden  Bedarfs  eine  Herabsetzung 
auf  ihren  früheren  Stand  unmöglich,  so  daß  die  Steuer  ganz 
allmählich  und  kaum  bemerkt  an  dem  Gesamtsteuerertrag  einen 
steigenden  Anteil  gewann,  der  mit  ihrem  natürlichen  Wachs- 
tum noch  zunahm  und  so  die  Stellung  der  Steuer  innerhalb  des 
Systems  immer  mehr  festigte"-).  Auf  diese  Weise  wurde  es, 
wenn  auch  nicht  zu  einem  Finanzgrundsatz,  so  doch  zu  einer 


72)  Der  Ertrag  der  Einkommensteuer  betrug  1885/6  bei  einem  Satz 
von  8  d  15,16  Millionen  £,  das  sind  1,645  Millionen  £  auf  Jeden  d  des 
Steuersatzes  und  20,2  0/0  des  Gesamtsteuerertrags  und  6  sh  2  d  auf  jeden 
Kopf  der  Bevölkerung. 


—       lOI       — 

Finanzgevvohnheit,  jedem  augenblicklich  auftretenden  Bedarf 
durch  einen  Zuschlag  zur  Einkommensteuer  zu  begegn'en,  so 
daß  ein  erheblicher  Teil  der  dauernd  vermehrten  Ausgaben 
von  dem  Einkommensteuerzahler  getragen  wurde,  während  die 
indirekten  Steuern  nur  dann  mit  herangezogen  wurden,  wenn 
der  Bedarf  zu  hoch  war,  um  die  ganze  Steigerung  der  Ein- 
kommensteuer auf  einmal  aufzubürden.  Einen  Ausweg,  um 
diesen  Gebrauch  der  Einkommensteuer  zu  vermeiden,  glaubte 
Northcote,  der  von  1874/80  P^inanzminister  war,  darin  gefun- 
den zu  haben,  daß  er  die  Deckung  des  in  einem  Jahr  entstehenden 
außerordentlichen,  d.  h.  anscheinend  einmaligen  Aufwands  durch 
Ausgabe  kurzfristiger  Schatzanweisungen,  die  nach  und  nach 
wieder  eingezogen  werden  sollten,  auf  eine  Reihe  von  Jahren 
verteilte.  Dieser  Versuch  führte  nur  zu  einer  Erhöhung  der 
unfundierten  Schuld,  da  bei  dem  anhaltenden  Wachstum  des 
Ausgabenetats  die  zum  Einzug  der  Anweisungen  notwendigen 
Beträge  aus  dem  Budget  nicht  herausgespart  werden  konnten, 
so  daß  schließlich  doch  kein  anderer  Weg  übrig  blieb,  als  eine 
Steuererhöhung  eintreten  zu  lassen,  wenn  man  es  nicht  vorzog, 
die  aufgelaufene  unfundierte  Schuld  durch  Fundierung  aus  dem 
Wege  zu  räumen.  Dieser  Deckungspolitik  gegenüber  betonte 
Gladstone  als  obersten  Finanzgrundsatz  die  Deckung  des  ge- 
samten jährlichen  Bedarfs  durch  ordentliche  und  dauernde 
Einnahmequellen,  die  Notwendigkeit  einer  Schuldentilgung  und 
einer  Ausgaben  Verminderung  "^3  j  Soweit  die  Durchführung  des 
letzten  Grundsatzes  die  Macht  eines  jeden  Finanzministers  über- 
steigt, mußte  der  erste  immer  wieder  zu  der  Forderung  einer 
Steuererhöhung  führen,  durch  die  der  Ertrag  der  dauernden 
Einnahmen  der  Höhe  des  dauernden  Auf  wands  angepaßt  wurde, 
während  darüber  hinaus  für  die  Einkommensteuer  immer  noch 
genügend  Spielraum  gelassen  werden  sollte,  um  die  außer- 
ordentlichen Deckungsansprüche  befriedigen  zu  können.  Eine 
Erhöhung  der  Tabaksteuer  (1878)  und  die  Umwandlung  der 
Malzsteuer  in  eine  Biersteuer  (1880),  die  in  dieser  Absicht  unter- 
nommen wurden,  brachten  den  erwarteten  Ertrag  bei  weitem 
nicht  auf,  womit  die  Unzuverlässigkeit  der  indirekten  Besteue- 
rung nur  wieder  aufs  neue  bewiesen  war.  So  beschränkte 
sich  die  Möglichkeit  einer  Ertragsvermehrung  auf  die   direkte 


'3)  Hansard,   III,  vol.  268,  col.   1298. 


—       I02       — 

Besteuerung  luid  hier  auf  ihre  zwei  Ilaupifonnen,  die  Nach- 
laß- und  Einkommensbesteuerung. 

Es  ist  nicht  schwer,  die  Hemmungen  zu  erkennen,  die  einer 
Verwendung  der  Einkommensteuer  in  dieser  Richtung  wider- 
streben. Einmal  wirkte  noch  immer  die  Vorstellung  von  der 
Einkommensteuer  als  eines  außerordentlichen  Finanzmittels  zu 
sehr  nach,  um  ihre  imbeschränkte  Anwendung  für  den  ordent- 
lichen Etat  zuzulassen,  und  zum  anderen  konnte  auch  nicht 
verkamit  werden,  daß  auf  diese  Weise  die  einzige  Ertragsquelle, 
die  einer  leichten  Anpassung  an  vorübergehende  Bedürfnisse 
fähig  war,  in  dieser  Funktion  sehr  wesentlich  beeinträchtigt 
worden  wäre.  Dann  aber  bestand  die  alte  Voraussetzung  einer 
möglichen  Verwendung  der  Einkommensteuer  als  ordentlichem 
Besteuerungsmittel  in  der  Notwendigkeit  einer  durchgreifenden 
Reform  ungeschwächt  und  ungelöst  fort.  -  Aus  diesen  Gründen 
ließ  man  es  in  bczug  auf  die  Einkommensteuer  beim  alten  be- 
wenden und  wandte  sich  der  Nachlaßbesteuerung  zu,  die  durch 
weitere  xAusdehnung  und  Vereinheitlichung  wirksamer  und  er- 
tragsfähiger gestaltet  wurde  (1881).  Eine  Lösimg  des  Besteue- 
rungsproblems war  damit  freilich  schon  deshalb  nicht  erzielt 
worden,  weil  die  auf  eine  Erweiterung  der  direkten  Besteue- 
rung gerichtete  liberale  Politik  wieder  durch  die  konservative 
verdrängt  wurde,  be\or  eine  gründliche  Reform  versucht  werden 
kormte. 

Freilich  gelang  es  auch  den  Konservativen  nicht,  ihre 
finanzpolitische  Absicht  auszuführ-en,  durch  eine  Vermehrung 
der  indirekten  Steuerobjekte  das  Übergewicht  der  indirekten 
Besteuerung  sicherzustellen.  Trotz  wiederholter  Ankündigung 
zögerten  sie,  ihr  Steuerprogramm  durchzuführen,  und  als  1889 
durch  die  Überweisung  eines  Teils  des  Staatssteuerertrags  an 
die  Gemeinden  ein  Budgetdefizit  entstand,  wandte  sich  der 
konservative  Finanzminister  Goschen  in  erster  Linie  an  die 
direkte  Besteuerung,  indem  er  durch  eine  Erhöhung  der  Nach- 
laßsteuern den  Hauptteil  des  Fehlbetrags  aufbrachte  und  von 
den  indirekten  Steuern  nur  die  Biersteuer  mit  heranzog.  Der 
Widerspruch,  der  darin  lag,  war  allerdings  nur  scheinbar,  da 
die  allgemein  günstige  wirtschaftliche  Lage  eine  solche  Zu- 
nahme des  Konsums  bewirkt  hatte,  daß  das  treibende  Motiv 
der  konservativen  Steuerpolitik  mit  der  wieder  einsetzenden 
Ertragssteigerung  der  indirekten  Steuern  für  diese.  Jahre  auf- 


—     103     — 

gehoben  wurde.  Daraus  erklärt  sich  auch,  daß  der  budget- 
mäßige Überschuß  des  folgenden  Jahrs  (1890/1)  nur  zu  einer 
Erleichterung  der  indirekten  Steuern,  denen  der  Mehrertrag 
zu  verdanken  war,  verwendet  wurde,  während  der  Einkommen- 
steuersatz von  6  d  aufrecht  erhalten  wurde. 

Auf  die  günstige  Entwicklung  der  Jahre  von  i886;'90  folgte 
zwar  ein  allmählicher  Rückgang,  der  die  Frage  der  Steuerreform 
wieder  in  den  Vordergrund  treten  ließ ;  soweit  aber  die  in- 
direkten Steuern  keinen  offenbaren  Ertragsausfall  aufwiesen 
und  die  Notwendigkeit  einer  Steuererhöhung  einzig  den  ver- 
mehrten Ausgaben  zugeschrieben  werden  mußte,  war  auch  die 
Dringlichkeit  einer  Reform  der  indirekten  Besteuerung  nicht 
gegeben.  Dagegen  wurde  durch  die  starke  Inanspruchnahme, 
welche  die  Nachlaßsteuer  und  die  Einkommensteuer  in  den 
letzten  Jahren  erfahren  hatten,  die  Forderung  begründet,  diese 
beiden  Einnahmezweige  durch  eine  innere  Reform  endlich  ihrer 
tatsächlichen  Aufgabe  entsprechend  umzugestalten.  Innerhalb 
des  Besteuerungssystems  bestand  diese  Aufgabe  für  beide 
Steuerformen  in  der  Erfassung  der  leistungsfähigen  Vermögen, 
soweit  diese  nicht  durch  die  indirekten  Steuern  mit  heran- 
gezogen wurden,  wobei  die  Nachlaßbesteuerung  an  dem  Gesamt- 
vermögen bei  seinem  Übergang  in  andere  Hände  ansetzte, 
während  die  Einkommensteuer  einmal  den  aus  dem  Vermögen 
fließenden  Ertrag,  und  zum  anderen  die  dem  Vermögen  zuwach- 
senden Einkommensteile  alljährlich  der  Besteuerung  zu  unter- 
werfen suchte.  Da  aber  beide  Steuern  fast  ohne  jede  Berück- 
sichtigung der  individuellen  Verhältnisse  sich  nur  an  den  ab- 
soluten Betrag  des  Steuerobjekts  anschlössen  und  dieses  mit 
einem  einheitlichen  prozentualen  Steuersatz  belasteten,  so  ver- 
letzten sie  damit  den  allerdings  mehr  theoretisch  anerkannten 
als  praktisch  durchgeführten  Grundsatz  der  Verhältnismäfiig- 
keit.  Die  darin  liegende  Ungerechtigkeit  war  umso  fühlbarer, 
je  höher  der  Steuerfuß  stand,  und  je  größer  der  Anteil  der 
direkten  Steuern  am  Gesamtertrag  wurde,  so  daß  damit  auch 
das  Bedürfnis  wuchs,  den  weniger  leistungsfähigen  Vermögens- 
und Einkommensklassen  eine  Erleichterung  zu  gewähren,  wäh- 
rend die  mannigfachen  Beziehungen,  die  zwischen  den  beiden 
Steuerobjekten,  dem  Vermögen  und  Einkommen,  bestanden,  eine 
gleichzeitige  und  auf  diese  Beziehungen  Bedacht  nehmende 
Durchführung  der  Reform  nahelegten.     So  kam   in  dem  Ver- 


—     104 

langen  nach  einer  Umgestaltung  der  direkten  Besteuerung  das 
Bestreben  zur  Geltung,  durcli  eine  Abstufung  der  relativen 
Belastung  die  individuelle  von  der  Höhe  des  Steuerobjekts  ab- 
hängige Steuerkraft  zu  berücksichtigen  und  zum  Maßstab  der 
Steuerleistung  zu  machen. 

Soweit  dieses  Prinzip  der  Absicht  entsprang,  den  von  den 
beiden  Steuern  noch  erfaßten  unteren  Klassen  Erleichterung 
zu  bieten,  hatte  es  in  der  Einkommensteuer  seit  der  Einführung 
des  Abatementsystems  durch  Gladstone  bereits  seine,  wenn 
auch  unvollkommene  Anwendung  gefunden,  während  die  Idee 
der  Verhältnismäßigkeit  der  Steuerleistung  darin  kaum  zum 
Ausdruck  kam.  Ganz  fremd,  war  aber  auch  diese  Idee  dem 
englischen  Besteuerungssystem  nicht  mehr,  seit  es  in  dem  Budget 
von  1890  für  die  Haussteuer  durch  einen  nach  unten  abnehmen- 
den oder  degressiven  Steuerfuß  durchgeführt  worden  war.  Ent- 
sprach die  Form  der  Degression  in  diesem  Fall  ganz  dem  Zweck, 
die  unteren  Klassen  zu  erleichtern,  so  mußte  das  Prinzip  der 
abgestuften  Steucrleistung  in  seiner  Übertragung  auf  die  Ein- 
kommensteuer und  die  Nachlaßsteuern  dadurch  abgeändert 
werden,  daß  durch  die  Ausgabeentwicklung  die  Notwendigkeit 
einer  Ertragsvermehrung  der  direkten  Steuern  bedingt  wurde. 
Der  verhältnismäßig  hohe  Stand  dieser  belastete  die  unteren 
Steuerklassen  jedoch  bereits  so  erheblich,  daß  eine  Ertrags- 
steigerung, ohne  der  Gerechtigkeit  entgegen  zu  sein,  nur  durch- 
geführt werden  konnte,  wenn  die  Mehrbelastung  ganz  oder 
doch  zum  größeren  Teil  von  den  höheren  und  leistungsfähigen 
Klassen  getragen  wurde.  An  sich  war  diese  Absicht  dadurch 
zu  erreichen,  daß  der  bisherige  Steuersatz  für  die  Einkommen 
bis  zu  einer  bestimmten  Höhe  beibehalten  und  nur  für  die  Ein- 
kommen, welche  diese  Grenze  überstiegen,  dem  Bedarf  ent- 
sprechend erhöht  wurde.  Eine  andere  Möglichkeit  bot  die  An- 
wendung eines  nach  der  Größe  des  Objekts  progressiv  ge- 
steigerten prozentualen  Steuerfußes,  der  so  bemessen  wurde, 
daß  die  Mehrbelastung  erst  von  einer  gegebenen  Grenze  an 
eintrat.  Beide  Wege  kamen  aber  für  die  Einkommensteuer 
nicht  in  Betracht.  Für  sie  und  auch  für  die  Nachlaßsteuer 
empfahl  sich  der  erste  Weg  nicht,  weil  durch  die  Anwendung 
zweier  verschiedener  Steuersätze  tatsächlich  eine  Zerlegung  der 
Steuern  in  zwei  Teile  bewirkt  worden  wäre,  die  zweite  Möglich- 
keit   aber    enthielt    für    die   Einkommensteuer    einen    gewissen 


—     I05     — 

Gegensatz  zu  ihrer  technischen  Organisation,  der  nur  durch 
ihre  gänzUche  Umgestahung  aufgehoben  worden  wäre.  Da- 
gegen fügte  sich  die  prozentuale  Progression  ohne  weiteres  in 
die  Organisation  der  Nachlaßsteuern  ein,  deren  Steuerfuß  be- 
reits in  einem  Prozentbetrag  des  veranlagten  Nachlaßvermögens 
bestand.  Eine  bequemere  Handhabe,  das  Prinzip  der  Gradation 
für  die  Einkommensteuer  ohne  Gefährdung  ihrer  Organisation 
und  finanziellen  Wirkung  durchzuführen,  bot  das  bereits  be- 
stehende System  der  Abatements,  durch  dessen  weitere  Aus- 
dehnung ein  von  dem  Normalsatz  nach  unten  degressiv  ab- 
gestufter Steuersatz  ermöglicht  werden  konnte. 

Obwohl  die  Idee  der  Gradation  aus  der  Steuertheorie  her- 
vorgegangen war  und  in  der  Literatur  und  im  Unterhaus  nur 
im  Interesse  einer  gerechten  Verteilung  der  steuerlichen  Gesamt- 
belastung vertreten  wurde,  so  zeigte  sich  doch  auch  hier  wieder, 
daß  ihre  praktische  Verwirklichung  nur  unter  dem  Druck  einer 
finanziellen  Notwendigkeit  in  /\ngriff  genommen  wurde.  Als 
nach  1890  die  wirtschaftliche  Aufwärtsbewegung  sich  wieder 
verlangsamte  und  das  Wachstum  der  indirekten  Steuern  zum 
Stillstand  kam,  während  andererseits  durch  die  Neuorgani- 
sation des  Unterrichtswesens  die  Ausgaben  stark  in  die  Höhe 
getrieben  wurden,  trat  das  Bedürfnis  einer  Einnahmevermehrung 
wiederum  hervor.  Nach  dem  Wechsel  im  Ministerium,  der  auf 
die  Niederlage  der  Konservativen  in  den  Wahlen  von  1892  folgte 
und  Gladstone  noch  einmal  an  die  Spitze  der  Regierung 
brachte,  konnte  die  Entscheidung,  nach  welcher  Richtung  hin 
die  Steuerreform  erfolgen  würde,  um  so  weniger  zweifelhaft 
sein,  als  Gladstone  durch  eine  1888  von  ihm  durchgesetzte 
Resolution  auf  eine  Reform  der  direkten  Besteuerung  nach  dem 
Grundsatz  der  Gradation  festgelegt  war. 

Die  finanzielle  Notwendigkeit,  die  hinter  dem  Reform- 
problem als  treibende  und  bestimmende  Kraft  stand,  wurde 
im  Jahre  1894  erkennbar,  als  das  Budget  mit  einem  veran- 
schlagten Defizit  von  fast  2I/2  Millionen  £,  das  durch  eine  Er- 
höhung des  Ausgabeetats  hervorgerufen  war,  eröffnet  wurde. 
Diesem  Fehlbetrag  konnte  nur  durch  eine  durchgreifende  Maß- 
nahme begegnet  werden,  für  welche  allein  die  einer  erheblichen 
Ertragssteigerung  fähigen  ,, staple  branches"  des  Einnahme- 
systems, in  erster  Linie  also  die  beiden  großen  Formen  der 
direkten  Besteuerung  in  Betracht  kamen.    Freilich  war  es  nicht 


—     io6     — 

allein  die  Höhe  des  augciil)lickliciien  Bedarfs,  welche  eine 
Reform  der  beiden  Steuern  forderte.  Insbesondere  bedurfte  die 
Nachlaßbesteuerung,  deren  fünf  Zweige  (Probate-,  Account-, 
Estate-,  Succession-  und  Legacy-Duty)  in  wirrer  Systemlosigkeit 
sich  im  Laufe  der  Zeit  aneinandergeschlosscn  hatten,  ohne  in 
ihrer  Wirkungsweise  einem  gemeinsamen  Besteuerungsgrund- 
satz zu  folgen,  dringend  einer  durchgreifenden  Neugestaltung. 
Diese  wurde  dadurch  bewirkt,  daß  die  drei  innerlich  sich  nahe- 
stehenden Probate-,  Account-  und  Estate-Duties  durch  eine 
einzige  Nachlaßvermögcnssteucr  (Estate-Duty)  ersetzt  wurden, 
die  von  dem  Kapitalwert  des  nachgelassenen  Vermögens  er- 
hoben wird,  während  die  Erbschafts-  und  Vermächtnissteuern 
(Succession  und  Legacy  duties),  die  beide  auf  den  Verwandt- 
schaftsgrad des  Erben  Rücksicht  nahmen,  durch  Vereinheit- 
lichung des  Stcuerfußes  und  durch  Beseitigung  einzelner  Unter- 
schiede in  der  Behandlung  des  Erbanteils  praktisch  in  eine 
einzige  Steuer  verschmolzen  wurden. 

War  somit  dieser  Teil  der  Reform  mehr  technischer  Natur, 
so  trat  ihre  finanzielle  Bedeutung  in  der  Frage  nach  der  Be- 
messung des  Steuerfußes  deutlich  hervor,  indem  hier  das  Prinzip 
der  Gradation  die  Möglichkeit  einer  Ertragssteigerung  gewährte, 
ohne  die  unteren  Vermögensstufen  stärker  zu  belasten,  als  es 
bisher  der  Fall  war.  Die  Progression  begann  mit  dem  Satze 
von  lO/o  und  erreichte  bei  der  Vermögensstufe  von  25  oco  £  den 
bisherigen  Einheitssatz  von  40/0,  um  von  da  bis  zu  80 0  des  Ver- 
mögenswerts anzusteigen,  so  daß  "der  veranschlagte  Mehrertrag 
von  I  Million  £  ganz  von  den  23  000  £  übersteigenden  Ver- 
mögensstufen aufgebracht  wurde,  während  die  niederen  sogar 
eine  Erleichterung  erfuhren. 

Genau  wie  bei  der  Nachlaßbesteuerung,  die  wir  wegen  ihrer 
Bedeutung  als  Typus  der  rein  prozentualen  Progression  ausführ- 
licher darstellten,  fand  dieselbe  finanzielle  Grundidee  in  ent- 
sprechender Übertragung  auf  den  wesentlich  verschiedenen 
Organismus  ihre  Verwirklichung  auch  in  der  Einkommen- 
besteuerung. Auch  hier  bildete  den  Ausgangspunkt  die  Ab- 
sicht einer  Ertragserhöhung,  die  jedoch  nur  von  den  höheren 
Einkommensklassen  getragen  werden  sollte:  ,,If  the  Income 
tax  is  to  be  maintained  at  a  high  figure,  we  should  make  some 
attempt  to  adjust  its  pressure  so  as  to  make  it  less  intolerable 


—     loy     — 

to  those  who  are  least  able  to  bear  it"^^).  Während  somit  der 
Normalfuß  von  7  auf  8  d  erhöht  wurde,  erweiterte  der  Finanz- 
minister Harcourt  die  Befreiungsgrenze  auf  160  £  und  ge- 
währte den  Einkommen  zwischen  160  und  400  £  einen  steuer- 
freien Abzug  von  160  £  und  den  Einkommen  zwischen  400  und 
SOG  £  einen  Abzutr  von    100  £. 


Damit    erhielt    das   Abatementsystem   folgende 

Gestalt: 

Einkommens- 
klasse 
£ 

Abatement 
£ 

Versteuerbares 

Einkommen 

£ 

Tatsächlicher 

Steuerfuß 

d 

Steuerfuß 

0 — 160 
161 — 400 

401 — 500 
501   usw. 

160 
100 

I — 240 
301 — 400 
501  usw. 

4,8 
6,4 
8.0 

2 

2,6 
3,3 

So  waren  also  auch  die  Einkommensklassen  unter  500  £ 
von  der  Steuererhöhung  nicht  nur  unberührt  geblieben,  son- 
dern noch  weiter  erleichtert  worden.  Alit  dieser  Ausbildung 
des  Abatementsystems,  das  eine  Zusammenfassung  der  Teil- 
einkommen zu  einem  Gesamteinkommen  voraussetzte,  wurde 
aber  die  Anwendung  des  Grundsatzes,  das  Einkommen  an  seiner 
Quelle  zu  erfassen,  erheblich  beschränkt  und  die  frühere  Ein- 
fachheit des  Erhebungsverfahrens  wesentlich  verringert.  In 
diesem  technischen  Grund  fand  die  Gradation  der  Einkommen- 
steuer eine  Begrenzung,  die  freilich  nicht  theoretisch  festgesetzt 
werden  konnte,  sondern  praktisch  herausgefunden  werden 
mußte. 

Mit  dieser  grundlegenden  Reform  der  beiden  großen 
direkten  Besteuerungsformen  und  der  Durchführung  des  Grada- 
tionsprinzips war  die  Entwicklungsbasis,  auf  der  sich  die  mo- 
derne englische  Finanz  aufbauen  konnte,  geschaffen,  und  es 
bedeutet  dieser  Neuordnung  gegenüber  wenig,  wenn  der  augen- 
blickliche Gesamtbedarf  nicht  dadurch  allein  gedeckt  werden 
konnte,  sondern  auch  einen  Beitrag  der  indirekten  Steuern  er- 
forderte. Zudem  fügte  sich  die  Erhöhung  der  Alkoholsteuern 
durchaus  dem  liberalen  Finanzprogramm  ein,  das  noch  immer 
nicht  auf  ein  Übergewicht  der  direkten  Besteuerung  ausging, 
sondern  auf  der  Voraussetzung  einer  Gleichstellung  der  beiden 


74)  Hansard,   IV,  vol.  23,  col.  500  (Harcourt). 


—     io8     — 

Methoden  berulite  und  insbesondere  die  schärfere  Belastung 
der  entbehrlichen  Cicnußmittel  bis  zur  äußerst  möglichen  Grenze 
als  Forderung  mit  enthielt.  Wesentlich  ist  dabei  nur  die  finan- 
zielle Bedeutung  des  Gradationsprinzips,  das  sich  bei  der  ge- 
gebenen Ausgabensteigerung  früher  oder  später  doch  durch- 
setzen mußte:  ,,You  have  before  you  a  future  of  ever  increasing 
expenditure,  demands  not  only  for  the  Army  and  Navy,  but  for 
every  kind  of  social  reform.  \'ou  will  have  increased  taxation 
and  you  will  find  that  these  vast  fortunes  cannot  refuse  to 
bear  their  share,  proportionate  to  their  ability  to  endure  the 
bürden"''^). 

Der  finanzielle  Erfolg  der  Reform  wird  deutlich,  wenn  wir 
die  Finanzgestaltung  der  nächsten  Jahre  überblicken.  Obwohl 
die  gesamten  Ausgaben  bis  zum  Jahre  1898/99  um  den  be- 
trächtlichen Betrag  von  13,7  Millionen  £.  gegenüber  1894/5  ge- 
stiegen waren,  konnte  doch  der  ganze  Mehrbedarf  ohne  jede 
Steuererhöhung  durch  das  natürliche  Wachstum  der  Ein- 
nahmen aufgebracht  werden,  wobei  sogar  noch  ein  Betrag  von 
etwa  3,3  Millionen  £  durch  Steuerreduktion  aufgegeben  worden 
war.  An  der  Ertragsvermehrung  der  Steuerquellen  von  rund 
1 1  Millionen  £  waren  dabei  die  Nachlaßstcuern  und  die  Ein- 
kommensteuer zusammen  mit  mehr  als  5  Millionen  £,  also  nahezu 
der  Hälfte  beteiligt,  obwohl  für  die  Einkommensteuer  das  Abate- 
mentsystem  im  Budget  von  1898  eine  Erweiterung  erfahren 
hatte.  Diese  Ausdehnung  der  Gradation  war  diesmal  zwar  nicht 
mit  einer  Erhöhung  der  Steuer  verbunden,  trat  aber  doch  an 
die  Stelle  einer  geforderten  Herabsetzung  des  Normalsatzes, 
so  daß  sie  durchaus  der  1894  verfolgten  Politik  entsprach, 
da  der  Ertragsüberschuß  nur  zur  Erleichterung  der  unteren 
Einkommensklassen  verwandt  wurde.  Bis  zur  Einkommensstufe 
von  400  £  wurde  der  bisherige  Abzug  von  160  £  beibehalten, 
für  die  nächste  Stufe  von  400/500  £  dagegen  von  100  auf  i5o£ 
erhöht.  Darüber  hinaus  wurden  zwei  neue  Einkommensstufen 
gebildet,  indem  für  die  Einkommen  von  500/600  £  ein  Abzug 
von  120  £  und  für  die  Einkommen  zwischen  600-  und  700  £  ein 
Abzug  von  70  £  gestattet  wurde,  während  die  volle  Belastung 
erst  für  die  Einkommen  über  700  £  eintrat.  Darnach  gestaltete 
sich  das  ganze  System  nunmehr  folgendermaßen: 


7^)  Plansard,   1\',  vol.  24,  col.  895  (Harcourt). 


—     I09 


Einkommens- 

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— 

701  usw. 

8.0 

3.3 

War  damit  eine  Erweiterung  der  Gradation  auf  höhere 
Einkommensklassen,  deren  Steuerkraft  doch  schon  ziemhch 
groß  war,  gegeben,  so  wurde  durch  diese  Neuordnung  auch 
die  Degression  des  Steuersatzes  vom  Normalfuß  abwärts  weit 
mehr  ausgeglichen,  wenn  auch  die  Sprunghaftigkeit,  die  ihr 
bisher  anhaftete,  nicht  völlig  beseitigt  war '^6).  Ein  Merkmal 
blieb  dabei  allerdings  doch  erhalten:  die  Willkürlichkeit,  die 
in  der  Begrenzung  der  Einkommenstufen  und  in  der  Festsetzung 
des  steuerfreien  Abzugs  lag,  so  daß  für  die  Tendenz  einer  Er- 
weiterung des  Abatementsystems  kaum  eine  natürliche  Beschrän- 
kung gefunden  werden  konnte.  Doch  war  damit  innerhalb  der 
Einkommensteuerorganisation  ein  Moment  erhalten  geblieben, 
das  auf  eine  weitere  Entwicklung  hindrängte  und  gleichzeitig 
die  Richtung  anzeigte,  in  der  diese  vor  sich  gehen  konnte. 

Überblicken  wir  von  hier  aus  noc\  kurz  die  Gesamtvertei- 
lung der  Steuerbelastung,  so  wird  uns  der  Umschwung  deutlich, 
der  durch  die  Einführung  des  Gradationsprinzips  in  die  direkte 
Besteuerung  bewirkt  worden  war.  Während  1875/6  die  direkten 
Steuern  insgesamt  nur  etwas  mehr  als  den  vierten  Teil  des 
Steuerertrags  aufbrachten,  war  im  Jahre  1898/9  ihr  Anteil  auf 
fast  die  Hälfte  (44,20/0)  gestiegen.  Noch  deutlicher  wird  uns 
die  Entwicklung  der  direkten  Steuern,  wenn  wir  uns  vergegen- 
wärtigen, daß  von  der  Ausgabenvermehrung  seit  1875  von  rund 
42  Millionen  £  im  Jahre  1898/9  zwei  Drittel  von  den  direkten 
und  nur  je  ein  Sechstel  von  den  indirekten  Steuern  und  den 
nichtsteuerlichen  Einnahmen  gedeckt  wurden,  so  daß  also  weit- 
.  aus  der  größere  Teil  der  Ausgabenvermehrung  von  den  direkten 
Steuern  getragen  wurde.  So  war  das  Schwergewicht  der  steuer- 
lichen Belastung  in  dem  Zeitraum  von  25  Jahren  immer  mehr 
nach    der    direkten   Besteuerung-    hin    verschoben    worden    und 


76)  Hansard,  IV,  vol.  56,  col.  687. 


—       1  lO      — 

die  Gestaltung  des  Finanzsystems  völlig  verändert  worden. 
Diese  Entwicklung  war  aber  noch  keineswegs  abgeschlossen 
sondern  wurde  in  den  nächsten  Jahren  unter  der  Einwirkung 
des  südafrikanischen  Kriegs  über  den  1899  erreichten  Stand 
so  hinausgetrieben,  daß  die  direkte  Besteuerung  nunmehr  zur 
Grundlage  des  Systems   wurde. 

§  16. 

Der    moderne    Bedarf     und    die    Lösung    der    Ein- 
komm e  n  s  t  e  u  e  rf  r  a  g  e. 

Der  Umwandlungsprozeß,  der   1866  einsetzte  und  bis  zum 
Jahre  1898/9  dem  Ertrag  nach  fast  zu  einer  Gleichstellung  der 
direkten  mit  der  indirekten  Besteuerung  führte,  stand  im  eng- 
sten   Zusammenhang    mit    der    Bedarfsentwicklung.     Die    Ver- 
schiebung in  dem  Verhältnis,   das  zwischen  den  Erträgen  der 
beiden  Besteuerungsmethoden  bestand,  war  nicht  dadurch  be- 
wirkt  worden,   daß   die  direkten  Steuern  an  die   Stelle  der  in- 
direkten  gesetzt    worden    waren,    sondern  dadurch,    daß    ihnen 
in  stärkerem  Maße,  als  es  bei  den  indirekten  Steuern  der  Fall 
war,    die    Bedarfsvermehrung    aufgebürdet    worden    war.      Die 
Verbrauchsbesteuerung  erfuhr   während   des   ganzen  Zeitraums 
nur    eine    geringe    Ausdehnung,    während    die    beiden    großen 
Zweige  des  direkten  Systems,  die  Nachlaßsteuern  und  die  Ein- 
kommensteuer,   zusammen    über    60  0/0    der    gesamten    Bedarfs- 
vermehrung deckten  und  von  den  Mehreinnahmen  aus  Steuer- 
quellen 72,60/0  aufbrachten.     Von  hier  aus  aber  wird  uns  auch 
die  finanzielle  Bedeutung  des  Gradationsprinzips  allererst  deut- 
lich, wenn  wir  bedenken,  daß  die  unteren  von  der  Einkommen- 
steuer    und    von    den    Nachlaßsteuern    erfaßten    Einkommens- 
und   Vermögensklassen    nur    eine    geringe    Mehrbelastung     er- 
fahren  hatten,    während   fast    der   gesamte    Mehrertrag    dieser 
beiden  Einnahmequellen  durch  schärfere  Belastung  der  leistungs- 
fähigeren Oberschichten  gewonnen  worden  war.     Um  die  Um- 
wandlung  in   der   Ertragsgestaltung   der  Einnahmezweige   seit 
1875  zu  veranschaulichen,  folgt  hier  die  Tabelle  9.    Die  nächste 
Tabelle  10  zeigt  dagegen,  wie  in  diesem  Zeitraum  die  jeweilige 
Bedarfsvermehrung    durch    die    verschiedenen   Einnahmearten 
Deckung  gefunden  hat. 


—     III     — 


Auf  diese  Finanzent- 
wicklung wirkte  nun 
aber  seit  dem  Jahre 
1899  ein  äußeres  Er- 
eignis ein,  durch  wel- 
ches die  ohnehin 
starke  Bedarfsvermeh- 
rung noch  weiter  an- 
getrieben     und      das 

Deckungsproblem 
aufs  neue  in  den  Vor- 
dergrund der  finanz- 
politischen Erwägun- 
gen gerückt  wurde. 
Dieses  Ereignis  war 
der  südafrikanische 
Krieg,  dessen  außer- 
gewöhnlicher Verlauf 
nicht  nur  eine  außer- 
gewöhnliche Bedarfs- 
steigerung während 
des  Kriegs  verur- 
sachte, sondern  auch 
nach  seiner  Beendi- 
gung einen  derartig 
hohen  Stand  der  dau- 
ernden Ausgaben  zu- 
rückließ, daß  von  den 
Einnahmen,  die  wäh- 
rend   des    Kriegs    zur 

Bedarfsdeckung  er- 
schlossen worden  wa- 
ren, nur  ein  kleiner 
Teil,  und  auch  dieser 
nur  vorübergehend, 
wieder  entbehrt  wer- 
den konnte.  Es  war 
zwar  bisher  stets  eine 
Wirkung  eines  jeden 
Kriegs   gewesen,   daß 


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-      I  1 3      — 

sich  die  Ausgaben  nach  dem  Krieg  nicht  mehr  auf  ihren  früheren 
Stand  hatten  zuri-ickführen  lassen.  Immerhin  aber  war  es  doch 
bisher  möghch  gewesen,  den  größten  Teil  der  während  des 
Kriegs  erhöhten  Steuern  nach  dem  Friedensschluß  wieder  herab- 
zusetzen. Das  erwies  sich  nach  dem  südafrikanischen  Krieg 
jedoch  als  unmöglich,  da  die  Gesamtausgaben  nur  um  den  Be- 
trag vermindert  werden  konnten,  der  während  des  Kriegs  durch 
Anleihen  Deckung  gefunden  hatte,  so  daß  also  eine  Herab- 
setzung der  Kriegssteuern  nicht  durchgeführt  werden  konnte, 
wenn  der  Grundsatz  eines  ausgeglichenen  Budgets  aufrecht 
erhalten  werden  sollte.  Aus  dieser  eigentümlichen  Nachwir- 
kung des  südafrikanischen  Kriegs  aber  ergeben  sich  zwei  Fragen, 
deren  Beantwortung  für  die  Gestahung  der  Finanzentwicklung 
der  folgenden  Jahre  von  Bedeutung  ist.  Die  eine  Frage  richtet 
sich  auf  die  Ursachen  der  außergewöhnlichen  Bedarfssteigerung, 
wie  sie  während  des  Kriegs  hervorzutreten  begann,  und  die 
andere  auf  die  Art  und  Weise,  wie  dieser  vermehrte  Bedarf 
während  des  Kriegs  seine  Deckung  gefunden  hatte. 

Hierbei  darf  nun  nicht  übersehen  werden,  daß  nur  ein  Teil 
der  Ausgabevermehrung  als  eine  direkte  Folge  des  Kriegs 
betrachtet  werden  kann,  daß  vielmehr  während  seines  Verlaufs 
Entwicklungstendenzen  sich  bemerkbar  machten,  die  unab- 
hängig von  den  durch  den  Krieg  hervorgerufenen  Ausgaben  zu 
einer  Steigerung  des  dauernden  Bedarfs  führten.  Außer  acht 
lassen  können  wir  hierbei  die  Ausgabevermehrung  der  Post- 
verwaltung, die  durch  die  Ausdehnung  des  staatlichen  Paket- 
postverkehrs, durch  die  Verstaatlichung  des  Telegraphenver- 
kehrs und  durch  die  Übernahme  des  Fernsprechverkehrs  ver- 
ursacht wird,  da  diese  durch  entsprechende  Einnahmesteige- 
rung wieder  ausgeglichen  wird.  Auch  die  Erhöhung  der  Schul- 
denlast, die  durch  die  Schuldenvermehrung  während  des  süd- 
afrikanischen Kriegs  bewirkt  worden  war,  fällt  nur  teilweise  ins 
Gewicht,  da  sie  durch  eine  Herabsetzung  der  Tilgungsquote 
(des  New  Sinking  Fund)  vermindert  wurde ^7).     Wesentlich  auf 

")  Der  New  Sinking  Fund  stellt  die  Differenz  dar  zwischen  der  für 
den  Schuldentitel  festgesetzten  Gesamtsumme  und  den  tatsächhch  durch  die 
Schuldenverwaltung  und  Verzinsung  verursachten  Ausgaben.  So  betrug 
für  das  Rechnungsjahr  1911/12  der  Etat  der  Schuldenverwaltung  24,5  Mil- 
lionen £,  von  denen  aber  nur  20,053  Millionen  £  für  Verwaltung  und  Ver- 
zinsung verausgabt  wurden.  Die  Differenz  von  4,447  Millionen  £  stellt 
Zeitschrift  für  die  ges.  Staatswissensch.     Ergänzungsheft  48.  8 


-       I  14 

den  südafrikanisclu-ii  Kricj^  zurück/uführcn  isi  die  dauernde 
Erhöhung  des  Heeresetats,  doch  ist  gerade  diese  keineswegs 
ungewöhnHch  zu  nennen.  Nach  dem  Krieg  konnten  die  Aus- 
gaben der  Heeresverwahung  soweit  reduziert  werden,  daß  sie 
1908/9  nur  7  MiUioncn  C  höher  waren  als  vor  dem  Ausbruch  des 
Kriegs.  Seit  diesem  Jahr  begimien  sie  zwar  wieder  infolge  der 
allgemeinen  Soldcrhöhungen  etwas  zu  steigen,  doch  nicht  so  er- 
heblich, daß  daraus  allein  der  Umfang  der  modernen  Bedarfs- 
entwicklung erklärt  werden  könnte.  Diese  geht  vielmehr  fast 
ausschließlich  auf  die  beiden  Etatposten  der  Marine  und  der 
imieren  Verwaltung  zurück.  Die  Steigerung  der  Flottenaus- 
gaben begann  etwa  seit  dem  Jahr  1895  mit  dem  Bau  der  großen 
Schlachtschiffe,  nahm  aber  ihren  außerordentlichen  Umfang  erst 
seit  1904  an,  als  mit  dem  Bau  des  Dreadnoughttyps  die  moderne 
Entwicklungsphase  der  Großkampfschiffe  allererst  eingeleitet 
wurde.  So  schwoll  der  Bedarf  der  Marineverwaltung  in  den 
letzten  Jahren  mit  einer  Geschwindigkeit  an,  die  keine  Grenzen 
zu  kennen  scheint.  Während  hier  die  Sicherung  der  englischen 
Großmachtstellung  die  Veranlassung  der  Bedarfserhöhung 
bildet,  erwachsen  andererseits  aus  der  Durchführung  der  großen 
sozialen  Aufgaben  des  Staats,  der  Alters-,  Invaliden-  und  Kran- 
kenversicherung neue  Ausgaben,  die  neben  ihrer  ungewöhn- 
lichen Höhe  mit  den  Flottenausgaben  noch  das  gemeinsam 
haben,  daß  sie  keinen  Höhepunkt,  sondern  einen  Anfang  be- 
deuten, dessen  weitere  Entwicklung  anmöglich  vorausgesehen 
oder  gar  berechnet  werden  kann.  Wie  gewaltig  die  Ausgaben- 
steigerung unter  diesen  beiden  Etatposten  ist,  geht  aus  der 
folgenden  Zusammenstellung  hervor. 

Die  Ausgaben  für  die  Flotte  betrugen  nämlich: 

1894/5  I7Ö45  Millionen  £ 

1898/9  24,068         ,,  ,, 

1908/9  32,188 

191 2/13  (Budget)       44,085 
Die   Ausgaben   für   Civil   Services   betrugen: 

1898/9  22,025  Millionen  £ 

1908/9  32,338 

19 12/13  (Budget)      49,800 


den  New  Sinking  Fund  dar,  der  zur  Schuldentilgung  dient.     Durch  Herab- 
setzung der  Gesamtsumme  wird  natürlich  die  Tilgungsquote  verringert. 


—     115     — 

In  beiden  Zweigen  fällt  nun  der  erste  Teil  der  Ausgaben- 
steigerung zeitlich  mit  dem  südafrikanischen  Krieg  zusammen 
und  wurde  darum  in  ihrer  tatsächlichen  Größe  durch  die  Ge- 
samtbedarfsvermehrimg  während  des  Kriegs  verdeckt,  trat  aber 
dann  nachher,  als  die  eigentlichen  Kriegsausgaben  wegfielen, 
umso  schroffer  hervor.  Hier  aber  wird  nun  erst  die  finanzielle 
Bedeutung  des  Burenkriegs  ersichtlich.  Diese  liegt  weniger 
in  einer  Vermehrung  des  dauernden  Bedarfs,  als  darin,  daß 
während  seiner  Dauer  die  Einnahmen  ausgebildet  worden  waren, 
die  nach  der  Beendigung  des  Kriegs  zur  Deckung  des  aus  den 
oben  erwähnten  Ursachen  heraus  dauernd  gesteigerten  Bedarfs 
bereitgestellt  werden  konnten. 

Die  Einnahmevermehrung  während  des  südafrikanischen 
Kriegs  war  jedoch  nicht  nur  in  der  Absicht,  einen  zeitweiligen 
Kriegsbedarf  zu  decken,  erfolgt,  sondern  ging  zu  einem  guten 
Teil  aus  der  klaren  Erkenntnis  der  dauernd  wirkenden  Ursachen 
hervor.  Damit  aber  erhielt  das  dem  lawinenartig  anschwellen- 
den Bedarf  gegenüber  dringlich  gewordene,  Deckungsproblem 
die  besondere  Gestaltung,  daß  nicht  nur  für  den  augenblick- 
lichen Kriegsbedarf  die  Mittel  aufgebracht  werden  mußten, 
sondern  auch  für  den  Teil  der  Ausgaben,  der  sich  als  dauernde 
Vermehrung  darstellte,  daß  es  sich  hierbei  also  nicht  nur  um  die 
Erschließung  zeitweiliger,  sondern  auch  dauernder  Einnahmen 
handelte,  wobei  die  Höhe  des  durch  neue  Steuern  aufzubringen- 
den Ertrags  die  Absicht  sehr  nahe  legen  mußte,  damit  eine 
gänzliche  Umgestaltung  des  Besteuerungssystems  zu  verbinden. 
So  hing  das  Deckungsproblem  von  der  Gestaltung  des  Steuer- 
systems ab,  und  hier  konnte  der  Umstand  nicht  übersehen 
werden,  daß  sowohl  die  indirekte  als  auch  die  direkte  Besteue- 
rung auf  einen  Höhepunkt  gekommen  war,  der  innerhalb  des 
bestehenden  Systems  die  Möglichkeit  vermehrter  Ertragsgewin- 
nung nahezu  auszuschließen  schien,  so  daß  damit  wieder  die 
Forderung  einer  Erweiterung  der  Besteuerungsmöglichkeiten 
gestellt  war.  Soweit  die  indirekten  Steuern  in  Frage  kamen,  war 
eine  solche  Möglichkeit  nur  in  der  Weise  gegeben,  daß  die 
Zahl  der  steuerpflichtigen  Objekte  vermehrt  oder,  wie  das 
parteipolitische  Schlagwort  lautete,  ,,the  basis  of  taxation"  er- 
weitert wurde,  während  eine  Erhöhung  der  bestehenden  in- 
direkten Steuern  einen  nennenswerten  Mehrertrag  kaum  mehr 
erwarten  ließ.     Für  die  direkte  Besteuerung  bestand  die  Mög- 


ii6     — 


lichkcil  ciiR-r  i:nrag>vrrnicliri.nK  aulAer  in  ciiu-r  cinlariRMi  l.r- 
höhung  der  Steuersätze  nur  in  d.r  Weise,  daß  der  (irundsatz 
der  Gradation  noch  weiter  als  bisher  ausgedelint,  oder  aber 
daß  ganz  neue  Steucrobjekte,  die  bisher  von  keiner  der  direkten 
Besteuerungsformen  getroffen  wurden,   erschlossen   wurden. 

Im  ersten  Kriegsbudget  (1900«,  das  noch  auf  der  Voraus- 
setzung beruhte,  daß  der  entstandene  Mehrbedarf  überwiegend 
nur    dem    Krieg    zuzuschreiben    sei,    wurde    eine    über    das    be- 
stehende System  hinausgehende  Erweiterung  der  Besteuerungs- 
möghchkeiten  nach  beiden  Richtungen  hin  abgelehnt'«).     Von 
den    verfügbaren    Stcuerquellen    mußte    aber   die    Emkommen- 
steuer    ihre    Taughchkeit    als    „Kriegssteuer"    trotz    des    hohen 
Satzes  von  8  d  um  so  mehr  erweisen,  als  durch  eine  Erhöhung 
der   Steuer   um  4  d   fast   der   doppelte   Mehrertrag   erzielt   wer- 
den konnte,  als  zur  Zeit  des  Krimkriegs  durch  eine  Erhöhung 
um    7  d.      So    wurde    die    Einkommensteuer    durch    Erhöhung 
auf  I  sh  zur  Grundlage  der  Ertragsvermehrung  gemacht,  wäh- 
rend  von   den   indirekten   Steuern   die  beiden   Gruppen  Tabak 
und  Alkohol,  aber  auch  Tee  einer  erheblichen  Steuererhöhung 
unterworfen  wurden.   Wie  aber  im  weiteren  Verlauf  des  Kriegs 
die    Tatsache    hervortrat,    daß     die     so    gewonnenen    Mehrem- 
nahmen    nicht    ausreichten,    um    die    vom    Krieg    unabhängige 
dauernde   Bedarfsvermehrung   zu   decken,    war   die   Notwendig- 
keit   einer    Erweiterung    der    Besteuerungsmöglichkeiten    kaum 
länger  zu  umgehen,   und  die  Konservativen  benutzten   die  Ge- 
legenheit, wenn  auch  nur  zögernd  und  widerstrebend,  den  Be- 
reich der  indirekten  Steuern  dadurch  zu  erweitern,  daß  sie  den 
von  Northcote   1874  aufgehobenen  Zuckerzoll,  den  Kohlen- 
exportzoll (i 901)  und  die  Kornzülle  (1902)  wieder  einführten '9). 
Doch  wurde  auch  die  Einkommensteuer  in  diesen  Jahren  weiter 
auf    14  d    (1901)    und    auf    15  d    (1902)    erhöht,    da   der   durch 
die  indirekten  Steuern  erzielte  Mehrertrag  trotz  der  Vermehrung 
der  Zahl  der  Objekte  nicht  zur  Bedarfsdeckung  ausreichte. 

Die  finanzielle  Umwandlung,  die  sich  während  der  Kriegs- 
jahre vollzogen  hatte,  wird  in  dem  ersten  Budget  nach  dem 
Friedensschluß  (1903)  ersichtlich.  Nach  diesem  betrug  die  Er- 
höhung des  dauernden  Bedarfs  rund  26  Millionen  £,  während 

78)  Hansard,    W,    vol.    80,    col.   68   (Hicks-Bcach). 

79)  Hansard,  I\',  vol.  92,  col.  624ff. 


—     117     — 

zur  Deckung  des  Mehrbedarfs  der  jährliche  Steuerertrag  um 
rund  36  AliUionen  erhöht  worden  war,  wovon  auf  die  Ein- 
kommensteuer allein  über  17  Millionen  £,  auf  die  neuein- 
geführten Steuern  etwa  1 1  Millionen  £  und  auf  die  übrigen 
erhöhten  Steuern  8  Millionen  £  entfielen.  Nach  diesem  Vor- 
anschlag wurden  demnach  Einnahmen  im  Betrage  von  10  Mil- 
lionen £  entbehrlich,  die  in  erster  Linie  zu  einer  Herabsetzung 
der  Einkommensteuer  auf  1 1  d  und  zur  Aufhebung  der  Korn- 
zölle, die  von  den  neuen  Steuern  am  meisten  angegriffen  worden 
waren,  verwendet  wurden.  Da  aber  die  tatsächlichen  Ausgaben 
des  Jahres  den  Voranschlag  erheblich  überschritten,  so  erwies 
sich  die  Reduktion  der  Einkommensteuer  als  verfrüht,  indem  sie 
im  nächsten  Jahre  wieder  auf  den  Satz  von  12  d  hinaufgesetzt 
werden  mußte,  und  auch  die  indirekten  Steuern  wieder  eine  Er- 
höhung erfuhren. 

Damit  aber  wird  die  Finanzgestaltung  in  ihren  Ergebnissen, 
die  sich  während  der  Kriegsjahre  herausgebildet  hatten,  erst 
recht  deutlich.  Die  dauernde  Erhöhung  des  Bedarfs  hatte 
nicht  nur  eine  erhebliche  Erhöhung  der  indirekten  Steuern 
notwendig  gemacht,  sondern  auch  zu  einer  Erweiterung  der 
Steuerobjekte  (Ausfuhrkohle  und  Zucker)  geführt.  Anderer- 
seits aber,  und  das  ist  für  uns  das  wichtigste  Ergebnis,  war 
die  Einkommensteuer  auf  eine  Höhe  getrieben  worden,  wne 
sie  bisher  in  einer  Friedenszeit  nie  erreicht  worden  war,  und 
dabei  wiir  nach  dem  ganzen  Stand  der  Finanzen  eine  Herab- 
setzung der  Steuer  selbst  bei  gleichbleibenden  Ausgaben 
nicht  zu  erwarten.  Wenn  auch  infolge  der  Ausdehnung  der 
indirekten  Steuern  der  Anteil  der  direkten  am  Gesamtertrag 
zurückgegangen  war,  so  hatte  doch  die  Bedeutung  und  Stellung 
der  Einkommensteuer  innerhalb  des  Systems  eine  völlige  Um- 
gestaltung erfahren,  wie  aus  den  beiden  Tabellen  9  und  10  her- 
vorgeht, x-lus  einem  ausgleichenden  Faktor  war  sie  in  diesen 
Jahren  zu  einem  der  hauptsächlichsten  Glieder  des  Besteue- 
rungssystems geworden,  von  dem  die  Deckung  des  fünften  Teils 
des  gesamten   Staatsbedarfs   abhing. 

Damit  aber  drängten  alle  Probleme  der  Einkommen- 
steuerorganisation und  ihrer  technischen  Wirkungsweise  schon 
während  des  Kriegs,  besonders  aber  nach  seiner  Beendigung 
wieder  mit  neuer  Heftigkeit  hervor.  Es  war  zwar  nicht  zu  ver- 
kennen,  daß   die  einzigartige   Ertragsfähigkeit  nicht  allein  auf 


1  1 8       - 

tlrr  Lc'isiungsfähigkcii  des  crfabit-n  Ol)jfkts.  sondern  zu  einem 
guten  Teil  auf  der  besonderen  Art  beruhte,  wie  die  Einkommen- 
steuerorganisation  dieses  Objekt  zu  erfassen  imstande  war,  ohne 
dabei  dem  Steuerzahler  so  unmittelbar  und  mit  allen  Härten 
fühlbar  zu  werden,  wie  es  sonst  bei  der  direkten  Besteuerung 
zu  sein  pflegt.  Andererseits  aber  konnte  man  sich  doch  auch 
wieder  der  Einsicht  nicht  verschließen,  dafi  eben  diese  Organi- 
sationsform in  der  ununterschicdenen  Art,  wie  sie  ohne  Berück- 
sichtigung persönlicher  Momente  das  Einkommen  rein  als  Objekt 
seinen  jeweiligen  Teilbeträgen  nach  erfaßte,  Härten  und  Un- 
gerechtigkeiten in  sich  trug,  die  sich  bei  einer  zeitweiligen  Steuer 
ertragen  ließen,  bei  einer  dauernden  Steuer  aber  die  Gefahr 
einer  Beeinträchtigung  des  Ertrags  befürchten  ließen.  Im 
Gradationsprinzip  war  die  Berücksichtigung  der  objektiven 
Leistungsfähigkeit,  die  an  der  Einkommensgröße  gemessen 
wurde,  bereits  erfolgt,  während  die  subjektive  Leistungsfähig- 
keit, die  von  der  wirtschaftlichen  Lage  des  Einkommensteuer- 
zahlers und  den  besonderen  Bedingungen  abhing,  unter  denen 
das  steuerpflichtige  Einkommen  erworben  wurde,  unberück- 
sichtigt geblieben  war.  Sobald  aber  die  Steuer  ihren  zeit- 
weiligen Charakter  zu  verlieren  begann,  trat  die  Forderung,  das 
Prinzip  der  Leistungsfähigkeit  in  der  Einkommensteuerorgani- 
sation zu  einheitlicher  Durchführung  zu  bringen,  immer  dring- 
hcher  hervor.  Das  war  schon  1853  der  Fall  gewesen  und  seit 
1875,  als  die  Beibehaltung  der  Steuer  tatsächlich  entschieden 
war,  wurde  die  Forderung  bei  jeder  Gelegenheit  wiederholt.  Seit 
aber  die  Einkommensteuer  als  dauerndes  und  unentbehrliches 
Glied  des  Besteuerungssystems  auch  für  den  gewöhnlichen 
Finanzbedarf  anerkannt  war,  wurde  die  Durchführung  der  lange 
hinausgeschobenen  Reform  zu  einem  finanziellen  Bedürfnis,  von 
dessen  Befriedigung  die  weitere  Wirksamkeit  und  Ertragsfähig- 
keit der  Steuer  abhing.  Damit  trat  neben  das  Prinzip  der 
Gradation  der  Steuerleistung  nach  dem  in  der  E  i  n  - 
kommensgrößc  gegebenen  Merkmal  der  Leistungsfähig- 
keit das  Prinzip  der  Differentiation  der  Steuerbe- 
lastung nach  der  durch  die  Einkommensart  bestimmten 
Leistungsfähigkeit,  die  bei  den  beiden  Hauptarten  des  fun- 
dierten und  unfundierten  oder  des  Arbeitseinkommens  und  des 
Renteneinkommens  wesentlich  verschieden  war.  Mit  der  Durch- 
führung dieser  Reform  wurde  die  Einkommensteuerorganisation 


—     119     — 

ihrer  tatsächlichen  Funktion,  die  leistungsfähigen  \^ermögen 
und  Einkommen  über  die  Konsumtionsbesteuerung  hinaus  im 
Verhältnis  zur  Steuerkraft  heranzuziehen,  allererst  angepaßt  und 
eine  Ungerechtigkeit  beseitigt,  die  sich  bei  einer  Steuer  mit 
dem  Ertrag  der  Einkommensteuer  auch  nicht  mehr  aus  finan- 
ziellen Rücksichten,  die  früher  ausschlaggebend  sein  mochten, 
verteidigen  ließ. 

Die  Möglichkeit,  diese  Einkommensteuerreform  durchzu- 
führen, wurde  freilich  durch  den  Umstand  beschränkt,  daß  sie 
verhältnismäßig  kostspielig  war  und  zeitweilig  einen  merkbaren 
Ertragsausfall  zur  Folge  haben  mußte.  Diese  Schwierigkeit 
wurde  dadurch  aufgehoben,  daß  seit  1905  in  der  Finanzlage 
eine  Besserung  eingetreten  war,  die  für  1907/8  einen  erheb- 
lichen budgetmäßigen  Ertragsüberschuß,  der  zur  Durchführung 
der  Reform  verwendet  werden  konnte,  hervorbrachte.  So  be- 
stand für  das  in  Finanzfragen  radikal  gerichtete  neue  liberale 
Ministerium,  das  1906  die  Konservativen  abgelöst  hatte,  kein 
Hinderungsgrund  mehr,  die  langgeforderte  Reform  endlich  zur 
Durchführung  zu  bringen.  Vorbereitet  wurde  diese  durch  eine 
parlamentarische  Untersuchungskommission,  die  sich  nach  ein- 
gehender Prüfung  der  ihr  vorgelegten  Frage  für  die  Durch- 
führbarkeit  der   Differentiation  aussprach. 

In  dem  Budget  für  1907/8  brachte  der  Finanzminister 
A  s  q  u  i  t  h  die  Vorlage  zur  Differentiation  der  Arbeits-  und 
Renteneinkommen  ein,  wobei  er  von  der  Doppelnatur  der  Ein- 
kommensteuer, die  sowohl  eine  Vermögenssteuer  nach  dem  Ein- 
kommensmerkmal als  auch  eine  reine  Einkommensteuer  sei. 
ausging.  Indem  er  die  Einkommensteuer  ausdrücklich  als  dauern- 
des Glied  des  staatlichen  Besteuerungssystems  anerkannte,  be- 
tonte er  auch  die  Notwendigkeit  einer  Steuerreform  ,,to  remove 
the  anomaly  and  to  arrive  at  some  scheme,  without  destroying 
the  essential  features  or  the  productive  character  of  the  tax, 
which  differentiates  incomes,  not  only  as  to  the  amount  but 
also  as  to  the  source  whence  they  are  derived  and  the  con- 
ditions  under  which  they  are  enjoyed"  80).  Durchgeführt  wurde 
die  Differentiation  in  der  Weise,  daß  für  Arbeitseinkommen 
ein  besonderer  Steuersatz  von  9  d  eingeführt  wurde,  der  aber 
nur  dann  zur  Anwendung  kam,  wenn  das  jährliche  Gesamtein- 


80)  Hansard,  IV,  vol.   172,  col.  1202. 


I  20       — 

koinincn  aus  allen  i^)iu'llen  den  lictrag  von  2000  .C  nicht  über- 
stieg. Die  Ditterontiation  war  von  den  Ijishcr  gewährten  Ver- 
günstigungen NÖUig  unabhängig  und  trat  neben  diesen  ein. 
Der  Ertragsausfall,  den  die  Differentiation  bewirkte,  wurde  auf 
1,23  Millionen  AI  veranschlagt.  Der  tatsächliche  Erfolg  der 
Reform,  wie  er  am  Ende  des  Jahres  im  Jünkommensteuerertrag 
hcr\'ortrat,  war  selbst  für  die  eifrigsten  l:k'fürworter  der  Diffe- 
rentiation überraschend,  indem  die  Einkommensteuer  am  Schluß 
des  Jahres  nicht  nur  keinen  Ertragsausfall  aufwies,  sondern 
sogar  den  Ertrag  des  Vorjahrs  überstieg:  ,,The  mere  offer  of 
the  lower  rate  of  tax  has  sufficed  to  increase  the  amount  of 
incomc  submitted.  Thus  I  may  say,  that  differentiation  has 
worked  not  only  a  financial  but  moral  reform"  ^i).  Es  war 
zwar  nicht  die  Differentiation  als  solche,  durch  die  dieses  sonder- 
bare Resultat  bewirkt  worden  war,  sondern  die  mit  ihr  verbun- 
dene Deklarationspflicht,  durch  welche  ein  beträchtlicher  Mehr- 
betrag steuerpflichtigen  Einkommens  offenbart  wurde.  Wäh- 
rend so  mit  der  Durchführung  der  Differentiation  keine  Er- 
tragsverminderung entstanden  war,  war  andererseits  doch  die 
Steuerorganisation  von  ihrem  erheblichsten  Mangel  befreit  und 
für  ihre  endgültige  Aufgabe,  die  Grundlage  des  Besteuerungs- 
systems abzugeben,  vorbereitet  worden. 

Hatte  die  Reform  von  1907  weniger  finanzielle  als  steuer- 
technische Bedeutung,  so  war  das  Budget  von  1909  wiedenmi 
ganz  von  dem  Deckungsproblem  beherrscht,  indem  es  einem 
veranschlagten  Fehlbetrag  von  rund  lö'/o  Millionen  £  und 
einem  mit  unheimlicher  Geschwindigkeit  anwachsenden  Bedarf 
gegenüber  nur  durch  eine  grundlegende  und  tiefgreifende  Re- 
form des  Besteuerungssystems  die  Lösung  des  Problems  be- 
wirken konnte.  Durch  das  Flottenprogramm,  das  den  Bau  von 
8  Dreadnoughts  vorsah,  und  durch  das  soziale  Programm,  das 
die  Durchfülirung  der  Altersrenten-,  der  Arbeitslosen-  und  der 
Kranken-  und  Invaliditätsversicherung  enthielt,  war  die  Fort- 
entwicklung des  Bedarfs  für  die  nächsten  Jahre  loereits  vor- 
ausbestimmt, so  daß  sich  an  das  Budget  von  1909  nicht  nur 
die  Anforderung  einer  augenblicklichen  Bedarfsdeckung,  son- 
dern auch  die  weitergehende  Forderung  ergab,  für  den  zukünf- 
tigen Bedarf  die  Dcckungsmittel  bereit  zu  stellen.     Daraus  er- 


;.)  llansard,  I\',  vol.   18S,  col.  451. 


—       121       — 

gaben  sich  die  beiden  Grundsätze,  die  der  Finanzminister  Lloyd 
George   seinem  Besteuerungsplan   unterlegte: 

1.  genügende  Ertragsfähiglceit  der  neuen  Steuern,  um  die 
Deckung  des  augenblicklichen  Bedarfs  sicherzustellen; 

2.  Entwicklungsfähigkeit  der  neuen  Steuern,  imi  die 
Deckung  des  vorauszusehenden  stark  anwachsenden  zu- 
künftigen Bedarfs  zu  ermöglichen. 

Darnach  zerfiel  das  Plnanzproblem  in  zwei  Teile,  deren  erster 
eine  Umgestaltung  der  bestehenden  Steuern  zur  Aufgabe  hatte, 
um  die  Deckung  des  augenblicklichen  F'ehlbetrags  zu  ermög- 
lichen, deren  zweiter  aber  eine  Erweiterung  der  Besteuerungs- 
möglichkeiten suchen  mußte,  um  die  ^Mittel  zu  einer  Deckung 
des  kommenden  Bedarfs  zu  gewinnen.  Beide  Teilfragen  aber 
wurden  in  ihrer  Lösung  dadurch  bestimmt,  daß  die  liberale 
Finanzpolitik,  der  die  Lösung  dieser  Fragen  in  die  Hand  ge- 
geben war,  in  direkter  Opposition  zur  konservativen  Politik 
ihren  freihändlerischen  Charakter  nachdrücklich  betonte.  Aus 
diesem  Grunde  war  1906  der  Kohlenausfuhrzoll,  der  sich  immer- 
hin zu  einer  ertragreichen  Einnahmequelle  entwickelt  hatte, 
aufgegeben  worden,  und  aus  demselben  Grund  konnte  die  in- 
direkte Besteuerung  zu  einer  Einnahmenvermehrung  nur  so- 
weit in  Betracht  kommen,  als  die  vorhandenen  Steuerobjekte 
noch  einer  weiteren  Belastung  fähig  waren,  wobei  aber  die 
beiden  Artikel  Zucker  und  Tee  ausschieden,  da  sie  als  unent- 
behrliche Konsumartikel  mit  dem  liberalen  Besteuerungsplan 
nicht  grundsätzlich  übereinstimmten  und  darum  1906  und  19c 8 
wesentliche  Erleichterung  erfahren  hatten.  So  waren  es  nur 
die  Tabak-  und  Alkoholgruppen,  die  für  eine  Mehrbelastung 
überhaupt  verfügbar  waren,  aber  ihrer  hohen  Gesamtbelastung 
wegen,  die  ein  Wachstum  des  Ertrags  auszuschließen  schien, 
nur  für  die  Deckung  des  augenblicklichen  Bedarfs  in  Betracht 
kommen  konnten. 

Konnte  so  aus  der  indirekten  Besteuerung  durch  eine  Er- 
höhung der  Tabakzölle  und  Brennsteuern,  durch  Einführung 
der  Motorspiritussteuern  und  durch  die  Neugestaltung  des 
Schank-Lizenzsystems  nur  ein  Teil  des  augenblicklichen  Fehl- 
betrags gedeckt  werden,  so  kam  die  zweite  Maßnahme  des 
Budgets  ausschließlich  für  die  Sicherstellung  einer  zukünftigen 
Bedarfsdeckung  in  Betracht,  da  die  neuen  .Landwertsteuern, 
die  als  Erweiterung  des   direkten  Systems   eingeführt  wurden, 


—       122      — 

erst  für  die  Zykunft  ihrem  lCrtra}2:c  narh  von  Bedeutung  wer- 
den konnten.  Da  die  Landwertbesteuerung  (Wertzuwachssteuer, 
Heimfallsteuer  und  Landentwicklungssteuer)  auf  der  Voraus- 
setzung einer  vollständigen  Katastrierung  des  Grundbesitzes  be- 
ruhte, die  bis  dahin  in  England  noch  nicht  unternommen  worden 
war.  so  mußte  ihr  Ertrag  so  lange  unbedeutend  bleiben,  als 
die  Voraussetzung  der  Katastrierung  fehlte  und  eine  rück- 
wirkende Kraft  deshalb  unmöglich  wurde.  So  lange  aber  die 
Katastrierung  in  England  noch  unvollendet  ist  (sie  soll  191 4  ab- 
geschlossen werden),  ist  es  nicht  möglich,  über  die  Entwick- 
lungsfähigkeit dieser  Steuern  ein  Urteil  zu  bilden,  wenn  auch 
gerade  durch  die  Wertzuwachssteuer  eine  der  Besteuerung  bis- 
her entgangene,  aber  äußerst  leistungsfähige  Form  der  Ver- 
mögensgewinnung faßbar  geworden  ist. 

War  so  weder  durch  eine  Erhöhung  der  indirekten  Steuern, 
noch  durch  eine  Erweiterung  des  Besteuerungssystems  durch 
neue  Steuern  das  Deckungsproblem  in  seinen  beiden  Grund- 
zügen gelöst  worden,  so  blieb  kein  anderer  Ausweg,  als  die 
beiden  großen  Formen  der  direkten  Besteuerung,  Nachlaß-  und 
Einkommensteuern,  wiederum  zur  Grundlage  des  Reformbudgets 
zu  machen.  Der  hohe  Satz  der  Einkommensteuer  von  i  sh 
(=  500)  ließ  es  freilich  bedenklich  erscheinen,  diese  Steuer  noch 
weiter  zu  erhöhen  und  dadurch  ihre  Tauglichkeit,  in  Zeiten 
außerordentlicher  Anforderungen  hohe  Erträge  zur  Verfügung 
zu  stellen,  zu  beschränken.  Diesem  Bedenken  aber  konnte  durch 
den  Hinweis  auf  die  mächtige  Vermehrung  des  steuerbaren  Ge- 
samteinkommens und  auf  die  Zunahme  der  Steuerkraft  begegnet 
werden,  so  daß  trotz  der  Erhöhung  der  Steuer  auf  14  d  ihre 
Fähigkeit,  darüber  hinaus  im  Bedarfsfall  gesteigert  zu  werden, 
nicht  aufgehoben  wurde.  Freilich  war  für  die  Einkommen- 
steuer die  ,,in  reality  the  centre  and  sheet  anchor"  des  Finanz- 
systems darstellte,  auch  die  Zeit  vorbei,  in  der  durch  eine  ein- 
fache Heraufsetzung  oder  Ermäßigung  des  Steuersatzes  den 
augenblicklichen  Finanzbedürfnissen  entsprochen  werden  konnte. 
Waren  die  Grundsätze  der  Differentiation  und  der  Gradation 
für  die  Einkommensteuer  bereits  anerkannt,  so  machte  doch 
gerade  der  hohe  Steuersatz  eine  Ausdehnung  und  Erweiterung 
dieser  Grundsätze  notwendig.  So  wurde  das  Prinzip  der  Diffe- 
rentiation auf  die  Arbeitseinkommen  von  2 — 3000  £  ausgedehnt, 
indem  diese  zu  dem  Satz  von  12  d  versteuert  wurden,  während 


'-       I 23       — 

für  die  Arbeitseinkommen  unter  2000  £  der  ermäßigte  Satz 
von  9  d  beibehalten  wurde.  Die  Beziehungen  des  Einkommen- 
steuerzahlers zur  indirekten  Besteuerung  fanden  ihre  Berück- 
sichtigung darin,  daß  für  jedes  Kind  unter  16  Jahren  ein  be- 
sonderer Abzug  von  IG  C  vom  veranlagten  Gesamteinkommen, 
wenn  dieses  500  £  nicht  überstieg,  gewährt  wurde. 

Mit  diesen  Reformen  aber  war  ein  Teil  des  durch  die  Er- 
höhung um  2  d  erreichten  ÖMehrertrags  wieder  aufgezehrt  wor- 
den, und  dem  gegenüber  mußte  doch  der  eigentliche  (}rund- 
zweck  des  Budgets  von  1909,  eine  wesentliche  Ertragssteigerung 
zu  erreichen,  betont  werden.  Dabei  trat  nun  die  finanzielle 
Bedeutung"  der  Gradation  von  neuem  in  der  Möglichkeit  hervor, 
durch  sie  eine  schärfere  Belastung  der  leistungsfähigen  Ein- 
kommensklassen zu  bewirken  und  den  Mehrertrag  aus  diesen 
allein  zu  gewinnen.  Hier  aber  entstand  die  Schwierigkeit,  ohne 
Gefährdung  der  Einkommensteuerorganisation  das  Gradations- 
prinzip zu  erweitern,  da  jede  Ausdehnung  des  Abatements- 
systems  eine  Einschränkung  des  Grundsatzes,  das  Einkommen 
an  der  Quelle  zu  erfassen,  bedeutete,  der  doch  zweifelsohne 
einen  auch  finanziellen  Vorzug  der  Einkommensteuerorgani- 
sation ausmachte.  Aus  diesem  Grund  aber  war  auch  eine 
entsprechende  Durchführung  des  Gradationsprinzips,  wie  es  in 
der  Nachlaßbesteuerung  verwirklicht  war,  für  die  Einkommen- 
steuer unmöglich,  da  sie  außer  einer  verwaltungstechnischen 
Organisationsänderung  eben  auch  die  Aufgabe  jenes  Grund- 
satzes zur  unausbleiblichen  Folge  gehabt  hätte.  So  blieb  unter 
Beibehaltung  der  bestehenden  Organisation  nur  eine  Möglich- 
keit durchführbar,  die  höheren  Einkommensklassen  stärker  zu 
belasten :  eine  Sonder-  oder  Zusatzsteuer  (super-tax),  wie  sie  von 
der  1906  ernannten  parlamentarischen  Einkommensteuerkommis- 
sion vorgeschlagen  worden  war,  und  die  gewissermaßen  die  Um- 
kehrung des  Abatementssystems  darstellt.  Der  Gedanke  einer 
solchen  Zusatzsteuer  ließ  sich  in  dreifacher  Weise  durchführen : 

1.  Durch  Anwendung  eines  einheitlichen  erhöhten  Steuer- 
satzes auf  alle  Einkommen,  die  eine  bestimmte  Höchstgrenze 
überstiegen : 

2.  durch  Anwendung  eines  nach  der  Einkommensgröße  ab- 
gestuften Steuersatzes,  wobei  diese  progressive  Form  der  Gra- 
dation erst  von  einer  bestimmten  Minimalgrenze  an  aufwärts 
eintrat; 


—      124      — 

3-  durth  Anwendung  eines  cinhciiliclien  Sat/.es,  der  aber 
tür  lunkoninien,  die  eine  bestimmte  Grenze  überscliriitcn,  zu 
dem  Nornialsatz,  der  lür  alle  I^inkoninicn  galt,  liinzugeschlagen 
werden  sollte. 

Am  leichtesten  fügte  sich  von  diesen  drei  Möglichkeiten 
die  dritte  der  Einkommensteuerorganisation  ein,  obwohl  auch  sie 
die  Zwangsdeklaration  der  Gesamteinkommen,  die  der  Steuer 
unterlagen,  voraussetzte  und  eben  darin  die  technische  Schwie- 
rigkeit ihrer  Anwendung  lag,  daß  die  Deklaration  keine  Mr- 
leichterung,  sondern  eine  schärfere  Belastung  nach  sich  zog. 
Diese  Schwierigkeit  war  aber  bei  allen  drei  Möglichkeiten  vor- 
handen, wobei  aber  die  dritte  Form  vor  den  beiden  anderen 
den  Vorzug  hatte,  die  Einheitlichkeit  der  Steuer  wenigstens 
bis  zu  einer  gewissen  Einkommenshöhe  zu  wahren,  während  durch 
die  beiden  anderen  Formen  die  Steuer  in  zwei  nebeneinander- 
stehende Teilsteuern  zerlegt  worden  wäre.  So  wurden  der 
Zusatzsteuer  (super-tax)  alle  Einkommen  unterworfen,  deren 
Gesamtertrag  5000  £  jährlich  überstieg.  Erhoben  wurde  aber 
der  Zuschlag  von  6  d  schon  von  dem  Teil  des  Einkommens, 
der  3000  C  überstieg,  so  daß  also  für  alle  Einkommen,  die  die 
Grenze  von  5000  £  überstiegen,  der  Steuersatz  für  den  Ein- 
kommensteil unter  3000  £  14  d,  für  den  Einkommensteil  über 
3000  £  aber  20  d  betrug  ^-). 

Damit  war  der  Grundsatz  der  Gradation  wiederum  aus  der 
Absicht  einer  Ertragssteigerung  heraus,  die  jedoch  nur  von  den 
leistungsfähigen  Klassen  getragen  werden  konnte,  für  die  Ein- 
kommensteuer erweitert  worden  und  hatte  damit  nicht  nur  eine 
weitere  Umwandlung  der  Steuerorganisation,  sondern  auch  der 
Stellung  bewirkt,  die  der  Einkommensteuer  nunmehr  im  Be- 
steuerungssystem zukam.  Durch  die  Ertragserhöhung,  die  ihr 
aus  der  Erhöhung  des  Normalsatzes  um  2  d  und  aus  der 
Super-tax  erwachsen  war,  rückte  die  Einkommensteuer  an  die 
erste  Stelle  und  wurde  damit  zur  Grundlage  des  gesamten  Be- 
steuerungssystems. Zusammen  mit  der  Nachlaßbesteuerung,  die 
durch  eine  Neugestaltung  der  Progression  ertragsreicher  ge- 
staltet wurde,  erlangte  so  die  direkte  Besteuerung  im  Einnahme- 
system das  Übergewicht,  womit  der  Umwandlungsprozeß,  der 
1842    durch    die   Einführung    der   Einkommensteuer   eingeleitet 


82)  Hansard,  V,  vol.  4,  col.  507/511. 


—      125       — 

und  seit  1875  durch  die  Erweiterung  der  direkten  Besteuerung 
nach  dem  Gradationsprinzip  allererst  gefördert  worden  war, 
vollendet  war. 

Die  Geschichte  des  Budgets  von  1909  ist  zu  bekannt,  um 
hier  einer  Darstellung  zu  bedürfen.  Der  heiße  und  erbitterte 
Kampf,  in  dem  die  liberale  Regierung  nach  zwei  Seiten  zu 
kämpfen  hatte,  dem  Oberhause  und  der  konservativen  Opposition, 
wurde  zugunsten  Lloyd  Georges  und  seiner  Finanzpolitik 
entschieden.  Eine  Beurteilung  dieser  Finanzpolitik  und  des 
endgültigen  Erfolgs  ist  jedoch  wegen  der  Verzögerung,  welche 
die  Durchführung  ihrer  Maßnahmen  erlitten,  selbst  heule  noch 
unmöglich.  Eines  aber  bleibt  als  Ergebnis  der  ganzen  Entwick- 
lung seit  1875  bestehen,  daß  finanzpolitisch  die  Einkommen- 
steuerfrage entschieden  ist.  Das  heißt  aber  nicht,  daß  ihre 
finanzpolitische  Geschichte  abgeschlossen  sei,  da  ihre  ungeheure 
Ertragsfähigkeit,  die  sie  aus  einem  untergeordneten  Mittel  der 
Finanzpolitik  zum  Grundstock  des  Besteuerungssystems  werden 
ließ,  noch  immer  unbeschränkt  ist. 

§  17- 
Das  Zukunftsproblem. 

Mit  der  Finanzreform  vom  Jahre  1909  ist  die  lange  und 
inhaltsreiche  Entwicklung,  die  1842  mit  der  ersten  Peel  sehen 
Tarifreform  eingeleitet  worden  war,  zu  einem  äußerlichen  Ab- 
schluß gelangt.  Die  Umschichtung  des  Finanzsystems,  die  durch 
die  Umwandlung  des  Systems  der  indirekten  Steuern  und  durch 
die  allmähliche  Gleichstellung  und  schließlich  durch  die  Über- 
ordnung der  direkten  Steuern  erfolgte,  ist  mit  der  Reform  von 
1909  soweit  vollendet  worden,  daß  die  weitere  Entwicklung 
der  Finanzen  nur  zu  einer  stärkeren  Ausprägung  des  erreichten 
Zustandes  oder  aber  zu  einer  Rückbildung  führen  kann,  die  beide 
aber  an  dem  Gesamtcharakter  des  Finanzsystems  in  absehbarer 
Zeit  keine  grundsätzliche  Veränderung  bewirken  können.  Die 
Grundabsicht  des  bestehenden  Besteuerungssystems  ist  es,  jede 
Steuerkraft  im  Verhältnis  zu  ihrer  Leistungsfähigkeit,  die  an 
der  objektiven  Größe  des  besteuerungsfähigen  Einkommens 
und  an  den  persönlichen  Bedingungen  des  Steuerzahlers  be- 
messen wird,  zu  erfassen  und  dem  staatlichen  Bedürfnis  dienst- 
bar zu  machen.    In  dieser  Hinsicht  bilden  die  indirekten  Steuern 


—       126      — 

die  Cirundlage  des  Systems,  indem  sie  es  ermöglichen,  aucli  an 
die  kleinste  Sleuerkratl  durc  h  da>  Mittel  der  Verbrauchsbesteue- 
rung heranzugelangen,  indem  der  K(jnsum  entbehrlicher  Genuli- 
mittel sowohl  subjektiv  als  auch  objektiv  eine  gewisse,  wenn 
auch  eng  beschränkte  Leistungsfähigkeit  verrät.  Dabei  kann 
freilich  nicht  verkannt  werden,  daß  sich  dem  darin  ausgedrück- 
ten Grundsatz  nur  die  beiden  Verbrauchsgruppen  Alkohol  und 
Tabak  NÖllig  unterordnen  lassen,  da  diese  wesentlich  doch  nur 
für  erwachsene  Personen  in  Betracht  kommen,  die  steuerliche 
Belastung"  also  in  diesem  Fall  ganz  von  dem  Willen  des  Steuer- 
zahlers abhängt  und  nicht  durch  die  Größe  der  Familie,  die 
ohnehin  schon  eine  Verminderung  der  Steuerkraft  bedeutet, 
erschwert  wird.  Dagegen  können  die  beiden  Artikel  Tee  und 
Zucker  wegen  der  in  England  vorherrschenden  Konsumgewöh- 
nung nicht  mehr  als  entbehrliche  Genußmittel  betrachtet  wer- 
den, so  daß  in  diesem  Fall  die  Einschränkung  des  Verbrauchs 
eine  entschiedene  Minderung  der  gesamten  Lebenshaltung  be- 
deutet. Zudem  bleibt  bei  diesen  beiden  Steuern  auch  das  sub- 
jektive Moment  der  Leistungsfähigkeit  unberücksichtigt,  da  der 
Verbrauch  dieser  Artikel  im  Verhältnis  zur  Größe  der  Familie 
zuzunehmen  pflegt,  so  daß  die  Steuerleistung  statt  eine  Ver- 
minderung eine  Vermehrung  erfährt. 

Diese  Besteuerungsmethoden  bieten  das  einzige  Mittel,  die 
Einkommen  unter  i6o  £  zur  Steuerleistung  irgendwie  heran- 
zuziehen. Darüber  baut  sich  nun  für  die  höheren  Klassen  der 
Steuerkraft  die  Einkommensbesteuerung  auf,  die  der  objektiven 
Leistungsfähigkeit  durch  das  Abatementsystem  und  durch  die 
Super-tax  entspricht  und  die  subjektive  Leistungsfähigkeit  in  der 
Differentiation  und  der  Berücksichtigung  der  Kinderzahl  des 
Steuerpflichtigen  anerkennt.  Besondere  Arten  der  Steuerkraft 
werden  dagegen  erfaßt  durch  die  Nachlaßbesteuerung  und 
durch  die  Landwertbesteuerung,  von  denen  freilich  die  letztere 
Gruppe  ihres  systematischen  Ausbaues  allererst  noch  bedarf. 

Diesem  Besteuerungssystem,  dessen  umfassende  Ausdeh- 
nung kaum  mehr  eine  Erweiterung  durch  Einfügung  anderer 
Besteuerungsmethoden  möglich  erscheinen  läßt,  steht  nun  un- 
abhängig die  Bedarfsentwicklung  gegenüber,  durch  welche  der 
Sollertrag  der  Steuern  bedingt  wird.  Hierin  aber  liegen  nun 
zahlreiche  Tendenzen,  die  eine  fortgesetzte  Steigerung  des  Be- 
darfs  bewirken   und   darum    die   Forderung,    neue   Einnahmen 


—      127      — 

zu  erschließen,  stets  aufs  neue  wecken  werden.  Am  schärfsten 
ausgeprägt  Hegt  diese  Tendenz  in  den  beiden  Ausgabeetats 
der  Marine  und  der  inneren  Verwaltung,  die  seit  1909  eine 
weitere  erhebliche  Steigerung  erfahren  haben  und  für  die  näch- 
sten Jahre  erwarten  lassen.  Namentlich  werden  die  mit  der 
Durchführung  der  sozialen  Aufgaben  verbundenen  Ausgaben 
noch  eine  Reihe  von  Jahren  wachsen,  bis  sie  einen  gewissen 
Höchststand  erreicht  haben,  über  den  hinaus  ihre  Zunahme 
langsamer  fortschreiten  wird.  Dieser  Höchststand  wird  aber 
schon  deshalb  noch  lange  nicht  erreicht  werden,  weil  der  Um- 
kreis der  sozialen  Aufgaben  sich  fort  und  fort  erweitern  wird. 
Eine  Grenze  hierfür  anzusetzen,  ist  aber  schlechterdings  un- 
möglich. In  gleicher  Weise  scheint  eine  Begrenzung  der  Be- 
darfsentwicklung des  Flottenetats  unmöglich  zu  sein,  da  eben 
eine  Einschränkung  ihrer  Veranlassung,  der  Flottenvermehrung, 
in  der  heutigen  politischen  Weltlage  als  unmöglich  bezeichnet 
wird.  Doch  scheint  sich  hier  ein  Ausweg  zu  öffnen,  der  für 
die  Reichsfinanzen  Englands  eine  Erleichterung  herbeiführen 
kann,  indem  durch  eine  Ausdehnung  des  in  den  letzten  Jahren 
in  weitem  Umfang  durchgeführten  Prinzips  der  Selbstverwaltung 
den  Kolonien  auch  die  Selbstverteidigung  aufgebürdet  wird, 
wie  das  gerade  in  der  allerneuesten  Zeit  in  bezug  auf  Kanada 
und  Australien  versucht,  später  aber  sicher  auch  auf  Südafrika 
und  Indien  ausgedehnt  wird.  Liegt  darin  zwar  die  Gefahr 
einer  völligen  Loslösung  der  Kolonien  vom  Mutterland  mit 
verborgen,  die  aber  durch  die  Verselbständigung  der  Kolonien 
und  durch  Zusammenfassung  des  ganzen  Weltreichs  unter  einer 
bundesstaatlichen  Verfassung  sowohl  in  ihren  politischen  als 
auch  wirtschaftlichen  Folgen  unschädlich  gemacht  werden 
kann,  so  erscheint  damit  aber  doch  allein  die  finanzielle  Ent- 
lastung des  Mutterlandes,  das  jetzt  die  Kosten  des  militärischen 
Schutzes  der  Kolonien  zum  größten  Teil  bestreitet,  ermög- 
licht zu  sein. 

In  den  übrigen  Ausgabezweigen  tritt  die  Tendenz  einer  fort- 
gesetzten Steigerung  weniger  dringlich  hervor,  obwohl  sie  auch 
hier  nicht  ganz  fehlt.  Die  Ausgaben  der  Schuldenverwaltung 
lassen  sich  durch  die  Fixierung  der  Etatsumme  umso  leichter 
stationär  erhalten,  als  durch  das  N  o  r  t  h  c  o  t  e  sehe  Schulden- 
tilgungsverfahren eine  allmähliche  Verringerung  der  Schulden- 
last und  der  Gesamtschuld  erzielt  wird.     Der  hohe  Stand  der 


12S 


Besteuerung,  insbesoiulc-rr  aber  auch  der  Ilinkoinmeiislcuer,  ver- 
ringert dagegen  die  Möglichkeit,  im  Bedarfsfall  erhebliche  Be- 
träge   durch    Sleucrirhöhungcn    zu    gewinnen,    so    daß    in    der 
Zukunft  die  Schuldenaufnahnie  eine  viel  größere  Rolle  spielen 
wird,    als   es   noch   im  Burenkrieg   der   Fall    war.     Aus  diesem 
Grund    aber     macht     sich    schon    in    Friedenszeiten     die    Not- 
wendigkeit geltend,  den  Staatskredit  auf  jede  mögliche  Weise 
zu    kräftigen,    eine   Notwendigkeit,    der   in    nächster    Linie    nur 
durch   eine   vermehrte   Schuldentilgung    während   des   Friedens 
entsprochen  werden  kann,  so  daß  also  auch  von  hier  aus  eine 
Bedarfsvermehrung  zu  erwarten  ist.     Auch  der  Heeresetat  läßt 
eine  mit  der  Zunahme  der  Friedenspräsenzstärke  und  der  durch 
die  Erhöhung  der  allgemeinen  Arbeitslöhne  bedingten  Erhöhung 
der  Besoldung   der  Truppen  eine  fortgesetzte  Ausgabevermeh- 
rung erwarten.     Diese  wird  aber  einen  mächtigen  Antrieb   er- 
fahren,   sobald   die   bisherige   Grundlage   der   Heeresverfassung 
aufgegeben  und  durch  die  allgemeine  Wehrpflicht,  für  die  sich 
eine  stark  um  sich  greifende  Bewegung  geltend  macht,  ersetzt 
werden  wird.     Aus  dem  Zusammenwirken  all  dieser  Tendenzen 
wird   sich   aber   das   Ergebnis   herausbilden,    daß    die   Bedarfs- 
vermehrung noch  bei   weitem   nicht   ihren   Höhepunkt   erreicht 
hat  und  darum  stets  wieder  zu  der  Forderung  einer  Erhöhung 
des   Steuersollertrags  führen  wird. 

Dieser  Aussicht  gegenüber  macht  sich  die  Frage  geltend, 
wie  das  Besteuerungssystem  dem  wachsenden  Bedarf  angepaßt 
werden  kann.    Bis  zu  einer  gewissen  Höhe  kann  hier  zunächst 
das  natürliche  Wachstum  des  Steuerertrags,  das  auf  iV2bis2  0/o 
jährlich    berechnet    werden    kann,    angesetzt    werden    und    vor 
allem   werden   hier   die   beiden   Hauptformen   der   direkten   Be- 
steuerung: Nachlaß-  und  Einkommensteuer,  den  größten  Anteil 
der  Vermehrung  aufbringen  können,  während  von  den  indirek- 
ten  Steuern  eine  bedeutendere   Ertragssteigerung   kaum   mehr 
erwartet    werden    darf.     Über    die   Ertragsfähigkei.t    der    Land- 
wertbesteuerung, die  jetzt  noch  wegen  der  unvollendeten  Kata- 
strierung  gehemmt  ist,  läßt  sich  eine  auch  nur  einigermaßen 
genaue  Berechnung  nicht  anstellen.     Macht  sich  aber  darüber 
hinaus  eine  weitere  Erhöhung  des  Steuersollertrags  notwendig, 
so  besteht  eine  Möglichkeit  hierzu  nur  in  doppelter  Richtung: 
einmal  durch  eine  weitere  Ausdehnung  des  Gradationsprinzips 
in  der  Nachlaß-  und  Einkommensbesteuerung,  oder  aber  durch 


—       129      — 


eine   stärkere   Heranziehung   der   Verbrauchsbesteuerung  durch 
eine   Vermehrung  der  verbrauchssteuerpfhchtigen  Artikel 

Von  diesen  beiden  Möghchkeiten  ist  namenthch  die  zweite 
in  den  letzten  Jahren  immer  und  immer  wieder  in  den  Vorder- 
grund  des  parteipolitischen  Interesses  gerückt   worden       \ller 
dings,   und  das  darf  nicht  übersehen   werden,   ist   diese  Fra-e 
nicht  mehr  rein  finanziell,  sondern  mit  fremden  Interessen  ver 
mengt,  die  mehr  und  mehr  die  Oberhand  zu  gewinnen  suchen 
Aus  der  rem  finanzieUen  Frage,   in  der  Absicht  einer  ErtraL^s- 
ste.gerung    den   Bereich   der   indirekten   Steuern    weiter   auszu- 
dehnen,   ist    wieder  eine    wirtschaftspolitische   Tarifreformfra-e 
geworden.     Wir  können  hier  nicht  auf  die  parteipolitische  B^e- 
deutung  dieser  Frage  eingehen,  da  für  uns  nur  ihre  rein  finan- 
zielle Wirkung  in  Betracht  kommen  kann.    Der  Ausgangspunkt 
des  Problems  ist  einfach   und  klar:   Von  Tee   und  Zucker  ab- 
gesehen,   für    welche    die    Notwendigkeit   einer   Reduktion    von 
allen  Seiten  zugegeben  wird,  beruht  das  gegenwärtige  indirekte 
System    fast    ausschließlich    auf    der    Besteuerung    der    beiden 
Artikel  Tabak  und  Alkohol.    Für  beide  aber  trifft  nun  das  eine 
zu,   daß   Ihr  natürliches   Wachstum  kaum   so   fortschreitet    um 
tur  eine  Ertragsvermehrung  ins   Gewicht  zu  fallen,   daß   beide 
aber  auch  absolut  so  hoch  belastet  sind,  daß  eine  weitere  Be- 
lastung   beider    zu    einer    Konsumverminderung    führen    kann 
welche  den  durch  die  Erhöhung  erwarteten  Mehrertrag  wieder 
authebt.     Zudem  macht  es  auch  die  fortschreitende  Abstinenz- 
bewegung immer  unwahrscheinlicher,  daß   durch  diese  beiden 
Besteuerungsmethoden  allein  die  Einkommensklassen,  die  unter 
i6o  £  hegen  und  darum  von  der  Einkommensteuer  nicht  mehr 
erfaßt  werden,  überhaupt  noch  zur  Beitragsleistung  mit  heran- 
gezogen werden  können.     An  sich  kann  darum  das  Bestreben 
die  in  dieser  immerhin  sehr  erheblichen  Unterschicht  verborgene 
bteuerkraft     durch     geeignete    Besteuerungsmethoden     zu    er- 
schließen,   kaum    abgelehnt    werden.      Die    Schwierigkeit    liegt 
hier  aber  dann,  daß  die  tatsächliche  Belastung,  die  durch  die 
indirekten  Steuern  bewirkt  wird,  niemals  auch  nur  mit  einiger 
Genauigkeit  berechnet  werden  kann,  da  der  Konsum  bestimmter 
Waren   sich  nicht   nur  nach  dem  Einkommen  oder   dem  Ver- 
mögen   richtet,    sondern    durch    das    Lebensbedürfnis    und    vor 
allem    durch    den    Konsumentenkreis    bestimmt    wird,    der    von 
einem  bestimmten  Einkommen  lebt.     Durch  derartige  Steuern 

Zeitschrift  für  die  ges.  Staatswissensch.     Ergänzungsheft  48. 


—     no     — 


werden  so  die  kiiuleneicheii  lamilien  am  härtesten  getroffen, 
sofern  es  sich  um  Objekte  eines  Familienkonsums  imd  nicht 
eines  individuellen  und  fast  nur  auf  die  männliche  oder  er- 
wachsene Bevölkerung  beschränkten  Konsums  i  wie  Tabak  und 
Alkohol  handelt.  Gerade  diese  Gefahr  tritt  aber  bei  der  For- 
derung der  jetzigen  englischen  Tanfreformer.  die  eine  Aus- 
dehnung des  Zolltarifs  auf  landwirtschaftliche  und  insbesondere 
Molkereiprodukte  verlangen,  am  schärfsten  und  unmittelbarsten 
hervor,  da  eben  diese  Gegenstände  durchweg  zu  den  wichtigsten 
Nahrungsmitteln  gehören  und  in  den  Familienkonsum  eingehen. 
Dazu  aber  kommt  noch  der  weitere  Umstand,  daß  diese  Artikel 
eine  allzu  hohe  Belastung  nicht  ertragen  können,  so  daß  also 
auch  der  zu  gewinnende  Ertrag  nicht  sehr  hoch   veranschlagt 

werden  kann. 

Erscheint    so    eine   Erweiterung    der   Besteuerungsmöglich- 
keiten  in  der  von   den  Tarifreformern  angedeuteten   Richtung 
vom  finanziellen  Standpunkt  aus  nicht  wünschenswert,  so  bleibt 
zur   Erreichung   einer  Ertragssteigerung   nur   die   andere   Mög- 
lichkeit,   sie    durch   Ausdehnung    des   Gradationsprinzips    inner- 
halb der  direkten  Besteuerung  zu  bewirken.     Daß   diese  Mög- 
lichkeit   noch    bei    weitem    nicht    erschöpft    ist.    wird    deutlich 
genug  aus  der  Zunahme  der  höheren  Einkommensklassen,  die 
stetig"  fortschreitet.     Andererseits    aber    ließe    sich    durch    eine 
Ausdehnung  der  Gradation  nach  unten  hin,   d.  h.   durch  eine 
Herabsetzung   der   Befreiungsgrenze:   auch   ein   guter   Teil    der 
in    der    Unterschicht    liegenden    Steuerkraft    ohne    allzu    große 
Steigerung  der  Erhebungskosten  bewirken.    Die  Voraussetzung 
dafür  freihch  ist  die  völlige  Aufgabe  des  bisherigen  Erhebungs- 
verfahrens und  die  Umgestaltung  der  Einkommensteuerorgani- 
sation    durch    durchgehende   Verallgemeinerung     der    Zwangs- 
deklaration, die  bis  jetzt  nur  für  die  Einkommen  bis  zu  700  £ 
und  für  die  Einkommen  über  5000  £  gilt.     Hierin  scheint   die 
letzte  Entwicklungsmöglichkeit  der  Einkommensteuer  zu  hegen, 
und  es  wird  eine  Frage  der  Zukunft  sein,  welche  von  den  beiden 
Besteuerungsmethoden    den   nächsten    Sieg    erringen   wird,    die 
direkte  oder  die  indirekte.  Die  Lösung  dieser  Frage  hängt  aber 
von  parteipolitischen  Momenten  so  wesendich  ab.  daß  die  rein 
finanziellen  Bedingungen  fast  ausgeschaltet  erscheinen,  daß  die 
Entscheidung  also  auf  einem  Gebiet  fallen  wird,  dessen  eingehende 
Betrachtung  über  den  Rahmen  dieser  Arbeit  weit  hinausführt. 


IL  Teil. 

Einkommensteuerorganisation    und    Einkommen- 
steuerertrag. 

Überleitung: 

Die  finanzpolitische  Bedeutung  der  Einkommen- 
steuerorganisation und  des  Ertrags. 

In  dem  Verlauf  der  finanzpolitischen  Entwicklungs- 
geschichte der  Einkommensteuer,  deren  Darstellung  die  Auf- 
gabe des  ersten  Teils  dieser  Arbeit  bildete,  sind  immer  wieder 
drei  Momente  hervorgetreten,  die  bald  allein,  bald  zusammen- 
wirkend, schwächer  oder  stärker  die  jeweilige  Entscheidung 
bestimmten,  die  im  Verlauf  dieser  Entwicklungsgeschichte  die 
mannigfachen  Änderungen  des  finanzpolitischen  Gebrauchs,  der 
von  der  Einkommensteuer  gemacht  wurde,  herbeiführte.  Diese 
drei  Momente  sind 

1.  der   absolute   Ertrag   der   Steuer; 

2.  ihr  direkter  Charakter; 

3.  ihre  Tauglichkeit  zu  eigenartigen  finanzpolitischen  Auf- 
gaben. 

Diese  drei  Momente  lassen  sich  freilich  nicht  so  ganz  scharf 
voneinander  scheiden,  da  insbesondere  die  Ertragsfähigkeit  bei 
allen  Erwägungen,  die  die  Steuer  betrafen,  den  Ausschlag 
geben  mußte.  Es  lassen  sich  aber  doch  leicht  und  auf  natür- 
liche Weise  die  Zeitabschnitte  bestimmen,  in  denen  das  eine 
oder  das  andere  Moment  beherrschend  hervortrat.  So  war 
€s  in  der  ersten  Einkommensteuerperiode  namentlich  die  Er- 
tragsfähigkeit der  Steuer,  die  ihre  Einführung,  Aufrechterhal- 
tung während  der  Kriegszeit  und  schließlich  ihre  Beseitigung 
veranlaßte,  nachdem  der  Einkommensteuerertrag  entbehrlich 
geworden  war.  In  der  Peel  sehen  und  Gl  a  d  s  t  o  n  e  sehen 
Reformepoche  dagegen  war  es  die  besondere  Tauglichkeit  der 

9* 


—     J  3  2     — 

llinkoininensteuer,  den  wechselnden  Anlorderungen  leicht  und 
ohne  Störung  des  gesamten  Steuerorganismus  zu  entsprechen, 
durch  welche  die  fortwährende  Erneuerung  der  Steuer  be- 
gründet und  notwendig  wurde,  während  in  den  folgenden  Jahren 
vor  allem  der  direkte  Charakter  der  Einkommensteuer  ihre 
finanzpolitische  Verwendung  l^estimmte.  Seit  der  Anerkennung 
der  Einkommensteuer  als  eines  dauernden  und  ordentlichen 
Glieds  des  Finanzsystems  sind  es  nunmehr  alle  drei  Momente, 
die  in  ihrer  Vereinigung  zusammen  die  Steuer  unentbehrlich 
machen. 

So  bedeutsam  für  die  finanzpolitische  Geschichte  der  Ein- 
kommensteuer aber  ihre  Fähigkeit,  besonderen  Aufgaben  infolge 
ihrer  Organisation  angepaßt  werden  zu  können,  war,  und  so 
sehr  auch  die  gegenwärtige  Stellung,  welche  die  Steuer  im 
englischen  Finanzsystem  einnimmt,  durch  ihren  direkten  Cha- 
rakter ermöglicht  wurde,  so  bildet  doch  in  allen  Fällen  d  i  e 
Grundlage  der  finanzpolitischen  Gebrauchs- 
fähigkeit der  Einkommensteuer  ihr  Ertrag. 
Dieser  wird  in  doppelter  Hinsicht  bedeutungsvoll:  einmal  in 
seiner  absoluten  Höhe,  die  durch  den  Steuersatz  ohne  Störung 
des  Steuerorganismus  dem  Bedarf  angepaßt  werden  konnte, 
dann  aber  auch  durch  das  im  Verlauf  der  Geschichte  offenbarte 
relative  Wachstum,  welches  einen  stets  steigenden  Ertrag  ohne 
entsprechende  Erhöhung  des  Steuersatzes  oder  Vermehrung 
der  steuerlichen  Belastung  erzeugte',  und  auf  der  natürlichen 
Vermehrbarkeit  des  erfaßten  Steuerobjekts  beruhte.  Erweist 
sich  so  der  Einkommensteuerertrag  als  abhängig  von  der  je- 
weiligen Höhe  des  Steuersatzes  und  von  der  Entwicklungsfähig- 
keit des  erfaßten  Objekts,  so  ist  weiterhin  auch  klar,  daß  die 
Steuerorganisation,  vermöge  deren  das  Objekt  allererst  erfaß- 
bar wird,  ebenfalls  von  hervorragendem  F2influß  auf  die  Ertrags- 
gestaltung werden  muß,  und  zwar  wirkt  die  Steuerorganisation 
wieder  in  doppelter  Weise  auf  den  Ertrag  ein,  indem  einmal 
durch  eine  möglichst  wirtschaftliche  Tätigkeit  '  der  Steuer- 
erhebung der  relative  Ertrag  gesteigert,  und  indem  zum  anderen 
durch  ihre  Ausgestaltung  nach  theoretischen  oder  praktischen 
Forderungen  eine  Beeinflussung  des  Ertrags  verursacht  wird, 
die  je  nach  den  besonderen  Bedingungen  eine  Steigerung  oder 
Minderung  desselben  bedeutet.  So  werden  für  die  Ertrags- 
entwicklung  der  Einkommensteuer   vor   allem   die   beiden   Mo- 


—     ^33     — 

mente  der  Einkommcnsentvvicklung  und  der  Entwicklung  der 
Steuerorganisation  bedeutungsvoll,  indem  durch  die  erstere  der 
ganze  Umkreis  der  Ertragsmöglichkeit  mit  dem  Wachstum  des 
Steuerobjekts  fortgesetzt  erweitert,  durch  die  andere  aber  das 
tatsächlich  zu  erfassende  Objekt  bestimrnt  wird.  Aus  dem  Zu- 
sammenwirken beider  Entwicklungsrichtungen  ergibt  sich  dann 
der  tatsächliche  Einkommensteuerertrag,  der  darüber  hinaus 
seiner  Höhe  nach  durch  den  jeweiligen  Steuersatz  modifiziert 
wird.  So  zerlegt  sich  der  folgende  Teil  der  Arbeit  in  die  drei 
Abschnitte  über 

1.  Die  Einkommensentwicklung". 

2.  Die  Entwicklung   der  Einkommensteuerorganisation. 

3.  Die  Gestaltung  des  Ertrags. 

Tritt  in  der  Darstellung  der  Ertragsentwicklung  das  grund- 
legende Moment  hervor,  auf  dem  die  finanzpolitische  Bedeutung 
der  Einkommensteuer  beruht,  so  findet  in  der  Darstellung 
der  Einkommensteuerorganisation  auch  das  zweite  finanzpoli- 
tische Moment  der  besonderen  Tauglichkeit  der  Einkommen- 
steuer zu  eigenartigen  Aufgaben  seine  Würdigung,  indem  die 
Organisation  der  Steuer  nicht  allein  auf  den  Ertrag  einen  Ein- 
fluß ausübte,  sondern  vor  allem  auch  auf  ihre  Gebrauchsfähig- 
keit zu  solchen  Zwecken.  Da  es  sich  hierbei  aber  um  eine  nach 
zweifacher  Richtung  gehende  Wirkung  der  gleichen  Organi- 
sationsforni  handelt,  so  konnten  beide  Momente  nicht  getrennt, 
sondern  nur  gleichzeitig  dargestellt  werden.  Denn  mit  den  je- 
weiligen Veränderungen  und  Umgestaltungen  der  Organisation 
vollzog  sich  nicht  nur  die  Beeinflussung  des  Ertrags,  sondern 
auch  die  allmähliche  Veränderung  der  Gebrauchsfähigkeit  der 
Einkommensteuer  zugleich. 

Das  dritte  finanzpolitisch  bedeutsame  Moment,  der  direkte 
Charakter  der  Einkommensteuer,  ist  schließlich  aber  mit  dem 
Objekt  und  der  besonderen  Art  seiner  Erfassung,  also  mit  der 
gesamten  Einkommensteuerorganisation  selber  gegeben  und  be- 
darf so  keiner  gesonderten  Darstellung  mehr,  die  über  den 
finanzpolitischen    Teil    dieser    Arbeit    hinausreichte. 


—     134     — 

I.  Kapitel. 
Die  Einkonimensentwicklung. 

Die    Bestimmung    der    subjektiven    und    objekti\cn 
Steuerpflicht    in    der   Pitt-    und    in    der    Peel-Steuer. 

Die  Grundlage  eines  jeden  Besteuerungsverfahrens  bildet 
ein  dauerndes  Objekt,  an  welches  sich  die  besondere  Art  seiner 
Erfassung  anschließt  und  dessen  begriffliche  Abgrenzung  die 
objektive  Steuerpflicht  begründet.  In  diesem  Sinn  erscheint 
das  Steuerobjekt  als  die  Bemessungsgrundlage,  durch  welche 
die  Steuerleistung  ihrem  Umfang  und  ihrem  Grad  nach  genau 
abgegrenzt  wird.  So  bildet  der  Verbrauch  eines  Gegenstands 
die  Grundlage  einer  Besteuerungsform,  bei  welcher  das  be- 
zeichnete Objekt  den  Eintritt  der  Steuerpflicht,  die  Quantität 
des  Verbrauchs  aber  den  Umfang  derselben  bestimmt.  Von 
der  Bemessungsgrundlage  wesentlich  verschieden  ist  die  Steuer- 
quelle, aus  welcher  tatsächlich  der  mit  dem  Objekt  gegebene 
Steuerbetrag  bezahlt  wird  und  die  in  letzter  Linie  mit  dem 
Einkommen  identisch  ist.  Vermögenssteuern  beispielsweise  sind 
nicht  anders  möglich,  als  daß  das  Vermögen  nur  die  Bemes- 
sungsgrundlage, nicht  aber  auch  die  tatsächliche  Steuerquelle 
bildet.  Diese  kann  xielmehr  stets  nur  der  Vermögensertrag 
oder  das  aus  dem  Vermögen  fließende  Einkommen  sein,  wäh- 
rend ein  diesen  Ertrag  aufzehrendes  und  übertreffendes  Besteue- 
rungsverfahren nie  ein  Glied  eines  dauernden  Systems  bilden 
und  darum  nur  als  außerordentliches  Finanzmittel  in  Frage 
kommen  kann.  Da  somit  alle  Glieder  eines  Besteuerungssystems 
durch  die  Beziehung,  in  der  sie  zu  dem  Gesamteinkommen  des 
Steuerzahlers  stehen,  in  ihrer  Wirkung  eng  miteinander  ver- 
bunden sind,  kann  ein  einzelnes  Steuerobjekt  nicht  zur  abso- 
luten Bemessungsgrundlage  der  Steuerleistung  geniacht  werden. 
Es  muß  dabei  vielmehr  jede  Einzelsteuer  als  ein  Teil  des  Systems 
betrachtet  und  in  ihrer  Belastung  in  Beziehung  zur  gesamten 
Steuerkraft  des  einheitlichen  Steuerträgers  gebracht  werden, 
so  daß  der  ganze  Umkreis  der  mit  einem  bestimmten  Objekt 
gegebenen  Besteuerungsmöglichkeit  stets  durch  diese  Rücksicht 
auf  die  gesamte  Leistungsfähigkeit  beschränkt  wird.  Wo  die 
indirekte  Verbrauchsbesteuerung  wie  im  englischen  System  die 


—     135     — 

Grundlage  bildet,  auf  der  sich  die  Vermögens-  und  Einkommens- 
besteuerung ergänzend  aufbaut,  ergibt  sich  so  für  die  ergänzen- 
den Besteuerungsmethoden  eine  Berücksichtigung  der  durch 
die  indirekten  bewirkten  Belastung  in  der  Anerkennung  einer 
Befreiungsgrenze,  unter  welcher  die  direkte  Besteuerung  nicht 
eintritt. 

Wird  so  der  Umkreis  der  Besteuerungsmöglichkeit,  die  mit 
einem  an  den  Begriff  des  ,, Einkommens"  sich  anschließenden 
Besteuerungsverfahren  überhaupt  gegeben  ist,  von  vornherein 
eingeschränkt,  so  macht  sich  doch  stets  darüber  hinaus  eine 
genauere  begriffliche  Bestimmung  des  Objekts  um  so  mehr 
notwendig,  als  es  sich  nicht  um  einen  greifbaren  Gegenstand 
handelt,  der  seiner  Ausdehnung  nach  meßbar  ist,  sondern  um 
ein  Objekt,  das  erst  durch  eine  begriffliche  Abstraktion  ge- 
wonnen wird.  Der  Verbrauchsbesteuerung  und  der  direkten 
Objekts-  und  Ertragsbesteuerung  gegenüber  macht  sich  in  der 
Einkommensbesteuerung  die  doppelte  Schwierigkeit  geltend, 
daß  der  Begriff  des  „Einkommens"  durchaus  nicht  so  fest- 
stehend und  eindeutig  bestimmbar  ist,  daß  er  ohne  weiteres 
zur  Grundlage  einer  Besteuerungsmethode  gemacht  werden 
könnte,  und  daß  zum  andern  auch  die  Beziehung,  auf  welche 
sich  die  subjektive  Steuerpflicht  gründet,  keineswegs  so  offen- 
sichtlich und  leicht  erkennbar  ist,  daß  mit  der  Bestimmung  des 
Objekts  auch  die  Erfüllung  der  Steuerleistung  sichergestellt 
wäre.  So  macht  sich  hier  die  Notwendigkeit  geltend,  aus  dem 
allgemeinen  Einkommensbegriff  das  Steuerobjekt,  an  dem 
die  Steuerleistung  bemessen  werden  soll,  herauszugreifen  und 
andererseits  auch  den  Steuerzahler  und  den  Steuerträger  ein- 
deutig zu  bestimmen. 

Der  Einkommensbegriff  ist  ein  mit  der  Entwicklung  der 
Volkswirtschaft  allmählich  gewordener  Begriff,  der  sich  erst 
in  ziemlich  später  Zeit  von  seiner  Unterlage,  dem  Wirtschafts- 
ertrag, losgelöst  hat  und  selbständig  geworden  ist^s).  Zu  Be- 
steuerungszwecken verwendbar  wurde  er  überhaupt  erst  da- 
durch, daß  er  zu  einem  Allgemeinbesitz  geworden  ist,  dessen 
Verbreitung"  allererst  die  Anwendung  einer  auf  ihn  gegrün- 
deten Besteuerungsmethode  ermöglicht. 


83)  Vgl.    hierzu    Karl    Bücher,    in    der    Festschrift    zum    Deutschon 
Historiker-Tag    1894,  p.   123. 


—    136    — 

Der    allgemeinere    Begriff,    dem    der     lliiikommensbegriff 
untergeordnet    werden    kann,    ist    der    einer    periodischen    Ein- 
nahme   einer   bestimmten    Wirtschaftseinheit,    wobei   aber    dem 
Einkonnnen  das  einschränkende  Merkmal  freier  Verfügbarkeit 
zu  einer  Verausgabung,  die  den  Ersatz  der  Gewinnungskosten 
übersteigt,  zukommt.    Wird  schon  darin  eine  gewisse  Leistungs- 
fähigkeit  sichtbar,    die   steuerlich   ausgenutzt    werden    kann,    so 
wird   diese   Eigenschaft   durch   das   andere    Merkmal,    das   dem 
Einkommensbegriff    gegenüber    dem    Begriff    der    bloßen    Ein- 
nahmen zukommt,  einer  dauernden  Bezugsquelle  zu  entspringen, 
noch    deutlicher,    und    vor    allem    wird    allererst    dadurch    die 
steuertechnische    Möglichkeit    gesichert,     das    Einkommen    zur 
Grundlage   einer   dauernden  Besteuerungsmethode   zu   machen. 
Indem  aber  das  Einkommen  stets  an  die  subjektive  Bedingung 
einer  bestimmten  Wirtschaftseinheit  gebunden  ist,  und  nur  für 
diese     allein     eine    steuerliche    Leistungsfähigkeit    voraussetzen 
läßt,  wird  die  Einkommensbesteuerung  untrennbar  mit  der  Wirt- 
schaftseinheit,   die   das   Einkommen   bezieht,    verknüpft.    Darin 
liegt    das    Personalmerkmal,    durch    welches    die    Einkommens- 
besteuerung   sich     von    der    Ertragsbesteuerung    unterscheidet. 
Darin  aber  liegt  auch  die  Eigentümlichkeit   der  Einkommens- 
besteuerung, daß  sie  sich  nicht  allein  nach  der  mit  dem  Objekt 
gegebenen  Leistungsfähigkeit   richten  kann,   sondern  auch  auf 
die  subjektiven  Bedingungen  des  Einkommenempfängers  Rück- 
sicht nehmen  muß.    Dazu  kommt  noch  eines:  Das  Einkommen 
stellt  stets  einen  Abschluß  dar,  das  letzte  Ergebnis  einer  Ent- 
wicklungsreihe, die  mit  der  ursprünglichen  Produktion  beginnt 
und    irgendwo    ein    Einkommen    erzeugt.      So    kann    das    Ein- 
kommen   auch    nicht    anders    als   in    seiner    letzten    Gestaltung, 
d.  h.    bei    seinem    Eintritt    in    die    endgültige    Wirtschaftseinheit 
(in  der  es  entweder  zu  freier  Verausgabung  verwendet,  gespart 
und    zu    Vermögen    angesammelt,    oder    als    Kapitalserhöhung 
wieder  der  Produktion  zugeführt   wird)   und  auch  hier   nur  in 
einer  Zusammenfassung  aller  Teileinkommen  zu   dem  Gesamt- 
einkommen  der  zur  Steuerleistung   herangezogenen   wirtschaft- 
lichen  Einheit   steuerlich    erfaßt    werden.      Damit    aber   ist    als 
weitere    notwendige    Voraussetzung    einer    wirklichen    Einkom- 
mensbesteuerung  die  zwangsweise   Deklaration   des   Gesamtein- 
kommens   gegeben,    die   so    zu   einem    wesentlichen    Zug   jeder 
direkten  Einkommensteuer  wird.    So  beruht  die  Einkom- 


—     137     — 

mensbesteuerung  objekti\-  auf  dem  Begriff  einer 
dauernden  periodisch  wiederkehrenden  und  ein 
letztes  wirtschaftliches  Ergebnis  darstellenden 
Einnahme,  subjektiv  auf  dem  mit  dem  Einkom- 
mensbegriff untrennbar  verbundenen  Personal- 
merkmal, das  in  der  Zusammenfassung  der  Teil- 
einkommen zum  Gesamteinkommen  einer  Wirt- 
schaftseinheit hervortritt,  und  methodisch  auf 
der  durch  die  zwangsweise  Deklaration  ermög- 
lichten direkten  Erfassung  des  Objekts  bei  dem 
steuerpflichtigen,  d.  h.  Einkommen  beziehenden 
Subjekt. 

Diese  drei  Momente,  das  objektive,  das  subjektive  und  das 
methodische,  treten  in  der  Fassung  der  ersten  Pitt-  Steuer 
klar  und  deutlich  hervor.  Das  Prinzip,  auf  das  sich  die  sub- 
jektive Steuerpflicht  gründet,  läßt  sich  so  wiedergeben,  daß 
der  Wirkung  der  Einkommensteuer  alle  Einkommensempfänger, 
die  durch  die  britische  Souveränität  erfaßt  werden  konnten, 
unterworfen  wurden.  So  sind  einkommensteuerpflichtig  zu- 
nächst alle  ,,residents",  d.h.  alle  diejenigen,  die  ihren  dauern- 
den Wohnsitz  in  Großbritannien  hatten,  ohne  Rücksicht  auf  ihre 
Nationalität  und  ohne  Rücksicht  auf  die  Herkunft  des  Ein- 
kommens. Die  bloße  Tatsache  eines  vorübergehenden  Aufent- 
halts in  Großbritannien  begründete  jedoch  eine  Steuerpflicht 
noch  nicht.  In  zweiter  Linie  waren  einkommensteuerpflichtig 
alle  „absentees",  d.  h.  alle  britischen  Untertanen,  die  zeitweilig 
oder  dauernd,  aber  ohne  ihre  Nationalität  aufzugeben,  im  Aus- 
land lebten,  doch  bezog  sich  hier  nach  der  genauen  Konsequenz 
des  Grundsatzes  die  Steuerpflicht  nur  auf  diejenigen  Einkom- 
mensteile,  die  aus  Großbritannien  stammten  ^^). 

Weniger  einfach  gestaltete  sich  die  Abgrenzung  der  objek- 
tiven Steuerpflicht,  bei  der  die  Schwierigkeit  einer  eindeutigen 
Bestimmung  des  Einkommensbegriffs  in  der  Klassifikation  der 
Einkommensarten  hervortrat.  Das  Einkommen  entstammt  ent- 
weder dem  Vermögensertrag  oder  dem  Arbeitsertrag  oder  stellt 
ein  Gemisch' beider  dar,  wobei  aber  die  Trennung  von  Ertrag 
und  Einkommen  nicht  in  allen  Fällen  begrifflich  gesichert  wer- 
den   konnte.     Die    darin    liegende   Schwierigkeit    wurde    durch 


84)   Do  well,    Inc.    ta.K   Acts,    Intr.,   p.    49  ff . 


-     138     - 

eine  .\ut'/.älilun«4  der  Minkomnicnsarien  unter  \ier  1  i.iuptabtei- 
lungen  und  19  lünzelfällcn  umgangen,  wobei  man  den  Kin- 
kommcnsbegriff  durch  eine  besondere  Aufzählung  allgemeiner 
imd  besonderer  Abzüge,  die  von  dem  als  ,, Einkommen"  be- 
zeichneten Objekt  gemacht  werden  durften,  zu  wahren  suchte. 

\'on  den  \icr  llauptgruppen  des  steuerpflichtigen  Ein- 
kommens, die  in  dem  1'  i  1 1  sehen  Einkommensteuergesetz  auf- 
gestellt wurden,  geben  nur  die  beiden  ersten  eine  sachliche 
Bestimmung  des  Steuerobjekts,  während  die  dritte  Gruppe  alle 
aus  dem  Ausland  kommenden  Einkommensarten  unter  sich  be- 
greift und  die  vierte  Gruppe  die  sogenannte  ,,sweeping  clause" 
des  Gesetzes  darstellt,  durch  welche  alle  nicht  besonders  auf- 
gezählten Einkommensarten  gesetzlich  der  Besteuerung  unter- 
worfen wurden.  Die  erste  Gruppe  umfaßt  in  14  Unterabtei- 
lungen die  aus  dem  Grundbesitz  oder  der  Bodenbewirtschaftung 
fließenden  Einkommensarten,  in  welchen  die  Ertragsmomente 
den  reinen  Einkommenscharakter  stark  überwiegen,  und  auf 
die  daher  die  meisten  der  gestatteten  Abzüge  zugeschnitten 
waren.  In  der  zweiten  Gruppe  sind  die  aus  dem  Vermögen 
oder  der  gewerblichen  und  beruflichen  Tätigkeit  fließenden 
Einkommen  aufgezählt,  auf  die  der  reine  Einkommensbegriff 
leichter  anwendbar  ist. 

Die  zur  Feststellung  des  reinen  Steuereinkommens  gestat- 
teten Abzüge  zerfallen  i.  in  allgemeine,  d.h.  solche,  die  von 
dem  Gesamtbetrag  des  Einkommens  gemacht  werden  durften 
(Lebensversicherungsprämien,  Jahresrenten  und  Zuschüsse  an 
Kinder  und  Verwandte),  und  2.  in  besondere  Abzüge,  die  nur  \on 
einzelnen  besonders  aufgeführten  Einkommensteilen  gemacht 
werden  durften.  Diese  besonderen  Abzüge  lassen  sich  wieder 
in  zwei  Arten  zerlegen:  a)  in  solche,  die  zur  Vermeidung  einer 
Doppelbesteuerung  gewährt  wurden  (Abzug  des  Landsteuer- 
betrags, von  Zehnten,  kirchlichen  Abgaben  und  des  Betrags 
der  assessed  taxes,  soweit  das  veranlagte  Einkommen  auch  für 
diese  Steuern  als  Bemessungsgrundlage  gilt)  und  b)  in  solche 
Abzüge,  die  zur  Ermittlung  des  Steuereinkommens  dienten  (Ab- 
zug von  Renten,  Dienstausgaben,  Schuldzinsen  und  Kapitals- 
ersatzkosten 8^).  Die  so  objektiv  bestimmte  Steuerpflicht 
wurde  durch  die  Befreiungsgrenze,  die  auf  60  C  jährlichen  Ge- 


85)  Dowell,   History,    III,  p.    103 ff. 


~    139   — 

samteinkommens  festgesetzt  wurde,  auf  alle  diejenigen  Ein- 
kommen beschränkt,  welche  diesen  Betrag  überstiegen,  womit 
nicht  nur  die  durch  das  indirekte  System  bedingte  Berück- 
sichtigung der  schwächeren  Steuerkräfte  durchgeführt,  sondern 
auch  die  verwaltungstechnische  Schwierigkeit  umgangen  wurde, 
welche  in  der  Erfassung  der  kleinsten  Einkommen  lag.  Das 
methodische  Mittel  aber,  die  subjektive  und  objektive  Steuer- 
pflicht zu  ermitteln,  war  mit  der  zwangsweisen  Deklaration  des 
Gesamteinkommens,  die  von  jedermann  gefordert  wurde,  ge- 
geben, so  daß  dadurch  das  ganze  steuergesetzlich  bestimmte 
Objekt  auch  tatsächlich  der  Besteuerung  unterworfen  werden 
konnte. 

Eine  statistische  Erfassung  der  gesamten  Steuerpflicht  wird 
nicht  nur  durch  die  Mangelhaftigkeit  der  damaligen  statisti- 
schen Aufstellungen  erschwert,  sondern  durch  den  Umstand 
fast  unmöglich  gemacht,  daß  18 16  nicht  nur  die  Einkommen- 
steuer selbst,  sondern  auch  das  von  ihr  zeugende  amtliche 
Material  auf  einen  Parlamentsbeschluß  hin  dem  Widerwillen 
der  Mehrheit  zum  Opfer  fiel.  Für  das  Jahr  1 800/1  sind  in 
den  Parlamentary  Accounts  von  1801  Angaben  enthalten,  die 
auch  für  die  anderen  Jahre  ein  ungefähres  Bild  der  Einkommens- 
verteilung gewähren  können  ^'^). 

Darnach   betrug  für  die   Einkommensklassen 

unter  200  £     über  200  £     Insgesamt 
die  Zahl  der  Veran- 
lagungen 2-51699  69060  320759 
der    Betrag    des    er- 
faßten Einkommens    18,660  Mill.£    56,oi6Mill.  £   74,676Mill.  £. 

Der  '  hauptsächlichste  Widerstand,  welchen  die  P  i  1 1  - 
Steuer  gefunden  hatte,  war  gegen  die  zwangsweise  Deklaration 
des  Gesamteinkommens  und  die  dadurch  verursachte  Auf- 
deckung der  privaten  Vermögenslage  gerichtet.  Bei  der  Wieder- 
einführung der  Einkommensteuer  im  Jahre  1803  sah  sich  daher 
Addington  gezwungen,  dieses  methodische  Mittel,  die  sub- 
jektive und  objektive  Steuerpflicht  zu  offenbaren  und  damit 
eines  der  wesentlichsten  Merkmale  der  Einkommensbesteuerung 
fallen  zu  lassen.  Da  aber  die  Ertragsfähigkeit  durchaus  ge- 
sichert werden  mußte,  wenn  die  Steuer  aufrecht  erhalten  werden 

86)  The  Parlamentary  Accounts  and  Papers  for  the  year  1801/02. 


140     — 

sollte,  so  ciuslaiul  zunächst  die  Xolwcndigkcit,  ein  neues  metho- 
disches Mittel  zu  finden,  (lur<  h  welches  die  Erfüllung  der  Steuer- 
])flicht  sichergestellt  wurde  und  das  doch  die  Notwendigkeit 
luiiging,  die  gesamte  Vermögenslage  des  Steuerzahlers  vor  den 
Augen  ehrenamtlicher  X'eranlagungskommissionen  aufzudecken. 
Dieses  Mittel  fand  Adtlington  in  der  Zerlegung  der  bisher 
einheitlichen  Steuer  in  fünf  xoneinander  unabhängige  Teil- 
stcuern,  in  der  Weise,  dal5  nur  für  die  unter  jede  derselben 
fallenden  lunkomniensteile  eine  Deklarationspfli*  ht  bestand  inid 
eine  Gesamtdeklaration  nur  dann  eintrat,  wenn  Anspruch  auf 
gänzliche  Steuerbefreiung  erhoben  wurde.  Unterscheidet  sich 
dieses  Erhebungsverfahren  nur  wenig  von  dem  in  der  P  i  1 1  - 
Steuer  ausgeübten,  so  zog  doch  die  Anwendung  eines  zweiten 
Verfahrens,  das  damit  \crbunden  und  überall  dort,  wo  es 
möglich  war,  durchgeführt  wurde,  eine  gänzliche  Umgestaltung 
der  bisherigen  Steuerorganisation  nach  sich.  Dieses  zweite  Ver- 
fahren, das  der  englischen  Einkommensteuer  ihr  eigenartiges 
Gepräge  verlieh,  wird  als  , .Erhebung  an  der  Quelle"  (stoppage 
at  the  source)  bezeichnet  und  bedeutet,  daß  das  Einkommen 
ohne  Rücksicht  auf  den  schließlichen  Empfänger  dort  erfaßt 
wurde,  wo  es  zuerst  entstand.  In  bezug  auf  die  subjektive 
Steuerpflicht  bedeutet  dieses  Prinzip,  daß  sie  dem  ursprüng- 
hchen  Einkommensempfänger  zugeschoben  wurde,  der  als 
Steuerzahler  funktionierte  und  durch  ein  System  der  Über- 
wälzung einen  Teil  der  Steuerleistung  auf  den  sekundären  Ein- 
kommensempfänger ablud.  Damit  näherte  sich  das  Erhebungs- 
verfahren der  Einkommensteuer  dem  in  der  indirekten  Be- 
steuerung angewandten  und  ordnete  sich  so  methodisch  mehr 
dem  das  ganze  Steuersystem  beherrschenden  Prinzip  unter. 
Die  objektive  Bestimmung  der  Steuerpflicht  blieb  in  dem  neuen 
Steuergesetz  im  wesentlichen  unverändert,  erfuhr  aber  eine  Er- 
weiterung durch  die  Einfügung  der  Einkommensteile,  die  aus 
der  Kapitalsanlage  in  britischen  Anleihepapieren  flössen,  die 
bisher  von  jeder  Besteuerung  entsprechend  einer  Bestimmung 
der  .Anleihegesetze  verschont  geblieben  waren.  Dem  neuen 
Erhebungsprinzip  gemäß  wurde  dagegen  die  Klassifikation  der 
Einkommensarten  neu  gestaltet  und  nach  fünf  Gruppen,  den 
sogenannten    schedules  ^^ ),    angeordnet. 

S7)  Schedules  ist  die  technische  Bezeichnung  der  Anlagen,  die  einem 
Gesetz  beigegeben  werden  und  hat  auch  hier  in  bezug  auf  die  Einkommen- 


—     141     — 

In  dem  Einkommensteuergesetz  von  1806  erfuhr  die  ob- 
jektive Steuerpflicht  eine  weitere  Ausdehnung  durch  die  Herab- 
setzung der  Befreiungsgrenze  auf  50  £  jährhchen  Gesamtein- 
kommens und  durch  die  Aufhebung  des  Rechts,  die  Wiedcr- 
herstellungskosten  vom  veranlagten  Einkommen  abzuziehen.  .Mit 
unwesentlichen  Änderungen  wurde  das  Einkommensteuergesetz 
von  1806  bei  der  Wiedereinführung  der  Steuer  durch 
Sir  Robert  Peel  in  derselben  Fassung  übernommen,  mit  der 
einen  Ausnahme,  daß  die  Befreiungsgrenze  auf  1 50  £  hinauf- 
gesetzt wurde.  Diese  Fassung  ist  die  Grundlage  aller  späteren 
Einkommensteuergesetze  geblieben,  und  in  der  folgenden  Dar- 
stellung der  objektiven  und  subjektiven  Steuerpflicht,  wie  sie 
durch  diese  Neuordnung  bestimmt  wurde,  legen  wir  darum 
das  Gesetz  von   1842  (5  a.  6  Vict.  c.  35,    1842)  zugrunde '^**j. 

Die  gänzliche  Umgestaltung  der  Organisation  der  eng- 
lischen Einkommensteuer  in  den  Gesetzen  von  1803,  1806  und 
1842  ist  die  unmittelbare  Folge  der  Aufgabe  der  Deklarations- 
pflicht für  das  Gesamteinkommen.  Die  Wirkung  dieser  Verände- 
rung machte  sich  nicht  nur  in  der  neuen  Bestimmung  der 
subjektiven,  sondern  auch  der  objektiven  Steuerpflicht  geltend. 
Das  in  der  Pitt-  Steuer  ausgedrückte  Prinzip  der  subjektiven 
Steuerpflicht,  nach  welchem  alle  von  der  britischen  Souveränität 
überhaupt  erfaßbaren  Einkommensempfänger  zur  Steuerleistung 
herangezogen  wurden,  behielt  zwar  seine  grundsätzliche  Geltung 
auch  in  der  neuen  Organisation,  es  erfuhr  aber  eine  von  der 
früheren  völlig  veränderte  Ausdrucksweise,  die  in  der  allgemein 
durchgeführten  Trennung  des  Steuerzahlers  vom  endgültigen 
Steuerträger  hervortrat.  Dabei  wurde  jedoch  die  subjektive 
Steuerpflicht  von  dem  Gesamteinkommen  losgelöst  und  mit 
dem  Teileinkommen  verbunden.  So  wird  in  der  neuen  Gestal- 
tung der  englischen  Einkommensteuer  die  subjektive  Steuer- 
pflicht den  einzelnen  Einkommensquellen  zugeordnet  und  ver- 
liert ihre  Bedeutung  als  ein  selbständiges  und  wesentliches  Merk- 
mal der  Einkommensbesteuerung.    Im  folgenden  findet  sie  des- 


steuer  keine  ändere  Bedeutung.  Die  schedules  werden  fortlaufend 
mit  den  Buchstaben  des  Alphabets  benannt.  In  dem  Einkommen- 
steuergesetz hat  sich  die  Anordnung  der  schedules  erhalten  und  ihre  Be- 
nennung wurde  zur  Abkürzung  auf  die  Einkommensarten  übertragen,  die 
jeweils   unter   ihnen   zusammengefaßt   waren. 

88)  Vgl.   hierzu   DoweU,    Incomc   tax  Acts,    Introd. 


—     142     — 

h.ilb  nur  in  X'crbinclunj;  mit  der  objektiven  Steuerpflicht  nach 
den   Kategorien   der   lünt    schedules  ihre  Darstelhmg. 

Eine  unmittell)are  Schwierigkeit,  die  sich  aus  dem  Wegfall 
der  allgemeinen  Deklarationsjjflicht  ergab,  lag  in  der  Offen- 
barung der  Steuerpflicht  überhaupt,  soweit  sie  durch  das  Merk- 
mal des  Einkommensbezugs  bedingt  wurde.  Dieser  Schwierig- 
keit wurde  dadurch  begegnet,  daß  jedermann,  der  in  irgend- 
welcher Form  an  einen  Dritten  Einkommen  auszahlte,  xor  allem 
also  Arbeitgeber,  Rentenzahlungsstellen  usw.  auf  Aufforderung 
hin  verpflichtet  waren,  diese  Einkommensempfänger  namhaft 
zu  machen.  Dieselbe  Pflicht  bestand  auch  für  Hausinhaber,  die 
eine  Liste  sämtlicher  selbständigen  Hausinsassen  einzureichen 
hatten,  und  für  Grundbesitzer,  die  alle  zu  ihrem  Besitz  gehören- 
den und  verpachteten  Gutsteile  mit  den  Namen  der  Pächter 
anzugeben  hatten.  Mit  diesen  Bestimmungen  war  die  Mög- 
lichkeit gegeben,  den  Umkreis  der  steuerpflichtigen  Personen 
auf  indirekte  Weise  zu  offenbaren  und  der  Steuer  zu  unter- 
werfen. Dazu  kam  noch  die  weitere  Verpflichtung,  die  für 
jedermann  galt,  ob  er  steuerpflichtig  war  oder  nicht,  auf  Auf- 
forderung der  Veranlagungskommission  hin  eine  Deklaration 
abzuliefern  ^9). 

Dienten  diese  Anordnungen  wesentlich  nur  als  technische 
Hilfsmittel,  die  der  subjektiven  Steuerpflicht  unterliegenden 
Einkommensempfänger  überhaupt  festzustellen,  so  wurde  die 
eigenthche  Steuerpflicht  nach  den  objektiven  Merkmalen  der 
Einkommensart  und  den  subjektiven  des  Einkommensbezugs 
durch  die  unter  den  fünf  schedules  enthaltenen  Bestimmungen 
begründet.  In  dieser  Beziehung  liegt  der  Unterschied  zwischen 
den  beiden  Steuern  darin,  daß  die  kasuistische  Aufzählung  der 
Einkommensteile  in  der  Pitt-  Steuer  durch  eine  generelle  Ein- 
teilung der  Einkommensarten  in  der  Peel-  Steuer  ersetzt  wurde. 
Damit  wurde  in  der  Peel -Steuer  nicht  mehr  das  Gesamtein- 
kommen in  seiner  Zusammenfassung  bei  der  Einkommen  be- 
ziehenden Person  besteuert,  sondern  es  wurden  die  vonein- 
ander unabhängigen  Einkommensarten  ohne  Rücksicht  darauf, 
ob  und  wo  sie  schließlich  zu  einem  Gesamteinkommen  zu- 
sammenflössen, dort  besteuert,  wo  sie  ursprünglich  entstanden. 
Damit  aber  war  auch  das  Merkmal  einer   wirklichen  Einkom- 


S9)  Vgl.   Income  tax  Act    1842,  sect.  48   und  50. 


—     143     — 

mensbesteuerung  aufgegeben,  daß  das  Einkommen  begrifflich 
einen  letzten  Abschluß  darstellt,  da  die  in  den  schedules  zu- 
sammengefaßten Einkommensarten  gleichzeitig  ursprüngliche 
und  abgeleitete  Einkommen  unter  sich  begriffen,  die  auf  dem 
Weg  ihrer  weiteren  Verteilung  sich  erst  nach  der  Besteuerung 
trennten  und  dabei  an  verschiedene  nicht  durch  die  Einheit 
der  Person  zusammengefaßte  Wirtschaftseinheiten  fließen  konn- 
ten. Damit  war  aber  die  reine  Scheidung  zwischen  Ertrag 
und  Einkommen  teilweise  verwischt  und  eine  klare  Bestimmung 
des  ,, Einkommens"  als  dem  der  Besteuerung  unterworfenen 
Objekt  unmöglich  geworden,  soweit  der  Steuerzahler  in 
Betracht  kam.  Fassen  wir  nur  das  Verhältnis  dieses  zu  dem 
besteuerten  Objekt  ins  Auge,  so  stellt  sich  die  jetzige  englische 
Einkommensteuer  teilweise  als  eine  besondere  Art  der  Ertrags- 
besteuerung dar,  und  erst  am  Abschluß  des  ganzen  Besteuerungs- 
Drozesses,  also  bei  der  Überwälzung  der  Steuerleistung  auf  den 
eigentlichen  Steuerträger,  tritt  das  Merkmal  des  reinen 
Einkommens  wieder  deutlich  hervor.  So  zerfällt  die  englische 
Einkommensbesteuerung  in  zwei  nicht  deutlich  getrennte,  aber 
zeitlich  doch  aufeinanderfolgende  Besteuerungsformen:  ein- 
mal in  eine  Form  der  direkten  Ertragsbesteue- 
rung bei  dem  Steuerzahler  und  zum  anderen  in 
eine  Form  indirekter  Einkommensbesteuerung 
durch  das  Mittel  der  Überwälzung  auf  den  Steuer- 
träger. Darin  liegt  die  charakteristische  Art  der  englischen 
Einkommensbesteuerung,  wie  sie  mit  der  A  d  d  i  n  g  t  o  n  sehen 
Steuer  von  1803  neu  geschaffen  wurde,  und  wir  werden  sehen, 
daß  der  weitere  Verlauf  der  inneren  Entwicklungsgeschichte 
der  Einkommensteuer  wesentlich  in  einer  allmählich  fortschrei- 
tenden Rück-  oder  Umbildung  dieser  Form  in  die  einer  reinen 
Einkommensbesteuerung  bestand. 

Die  Zerlegung  des  Gesamteinkommens  in  seine  ursprüng- 
lichen Teile  nach  den  möglichen  Einkommensarten  schloß  sich 
äußerlich  an  die  kasuistische  Aufzählung,  wie  sie  die  Pitt -Steuer 
gab,  an.  Die  erste  Gruppe  derselben,  welche  die  Einkommen 
aus  Grundbesitz  und  Bodenbewirtschaftung  umfaßte,  zerlegte 
sich  dabei  in  zwei  selbständige  Teile,  indem  die  aus  dem  Besitz 
stammenden  Einkommen  fsched.  A),  von  den  aus  der  Bewirt- 
schaftung sich  ergebenden  (sched.  B)  getrennt  wurden,  und 
zwar  auch  dann,  wenn  Besitz  und  Bewirtschaftung  bei  ein  und 


—     144     — 

derselben  rcisoii  vereinigt  waren.  Die  dritte  Ürupi)e  (schud.  C) 
enthielt  alle  Einkommen,  die  aus  der  Kapitalsanlage  in  Staats- 
papieren flössen  und  die  aus  der  Staatskasse  bezahlt  wur- 
den'"'). Die  zweite  Einkommensgruppe  der  Pitt -Steuer  deckt 
sich  inhaUlich  wii-drr  mit  di-n  schedules  I)  und  E,  ist  aber  hier 
in  der  Weise  auseinander  gelegt,  daß  die  gewerblichen  Ein- 
kommen jeder  Art  (sched.  D)  von  den  beruflichen,  soweit  sie 
aus  der  Staatskasse  gezahlt  wurden  (sched.  E),  getrennt  wurden. 
Von  diesen  fünf  Teilsteuern  nehmen  nun  die  beiden  ersten 
(^schedules  A  u.  B)  insofern  eine  Sonderstellung  ein,  als  sie  durch 
die  Bestimmung  sowohl  des  durch  sie  erfaßten  Objekts  als 
auch  durch  die  Art  der  Steuerleistung  eng  miteinander  ver- 
knüpft erscheinen.  Besteuerungsgrundlage  und  Steuerquelle  sind 
in  beiden  Teilsteuern  wenigstens  in  weitem  Umfang  dieselben. 
In  beiden  ist  die  objektive  Grundlage  der  Grund  und  Boden  mit 
allem  Zubehör,  wobei  nun  unter  sched.  A  die  ßemessungsgrund- 
lage  das  Merkmal  des  Besitzes,  unter  sched.  B  aber  das  Merkmal 
der  Bewirtschaftung  bildet.  Bei  beiden  Teilsteuern  aber  ist 
auch  die  Steuerquelle  genau  dieselbe,  nämlich  der  Bodenertrag, 
der  in  seine  beiden  Bestandteile :  Arbeitsertrag  und  Kapitals- 
ertrag zerlegt  wird.  Die  beiden  hieraus  stammenden  Ein- 
kommen, das  Arbeitseinkommen  und  das  Kapitalseinkommen, 
erscheinen  deshalb  als  die  abgeleiteten  Einkommensarten  des 
Bodenwirtschaftseinkommens,  das  ursprünglich  nicht  aus  der 
Tatsache  des  Besitzes,  sondern  der  -Bodenbewirtschaftung  ent- 
springt. So  wird  hier  das  Prinzip  der  Erfassung  an  der  Quelle 
in  der  Weise  anwendbar,  daß  die  Pflicht  der  Steuerleistung 
sowohl  in  bezug  auf  die  unter  sched.  A  veranlagten  Besitz-  oder 
Kapitalseinkommen,  als  auch  der  unter  sched.  B  veranlagten 
Arbeitseinkommen  auf  ein  und  dieselbe  Person,  den  Bewirt- 
schafter,  gelegt  wird.  Es  werden  hier  also  beide  Teileinkommen, 
die  getrennt  veranlagt  wurden,  zum  Zweck  der  Besteuerung 
wieder  zu  dem  einen  Bodeneinkommen  vereinigt.     Wo  Bewirt- 

90)  Sched.  C  lautet  in  der  Fassung  des  Einkommensteuergesetzes  von 
1842,  sect.  I  :  „Upon  all  profits  arising  from  annuities,  dividends  and  shares 
of  annuities,  payable  to  any  person  etc.  out  of  any  public  revenue  etc.' 
Dabei  stellen  die  „annuities"  die  Verzinsung  und  die  Rückzahlungsquoten 
der  fundierten  Staatsschuld  dar,  während  „dividends  und  shares  of  annuities' 
Teilzahlungen  der  Annuitäten  bedeuten.  1853  wurde  vor  „annuities" 
noch  das  Wort  „interest"  eingeführt,  womit  die  Verzinsung  der  unfundierten 
Schuld  (der  Exchequer  Bonds  and  Bills,  Treasury  Bills)  erfaßt  wird. 


145     — 


Schaffung  und  Besitz  getrennt  sind,  Arbeits-  und  Kapitalsein- 
kommen darum  verschiedenen  Wirtschaftseinheiten  zufheßen 
also  in  den  Fällen,  wo  irgend  eine  Form  der  Pachtung  besteht,' 
tritt  die  Steuerüberwälzung  in  der  Weise  ein,  daß  der  Steuer- 
zahler (Bewirtschafter,  Pächter)  den  auf  das  Kapitaleinkommen 
entfallenden  Steueranteil  bei  dem  Grundbesitzer  durch  einen 
Abzug  von  der  für  die  Bodenbenutzung  zu  zahlenden  Rente 
(Pacht)  in  Anschlag  bringt.  Dabei  bildet  das  Steuerobjekt  unter 
sched.  A  das  volle  aus  dem  Besitz  stammende  Kapitalsein- 
kommen, das  nach  dem  durchschnittlichen  Betrag  der  in  den 
drei  vorausgegangenen  Jahren  gezahlten  Rente  berechnet  wird. 
Das  Prinzip,  das  Einkommen  an  der  Quelle  zu  erfassen,  tritt 
auch  hier  wiederum  hervor,  indem  keinerlei  Lasten  in  Abzug 
gebracht  werden  dürfen,  die  sich  aus  irgend  einer  Form  der 
Besitzbelastung  ergeben.  Wo  eine  solche  stattfindet,  steht  dem 
Besitzer  die  Überwälzung  des  entsprechenden  Steueranteils  durch 
Abzug  von   der  rechtlichen  Verpflichtung  zu. 

Unter  der  sched.  B  ist  das  Steuerobjekt  identisch  mit  dem 
unter  sched.   A  Veranlagten,   mit  dem  einen   Unterschied,   daß 
der  Ertrag  der  nicht  zur  Bewirtschaftung  gehörigen  Wohnhäuser 
von   dem   Gesamtertrag   in   Abzug  gebracht   wird.     (Ökonomie- 
gebäude dagegen  sind  mit  eingeschlossen.)    Dieses  Objekt  wird 
als    angenommener   Maßstab    des   Bewirtschaftungsemkommens 
der  Besteuerung  zugrunde  gelegt  und  nicht  der  tatsächlich  er- 
zielte Ertrag.     Doch  wird  im  Gegensatz  zu  sched.  A  an  dieses 
Objekt  nicht  der  volle  Steuersatz,  sondern  ein  ermäßigter  Satz 
angelegt,  der  1842  für  England  auf  1/2  und  für  Schottland,  wo 
der   Wirtschaftsertrag   niedriger    angesetzt    wurde,    auf    V3    des 
Normalsatzes    festgesetzt    wurde.      Dasselbe    Verhältnis    wie   für 
Schottland  wurde  1853  auch  auf  Irland  übertragen.     1894  wurde 
bei    einem   Normalsatz    von   8  d   der   Satz    unter   sched.    B    mit 
3  d  für  alle  drei  Länder  vereinheitlicht.    Durch  das  Finanzgesetz 
von   1896  wurde  diese  Form  der  Veranlagung  aufgegeben  und 
der  Bewirtschaftungsertrag  für  sched.  B  auf  1/3  des  unter  sched.  A 
veranlagten  Besitzertrags  festgesetzt   und   der  Normalsatz  auch 
auf    die    unter    sched.    B    veranlagten    Einkommen    angewandt. 
Diese   eigentümliche   Form    der   Berechnung   des   Steuerobjekts 
hängt  mit  der  allgemeinen  Unzuverlässigkeit  der  landwirtschaft- 
lichen Buchführung  zusammen,  die  auch  jetzt  noch  nicht  über- 
wunden ist  und   die  genaue  Berechnung  des  tatsächlichen   Er- 

Zeitschrift  für  die  ges.  Staatswissenschaft.     Hrgänzungshcft  48.  iq 


—     146    — 

Irags  unint'tglich  niaclu.  Durch  das  P'inanzgcsciz  \on  1887  wurde 
die  Wahl  frcigt-gL-ljcii,  dif  aus  der  landwirtschafllichcn  Tätigkeit 
stanimeiiden  Einkoniimii  unter  sclu-d.  D  nach  den  für  die 
gewerblichen  Einkommen  gehenden  ßestimmungen  zu  ver- 
anlagen. Daß  von  dieser  Vergünstigung  nur  ein  geringer  Ge- 
brauch gemacht  wird,  zeigt,  wie  wenig  die  dazu  nötige  Voraus- 
setzung einer  geregelten  Buchführung  auch  heute  noch  vor- 
handen  ist^i). 

Wenn  sich  unter  den  beiden  schedules  A  und  ß  noch  ein 
mit  der  Deklaraiionsj)fiicht  verbundenes  besonderes  \'eran- 
lagungs\erfahren  notwendig  machte,  fällt  dieses  bei  der  Eigen- 
heit der  hier  erfaßten  Einkommensart  unter  der  sched.  C  völlig 
weg.  Da  es  sich  hier  ausschließlich  um  Einkommensarten 
handelt,  die  durch  amthche  Zahlungsstellen  zur  Verteilung  ge- 
langen, läßt  sich  bei  diesen  Einkommen  das  Prinzip  der  Er- 
fassung an  der  Quelle  in  seiner  vollendetsten  Einfachheit  in  der 
Weise  durchführen,  daß  der  jeweils  fällige  Stcuerbetrag  an  den 
Auszahlungsstellen  einbehalten  und  auf  dem  Wege  der  Ab- 
rechnung der  Staatskasse  zugeführt  wird.  Soweit  diese  Ein- 
kommen solchen  Empfängern  zufließen,  die  Anspruch  auf  Steuer- 
freiheit haben,  weil  ihr  Gesamteinkommen  unter  der  Befreiungs- 
grenze bleibt,  ergibt  sich  hieraus  freilich  eine  Komplikation  des 
Systems,  indem  im  Falle  des  nachgewiesenen  Anspruchs  die 
einbehaltenen  Beträge  rückvergütet  werden  müssen. 

Genau  dasselbe  gilt  auch  für  die  unter  sched.  E  veranlagten 
und  vom  Staat  ausbezahlten  Einkommensarten,  bei  denen  der 
Steuerbetrag  ebenfalls  vor  der  Auszahlung  in  Abzug  gebracht 
wird.  Die  Notwendigkeit  der  Rückvergütung  tritt  auch  hier 
hervor  und  wird  noch  seit  der  Einführung  des  Gradationssystems 
vermehrt,  indem  der  Anspruch  auf  einen  Steuernachlaß  ebenfalls 
erst  durch  Bildung  des  Gesamteinkommens  nachgewiesen  werden 
kann,  so  daß  also  auch  hier  die  an  einem  Teil  des  Einkommens 
vorgenommene  Einziehung  des  Steuerbetrags  durch  Rückzah- 
lung wieder  vergütet  werden  muf3.  So  sind  es  vor  allem  diese 
beiden  schedules,  die  durch  die  Art  ihres  Erhebungsverfahrens 
das  Abatementsystem  erschwert  haben. 

Die  umfassendste  und  ihrem  Ertrag  nach  entwicklungs- 
fähigste  aller  Teilsteuern   enthält   sched.   D.     Die    unter   dieser 


gl)  Vgl.  hierzu  die  Finanzgesetze  von  1842,  1853,  1887,  1894  und  1896. 


—     147     — 

zusammengefaßten    Einkommen    sind    unter    sechs    Fällen    auf- 
geführt, von  denen  aber  nur  die  beiden  ersten  Bedeutung  be- 
sitzen,   welche   die   gewerblichen    und   beruflichen   Einkommen, 
soweit  sie  nicht  durch  andere  schedules  erfaßt  werden,  enthalten. 
Die  objektive  Bestimmung  der  unter  dieser  schedule  veranlagten 
Einkommen  beruht  auf  der  Deklaration  des  jährlichen  Einkom- 
mens, soweit  es  den  aufgeführten  Quellen  entstammt  und  nach 
den  für  die  jährlich  zu  ziehende  Bilanz  geltenden  Regeln  festge- 
stellt wird.     Von  den  veranlagten  Einkommen  dürfen  nur  die 
schlechten   Schulden,   nicht  aber  Ausgaben,   die   dem  Erwerbs- 
betrieb als  solchem  fremd  sind,  wie  die  Ausgaben  für  den  Fa- 
milienunterhalt,  aber  auch   nicht   Ausgaben  für   Kapitalsersatz, 
Wiederherstellungskosten  oder  Schuldverzinsung  in  Abzug  ge- 
bracht werden.    Dagegen  ist  auch  wieder  in  allen  den  Fällen, 
wo  ein  Teil  des  Einkommens  infolge  irgend  welcher  rechtlicher 
Verpflichtungen,  die  auf  dem  unter  dieser  schedule  veranlagten 
Objekt  ruhen,  dem  Empfänger  wieder  entzogen  wird,  die  Über- 
wälzung eines  entsprechenden  Teiles  auf  den  endgültigen  Ein- 
kommensempfänger steuergesetzlich   vorgesehen.    Eigentümlich 
ist  dieser  schedule  eine  Bestimmung,  nach  der  in  solchen  Fällen, 
wo  eine  Person  gleichzeitig  an  mehreren  Unternehmungen  be- 
teiligt ist  oder  sie  ganz  betreibt,  die  in  einem  Betrieb  erlittenen 
Verluste  von  den  gesamten   unter  dieser  schedule  veranlagten 
Einkommen    in    Abzug    zu    bringen,    eine    Bestimmung,    durch 
welche    die    Einheit    des    Einkommensempfängers    für    die    hier 
veranlagten    Einkommen   hergestellt    wird   und   in   welcher    der 
selbständige    Charakter    dieser    Teilsteuer    deutlich    hervortritt. 
Durch    diese    Gestaltung    der    subjektiven    und    objektiven 
Steuerpflicht,    wie    wir   sie   jetzt    dargestellt   haben,    und    durch 
welche   die   Einheit   des   Steuerzahlers   sowohl   als   des   Gesamt- 
einkommens   aufgegeben    wurde,    erscheint    die    Zerlegung    der 
früher  einheitlichen  Einkommensteuer  in  eine  Gruppe  von  Teil- 
steuern mit  scharf  gesondertem  Objekt  und  ebenso  scharf  ab- 
gesonderter subjektiver  SteuerpfHcht  in  dem  Einkommensteuer- 
gesetz  von    1842   so   extrem   durchgeführt,   daß   auch   die   zum 
Nachweis   der  Steuerbefreiung   geltende   Zusammenfassung  der 
Teileinkommen   zu    dem    Gesamteinkommen    einer    Wirtschafts- 
einheit   die   tatsächliche   Einheit    der  Besteuerung   nicht    herzu- 
stellen vermochte.     Dagegen  trat  von  einer  anderen  Seite  her 
in    die    innere    Entwicklung    der    Einkommensteuerorganisation 


—     148     — 

ein  Monienl  ein,  das  in  seiner  Fortbildung  die  xerloren  ge- 
gangene Verbindung  der  Teilsteuern  zu  einer  einheilliciu-n  Steuer 
wieder  herstellte  und  immer  enger  knüpfte.  Dieses  Moment  ent- 
stammte der  mit  dem  Abatementsystem  beginnenden  Berück- 
sichtigung der  individuellen  Leistungsfähigkeit,  die  in  der  Peel- 
Steuer  nur  in  der  Befreiungsgrenze  zum  Ausdruck  kam,  die  aber 
in  dieser  Form  nicht  mehr  genügte,  als  die  stärkere  Heranziehung 
der  Einkommensteuer  zur  Bedarfsdeckung  zu  einem  finanz- 
politischen und  fiskalischen  Bedürfnis  wurde.  So  war  mit  dem 
Abatementsystem  das  treibende  Moment  gegeben,  das  die  sub- 
jektive Einheit  der  Einkommensteuer  wieder  herstellte.  Bevor 
wir  aber  dieser  Entwicklungslinie  im  einzelnen  nachgehen,  haben 
wir  uns  den  nach  1842  auftauchenden  und  mit  der  begrifflichen 
Abgrenzung  der  Steuerpflicht  verbundenen  Fragen,  sowie  der 
tatsächlichen  Einkommensentwicklung  als  der  Grundlage  der 
Ertragsentwicklung  zuzuwenden. 

§2. 

Die    begriffliche    Fortentwicklung    der    objekti\-en 

Steuerpflicht. 

Die  Abgrenzung  der  objektiven  Steuerpflicht  in  dem  P-in- 
kommensteuergesetz  von  1842  ist  die  Grundlage  der  Einkom- 
mensentwicklung in  der  folgenden  Zeit  geblieben,  ohne  eine 
grundsätzliche  Abänderung  zu  erfahren.  Freilich  blieb  diese 
Bestimmung  des  Steuerobjekts  nicht  ganz  unangefochten,  und 
vor  allem  waren  es  drei  Fragen,  die  in  dieser  Beziehung  schon 
in  den  ersten  Jahren  nach  der  Wiedereinführung  der  Steuer  auf- 
tauchten und  vor  allem  vor  der  Einkommensteuerkommission 
von  185 1  und  1852  lebhafte,  aber  auch  widersprechende  Er- 
örterung fanden  ^2j  j^  diesen  Fragen  waren  zu  einem  guten 
Teil  die  mannigfachen  Gegengründe,  die  gegen  die  Steuer  er- 
hoben wurden,  begründet  und  von  ihrer  Lösung  hing  so  teilweise 
zwar  nicht  die  Existenz,  aber  doch  die  Ertragsfähigkeit  der 
Steuer   ab. 

Zunächst  war  es  die  Frage  der  Befreiungsgrenze,  die  in  dop- 
pelter, aber  entgegengesetzter  Richtung  für  eine  Fülle  von  Be- 
denken   und    Einwänden    Anlaß    und    Gründe    darbot.     Soweit 


92)  Vgl.  hierzu  die  beiden  Reports  of  the  Select  Committee  on  Incomc 
tax  von  1852. 


—     149     — 

man  die  rein  finanzielle  Ertragsfähigkeit  der  Einkommensteuer 
als  Wertmaßstab  anwendete,  konnte  man  sich  der  Einsicht  nicht 
verschließen,  daß  die  Aufrechterhaltung  einer  Befreiungsgrenze 
überhaupt  nicht  nur  einen  erheblichen  Teil  des  gesamten  Volks- 
einkommens von  der  Besteuerung  befreite,  sondern  auch  der 
Möglichkeit  einer  unrechtmäßigen  Steuerhinterziehung  breiten 
Spielraum  gewährte.  Die  Versuchung,  das  Gesamteinkommen 
unter  die  Befreiungsgrenze  zu  bringen,  lag  gerade  für  die 
Einkommen,  welche  die  Untergrenze  nur  wenig  überschritten, 
sehr  nahe  und  führte  auch  tatsächlich  in  den  ersten  Jahren 
nach  der  Wiedereinführung  der  Einkommensteuer  zu  einer  zu- 
nehmenden Verminderung  des  gesamten  von  der  Steuer  er- 
faßten und  deklarierten  Einkommens.  In  dieser  Hinsicht  machte 
sich  darum  das  Bestreben  geltend,  die  Befreiungsgrenze  zwar 
nicht  völlig  zu  beseitigen,  aber  doch  so  weit  herabzusetzen,  daß 
der  Ertrag  der  Einkommensteuer  durch  unrechtmäßige  Um- 
gehung der  Steuerpflicht  wegen  der  Kleinheit  der  in  Betracht 
kommenden  Beträge  nicht  mehr  beeinträchtigt  werden  konnte. 
Dazu  aber  kam  der  Umstand,  daß  durch  das  System  der  Er- 
fassung an  der  Quelle  zahlreiche  Einkommensbeträge  besteuert 
wurden,  bevor  sie  ihrem  letzten  Empfänger  zuflössen,  die  ge- 
leisteten Zahlungen  also  in  den  Fällen,  wo  das  Gesamteinkommen 
unter  der  Befreiungsgrenze  blieb,  wieder  rückvergütet  werden 
mußten.  Diese  Komplikation  des  Erhebungsverfahrens  mußte 
um  so  größer  sein,  je  höher  die  Befreiungsgrenze  war,  und 
so  wurde  eine  Herabsetzung  der  Befreiungsgrenze  auf  50  oder 
60  £  jährlichen  Gesamteinkommens  gefordert,  und  teilweise 
kam  Gladstone  dieser  Forderung  1853  auch  entgegen,  als  er 
die  Steuerfreiheit  auf  Einkommen  unter   100  £  beschränkte. 

Andererseits  aber  ging  aus  den  Fragen  der  allgemeinen 
steuerlichen  Belastung  die  Forderung  hervor,  die  direkte  Be- 
steuerung erst  von  einer  bestimmten  Einkommensstufe  an  ein- 
treten zu  lassen,  da  die  Leistungsfähigkeit  der  unteren  Klassen 
durch  die  bestehende  indirekte  Besteuerung  hinreichend  er- 
schöpft wurde.  Je  mehr  nun  aber  die  durch  die  indirekte  Be- 
steuerung verursachte  Gesamtbelastung  anwuchs  und  je  mehr 
sich  das  ursprüngliche  Verhältnis  der  beiden  Besteuerungs- 
methoden verschob,  desto  mehr  trat  auch  wieder  die  Forderung, 
die  Steuerbefreiung  zu  erweitern,  hervor  und  wurde  durch  die 
gleichzeitige    Verschiebung    der    Einkommensverteilung,    durch 


—     ISO     — 

welche  das  Schwergewicht  der  direkten  Besteuerung  immer 
mehr  nach  den  höheren  Einkommensklassen  zu  verschoben 
wurde,  unterstützt.  So  findet  denn  auch  die  Veränderung  der 
finanziellen  Stellung  der  Einkommensteuer  an  den  Wende- 
punkten ihren  Ausdruck  in  der  Erhöhung  der  Befreiungsgrenze 
auf  150  £  und  auf  160  C  (1876  und  1H94),  womit  allerdings  auch 
die  Komphkation  des  Erhebungsverfahrens  durch  die  Notwendig- 
keit vermehrter  Rückzahlungen  wesentlich  verstärkt  wurde. 

Die  zweite  umfassendere  Frage,  die  sich  aus  der  Bestim- 
mung der  objektiven  Steuerpflicht  ergab,  bezieht  sich  auf  die 
Abzüge,  die  von  den  erfaßten  Einkommen  gemacht  werden 
durften,  um  das  steuerpflichtige  Reineinkommen  zu  ermitteln. 
Auch  diese  Frage,  die  sich  wesentlich  auf  die  unter  den  sche- 
dules  A  und  D  veranlagten  Einkommensarten  beschränkte, 
hing  eng  mit  dem  Erhebungsverfahren  an  der  Quelle  des  Ein- 
kommens zusammen  und  spitzte  sich  schließlich  zu  der  Streit- 
frage zu,  inwieweit  die  1842  getroffenen  Bestimmungen  eine 
Doppelbesteuerung  des  gleichen  Einkommens  in  verschiedenen 
Händen  oder  aber  eine  Besteuerung  solcher  Beträge  nach  sich 
zogen,  die  nicht  eigentlich  als  steuerpflichtiges  Einkommen 
gelten  konnten.  Diese  Fragen  fanden  ihre  Erörterung  nament- 
lich in  dem  Bericht  der  Einkommensteuerkommission  von  1861 
und  führten  in  dieser  zu  dem  Vorschlag,  statt  des  Einkommens 
den  kapitahsierten  Wert  der  Einkommensquelle  zur  Bemessungs- 
grundlage für  die  Steuer  zu  machen,  um  damit  einer  durch  die 
Erzeugung  des  Einkommens  hervorgerufenen  Wertverminderung 
der  Einkommensgrundlage  (wie  dies  beim  Abbau  von  erdigen 
und  metallischen  Bodenschätzen  der  Fall  ist)  Rechnung  zu 
tragen  93).  Dieser  Vorschlag,  der  einer  völligen  Aufgabe  des 
Einkommensmerkmals  gleichgekommen  wäre,  und  die  Steuer 
in  eine  Vermögenssteuer  umgewandelt  hätte,  fand  zwar  keine 
Zustimmung,  doch  blieb  daneben  noch  immer  die  Frage  offen, 
inwieweit  die  .Abnutzung  des  Einkommen  erzeugenden  Kapitals 
und  der  Ersatz  von  Kapitalsunkosten,  dann  aber  auch  Kapitals- 
verluste in  Abzug  gebracht  werden  sollten,  um  die  Besteuerung 
des  reinen  und  als  solchen  frei  verfügbaren  Einkommens  zu 
sichern.     Diese  Frage  fand  ihre  Regelung  erst  im  Jahre    1878 

93)  \^gl.  hierzu  den  Report  of  the  Select  Conimittee  on  Incomc  tax  von 
1861. 


—     151     — 

(und  später  1907  wieder)  durch  die  Erlaubnis,  die  Abnutzung 
des  stehenden  Kapitals  (depreciation  by  reason  of  wear  and 
tear)  von  dem  veranlagten  Einkommen  in  Abzug  zu  bringen. 
Unter  sched.  A  fand  das  grundsätzlich  gleiche  Problem,  durch 
Berücksichtigung  der  zur  Einkommensgewinnung  erforderlichen 
Unkosten  nur  das  frei  als  solches  verfügbare  Reineinkommen 
zum  Steuerobjekt  zu  machen,  seine  Lösung  erst  im  Jahre  1894, 
indem  von  dem  unter  sched.  A  veranlagten  Einkommen  für 
landwirtschaftliche  Betriebsgebäude  i/g,  für  alle  anderen  Ge- 
bäude dagegen  ein  ^/^  des  veranlagten  Einkommens  als  Ersatz 
der  erforderlichen  Unkosten  in  Abzug  gebracht  werden  durfte''*). 
Die  finanzielle  Bedeutung  dieser  Bestimmungen  geht  daraus 
hervor,  daß  im  Jahre  1910/ 11  unter  sched.  A  42  Millionen  £ 
und  unter  sched.  D  25  Millionen  £  von  dem  gesamten  ver- 
anlagten Einkommen  in  Abzug  gebracht  werden  durften  und 
so  der  Besteuerung  entgingen. 

Eine  V^erschiebung  innerhalb  der  schedules,  die  aber  keine 
merkliche  Beeinflussung  der  Einkommensentwicklung  zur  Folge 
hatte,  trat  insofern  ein,  als  1866  die  Einkommensarten  aus 
solchen  Unternehmungen,  die  an  einen  bestimmten  Standort 
gebunden  waren  (wie  Bergwerke,  Steinbrüche,  Eisenbahnen,  Gas- 
werke usw.)  und  deshalb  bisher  unter  sched.  A  (Grundbesitz) 
veranlagt  worden  waren,  auf  sched.  D  übertragen  wurden. 

Eine  dritte  Gruppe  von  Einwendungen  gegen  die  objektive 
Bestimmung  der  Steuerpflicht,  wie  sie  1842  gegeben  worden  war, 
ergab  sich  aus  dem  Verfahren,  nach  welchem  die  gewerblichen 
Einkommen  unter  sched.  D  nach  dem  Durchschnitt  der  letzten 
drei  vorausgegangenen  Jahre  berechnet  wurden,  statt  mit  dem 
tatsächlichen  Betrag  des  laufenden  Jahres  veranlagt  zu  werden. 
In  den  Fällen,  wo  es  sich  um  außerordentlich  von  Jahr  zu  Jahr 
anwachsende  oder  zurückgehende  Einkommen  handelte,  ergab 
sich  aus  diesem  Berechnungsverfahren  entweder  eine  Benach- 
teiligung der  Staatskasse,  indem  das  veranlagte  Steuereinkom- 
men unter  dem  tatsächlich  erzielten  Einkommen  zurückblieb 
oder  andererseits  eine  Mehrbesteuerung  des  Steuerzahlers,  wenn 
das  erzielte  Einkommen  des  laufenden  Jahres  den  Durchschnitt 
der  drei   vorausgegangenen   Jahre   nicht   erreichte.     Dazu   kam 


94)  Vgl.    hierzu    das    Gesetz   von    1878,    41/42.      Vict.    c    15,    sect.    12; 
ferner  Finance  Act    1894,   sect.  35   und  Finance  Act   1907,   sect.   13. 


152      - 

noch  der  weitere  Umstand,  dab  in  solchen  l'ällen,  wo  auf  eine 
wirtschafthclie  Hochkonjunktur  ein  plötzhcher  und  starker  Rück- 
schlag eintrat,  das  steuerpflichtige  Einkommen  also  auf  Grund 
eines  außerordentlich  hohen  Durchschnitts  veranlagt  wurde, 
die  Steuerleistung  um  so  drückender  empfunden  wurde,  je 
heftiger  der  Rückschlag  gewesen  war.  Andererseits  aber  lag 
in  dem  System  auch  wieder  insofern  eine  Benachteiligung  der 
Staatskasse,  als  sie  von  außerordentlich  günstig  verlaufenen 
Wirtschaftsjahren  nicht  den  gleichen  Vorteil  hatte,  den  die 
Einkommensempfänger  für  sich  in  Anspruch  nehmen  konnten. 
Das  Ehikommensteuergesetz  von  1842  sah  zwar  für  den  Ein- 
kommcnsteuerzahler  eine  Erleichterung  in  der  Weise  vor,  daß 
auf  den  Nachweis  hin,  daß  das  erzielte  .  Einkommen  eines 
Jahres  unter  dem  Veranlagungsdurchschnitt  blieb,  das  Ein- 
kommen des  laufenden  Jahren  mit  in  die  Durchschnittsbcrech- 
nung  eingesetzt  und  der  Mehrbetrag  der  Steuer  zurückerstattet 
werden  konnte.  Diese  Vergünstigung  blieb  einseitig  auf  den 
Einkommensteuerzahler  beschränkt,  während  der  Fiskus  keine 
Möglichkeit  hatte,  in  den  Fällen,  wo  das  erzielte  Einkommen  den 
veranlagten  Betrag  überstieg,  eine  Nachzahlung  zu  fordern. 
Diese  Einseitigkeit  wurde  durch  das  Einkommensteuergesetz 
von  1907  noch  zugunsten  des  Steuerzahlers  verschärft.  Nach 
dieser  Neuordnung  kann  auf  Antrag  und  den  Nachweis  hin, 
daß  das  erzielte  Einkommen  den  Dreijahrsdurchschnitt  nicht 
erreicht,  die  auf  diesen  gegründete  Veranlagung  vollständig 
durch  das  tatsächlich  erzielte  Einkommen  ersetzt  werden.  Da- 
mit fällt  nicht  nur  jede  Benachteiligung  des  Steuerzahlers  weg, 
sondern  verkehrt  sich  sogar  in  eine  sehr  wesentliche  Begün- 
stigung, da  auch  jetzt  noch  der  Staat  außerstande  ist,  das 
tatsächlich  erzielte  Einkommen  zu  besteuern,  wenn  dieses  den 
durchschnittlichen  Ertrag  der  letzten  drei  Jahre  übersteigt  9^). 
Finanziell  bedeutet  diese  Regelung  der  Veranlagungsberech- 
nung eine  Beeinträchtigung  des  Einkommensteuerertrags,  da 
in  günstigen  Jahren  das  Einkommen  nur  nach  dem  Durchschnitt 
der  vorausgegangenen  letzten  drei  Jahre  berechnet  wird,  wäh- 
rend in  ungünstigen  Jahren  das  tatsächlich  erzielte  Einkommen 
zur  Grundlage  der  Besteuerung  gemacht  wird.    Damit  wird  aber 


y?)  ^  g'-    Einkommensteuergesetz     1842,    sect.     133    und    Finance    Act 
1907,  sect.  6.     Ferner  den  Report  of  the  Departmental  Committee  1905. 


—     153     — 

in  die  Einkommensteuer  ein  höchst  bedenkhches  Moment  ge- 
tragen, durch  das  sie  in  hohem  Maße  den  Kon j unkt urrück- 
schlägen  unterworfen  wird,  ohne  aber  jemals  an  dem  wirt- 
schafthchen  Aufschwung  den  gleichen  Anteil  nehmen  zu  können. 
Wenn  man  bedenkt,  daß  die  Einkommen  unter  sched.  D,  die 
hier  in  Betracht  kommen,  einen  prozentual  immer  steigenden 
Anteil  an  dem  gesamten  Steuereinkommen  haben,  und  daß  sie 
einen  großen  Teil  jener  Einkommen  umfassen,  die  sehr  gegen- 
sätzlichen Schwankungen  unterworfen  sind  (man  denke  an  den 
spekulativen  Handel  mit  allen  Naturprodukten !),  so  wird  die 
finanzielle  Bedeutung  dieses  Verfahrens  klar,  wenn  sie  sich  auch 
statistisch  in  keiner  Weise  erfassen  läßt. 

Auf  dieser  Grundlage  nun,  die  durch  die  begriffliche  und 
tatsächliche  Abgrenzung  der  objektiven  Steuerpflicht  gebildet 
wird,  hat  sich  seit  1842  die  Entwicklung  des  von  der  Einkommen- 
steuer erfaßten  Einkommens  vollzogen.  Im  ganzen  genommen, 
hat  die  objektive  Steuerpflicht  begrifflich  keine  Erweiterung, 
sondern  mehrfache  Einschränkung  erfahren.  Ein  Umstand  frei- 
lich kommt  hier  noch  in  Betracht,  der  die  Wirkung  hatte,  die 
tatsächliche  Steuerpflicht  zu  erweitern,  indem  durch  die  weiter- 
gehende Auslegung  der  begrifflichen  Bestimmungen  der  ein- 
zelnen Steuergesetze  zahlreiche  Einkommen  der  Besteuerung 
unterworfen  wurden,  die  ihr  früher  entgingen.  Während  noch 
1869  für  die  steuergesetzliche  Auslegung  der  Grundsatz  aufrecht 
erhalten  wurde,  daß  das  Steuergesetz  nur  insoweit  Geltung  habe, 
als  die  Steuerpfhcht  ausdrücklich  durch  den  Buchstaben  des 
Gesetzes  in  jedem  einzelnen  Fall  begründet  sei,  setzte  sich  nach 
und  nach  die  Anschauung  durch  ,,that  the  only  safe  rule  is  to 
look  at  the  words  of  the  enactments  and  see  what  is  the  Inten- 
tion expressed  by  these  words",  so  daß  die  Steuerpflicht  nicht 
durch  den  Buchstaben  allein,  sondern  vor  allem  durch  die  darin 
ausgedrückte  Absicht  begründet  wird  96).  Daß  diese  Wandlung 
in  der  Auslegung  der  Steuergesetze  für  alle  strittigen  Fälle  von 
großer  Bedeutung  sein  mußte,  und  darum  auch  finanziell  zum 
Ausdruck  kam,  leuchtet  ohne  weiteres  ein.  Im  nächsten  Ab- 
schnitt werden  wir  nun  auf  die  tatsächliche  Entwicklung  des 
erfaßten  Einkommens  eingehen,  um  daraus  die  Bedeutung  zu 
erkennen,  welche  dieser  Entwicklung  für  die  Ertragsgestaltung 
der  Steuer  zukam. 


96)  Siehe  Dowell,    Inc.  tax  Acts,   Introd.,  p.  70. 


134     — 

§3. 

Die  Bedeutung]:  und  die  Ursachen  der  E  i  n  k  o  ni  m  e  n  s  - 

en  t  w  i  ckl  u  n  g. 

Die  Möglichkeit,  ein  Ubjekl  zur  Grundlage  eines  Besteuc- 
rungsverfahrens  zu  machen,  ist  stets  nur  dann  gegeben,  wenn 
ihm  das  Merkmal  einer  gewissen  Dauerhaftigkeit  zukommt,  die 
eine  periodische  Wiederholung  der  Ertragsgewinnung  sichert. 
Wo  dieses  Merkmal  fehlt,  können  zur  Deckung  des  dauernden 
Bedarfs  zwar  trotzdem  Mittel  aufgebracht  werden,  etwa  in  der 
Weise  von  Kontributionen,  Zwangs-  oder  auch  regelmäßigen 
Anleihen.  Da  die  Notwendigkeit  der  Bedarfsdeckung  aber  sich 
aus  einem  dauernden  Bedarf  ergibt,  der  sich  als  die  Folge  der 
ganzen  umfassenden  Staatstätigkeit  darstellt,  so  empfehlen  sich 
diese  Mittel  ihres  außergewöhnlichen  Charakters  wegen  auch 
nur  zur  Befriedigung  außergewöhnlicher  Anforderungen,  sie 
können  aber  um  so  weniger  zur  dauernden  Form  des  Deckungs- 
verfahrens werden,  als  sie  durchweg  Quellen  entstammen,  die 
nur  eine  begrenzte  Leistungsfähigkeit  besitzen  und  einen  dau- 
ernden Ertrag  nicht  sicherstellen.  Solche  Mittel  eignen  sich 
aber  auch  deshalb  nicht  zu  ordentlichen  Finanzmitteln,  weil  sie 
eine  nach  dem  Grundsatz  der  Verhältnismäßigkeit  und  der 
Leistungsfähigkeit  vorzunehmende  Verteilung  der  Gesamt- 
belastung ausschließen.  So  können  zur  Grundlage  eines  ge- 
regelten und  dauernden  Systems  staatlicher  Einnahmegewinnung 
eben  nur  solche  Objekte  gemacht  werden,  die  alljährlich  einen 
bestimmten  Ertrag  zu  bringen  vermögen  und  dabei  eine  der- 
artige Verteilung  des  Gesamtertrags  auf  die  einzelnen  Steuer- 
zahler ermöglichen,  daß  der  Grundsatz  der  Leistungsfähigkeit 
zur  Geltung  kommt.  Deutlich  wird  dieser  Grundgedanke  in 
der  indirekten  Besteuerung,  wo  die  periodische  Wiederkehr  des 
Verbrauchs  bestimmter  Gegenstände  auch  einen  periodischen 
Ertrag  der  auf  diese  Gegenstände  gelegten  Steuern  zur  Folge 
hat  und  wo  gleichzeitig  auch  die  Möglichkeit  der  Bedarfs- 
einschränkung eine  freiwillige  Bestimmung  der  Steuerleistung 
nach  der  individuellen  Steuerkraft  gestattet.  Weniger  deutlich 
scheint  das  Merkmal  der  periodischen  Wiederkehr  in  den  Ob- 
jekten zu  liegen,  die  den  Formen  der  Stempelsteuern,  Nachlaß- 
und  Wertzuwachs-  oder  ähnlichen  Steuern  unterliegen,  doch 
wird  hier  das  Merkmal  der  Periodizität  vom  eigentlichen  Objekt 


—     155     — 

auf  die  an  ihm  oder  mit  ihm  vorgenommene  Handhmg  über- 
tragen, die  bei  ähnUchen  Objekten  in  genügender  Häufigkeit 
wiederzukehren  pflegt,  um  zur  Grundlage  eines  Besteuerungs- 
verfahrens gemacht  werden  zu  können.  Mit  der  begrifflichen 
Bestimmung  des  Objekts  direkt  verbunden  erscheint  das  Merk- 
mal der  periodischen  Wiederholung  aber  bei  all  den  Objekten, 
die  sich  selber  als  das  Ergebnis  einer  dauernden  Grundlage 
darstellen,  und  so  werden  von  dem  einen  Gesichtspunkt  einer 
dauernden  und  regelmäßigen  Einnahmegewinnung  aus  alle 
Ertragssteuern  zu  einer  sehr  geeigneten  Form  der  staatlichen 
Besteuerung,  und  das  um  so  mehr,  als  diesen  Steuern  und  ihren 
Objekten  unter  normalen  Verhältnissen  noch  ein  weiteres  Merk- 
mal zukommt,  das  den  übrigen  Objekten  nicht  oder  doch  nicht 
im  selben  Grad  eigen  zu  sein  pflegt,  das  Merkmal  der  Wachs- 
tumsfähigkeit. Zwar  kommt  auch  der  Verbrauchsbesteucrung 
und  der  Verkehrsbesteuerung  die  Eigenschaft  einer  natürlichen 
Wachstumsfähigkeit  zu,  es  ist  jedoch  leicht  erkennbar,  daß  diese 
Fähigkeit  nicht  den  untergelegten  Objekten  als  solchen  eigen- 
tümlich ist,  sondern  sekundär  durch  eine  Steigerung  des  Kon- 
sums oder  der  Verkehrsakte  infolge  einer  Zunahme  der  Be- 
völkerung" und  ihres  durchschnittlichen  oder  absoluten  Wohl- 
standes gewonnen  wird.  Sie  beruht  also  im  letzten  Grund  auf 
der  umfassenden  Steigerung  und  Vermehrung  der  gesamten 
Volkswirtschaft,  deren  unmittelbare  Erscheinungsformen  aber 
die  Zunahme  des  Wirtschaftsertrags  und  des  Einkommens  sind. 
Da  aber  diese  Wirtschaftsergebnisse  selbst  zur  Grundlage  von 
Besteuerungsmethoden  gemacht  werden  können,  so  wird  an 
diesen  Objekten  auch  das  Merkmal  der  Wachstumsfähigkeit  am 
unmittelbarsten  zum  Ausdruck  gelangen  können. 

Dieses  zweite  Merkmal  aber  ist  finanzpolitisch  und  steuer- 
theoretisch nicht  minder  bedeutsam  als  das  erste  der  Periodizität, 
denn  auf  ihm  gründet  sich  die  Möglichkeit,  einen  wachsenden 
Bedarf  ohne  immer  wieder  sich  wiederholende  Reformen  und 
Ergänzungen  des  bestehenden  Einnahmesystems  notwendig  zu 
machen,  und  daraus  ergibt  sich  das  finanzpolitische  Ideal  eines 
Besteuerungssystems,  dessen  Glieder  eine  der  Bedarfsvermeh- 
rung genau  entsprechende  Fähigkeit  der  Ertragsvermchrung  be- 
sitzen. Dieses  Ideal  hängt  freilich  nicht  nur  von  der  Tauglich- 
keit der  Objekte,  die  dem  Besteuerungssystem  zugrunde  gelegt 
wurden,  ab,  sondern  auch  von  der  Geschwindigkeit  der  Bedarfs- 


150    - 

verinchrung,  dit'  in  cIlmi  meisten  Fällen  größer  sein  wird  als 
die  natürliche  Ertragsvermehrung. 

Gerade  diese  Eigenschaft  aber,  unabhängig  von  jeder  Ver- 
änderung der  Steuerorganisation  und  des  Steuersatzes,  einen 
stets  wachsenden  Ertrag  zu  liefern,  war  es,  welche  die  Wandlung 
der  finanzpolitischen  Bedeutung  der  Einkommensteuer  und  ihrer 
Stellung  innerhalb  des  Besteuerungssystems  wesentlich  bedingt 
und  hervorgerufen  hat.  Die  Tatsache,  daß  das  gesamte,  von 
der  Steuer  erfaßte  Einkommen  in  einem  Zeitraum  von  rund 
70  Jahren  (i  842/1 910)  sich  mehr  als  vervierfacht  oder  eine 
Zunahme  um  316,60b  erfahren  hat,  veranschaulicht  diese  Be- 
deutung am  deutlichsten.  (Nicht  ganz  so  deutlich  wird  die 
auf  der  Vermehrung  des  erfaßten  Objekts- beruhende  Ertrags- 
steigerung aus  der  Zunahme  des  auf  jeden  Penny  des  Steuer- 
satzes entfallenden  Ertrags,  der  sich  in  der  gleichen  Zeit  um 
254,600  vermehrte,  da  in  der  Zwischenzeit  die  Einkommen- 
steuerorganisation wesentliche  Änderungen  erfuhr,  welche  den 
Ertrag  beeinträchtigten.)  Diese  Entwicklungen  können  in  ihrer 
finanziellen  und  auch  volkswirtschaftlichen  Bedeutung  nur  an 
der  Hand  der  Statistik  völlig  deutlich  veranschaulicht  werden. 
Die  nachstehenden  Tabellen  dienen  darum  der  ganzen  folgenden 
Darstellung  als  Unterlagen. 

Fragen  wir  nach  den  Ursachen,  welche  die  erhebliche  Ver- 
mehrung des  Steuerobjekts  verursacht  haben,  wie  sie  aus  der 
Tab.  1 1  a  ersichtlich  ist,  so  erkennen  wir  zunächst,  daß  sie  eine 
Erscheinungsform  des  gesamten  Aufschwungs  darstellt,  den  die 
wirtschaftliche  Entwicklung  in  England  im  Verlauf  des  19.  Jahr- 
hunderts genommen  hat  und  insofern  auf  denselben  Bedingungen 
beruht,  aus  denen  heraus  dieser  entstanden  ist.  So  wird  die 
wesentlich  industrielle  Entwicklung  der  Volkswirtschaft  auch 
in  den  unter  den  schedules  D  und  E  erfaßten  industriellen  Ein- 
kommen sichtbar,  auf  die  von  der  Vermehrung  des  gesamten 
Einkommens  allein  77,20/0  entfallen  (vgl.  Tab.  11).  Soweit  durch 
die  Bevölkerungsvermehrung  die  nationale  Arbeitskraft  gestei- 
gert wird,  entfällt  auch  auf  diese  ein  Teil  der  Einkommens- 
vermehrung, da  sie  sich  wirtschaftlich  in  der  erhöhten  Fähigkeit, 
Einkommen  zu  schaffen,  äußern  kann.  Doch  wird  gerade  die 
absolute  Zunahme  der  Bevölkerungsziffer  nur  vergleichsweise 
herangezogen  werden  können,  ohne  aber  die  Tatsache  der  Ein- 
kommensvermehrung   im    einzelnen    zu    erläutern,    da    die    Ver- 


—     157     — 


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betrug  da.s  gesamte  erfaßte  Einkommen  in 


In  den 
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England 

Schottland 

Irland 

Ver.  Königreich 

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absolut 

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% 

absolut 

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'842/3 

227,710 

90,7 

23,302 

9.3 

— 

— 

251.013 

100 

1853/4 

256,333 

83.1 

30,551 

9.9 

21.397 

7.0 

308,282 

1 862/3 

302,828 

84.3 

32,656 

9.0 

23.658 

6.7 

359,142 

■872/3 

439.803 

85.5 

46,327 

9.0 

27,676 

5.5 

513.807 

1882/3 

516,948 

84.3 

59.406 

9.6 

36.481 

6.1 

612,836 

! 892/3 

608,349 

85.4 

65,606 

9,2 

38,320 

5.4 

712,277 

1902/3 

760,844 

86,4 

84,218 

9.5 

34.575 

4.1 

879.638 

I9IO/1I 

909.959 

87,0 

95,215 

9.1 

40.659 

3.9 

1045.833 

c)  Überblick  über  die  Vermehrung  des  unter   den    schodulos    erfaßten    und    des 

Gesamteinkommens. 


Von 

betrug  die  Zunahme  des  erfaßten  Einkommens  gegen  den  Stand 
von   1842/3  unter  den  schedules. 

1842/3 
bis 

A. 

% 

B. 

% 

C. 

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/o 

D. 

0/ 
/o 

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E. 

0/ 
/o 

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Tot. 
% 

1852/3 

+     6.8 

—  0,2 

—  3.9 

+      5.7 

+      20,2 

+      4.5 

1862/3 

+   46,4 

+  16,1 

+   9.8 

+   582 

+    115.9 

+   43.1 

1872/3 

+   77.6 

+  26,9 

+  45,2 

+  189,9 

+   204.3 

+  104,7 

1882/3 

+  118.5 

+  40,8 

+  44,1 

+  253,7 

+    272,2 

+  144.2 

1892/3 

+  131.5 

+23,2 

+  37.4 

+  356,0 

+   431.6 

+  183.7 

1902/3 

+  176,1 

— 62,5 

+  65,3 

.    +523.0 

+   749.7 

+  250,4 

igio/i I 

+  214,8 

—62,8 

+  77.6 

+  639.0 

+  1133.8 

+  316.6 

d)  Prozentanteil   der  schedules   an  der   gesamten  Zunahme   des   erfaßten  Ein- 
kommens. 


betrug  unter  den  einzelnen  sc 

ledules  dei 

%-Anteil  an  der 

In  den 

gesamten  Zunahme  des  erfaßten  Einkoramens 

Jahren  von 

A.                 B. 

C. 

D. 

E. 

Tot. 

% 

0/ 

/o 

% 

% 

0/ 

/o 

0/ 
/o 

1842/3—52/3 

+  52,9 

—  1,0 

-9.8 

+  40.6 

+  17.3 

100 

1852/3—62/3 

+  35,8 

+   7.8 

+  3.9 

+  42.7 

+   9.8 

1862/3—72/3 

+  17,6 

+    3.2 

+  6,3 

+  67.4 

+   5.5 

1872/3—82/3 

+  36.6 

+   6.6 

—0.3 

+  50,8 

+   6.6 

1882/3—92/3 

+  11.3 

—  8,2 

—  1.8 

+  83,2 

+  15.5 

1892/3—1902/3 

+  23.3 

—23.9 

+  4.6 

+  77.4 

+  18,6 

1902/3 — 1910/11 

+  20,4 

—  0,1 

+2.1 

+  55.2 

+  22.4 

1842/3 — 1910/11 

i     +23.6 

-  3.6 

+  2,8 

+  63,4 

+  13.8 

Anmerkung  zu  Tabellen.    Die  in  dieser  Tabelle  unter  den  5  sche- 
dules angegebenen  Beträge  des  gesamten  erfaßten  Einkommens  sind  nicht 


—     159     — 

teilung  des  Gesamteinkommens  das  Bild  in  einer  Weise  ver- 
schiebt, die  kaum  einen  zahlenmäßigen  Ausdruck  finden  kann. 
Im  besonderen  aber  ist  die  Entwicklung  des  von  der  Steuer 
erfaßten  Einkommens  wesenthch  abhängig  von  der  Organisation 
der  Steuer,  durch  welche  das  steuerpflichtige  Einkommen  seinem 
Umfang  nach  bestimmt  und  der  tatsächlichen  Besteuerung  unter- 
worfen wird.  Von  entscheidendem  Einfluß  wird  hierbei  die  be- 
griffliche Bestimmimg  des  Steuerobjekts,  das  den  objektiven 
Untergrund  der  Steuerpflicht  darstellt  und  die  rechthche  Fest- 
stellung des  Steuerzahlers,  durch  welche  die  Erfassung  des  Ob- 
jekts allererst  ermöglicht  und  die  Leistung  des  Steuerbetrags* 
sichergestellt  wird.  Ergänzend  tritt  hierzu  die  durch  Zweck- 
mäßigkeitsgründe bedingte  Abgrenzung  der  Steuerpflicht,  bei 
der  die  Fragen  der  steuerlichen  Gesamtbelastung,  wie  sie  sich 
aus  dem  ganzen  System  ergeben,  und  der  individuellen  Leistungs- 
fähigkeit einen  freiwilligen  Verzicht  auf  einen  Teil  des  Gesamt- 
einkommens nahelegen,  der  nach  der  begrifflichen  Bestimmung 
der  Steuerpflicht  unterliegen  würde.  Indem  die  Schwierigkeit, 
die  kleinen  und  kleinsten  Einkommen  mit  genügender  Sicherheit 
zu  erfassen,  kaum  durch  eine  die  Kosten  übersteigende  Ertrags- 
vermehrung aufgewogen  wird,  und  indem  gerade  die  unteren 
Einkommensklassen  den  Druck  der  allgemeinen  und  namentlich 
der  indirekten  Besteuerung  am  meisten  empfinden,  gelangte 
man  hier  zu  der  Festsetzung  einer  Minimalgrenze,  unter  welche 
die  Steuerpfhcht  nicht  ausgedehnt  wird.  Je  nach  der  Höhe  dieser 
Minimalgrenze   verändert   sich   der   Gesamtbetrag   des   erfaßten 

durchaus  einheitlich.  Die  unter  den  scheduies  A  und  B  angegebenen  Ein- 
kommensziffern gelten  für  das  jeweilige  Gesamteinkommen  einschließlich 
der  unter  die  Befreiungsgrenze  fallenden  Einkommen.  Aus  diesem  Grund 
verbessert  sich  der  Prozentanteil  dieser  scheduies  bei  einer  Erhöhung  der 
Befreiungsgrenze,  da  hier  der  Gesamtbetrag  des  aufgeführten  Einkommens 
keine  Verminderung  erleidet. 

Durch  das  Finanzgesetz  von  1866  wurden  die  aus  Bergwerken,  Stein- 
brüchen, Eisenbahnen,  Gaswerken  usw.  stammenden  und  bisher  unter 
sched.  A.  veranlagten  Einkommen  auf  sched.  D.  übertragen.  In  der  Ta- 
belle sind  die  entsprechenden  Beträge  von  1842  an  zu  sched.  D.  hinzu- 
gerechnet. 

1896  wurde  die  Veranlagung  unter  sched.  B.  dahin  verändert,  daß  das 
veranlagte  Einkommen  zu  einem  Drittel  des  unter  sched.  A.  veranlagten 
Werts  der  landwirtschafthchen  Güter  (ausschließlich  der  Wohnhäuser)  be- 
rechnet wird,  statt  zum  vollen  Wert  wie  früher.  Dagegen  kommt  jetzt 
unter  sched.   B.   der  Normalsteuersatz  zur  Anwendung. 


-         i6o       - 

Einkommens,  und  es  ist  klar,  daß  bei  einer  Veränderung  der 
Befreiungsgrenze  die  Einkommensverteilung  von  größter  Bedeu- 
tung sein  muß.  Je  nachdem  der  Anteil  einer  gewissen  Unter- 
schicht am  Gesamteinkommen  größer  oder  geringer  ist,  wird 
der  absolute  Betrag  des  erfaßten  Einkommens  durch  die  unter 
die  Befreiungsgrenze  fallenden  Einkommen  mehr  oder  weniger 
verringert   werden. 

Schließlich  kommt  aber  für  die  Einkommensentwicklung 
auch  die  Organisation  der  Steuer  insofern  in  Betracht,  als  es 
durch  das  besondere  Verfahren  der  Steuerveranlagung  und  der 
Erhebung  ermöglicht  wird,  das  durch  die  Gesetzgebung  der 
Steuerpflicht  unterworfene  Einkommen  zu  entdecken  und  zur 
Steuerleistung  heranzuziehen.  Hier  sichert-  die  Methode,  das 
Einkommen  an  seiner  Quelle  zu  erfassen,  in  weitem  Umfang 
die  Aufdeckung  der  Steuerpflicht,  soweit  die  Einkommensver- 
teilung von  staathchen  oder  öffentlichen  Anstalten  ausgeht.  So- 
weit sich  die  Anwendung  dieses  methodischen  Mittels  als  un- 
möglich erweist  und  dem  Staat  jede  Kontrolle  über  den  Ein- 
kommensbezug fehlt,  tritt  ergänzend  das  methodische  Mittel 
der  Einkommensdeklaration  auch  in  der  Peel -Steuer  ein  und 
wird  in  dieser  wirksam  durch  die  örtliche  Organisation  der 
Steuerveranlagung  unterstützt,  die  in  die  Hände  ehrenamtlich 
wirkender  und  mit  den  örtlichen  Verhältnissen  genau  vertrauter 
und  unabhängiger  Personen  gelegt  ist.  Da  aber  diesem  System 
die  für  jede  staatliche  Organisation  notwendige  Überlieferung 
der  Amtsgepflogenheiten  und  vor  allem  der  Amtserfahrungen 
abgeht,  so  wird  auch  dieses  durch  ein  neben-  und  übergeord- 
netes System  staatlicher  Beamter  erweitert,  deren  Tätigkeit  mehr 
verwaltungsmäßiger,  prüfender  und  überwachender  Natur  ist. 
Wird  so  durch  die  ,,general  commissioners",  d.  i.  durch  die 
ursprüngliche  Veranlagungskommission  die  Aufdeckung  der 
Steuerpflicht  im  bestmöglichen  Umfang  gesichert,  so  wird  durch 
die  „special  commissioners"  und  durch  die  ,,surveyors"  die  amt- 
liche Überlieferung  gewahrt  und  durch  die  ineinander  greifende 
und  ergänzende  Tätigkeit  dieser  verschiedenen  Behörden  eine 
stets  zunehmende  Tauglichkeit  des  Erhebungs-  und  Veran- 
lagungsverfahrens ermöglicht. 

Alle  diese  Momente  wirken  nun  auf  die  Entwicklung  des 
erfaßten  Einkommens  ein,  aus  dessen  Zunahme  aber  sich  die 
Vermehrung  des  Steuerertrags  ergibt.     Dieser  großen  Entwick- 


-      i6i     — 

lungslinie  läuft  nun  eine  zweite  entgegen,  die  zu  einer  Vermin- 
derung des  besteuerten  Einkommens  führt.  Diese  zweite  Ent- 
wicklungslinie, die  im  wesentlichen  aus  dem  Abatementsystem 
hervorgeht,  werden  wir  im  folgenden  zu  untersuchen  haben. 

2.  Kapitel. 
Die  Entwicklung  der  Einkommensteuerorganisation. 

§4. 
Das  Problem  der  Einkommensteuerreform. 

Die  mannigfachen  Reformfragen,  die  sich  aus  der  Objekts- 
bestimmung von  1842  ergaben,  hatten  im  Laufe  der  Jahre  wohl 
zu  einer  teilweisen  Beeinträchtigung  des  gesamten  Einkommen- 
steuerobjekts geführt,  ohne  aber  in  den  wesentlichen  Grund- 
zügen der  Einkommensteuerorganisation  eine  merkliche  Ver- 
änderung zu  bewirken.  Die  Zerlegung  der  Gesamtsteuer  in 
fünf  fast  unabhängig  nebeneinander  bestehende  Teilsteuern  mit 
gesonderter  Veranlagung  und  Erfassung,  die  ausgedehnte  An- 
wendung des  Prinzips,  das  Einkommen  an  der  Quelle  seiner 
Entstehung  zu  erfassen,  statt  es  in  seiner  endgültigen  Zusammen- 
fassung bei  einer  letzten  Wirtschaftseinheit  zu  treffen,  und  damit 
die  fast  völlige  Vernachlässigung  der  persönlichen  Leistungs- 
fähigkeit, waren  die  Merkmale,  die  der  englischen  Einkommen- 
steuer ihr  eigentümliches  Gepräge  gaben  und  ihre  gesamte 
Organisation  bedingten.  Das  einzige  Moment,  das  eine  Berück- 
sichtigung der  individuellen  Leistungsfähigkeit  enthielt,  lag  in 
der  Anerkennung  einer  Befreiungsgrenze,  doch  haben  wir  ge- 
sehen, daß  gerade  dieses  Moment  mehr  aus  allgemeinen  steuer- 
und  finanzpolitischen  Zweckmäßigkeitsgründen  als  dem  Bedürf- 
nis, die  persönliche  Steuerkraft  zu  berücksichtigen,  entsprungen 
war.  Weit  mehr  als  durch  die  Objektbestimmung  und  durch 
das  Erhebungsverfahren  wurden  aber  die  Ungerechtigkeiten 
und  Härten,  die  der  Einkommensteuer  von  Anfang  an  zur  Last 
gelegt  wurden,  eben  durch  diese  gänzliche  Vernachlässigung 
der  persönlichen  Leistungsfähigkeit  des  Steuerzahlers  verursacht, 
und  es  ist  klar,  daß  alle  diese  Härten  so  lange  mit  der  Natur 
der  Einkommensteuer  untrennbar  verbunden  waren,  als  die 
Zusammenfassung  der  Teileinkommcn  zum  Gesamteinkommen 
einer    Wirtschaftseinheit,    das    ist    das    Personalmerkmal    einer 

Zeitschrift  für  die  ges.  Staatswissenschaft.     Ergänzungsheft  48.  I  i 


l62  - 

reinen  Einkonnnenhbesleiierung,  aufgegeben  war.    Machten  sich 
so  trotzdem  Bestrebungen  geltend,  das  bestehende  System  der 
enghschen  Einkommcnsbesleuerung  dadurch  gerechter  und  er- 
träghcher  zu  gcstahen,  d:\iS  die  Steuerleistung  eines  Einkommen 
beziehenden  Subjekts  nicht   nur  nach  den  einzelnen  veranlagten 
Teileinkonnncn    bemessen    wurde,   sondern    zum   Gesamteinkom- 
men in  Beziehung  gebracht  und  in  ihrer  Hohe  \(jn  diesem  ab- 
hängig gemacht  wurde,  so  stielten  alle  diese  Bestr(>bungen  eben 
immer  wieder  auf  den  einen  l'mstand,  daß  nach  dem  bestehen- 
den System  dieses  Gesainteinkommen  nur  dann  ermittelt  wurde, 
wenn  ein  Anspruch  auf  Steuerfreiheit  erhoben  wurde.    Eine  ein- 
heitlich   durchgeführte    und    gleichmäßig    ausgestaltete    Bemes- 
sung der  Steuerleistung  nach  dem  Gesamteinkommen  und  damit 
nach  der  besonderen  Leistungsfähigkeit  des  Steuersubjekts  war 
demnach  nur  zu  erreichen,  weim  der  eine  Grundzug  der  Peel- 
Steuer  aufgegeben   und   die  Zwangsdeklaration  des  Gesamtein- 
kommens wiederum  eingeführt  wurde.    Aus  diesen  Erwägungen 
heraus  machten  sich  deshalb  schon  vor  der  Untersuchungskom- 
mission von  1852  Meinungen  geltend,  welche  die  Wiedereinfüh- 
rung   der    Gesamtdeklaration    forderten,    ohne    freilich    die    Zu- 
stimmung  der  Kommission   selber  zu   finden.     Damit   erstickte 
der  Gedanke  einer  Abstufung  der  Steuerleistung  nach  der  Höhe 
des  Gesamteinkommens  schon  in  seinem  allerersten  Keim,  und 
es  ist  dabei  nicht  zu  verkennen,  daß  dieser  Gedanke  wesentlich 
aus  finanziellen  Gründen  heraus  abgelehnt  wurde,  da  man  eine 
wesentliche  Beeinträchtigung  des  Steuerertrags  sowohl  unmittel- 
bar   durch    das    System    der    Gradation,    das    die    unteren    Ein- 
kommensklassen niedriger  besteuern   mußte,   als  es  bisher  der 
Fall   war,   als   auch   durch   die   Zwangsdeklaration  des   Gesamt- 
einkommens befürchtete,  da  mit  dieser  die  Versuchung  zu  be- 
trügerischen  Angaben   weit    stärker   vorlag,    als    wenn    nur    die 
Teileinkommen  offenbart  werden  mußten. 

In  ähnlicher  Weise  scheiterte  aber  auch  eine  zweite  Forde- 
rung, die  schon  früh  erhoben  wurde  und  welche  die  unterschied- 
liche Belastung  der  fundierten  und  der  unfundierten  Einkommen 
verlangte,  an  der  bestehenden  Organisation  der  Steuer  und  an 
finanziellen  Erwägungen,  obwohl  die  Gerechtigkeit  dieser  For- 
derung von  allen  führenden  Staatsmännern,  von  Peel,  Glad- 
stone  und  Disraeli,  grundsätzlich  anerkannt  wurde.  Hier 
trat    freihch    auch    die    weitere    Schwierigkeit    hinzu,    daß    die 


—     i63     — 

begriffliche  Unterscheidung  der  Arbeitseinkommen  und  der 
Kapitalseinkommen  nicht  so  klar  getroffen  werden  konnte,  daß 
nicht  doch  wieder  zahlreiche  Ungerechtigkeiten  in  der  Folge 
hervortreten  mußten.  So  deutlich  die  unterschiedliche  Leistungs- 
fähigkeit der  verschiedenen  Einkommensarten  in  den  entgegen- 
gesetzten Fällen,  also  bei  reinen  Lohneinkommen  und  bei  reinen 
Renteneinkommen,  hervortrat,  so  wenig  läßt  sich  bei  den  Grenz- 
fällen und  bei  den  gemischten  Einkommen  die  Trennungslinie 
ziehen,  die  das  ,, verdiente"  Einkommen  vom  ,, unverdienten" 
trennte.  Diese  Schwierigkeit  trat  äußerlich  schon  in  der  Mannig- 
faltigkeit der  Bezeichnungen  zutage,  die  zur  Gegenüberstellung 
der  Einkommensarten,  die  eine  verschiedene  Behandlung  er- 
fordern sollten,  angewendet  wurden.  (Permanent  and  preca- 
riüus  incomes ;  f unded  and  unf  unded ;  earned  and  uneamed ; 
industrial  and  spontaneous;  derived  from  investment  and  by 
personal  eff ort.)  Schon  aus  einer  oberflächlichen  Prüfung  dieser 
Bezeichnungen  geht  hervor,  wie  wenig  sie  geeignet  waren,  einem 
System  der  Differentiation  unterlegt  zu  werden.  Am  schwierig- 
sten war  dabei  wohl  die  Frage  zu  lösen,  welcher  Art  die  Ein- 
kommen zuzuzählen  seien,  die  aus  ersparten,  aber  ursprünglich 
durch  eigene  Arbeit  gewonnenen  Kapitalien  flössen.  Alle  diese 
Schwierigkeiten  zusammen  mit  denen,  die  sich  aus  der  bestehen- 
den Einkommensteuerorganisation  und  aus  den  finanziellen  Be- 
fürchtungen heraus  ergaben,  erwiesen  sich  für  die  erste  Zeit, 
in  der  die  Einkommensteuer  bestand  und  nur  als  zeitweiliges 
Finanzmittel  betrachtet  wurde,  als  schwerwiegend  genug,  um 
jedem  Reformversuch  von  vornherein  die  Aussicht  auf  Ver- 
wirklichung zu  benehmen. 

Kleinere  Fragen,  die  sich  aus  der  Forderung,  die  persönliche 
Leistungsfähigkeit  des  Einkommensteuerzahlers  zu  berücksich- 
tigen, ergaben,  berührten  mehr  besondere  Fälle,  denen  eine 
durchgängige  Allgemeinheit  nicht  zukommen  konnte  und  die 
deshalb  auch  auf  die  Gesamtorganisation  der  Steuer  kaum  oder 
doch  nur  gering  einwirkten.  Bei  der  weiten  Ausbreitung,  welche 
die  Lebensversicherung  als  eine  Form  der  Hinterbliebenenver- 
sorgung in  England  schon  frühzeitig  gefunden  hatte,  war  es 
hier  zunächst  die  Frage,  ob  der  für  die  Lebensversicherungs- 
prämie gezahlte  Betrag,  der  doch  immerhin  eine  unumgängliche 
und  dauernde  Verminderung  des  Gesamteinkommens  bedeutete, 
von  dem  veranlagten  Einkommen  in  Abzug  gebracht   werden 


—     164     — 

dürtc  oder  nicht.  In  der  Pitt  Steuer  und  auch  in  dem  \i\n- 
kommensteuergesetz  von  1806  war  das  Recht,  den  Betrag  der 
Lebensversichcrungsprämie  in  Abzug  zu  l^ringen,  den  Ein- 
kummen  unter  1 50  a:  zugestanden  worden,  während  das  Cicsetz 
von  1842  diese  Berechtigung  nicht  enthielt.  Da  aber  das  Inter- 
esse des  Staats  wie  in  vielen  Fällen  sich  auch  hier  mit  dem 
seiner  Glieder  deckt,  und  eine  ausreichende  Sicherstellung  der 
Hinterbliebenen  dort,  wo  die  Familie  fast  ausschließlich  auf 
das  Einkommen  ihres  Ernährers  angewiesen  ist,  vom  Staat 
durchaus  nicht  beeinträchtigt  werden  darf,  so  fand  diese  Frage 
ihre  Regelung  schon  frühzeitig  in  dem  Einkommensteuergesetz 
von  1853,  indem  hier  das  Recht,  die  Prämie  vom  gesamten  ver- 
anlagten Einkommen  in  Abzug  zu  bringen,  erneuert  wurde,  unter 
der  doppelten  Voraussetzung,  daß  die  steuerfreie  Prämie  Vg  ^^^ 
Gesamteinkommens  nicht  überstieg  und  daß  in  den  Fällen,  wo 
das  Gesamteinkommen  durch  den  Abzug  der  Prämie  unter  die 
Befreiungsgrenze  fiel,  eine  völlige  Steuerfreiheit  nicht  begründet 
wurde  ^^). 

Eine  zweite  Erleichterung  des  Steuerzahlers,  die  in  der 
Pitt-Steuer  in  weitestem  Umfang  vorgezeichnet  war  und  auf 
die  Leistungsfähigkeit  Bezug  nahm,  welche  durch  die  Zahl  der 
von  einem  bestimmten  Einkommen  lebenden  Personen  abhing, 
fand  ihre  Erneuerung  erst  in  allerletzter  Zeit  in  dem  Einkommen- 
steuergesetz von  1909,  in  welchem  für  jedes  Kind  unter  16  Jahren 
ein  Abzug  von  10  £  v^om  Gesamteiakommen  gestattet  wurde, 
wenn  dieses  500  £  nicht  überstieg. 

Schließhch  ergab  sich  auch  eine  für  weitere  Kreise  in  Be- 
tracht kommende  Erleichterung  der  Steuerzahler  dadurch,  daß 
in  Übereinstimmung  mit  der  entwickelteren  Auffassung  des 
persönlichen  Verhältnisses  der  Ehegatten  die  Ehefrau,  die 
eigenes  Einkommen  bezog,  als  selbständiges  Steuersubjekt  an- 
erkannt wurde.  In  dem  Gesetz  von  1842  war  das  selbständige 
Einkommen  der  Ehefrau  noch  als  Teil  des  Einkommens  ihres 
Gatten  betrachtet  und  veranlagt  worden,  so  daß  durch  das  Ein- 
kommen der  erwerbstätigen  Ehefrau  zahlreiche  Einkommen 
der  Besteuerung  unterworfen  wurden,  die  für  sich  allein  steuer- 
frei gewesen  wären.  Dieser  Zustand  wurde  1894  und  1897 
dahin  abgeändert,  daß  in  den  Fällen,  wo  das  gemeinsame  Ein- 


97)  Vgl.  hierzu  Income  tax  Act  1853,  sect.  54. 


~  165  - 

kümmen  die  Summe  von  300  JC  nicht  überstieg,  für  die  Zwecke 
der  Steuerbefreiung,  der  Ermäßigungen  und  sonstiger  Vergün- 
stigungen beide  Einkommen  getrennt  veranlagt  und  die  ent- 
sprechenden Abzüge  und  Befreiungen  von  jedem  der  beiden 
Einkommen  gemacht  werden  durften  ^^^ 

Erreichten  diese  Reformen  ihren  Zweck,  ohne  die  Grund- 
lagen der  Einkommensbesteuerung  zu  berühren,  so  war  in  der 
Folge  bei  den  beiden  großen  Reformfragen  der  Gradation  und 
Differentiation,  deren  Lösung  im  Interesse  einer  gerechten  Aus- 
gestaltung der  Einkommensteuer  notwendig  v/ar,  eine  Änderung 
dieser  Grundlagen  nicht  zu  vermeiden.  Wir  haben  im  ersten 
Teil  dieser  Arbeit  verfolgt,  wie  der  Gedanke  einer  Gradation 
der  Einkommensteuer  aus  dem  finanziellen  Bedürfnis  einer  Er- 
tragsvermehrung heraus  auf  das  Abatementsystem  hinführte, 
mit  dessen  Anwendung  sich  eine  Erhöhung  der  Steuer  ermög- 
lichen ließ,  ohne  die  unteren  Einkommensklassen  über  Gebühr 
zu  belasten.  In  diesen  Anfängen  seiner  praktischen  Verwendung 
hat  das  Abatementsystem  mit  dem  Gedanken  einer  durchgehen- 
den Gradation  der  Einkommensteuer  nichts  gemein.  Es  ist 
nichts  weiter  als  ein  methodisches  Mittel,  den  finanzpolitischen 
Zweck  der  Ertragssteigerung  zu  erreichen,  ohne  die  gesamte 
Organisation  der  Einkommensteuer  den  neuen  Aufgaben  durch 
eine  umfassende  Reform  anpassen  zu  müssen.  Der  Gedanke 
der  Gradation  dagegen  ist  rein  steuertheoretischer  Natur,  der 
sich  auch  dem  finanziellen  Augenblicksbedürfnis  gegenüber 
durchzusetzen  versucht  und  in  den  Vordergrund  der  Beurteilung 
einer  Steuer  nicht  ihren  absoluten  Ertrag,  sondern  die  durch  sie 
bewirkte  Belastung  rückt.  So  war  es  kein  steuertheoretisches 
Prinzip,  durch  das  bis  zum  Jahre  1894  hin  die  Festsetzung  der 
Abatements  beherrscht  wurde,  sondern  einfach  ein  finanzpoli- 
tisches, das  darauf  Bedacht  nahm,  daß  eine  bestimmte  Klasse 
(und  nur  diese  Klasse)  unter  dem  doppelten  Druck  der  zu- 
nehmenden indirekten  und  der  direkten  Besteuerung  nicht  zu 
sehr  zu  leiden  hatte.  So  lag  in  der  Bestimmung  der  Höhe 
des  Abatements  und  in  der  Begrenzung  der  Einkommensklasse, 
welcher  der  Abzug  zugute  kommen  sollte,  eine  gewisse  Will- 
kürlichkeit,   die    nur    durch    die    ungefähren    Vorstellungen   be- 


3^)  Vgl.  hierzu  Finance  Act   1894,  sect.  34  und  subsect.  2  und  Finance 
Act   1897,   sect.   y. 


--     i66     — 

schiäiiki  wurde,  die  man  sich  ührr  die  ( ioaini^tcuerbclastung, 
von  der  eine  bestimmte   Klasse  getroffen    wurde,   maehte. 

Von  dieser  finanzpolitischen  Auffassung  des  Cjradations- 
gedankens  ist  die  steuerpohtische  und  theoretische  Vorstellung 
der  Gradation  als  eines  die  gesamte  Lastenverteilung  nach  der 
persönlichen  Leistungsfähigkeit  regelnden  (Grundsatzes  durch- 
aus unterschieden.  Indem  man  nach  den  allgemeinen  wirtschaft- 
lichen Verhältnissen  eines  Landes,  nach  der  sozialen  Gliederung, 
der  Kaufkraft  des  Geldes  und  den  herrschenden  Lebensgewohn- 
heilen  für  die  nach  Einkommensstufen  eingeteilten  Klassen  eine 
normale  Lebenshaltung  annimmt,  ergibt  sich  hieraus  die  Folge- 
rung, daß  eine  Steuerleistung  um  so  härter  empfunden  wird, 
je  mehr  durch  sie  das  Verhältnis  des  frei  verfügbaren  Ein- 
kommens zu  dem  Einkommensteil  verringert  wird,  der  für  die 
Aufrechterhaltung  der  angenommenen  normalen  Lebenshaltung 
notwendig  verausgabt  werden  muß.  Indem  sich  dieser  Grund- 
gedanke etwa  seit  den  80  er  Jahren  durchzusetzen  begann,  ge- 
wann die  Forderung  einer  verhältnismäßigen  Verteilung  der 
Steuerbelastung  immer  mehr  Boden,  bis  sie  1894  sowohl  für 
die  direkte  Nachlaßvermögensbesteuerung,  als  auch  für  die 
Einkommensteuer  grundsätzlich  anerkannt  wurde.  Während  sich 
aber  die  Gradation  bei  der  Nachlaßbesteuerung  durch  die  Be- 
messung der  Steuerlcistung  nach  einem  mit  den  Vermögens- 
stufen fortschreitenden  Steuerfuß  ermöglichen  ließ,  stieß  der- 
selbe Grundgedanke  bei  der  Einkommensteuer  auf  die  Schwie- 
rigkeit, den  für  verschiedene  Stufen  des  Gesamteinkommens  ver- 
schieden hohen  Steuerfuß  mit  dem  Grundsatz  der  Erhebung  an 
der  Quelle  in  Einklang  zu  bringen,  da  die  an  der  Quelle  erfaßten 
Teileinkommen  nur  nach  einem  einzigen  feststehenden  Satz 
belastet  werden  konnten.  Diese  Schwierigkeit  konnte  nur  da- 
durch behoben  werden,  daß  das  bisher  angewandte  Erhebungs- 
verfahren, das  doch  für  etwa  zwei  Drittel  aller  veranlagten  Ein- 
kommen Geltung  hatte,  dem  neuen  Steuerprinzip  zum  Opfer 
gebracht  oder  ein  Ausweg  gefunden  wurde,  der  eine  andere 
Form  der  Gradation  ermöghchte  und  doch  die  Aufrechterhaltung 
des  einheitlichen  Steuersatzes  und  damit  die  Erhebung  an  der 
Quelle   zuließ. 

Dieser  Ausweg  war  in  dem  System  der  Abatements  vorge- 
wiesen  und  bei  der  Eigentümlichkeit  des  englischen  Volks- 
charakters, der  stets  an  das  Vorhandene  und  läqgst  Bestehende 


—     167     — 

anzuknüpfen  sucht,  einen  jähen  Bruch  mit  der  i'berüeferung 
aber  zu  meiden  strebt,  ist  es  nicht  vervvunderhch,  daß  man  diesen 
Ausweg  wähhe.  Zudem  bestand  die  allgemeine  Überzeugung 
fort,  daß  die  Ertragsfähigkeit  der  Einkommensteuer  in  erster 
Linie  auf  dem  angewandten  Erhebungsverfahren  beruhte,  durch 
das  nicht  nur  für  zahlreiche  Einkommensarten  eine  Hinter- 
ziehung der  Steuer  unmöglich  gemacht  wurde,  sondern  auch 
die  Versuchung  einer  betrügerischen  Deklaration  in  weitem 
Umfang  ausgeschaltet  wurde.  In  dem  Budget  von  1898  fand 
die  Gradation  auf  Grund  des  Abatementsystems  in  der  bisherigen 
Entwicklung  ihren  Abschluß,  und  wir  werden  in  folgendem  die 
Wirkungen  festzustellen  suchen,  welche  diese  Lösung  der  Re- 
formfrage auf  den  Einkommensteuerertrag,  den  Charakter  und 
die  Organisation  der  Einkommensteuer  ausübte,  um  von  da 
aus  die  Bedingungen  zu  finden,  welche  im  weiteren  Verlauf 
der  Entrwicklung  dazu  führten,  daß  die  Ausdehnung  der  Gra- 
dation auf  eine  von  dem  Abatementsystem  methodisch  verschie- 
dene Weise  versucht  wurde. 


8  D- 
Das  Abatementsystem  und  die  Deklaration  des  Ge- 
samteinkommens. 

Von  allen  \'eränderungen,  welche  die  Einkommensteuer  in 
ihrer  Entwicklung  seit  1842  erfuhr,  hat  das  Abatementsystem 
am  tiefgreifendsten  auf  die  Gestaltung  der  Steuer  eingewirkt. 
Am  leichtesten  erkennbar  ist  die  Beeinflussung  der  Ertragsent- 
wicklung, der  wir  uns  jedoch  im  Zusammenhang  mit  den  übrigen 
für  diese  bedeutsamen  Fragen  erst  in  einem  späteren  Abschnitt 
zuwenden  werden.  Hier  aber  kommen  für  uns  vor  allem  die- 
jenigen Momente  in  Betracht,  die  mit  dem  Abatementsystem 
in  die  Gesamtorganisation  der  Einkommensteuer  eingeführt 
wurden  und  für  diese  eine  Entwicklung  einleiteten,  die  bis 
jetzt  noch  nicht  zum  Abschluß  gelangt  ist,  die  aber  in  wenigen 
Jahren  das  Wesen  der  Peel- Steuer  grundsätzlich  verändert  hat. 

Im  Rahmen  der  Gesamtorganisation  der  Peel- Steuer  be- 
trachtet, bedeutet  das  Abatementsystem  einen  Fremdkörper,  der 
sich  nur  widerstrebend  der  bestehenden  Steuerform  einfügte 
und  für  diese  zunächst  mannigfache  Hemmungen  hervorrief. 
Solange  das  Abatement  auf  eine  einzige  Einkommensklasse  be- 


—      168     — 

schränkt  blieb,  waren  die  entstehenden  Schwierigkeiten  nicht 
so  groß,  obwohl  sie  sich  auch  da  geltend  machten.  Da  zalüreiche 
Einkommensteile  von  der  Steuer  getroffen  wurden,  bevor  sie 
dem  letzten  Einkommensempfänger  zuflössen,  bevor  also  der 
Anspruch  auf  einen  Steuerabzug  durcii  Deklaration  des  Gesamt- 
einkommens begründet  werden  konnte,  machte  sich  deshalb  in 
vielen  Fällen  eine  Rückzjililung  bereits  gezahlter  Steuerbeträge 
notwendig,  womit  nicht  nur  eine  finanzielle  Benachteiligung 
des  betreffenden  Steuerzahlers,  sondern  auch  eine  Erschwerung 
und  Verteuerung  der  Steuererhebung  verbunden  war,  ein  Nach- 
teil, der  sich  freilich  in  ähnlicher  Weise  auch  mit  der  völligen 
Steuerbefreiung  verband.  Die  statistischen  Grundlagen  für  diese 
Tatsachen  sind  sehr  mangelhaft,  doch  läßt  sich  von  dem  Umfang 
der  Rückzahlungen  ein  ungefähres  Bild  aus  den  Angaben  machen, 
daß  von  1893/94  bis  1910/11  der  Betrag  der  für  Abatements 
geleisteten  Vergütungen  bereits  erhobener  Steuern  von  100  000  £ 
auf  900000  £  anwuchs  und  im  letztgenannten  Jahr  die  Zahl  dieser 
Vergütungen  121  529  betrug,  während  unter  dem  Titel  ,, Steuer- 
befreiung" an  375508  Einkommensempfänger  ein  Betrag  von 
974000  £  zurückbezahlt  wurde.  In  Betracht  kommt  dabei  noch 
der  Umstand,  daß  die  Zalil  derer,  die  einen  Anspruch  auf  Abate- 
ments erheben,  von  Jahr  zu  Jahr  nicht  nur  mit  der  Zahl  der 
Steuerpflichtigen  überhaupt,  sondern  darüber  hinaus  mit  der 
sich  ausbreitenden  Vertrautheit  mit  ^dem  Steuerverfahren  und 
mit  der  zunehmenden  steuerlichen  Gesamtbelastung  wächst,  bis 
der  Zustand  erreicht  ist,  daß  jeder  Einkommcnsteuerzahler,  der 
einen  gesetzlichen  Anspruch  auf  die  Ermäßigung  hat,  diesen 
Anspruch   auch  tatsächlich   geltend   macht. 

Wie  sehr  das  Abatementsystem  auf  den  tatsächlichen  Steuer- 
ertrag einwirkte,  tritt  in  den  nachstehenden  Tabellen  deutlich 
hervor.  Insbesondere  zeigt  die  Tabelle  12  b  wie  groß  der 
Teil  des  erfaßten  Einkommens  war,  der  infolge  des  Abatement- 
systems  von  der  Steuerpflicht   befreit   wurde. 

Erwächst  hieraus  eine  zunehmende  Erschwerung  der  tech- 
nischen Handhabung  der  Steuer  und  eine  Herabminderung  des 
relativen  Steuerertrags  durch  eine  Steigerung  der  Erhebungs- 
kosten, so  erfuhr  die  gesamte  Einkommensteuerorganisation  eine 
Veränderung  ihres  früheren  Charakters  durch  den  Umstand, 
daß  die  frühere  leichte  Anpassungsfähigkeit  der  Steuer  an  jeden 
augenblicklichen  Bedarf  mit  der  Ausbreitung  und  Erweiterung 


1 


169 


>§ 

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b)  Prozentvcrli&ltnis  der  Abzüge  zum  gesamUn  eifiißtc-n   Eii)kommen. 


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L'    von    den 

erlabten 

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kommen  in  %  desselben  unter 

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16,2 

1.7 

18.4 

53/4 

7.1 

30.5 

— 

14.4 

1.4 

13.4 

62/3 

7.0 

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1,2 

10,0 

63/4 

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10,7 

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11,9 

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10,9- 

22,3 

14.0 

82/3 

8,5 

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13.6 

21.5 

15.2 

92/3 

1 1,1 

41.2        ^         — 

12,9 

24.5 

16,1 

93/4 

9.6 

57.0      ■           - 

13.1 

25,2 

15.7 

94/5 

23.5 

61,5                 — 

15,1 

31.0 

21.7 

97/8 

25,0 

67.3                 — 

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98/9 

33.8 

72,8                  6.8 

24.3 

37.3 

28,4 

1902/3 

37.0 

75.4                  8,2 

26,4 

41.4 

30,8 

I9I0/II 

41.7 

77.5 

11,6 

27,0 

47.5 

33.3 

c)  Prozentanteil  der  verschiedenen  schedules  an  dem  Gesamtbetrag  der  Abzüge. 


betrug  der    Prozentanteil   der  unter   den   schedules  gemachten 

In  den 

Abzüge  an  der  Gesamtsumme  der  Abzüge  unter 

Jahren 

sched.  A 

sched.  B 

sched.  C*" 

sched.  D     sched.  E        Total. 

% 

% 

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100 

52/3 

24,2                51,9 

—                 23,3 

0,4 

•■ 

53/4 

21,0                46,1 

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0,5 

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62/3 

29,2                53.' 

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5.0 

•■ 

72/3 

19,2 

35.0                  —                  38.4 

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•• 

75/6 

15.0 

37.8                 —                 39.4 

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•• 

76/7 

16.3 

41.3                 —                 35.2 

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93/4 

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94/5 

32,7           22,8 

—                   34.0 

10,5 

•■ 

97/8 

38,1                  8,6 

—                   40.1 

13.0 

•• 

98/9 

35.0 

6,2 

1.2                 47.0 

10,6    - 

•• 

I 902/03 

33,0 

4,8 

1.4                 49.2 

12,6 

•• 

1910/1 1 

33.0 

3.8 

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20,3 

des  Abatementsystems  mehr  und  mehr  verloren  ging.  Freihch 
gilt  dies  in  weit  höherem  Maß  erst  seit  der  Durchführung  der 
Differentiation  und  der  Einführung  der  super-tax,  durch  welche 
neben  dem  Normalsteuerfuß  noch  drei  von  diesem  verschiedene 
Steuersätze  zur  Anwendung  gelangten,  so  daß  jede  Erhöhung 
oder  Herabsetzung  des  Normalsatzes  von  einer  entsprechenden 
Veränderung  der  übrigen  Sätze  begleitet  sein  muß.  Zum  min- 
desten erscheint  aber  eine  Veränderung  der  Steuerhöhe  auch 
schon  durch  das  Abatementsystem  von  1898  sehr  erschwert,  da 
mit  der  zunehmenden  Gesamtbelastung  sich  auch  die  Verteilung 
der  Lasten  auf  die  einzelnen  Einkommensklassen  ändert,  eine 
neue  Festsetzung  der  Höhe  und  des  Umfangs  der  Abatements 
daher  notwendig  wird.  So  entsteht  hieraus  das  Bedürfnis,  den 
früher  aus  finanziellen  Gründen  üblichen  häufigen  Wechsel  der 
Steuerhöhe  zu  vermeiden,  womit  aber  der  Einkommensteuer  die 
frühere  Sonderstellung,  die  ihr  im  jährlichen  Budget  als  dem 
ausgleichenden  Faktor  zukam,  verloren  geht.  Die  Möglichkeit 
jedoch,  durch  eine  Erhöhung  der  Einkommensteuer  einen  erheb- 
lichen budgetmäßigen  Fehlbetrag  zu  decken,  wird  damit  noch 
nicht  beeinträchtigt,  wenn  auch  die  Versuchung,  jeden  Fehl- 
betrag auf  diese  Weise  zu  decken,  durch  die  Notwendigkeit 
einer  umfassenden  Neuregelung  der  Abatements  und  neuerdings 
auch  der  vom  Normalsatz  abweichenden  Steuersätze  für  die 
Arbeitseinkommen   und   die   super-tax  vermindert   wird. 


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174     — 

Außer  (litst'ii  Rütku irkungni  dc^  AbaU-incmsystems,  durch 
die  einmal  ck-r  rchiiixc  Ertrag  der  Steuer  und  zum  anderen  ihre 
finanzpolitische  CTcbrauchsfähigkeit  beeinflußt  wurden,  erwuchs 
aus  dieser  Form  der  Gradation  eine  fortschreitende  Umwand- 
liuig  der  Grundsätze,  auf  welchen  die  Organisation  der  Peel- 
Steuer  beruhte.  Der  Grundsatz  der  Erfassung  an  der  Quelle 
konnte  zwar  bei  der  Form  der  Gradation,  wie  sie  mit  dem  Abate- 
mentsystem  gefunden  war.  aufrecht  erhalten  werden,  wenn  er 
auch  in  seiner  praktischen  Durchführung  durch  die  Notwendig- 
keit der  Rückzahlungen  eine  Einschränkung  erlitt.  Da  aber  das 
Anrecht  auf  die  Abatements  nur  durch  die  Deklaration  des  Ge- 
samteinkommens begründet  werden  konnte,  so  wurde  mit  der 
Ausdehnung  des  Abatementsystems  der  Grundsatz,  nur  die  ein- 
zelnen Teileinkommen,  nicht  aber  das  Gesamteinkommen,  durch 
Deklaration  festzustellen,  schrittweise  eingeschränkt.  Dieser  Vor- 
gang" ist  statistisch  nicht  vollkommen  zu  erfassen,  da  die  eng- 
lische Einkommensteuerstatistik  die  Zahl  der  Veranlagungen 
und  ihren  Betrag  unter  den  einzelnen  Einkommensklassen  nur 
für  die  unter  den  schedules  D  und  E  veranlagten  Einkommen 
wiedergibt  und  auch  hier  keine  völlige  Einheitlichkeit  in  der 
Zusammenfassung  der  Ziffern  walten  läßt.  Der  Umfang,  den 
die  Deklaration  des  Gesamteinkommens  infolge  der  Abatements 
angenommen  hat,  läßt  sich  jedoch  schätzungsweise  ermitteln. 
Die  Zahl  sämtlicher  Abatements  betrug  im  Jahre  1910/11  etwas 
über  808000,  während  die  Zahl  sämtlicher  unter  den  schedules  D 
und  E  erfolgten  Veranlagungen  rund  730000  betrug.  Legt  man 
diese  Zahl  der  Schätzung  zugrunde,  so  läßt  sich  die  Gesamtzahl 
aller  Einkommensteuerzahler  unter  den  fünf  schedules  auf  rund 
I  300000  festsetzen,  wobei  die  Zahl  jedoch  eher  zu  hoch,  als 
zu  niedrig  gegriffen  ist^^).  Darnach  sind  heute  allein  rund  65  »o 
aller  Einkommensteuerzahler  gezwungen,  eine  Deklaration  des 
Gesamteinkommens  abzugeben,  wenn  sie  von  der  ihnen  zukom- 
menden Erleichterung  Gebrauch  machen  wollen.  Unsicherer  als 
diese  Schätzung  ist  es,  den  Anteil  des  durch  Gesamtdeklaration 
offenbarten  Einkommens  an  gesamten  überhaupt  erfaßten  Ein- 
kommen zu  berechnen,  da  hier  nur  für  die  beiden  schedules  D 


99)  Nimmt  man  die  Zahl  der  Einkoinmensteuerzahler  mit  i  300000  an, 
so  ergibt  sich  als  durchschnittliches  Einkommen  ein  Betrag  von  800  £, 
während  unter  sched.  D  das  Durchschnittseinkommen  930  £  und  unter  E 
340   £  beträgt. 


—     175     — 

und  K  die  Einkommen  ihrem  Betrag  nach  ermittelt  werden 
können,  welche  unter  die  Abatementsgrenze  von  700  £  fallen. 
Macht  man  die  Voraussetzung,  daß  von  allen  unter  dieser  Grenze 
liegenden  Einkommen  die  entsprechenden  Abatements  auch 
tatsächlich  in  Abzug  gebracht  wurden  feine  Voraussetzung,  die 
jetzt  wohl  als  erfüllt  gelten  darf),  so  betrug  im  Jahre  1910/1  i 
das  unter  die  Einkommensstufen  von  160  bis  700  £  fallende 
Einkommen  absolut  und  in  Prozente  der  entsprechenden  Ge- 
samtsumme 

unter  sched.  D 

(gewerbliche    Einkommen)  73  Mill.  £  =^  14,60/0 

unter  sched.  D 

(Gehaltseinkommen)  22     ,,      ,,  =  88,0  „ 

sched.  D  insgesamt  95  Mill.  £  =  18,00/0 

unter  sched.  E  84  Mill.  £  =  77,00/0. 

Die  gewerblichen  Einkommen  unter  sched.  D  lassen  sich 
jedoch  nicht  leicht  zum  Maßstab  der  Einkommensverteilung 
unter  den  übrigen  schedules  machen,  da  sich  unter  diesen  Ka- 
pitalskonzentrationen von  dem  Umfang,  wie  sie  unter  sched.  D 
durch  die  modernen  Aktienunternehmungen  ermöglicht  werden, 
nur  selten  vorfinden  mögen.  So  läßt  sich  für  die  Gesamtsteuer 
der  Prozentanteil  der  unter  das  Abatementsystem  fallenden  und 
durch  Gesamtdeklaration  erfaßten  Einkommen  auf  etwa  25  bis 
30  0/0  aller  überhaupt  erfaßten  Einkommen  festsetzen.  Nimmt 
man  als  durchschnittHches  Einkommen  unter  jeder  Abatements- 
stufe  nur  die  Untergrenze  (etwa  200,  300,  400,  500  und  600  £), 
so  läßt  sich  aus  der  Zahl  der  Abatements  ein  Einkommensbetrag 
von  rund  200  Mill.  £  errechnen,  der  etwa  20 0/0  des  gesgjnten 
erfaßten  Einkommens  darstellt,  so  daß  also  die  Annahme  von 
25  —  300/0   wohl  berechtigt  erscheint. 

So  gelangen  wir  zu  dem  sehr  wichtigen  Ergebnis, 
daß  allein  durch  das  Abatementsystem  der  eine 
Grundzug  der  Peel-Steuer  in  weitem  Umfang  sowohl 
in  bezug  auf  die  Zahl  der  Steuerzahler,  als  auch  in 
bezug  auf  den  Einkommensbetrag  seine  Geltung 
verloren  hat  und  praktisch  durch  die  früher  stets 
so  energisch  abgelehnte  Deklaration  des  Gesamt- 
einkommens ersetzt  worden  ist. 


—     1/6     — 

Dieses  Ergebnis  wurde  nun  aber  nofh  verstärkt  durch  die 
Reformen  von  1907  und  1909,  welche  die  JCinkommensteuer- 
organisation  durch  die  Einfülirung  der  Differentiation  und  der 
super-tax,  die  beide  wiederum  nur  auf  Grund  der  Deklaration 
des  Gesamteinkommens  möglich  wurden,  noch  weiter  umge- 
bildet haben.  Diese  abschliefienden  Reformen  und  die  von 
ihnen  eingeleitete,  allmählich  sich  vollziehende  Umgestaltung 
der  Einkommensteuer  darzustellen,  bleibt  dem  nächsten  Ab- 
schnitt  vorbehalten. 

§6. 
Differentiation  und  S  u  ])  e  r  -  T  a  x. 

Der  im  Mai  1906  ernannten  parlamentarischen  Einkommen- 
steueruntersuchungskommission war  die  Aufgabe  gestellt  wor- 
den, die  Möglichkeit  und  die  Durchführbarkeit  einer  über  das 
bestehende  Abatementsystem  hinausgehenden  Gradation  der  Ein- 
kommensteuer und  der  Differentiation  zu  prüfen  und  durch  prak- 
tische Vorschläge  den  Weg  zu  ihrer  Verwirklichung  zu  weisen. 
Der  von  dieser  Kommission  im  selben  Jahr  veröffentlichte  Be- 
richt 100^  stellt  eine  klare  und  umfassende  Behandlung  aller 
Fragen  dar,  die  mit  den  beiden  großen  Problemen  der  Gradation 
und  Differentiation  verknüpft  sind.  Wir  machen  ihn  deshalb 
zur  Grundlage  der  folgenden  Darstellung. 

Den  breitesten  Raum  der  Untersuchung  nahm  die  Frage 
einer  Erweiterung  der  Gradation  in  Anspruch,  die  in  der  dop- 
pelten Absicht,  eine  Erhöhung  des  Gesamtertrags  der  Steuer 
und  eine  Erleichterung  der  unteren  Einkommensklassen  zu  be- 
wirken, gefordert  wurde.  Von  den  verschiedenen  Möglichkeiten, 
den  Gradationsgedanken  in  der  Einkommensteuer  zu  verwirk- 
lichen, wurde  das  unmittelbare  Verfahren  einer  progressiven  und 
auf  der  durchgehenden  Deklaration  des  Gesamteinkommens  be- 
ruhenden Gradation  nach  dem  Vorbild  der  Nachlaßbesteuerung 
von  vornherein  abgelehnt,  da  man  der  Aufgabe  der  Erhebung 
an  der  Quelle  des  Einkommens  noch  immer  hartnäckig  wider- 
strebte und  keinen  Ausweg  fand,  diesen  Grundsatz  mit  einer 
von  unten  nach  oben  einheitlich  durchgeführten  Gradation  zu 
vereinigen. 


100)  Report  from  the  Select  Committec  on  Income  tax.    Pari.  Papcrs. 
Xov.  1906. 


I 


177     — 


Aber  auch  gegen  eine  allzu  weitgehende  Ausdehnung  der 
Gradation    in    der   f^orm    des   Abatementsystems    machten    sich 
schwerwiegende  Bedenken  geltend,  wenn  auch  eine  Erweiterung 
dieses  Systems  bis  zu  enier  Einkommensgrenze  von  loco  £  als 
unbedenkhch    in    Vorschlag   gebracht    wurde.     Den   Ausschlag 
gaben  hier  die  finanziellen  Erwägungen,  die   durch   die  Rück- 
wirkung der  Abatements  auf  den  Steuerertrag  nahegelegt  wur- 
den.    Da  die  Gradation  nicht  auf  Kosten  des  Ertrags  durchge- 
führt werden  konnte,  so  machte  jede  Erweiterung  des  Systems 
eme   Erhöhung   des   Normalsteuersatzes   notwendig.     Die  Folge 
davon  aber  war  ein  weiteres  Anwachsen  der  Beträge,  welche  an 
der  Quelle  von  solchen  Einkommen  erhoben  wurden,  die  einen 
Anspruch  auf  Abatements  hatten,  und  in  der  Folge  daher  wieder 
rückvergütet  werden  mußten.    Gegen  dieses  System,  durch  das 
den  Steuerzahlern  alljährlich  erhebliche  Beträge  zeitweilig  ent- 
zogen wurden,  auf  die  der  Fiskus  keinen  Anspruch  hatte,  mußten 
sich  schwere  wirtschaftliche  Bedenken  geltend  machen,  die  um 
so    weniger    außer    acht    gelassen    werden    konnten,    als    diese 
Summen  den  weniger  zahlungsfähigen  Klassen  entzogen  wurden. 
Durch  eine,  theoretisch  zwar  mögliche,  Ausdehnung  des  Abate- 
mentsystems bis  zu  den  höchsten  Einkommen  hinauf,  wurde  aber 
nicht  nur  dieser  Übelstand  ins  Ungemessene  erweitert,  sondern 
auch  eine  Steigerung  der  technischen  Geschäftslast  bewirkt,  die 
in  kurzer  Zeit  zu  einer  Lahmlegung  der  ganzen  Steuermaschine 
fuhren  konnte,  da  jeder  einzelne  Anspruch  auf  Ermäßigung  be- 
sonders behandelt   werden  mußte.     Aber  auch  für  die  Steuer- 
zahler  ergab    sich    aus    einem   solchen   System    eine    Fülle   von 
Hindernissen  und  Reizungen,  die  geeignet  waren,  die  Steuer  zu 
emer   der   am    unwilligsten   ertragenen   zu    machen.     So   ergab 
sich  für  das  Abatementsystem  eine  Zweckmäßigkeitsgrenze,  die 
dann   erreicht   wurde,    wenn   der  verursachte   ErtragsausfaH   zu 
seiner   Ausgleichung   eine   übermäßige   Erhöhung   des   Normal- 
steuerfußes notwendig  machte  und  wenn  die  Summe  der  rück- 
zahlbaren   Steuerbeträge    eine    Höhe    erreichte,    die    eine    wirt- 
schaftliche Gefahr  in  sich  barg.     Wo  diese  Grenze  lag,  konnte 
freilich  kaum  anders  als  durch  die  Erfahrung  ermittelt  werden, 
wenn  auch   von   vornherein   eine   Erweiterung   der   Abatements 
bis  zu  einer  Einkommensgrenze  von  looo  £  vorgeschlagen  wer- 
den konnte  101) 

IUI)  Vgl.   hierzu   den  Report   1906,  S.    12— 17. 

Zeitschrift  für  die  ges.  Staatswissenschaft.     Ergänzungsheft  48.  12 


-        178     - 

Wurde  so  eine  durchgehende  Gradation   der  Einkommen- 
steuer von  der  Kommission  sowohl  in  ihrer  direkten  und  pro- 
gressiven Form,  als   auch   in  ihrer  indirekten   und   degressiven 
l^orm  abgelehnt,  so  ließ   sich  eine  Erweiterung   der  Gradation 
überhaupt  nur  noch  durch  ein  drittes  Mittel  ermöglichen,   das 
sich  als  eine  Verbindung  der  beiden  andern  Formen  darstellt : 
durch  eine  Zusatzsteuer  (super-tax),   die  neben   und  über  dem 
für  alle  Einkommen  geltenden  Normalsatz  mit  einem  besonderen 
Steuersatz   auf   diejenigen   Einkommen  gelegt   wurde,   die   man 
durch  die  Gradation  stärker  zu  belasten  beabsichtigte.     Dieses 
x\uskunftsmittel  ermöglichte  die  Beibehaltung  des  Normalsatzes, 
der  so  für  die  Erfassung  der  Einkommen  an  der  Quelle  in  An- 
wendung kommen  konnte,  es  machte  aber  für  diejenige  Klasse 
\on    Einkommen,    auf    -welche    die    Zusatzsteuer    fallen    sollte, 
wiederum   die   Deklaration   des   Gesamteinkommens   notwendig, 
da  der  Zuschlag  nur  auf  das  Gesamteinkommen  gelegt  werden 
konnte.     Hierin  aber  lag  ein  sehr  bedenkliches  Moment,  da  die 
Deklaration  hier  nicht  in  der  Absicht  einer  Erleichterung,  son- 
dern   einer    schärferen   Belastung   gefordert    wurde,    womit    die 
Versuchung   zu   betrügerischer   Deklaration   doch   überaus   ver- 
stärkt   wurde.      Indem    als    Untergrenze    für    die    Zusatzsteuer 
5000  £  in  Vorschlag  gebracht  wurden,  gestaltete  sich  darnach 
die   Gradation   der   gesamten   Einkommensteuer  in   der   Weise, 
daß    die   Einkommen   von    160 — 700   £   durch    das    Abatement- 
system  abgestuft,  die  umfangreiche  Mittelstufe  der  Einkommen 
\on  700 — 5000  •£  ohne  jeden  Abzug  zum  Normalsatz  besteuert, 
die  Einkommen  über  5000  £  aber  außer  mit  dem  Normalsatz 
noch  mit  einem  Zuschlag  zu  diesem  belastet  wurden.    Das  hatte 
freilich  zur  Folge,   daß   damit  die  Deklaration  des   Gesamtein- 
kommens auf  mehr  als  90  0/0  aller  Einkommensteuerzahler  mit 
etwa    83  0/0    des    gesamten    erfaßten    Einkommens    ausgedehnt 
wurde.     So  ließ  die  Kommission  von  1906  den  einen  Grundzug 
der  Peel- Steuer  um  so  leichter  fallen  und  schlug  die  Einführung 
der  zwangsweisen  Deklaration  des  Gesamteinkommens  vor,  als 
nur  auf   diese   Weise   die  super-tax  sich   erfolgreich   und  ohne 
Gefahr   umfangreicher   Steuerhinterziehungen   ins   Werk   setzen 
ließ  102). 

Die  tatsächliche  Einführung  der  super-tax  erfolgte  erst  mit 
dem  Budget  von   1909,   doch  erfuhr  der  Vorschlag  der  Kom- 
102)  Vgl.  Report    1906,   S.  7 — 11. 


—     179     — 

mission  von  1906  eine  Änderung  insofern,  als  die  Steuerpflicht 
zwar  erst  mit  einem  Einkommen  von  5000  £  einsetzte,  die  Zu- 
satzsteuer aber  in  der  Weise  erhoben  wurde,  daß  sie  nur  für 
den  Einkommensteil,  der  3000  £  überstieg,  fällig  war  1^3)  £)ie 
Deklaration  des  Gesamteinkommens  wurde  für  alle  Einkommens- 
empfänger zur  Pflicht  gemacht  und  so  war  die  Veranlassung  auf- 
gegeben, die  in  der  Ad  ding  ton- Steuer  das  methodische  Mittel, 
die  Einkommen  schon  an  der  Quelle  zu  erfassen,  notwendig  ge- 
macht hatte.  Damit  war  die  subjektive  Einheit  der  Steuer 
wenigstens  der  Form  nach  wieder  hergestellt,  wenn  ihr  auch 
die  Bedeutung  nicht  zukommen  kann,  daß  siclj  die  Bemessung 
der  Steuerleistung  durchgehend  nach  dem  beim  Steuersubjekt 
zusammengefaßten  Gesamteinkommen  richtet.  Doch  war  mit 
der  so  erreichten  Form  der  Gradation  die  Beziehung  der  unter 
den  fünf  schedules  veranlagten  Teileinkommen  zum  Steuer- 
zahler wenigstens  für  den  größten  Teil  aller  Einkommen  wieder 
hergestellt  und  zur  Bemessungsgrundlage  der  tatsächlichen 
Steuerleistung  geworden.  Auf  diese  Weise  war  aber  das  Wesen 
der  Peel- Steuer  so  grundsätzlich  verändert,  daß  wir  es  mit 
einer  neuen  Form  einer  Einkommensteuerorganisation  zu  tun 
haben,  die  freilich  in  allen  ihren  Teilen  von  der  Grundabsicht 
beherrscht  wurde,  die  direkte  Erfassung  des  Einkommens  beim 
Einkommensempfänger  zu  vermeiden  und  das  Steuerobjekt  rein 
als  Objekt  und  ohne  Beziehung  zum  Steuerzahler  zu  treffen.  Daß 
aber  diese  Grundabsicht  in  der  modernen  Gestaltung  der  Ein- 
kommensteuer nicht  verwirklicht  ist,  und  nie  verwirklicht  sein 
kann,  liegt  klar  genug  zutage.  Darum  kann  auch  heute  dem 
Grundsatz  der  Erfassung  an  der  Quelle  nicht  mehr  die  Bedeutung 
zukommen,  die  er  in  der  Adding ton- Steuer  angenommen 
und  in  der  Peel-Steuer  bewahrt  hat.  Bei  dem  größten  Teil 
der  Einkommen,  die  unter  die  Abatementsgrenze  fallen,  erfolgt 
die  Veranlagung  und  Erhebung  in  direkter  Weise  und  ebenso 
bei  allen  denjenigen  Einkommen,  die  nur  einer  einzigen  Quelle 
entspringen.  Aber  auch  die  Veranlagung  zur  und  die  Erhebung 
der  super-tax  erfolgt  in  direkter  Weise,  wenn  auch  der  Normal- 
satz dasselbe  Einkommen  schon  an  der  Quelle  treffen  kann. 
Damit  ist  die  Anwendung  der  Erfassung  an  der  Quelle  als  dem 
einzig   möglichen  methodischen   Erhebungsverfahren  in  weitem 


103)  Vg\.    Finance   Act    1910,    Nr.    i    (for   1909). 


i8o     — 

Umfang  zurückgedrängt,  so  daß  ihm  für  diejenigen  Fälle,  wo 
der  Grundsalz  noch  weiter  Anwendung  findet,  keine  andere  Be- 
deutung zukommt,  als  ein  teclinisch  abgekürztes  Verfahren  der 
Steuerleistung  darzustellen.  Statt  daß  derjenige  Kinkonimens- 
teil,  der  als  Steuerleistung  dem  Fiskus  zukommt,  t-rst  dem  Ein- 
kommensempfänger zugeführt  w  ird,  und  von  diesem  dann  wieder 
an  die  Staatskasse  ausgezahlt  wird,  wird  der  Steuerbetrag  gleich 
von  den  Auszahlungsstellen  einbehalten  und  der  Staatskasse 
überschrieben.  Auf  diese  Weise  gewinnt  der  Grundsatz  der 
Erfassung  einen  ähnlichen  Charakter,  wie  er  allen  jenen  finanz- 
technischen Operationen  und  Einrichtungen  eigen  ist,  die  auf 
eine  Abkürzung  des  Geldumlaufs  und  eine  Vereinfachung  wech- 
selseitiger Finanzgeschäfte  gerichtet  sind.  Diese  Bedeutung  des 
„stoppage  at  the  source"-Grundsatzes  ist  bei  der  Höhe  des 
dafür  in  Betracht  kommenden  Barbetrags  nicht  zu  unterschätzen 
und  wird  auch  in  jeder  weiteren  Umgestaltung  der  Einkommen- 
steuerorganisation  nie   \  erloren   gehen   können. 

Wenden  wir  uns  nunmehr  dem  anderen  Reformproblem, 
mit  dem  sich  die  Einkommensteuerkommission  von  1906  be- 
schäftigte, der  Frage  der  Differentiation,  zu,  so  erkennen  wir, 
daß  der  praktischen  Verwirklichung  dieser  Forderung  weniger 
die  Schwierigkeit,  sie  dem  bestehenden  Steuerorganismus  ein- 
zugliedern, als  die  einer  begrifflich  klaren  Bestimmung  der 
verschiedenen  Einkommensarten  entgegenstand.  Diese  Schwie- 
rigkeit konnte  freilich  teilweise  durch  eine  Beschränkung  der 
Differentiation  auf  die  niederen  Einkommensklassen  etwa  bis 
zu  einer  Grenze  von  3000  £  vermindert  werden,  da  bei  der  Ein- 
kommensgewinnung der  Anteil  der  persönlichen  Momente,  der 
Arbeitskraft,  des  Fleißes  usw.,  bei  den  kleineren  Einkommen 
größer  sein  wird,  während  bei  der  Bildung  der  großen  Ein- 
kommen die  Bedeutung  des  Kapitals  zu  überwiegen  pflegt.  Die 
technisch  einfachste  Lösung  der  Differentiatioiisfiage  lag  in 
der  Anwendung  eines  besonderen  gegenüber  dem  Normalsatz 
ermäßigten  Steuersatzes,  der  für  den  ,, verdienten"  Teil  des 
Gesamteinkommens  in  Anwendung  gelangen  konnte.  Dafür  war 
freilich  wieder  die  unumgängliche  Voraussetzung  die  direkte  Ver- 
anlagung und  Erfassung  des  Gesamteinkommens,  so  daß  auch 
auf  diese  Weise  die  Tendenz  der  Einkommensteuerentwicklung 
auf  die  Herstellung  der  subjektiven  Einheit  der  Besteuerung 
verstärkt  wurde  und  das  Erhebungsverfahren  an  der  Quelle  eine 


-       i8i     — 

weitere  Einschränkung  seines  methodischen  Charakters  edittio*) 
Durchgeführt    wurde    die    Differentiation    in    den   Budgets    von 
1907  und  1909  in  der  Weise,  daß  der  Steuerfuß  bei  einem  Gc 
samteinkommen  unter  2000  £  für  „earned  incomes"  auf  9  d  und 
bei   einem  Gesamteinkommen   bis   zu   3000    £   auf    12  d   herab- 
gesetzt  wurde  lOö) 

Mit  diesen  Reformen  ist  die  moderne  Einkommensteuerent- 
wicklung zu  ihrem  vorläufigen  Abschluß  gelangt.  Wir  haben 
nun  gesehen,  wie  jede  dieser  Reformen  schrittweise  eine  Ver- 
änderung der  Organisation  der  Einkommensteuer  bewirkt  und 
ihren  Charakter  umgestaltet  hat.  Im  Verlauf  dieser  Entwick- 
lung sind  die  beiden  Grundzüge  der  Peel- Steuer  entweder  ver- 
loren gegangen  oder  derartig  umgestaltet  worden,  daß  ihnen 
in  der  heutigen  Einkommensteuer  eine  durchaus  andere  Bedeu- 
tung zukommt,  als  bei  der  Wiedereinführung  der  Einkommen- 
steuer im  Jahre  1842.  Versuchen  wir  die  Grundtendenz  dieser 
Entwicklung  in  einem  Satz  wiederzugeben,  so  läßt  sie  sich  dahin 
bestimmen,  daß  sie  darauf  gerichtet  war,  das  mit  der  Adding- 
tonschen  Einkommensteuer  verloren  gegangene  Personalmerk- 
mal der  subjektiven  Einheit  der  Einkommensbesteuerung  wieder 
herzustellen,  und  die  Bemessung  der  Steuerleistung  nicht  von 
dem  Objekt  allein,  sondern  auch  von  der  persönlichen  Leistungs- 
fähigkeit des  Steuerzahlers  abhängig  zu  machen.  Diese  Ent- 
wicklung ist  noch  keineswegs  abgeschlossen,  da  die  Gradations- 
idee in  der  Einkommensteuer  sich  einer  Form  bedienen  mußte, 
die  ihr  nicht  so  angemessen  ist,  daß  sie  sich  in  ihr  voll  und  frei 
entfalten  kann.  In  welcher  Richtung  sich  diese  Fortentwicklung 
vollziehen  wird,  kann  in  dieser  Arbeit  nicht  besprochen  werden. 
Daß  sie  aber  als  eine  Folge  der  finanziellen  und  theoretischen 
Anforderungen  kommen  wird,  ist  nur  die  einfache  Folgerung 
aus   dem   Verlauf   der  bisherigen  Entwicklung. 

Mit  diesen  mannigfachen  Reformen  aber  hat  sich  nicht 
nur  die  Organisation  der  Einkommensteuer,  sondern  vor  allem 
auch  die  finanzpolitische  Verwendungsmöglichkeit  dieser  Form 
der  Ertragsgewinnung  verändert.  Der  früher  leicht  zu  hand- 
habende und  einfache  Steuerapparat  ist  im  Verlauf  seiner  Ent- 
wicklung  zu   einem   äußerst   umfangreichen,    darum   aber  auch 


104)  Vgl.  Report  1906,  S.  18 — 21. 

105)  Vgl.  Finance  Act  1907,  sect.  19  und  Finance  Act  1910,  Nr.  i. 


—       l82      — 

schwer  beweglichen  Organismus  ausgewachsen,  der  nicht  mehr 
die  Eigenschaft  besitzt,  allen  Augenblicksforderungen  gerecht 
zu  werden.  Daß  aber  seine  finanzpolitische  Bedeutung  darum 
nichts  eingebüßt  hat,  werden  wir  aus  der  abschließenden  Dar- 
stellung der  Ertragsentvvicklung  zu  erkennen  vermögen. 

3.  Kapitel. 
Die  Ertragsentwicklung. 

§7. 
Die   Faktoren   der   Ertrags bildung. 

Der  Zweck  eines  jeden  Besteuerungsverfahrens  ist  die  Er- 
zielung einer  Einnahme,  die  für  die  Deckung  des  jährlich  ent- 
stehenden Bedarfs  verwendet  werden  kann.  Die  Erreichung 
dieses  einfachen  und  selbstverständlichen  Zwecks  (der  freilich 
nicht  zu  allen  Zeiten  so  einfach  und  selbstverständlich  erschien 
und  vor  allem  in  den  mit  dem  Prämiensystem  verbundenen 
Schutzzöllen  einen  schroffen  Gegensatz  findet)  ist  bei  jedem  Be- 
steuerungsversuch wesentlich  von  drei  Faktoren  abhängig,  die 
zur  Bildung  des  Ertrags  zusammenwirken  müssen.  Das  grund- 
legende Moment  ist  dabei  mit  dem  Steuerobjekt  selbst  ge- 
geben, an  welches  sich  das  Steuerverfahren  anschließt  und 
welches  den  ganzen  Umfang  der  Ertragsmöglichkeit 
bestimmt.  Das  andere  Moment  ist  die  besondere  Form  der 
Steuerorganisation,  von  deren  Tauglichkeit  zu  einer  mög- 
lichst vollständigen  Erfassung  des  Objekts  die  Sicherung 
der  Ertragsmöglichkeit  abhängt,  und  das  dritte  ist  der 
jeweilige  Steuersatz,  der  zur  Anwendung  gelangen  soll  und 
der  die  Höhe  der  Steuerleistung  bestimmt,  die  im  Hinblick 
auf  den  zu  deckenden  Bedarf  von  dem  Steuerzahler  gefordert 
wird.  Alle  drei  Faktoren  sind  nun  aber  selber  wieder  mannig- 
faltig bestimmt  und  stehen  vor  allem  gegenseitig  in  einem 
engen  Verhältnis  in  der  Weise  zu  einander,  daß  mit  der  beson- 
deren Gestaltung  des  einen  auch  die  Form  der  anderen  be- 
einflußt wird,  und  daß  der  Ertrag  stets  als  Produkt  der  drei 
Faktoren  erscheint.  In  der  Tabelle  1 1  kommt  die  Bedeutung 
des  ersten  dieser  drei  Faktoren  zur  Anschauung,  während  Ta- 
belle 12  die  hemmende  Rückwirkung  der  Abatements  auf  den 
Ertrag  zeigt.    In  den  folgenden  Tabellen  13  a — e  findet  dagegen 


i83 


die   tatsächliche   Ertragsgestaltung,    wie   sie   sich   aus   dem   Zu- 
sammenwirken aller  Faktoren  ergibt,  ihre  Darstellung. 

Tab.    13.    Die  Ertragsentwicklung, 
a)  Der  Pennyertrag. 


Jahr 

1                     j    Pennyertrag 
Änderungen  in  der  Einkommensteuer-          Penny-          in  %  des 
Organisation                                    ertrag        ges.  erfaßten 

Einkommens 

1842/3 

>   Keine 

0,772 

0,30 

52/3 

0,809 

0,30 

53/4 

1  Herabsetzung   der    Befreiungsgrenze    auf   ;      1.004      j          0,32 
/  ioo£  ,   Ausdehnung  d.  Steuer  auf  Irland         1,192      '          0  3^ 

62/3 

63/4 

1  Abatements  für  Einkommen  von  100  bis   i      1.2 18      |          0,32 

71/2 

/              200  £   im  Betrag  von  60  £ 

1,650               0,34 

72/3 

» 
1  80  £    Abatements  für  Einkommen  von 
/                            100 — 300  £ 

1,724               0,33 

75/6 

J.935 

0,33 

76/7 

Erhöhung  d.  Befreiungsgrenze  auf  150  £  ; 
Abatements  für  Einkommen  von  150  bis 
400  £ 

1,881 

0.33 

82/3 

1,962 

0,32 

92/3 

2,239 

0,31 

93/4 

2,191 

0,31 

94/5 

1  Erhöhung  d.  Befreiungsgrenze  auf  160  £; 

Abatements  für  Einkommen  von  160  bis 

1  400  £  (160  £)  und  von  400 — 500  £  (ioo£) 

1,982 

0,29 

97/8 

2,198 

0,30 

98/9 

1  Abatements  von  160,  150,  120  u.  70  £  für 
Einkommen  v.  160 — 400,  4 — 500,  5 — 600 
'                          und  6 — -700  £ 

2,284 

0,30 

1902/3 

2,535 

0,29 

lo/ii 

1  Seit    1907    u.    1909    Differenzierung   des 
/  Steuerfußes  für  Arbeitsekn.   (g  und  12  d) 

2,738 

0,26 

Um  die  Bedeutung  zu  verstehen,  welche  dem  Steuerobjekt 
in  der  englischen  Einkommensteuer  für  die  Bildung  und  Ent- 
wicklung des  Ertrags  zukommt,  muß  man  sich  die  Eigentüm- 
lichkeit der  englischen  Einkommensteuer  vergegenwärtigen,  daß 
es  sich  hierbei  um  zwei  gegenläufige  Entwicklungslinien  handelt, 
aus  denen  im  Verlauf  des  Besteuerungsverfahrens  das  besteuerte 
Objekt  allererst  hervorging.  Zwar  ist  das  gesamte  von  der 
Steuer  erfaßte  Einkommen  das  eigentliche  Steuerobjekt  und 
bildet  so  seinem  Umfang  nach  die  Grundlage  der  Ertragsbildung 
und  seiner  Entwicklung  nach  auch  die  Grundlage  der  Ertrags- 


i84 


b)  Die  Verteilung  des  Pennyertraf^s  auf  die  schedules. 


Jahr 


Steuer- 
fuß 
d 


Von  dem  Gesamtpennyertrag  entfielen  auf  schedules 


Insges. 


'842/3 
52/3 
53/4 
62/3 

63/4 
71/2 

72/3 
75/6 
76/7 
83/4 
92/3 
93/4 
94/5 
97/8 
98/9 
; 902/3 
10/11 


15 
14 


0.345 
0.385 
0,459 
0,579 
0,589 
0,594 
0,600 
0,639 
0,671 

0,731 
0,686 

0,705 
0,594 
0,596 
0,622 
0,647 
0,665 


0,046 
0,043 
0,056 
0,067 
0,068 
0,077 
0,076 
0,075 
0,073 
0,058 
0,037 
0,036 
0,023 
0,019 
0,019 
0,018 
0,014 


0,116 
0,107 
0,114 
0,128 

0,131 
0,161 
0,168 

0.174 
0,165 
0,170 
0,160 
0,159 
0.157 
0.146 

0,147 
0,173 
0,184 


0,233 
0,238 
0,312 
0,394 
0,417 
0,788 

0.857 
1,009 

0,953 
1.050 
1,203 

1.1,39 
1 ,044 
1,228 
1,299 
1.538 
1,682 


0,039 
0,048 
0.057 
0,081 
0,081 
0,105 
0,106 
0,1 16 
0,101 
0,123 

0,153 
0,152 
0,138 

0.157 
0,168 
0,201 
0,194 


0,779 
0,821 
0,998 

1.249 
1,286 

1,725 
1,807 
2,013 
1,963 
2,132 
2,239 
2,191 
1.956 
2,146 
2,255 

2,577 
2,739 


c)  Prozentanteil  der  schedules  am  Pennyertrag. 


Jahr 


Steuer- 
fuß 


In  %  des  Gesamtbetrags  betrug  der  auf  die  schedules 
entfallende  Pennyertrag  unter 


A 

/o 


B 


C 

0/ 
/o 


D 


Insges. 
/o 


1842/3  ' 

7 

52/3 

7 

53/4   1 

/ 

62/3 

9 

63/4 

7 

71/2 

6 

72/3 

4 

75/6 

2 

76/7 

3 

83/4 

5 

92/3 

6 

93/4 

1         7 

94/5 

8 

97/8 

8 

98/9 

8 

902/03 

15 

lo/ii 

M 

44.3 

5.9 

14.3 

29,7 

5.3 

47.0 

5.1 

13.0 

29,0 

5.9 

46,0 

5.6 

11,4 

31.2 

5.8 

46,0 

5.3 

10,2 

31.4 

6,8 

45,6 

5.2 

10,2 

32,4 

6,6 

35.3 

4.4 

9.3 

45.6 

6,4 

33,1 

4.1 

9,3 

47.7 

6,1 

31.6 

3.7 

8,6 

50,0 

6,1 

34.1 

3.7 

8,3 

4S.5 

5.4 

34.2 

2.7 

7.9 

49,2 

6,0 

30,0 

1,6 

7.1 

55.2 

5.5 

32,1 

1,6 

7.2 

51.9 

7,2 

30,3 

i.i 

8,0 

53.6 

7.0 

27.7 

0,8 

6,8 

57.2 

7.5 

27.5 

0,8 

6.4 

57.6 

7.7 

25.1 

0.7 

6.7 

59.7 

7.8 

24.3 

0.5 

6,6 

61.3 

7.3 

entwicklung.  Der  tatsächliche  Einkommensteuerertrag  aber 
wird  erst  durch  die  Gestaltung  des  Besteuerungseinkommens 
bestimmt,  das  den  Teil  des  Gesamteinkommens  darstellt,  der 
nach  Abzug  aller  Einkommensteile,  die  auf  Grund  irgend  welcher 


-     i85     - 

d)  Zahl   und   Betrag  der   Steuerrückzahlungen  für  einzelne    Jahre. 


Jahr 


1893/4 
94/5 
95/6 
97/8 
98/9 

99/00 
1910/1 I 


Unter  d.   Be- 
freiungsgrenze 


Zahl 


Betras 


—  0,187 

—  0,240 

—  I  0,289 

—  I  0,339 

—  I  0,372 

—  !  0,379 
375508  I  0,974 


Unter 
abatements 


Unter 
and.  Titeln 


Zahl    1^^^^^? 


0,103 

0,138 
0,202 
0,248 

—  0,283 

—  0,313 
121529     0,907 


Zahl 


Betrag 
£ 


Insgesamt 


Zahl 


0.235  173618 

0,307  213074 

0,332  256467 

0,304  25021 I 

0,322  !  256419 

—    1  0,326  I  278874 

ri6,9i4|    1,069  '   613951 


Betrag 
_£ 

0,525 
0,685 
0,823 
0,891 

0,977 
1,018 
2,950 


e)  Die  Verteilung  der  Stcuereinkommen  nach  Einkommenstufen  unter 

sched.   D. 


Tahr 

1    Es    betrug   in   den   angegebenen    Jahren   für   die 
Einkommen  von 

160  bis        400  bis        700  bis 
400  £          700  £        5000  £ 

5000  £          Ins- 
u.  mehr       gesamt 

Der  Gesamtbetrag 
des  Einkommens 

43.748         19,936 

1    ^ 
69,231 

213.588       346,503 

1898/9 

Die  Zahl  der  Ver- 
anlagungen 

223727         37308 

41180 

8247          310462 

Derdurchschnittl. 
Einkommensbetrag 

195  £ 

534  £ 

1687  £ 

25898  £       II 16  £ 

Der  Gesamtbetrag 
des  Einkommens 

56,234 

21,741 

76,564 

282,525 

437.064 

I 902/03 

Die  Zahl  der  Ver- 
anlagungen 

220786 

40530 

44446 

9871 

315633 

Der  durchschnittl. 
Ei:  kommensbetrag 

254  £ 

536  £ 

1722  £ 

28624  £ 

1384  £ 

Der  Gesamtbetrag 
des  Einkommens 

50,488 

22,544 

86,319 

1 
342.223       501,574 

IQIo/ll 

Die  Zahl  der  Ver- 
anlagungen 

209307 

42634 

49600 

10918          314453 

Der  Gesamtbetrag 
des  Einkommens 

241  £ 

529  £ 

1740  £ 

31396  £ 

1594  £ 

stcuergesetzlicher  Bestimmungen  von  der  Besteuerung  befreit 
wurden,  verbleibt.  Durch  das  Verhältnis  dieser  beiden  Ent- 
wicklungslinien, deren  Entstehung  und  Fortbildung  wir  in  den 
vorausgegangenen  Abschnitten  verfolgt  haben,  wird  der  Ertrag 
bestimmt,  indem  er  mit  dem  Wachstum  der  Grundlinie  der  er- 
faßten Gesamteinkommen  relativ  erhöht,  durch  die  Gegen- 
wirkung der  Abzüge  aber  wieder  gehemmt  oder  gar  vermindert 
werden  kann.  Überbhcken  wir  (nach  der  Tabelle  13  a)  diese 
doppelte  Entwicklung,  so  erkennen  wir  zwar  ein  kaum  unter- 
brochenes   Wachstum    des    auf    die    Einheit    des    Steuersatzes 


—     i86     — 

entfallenden  Ertrags,  das  durch  die  all^cniL-itu-  Kinkommens- 
ent Wicklung  verursacht  wurde.  Bringen  wir  aber  diesen  Ertrag 
in  Beziehung  zum  gesamten  erfaßten  Einkommen,  so  läßt  sich 
doch  auch  die  abnehmende  Tendenz,  die  seit  der  Ausdehnung 
des  Abatementsystems  zum  Ausdruck  gelangt,  nicht  übersehen. 
Es  ist  nun  aber  klar,  daß  die  finanzielle  Rückwirkung  der  Abate- 
ments  und  der  anderen  Abzüge  wesentlich  wieder  \on  der 
Verteilung  der  Einkommen  abhängt,  da  sowohl  der  Gesamt- 
betrag der  Abzüge  als  auch  der  Betrag  des  entfallenden  Steuer- 
anteiles durch  die  Verteilung  des  Einkommens  nach  seiner 
Höhe  und  der  Zahl  der  Einkommensempfänger  bestimmt  wird. 
So  bleibt  hier  vor  allem  diese  Einwirkung  auf  den  Steuerertrag 
noch   einer   besonderen   Untersuchung   vorbehalten. 

Die  Beeinflussung  des  Einkommensteuerertrags   durch   die 
Gesamtorganisation  der  Steuer  und  vor  allem  durch  die  Form 
der  Veranlagung  und  der  Erfassung  des  steuerpflichtigen  Ein- 
kommens läßt  sich  statistisch  in  keiner  Weise  erfassen,  obwohl 
sie  zweifellos  vorhanden  ist.     Soweit  die  Form  der  Veranlagung 
und  der  Berechnung  des  Steuerobjekts  in  Betracht  kommt,  haben 
wir  bereits  den  ertragsschädigenden  Einfluß  der  Durchschnitts- 
veranlagung unter  sched.  D  gesehen.    In  ähnlicher  Weise  wirkte 
aber  auch  die  Bestimmung,  nach  welcher  die  Abschätzung  des 
Ertragswerts,    welche    zur    Unterlage    der    Veranlagung    unter 
sched.   A  diente,  nur  aller   drei  Jahre  einmal   erneuert   wurde. 
So  wenig  jedoch  wie  diese  doppelte  Beeinträchtigung  des  Ertrags 
irgendwie    zahlenmäßig    erfaßt   und   zur   Anschauung   gebracht 
werden    kann,    ebensowenig    lassen    sich    auch    alle    diejenigen 
Faktoren    berechnen,    die   mit   der   Fortdauer   der  Einkommen- 
steuer   die    Erfassung    des    steuerpflichtigen    Einkommens    und 
damit   den  Steuerertrag  mehr  und  mehr  sicherstellten.      Einen 
geringen  zahlenmäßigen  Anhalt  hierfür  könnte  man  gewinnen, 
wenn   sich   der  Pennyertrag  in  Beziehung  zu   dem  für   die   Be- 
steuerung verbleibenden  Einkommen  bringen  ließe,  indem  eine 
Zunahme  des  Prozentverhältnisses,  in  welchem  der  Pennyertrag 
zum   reinen   Steuereinkommen  steht,  nur  durch  die   wachsende 
Tauglichkeit  der  Organisation  erklärt  werden  könnte.    Da  aber 
das  besteuerte  Einkommen  in  verschiedenen  Jahren  unter  völlig 
veränderten  Bedingungen  gebildet  wird,  erweist  sich  ein  solcher 
Versuch  als  unmöglich  und  wertlos. 

In  einer  Beziehung  allerdings  tritt  die  Bedeutung  der  Ein- 


-     i87     - 

kommensteuerorganisation  für  die  Gestaltung  des  Ertrags  deut- 
licher hervor.  Da  die  subjektive  und  objektive  Steuerpflicht 
auf  dem  Grundsatz  beruht,  alle  Eilikommen  und  alle  Einkom- 
mensempfänger, welche  durch  die  britische  Souveränität  er- 
reicht werden  können,  der  Einkommensbestcuerung  zu  unter- 
werfen, so  entsteht  die  Frage,  in  welchem  Umfange  es  der 
Steuerorganisation  gelingt,  diesen  Grundsatz  durchzuführen.  So- 
weit die  Einkommen,  die  von  England  nach  dem  Ausland 
fließen,  in  Betracht  kommen,  erscheint  die  Erfassung  des  Sub- 
jekts durch  die  Deklaration  der  Teil-  und  Gesamteinkommen 
imd  die  Erfassung  des  Objekts  durch  die  Besteuerung  der  Ein- 
kommen an  der  Quelle  hinreichend  gesichert.  Weit  weniger 
aber  scheint  dies  bei  den  Einkommen  der  Fall  zu  sein,  die  vom 
Ausland  nach  England  fließen.  Soweit  sich  diese  Einkommens- 
teile überhaupt  als  aus  dem  Ausland  stammend,  feststellen 
lassen,  handelt  es  sich  dabei  um  folgende  Fälle: 

1 .  Bei  Einkommen,  die  aus  der  Kapitalsanlage  in  aus- 
ländischen oder  kolonialen  Staatspapieren  stammen,  und  die 
durch  inländische  Agenten  ausgezahlt  werden,  erfolgt  die  Be- 
steuerung in  der  Weise,  daß  der  jeweilige  Steuerbetrag  durch 
den  Agenten  vor  der  Auszahlung  in  Abzug  gebracht  und  der 
Steuerbehörde  gegenüber  verrechnet  wird.  Der  auf  diese  Weise 
erfaßte  Einkommensbetrag  belief  sich  für  das  Jahr  1910/11  auf 
nahezu  35  Millionen  £. 

2.  Dividenden  ausländischer  oder  kolonialer  Gesellschaften 
und  Korporationen,  welche  durch  inländische  Agenten  aus- 
gezahlt werden,  trifft  die  Steuer  in  der  gleichen  Weise.  (Ein- 
kommensbetrag für   1910/11   =  24  Millionen  £.) 

3.  In  derselben  Weise  werden  auch  Coupons,  die  bei  einer 
inländischen  Bank  durch  Verkauf  realisiert  werden,  getroffen, 
indem  in  solchen  Fällen  die  Bank  für  die  Steuerleistung  haftet. 
(Einkommensbetrag  für  1910/11  =  16,7  Millionen  £.) 

4.  Einkommen,  die  aus  irgend  welcher  Kapitalanlage  im 
.A-usland  stammen,  aber  nicht  durch  eine  der  genannten  Formen 
der  Erhebung  erfaßt  werden,  unterliegen  der  Deklarations- 
pflicht.   (Einkommensbetrag  für  1910/11  ==  9  Millionen  £.) 

5.  Englische  Eisenbahngesellschaften,  die  ihren  Sitz  und 
ihre  Leitung  in  England  haben,  die  Bahnen  aber  im  Ausland 
betreiben,    werden    in   England   für    das   aus    diesen   Unterneh- 


—     i88     — 

mungen  fließende  Kinkommcn  zur  Sicuer  herangezogen,  ohne 
Rücksicht  darauf,  ob  das  Tunkommen  tatsächhch  nach  ICngland 
übermittelt  wird  oder  nicht.  (Einkommensbetrag  für  i(;io'i  i 
=  i6  Millionen  C.) 

Während  demnach  die  Besteuerung  der  unter  den  ersten 
drei  Fällen  genannten  Einkommen  an  der  Quelle  erfolgt,  so 
daß  eine  Umgehung  der  Steuerpflicht  in  größerem  Umfang 
ausgeschlossen  erscheint,  ist  es  bei  den  beiden  anderen  Fällen 
augenscheinlich,  daß  hier  die  Erfüllung  der  Steuerpflicht  nicht 
in  dem  Maße  gesichert  ist,  daß  nicht  doch  eine  Beeinträch- 
tigung des  Steuerertrags  entstehen  könnte.  Da  es  sich  ins- 
gesamt um  ein  erfaßtes  Einkommen  von  über  loo  Millionen  £ 
(für  1910/11)  handelt,  von  denen  etwa  der  vierte  Teil  auf  die 
beiden  letzten  Gruppen  entfällt,  läßt  sich  eine  ungefähre  Vor- 
stellung von  der  Bedeutung  gewinnen,  die  in  dieser  Beziehung 
der  Steuerorganisation  zukommt. 

Außer  diesen  Einkommensarten,  deren  Herkunft  aus  dem 
Ausland  zu  ermitteln  ist,  fließen  aber  noch  zahlreiche  Einkommen 
aus  dem  Ausland,  deren  Umfang  nicht  festzustellen  ist,  aber 
aus  einer  Aufzählung  der  verschiedenen  Möglichkeiten  erschlos- 
sen werden  kann: 

1.  Einkommen  aus  linternehmungen  aller  Art.  wie  Gas- 
und  Wasserwerken,  Plantagen.  Brauereien  usw.,  die  im  Aus- 
land betrieben  werden,  aber  ilireu  Sitz  und  ihre  Leitung  in 
England  haben. 

2.  Einkommen  aus  Unternehmungen,  die  gleichzeitig  im 
In-  und  Ausland  betrieben  werden.  (Kabel-  und  Srhiffahrts- 
gesellschaften. ! 

3.  Einkommen  aus  Filialen  aller  Art  im  Ausland. 

4.  Einkommen  aus  ausländischen  Hypotheken,  Darlehen 
und  Depositen  inländischer  Banken,  Versicherungs-  und  Hypo- 
thekengesellschaften  usw. 

5.  Einkommen  aus  Geschäften  jeder  Art,  die  durch  m- 
ländische  Fabrikanten,  Kaufleute  oder  Agenten  im  Ausland  be- 
trieben werden. 

Alle  diese  Einkommensarten  entziehen  sich  mehr  oder 
weniger  der  Kontrolle  der  Steuerbehörden,  so  daß  eine  Um- 
gehung der  Steuerpflicht,  die  in  den  meisten  Fällen  nur  durch 
Deklaration   ermittelt    werden   kann,   in   weitem   I7mfange   mög- 


—     i89     — 

lieh  erscheinen  muß,  da  die  Erfassung  an  der  Quelle  nur  in 
seltenen  Fällen  durchführbar  ist.  Fehlt  hierfür  auch  jeder 
zahlenmäßige  Anhalt,  um  sich  ein  Bild  von  dem  Umfang  der 
hierher  gehörigen  Einkommensarten  zu  machen,  so  geht  doch 
schon  aus  der  Natur  dieser  Einkommen  die  weittragende  Be- 
deutung hervor,  welche  der  Steuerorganisation  für  die  Erfas- 
sung dieser  Einkommen  und  damit  für  die  Gestaltung  des 
Steuerertrags  zukommt  ^^ßj 

Der  dritte  Faktor,  von  dem  die  Gestaltung  des  Ertrags 
abhängt,  ist  der  Steuerfuß,  der  den  jeweiligen  Betrag  der 
Steuerleistung  bestimmt.  Einfach  als  Multiplikator  angesehen, 
der  angibt,  wie  viele  Steuereinheiten  erhoben,  werden  sollen 
oder  müssen,  um  den  zur  Deckung  eines  Bedarfs  erforderlichen 
Einnahmebetrag  zu  erzielen,  kommt  dem  Steuersatz  freilich 
keine  besondere  Bedeutung  für  die  Gestaltung  des  relativen 
Ertrags  zu;  er  bestimmt  nur  die  Höhe  des  absoluten  Ertrags. 
Doch  sind  mit  der  wechselnden  Höhe  des  Steuersatzes  manche 
psychologische  Rückwirkungen  auf  den  Steuerzahler  verbunden, 
die  bei  einem  übermäßig  hohen  Satz  einmal  sich  in  dem  Be- 
streben äußern,  alle  Vergünstigungen,  die  auf  Grund  der  Steuer- 
gesetze rechtmäßig  in  Anspruch  genommen  werden  können, 
sich  auch  tatsächlich  zu  sichern,  zum  andern  aber  auch  in 
der  zunehmenden  Neigung  zu  unrechtmäßiger  Steuerhinter- 
ziehung ihren  Ausdruck  findet.  Kann  so  namentlich  in  Krisen- 
jahren der  Steuerertrag  eine  wesentliche  Beeinträchtigung  er- 
fahren i*^"),  so  fehlt  andererseits  bei  einem  niederen  Steuersatz 
für  viele  Einkommensteuerzahler  der  Antrieb,  ihre  gesetzlichen 
Anrechte  geltend  zu  machen,  doch  wird  dieser  Umstand  nur 
wenig  ins  Gewicht  fallen,  da  der  Gewinn  für  die  Staatskasse 
wegen  des  niederen  Steuersatzes  doch  äußerst  gering  ist.  So 
bildet  für  die  Ertragsgestaltung  den  ausschlaggebenden  Faktor 
doch  die  Entwicklung  des  Steuereinkommens  und  hier  bleibt 
uns  noch  die  Frage  zu  untersuchen,  inwieweit  die  Verteilung 
der  Einkommen  einen  Einfluß  auf  die  Ertragsbildung  ausübt. 


io6j  Vgl.  hierzu  den   Inland  Revenue  Report   1912,  S.   122  f. 

107J  Beispielsweise  stieg  der  Betrag  der  Einkommen,  für  welche  die 
Steuer  uneinbringlich  war,  in  den  Jahren  1901/05  um  8,7  Millionen  £, 
während  er  von  1905/09  um  annähernd  10  Millionen  £  fiel,  um  seit  1909 
wieder  um  rund  22  Millionen  £  zu  steigen.    (Inland  Revenue  Report  191 2.) 


—     190     — 

§8. 

Die    E  i  n  k  0  m  m  u  n  s  \'  c  r  l  c  i  1  u  n 


to- 


]unes  der  scliwierigsten,  aber  gleichwolil  bedeutsamsten 
Probleme  der  Besteuerungspolitik  ist  mit  der  Frage  nach  der 
tatsächlichen  Verteilung  der  durch  eine  bestimmte  Einzelsteuer 
oder  durch  die  Gesamtheit  aller  Steuern  bewirkten  Belastung 
der  Steuerzahler  gegeben.  Da  jede  Steuerleistung  an  ein  be- 
stimmtes Steuerobjekt  gebunden  ist,  so  kann  darum  subjektiv 
immer  nur  derjenige  zur  Steuerleistung  herangezogen  werden, 
bei  dem  sich  die  objektiven  Grundlagen  der  Besteuerung  vor- 
finden. Aus  diesem  Grund  wui'de  die  Forderung  einer  möglichst 
weitgehenden  Allgemeinheit  der  Besteuerung  schon  früh  zu 
einem  der  Haujitgrundsätze  der  Steuertheorie  erhoben,  so  daß 
die  ideale  Form  einer  Steuer  in  dieser  Beziehung  diejenige  wäre, 
die  sich  an  ein  objektives  Merkmal  anschließt,  das  sich  bei 
jedermann  vorfindet,  das  aber  auch  gleichzeitig  geeignet  wäre, 
einen  Maßstab  für  die  Bemessung  der  Steuerleistung  abzugeben. 
Aus  der  Absicht  heraus,  die  Besteuerung  diesem  freilich  nur 
selten  klar  erkannten  Ideal  anzupassen,  entstammt  die  Methode 
der  indirekten  Besteuerung,  indem  der  Konsum  gewisser  Nah- 
rungs-  oder  auch  Genußmittel  allgemein  genug  verbreitet  schien, 
um  die  Allgemeinheit  der  Besteuerung  sicher  zu  stellen.  Da 
aber  die  absolute  Ertragsfähigkeit  der  wenigen  Steuern,  die  sich 
in  dieser  Weise  finden  ließen,  nicht  immer  dem  Bedarf  ent- 
sprechend gesteigert  werden  konnte,  machte  sich  die  Ausdeh- 
nung der  Zahl  der  indirekten  Steuern  notwendig,  wobei  man  bei 
der  Auswahl  der  neuen  Steuerobjekte  darauf  Rücksicht  nehmen 
mußte,  die  Allgemeinheit  der  Besteuerung,  die  nun  nicht  mehr 
mit  einer  oder  wenigen  Steuern  erreicht  wurde,  durch  mehrere 
einander  ergänzende  Steuern  7Ai  bewirken.  So  wurde  beispiels- 
weise eine  weitgehende  Allgemeinheit  der  indirekten  Besteue- 
rung in  der  Weise  erzielt,  daß  man  Wein,  Bier  und  Branntwein 
besteuerte,  um  die  Gruppe  der  Alkoholkonsumenten  zu  erfassen 
und  weiterhin  auch  Tee,  Kaffee,  Kakao  usw.  belastete,  um  die 
Gruppe  der  Abstinenten  mit  heranzuziehen.  Gerade  aus  diesem 
Beispiel  (das  sich  doch  fast  in  allen  indirekten  Steuersystemen 
nachweisen  läßt)  wird  aber  auch  deutlich,  daß  mit  der  Er- 
reichung der  Allgemeinheit  der  Besteuerung  die  Verteilung  der 
gesamten  Steuerbelastung  merklich  verschoben  wurde,  da  sich 


—     191     — 

die  Steuerzahler  eben  nicht  nach  scharf  abgesonderten  Konsum- 
gruppen einteilen  lassen.  Weiterhin  kommt  dazu  der  Umstand, 
daß  nicht  jeder  Konsument  eines  so  besteuerten  Objekts  auch 
die  Fähigkeit  zur  Steuerzahlung  besitzt,  daß  vielmehr  in  den 
meisten  Fällen  mehrere  Konsumenten  zusammen  (die  Familie) 
nur  eine  einzige  Steuerkraft  darstellen,  so  daß  also  auch  hier- 
durch die  Verteilung  der  steuerlichen  Belastung  völlig  unüber- 
sichtlich wird.  Man  hat  sich  in  der  Finanzstatistik  daran  ge- 
wöhnt, die  Steuerbelastung  durch  eine  Berechnung  des  auf  den 
Kopf  der  Bevölkerung  entfallenden  Steuerbetrags  darzustellen. 
Mag  sich  damit  auch  für  die  Darstellung  einer  Entwicklung  eine 
bildliche  Vergleichsgrundlage  gewinnen  lassen,  so  ist  dieses  Bild 
jedoch  durchaus  unwahr,  wenn  man  es  zur  Veranschaulichung 
der  tatsächlichen  Steuerbelastung  gebrauchen  will.  Das  einzige 
Mittel,  über  die  Verteilung  der  Steuerbelastung  Klarheit  zu 
gewinnen,  wäre  mit  einer  allgemeinen  Enquete  über  den  Familien- 
konsum in  bezug  auf  die  besteuerten  Artikel  gegeben.  Daß 
eine  derartige  Enquete  bisher  noch  in  keinem  Staat  durch- 
geführt wurde,  liegt  an  der  Schwierigkeit,  die  genauen  An- 
gaben in  einem  solchen  Umfang  zu  erhalten,  daß  sie  für  eine 
finanzstatistische  Untersuchung  ohne  allzugroße  Fehlerquellen 
die  Grundlage  bilden  könnten. 

In  ähnlicher  Weise  ergibt  sich  auch  ein  völlig  falsches  Bild 
der  Verteilung  der  Steuerbelastung  durch  Berechnung  des  auf 
den  Kopf  der  Bevölkerung  entfallenden  Steuerbetrags  für  die- 
jenigen Steuern,  die  wie  Stempel-  oder  Nachlaßsteuern  sich  an 
bestimmte  Vorgänge  anschließen,  da  hier  die  Steuerzahler  doch 
stets  nur  eine  verhältnismäßig  beschränkte  Gruppe  darstellen 
und  diesen  Steuerformen  von  vornherein  das  Merkmal  der  All- 
gemeinheit fehlt.  Für  die  Einkommensbesteuerung  trifft  das 
gleiche  zu,  doch  wird  hier  die  Verteilung  der  Steuerbelastung 
noch  durch  ein  anderes  Moment  mitbestimmt,  das  allerdings  in 
der  indirekten  Besteuerung  ein  Gegenstück  in  der  relativen 
Höhe  des  Konsums  und  in  der  Nachlaßbesteuerung  in  der  Größe 
des  Steuerobjekts  besitzt.  Dieses  Moment  ist  die  Verteilung 
des  gesamten  besteuerten  Einkommens  nach  den  unterschied- 
lichen Einkommensstufen.  Solange  die  Besteuerung  nach  einem 
einheitlichen  Steuerfuß  alle  Einkommen  im  gleichen  Verhältnis 
traf,  besaß  die  Einkommensverteilung  freilich  nur  für  diejenige 
Einkommensstufe  eine  Bedeutung,  welche  unter  der  Befreiungs- 


192       - 

grenze  blich.  Schon  hic-rui  aht-r  wird  auch  che  I>ccinlhissvinjjj 
des  Einkommensteuerertrags  dur(  li  (he  Vcrteihing  der  Kin- 
kommen  erkennbar,  indem  bei  einer  Erhöhung  der  liefreiungs- 
grenze  der  Ausfall  umso  erheblicher  wurde,  je  grölier  die  Zahl 
tler  Einkommensempfänger  war,  deren  (jcsamteinkommen  die 
Grenze  nicht  überstieg  (vgl.  hierzu  den  Rückgang  des  gesamten 
erfaßten  und  des  Besteuerimgseinkommens  in  den  Jahren  1876 
und   1894  nach  den  Tabellen  11  a  und   12a). 

Von  weit  größerer  Bedeutung  aber  wurde  die  Einkommens- 
verteilung sowohl  für  die  Verteilung  der  Steuerbelastung  als 
auch  für  die  Gestaltung  des  Einkommensteuerertrags  mit  der 
Einführung  des  Abatementsystems,  der  Differentiation  und  der 
Super-tax,  die  alle  drei  mit  der  Einteilung  der  Einkommen  nach 
Stufen  ihres  Gesamtbetrags  verbunden  waren.  Die  statistische 
Erläuterung  dieser  doppelten  Einwirkung  der  Einkommensver- 
teilung auf  Belastung  und  Ertrag  läßt  sich  allerdings  nur  an- 
deutungsweise durchführen,  weil  die  englische  Einkommen- 
steuerstatistik die  Zahl  der  V^eranlagungen  und  der  entsprechen- 
den Beträge  unter  den  Einkommensstufen  nur  für  die  beiden 
sched.  D.  und  E.  und  auch  hier  nicht  immer  völlig  einheitlich 
wiedergibt.  Doch  genügt  das  damit  gegebene  Material,  um  den 
Vorgang,  der  für  die  ganze  Einkommensteuer  sich  in  allen 
schedules  wiederholt,  zu  veranschaulichen  und  zu  erläutern 
(vgl.  Tabelle  13  e). 

Die  Vermehrung  des  Steuerobjekts  erfolgt  entweder  in  der 
Weise,  daß  die  Zahl  der  Einkommensempfänger  zunimmt,  das 
Durchschnittseinkommen  einer  Stufe  aber  gleich  bleibt,  oder 
aber  daß  bei  gleichbleibender  Zahl  der  Einkommensempfänger 
das  durchschnittliche  Einkommen  erhöht  wird.  Dabei  kommt 
praktisch  auch  der  Fall  vor,  daß  beide  Faktoren,  Zahl  und 
Einkommensbetrag,  verändert  werden,  doch  sehen  wir  da\on 
ab,  da  sich  diese  Fälle  rechnerisch  stets  auf  die  beiden  Grund- 
formen der  Einkommensvermehrung  zurückführen  lassen.  In 
diesen  beiden  Fällen  aber  kommt  eine  Verschiebung  der  Ein- 
kommensverteilung in  der  Weise  zum  Ausdruck,  daß  sich  ein- 
mal die  durchschnittliche  Höhe  des  unter  eine  bestimmte  lun- 
kommensstufe  fallenden  Einkommens  verändert,  oder  daß  der 
Gesamtbetrag  aller  Einkommen  unter  dieser  Stufe  einen  höheren 
oder  geringeren  Anteil  des  Gesamteinkommens,  das  unter  die 
Steuer  oder  die  einzelnen  schedules  überhaupt  fällt,  ausmacht. 


—     193     — 

Soweit  sich  diese  Verschiebungen  für  sched.  D.  feststellen 
lassen,  vollzog  sich  die  Änderung  in  der  Einkommensverteilung 
so,  daß  sich  unter  allen  Einkommensstufen  der  durchschnittliche 
Einkommensbetrag  erhöhte,  d.  h.  mit  anderen  Worten,  daß  die 
Kapitalskonzentration  rascher  erfolgte  als  die  Bildung  neuer 
Einkommen.  Weitaus  am  stärksten  war  dies  der  Fall  bei  den 
Einkommen  über  5000  £,  deren  Durchschnittsbetrag  sich  von 
1859 — 1910  um  1140/0  (von  14627  £  auf  31  396  £)  hob.  Ge- 
ring war  die  Erhöhung  des  Durchschnittsbetrags  bei  den  mitt- 
leren Einkommen  von  400 — 700  £,  bei  denen  seit  1898  sogar 
ein  Rückschlag  erfolgte.  Nach  der  anderen  Richtung  hin  kommt 
die  Verschiebung  der  Einkommensverteilung  darin  zumv  Aus- 
druck, daß  sich  der  Anteil  der  unteren  und  mittleren  Einkom- 
mensstufen am  Gesamteinkommen  unter  sched.  D.  prozentual 
fortgesetzt  vermindert  hat.  Während  1859/60  die  Einkommen 
bis  zu  5000  £  noch  über  750/0  des  Gesamtbetrags  umfaßten, 
hat  sich  dieses  Verhältnis  bis  1910/11  fast  umgekehrt,  indem 
nun  auf  die  Einkommen  über  5000  £  allein  68,40/0  des  Gesamt- 
betrags entfallen. 

Die  finanzielle  Bedeutung  dieser  Verschiebungen  wird  deut- 
lich, wenn  wir  uns  ihren  Einfluß  auf  die  Gestaltung  des  Ein- 
kommensteuerertrags klar  zu  machen  versuchen.  Das  Abate- 
mentsystem  erstreckt  sich  über  die  Einkommensstufen  bis  zu 
700  £  jährlichen  Gesamteinkommens.  Da  es  sich  hier  nur  um 
die  unter  sched.  D.  veranlagten  Teileinkommen  handelt, 
läßt  sich  freilich  die  Zahl  der  Veranlagungen  nicht  der  Zahl 
der  Abatementsempfänger  gleichsetzen,  doch  wird  sich  der  Be- 
trag der  Abatements  doch  in  eine  Beziehung  zu  der  Zahl  der 
Veranlagungen  in  der  Weise  bringen  lassen,  daß  mit  der  Zu- 
nahme der  Zahl  auch  der  Gesamtbetrag  der  steuerfreien  Abate- 
ments zunimmt.  Damit  aber  verringert  sich  auch  das  ver- 
bleibende Steuereinkommen,  so  daß  der  Einkommensteuerertrag 
infolge  der  Abatements  verringert  wird,  wenn  das  Durchschnitts- 
einkommen einer  bestimmten  Einkommensstufe  sinkt.  Freilich 
wird  dieser  Vorgang  in  seiner  Erkennbarkeit  dadurch  beein- 
trächtigt, daß  die  unter  den  schedules  erfaßten  Einkommen  nur 
Teileinkommen  sind,  während  die  Abatementsberechtigung  von 
der   Höhe   der  Gesamteinkommen  abhängt. 

In  ähnlicher  Weise  beeinflußt  die  Einkommensverteilung 
aber  auch  die  finanzielle  Wirkung  der  Differentiation,  da  auch 

Zeitschrift  für  die  ges.  Staatswissensch,    Ergänzungsheft  48.  1 3 


—     194     — 

hier  der  Ertrag  gemindert  wird,  wenn  die  Zahl  der  Empfänger 
von  Arbeitseinkommen,  die  unter  der  Differenzierungsgrenze 
von  2000  und  3000  £  Hegen,  in  stärkerem  VerhäUnis  zunimmt, 
als  der  entsprechende  Einkommensbetrag,  d.  h.  wenn  der  Durch- 
schnittsbetrag unter  diesen  Einkommensstufen  kleiner  wird, 
während  dessen  Erhöhung  die  Kosten  der  Differentiation  aus- 
zugleichen strebt. 

Soweit  die  Super-tax  in  Betracht  kommt,  läßt  sich  aus 
dem  Konzentrationsprozeß,  der  zu  einer  immer  mächtiger  wer- 
denden Erzielung  großer  Einkommen  führt,  für  die  Zukunft 
eine  erhebliche  Ertragssteigerung  erwarten,  da  auch  hier  das 
Besteuerungseinkommen  umso  größer  wird,  je  höher  das  Durch- 
schnittseinkommen sich  über  die  Grenze  von  5000  £  erhebt. 
Da  die  Super-tax  nur  den  Einkommenste.il  trifft,  der  3000  £ 
übersteigt,  so  wird  der  Einkommensbetrag,  der  von  der  Super- 
tax  freibleibt,  umso  geringer,  je  kleiner  die  Zahl  der  Steuer- 
pflichtigen ist,  so  daß  sich  mit  der  zunehmenden  Bildung  außer- 
gewöhnlich hoher  Einkommen  ohne  entsprechende  Vermehrung 
der  Zahl  solcher  Einkommen  ein  zunehmender  Ertrag  der  Super- 
tax  ergeben  wird,  wenn  auch  der  Umfang  dieser  Entwicklung 
wegen  des  noch  fast  völlig  fehlenden  Materials  nicht  abgeschätzt 
w^erden  kann.  Mit  diesen  Fragen  sind  wir  am  Ende  vmserer 
Untersuchung  angelangt,  deren  Ergebnisse  im  nächsten  Ab- 
schnitt noch   eine  kurze  Zusammenfassung  finden  sollen. 

§9. 
Ergebnisse. 

Das  am  deutlichsten  erkennbare  Ergebnis  der  ganzen  Ent- 
wicklung, deren  Darstellung  unsere  Aufgabe  gebildet  hat,  ist 
die  Wandlung  in  der  finanzpolitischen  Bedeutung,  welche  der 
heutigen  Einkommensteuer  in  England  gegenüber  der  Zeit  ihrer 
Einführung  zukommt.  Während  der  Einkommensteuerertrag 
1842/3  nur  etwa  90/0  aller  Einnahmen  darstellte,  stieg  dieser 
Anteil  bis  1911/12  auf  nicht  weniger  als  290/0.  Dieses  hervor- 
tretende Ergebnis  ist  nur  teilweise  auf  eine  absolute  Erhöhung 
des  Steuersatzes  zurückzuführen,  obwohl  der  Normalsatz  in  der- 
selben Zeit  von  7  d  auf  14  d  erhöht  worden  war.  Doch  er- 
streckte sich  diese  Verdoppelung  infolge  des  Abatementsystems 
nicht  auf  alle  Einkommensstufen,  wurde  vielmehr  für  die  nie- 


—     195     — 

deren  Einkommensstufen  sogar  durch  eine  Herabsetzung  des 
Steuerfußes  unter  jenen  Normalsatz  von  7  d  ersetzt.  Im  wesent- 
lichen ist  vielmehr  die  gewaltige  Steigerung  des  Ertrags  auf  das 
dem  Einkommensteuerobjekt  eigentümliche  Wachstum  des  ver- 
anlagten Einkommens  zurückzuführen  und  darin  finden  wir 
das  andere  Ergebnis  der  Einkommensteuerentwicklung,  daß  die 
Ertragsgestaltung  der  Steuer  wegen  der  Entwicklungsfähigkeit 
des  Objekts  neben  der  Nachlaßbesteuerung  am  meisten  dem 
finanzpolitischen  Ideal  einer  Steuer  entspricht,  die  imstande  ist, 
einem  wachsenden  Bedarf  ohne  wiederholte  Erhöhung  des 
Steuerfußes  zu  folgen.  Dazu  kommt  noch,  daß  in  der  Ein- 
kommensverteilung ^Momente  verborgen  liegen,  die  geeignet  sind, 
in  der  weiteren  Entwicklung  des  Steuereinkommens  die  finan- 
zielle Einwirkung  der  Gradation  und  Differentiation  mehr  und 
mehr  zu  vermindern  und  die  Ertragsfähigkeit  der  Steuer  aufs 
neue  anzuregen.  Insbesondere  aber  scheint  in  der  modernen 
Kapitalskonzentration,  als  deren  Folge  die  Rieseneinkommen 
zu  betrachten  sind,  die  Grundlage  sich  auszubilden,  auf  der 
eine  stärkere  Belastung  der  hohen  Einkommen  nicht  zu  einer 
Verminderung,  wie  es  oft  gefürchtet  wird,  sondern  zu  einer  fort- 
gesetzt sich  steigernden  Ertragsfähigkeit  der  Zusatzsteuer 
führen  wird. 

So  erscheint  selbst  in  der  Form  der  gegenwärtigen  Ein- 
kommensteuerorganisation die  finanzielle  Zukunft  der  Steuer 
gesichert  und  aussichtsreich  genug,  um  sie  in  noch  weiterem 
Umfang  zu  dem  werden  zu  lassen,  was  sie  seit  der  Reform  von 
1909  tatsächlich  geworden  ist:  zum  Grundstock  der  englischen 
Staatsbesteuerung.  Freilich,  und  hiermit  gelangen  wir  zu  einem 
weiteren  Ergebnis,  kann  die  Entwicklung  der  Einkommensteuer- 
organisation noch  keineswegs  als  abgeschlossen  angesehen 
werden.  Wir  haben  gesehen,  wie  die  bisherige  Entwicklung, 
der  Ausbau  des  Abatementsystems  als  Form  der  Gradation,  die 
Erhebung  der  Steuer  an  der  Quelle,  stets  unter  der  hemmen- 
den Wirkung  der  fehlenden  Deklaration  des  Gesamteinkommens 
und  damit  der  subjektiven  Zusammenfassung  der  Steuer  gelitten 
hat.  Hier  aber  hat  gerade  die  Entwicklung  seit  der  Einführung 
der  Abatements  zu  einer  fortschreitenden  Erweiterung  der  Dekla- 
rationspflicht des  Gesamteinkommens  geführt,  die  nun  seit  1909 
für  alle  Einkommen  wieder  allgemein  geworden  ist.  Damit 
aber  ist  die  Bahn  für  eine  freie  Fortentwicklung  der  Steuerorgani- 

13* 


—     196    — 

sation  wieder  geebnet  und  es  ist  nicht  zu  zweifeln,  daß  nicht 
nur  die  Verteilung  der  steuerlichen  Belastung  durch  eine  Reform 
der  Steuerorganisation  auf  der  subjektiven  Grundlage  gerechter 
ausgestaltet  würde,  sondern  daß  auch  die  Ertragsgestaltung 
nur  günstig  beeinflußt  würde.  Neben  der  Landwertbesteue- 
rung, deren  Grundlegung  ebenfalls  im  Budget  von  1909  voll- 
zogen wurde,  wird  so  eine  reformierte  Einkommensteuer  für 
die  nächste  Zukunft  das  wirksamste  Gegenmittel  gegen  die 
neue  konservative  Schutzzollpolitik,  soweit  sie  auf  eine  Ände- 
rung der  Steuerbelastung  durch  Ausdehnung  der  indirekten 
Konsumbesteuerung  zugunsten  der  direkten  Vermögensbesteue- 
rüng   ausgeht,   bilden  können. 


Anhang. 


I.  Quellen. 

a)  The  Parliamentary  History  from  the  earliest  times  to  the  year  1799. 
(Zit.  Pari.   Hist.  mit  Angabe  des  Bandes  und  der  Seitenkolumne.) 

b)  The  Parliamentary  Debates.  Series  I — V.  (Nach  dem  ersten  Heraus- 
geber stets  kurz  zitiert  als  „Hansard"  mit  Angabe  der  Serie,  des  Bandes 
und  der  Seitenkolumne.) 

c)  The  Parliamentary  Accounts  and  Papers. 

Diese  enthalten  sämtliche  Parlamentsdrucksachen,  die  einzeln  ver- 
öffentlicht werden.  Eine  Zusammenfassung  sämtlicher  Drucksachen 
unter  dem  genannten  Titel  ist  in  der  Bibliothek  des  „British  Museum" 
in  London  für  die  Jahre  seit  1801  vorhanden.  Die  Drucksachen  eines 
jeden  Jahres  sind  nach  bestimmten  Titeln  zu  Bänden  zusammengefaßt 
(Laws  and  Statutes,  Bills  and  Bills  amended,  Reports,  Finance  etc.).  Für 
die  vorliegende  Arbeit  kamen  die  Drucksachen  namentlich  zur  Samm- 
lung des  in  den  Tabellen  verarbeiteten  Materials  und  für  das  Studium  der 
Gesetzesvorlagen  sowie  der  Kommissionsberichte  in  Betracht.  Im  be- 
sonderen wurden  die  Berichte  der  parlamentarischen  Einkommensteuer- 
kommissienen    herangezogen,    und   zwar : 

1.  Report   from   the   Select  Committee  on   Income   and   Property   tax. 
1851   und  52. 

2.  Report  etc.  1861. 

3.  Report  of  the  Departmental  Committee  on  Income  tax.     1905. 

4.  Report  from  etc.     1906. 

d)  Finance  Accounts  of  the  United  Kingdom  of  Great  Britain  and  Ireland. 

e)  The  Statistical  Abstracts  for  the  United  Kingdom. 

f)  The  Reports  of  the  Commissioners  of  H.  M's.  Inland  Revenue. 

g)  The  Reports  of  the  Commissioners  of  H.  M's.  Custom's  Revenue, 
h)  Public   Income  and  Expenditure.     2  vols.     London   1869. 

i)  Public   Income  and  Expenditure.     London   1897. 


Anm.  Die  im  Text  und  in  den  Tabellen  gegebenen  zahlenmäßigen 
Angaben  beruhen  durchweg  auf  dem  in  den  genannten  Quellen  ent- 
haltenen Material,  das  aber  in  seiner  Zusammenstellung  nicht  durchaus 
einheitlich  ist.  Es  ist  dabei  zu  beachten,  daß  in  den  amtlichen  Ver- 
öffentlichungen die  Einnahmen  in  folgender  Weise  unterschieden  werden : 


—    198    — 

1.  Budgeteinnahmcn  (Budget  cstimates').  Diese  stellen  den  veranschlagten 
Betrag  der  Einnahmen  dar,  mit  denen  der  Finanzminister  für  das  kom- 
mende Finanzjahr  rechnet. 

2.  Kasseneinnahmen  (Exchequer  receipts).  Sie  stellen  die  innerhalb  des 
Finanzjahrs  von  den  verschiedenen  Einnahme  Verwaltungen  an  die 
Reichskasse   abgeführten   Beträge  dar.     Sie  sind  daher  verschieden  von 

den 

3.  Roheinnahmen  (Gross  receipts),  welche  den  Gesamtbetrag  der  von  allen 
Einnahmever^valtungen  innerhalb  des  Finanzjahrs  eingenommenen  Gelder 
ohne  Abzug  der  Gewinnungskosten,  Rückzahlungen  und  ohne  Rücksicht 
darauf,  ob  die  betreffenden  Einnahmen  diesem  Finanzjahr  zugehören  oder 
nicht,  bedeuten;  aber  auch  von  den 

4.  Reineinnahmen  (Net  receipts),  welche  denselben  Gesamtbetrag,  aber 
nach  Abzug  der  Rückzahlungen,  Gewinnungskosten  und  dergl.  bedeuten. 
Diese   beiden   Arten  sind   wieder  zu  unterscheiden  von  dem 

5.  Ertrag  der  Einnahmequellen  (produce),  der  diejenigen  Einnahmen  dar- 
stellt, die  gesetzlich  in  dem  betreffenden  Finanzjahr  fällig  waren,  auch 
wenn  sie  aus  irgendwelchen  Gründen  erst  in  einem  folgenden  Finanzjahr 
tatsächlich  einliefen.  Auch  wird  „gross  und  net  produce"  unterschieden, 
je  nachdem   die  Gewinnungskosten  ein-  oder  abgerechnet  sind. 

In  dem  den  genannten  Quellen  entnommenen  Material  herrscht  in  der 
Wiedergabe  dieser  verschiedenen  Formen  keine  Einheitlichkeit,  und  es  hat 
sich  wegen  der  fehlenden  Unterlagen  als  unmöglich  erwiesen,  diese  Ein- 
heitlichkeit durch  Rechnung  herzustellen.  Die  entstehenden  Unterschiede 
sind  jedoch  für  die  Endergebnisse  ohne  Belang. 

2.  Literatur, 
a)  Allgemeine  Literatur. 

Bastabi e,    C.    F.,    Public    Finance.      3rd.    ed.     London    1903.      (Zit.    Ba- 
stable,  Finance.) 

Baxter,  R.  D.,  The  Taxation  of  the  United  Kingdom.     London  1869. 

Benda,  K.,  R.  Peels  Finanzsystem.     Berlin  1842. 

Brassey,  T.,  Sixty  Years  of  Progress.     London  1906. 

Buxton,    S.,    Finance.     2   vols.    London.     (Zit.    Buxton,   Finance.) 

Mr.   Gladstone  as  Chancellor  of  the  Exchequer.     London 
1901. 

Clapham,   L  H.,  Great  Britain  and  Free-trade.     London   1909. 

Disraeli,  B.,  Mr.  Gladstones  Finance.     London  1862. 

Doubleday,    Political   Life  of  Sir  Robert  Peel.    2   vols.      London    1856. 

Dow  eil,  St.,  A  History  of  Taxation  and  taxes  in  England.     4  vols.     Lon- 
don   1884.     (Zit.   Do  well,   History.) 

Gladstone,  W.  E.,  The   Midlothian   Speeches.     Edinburgh   1885. 

„      „     The   financial    lessons    of    1866.      London    1867. 

Heathfield,  R.,  Fallacies  of  taxation.     London  1851. 

Hewins,  W.,  Lecture  on  Tariff  Reform.    London  1907. 

Hub  bar  d,   I.  G.,  National    Finance.      London    1880. 

,,  „     „     Local  and  Imperial  Taxation.     London  1895. 


—     199     — 

Lauterbach,,  E.,  Die     Staats-     und     Kommunalbesteuerung    in    Deutsch- 
land, England,  den  Vereinigten  Staaten  von  Amerika  und  den  eng- 
lischen Kolonien.     Berlin  1906. 
Leroy-Beaulieu,    Traitd   de  la   Science  des   Finances.     2  tomes.     4.   ed. 

Paris    1888.      (Zit.    Leroy-Beaulieu,    Finances.) 
Lesli,  CL,  Die  Reform  der  Finanzen.     Übers,  von  Broemel.     Berlin  1872. 
Levy,    Leo,   History  of  British  Commerce  and   the  Economic   Progress   of 

the  British  Nation.     1763/1870.     2nd  ed.    London   1880. 
Mac  Cul loch,  L  R.,  An    Article,    practical    and    theoretical    on    ta.xation. 

Edinburgh    1860. 
Mills,  L  S.,  Landmarks   of   British   fiscal   History.     London   1908. 
Noble,  J.,  Fiscal  Reform.     London  1865. 

„    Fiscal  Legislation.     London  1867. 
„    Suggestions  for  a  revision  of  taxation.     London  1868. 
„    The   Queen's   taxes.      London    1870. 
„  „    National  Finance.     London   1875. 

„    53  years  of  Taxation  and  Expenditure.     London  1882. 
Northcote,  St.,  Twenty   Years   of   Financial   Policy.     London    1862.     (Zit. 

Northcote,  Policy.) 
Parnell,  H.,  On  Financial  Reform.     2nd.    ed.    London  1830. 
Raum  er.  Fr.  v..  Das  britische  Besteuerungssystem.     Berlin   18 10. 
Rogers.  Th.,  Cobden  and  modern  Pohtical  Opinion.     London  1873. 
Rosebery,  Peel.     London  1899. 

Sargant,  W.  L.,  Taxation,  past,  present  and  future.     London   1864. 
Tabberner,   J.,   Direct  taxation  and  Parliamentary  Representation.     Lon- 
don 1860. 
Vocke,  W.,  Geschichte  der  Steuern  des  Britischen  Reiches.     Leipzig  1866. 
Wagner,  A.,  Die  britische  und  französische  Besteuerung  in  ihrer  neuesten 
Entwicklung.     Leipzig  1876. 

b)  Einkommensteuerliteratur. 

Anonym,  Abstract  of  an  Act  for  Increasing  the  Assessed  taxes.     Chelms- 
ford  1798.    (British  Museum.) 

The  most  accurate  Abstract  of  the  Act   to  grant  etc.     London 
1798.     (British  Museum.) 

Observations  etc.  on  an  Act  to  grant  etc.     London   1798.     (Bri- 
tish Museum.) 

The  Duty  on  Income.     York  1799.     (British  Museum.) 
Carter,  R.,  The  Income  tax.     London  1907. 

„     The  Simplex  Guide  to  Income  tax.     London  1908. 
„  „     A  Guide  to  Income  tax  Practice.     London   191 1. 

Cartmell,  J-  A.,  The    Finance  Acts    1894,    1896,    1898  and    1900.     London 

1901. 
Dowell,  St.,  The  Acts  relating  to  the  Income  tax.     6.  ed.     London  1908. 

(Zit.  Dowell,  Inc.  tax  Acts.) 
Eilis,  A.,  A  Guide  to  the   Income  tax  Acts.     London  1893. 
Fawcett^  H.,  Manual  of  Political  Economy.     6.  ed.     London   1883. 


—       200       — 

Forward,  C,  All  about  thc  Incomc  tax.     London   1909. 
Fry,  Th.,  Thc    Incomc   tax  anomalics.     London  1903. 
„      The  Incomc  tax  bürden.     London  1904. 
„      The   Finance   Act    1907.     London    1908. 
„      The   Income   tax   Incubus.     London   1909. 
Hill,  J.,  The  English  Income  tax.     London  1899. 
Hubbard,  J.  G.,  How  should  an  Income  tax  be  levied.     London  1852. 

Gladstone  on  the  Income  tax.     London  1885. 
Isaacs,  C,  Income  tax  on  Earnings.     London    1909. 

„     The   Income   tax.     London    1910. 
Kemm,  W.,  A  Word  about  the  Income  tax.     London   1885. 
Maitland,  James,  Thoughts    on    Finance.     London    1797. 

A  letter  on  the  present  measures  of  Finance.     London 
1798. 
Maitland,  John,  The   Property   and   Income   tax.     London    1853. 
Manes,  K.,  Die    Einkommensteuer    in    der    englischen    Finanzpolitik    und 
Literatur  bis  zu  W.  Pitts  Tode.     Festgaben  für  W.   Lexis.     Jena 
1907.     (Zit.  Manes,  Einkommensteuer.) 
Scarff,  A.,  The    Income    tax    Problem.      London    1905. 

c)    Literatur    aus    Zeitschriften. 

1.  Zeitschrift  für  die  gesamten  Staatswissenschaften. 

Nasse,  Über  die  Reformen  im  britischen  Steuerwesen  seit  der  Wieder- 
einführung der  Einkommensteuer  durch  Sir  R.  Peel.     B.  X.    1854. 

Kries,  Grundzüge  und  Ergebnisse  der  englischen  Einkommensteuer. 
B.  X.     1854. 

2.  Finanzarchiv. 

Inhülsen,  Die  geschichtliche  Entwicklung  und  heutige  Gestaltung 
der  englischen  Einkommensteuer.     B.  XII.     1896. 

Inhülsen,  Die  englischen  Finanzpläne  für  das  Finanzjahr  1908/09. 
B.  XXV.     1908. 

Huncke,  Die  Entwicklung  der  Einkommensteuer  und  der  Einkommen 
in  England  in  den  letzten  20  Jahren.     B.  XXII.     1905. 

3.  The  Economic   Journal. 

Blunden,  G.  H.,  The  position  and  function  of  the  Income  tax  in  the 

British  Fiscal  System.     Vol.  IL 
Blunden,  G.  H.,  A  progressive   Income  tax.     Vol.  V. 

,,     The  Future  of  the  Income  tax.     Vols.  V  and  XL 
Bastabi  e,   C.  F.,  Taxation     of     Revenue    as     a    Canon    of     Finance. 

Vol.  XIII. 
Bowley,  A.,  Tests  of  National  Progress.     Vol.  XIV. 
White,  D.,  Reform  of  Income  tax  and  Estate  Duty.     Vol.  XXL 


—       20I       — 

4-  Journal  of  the  Statistical  Society. 

Levy,  Leo,  The     Reconstruction    of    the    Income    and    Property    tax 

Vol.  XXXVII. 
Elliot,  Th.  H.,  Annual   taxes   on   Property  and   Income.     Vol.    L. 
Giffen,  R.,  Recent  accumuiations   of  Capital  in  the  United  Kingdom 

Vol.  XLI. 

5.  Political  Science  Quarterly. 

Cohn,  G.,  Income  and  Property  taxes.     Vol.   IV, 
Seligman,  E.,  The   Income  tax.     Vol.   IX. 

6.  Journal  of  Political  Economy. 

West,  M.,  The  Income  tax  and  the  National  Revenue.     Vol.  VIII. 

7.  Westminster  Review. 

Burns,  I.,  A  graduated  Income  tax.    Nov.  1887. 

Hook,  A.,  Earned  and  unearned  Incomes  and  the  Income  tax.    Febr. 
1906. 

8.  Palgrave's  Dictionary. 

Bower,  E.,  The    Income  tax  in  the  United  Kingdom.     Vol.   II. 

9.  American  Economical  Association. 

Seligman,   E.,   Progressive  taxation  in  theory  and  practice.     Vol.   IX. 

10.  Journal  des  ficonomistes. 

Esquirou  de  Parieu,  Les  Impots  generaux  sur  la  Propriete  et  le 
Revenu  dans  la  Grande  Bretagne  et  l'Irlande.  2.  ser.  tome  6. 
Avril  1855. 

Fix,  Des  premieres  reformes  financieres  de  Peel.     1845. 

11.  Bulletin  de  Statistique. 

Les  credits  extraordinaires  et  l'income  tax.     Vol.  XII.     1882. 


3.  Die  englischen  Finanzminister  seit  Pitt. 


I.  Minister 


Pitt 

Addington 

Pitt 

Grenville 

Portland 

Perceval 

Liverpool 

Canning 

Goderich 

Wellington 

Gray  und  Melbourne 

Peel 

Melbourne 

Peel 


Finanzminister 


Pitt 

Addington 

Pitt 

Petty 

Perceval 

Perceval 

Vansittart  u.  Robinson 

Canning 

Herries 

Goulburn 

Althorp 

Peel 

Rice  und   Baring 

Goulburn 


Eingebrachte  Budgets 


1783/1801 

1802/1804 

1805  und  1806 

1807 

1808/10 

1811  und  1812 

1812/26 

1827 

1828 

1829  und  1830 

1831/34 
1835 
1836/41 
1842/64 


—       202       — 


1.  Minister 

j          l'inanzministcr           ^ 

tingfbrachte  Budgets 

Rüssel 

Wood 

•847/51 

Derby 

Disraeli 

1852 

Aberdeen 

Gladstone 

1853  und   1854 

Palmerston 

Lewis 

1855/57 

Derby 

Disraeli 

1858 

Palmerston  u.   Rüssel 

Gladstone 

I 859/66 

Derby 

Disraeli 

1867 

Disraeli 

Hunt 

1868 

Gladstonc 

Lowe  und  Gladstone 

1869/73 

Disraeli 

Northcote 

1874/79 

Gladstone 

Gladstone  u.  Childers 

1880/85 

Salisbury 

Hicks-Beach 

1886 

Gladstone 

Harcourt 

1886 

Salisbury 

Goschen 

1887/92 

Gladstone  u.  Rosebery 

Harcourt 

1893/95 

Salisbury 

Hicks-Beach 

1 896/1 902 

Balfour 

Ritchie  und  Austen 

Chamberlain 

1    1903/05 

Campbell-Bannerman 

Asquith 

1    1906/08 

Asquith 

Lloyd   George 

:     1909/12 

^ 


ZEITSCHRIFT 

FÜR  DIE  GESAMTE 

STA  ATS  WI S  S  E  N  S  C  HA  FT 

In  Verbindung  mit 

Oberbürgermeister  a.  D.  Dr.  F.  ADICKES  in  Frankfurt  a.  M.,  Prof.  Dr.  G.  COHN 
in  Göttingen,  Ober-Verw.-Ger.-Rat  Prof.  Dr.  F.  v.  MARTITZ  in  Berlin,  Kaiserl. 
Unterstaatssekretär  z.  D.  Prof.  Dr.  G.  V.  MAYR  in  München,  Prof.  Dr.  A.  VOIGT 
in  Frankfurt  a.  M.,  Geh.  Reg. -Rat  Prof.  Dr.  A.  WAGNER,  Exz.,  in  Berlin,  Dr.  Freiherr 
V.  WEICHS,  Ministerialrat  am  k.  k.  Handelsministerium  in  Wien. 

HERAUSGEGEBEN 

VON 

Dr.  K.  BÜCHER, 

o,  Professor  an  der  Universität  Leipzig. 


Ergänzungsheft  XLIX. 
Literaturgeschichte  der  Handelsbetriebslehre. 

Von 

Eduard  Weber. 


TÜBINGEN 
VERLAG  DER  H.  LAUPP'SCHEN  BUCHHANDLUNG 

1914. 


li 


Literaturgeschichte  "''z 


der 


Handelsbetriebslehre 


Von 


Eduard  Weber 


Tübingen 

Verlag  der  H.  Laupp'schen  Buchhandlung 

1914 


/ 


Alle  Rechte  vorbehalten. 


Druck  von  J.  B.  Hirschfeld  (August  Pries)  in  Leizig. 


\ , 


Einleitung. 

Die  Entwicklung  des  kaufmännischen  Unterrichtswesens  war 
in  Deutschland  bis  in  das  letzte  Jahrzehnt  des  19.  Jahrhunderts 
hinein  weit  hinter  dem  Aufschwung  des  Handels  und  der  Industrie 
zurückgeblieben.  Um  so  lebhafter  begann  man  nun  um  die^e  Zeit 
vor  allem  unter  der  tatkräftigen  Führung  des  1895  ins  Leben  ge' 
tretenen  Deutschen  Verbandes  für  das  Kaufmännische  Unterrichts- 
wesen, das  Versäumte  nachzuholen:  die  Zahl  der  kaufmännischen 
Lehranstalten  wurde  außerordentlich  vermehrt,  dem  gesamten  kauf- 
männischen Unterrichtswesen  wurde  ein  organischer  Aufbau  ge- 
geben, und  der  innere  Unterrichtsbetrieb  wurde  den  neuzeitlichen 
Forderungen  entsprechend  umgestaltet  und  erweitert.  Eine  Frucht 
dieser  Reformbestrebungen  ist  unsere  heutige  Handelsbetriebslehre, 
Ja  unsere  gesamte  moderne  Einzelwirtschaftsforschung.  Von  deren 
jüngst  herausgekommenen  Hauptwerken  soll  in  dem  letzten  Ab- 
schnitt dieser  Arbeit  zusammenfassend  die  Rede  sein. 

Eine  privatwirtschaftliche  Forschung  in  der  Art  der  heutigen 
kannte  man  vordem  fast  gar  nicht.  Die  Volkswirtschafder  haben 
selten  spezifisch  privatwirtschaftliche  Arbeiten  geliefert.  Viel  häufiger 
ist  dagegen  zur  Zeit  der  Kameralwissenschaft,  der  halbwissenschaft- 
hchen  Voriäuferin  unserer  Volkswirtschaftslehre,  versucht  worden, 
einzelne  Privatwirtschaftslehren  zu  schaffen.  Das  geschah  besonders 
in  der  Weise,  daß  man  am  Studiertisch  systematische  Darstellungen 
und  Kunstlehren  schrieb  —  von  einer  wissenschafdichen  Beob- 
achtung und  wirklichen  Untersuchung  der  Einzelwirtschaften  war 
kaum  etwas  zu  verspüren.  Nur  die  Land-  und  die  Forstwirtschaftslehre 
standen  von  Anfang  an  besser  da,  und  sie  sind  es  denn  auch,  die 
bis  heute  ununterbrochen  weiter  fortentwickelt  sind.  Die  industrielle 
Betriebslehre  dagegen  blieb  in  der  Technologie  stecken,  und  die  Be- 
triebslehre des  Handels  und  seiner  Tochtergewerbe  wurde  sogar 
gänzlich  wieder  vergessen,  nachdem  sie  eine  Zeitlang  eine  recht 
verheißungsvolle  Entwicklung  durchgemacht  hatte. 

Welches  nun  eigentlich  die  älteren  Versuche  zu  kaufmännischen 
Erwerbs-  oder  Betriebslehren  sind,  in  welchem  Zusammenhange  sie 

Zeitschrift  für  die  ges.  Staatswissensch.    Ergänzungsfieft  49.  1 


untereinander  stehen,  welche  Bedeutung  ihnen  zu  ihrer  Zeit  und 
im  X'ergleich  mit  den  heutigen  Arbeiten  zuzuerkennen  ist,  das  alles 
ist  bisher  noch  nicht  untersucht  worden.  Vielleicht  wäre  die  Ge- 
schichte dieser  interessanten  Literatur  schon  längst  geschrieben 
worden,  wenn  man  mehr  Anhaltspunkte  dafür  gehabt  hätte,  daß 
sie  sich  schon  wegen  der  Menge  des  für  sie  vorhandenen  Stoffes 
lohnen  würde.  Das  konnte  man  aber  nach  den  wenigen  bisher 
bekannten  Versuchen  zu  solchen  Betriebslehren,  die  noch  dazu  nicht 
einmal  über  die  1860er  Jahre  hinaus  zurückreichen  (Lindwurm, 
Emminghaus),  nicht  vermuten,  weil  deren  Verfasser  selber  die 
ältere  Literatur  nicht  erwähnt  haben. 

Trotz  dieser  ungünstigen  Voraussetzungen  haben  doch  einige 
neuere  Schriftsteller  einen  Teil  jener  längst  vergessenen  Arbeiten 
gekannt,  wenn  sie  sie  auch  nicht  als  Vorläufer  der  sich  heute  ent- 
wickelnden Handelsbetriebslehre  und  anderer  Privatwirtschaftslehren 
erkannt  und  gewürdigt  haben.  Der  zu  früh  verstorbene  B.  Zieger 
streifte  sie  auf  der  Suche  nach  Material  für  eine  Handelsschul- 
geschichte ^),  und  J.  Heilauer  hat  einige  davon  als  Anläufe  zu  einer 
Welthandelslehre  bezeichnet-).  Ein  paar  Studien  von  J.  Schindler 
dagegen  sprechen  ziemlich  ausführlich  von  Nebensächlichem,  über- 
sehen aber  die  Hauptsachen  ganz  und  haben  in  der  Anlage  über- 
haupt kein  rechtes  ZieP).  Demnach  scheint  die  einzige  Veröffent- 
lichung, die  sich  bisher  mit  den  älteren  Werken  der  kaufmännischen 
Betriebslehren  als  solchen  befaßt  hat,  mein  Aufsatz  „Zur  Geschichte 
der  Handelsbetriebslehre"  in  Jahrg.  XIV,  Nr.  3  bis  6,  der  „Zeitschrift 
für  das  gesamte  kaufmännische  Unterrichtswesen"  zu  sein.  Mit  der 
vorliegenden  Arbeit  komme  ich  nun  auf  Grund  meiner  weiteren 
Nachforschungen  zu  einer  erheblichen  Erweiterung  jener  Skizze  und 
hier  und  da  auch  zu  einer  Berichtigung  des  damals  Gesagten. 

Wie  schon  in  jenem  Aufsatz,  so  bin  ich  auch  heute  noch,  und 
zwar  trotz  der  inzwischen  erfolgten  Bereicherung  unserer  Fach- 
literatur, in  einer  gewissen  \'erlegenheit  um  hinreichend  genaue 
und  anerkannte  Fachbezeichnungen.  Ich  habe  schließlich  geglaubt, 
mich  in  dieser  Geschichte  der  älteren  Fachliteratur  des  historischen 


1)  Zieger,  Ein  sächsischer  Merkantilist  über  Handelsschulen  u,  handelswissen- 
schaftl.  Abteilungen  an  Universitäten.  Leipzig  o.  J.  —  Ders.,  Lit.  über  das  ges. 
kfm.  Unterrichtswesen  ...  Bd.  14  der  Veröff.  des  D.  V.  f.  d.  K.  U.  u.  Bd.  18, 
Nachtrag  dazu  (1900  und   1901). 

2)  Hellauer,  System  der  Welthandelslehre.    1.  Bd.    Berlin   1910. 

3)  Schindler,  Zur  Einführung  in  die  deutsche  Lit.  über  den  Kaufmann. 
Außig  1911,  Fortsetzung  ebenda   1912. 


—     3     — 

Ausdruckes  Handlungs Wissenschaft  bedienen  zu  sollen,  eines 
Ausdruckes,  der  noch  im  ersten  Drittel  des  19.  Jahrhunderts  ver- 
standen wurde.  Bis  dahin  nannte  man  jede  Unternehmung  schlecht- 
hin eine  Handlung  ^),  so  daß  der  Name  Handlungswissenschaft  für 
eine  kaufmännische  Betriebslehre  in  der  Tat  recht  zutreffend  war. 
Das  nach  der  Handlungswissenschaft  entstandene  halb  volkswirt- 
schaftliche, halb  juristische  Handelsschulfach  der  Handelslehre 
(Handelswissenschaft  oder  auch  Handelskunde),  das  mit  ersterer 
fast  nichts  mehr  zu  tun  hat,  werde  ich  dagegen  zur  Vermeidung  von 
Verwechselungen  ständig  mit  diesem  heute  gebräuchlichsten  Namen 
bezeichnen,  während  ich  mich  für  den  Inbegriff  der  neueren  kauf- 
männischen Erwerbslehren  des  dafür  oft  verwandten  Sammelnamens 
Handelsbetriebslehre  bedienen  werde.  Die  zu  allen  Zeiten 
vorhanden  gewesenen  bloßen  Beschreibungen  von  Zuständen  und 
Einrichtungen  des  Handels  und  des  Verkehrs  überhaupt,  die  auch 
•dann,  wenn  sie  nicht  volkswirtschaftlich,  sondern  privatwirtschaft- 
lich gerichtet  sind  2),  weder  der  einen  noch  der  anderen  der  bisher 
genannten  literarischen  Richtungen  zuzuzählen  sind,  dürften  am 
besten  als  Hand  eis  künde  bezeichnet  werden  können. 

Ich  unterscheide  daher  von  der  heutigen  wissenschaftlichen 
Handelsbetriebslehre  und  von  ihrer  wissenschaftlichen  Vorläuferin, 
der  Handlungswissenschaft,  zunächst  die  auf  Verkehrsbeschreibungen 
gerichtete  Handelskunde  und  dann  die  der  letzteren  wieder  ver- 
wandte, aber  nur  in  den  Handelsschulen  bekannte  Handelslehre. 
Die  Handlungswissenschaft  wird  im  Vordergrunde  der  Ausführungen 
stehen,  während  die  drei  anderen  Zweige  unserer  Fachliteratur  nur 
insoweit  herangezogen  werden  sollen,  als  es  das  Hauptthema  er- 
fordert. Um  Irrtümern  vorzubeugen,  will  ich  nochmals  ausdrück- 
lich bemerken,  daß  ich  mit  diesen  Bezeichnungen  nichts  anderes 
bezwecke,  als  historische  Gruppen  von  Arbeiten  festzustellen. 


1)  Daneben  hieß  auch  die  volkswirtschaftliche  Massenerscheinung  des  Handels 
lange  Zeit  ,die  Handlung",  Zu  Handlung-Geschäft  oder  Unternehmung  vgl.  auch 
Handlungsgehilfe  u.   ä. 

2)  Privatwirtschaftlich  z.  B,  bei  Heilauer  a.  a.  O. 


T. 
Vorläufer  der  systematischen  Versuche. 

A.  Allgemeines. 

Bevor  im  18.  Jahrhundert  in  Deutschland  die  ersten  syste- 
matischen und  darum  wissenschaftlichen  Bearbeitungen  des  Ge- 
bietes der  Handlungswissenschaft  (Handelsbetriebslehre)  erfolgten^ 
hat  es  sowohl  hier  als  auch  im  Auslande  nur  unsystematische 
und  auch  sonst  nur  halb  hierher  gehörende  Arbeiten  gegeben,  die 
zumeist  ohne  erkennbare  Beziehungen  zueinander  hier  und  da  auf- 
tauchten. Je  älter  sie  sind,  desto  mehr  gehören  sie  zur  bloßen 
Handelskunde,  und  desto  mehr  berücksichtigen  sie  auch  nur  den 
reinen  Warenhandel.  Letzteres  ist  ganz  natürlich,  denn  in  dem 
Maße,  wie  der  Warenhändler  noch  der  einzige  Unternehmer  und 
Kapitalist  war,  umschloß  auch  noch  der  Warenhandel  alle  einzelnen^ 
nach  und  nach  in  besonderen  Unternehmungen  verselbständigten 
kaufmännischen  Erwerbszweige,  und  erst  einzelne  Augen  an  dem 
gemeinsamen  Wurzelstock  der  Warenhandlung  deuteten  die  später 
abgetrennten  Schößlinge  des  Verlags-'  und  des  Fabrikgeschäfts,  des 
Bank-,  des  Versicherungs-  und  des  Transportgewerbes  usw.  an^ 
kaum,  daß  sich  gegen  Ende  des  Mittelalters  der  reine  Großhandel 
aus  dem  bis  dahin  regelmäßig  das  Hauptgeschäft  bildenden  Klein- 
handel loszulösen  begann  ^). 

Als  Verfasser  der  älteren  Schriften,  die  wir  als  Vorläufer  der 
systematischen  Handlungswissenschaft  ansehen  müssen,  kommen 
fast  nur  Kaufleute  in  Frage,  die  aus  der  Praxis  für  die  Praxis  Winke 
erteilten  wollten.  Eine  wissenschaftliche  Stoffbehandlung  lag  ihnen 
fern.  Andere  Schriftsteller  kümmerten  sich  höchstens  einmal  um 
die  volkswirtschaftlichen  Wirkungen  der  kaufmännischen  Erwerbs- 
tätigkeit, und  zwar  am  häufigsten  um  die  zutage  tretenden  Miß- 
stände. An  Ermahnungen  an  die  Adresse  der  Kaufleute  ließen  sie 
es  in  der  Regel  nicht  fehlen.    Von  der  Drohung  mit  Kirchen-  und 

1)  G.  V.  Below,  Großhändler  u.  Kleinhändler  im  deutschen  Mittelalter  in  Jahrb. 
f.  Nat.  u.  Stat.  III  F.  20.  Bd.  von   1900. 


—     5     — 

Höllenstrafen  ^)  kamen  sie  allmählich  auf  den  Nachweis,  daß  der 
Warenwucher  oder  das  schädliche  „Monopolium",  wie  es  später 
hieß,  dem  Kaufmann  selber  schließlich  schaden  müsse  2).  Auch  auf 
die  Autoren  aus  dem  Kaufmannsstande  färbte  natürlich  die  ältere 
kanonische  Auffassung  von  wirtschaftlichen  Dingen  ab,  streifte  hier 
jedoch  schon  bald  das  theologische  Gewand  ab  und  trat  darauf 
mehr  als  Berufsethik  hervor.  Allmählich  ist  man  dann  auf  dem 
Wege  über  den  stadtbürgerlich-zünftigen  Begriff  des  „ehrbaren"  zu 
dem  staatsbürgerlichen  des  „königlichen"  Kaufmanns  gekommen. 

Zurückblickend  finden  wir,  daß  man  zu  allen  Zeiten  ^)  von  dem 
Kaufmann  (heute  besser :  von  dem  Unternehmer)  verlangt  hat,  er  solle 
ein  Diener  am  Gemeinwohl  sein,  daß  aber  alle  diese  Forderungen, 
so  gut  sie  auch  gemeint  sind,  die  kaufmännischen  Betriebslehren 
in  keiner  Weise  gefördert  haben.  Sie  stehen  ja  auch  als  Ausflüsse 
der  Sozialethik  über  den  Betriebslehren,  und  nicht  etwa  ergeben 
sie  sich  aus  diesen  oder  im  Zusammenhange  mit  einer  einzelnen 
von  ihnen. 

Es  muß  noch  bemerkt  werden,  daß  außer  in  der  alten  handels- 
kundlichen  auch  in  der  übrigen  alten  handelsfachlichen  Literatur 
Spuren  der  späteren  Handlungswissenschaft  zu  finden  sind,  sei  es 
in  einzelnen  Sätzen  oder  in  ganzen  Abschnitten.  Reinliche  Schei- 
dungen, also  Spezialarbeiten,  kannte  man  noch  nicht ;  sie  sind  ja 
überall  erst  ein  Zeichen  bereits  entwickelterer  Literatur.-  Hier  kann 
und  muß  von  den  nur  gelegentlich  vorkommenden  handelserwerbs- 
politischen  Erörterungen  abgesehen  werden.  Die  Arbeiten  selber, 
in  denen  sie  vorkommen  (Briefsteller,  Handels-  und  Wechselrechts- 
lehren, Rechen-  und  Buchhaltungswerke  usw.),  haben  jedoch  auch 
dadurch  eine  Bedeutung,  daß  sie  uns  in  ihrer  viel  lückenloseren 
Aufeinanderfolge  oft  einen  besseren  Einblick  in  die  Entwicklung 
des  (handeis-)  privatwirtschaftlichen  Denkens  gewähren,  als  die  zu- 
nächst noch  spärlichen  eigentlichen  Vorläufer  der  Handlungswissen- 
schaft. Es  sei  nur  daran  erinnert,  daß  das  kaufmännische  Rechnen 
und  die  Buchführung  schon  früh  an  typischen  Geschäftsfällen  ge- 
lehrt worden  sind,  die  also  erst  als  typisch  erkannt  sein  müssen  ; 
ferner  sei  darauf  hingewiesen,  daß  gerade  die  Doppelbuchhaltung 
auf    scharfen    Analysen    und  Abstraktionen    beruht,    hauptsächlich 


1)  Vgl.  Luther,  Von  Kaufshandlung  und  Wucher,  Wittenberg  1524. 

2)  So  schon  J.J.Becher,   Politischer  Discurs,  zuerst  Frankfurt/M.   1667. 

3)  Für    unsere   Zeit    noch    Schär,    Allgemeine    Handelsbetriebslehre,    1.  Bd. 
Leipzig  1911. 


—     6     — 

auf    einem    i,'ai-    nicht    so   selbstverständlichen,    abstrakten   Kapital- 
begriff *). 

Was  die  Zahl  der  Veröffentlichungen  auf  dem  Gebiete  der 
Handlungswisscnschaft  anbelangt,  so  hat  sie  naturgemäß  immer  den 
meisten  anderen  Zweigen  unserer  Fachliteratur  den  Vortritt  über- 
lassen müssen;  am  zahlreichsten  sind  die  Schriften  zur  Handlungs- 
wisscnschaft gegen  Ende  des  18.  Jahrhunderts.  Nachdem  zunächst 
hauptsächlich^  kaufmännische  Rechenwerke  herausgekommen  waren, 
sind  dann  seit  dem  Anfang  des  19.  Jahrhunderts  die  Buchhaltungs- 
schriften weitaus  an  der  Spitze  geblieben. 

B.   Italienische  Arbeiten  bis  Ende  des  17.  Jahrhunderts. 

Bevor  wir  uns  den  deutschen  Arbeiten  zuwenden,  müssen  wir 
noch  einen  Blick  auf  die  vorhergehende  oder  gleichzeitige  italienische 
und  französische  Literatur  werfen,  die  mehr  oder  weniger  nach- 
weisbar der  unsrigen  als  Vorbild  gedient  hat,  ja  sie  zunächst  auch 
wohl  ersetzt  hat.  Besonders  waren  die  Italiener  lange  Zeit  die 
Lehr-  und  Schulmeister  der  deutschen  (vor  allem  der  oberdeut- 
schen) Kaufleute  und  Fachschriftsteller.  Theoretisch  verdanken  wir 
ihnen  hauptsächlich  Belehrungen  und  Anregungen  auf  den  Gebieten 
der  Wechsellehre,  des  kaufmännischen  Rechnens  und  der  Buch- 
führung. Die  handlungswissenschaftlich  gefärbten  Arbeiten  der 
Italiener  sind  jedoch  anscheinend  von  sehr  geringem  Einfluß  auf 
uns  gewesen,  und  wenn  sie  hier  mit  genannt  werden,  so  geschieht 
es  teils  wegen  ihrer  offenbar  vorhandenen  Einwirkung  auf  das  für 
uns  wieder  sehr  wichtige  französische  Hauptwerk  und  teils,  weil  sie 
die  ältesten  Handelsfachschriften  überhaupt  sind,  und  weil  sie  in  ihrer 
Entstehung  den  ersten  deutschen  Schriften  ganz  ähnlich  erscheinen. 

Es  ist  nämlich  eine  Eigentümlichkeit  der  ältesten  italienischen 
wie  deutschen  Fachschriften,  daß  sie  keine  Bücher  im  heutigen  Sinne 
sind,  sondern  nur  Niederschriften  von  Tatsachen  und  Erfahrungen, 
die  die  Archive  der  betreffenden  Kaufmannsfamilien  bereichern 
sollten,  denen  ihre  Verfasser  angehörten.  In  den  mittelalterlichen 
verkehrslosen  oder  doch  verkehrsfeindlichen  Zeiten  waren  vor  allem 
die  als  ^tarife"  bezeichneten  Verzeichnisse  von  Handels-  und  No- 
tierungsgebräuchen, Umrechnungen  von  Münzen,  Maßen  und  Ge- 
wichten und  dergleichen  mehr  ein  sehr  nötiges  Mittel  der  Geschäfts- 
führung,   das   vom  Vater   auf    den   Sohn   und   von   diesem   wieder 

1)  Darum  hat  auch  bis  in  unsere  Zeit  hinein  der  „Buchhaltungsgeschäftsgang* 
dem  Fachunterricht  so  gute  Dienste  leisten  können. 


—     7     — 

ergänzt  und  verbessert  auf  den  Enkel  vererbt  wurde.  Wahrschein- 
lich waren  die  Tarife  auch  mit  dem  Schleier  des  Geschäftsgeheim- 
nisses umgeben ;  einige  von  ihnen,  die  späterhin  auch  gedruckt 
wurden,  haben  schon  zur  Zeit  ihrer  Drucklegung  nur  noch  für  den 
Forscher  Wert  gehabt.  Das  gilt  z.  B.  für  die  italienischen  Handschriften 
eines  F.  B.  Pegolotti  (aus  den  Jahren  von  1335 — 1345)  und 
eines  G.  A.  da  Uzzano  (von  1442),  die  erst  1766  herausgegeben 
wurden^).  Pegolottis  Handschrift  besteht  in  einer  großen  Menge 
von  Notizen  über  Münzen,  Maße,  Gewichte,  Warennotierungen, 
Platzunkosten  usw.,  alles  geographisch  geordnet,  ferner  aus  Zeit- 
tafeln, Zinstabellen  usw.  usw.  Uzzano  verfährt  dagegen  weniger 
tabellarisch  als  erzählend  und  beratend,  steht  also  unserem  Fache 
schon  etw^as  näher.  Von  deutschen  Tarifen  wird  weiter  unten  die 
Rede  sein  (S.  24  ff.). 

Eine  ziemlich  umfangreiche  und  verhältnismäßig  hochstehende 
Reihe  handlungswissenschaftlicher  Ausführungen  findet  sich  ferner 
in  der  „Summa  de  Arithmetica,  Geometria,  Proportioni  e  Propor- 
tionalitä"  von  L.  Pacioli,  die  in  Venedig  1494  zuerst  gedruckt 
wurde.  Diese  Arbeit  ist  vorwiegend  mathematischer  Natur.  Für 
uns  kommt  nur  ihr  neunter  Abschnitt  —  von  den  Gesellschaften, 
vom  Warentausch,  vom  Wechselschließen  und  Zahlen  überhaupt, 
vom  Gehalt  usw.  der  Gehilfen,  von  der  Buchhaltung  usw.  —  in 
Frage.  Nach  Rigobon^)  ist  dieser  Abschnitt  auf  das  1481  voll- 
endete Manuskript  eines  L.  di  Chiarini  zurückzuführen,  das 
Pacioli  vollständig  übernommen  haben  soll.  Dem  Pacioli  selber, 
einem  aus  dem  Kaufmannsstande  hervorgegangenen  Mönch,  hat 
man  aber  immer  das  11.  Kapitel  jenes  Abschnittes  zugeschrieben, 
das  die  älteste  Druckschrift  über  die  Doppelbuchhaltung  ist  und 
Pacioli  zu  dem  unverdienten  Ruhme  ihres  „Erfinders"  verholfen 
hat.  Von  dem  ganzen  neunten  Abschnitt  ist  bisher  nur  dieser  Buch- 
haltungstraktat  in   der   deutschen  Fachliteratur    beachtet  worden  ^). 


1)  Von  Pagnini  del  Ventura  als  Bd.  3  und  4  (380  und  284  S.  4*^)  seines 
Werkes:  „Della  Decima  e  di  varie  altre  gravezze  imposte  dal  Comune  di  Firenze, 
della  Moneta  e  della  Mercatura  dei  Fiorentini  fino  al  secolo  XVI,  Lisbona  e  Lucca. 
Als  Quellen  für  die  Geschichte  des  Handelsrechts  werden  Pegolotti  und  Uzzano 
von  L.  Goldschmidt,  Handb.  d.  Handelsrechts,  2.  Aufl.  1874,  genannt.  Nach  ihm 
war  Pegolotti  ein  Faktor  der  Bardi  (1317  in  England). 

2)  P.  Rigobon,  Studii  antichi  e  moderni  intorno  alla  tecnica  dei  commerci, 
Bari  1902.     Teilweise  deutsch  in  der  Z.  f.  d.  g.  k.  U.  V,  12  und  VI,  1. 

8)  C.  P.  Kheil,  Über  einige  ältere  Bearbeitungen  des  Buchhaltungstraktates 
von  L.  Pacioli,  Prag  1896.  —  Auch  E.  L.Jäger,  Beiträge  z.  Gesch.  d.  Doppel- 
buchhaltg.,  Stuttgart  1874.     Ders.,   Lucas  Pacioli   und    Simon  Stevin,  ebenda   1876. 


Ihrer  Entstehung,  wenn  auch  nicht  ihrer  Drucklegung  nach 
noch  älter  ist  eine  Handschrift  von  B.  Cotrugli  aus  Ragusa.  Er 
vollendete  sie  schon  1458  für  das  Archiv  eines  Handelshauses,  für 
das  er  zeitweise  tätig  gewesen  war;  gedruckt  wurde  sie  aber  erst 
1573  zu  Venedig  unter  dem  Titel  „Della  Mercatura  et  del  Mercante 
perfetto".  Das  kleine,  nur  110  Seitchen  starke  Buch  enthält  Be- 
lehrungen über  die  Geschäftsführung  und  über  die  Moral  des  Kauf- 
mannes in  Haus  und  Beruf ').  Erstere  finden  sich  in  dem  ersten 
der  vier  Abschnitte,  in  die  die  rund  50  Kapitelchen  des  Buches 
eingeteilt  sind.  Sie  handeln  u.  a.  von  dem  Ursprung  und  der 
Definition  des  Handelsgewerbes,  von  der  Person  des  Kaufmannes, 
vom  Tauschhandel  2),  vom  Bar-  und  vom  Zielverkauf,  von  der 
Mahnung,  der  Zahlung,  dem  Depositum  und  Lombard  (pegno),  ja 
sogar  von  der  Buchführung  und  vom  Versichern.  Das  kleine,  in- 
haltlich unbedeutende  Buchhaltungskapitel  ist  als  die  ihrer  Ent- 
stehung nach  älteste  Erörterung  der  Doppelbuchführung  bemerkens- 
wert —  als  Druckwerk  kam  ihr  die  von  Pacioli  zuvor.  Der 
moralische  Teil  des  Cotruglischen  Büchleins  ist  übrigens  auch 
mit  hauswirtschaftlichen  Ausführungen  durchsetzt;  so  findet  sich 
dort  ein  Kapitel  vom  Privateigentum  (peculio)^). 

Eine  Neuauflage,  Brescia  1602,  mochte  das  Büchlein  wohl  eben- 
sosehr seinem  moralischen  wie  seinem  handlungswissenschaftlichen 
Teile  zu  verdanken  haben.  Einem  erheblicheren  geschäftlichen  Be- 
dürfnisse konnte  es  nach  Umfang  wie  Inhalt  wohl  kaum  genügen. 
\^ielleicht  fiel  es  als  „etwas  Anderes"  gegenüber  der  wachsenden 
Menge  von  Rechen-  und  Buchhaltungsschriften  und  Schreibvorlagen 
jener  Zeit  auf  und  war  auch  wohl  klein  und  billig  genug,  um 
Käufer  zu  finden.  Die  Ausführungen  von  Chiari  ni-Paciol  i  ver- 
schwanden dagegen  unter  den  vielen  rein  mathematischen  Kapiteln 
der  „Summa  de  Arithmetica"  und  wurden  in  diesem  Rahmen  nur 
unnötig  verteuert.  So  war  es  möglich,  daß  Cotrugli  von  seinem 
Herausgeber  als  ein  in  jeder  Wissenschaft  vortrefflicher  Mann  ge- 
ll Ich  folge  in  der  Inhaltsangabe  Kheil,  Benedetto  Cotrugli  Raugeo, 
Wien   1906. 

2)  Das  Barattieren,  Troquieren,  Stechen  =  Warentauschen  war  bis  zur  Besse- 
rung der  Verkehrsverhältnisse  im  19.  Jahrhundert  besonders  auf  den  Messen  sehr 
häufig;    am  längsten  hat  es  sich  wohl  im  Buchhandel  erhalten. 

3)  Vgl.  damit  den  Schär-Ste  rnschen  Streit  über  die  Einbeziehung  des 
Privatvermögens  in  die  Bilanz  des  Einzelkaufmanns,  teilweise  dargestellt  in  Bd.  37 
der  Veröffentl.  des  D.  V.  f.  d.  K.  U  —  Auch  Jäger  und  Kheil  a.  a,  O.  geben  uns 
^vertvolle  Aufschlüsse  über  die  (wenigstens  in  der  Auffassung)  noch  im  16.  Jahrh.  in 
Italien  bestehende  Einheit  von  Haushaltung  und  Geschäft. 


—     9     — 

schildert  wurde,  „der  über  die  Kunst  des  Handelsgevverbes  (dell' 
arte  della  Mercatura)  schrieb,  was  niemand  vor  ihm  getan"  habe. 
Heute  erscheint  uns  das  Werkchen  auch  noch  zur  Zeit  seiner 
115  Jahre  späteren  Herausgabe,  nur  als  ein  verfrühter  Schmetterling. 
Es  wurde  bald  wieder  vergessen. 

Wie  Cotrugli  nichts  von  Chiarini-Pacioli  gewußt  hatte, 
so  wußte  der  nun  folgende  G.  D.  Peri,  ein  Genuese,  wieder  nichts 
von  seinem  Vorläufer  Cotrugli.  Peris  Werk  heißt  „II  Negotiante"; 
es  ist  1638  zuerst  erschienen.  Nach  Peri  waren  bisher  überhaupt 
fast  nur  Rechenwerke  herausgekommen,  während  sein  eigenes  Buch 
der  erste  Wegweiser  für  die  eigentliche  Geschäftsführung  sei.  Seiner 
Entstehung  nach  ist  es  mit  den  Schriften  von  Pegolotti,  Uzzano, 
Chiarini  und  Cotrugli  nahe  verwandt,  denn  sein  Inhalt  hatte 
zunächst  lediglich  handschriftlich  auf  Peris  Söhne  kommen  sollen, 
ist  dann  aber  für  den  Druck  überarbeitet  und  ergänzt  worden,  so 
daß  es  schließlich  ein  paar  hundert  Druckseiten  umfaßte.  Auch  in- 
haltlich übertrifft  es  seine  Vorgänger  bei  weitem.  Es  ist  ebenso 
sehr  die  Frucht  einer  langen  Geschäftspraxis  („.  .  .  was  ich  mich 
durch  die  Praxis  so  vieler  Jahre  selber  erst  habe  lehren  müssen") 
wie  diejenige  früherer  philosophischer,  theologischer  und  juristischer 
Studien,  über  die  Peri  selber  einiges  berichtet.  1638  kam  das 
Buch  wohl  noch  nicht  in  seinem  späteren  Umfange  heraus,  denn 
die  letzten  seiner  vier  Teile  haben  nach  den  beigefügten  Daten  erst 
1660  und  1665  die  Zensur  passiert.  Der  folgenden  Inhaltsangabe 
liegt  eine  (wievielte?)  Venediger  Ausgabe  von  1682  zugrunde,  die 
rund  700  Quartseiten  umfaßt. 

Im  ersten  Teile  spricht  Peri  von  dem  Ursprung  der  Kaufleute, 
vom  Rechnen  mit  arabischen  Ziffern,  vom  Latein  —  das  übrigens 
noch  manche  Autoren  des  18.  Jahrhunderts  den  Kaufleuten 
empfahlen  —  ferner  vom  Briefschreiben,  von  der  Buchführung, 
von  den  Arbeiten  und  Arbeitspflichten  des  Kassierers,  des  Korre- 
spondenten usw.  Er  bringt  weiterhin  Beispiele  der  Geschäfts- 
gründung und  zusammenhängender  Briefreihen.  Die  Neigung  des 
Verfassers,  auf  die  rechtliche  Seite  der  geschäftlichen  Vorkommnisse 
einzugehen,  bekundet  sich  in  den  weiteren  Beispielen  für  richtige 
Vertragsschlüsse  und  dann  in  allen  seinen  weitschweifigen  Aus- 
führungen über  Wechselsachen,  die  sich  durch  alle  vier  Buchteile 
hindurchziehen.  Im  ersten  Teile  nehmen  sie  den  größten  Raum 
in  Anspruch;  die  Erklärungen  erfolgen  hier  mit  besonderem  Hin- 
weis auf  die  Gebräuche  der  berühmten  Messen  von  Besan^on. 

Im   zweiten  Teile    folgen    einer  Einleitung    über  die  „wahren" 


—     10     — 

Kaufleute  und  ilire  Eigenschaften  die  Erörterungen  der  \'erkäufe 
gegen  bar  und  auf  Ziel  nebst  der  dazugehörigen  Korrespondenz 
und  den  Verbuchungen  in  einfachen  und  doppelten  Posten  ').  Nach 
weiteren  über  die  kaufmännischen  Rechtsgutachten  und  Schieds- 
sprüche'^), ferner  über  die  Möglichkeit  des  Zinses^),  wird  die  Be- 
trachtung der  Wechsel  fortgesetzt,  die  auch  in  diesem  Teile  den 
meisten  Platz  beansprucht.  Dabei  geht  Peri  zugleich  auf  die  Kurse 
einer  großen  Anzahl  von  Handelsplätzen  ein  und  beschreibt  auch 
diese  Plätze  kurz  nach  Lage,  Handel  und  Gewerbe. 

Im  dritten  Teile  wird  nun  zunächst  die  doppelte  Buchführung 
etwas  eingehender  vorgenommen ;  wie  in  den  älteren  Werken  über- 
haupt, werden  selbst  die  Methoden  des  Fehlersuchens  mit  erörtert. 
Nach  Ausführungen  zu  den  Kapiteln  Zinsen,  Geld  und  Fracht- 
geschäft kehrt  Peri  wieder  zu  seinem  Lieblingsthema,  den  Wechseln, 
zurück.  U.  a.  vertritt  er  hier  gegenüber  dem  Rechtsgelehrten 
A.  Merenda  seine  Meinung  über  den  Meßwechsel. 

Der  vierte  Teil  endlich  macht  mit  seinem  buntscheckigen  Inhalt 
ganz  den  Eindruck  einer  Nachlese.  Die  Einleitung  bilden  ein  paar 
Kapitel  über  die  Notwendigkeit  und  Nützlichkeit  des  Handels  und 
über  die  Eigenschaften  und  Kenntnisse  des  Kaufmannes.  Dann 
folgen    nacheinander    solche    über   Kontokorrente,    Partizipationen, 

1)  Diese  pädagogische  Behandlung  des  Stoffes  ist  sehr  beachtenswert.  Viel- 
leicht ist  sie  nur  ein  Spiegelbild  der  Konzentration  und  Kombination,  die  im  Unter- 
richte der  alten  Schreib-,  Rechen-  und  Buchhaltungsschulen  gang  und  gäbe  war.  Wenn 
wir  nicht  aus  der  späteren  Zeit  dieser  Schulefü  die  deutlichsten  Hinweise  auf  eine 
solche  Konzentration,  ja  die  Beweise  für  sie  hätten,  so  müßte  es  uns  doch  schoa 
stutzig  machen,  daß  in  der  frühesten  Fachliteratur  besonders  Rechnen  und  Buch- 
führung so  oft  in  einem  einzigen  Buche  behandelt  werden.  Für  die  Verquickung 
mit  dem  Schreiben  haben  wir  wohl  nur  darum  weniger  literarische  Belege,  weil 
über  dieses  (abgesehen  von  Schreibvorlagen)  fast  nichts  Theoretisches  herauskommt. 
Nach  Kheil  a.a.O.  hat  aber  D.  Manzoni  einer  Bearbeitung  des  Buchhaltungs- 
traktates von  Pacioli  1654  „eine  Sammlung  von  zwölf  hübschen  .  .  .  Schreibvor- 
Jagen*  beigefügt.  Cotrugli  beginnt  sein  Buchhaltungskapitel  mit  einem  langatmige» 
Lobe  der  Schreibkuost.  Vielleicht  war  der  Buchhaltungsunterricht  damals  häufig, 
nicht  mehr  als  ein  angewandte?  Rechnen  und  Schreiben;  Rechnen  und  Schreibe» 
aber  waren  damals  sicher  noch  spezifische  Berufsfertigkeiten.  Vgl.  dazu  m.  Aufs, 
Zur  Entstehung  d.  Handelsfächer  u.  ihres  Konzentrationsunterrichts,  Dt.  Handels- 
schul-Lehrer-Ztg.  X,  Nr.  2S,  29. 

2)  Sie  waren  bis  zur  Schaffung  der  neuzeitlichen  Handels-  und  Wechselrechte 
und  der  verbesserten  Prozeßverfahren  eine  sehr  nötige  und  überall  verbreitete  Ein- 
richtung unter  den  Kaufleuten.  Besonders  als  „Pareres"  spielen  sie  in  der  ältere» 
Literatur  eine  ziemliche  Rolle.  Sie  bilden  den  Teil  der  S.  6  erwähnten  kaufmänni- 
schen Archive,  der  sich   am  längsten   erhalten  zu  haben  scheint. 

3)  Vgl.   S.  5   über  kanonische   Anschauungen. 


—    11    — 

Wechselzahlungen,  Akzeptationen,  Avale,  Zinseszinsen,  kommandi- 
tarische  Beteiligungen '),  Prokuren,  Versicherungen,  Zessionen  und 
Aufrechnungen,  Darlehen,  Depositen,  Quittungen,  Wechselpro- 
teste usw.  Vielfach  bringen  sie  nur  Ergänzungen  und  Erweite- 
rungen der  entsprechenden  Kapitel  der  ersten  Teile. 

Peris  Werk  ist  in  seiner  Vielseitigkeit  eine  reiche  Fundgrube 
des  kaufmännischen  Wissens  seiner  Zeit.  Es  mochte  ihm  wohl  nur 
an  Systematik  und  hier  und  da  an  weiser  Beschränkung  des  Stoffes 
fehlen,  um  zu  noch  größerem  Ruhme  zu  gelangen;  so,  wie  es 
schlief;}lich  vorlag,  war  es  als  Selbstunterrichtswerk  für  die  meisten 
angehenden  Kaufleute  vielfach  zu  tiefgründig.  Das  mag  ein  Grund 
mit  gewesen  sein,  der  verhindert  hat,  daß  es  ins  Deutsche  —  an- 
scheinend .auch  nicht  in  andere  Sprachen  —  übertragen  wurde. 
Natürlich  waren  die  Kenntnis  des  Italienischen,  die  besonders  bei 
den  oberdeutschen  Kaufleuten  häufig  war,  und  die  fast  hoffnungs- 
lose Zerrüttung  aller  deutschen  Verhältnisse  durch  den  Dreißig- 
jährigen Krieg  noch  besonders  wirksame  Hemmungen.  Da  ferner 
die  französische  Sprache  schon  eine  große  Verbreitung  bei  uns  ge- 
funden hatte,  so  wandte  sich  die  Aufmerksamkeit  dem  1675  zuerst, 
also  bald  nach  der  Vollendung  des  „Negotiante" ,  erschienenen 
„Parfait  negociant"  des  J.  Savary  viel  mehr  zu,  zumal  dieses 
Werk  dem  italienischen  weit  überlegen  war.  „II  Negotiante"  ist 
eine  erste  Sammlung  von  Bausteinen  zu  einem  späteren  Lehr- 
gebäude der  Handlungswissenschaft  —  nur  der  Verlag  und  der 
Ladenhandel  fehlen  anscheinend  in  ihm.  Die  Fragen  der  Kapital- 
beschaffung und  der  Kredit-  und  Kassendisposition,  der  Personalbe- 
schaffung und  Arbeitsorganisation,  der  Verrechnung  und  manche 
andere  noch  sind  jedoch  dort  schon  gestreift,  aber  gemäß  den  ein- 
facheren Erwerbs-  und  Verkehrsverhältnissen  nur  erst  wenig  ent- 
wickelt oder  nicht  klar  begriffen.  Ein  leitender  Gedanke  fehlt  dem 
ganzen  Werke  wie  seinen  einzelnen  Teilen,  und  diesen  Mangel, 
der  sich  aus  seiner  Entstehungsgeschichte  erklärt,  hat  auch  die  vor 
der  Veröffentlichung  offenbar  erfolgte  Überarbeitung  nicht  beseitigen 
können. 

Die  Nichtberücksichtigung  des  Verlagsgeschäftes  erklärt  sich 
wohl  daraus,  daß  Peri  darin  keine  Erfahrungen  besaß  und  offen- 
bar nur  aus  seiner  eigenen  Praxis  heraus  belehren  wollte.  Das 
Fehlen  des  Ladenhandels  hat  wohl  denselben  Grund,  aber  sicher- 
lich daneben  auch  den,  daß  man  damals  überhaupt  nur  die  Groß- 

1)  Die  offene  Handelsgesellschaft,  die  stille  Gesellschaft  und  eine  Art  Kom- 
manditgesellschaft waren  noch   die  einzigen  dauernden  Erwerbsgesellschaften. 


—     12     — 

liandlungen  als  kaufmännische  Betriebe  und  nur  die  Großhändler 
als  Kaufleute  ansah 'J ;  der  Ladenhandel  hieü  Kram,  I  lokcrci  usw., 
und  wer  ihn  betrieb,  war  ein  Kramer,  I  lökcr  usw.,  aber  kein  „Kauf- 
und Handelsmann".  Erst  als  auch  der  Ladcnhandel  kapitalistische 
Formen  annahm,  übertrug  sich  die  Bezeichnung  Kaufmann  auch 
auf  die  Kramer. 

Wie  überall  am  Ende  des  17.  und  Anfang  des  18.  Jahrhunderts, 
so  begannen  jetzt  auch  in  Italien  unter  dem  befruchtenden  Einfluü 
der  Merkantilisten  die  zu  Nutz  und  Frommen  des  Kaufmanns  er- 
scheinenden Arbeiten  mehr  handelswissenschafdicher  Art  zahlreicher 
zu  werden.  Aber  dem  Abflauen  der  deutsch-italienischen  Handels- 
beziehungen entsprechend  fanden  nur  noch  wenige  Exemplare  den 
Weg  zu  uns.  Eine.-  von  ihnen  ist  „II  Mercaiite"  von  A.  Nazari, 
Brcscia  1685,  192  Seitchen.  In  einem  runden  Dutzend  Kapitel 
spricht  es  u.  a.  vom  Kredit,  vom  Gewinn,  von  der  Buchführung, 
von  Ein-  und  Vorkauf  usw.,  ohne  jedoch  Vollständiges  oder  auch 
nur  Peris  Ausführungen  Erreichendes  zu  bieten.  Ein  genauer  Ver- 
gleich mag  möglicherweise  ergeben,  daß  dies  Büchlein  auf  dem 
größeren  und  umfassenderen  Werke  Peris  aufgebaut  ist. 

C.  „Le  parfait  negociant"  des  J.  Savary. 

Das  Abflauen  der  deutsch-italienischen  Handelsbeziehungen  ge- 
schah letzten  Endes  zu  gunsten  der  flandrischen  Städte.  Eine 
wichtige  Zwischenstufe  dieser  geographischen  Ablenkung  waren  die 
Messen  von  Lyon,  die  ihre  Blüte  der  Handelspolitik  Ludwig  XI. 
verdankten 2).  Die  deutschen  Kaufleute,  die  schon  immer  Wert 
darauf  gelegt  hatten ,  daß  ihre  Söhne  sich  drau(3en  umsahen, 
schickten  diese  nun  nicht  mehr  bloß  nach  Venedig,  sondern  auch 
nach  Lyon,  Brügge  und  Antwerpen  3).  Es  darf  aber  wohl  be- 
zweifelt werden  daß  sie  dort  und  besonders  auch  in  Lyon,  mit 
anderen  als*  von  Italien  her  beeinflußten  Fachschriften  bekannt  ge- 
worden  sind.     So  gibt  es  z.  B.  eine   französische  Übersetzung  des 


1)  Vgl.  V.  Below  a.  a.  O.,    desgl.  bei  Peri  selber  die  ersten  Abschnitte  des 
zweiten  Teils. 

2)  1462    verbot    Ludwig    XI.     seinen    Untertanen     den    Besuch    der    Messen 
von  Genf. 

31  B,  Greiff,  Tagebuch  des  Lucas  Rem,  Augsburg  1S61.  —  Zieger,  Die 
Vorbereitung  für  den  kaufm,  Beruf  um  die  Wende  des  ausgehenden  MA.  D.  H 
L.  Z.  V,  Nr.  19,  20  22.  —  Meine  Aufs.:  Der  Kaufmann  u.  sein  Fachunterricht  Wi« 
zum  18.  Jahrb.,  Z.  f.  Handelswiss.  u.  Handelspraxis  VI,  Nr,  6,  und  Der  Handlu 
lehrling   vor  200  Jahren,   ebenda  V,   Nr.  2. 


bis 
ngs- 


—     13     — 

Cotr uglischen  Büchleins  von  einem  J.  Boyron,  L5-on  1582^). 
Erst  im  Zusammenhange  mit  den  merkantilistischen  Maßnahmen 
der  Colbertschen  Regierung  entstand  ein  durch  und  durch  fran- 
zösisches Werk,  eine  hervorragende  Handelskunstlehre,  in  „Le 
parfait  negociant  ou  instruction  generale  pour  ce  qui  regarde  le 
commerce  de  toute  sorte  de  marchandises  ..."  von  Jacques 
Savary,  Paris  1675. 

Diese  erste  Ausgabe  ist  mir  nicht  bekannt  geworden.  Die 
zweite  ist  eine  französisch -deutsche,  Genf  1676,  und  sie  ist  viel- 
leicht von  Savary  selber  für  das  Elsaß  und  die  Schweiz  ins 
Deutsche  übertragen  worden.  Ihr  deutscher  Titel  lautet:  „Der  voll- 
kommene Kauff-  und  Handels-Mann  ..."  Sie  ist  die  einzige  vollstän- 
dige Übertragung  ins  Deutsche  geblieben,  vielleicht  weil  das  Werk  in 
vielen  Teilen  auf  rein  französische  Verhältnisse  zugeschnitten  war, 
und  weil  die  deutschen  Handelswissenschaftler,  die  nun  auch  auf- 
traten, den  heimischen  Bedarf  mit  eigenen  Erzeugnissen  zu  decken 
suchten.  Nur  P.  J.  Marperger  und  C.  G.  Ludovici,  von  denen 
noch  die  Rede  sein  wird,  haben  einiges  aus  dem  „Parfait  negociant" 
übersetzt  und  bearbeitet.  Eine  dritte  Auflage  erschien  sodann  Paris 
1679  nur  in  Französisch,  und  zwar  sehr  vermehrt  und  verbessert. 
Die  Hinzufügungen  betreffen  aber  nur  die  handeis-  und  wechsel- 
rechtlichen und  die  handelskundlichen  Ausführungen  in  dem  Werke. 
Einer  weiteren  Auflage  von  1688  hat  Savary  noch  eine  Sammlung 
„Pareres  '^)  ou  Avis  et  conseils  sur  les  plus  importantes  matieres  du 
commerce"  angehängt,  die  sich  großer  Beliebtheit  erfreut  haben. 
Eine  Menge  weiterer  Auflagen  erschienen  dann  noch  im  18.  Jahr- 
hundert, darunter  waren  solche  in  Holländisch,  Englisch  und 
Italienisch ;  die  letzte,  von  der  ich  eine  Erwähnung  gefunden  habe, 
soll  von  1800  sein. 

Der  deutsche  Teil  der  Genfer  Auflage  von  1676,  auf  die  sich 
die  folgende  Inhaltsangabe  stützt,  hat  zwei  mit  je  einem  Titelkupfer 
geschmückte  Abschnitte  von  zusammen  etwa  700  Seiten  8".  Ein 
Anhang  enthält  u.  a.  die  verschiedenen  Ordonnanzen  von  1673,  die 
die  französischen  Handelsverhältnisse  neu  ordneten  und  deren 
geistiger  Urheber  unser  Savary  war^')-  Ihre  Berücksichtigung  und 
Erläuterung  ist  ein  wesentlicher  Zug  des  Buches,  das  vor  allem 
praktische    Ziele    verfolgte.     Indem    es    die    persönlichen    Handels- 


1)  Nach  Kheil,  B.  Cotrugli  Raugeo. 

2)  Vgl.  S.  10,  Fußnote  2. 

3)  Daher  auch  „Code  Savary"  genannt.    Vgl.  dazu  E.  Levasseur,  Histoiie  du 
Commerce  de  la  France,  Paris  1911. 


—      14     — 

erfahruiiu^cn  seines  Verfassers  wiedert(ibt,  hat  es  einige  Verwandt- 
schaft mit  den  schon  genannten  Schriften  der  Itahener,  es  ragt  aber 
sogar  über  Peri  weit  liinaus. 

Sa  Vary  s  Lebenslauf  zeigt,  daß  es  kaum  einen  geeigneteren 
Mann  geben  konnte,  um  eine  handlungswissenschafthche  Kunstlehre 
zu  schaffen.  Geboren  1622  und  gestorben  1690,  wurde  er  von 
seinen  Eltern  zum  Kaufmann  bestinnnt.  Er  widmete  sich  dem  Tuch- 
handel und  der  Tuchfabrikation  und  war  Händler,  Verleger  und 
Fabrikant  mit  wechselndem  Glücke.  Von  1660  an,  als  es  ihm  zu 
gewagt  erschien,  fernerhin  Hab  und  Gut  in  den  zurückgehenden 
Handelsverhältnissen  zu  gefährden ,  vertrat  er  den  Herzog  von 
Mantua  in  einer  Art  konsularischer  Stellung  in  Frankreich;  in  dieser 
Stellung  hat  er  wahrscheinlich  das  Perische  Buch,  dem  er  offen- 
bar manche  Anregungen  verdankt,  genauer  kennen  gelernt.  Schon, 
vorher  hatte  ihn  das  große  Vertrauen,  das  ihm  seine  Standes- 
genossen bekundeten,  indem  sie  ihn  häufig  als  Gutachter  und 
Schiedsrichter  in  Anspruch  nahmen,  zu  einem  eingehenden  Studium 
der  einschlägigen  Gesetze,  Gebräuche  usw.  veranlaßt.  Dieses  Studium 
setzte  er  nun  in  seiner  neuen  Stellung  eifrig  fort.  Als  er  späterhin 
die  Einsendung  eines  Gutachtens  an  die  Regierung  wagte,  das  die 
Abstellung  der  vielfachen  Mißstände  und  Mißbräuche  im  Handel 
betraf,  wurde  Colbert  auf  ihn  aufmerksam  und  machte  ihn  1670 
zum  Mitgliede  des  Conseil  de  la  Reforme.  In  dieser  Eigenschaft 
veranlaßte  er  die  französische  Handelsgesetzgebung  von  1673,  und 
wurde  er  ferner  der  Verfasser  des  ,fParfait  negociant". 

Über  die  Entstehung  dieses  Buches  sagt  er  selber,  ihm  hätten 
bei  Gelegenheit  einer  besonderen  Sitzung  „etliche  aus  den  Rats- 
gliedern, nachdem  der  Rat  aufgestanden,  aufgetragen,  daß  er  etliche 
Werke  verfertigen  sollte,  deren  sich  junge  Leute,  so  sich  auf  den 
Kaufhandel  zu  legen  vorhaben,  mit  Nutzen  bedienen  könnten"  ^). 
Auf  die  Bestimmung  des  Buches  für  den  Selbstunterricht,  die  ja  bei 
dem  Mangel  an  Fachschulen  selbstverständlich  ist,  deutet  noch  die 
besondere  Erklärung  des  Verfassers  hin,  daß  er  zwar  „niemals  die 
Grammatik  noch  andere  Sachen,  die  insgemein  denen,  so  die 
lateinische  Sprache  verstehen,  bekannt  sind,"  gelernt  habe,  daß  er 
sich  aber  damit  tröste,  „daß  eine  so  hohe  Schreibart  nicht  nötig 
gewesen"  sei,  und  daß  es  ihm  genüge,  wenn  „der  geringste  Lehr- 
junge alle  Sachen,  die  .  .  .  fer)  ihm  vorgetragen,  verstehen  und 
fassen   und   seine   Hantierung   (danach)   recht  lernen   könne".     Da 


1)  Vorrede  zu  „Der  vollkommene  Kauff-  und  Handels-Mann 


—     15     — 

■das  Buch  auch  noch  den  besonderen  Zweck  verfolgte,  die  Kaufleute 
mit  der  neuen  französischen  Handelsgesetzgebung  und  den  Pflichten, 
die  ihnen  dadurch  auferlegt  wurden,  bekannt  zu  machen,  so  ergab 
sich  für  Sa  Vary  die  Notwendigkeit,  sogar  Muster  von  ordnungs- 
mäßig ausgestellten  Wechseln,  abgeschlossenen  Verträgen,  ausge- 
arbeiteten Inventaren  und  Geschäftsbüchern  usw.  in  den  Text  mit 
einzufügen,  wo  sie  natürlich  im  ganzen  etwas  stören. 

Was  nun  den  handlungswissenschaftlichen  Inhalt  selber  anbe- 
trifft, so  baut  ihn  Savary  etwa  so  auf,  wie  er  dem  Kaufmanne 
der  Reihe  nach  als  Lehrling,  Gehilfen  und  selbständigem  Geschäfts- 
mann im  Laden-  und  im  Großhandel,  diesen  ohne  und  mit  Gesell- 
schaftern usw.,  vertraut  wird.  Da  es  zur  Verbesserung  der  darnieder- 
liegenden Handelsverhältnisse  auf  einen  brauchbaren  Nachwuchs 
ankommt,  so  nimmt  Savar}^  zunächst  einen  mit  gesunden  Leibes- 
und Verstandeskräften  und  mit  Lust  und  Liebe  zum  Handel  aus- 
gestatteten Lehrling  an,  der  in  ein  Ladengeschäft  eintritt.  Er  muß 
bereits  rechnen  und  schreiben  können,  und  Kenntnisse  in  der 
doppelten  wie  einfachen  Buchführung  sind  erwünscht '),  desgleichen 
für  den  späteren  Werdegang  Sprachkenntnisse,  aber  von  jungen 
Leuten,  die  „ihre  Rethorik  und  Philosophie  studieret",  verspricht 
sich  der  Verfasser  nur  wenig  (Kap.  1 — 5). 

Der  Lehrling  des  „Handkaufs"  wird  zunächst  mit  seinen  Ver- 
haltungs-  und  Arbeitspflichten  bekannt  gemacht,  über  die  wichtigsten 
Maße  und  Gewichte  des  In-  und  Auslandes  belehrt  und  in  der  Waren- 
kunde, besonders  in  derjenigen  der  dem  Verfasser  vertrauten  Textil- 
branche,  unterrichtet  (Kap.  6 — 17).  Die  Arbeitslehre  für  den  Lehr- 
ling wird  sodann  zu  einer  solchen  für  den  Gehilfen,  der  bei  einem 
Großhändler  arbeitet,  erweitert  (Kap.  18 — 29).  Kommt  es  z.  B.  für 
den  Lehrling  darauf  an  zu  wissen,  wie  man  Waren  einwickelt  und 
in  Kisten  und  Ballen  verpackt,  und  wie  man  beim  Verkaufe  im 
Laden  mit  Hand  anlegen  muß,  und  warum  man  endlich  gerade  so 
und  nicht  anders  arbeiten  soll,  so  muß  sich  nun  der  Gehilfe  merken, 
wie  man  die  Ware  zweckmäßig  lagert,  wie  man  sie  an  Wieder- 
verkäufer abgibt,  wie  man  diese  Leute  mahnt  und  vor  allem,  was 
•der  Kaufmann  in  Wechselsachen  als  Trassant,  Remittent  und  Trassat 
zu  beobachten,  zu  tun  und  zu  lassen  hat,  um  rechtlich  und  wirt- 
schaftlich richtig  zu  verfahren. 

Für    die   nun    folgende    Selbständigkeit   als   Kleinhändler    muß 

1)  Diese  Kenntnisse  könnte  der  Junge  von  14  Jahren  doch  nur  in  einer  Schreib-, 
Rechen.-  und  Buchhaltungsschule  erlangt  haben,  die  S.  also  vorauszusetzen  scheint, 
aber  nirgends  besonders  erwähnt. 


—     16     — 

man  die  vorgeschriebenen  Förmlichkeiten,  seine  eigene  rechtliche 
Stellung  und  seine  Buchhaltungspflichten  genau  kennen ;  die  ein- 
gefügten Buchführungsmuster  geben  typische  Heispiele  an  die  Hand. 
Diesem  Teile  folgt  sodann  der  Kern  einer  Kunstlehre  für  das  Laden- 
geschäft, im  besonderen  für  das  des  Tuchausschnittes.  Man  soll 
den  Ort  der  Niederlassung  den  Umständen  nach  und  vorsichtig 
auswählen  —  besonders  muß  man  auf  die  Art  des  einfallenden 
Lichtes  achten,  damit  jede  Tuchfarbe  zur  richtigen  Geltung  kommt! 
Der  Laden  muß  zweckmäßig  und  geschmackvoll  hergerichtet  werden. 
Bei  den  ersten  Einkäufen  muß  man  besonders  vorsichtig  sein,  da- 
mit man  nichts  Minderwertiges  angehängt  bekommt  und  seinen 
Kredit  nicht  unnötig  anspannt.  Savary  legt  überhaupt  großen 
Wert  auf  ein  vernünftiges  Verhältnis  zwischen  festgelegten  und 
flüssigen  Mitteln,  vor  allem  auch  zwischen  den  Aktiv-  und  den 
Passivschulden.  Ausführlich  wird  erörtert,  warum  sich  der  Klein- 
händler besser  steht,  wenn  er  seinen  Bedarf  beim  Großhändler  deckt. 
Sehr  wichtig  ist  natürlich  auch  eine  richtige  Verkaufspolitik.  Aus 
mancherlei  Gründen  kann  es  z.  B.  klug  sein,  sogar  unter  dem 
Selbstkostenpreise  zu  verkaufen,  wie  denn  überhaupt  der  Satz  gilt,, 
„qu'il  y  a  plus  d'esprit  ä  savoir  perdre  qu'ä  gagner"  ').  Beim 
Kreditieren  soll  der  Detaillist,  wie  umständlich  der  Reihe  nach  aus- 
geführt und  erläutert  wird, 

1.  auf  die  Kreditfähigkeit  der  Käufer  achten, 

2.  besonders  Standespersonen  ihre  Rechnung  mindestens  all- 
jährlich bezahlen  lassen  und  ihnen  nötigenfalls  nichts  mehr  liefern 
(er  soll  sie  auch  nicht  als  Kunden  behalten,  für  die  die  minder- 
wertigen Waren  noch  gerade  gut  genug  sind),  er  soll  ferner 

3.  sich  nicht  von  solchen  Leuten  weiteren  Kredit  abschmeicheln 
oder  abdrohen  lassen, 

4.  den  Kreditnehmer  nicht  überteuern, 

5.  nicht  aus  Furcht  vor  Verleumdungen   kreditieren  (s.  Nr.  3),. 

6.  unbekannten  abholenden  Boten  einen  Ausweis  abverlangen 
und  das  Abgeholte  sogleich  verbuchen, 

7.  abends  mit  den  Angestellten  zusammen  das  Tagebuch  kon- 
trollieren, und  schließlich  soll  er  noch 


1)  Es  bezeugt  den  Mut  des  Verfassers,  so  offen  für  richtig  zu  halten,  was 
anderen  damals  als  eitel  Schlejderei  gegolten  hätte.  Seine  tiefe  wirtschaftliche  Ein- 
sicht bekundet  er  allein  schon  mit  dem  von  ihm  geführten  Nachweis,  daß  der  Ein- 
kauf beim  Großhändler  statt  beim  Fabrikanten  häufig  günstiger  ist  —  eine  solche 
Ansicht  lief  der  damals  herrschenden  merkantilistischen  Anschauung  von  den  Vor- 
teilen des  direkten  Bezuges  schnurstracks  entgegen. 


—     17     — 

8.  das  Anmahnen  regelmäßig  betreiben  und  sich  ein  Verfall- 
buch anlegen,  um  die  ausstehenden  Beträge  besser  überblicken  zu 
können. 

Ferner  wird  dem  Kaufmann  eine  Reihe  von  Grundsätzen  für 
das  Mahnen,  die  Auswahl  der  zum  Anmahnen  ausgesandten  Ange- 
stellten usw.  mitgeteilt,  und  zwar  immer  unter  den  Gesichtspunkten 
des  Nutzens  bei  ihrer  Befolgung  und  des  zu  erwartenden  Schadens 
bei  Nichtbefolgung.  Die  letzten  Kapitel  dieses  Abschnittes  (38,  39) 
behandeln  die  von  der  neuen  französischen  Handelsgesetzgebung 
geforderten  Inventare  und  Bilanzen;  die  folgenden  (40,  41)  sprechen 
dann  über  die  Vereinigungen  zu  offenen  Handelsgesellschaften, 
Kommanditgesellschaften  und  Gelegenheitsgesellschaften  und  leiten 
zur  Erörterung  des  vornehmeren  Großhandels  hinüber,  indem  sie  des 
Langen  und  Breiten  auf  jede  Einzelheit  der  entsprechenden  Gesell- 
schaftsverträge eingehen. 

Der  Großhandel  ist  nach  Savary  darum  am  besten  Sache 
einer  Gesellschaft,  weil  er  sich  vor  einer  Aufgabe  sieht,  die  nur 
eine  Vereinigung  am  Erfolg  beteiligter  Personen  und  Kapitalien  gut 
zu  erledigen  vermag.  Ein  harmonisches  Zusammenarbeiten  der 
Gesellschaften  ist  natürlich  notwendig,  und  seiner  Erzielung  gelten 
viele  wohlgemeinte  und  erprobte  Ratschläge  des  Verfassers.  Sehr 
wichtig  ist  die  Arbeit  dessen,  der  die  Kasse  verwaltet,  denn  in 
seinen  Händen  ruht  die  gesamte  Kapitaldisposition  und  die  eigent- 
liche Geschäftsführung.  Er  muß  dafür  sorgen,  daß  jederzeit  ge- 
nügend Geld  zur  Bezahlung  der  fälligen  Passivschulden  vorhanden 
ist,  indem  er  nicht  nur  den  Umlauf  der  Betriebsmittel  überwacht, 
sondern  auch  auf  die  allgemeinen  Verhältnisse  in  Handel  und  Ge- 
werbe achtet,  also  auf  das,  was  wir  heute  die  Konjunktur  nennen. 

Im  Einkauf  ist  der  Großhändler  wegen  seiner  Kapitalkraft, 
größeren  Übersicht  usw.  dem  Kleinhändler  gegenüber  im  Vorteil. 
Er  kann  den  (von  manchen  Merkantilisten  wie  ein  Dogma  verehrten) 
Satz  vom  Kauf  aus  der  ersten  Hand  am  ersten  verwirklichen  und 
z.  B.  die  Stoffe  direkt  vom  Weber  kaufen  oder  gar  im  eigenen 
Verlag  herstellen  lassen.  Für  den  Einkauf  bei  den  Herstellern  gibt 
und  begründet  Savary  die  folgenden  zehn  Grundsätze: 

1.  Kaufe  bei  steigenden  Preisen,  aber  richte  dich  auch  vor- 
sichtig nach  den  Ursachen  des  Aufschiagens, 

2.  tue  nicht  so,  als  habest  du  keinen  Bedarf  oder  gar,  als  sei 
die  Ware  nicht  preiswert,  wenn  du  damit  bloß  den  Preis  drücken 
möchtest, 

3.  kaufe  nicht  bei  fallenden  Preisen, 

Zeitschrift  für  die  ges.  Staatswissensch.     Ergänzungsheft  49.  2 


—     18     - 

4.  beachte  den  Kundenkreis,  für  den  du  einkaufst, 

5.  überlege,  ob  du  nicht  besser  nach  Gewicht  als  nach  Ellen 
kaufen  würdest  (Seide!); 

6.  in  Zeiten  geringeren  Absatzes  kaufst  du  am  vorteilhaftesten, 
ganz  besonders  bei  kleinen  Herstellern,  die  Geld  gebrauchen, 

7.  eingekaufte  Waren  mußt  du  Ljlcich  nachmessen,  entdeckte 
Mängel  gleich  rügen ; 

8.  die  Billigkeit  der  Ware  darf  dich  nicht  zu  übermäßigen  Ein- 
käufen verleiten, 

9.  darfst  du  dich  keinem  Einkaufskommissionär,  der  den  Her- 
stellern erst  den  Rohstoff  liefert,  anvertrauen,  wie  es  denn 

10.  überhaupt  besser  ist,  wenn  ein  Gesellschafter  den  Einkauf 
besorgt  und  ständig  an  dem  Orte  der  Manufaktur  weilt. 

Will  man  selber  eine  Manufaktur  einrichten,  so  soll  man  Ober- 
legen, ob  es  eine  ganz  neue  oder  eine  nur  nachgeahmte  in-  oder 
ausländische  ist.  In  letzterem  Falle  ist  noch  fünferlei  zu  beachten, 
nämlich 

1.  ob  die  vorhandenen  Rohstoffe  zur  Nachahmung  auch  taug- 
lich sind, 

2.  ob  die  sonstigen  Umstände  günstig  sind,  sich  z.  B.  das  vor- 
handene Wasser  zum  Färben  und  Walken  gut  eignet, 

3.  ob  die  Gesamtkosten  (die  mit  von  den  Lebensmittelpreisen 
des  betreffenden  Ortes  abhängen !)  bei  den  üblichen  Verkaufspreisen 
noch  einen  entsprechenden  Nutzen  lassen;  es  soll  ferner 

4.  der  Verleger  erst  eine  genügende  Menge  von  Ausfallmustern 
herstellen,   statt  gleich  an  seine  Massenproduktion  zu  denken,    und 

5.  soll  er  sich  nach  geübten  Arbeitern  umsehen  und  solche 
nötigenfalls  aus  dem  Auslande  heranziehen. 

Für  den  eigentlichen  Betrieb  gelten  folgende  Maximen,  die  in 
dem  Satze:   „L'ordre  est  l'äme  d'une  manufacture"  wurzeln: 

1.  Man  lege  auf  den  Einkauf  der  Rohstoffe  das  größte  Gewicht 
und  führe  über  ihn  wie  über  alle  anderen  Vorgänge  genau  Buch, 
vermerke  auch,  welches  die  brauchbarsten  Materialien  in  der  Ver- 
arbeitung sind ; 

2.  man  lasse  es  niemals  an  Rohstoffen  mangeln  ; 

3.  suche  man  die  guten  und  die  nachlässigen  Arbeiter  heraus- 
zufinden, 

4.  eigne  man  sich  selber  eine   genaue  Kenntnis  der  Roh.stoffe 

und  ihrer  Eignung  an  (vgl.  1), 

5.  sondere  man  die  feinen  Sorten  von  den  gröberen  ab'), 

1)  Grundsatz  der  Handelswertsteigerung  durch  Sortierung! 


—     19     — 

6.  tue  man  dasselbe  wieder  bei  den  Garnen, 

7.  säubere  man  das  fertige  Gewebe, 

8.  lege  man  es  kunstgerecht   zusammen, 

9.  versehe  man  es  mit  den  nötigen  Schauzeichen,  und 

10.  suche  man  überall  den  Betrügereien  der  Arbeiter  (deren  es 
bei  Textilwaren  hauptsächlich  zehn  gibt)  vorzubeugen. 

Während  dieses  Kapitel  in  das  Gebiet  der  Technik  abschweift, 
ist  das  folgende  (47),  das  die  Verkaufsmaximen  usw.  der  Grossisten 
behandelt,  wieder  rein  handlungswissenschaftlich.  Das  natürliche 
Arbeitsgebiet  des  Großhändlers  ist  die  DetaiUistenkundschaft,  denn 
der  Detaillist  braucht  den  Kredit  des  Großhändlers,  während  er  bei 
■den  Herstellern  immer  bar  bezahlen  muß ;  er  findet  bei  ihm  auch 
die  bessere  Auswahl,  weil  eben  der  Grossist  für  alle  Hersteller  der 
beste  Abnehmer  ist,  und  schließlich  kann  auch  ein  Kleinhändler 
gar  nicht  die  nötigen  Einkaufsreisen  unternehmen,  sondern  sich 
höchstens  der  zweifelhaften  Hilfe  der  Kommissionäre  bedienen, 
wenn  er  an  der  Quelle  kaufen  will.  Der  Grossist  soll  vor  allem 
die  Kreditwürdigkeit  seiner  Abnehmer  richtig  beurteilen,  indem  er 
■darauf  achtet,  ob  sie  ehrlich  sind,  ihr  Geschäft  verstehen,  sparsam 
haushalten  und  nicht  selber  unvorsichtig  kreditieren.  Der  Groß- 
händler soll  aber  auch  nicht  zuviel  auf  eine  Karte  setzen  und  be- 
sonders nicht  auf  eine  Unterstützung  seines  Kunden  durch  Freunde 
und  Verwandte  rechnen;  zahlt  der  Kunde  nicht,  so  muß  man  ihm 
allerdings  auch  nicht  gleich  das  Messer  an  die  Kehle  setzen  oder 
ihn  gar  bewuchern.  Nicht  einmal  Pfandwucher  soll  man  treiben, 
wenngleich  Entgegennahme  von  Faustpfändern,  auf  deren  Güte 
jedoch  wohl  zu  achten  ist,  erlaubt  ist.  Natürlich  soll  auch  der 
Grossist,  wie  das  schon  früher  dem  Detaillisten  geraten  wurde,  ver- 
altete Waren  rechtzeitig  abstoßen  und  lieber  ein  wenig  am  Preise  als 
viel  an  Zinsen  verlieren.  Aber  an  Private  soll  er  niemals  verkaufen, 
weil  er  sonst  seine  übrige  Kundschaft  leicht  verliert. 

Ein  Kaufmann,  der  die  Messen  und  Märkte  mit  Waren  besuchen 
will,  muß  sich  auf  seine  Angestellten  und  Angehörigen,  die  ihn  in- 
zwischen zu  Hause  vertreten  sollen,  verlassen  können.  Er  muß  wissen, 
ivelche  Waren  am  Meßorte  lohnenden  Absatz  finden,  und  besonders 
muß  er  nicht  solche  dorthin  schaffen,  die  in  jener  Gegend  selber 
schon  hergestellt  werden.  Meßbesuchern  vom  platten  Lande  muß 
man  höhere  Preise  berechnen,  weil  sie  gewöhnlich  viel  längeres 
-Ziel  beanspruchen.  Ein  ordentliches  Verzeichnis  der  mitgebrachten 
Waren  und  eine  gehörige  Anschreibung  aller  Geschäftsvorfälle 
i\ährend   der  Messe    sind   sehr   nötig.     Zu   dieser  Ordnung   gehört 

2* 


—     20     — 

auch,  daß  man  sich  von  denen,  die  später  zahlen  wollen,  Wechsel 
und  dergleichen  Urkunden  unterzeichnen  läßt;  die  Zahlungen  er- 
folgen dann  meistens  zur  nächsten  Messe,  so  daß  jemand,  der  den 
Meßbesuch  einmal  angefangen  hat,  ihn  nicht  leicht  wieder  aufgeben 
kann.  Erfolgt  zur  nächsten  Messe,  zu  der  man  übrigens  häufig 
mit  Glück  eine  Ware  führen  kann,  die  vorigesmal  keinen  Absatz 
finden  konnte,  keine  Zahlung,  so  muß  man  natürlich  auch  noch 
das  Meßgericht  usw.,  mit  dem  man  zu  tun  haben  wird,  kennen. 

Wie  der  Meßhandel  unbequem  ist,  so  ist  der  unmittelbare  Ver- 
sand verlustreich;  besonders  der  kommissionsweise  Verkauf,  auf  den 
der  Verkäufer  dann  häufig  angewiesen  ist,  ist  eine  Quelle  großer 
Verluste;  „.  .  .  .  qui  fait  faire  ses  affaires  par  commission,  va  ä 
l'höpital  en  personne".  Die  besonderen  Maximen  des  Versand- 
grossisten sind : 

1.  Die  erhaltenen  Aufträge  sind  peinlich  genau  auszuführen; 

2.  die  Ausführungsanzeige  hat  die  Mengen,  Preise  usw.  genau 
mitzuteilen ; 

3.  alle  nötigen  Notizen  in  den  Papieren  der  Fuhrleute  und  in 
den  Geschäftsbüchern,  dazu  die  Ausfertigungen  der  Zollpapiere^ 
haben  sorgfältig  zu  geschehen; 

4.  fällige  Zahlungen  sind  einzufordern,  und  zwar  am  besten 
immer  mündlich,  da  auf  Briefe  doch  kein  Mensch  zurückkommt  (1) ; 

5.  endlich  soll  man  sich  mit  den  einschlägigen  Gerichtsver- 
fahren usw.  vertraut  machen. 

In  den  nun  folgenden  Kapiteln  48 — 55  bietet  Savary  eine  Art 
Handelskunde  (Welthandelslehre;  unter  dem  Gesichtspunkte  des 
französischen  Außenhandels.  Er  bespricht  jedoch  das  Ausland  nur, 
soweit  er  selber  dessen  Beziehungen  zu  Frankreich  kennt,  wie  er 
denn  überhaupt  bemüht  ist,  nur  das  zu  sagen,  was  seine  eigene  Er- 
fahrung ausmacht ',).  Handlungswissenschaftlich  wertvoller  sind  die 
weiteren  Kapitel  56 — 61  von  den  Kommissionären,  Spediteuren, 
Agenten  und  Maklern. 

Die  Kommissionäre  müssen  in  den  \'erträgen  mit  ihren  Kom- 
mittenten 

1.  die  Höhe  der  Provision  nach  Art  und  Güte  der  Waren  be- 
stimmen, 

2.  die  Übernahme  des  Delkredere  und  die  Delkredereprovision 
festsetzen, 

3.  sich  über  die  Zahlungszeiten  für  die  abzuliefernden  Gelder^ 


i)  In  der  Vorrede  als  Grundsatz  ausgesprochen. 


—     21     — 

4.  über  die  Art  der  Zahlungen, 

5.  über  die  Höhe  der  abzugsfähigen  Unkosten  und 

6.  über  die  Höhe  der  Verzugs-  und  Verrechnüngszinsen  einigen. 
Bei  den  \'erkäufen,  die  er  besorgt,  hat  der  Kommissionär  sich 

nach  folgenden  Grundsätzen  zu  richten: 

1.  soll  er  in  allem  Tun  und  Lassen  auf  den  Vorteil  seines 
Konnnittenten  bedacht  sein,  insbesondere 

2.  auch  dann  nur  zahlungsfähige  Abnehmer  aufsuchen,  wenn 
er  kein  Delkredere  übernommen  hat, 

3.  soll  er  die  limitierten  Preise  einhalten, 

4.  den  Käufern  keine  ungewöhnlichen  Abzüge  bewilligen, 

5.  die  Außenstände  so  eifrig  wie  für  sich  eintreiben, 

6.  dem  Kommittenten  von  allen  Zahlungen  gleich  Nachricht 
geben,  statt  ohne  dessen  Wissen  einen  Zinsgenuß  von  den  Geldern 
zu  haben, 

7.  bei  Wechselzahlungen  nur  gute  Papiere  einsenden  und  am 
Agio  zu  sparen  suchen ; 

8.  soll  er  die  Tratten  des  Kommittenten  honorieren,  aber  dabei 
doch  auch 

9.  bei  bloßen  Ehrenakzeptationen  und  Ehrenzahlungen  recht 
vorsichtig  sein.     Ferner  muß  er 

10.  den  Kommittenten  über  die  Marktlage  usw.  der  Kommissions- 
waren auf  dem  Laufenden  halten,  aber  uneigennützig  und  nicht 
etwa,  um  jenen  um  der  Provision  willen  zu  weiteren  Konsignationen 
zu  veranlassen;   er  soll  weiterhin 

11.  über  alle  Vorfälle  gehörig  Buch  führen  und  endlich 

12.  der  Ordnung  wegen  mindestens  alljährlich  mit  seinem  Auf- 
traggeber abrechnen. 

So  ähnlich  sind  auch  die  Ausführungen  bei  den  Einkaufs- 
kommissionären, den  Wechselagenten,  den  Spediteuren  und  Lager- 
haltern und  allerhand  Maklern  gehalten.  Immer  wird  ihnen  gezeigt, 
wie  sie  sich  einen  einmaligen  Gewinn  und  wie  sie  sich  dauernde 
Auftraggeber  sichern  können. 

In  den  Schlußkapiteln  des  Buches  (62—67)  behandelt  Savary 
noch  die  gerichtlichen  und  außergerichtlichen  Konkurse  nach  ihrer 
Erledigung  durch  den  Schuldner  wie  durch  die  Gläubiger.  Er  zeigt 
hier  eine  für  jene  Zeit  wohl  ungewöhnlich  humane  Auffassung  über 
das  Verfahren  gegenüber  redlichen  Gemeinschuldnern  und  über  die 
Behandlung  des  Frauengutes. 

Wie  aus  dieser  Inhaltsangabe  wohl  hervorgeht,  ist  Savary  aller- 
<lings  noch  nicht  zu  einer  systematischen  Handelsbetriebslehre  durch- 


—     22     — 

gedrungen,  wohl  aber  kommt  er  ihrer  systematischen  Kunstlehre 
schon  nahe.  Die  ideale  Kopie  des  praktischen  Werdeganges  eines 
Kaufmannes')  führt  Savary  wenigstens  äußerlich  zu  einer  Art  natür- 
lichen Systems  in  der  stofflichen  Anordnung,  die  den  Selbstuntcr- 
richtszwecken  des  Buches  entgegenkommt,  indem  sie  im  allgemeinen 
ein  zwangloses  Fortschreiten  vom  Leichten  zum  Schweren  gestattet; 
Wiederholungen  und  Auslassungen  werden  außerdem  bei  diesem 
kaleidoskopartigen  Nacheinander  fast  gänzlich  vermieden.  Wenn 
nun  auch  mit  dieser  Stoffverteilung  kein  nach  sachlichen  Gesichts- 
punkten organisch  aufgebautes  System  gewonnen  wurde,  so  war 
es  doch  w^enigstens  eines,  das  in  diesem  Falle  keiner  besonderen 
systematologischen  und  methodologischen  Begründung  bedurfte. 

Gegenüber  dem  „Negotiante"  des  Peri,  den  Savary  gewilJ 
gekannt,  wenngleich  nirgends  geradezu  nachgeahmt  hat,  bedeutet 
„Le  parfait  negocianf'  sachlich  und  systematisch  einen  großen  Fort- 
schritt. Letzteres  ist  aus  der  Entstehungsgeschichte  beider  heraus 
zu  erklären.  Sachliche  Erweiterungen  gegenüber  Peri  bilden  der 
Verlag  und  das  Ladengeschäft,  von  denen  aber  besonders  der 
Ladenhandel  von  den  späteren  Schriftstellern  wieder  sehr  vernach- 
lässigt wurde.  In  der  Herausarbeitung  erwerbspolitischer  Grund- 
sätze und  Erfahrungsregeln  ist  Savary  meisterhaft.  Sie  gründen 
sich  auf  seine  feine  analytische  Beobachtung  der  einzelnen  Geschäfts- 
vorgänge, und  sie  sind  häufig  echt  französisch  pointiert,  wie  sich 
denn  überhaupt  die  lebensfrische,  anschauliche  und  ungekünstelte 
Darstellungsweise  des  Verfassers  vorteilhaft  von  der  vieler  Späterer 
abhebt.  Savary s  Regeln  und  Winke  sind  größtenteils  auch  heute 
noch  gültig,  ja  man  darf  ruhig  sagen,  daß  wir  seinem  Buche,  was 
die  praktische  Brauchbarkeit  anbetrifft,  heute  noch  keine  neuere 
handelswissenschaftliche  Kunstlehre  als  gleichwertig  zur  Seite  stellen 
können.  Sein  Einfluß  auf  die  Literatur  des  18.  Jahrhunderts  ist 
denn  auch  ganz  bedeutend. 

Sämtliche  Kapitel  des  „Parfait  negociant",  auch  die  rein  handels- 
technischen und  handelskundlichen  Inhaltes,  sind  eine  Antwort  auf 
die  immer  wieder  modifizierte  Grundfrage:  „Wie  kann  auf  eine 
redliche  Weise  dauernd  der  größte  Gewinn  erzielt  werden?"  und 
auf  die  den  Unterton  dazu  bildende  volkswirtschafts-politische  Frage: 
„Wie  kann  durch  eine  Erziehung  des  Einzelnen  zu  einem  guten 
Wirtschafter  und  Staatsbürger  eine  Gesundung  der  darniederliegen- 
den  gesamten  Wirtschaft   herbeigeführt   werden  ?"     Die   praktische 


1)   Durch  tinhaltung  der  Stufenfolge  Lehrling  —  Gehilfe  —  Kaufmann. 


—     23     — 

Aufklärung  und  Belehrung,  die  wirtschaftliche  Erziehung  des  Ein- 
zelnen ist  ja  überhaupt  ein  recht  wesentlicher  Zug,  wenn  auch  ein 
oft  übersehener,  im  Bilde  des  Merkantilismus :  besonders  der  Handels- 
mann, der  alleinige  Unternehmer  und  der  Vollstrecker  aller  handels- 
bilanzpolitischen Pläne,  mußte  in  diesem  Sinne  zu  einem  tüchtigen 
Wirtschafter  und  zu  einem  einsichtsvollen  Staatsbürger  erzogen 
werden.  Leider  war  die  allgemeine  wirtschaftliche  Erkenntnis  noch 
nicht  tief  genug,  als  daß  mit  dauerndem  Erfolge  eine  Erwerbswirt- 
schaftslehre des  Handels  versucht  werden  konnte. 

Es  mag  an  dieser  Stelle  noch  bemerkt  werden,  daß  Savarys 
Ausführungen  mit  zu  den  reichsten  Fundgruben  der  allgemein-  wie 
der  privatwirtschaftsgeschichtlichen  Forschungen  gehören,  eine  der 
Fundgruben,  deren  die  handelswissenschaftliche  Literatur  so  viele  bis- 
her fast  ganz  unbeachtete  bietet.  Das  gleiche  gilt  auch  von  dem  be- 
rühmten „Dictionnaire  universel"  der  Söhne  Savarys,  von  dem 
noch  im  Zusammenhange  mit  den  deutschen  Lexika  die  Rede  sein 
wird.  Möglicherweise  ist  dieses  „Dictionnaire  universel"  schon  von 
unserem  Jacques  Savary  geplant  oder  gar  in  Angriff  genommen 
worden;    er  starb  aber   1690  darüber  hinweg. 


D.  Die  deutsche  Fachliteratur  bis  zum  ausgehenden 
17.  Jahrhundert. 

Wie  in  Italien,  so  besteht  auch  in  Deutschland  die  älteste  ge- 
druckte kaufmännische  Literatur  fast  ganz  aus  Rechen-  und  Buch- 
haltungsarbtiten  *).  Das  erste  unserer  kaufmännischen  Rechen- 
vverkchen  kam,  soweit  bisher  bekannt  ist,  1482  in  Druck;  es  stammt 
von  dem  Nürnberger  Rechenmeister^)  Ulrich  Wag[ne'r.  'Die 
älteste  deutsche  Abhandlung  über  die  Buchhaltung  verließ  dagegen 
erst  1523  zu  Erfurt  die  Presse;  sie  ist  ein  Anhang  des  „Rechen- 
büchlein 3),  künstlich,  behend  vnd  gewiß,  auff  alle  kauffmanschafft" 
von  Henricus  Grammateus  (Heinrich  Schreiber)  und  ist  be- 


1)  Vgl.  oben  Peris  Urteil  über  den  Umfang  der  ital.  Rechenliteratur. 

2)  Über  die  Nebeneigenschaft  der  Schreib-  und  Rechenmeister  als  Handels- 
lebrer,  Handlungsgehilfen,  Stuhlschreiber  usw.  habe  ich  in  m.  Aufs.  „Der  Kfm.  und 
sein  Fachunterricht  bis  zum  18.  Jahrfa."  Z.  f.  Handelswiss.  u.  Handelspraxis  VI, 
Nr.  6,  Näheres  ausgeführt,  über  ihre  Zünfte  in  »Die  Zünfte  der  Schreib-  und 
Rechenmeister"  ebenda  VI,  Nr.  10.  Eine  kleine  Literaturgeschichte  des  kfm. 
Rechnens  findet  sich  bei  B.  Penndorf,  Methodik  des  kfm.  R.,  Leipzig  und  Berlin  191Ü 
Beiträge  dazu  von  demselben  in  der  Dt.  Handelsschul-Lehrer-Ztg.   V,  Nr.  1  ff. 

3)  Vgl.  Fußnote   l   auf  S.  10. 


—     24     — 

titelt  „Buchhaltcn  durch  das  Zornal,  Kaps  ';  und  Schuldtbuch,  auff 
alle  Kauffinannschafft". 

Am  Ende  des  15.  Jahrhunderts  sind  auch  die  ersten  „Forinel- 
bücher"  gedruckt  worden.  Es  sind  das  Beispielsanimlungen  zur 
Abfassung  von  allerhand  Verträgen,  Sendschreiben,  Schuldbriefen, 
Geleitsbricfcn,  Rent-  und  Gültkäufen  usw.,  die  in  den  Ämtern  und 
Rechtskanzleien,  von  den  Stuhlschreibern  (=  öffentlichen  Schreibern) 
und  anderen  gebraucht  sein  mögen.  So  umfangreich  sie  meistens 
sind,  so  enthalten  sie  dennoch  so  gut  wie  gar  keine  kaufmännischen 
Schriftstücke.  Ich  möchte  sie  daher  nicht,  auch  wenn  sie  zuweilen 
Anweisungen  über  die  sach-,  stil-  und  formgerechte  Abfassung  von 
Schriftstücken  enthalten,  mit  Penndorf-)  als  kaufmännische  Korre- 
spondenzwerke bezeichnen.  Ihre  X'erfasser  waren  außerdem  meistens 
Juristen ,  doch  soll  das  älteste  unserer  gedruckten  Formelbücher 
(von  1477j  einen  Schulmeister  namens  Hu  eher  zum  Verfasser 
haben.  Vielleicht  war  er  ein  Stuhlschreiber,  der,  wie  es  damals 
sehr  häufig  war,  nebenbei  oder  hauptsächlich  im  Schreiben,  Rech- 
nen usw.  unterrichtete. 

Die  uns  nur  handschriftlich  überlieferten  Vorläufer  der  ersten 
gedruckten  Rechenbücher,  Buchhaltungen  und  Formelbücher  können 
hier  ganz  übergangen  werden.  So  viel  bemerkenswerter  sind  dafür 
die  ersten  ungedruckten  handelskundlichen  Arbeiten  für  uns,  die 
etwa  mit  denen  des  Pegolotti  und  Uzzano  in  Italien  auf  einer 
Stufe  stehen.  Ich  habe  nach  langem  Suchen  ein  paar  in  der  Bib- 
liotheca  Augusta  zu  Wolfenbüttel  gejunden. 

Die  älteste  dieser  Handschriften  (Aug.  18.  4.  4")  ist  von  1511. 
Sie  besteht  in  einem  in  Leder  und  Holz  gebundenen  Buche  von 
292  Quartblättern  mit  21  meist  ganzseitigen,  mit  Wasserfarben  ohne 
besondere  Kunstfertigkeit  ausgeführten  Bildern,  die  regelmäßig  einem 
größeren  Kapitel  voranstehen.  Der  Verfasser  ist  unbekannt.  In 
Frage  kommt  ein  Augsburger  Kaufmann  oder  Handlungsdiener 
(Faktor),  der  im  Handel  zwischen  Augsburg  und  \'enedig  (auch 
Nürnberg,  Frankfurt  und  Antorf)  reiche  Erfahrung  hatte.  Da  sich 
die  Darlegungen  des  Unbekannten  auf  diese  Orte  beschränken,  so 
dürften  weder  Jakob  Fugger  noch  sein  belcannter  Faktor 
Matheus   Schwarz    die   Verfasser    sein,    eher    schon    aus    noch 


1)  Lies:  Journal  =  Tagebuch  oder  Memorial,  und  für  Kaps  Hauptbuch  (von  caput). 
Näheres  bei  Penndorf,  Geschichte  der  Buchhaltung  in  Deutschland,  Leipzig  1913; 
bei  Kheil,  Jäger  usw. 

2)  Penndorf,  Die  kaufm.  Korrespondenz  als  Unterricbtsgegenstand  in  MA. 
Dt.  H.  L.  Z.  V,  Nr.  41,  42. 


—     25     — 

anzuführenden  Gründen  ein  älterer  Verwandter  des  Nürnbergers 
Lorenz  Meder,  der  1558  ein  Buch  ähnhchen  Inhaltes  drucken 
ließ.  Genaueres  kann  wohl  nur  eine  spätere  Schriftvergleichung 
feststellen. 

Trotzdem  die  vorliegende  Fassung  der  Handschrift  darauf  hin- 
deutet, daß  ihr  Verfasser  an  einen  größeren  Leserkreis,  also  wohl 
an  ihre  Drucklegung  gedacht  hat '),  spricht  doch  alles  auch  dafür, 
<laß  die  ihr  zugrunde  liegenden  Aufzeichnungen  zunächst  zum 
Nutzen  des  eigenen  Betriebes  gemacht  worden  sind.  Die  spätere 
Zusammenstellung  zu  einem  gemeinnützigen  Buche  ist  glücklicher- 
weise einer  sehr  zweckmäßigen  systematischen  Einteilung  zugute 
gekommen,  so  daß  das  Werk  trotz  seines  hervorragend  praktischen 
Zweckes  auch  auf  einer  für  diese  Zeit  überraschenden  wissenschaft- 
lichen Höhe  steht  —  man  sollte  meinen,  daß  es  irgend  ein  be- 
sonderes (italienisches  oder  deutsches)  Vorbild  gehabt  hätte,  das  es 
nachgeahmt  und  vielleicht  sogar  übertroffen  hat.  Vielleicht  gelingt 
es  weiteren  Nachforschungen,  derartige  noch  ältere  Handschriften 
zutage  zu  fördern. 

Das  Buch  beginnt  nach  einem  Titelbild,  das  drei  Kaufleute  auf 
dem  Rialto  zu  Venedig  zeigt,  so: 

,.In  dem  namen  Jesus  xpi  und  der  Hoch  geloptten  junckfraw 
maria  vnd  aller  heillige  fach  ich  ann  diz  piechlin  zu  schreiben  das 
da  ausweyset  von  der  kauffmanschafft  daß  da  einem  jettlichenn 
kauffman  nüzlich  vnnd  gut  zu  wissen  ist  der  von  augspurg  oder 
nürnberg  handttdiern  wollt  genn  Venedig  vnd  gen  franckfürtt  das 
er  sich  In  seinem  handel  mit  alle  Dingen  wiß  zu  bewarn  vnd  vil 
Sachen  damitt  das  er  dester  minder  betrogen  werde." 

Der  Autor  will  besonders  die  Kaufleute  unterrichten,  die  noch 
nicht  in  Venedig  waren  und, mit  der  Praxis  im  Deutschenhaus  nicht 
vertraut  sind;  im  Offizio  pflege  man  ihnen  gern  mehr  anzurechnen, 
als  sie  an  Zöllen,  Maklergebühr  usw.  schuldig  seien.  Den  im 
Rechnen  wenig  Bewanderten  sollen  außerdem  die  zahlreichen  Aus- 
und  Umrechnungen  („tariffa")  dienen,  die  dem  Texte  eingefügt  sind. 
Allerdings,  um  das  gleich  hier  zu  bemerken,  ist  der  Verfasser  mit 
ihrer  Fertigstellung  nicht  ganz  zu  Ende  gekommen;  nur  hier  und 
da  hat  er  später  noch  ein  paar  Ausrechnungen  an  den  leer  ge- 
lassenen Stellen  nachgetragen  und  ein  paar  in  blanco  belassene 
Notizen  noch  ausgefüllt.  Die  Hauptsache  für  uns,  den  Text,  hat 
er  jedoch  noch  vollendet,  bevor  ihm  dringendere  Geschäfte,  Krank- 

1)  Geschehen  ist  nichts  Derartiges. 


—     26     — 

heit  oder   gar   der  Tod  die   Feder  aus   der   Hand   nahmen   und   ihn 
scheinbar  auch  die  Drucklegung  wirklic  h  zu  veranlassen  verhinderten. 

Abgesehen  von  den  Tarifen  ist  der  Inhalt  fast  ganz  handels- 
kundlich.  Im  besonderen  ist  er  eine  privatwirtschaftliche  inter- 
nationale Handelskunde  und  somit  ein  früher  Vorläufer  von 
Hellauers  „Welthandelslehre",  im  weiteren  Sinne  auch  der  Hand- 
lungswissenschaft und  der  späteren  Handelsbetriebslehre.  Schon 
das  erste  Kapitel  ')  bezeugt  das ;    seine  Überschrift  beginnt  so : 

„Ein  gutte  Regell  vnnd  Lere  .  .  .  (für  den  Kaufmann  in  Venedig) 
wie  er  sich  haltten  soll  vnd  In  ettlichen  Dingen  zu  fragen  von  denn 
leffen  vnd  was  die  Schiffung  pringt  und  wann  Si  hinweg  fartt  auch 
wan  Si  herwider  kömptt." 

Danach  soll  sich  der  Kaufmann  rechtzeitig  um  alle  Nachrichten, 
die  für  die  Marktlage  (leffe  =  Läufe,  d.  h.  Konjunkturen  und  auch 
Kurse)  wichtig  sind,  bekümmern ;  er  soll  fortwährend  beobachten 
und  erkunden,  was  die  Schiffe  mitbringen  an  Waren  und  Nach- 
richten, welche  Kaufleute  kommen  und  aufbrechen,  und  mit  was  für 
Waren  sie  das  tun,  welche  Preise  gezahlt  werden,  wie  die  W'echsel 
auf  die  Hauptplätze  Frankfurt,  Brügge,  Genf  usw.  bewertet  werden, 
ja  schon  in  Deutschland  soll  er  aufpassen,  ob  von  England  viel 
Tuche  nach  Frankfurt  kommen  und  von  Polen  viel  Rauchwaren 
nach  Nürnberg.  Er  wird  zu  dem  Ende  genauer  darüber  belehrt, 
welche  Flotten  nach  Venedig  kommen  und  von  dort  abfahren, 
welche  Waren  und  Nachrichten  sie  in  der  Regel  haben  usw. ;  auch 
von  den  Waren  der  Plätze  Frankfurt,  Js^ürnberg  und  Augsburg  und 
ihren  Marktzeiten  ist  kurz  die  Rede. 

Die  folgenden  KapiteP)  handeln  von  Münzen,  Maßen,  Gewichten 
und  Zählmaßen,  vom  Agio,  von  Kursen  und  Umrechnungswerten 
(mit  zahlreichen  Tarifen)  und  von  den  Waren,  die  an  den  einzelnen 
Plätzen  nach  ihnen  gemessen  und  gehandelt  werden.  Von  der 
Venediger  Bankowährung  wird  nur  kurz  gesprochen.  Bei  den 
Flüssigkeitsmaßen  erfolgt  auch  eine  Anweisung  zum  Visieren  (Aus- 
messen und  Berechnen  der  Faßinhalte).  Diese  Kapitel  sind  zugleich 
eine  recht  ausführliche  Warenkunde  anscheinend  aller  Artikel,  die 
in  Venedig,  aber  auch  an  den  süddeutschen  Plätzen  gehandelt  wurden. 

1)  Voranstehendes  Bild;   zwei  Kaufleute  im  Gespräch  vor  einem   Schiffe. 

2)  Mit    folgenden  Bildern :    bei    einem    Geldwechsler    (auf    dessen    Tisch    das 

?       .        . 
Zeichen    /\  );  in  einem  lucbladen;  beim  Messen  von  Getreide;    eine  Flüssigkeit 

probierende  und  ein  Faß  visierende  Leute;  Umfüllen  einer  Flüssigkeit;  zwei  Frauen  (!;- 
als  Käuferin   und  Verkäuferin  in  einem   Laden;  Kaufszene  in  einem  Gewürzladen. 


—     27     — 

Ein  besonderes  Kapitel  spricht  von  der  Münzmark  ^)  und  dabei 
u.  a.  auch  von  den  Arten  der  Gold-  und  Silberprobe,  wobei  eine 
Anweisung,  Scheidewasser  zu  machen,  nicht  vergessen  wird.  Sehr 
lehrreich  ist  das  Kapitel  von  den  Waren,  die  nach  Stück,  Dutzend, 
Faß,  Fardel,  Ballen  usw.  gehandelt  werden-),  wie  denn  überhaupt 
das  ganze  Buch  die  schönsten  Einblicke  in  den  damaligen  süd- 
deutsch-venetianischen  Handel  gewährt. 

Die  folgenden  Kapitel  handeln  von  dem  (amtlichen)  Probe- 
nehmen und  Taramachen  der  Gewürznelken,  vom  Wieger-,  Ballen- 
binder-, Träger-,  Makler-  und  vom  Schreiberlohn  in  Venedig-').  Die 
Nelkenprobe  und  Nelkentara  ist  besonders  ausführlich  beschrieben: 
man  deckte  über  einen  Haufen  der  Ware  einen  Mantel  und  griff 
dann  unter  ihm  eine  Probe  heraus,  die  in  ein  Stück  Papier  ein- 
gebunden wurde  und  dem  Käufer  blieb.  Die  Kosten  des  Probe- 
nehmens (16  /?)  sollten  beide  Parteien  zu  gleichen  Teilen  tragen, 
da  aber  der  Verkäufer  gewöhnlich  nicht  mit  anwesend  war,  so 
mußte  der  Käufer  die  ganze  Gebühr  auslegen,  während  der  andere 
sich  um  die  Wiedererstattung  seines  Anteils  herumzudrücken 
suchte  usw. 

Übrigens  waren  manche  Gebühren  sogleich  zu  bezahlen,  andere 
aber  erst  bei  der  Abreise  nach  Maßgabe  der  Abrechnungen,  die 
im  „Offizio"  für  den  Kaufmann  aufgestellt  wurden.  Nach  dem 
Werte  der  Warenrechnungen  wurde  der  Schreiberlohn  gezahlt. 
Für  das  Nachprüfen  einer  Rechnung  zahlte  man  eine  feste  Gebühr  von 
4  /?,  für  das  Schreiben  eines  Briefes,  das  den  Kaufleuten  oft  schwere 
Not  gemacht  hätte,   12  ß. 

Dem  Venediger  Zolltarif  (mit  Ausrechnungstafeln  in  Banko- 
währung)  folgen  sodann  die  Zölle  von  Augsburg,  Nürnberg  und 
Frankfurt,  hauptsächlich  aber  eine  Unterweisung  „von  dem  Condra 
pannda  zu  machenn",  was  besonders  bei  Ausfuhr  von  Seide  aus 
Venedig  beliebt  war.  Dies  ist  das  einzige  Kapitel  des  Buches,  mit 
dessen   sittlicher  Auffassung   man  nicht  einverstanden  sein  kann^j. 


1)  Bild:   vor  einer  Münzerei. 

2)  Bild:   Rauchwarenhandelsszene,  in  der  Felle  gezählt  werden. 

3)  Bilder:  Aussieben  einer  Waie;  Leute  an  einer  gr.  Balkenvvage;  Ballen- 
binder bei  der  Arbeit;  Träger  unterwegs;  ein  Makler,  zwischen  zwei  Kaufleuten 
stehend,  führt  deren  Hände  zusammen;  zwei  versch.  Darstellungen  aus  Schreib- 
stuben, wohl  im   Deutschenhaus  und  Officio. 

4)  Nachträglich  finde  ich  noch  in  den  „Verbandsblättern"  des  Verb.  D,  Hdlgsgeh. 
28.  Jhg.  Nr.  14  eine  der  Frankf.  Ztg.  entnommene  Mitteilung  über  eine  Handschrift: 
„Allerhand  Hantirungen  für  junge  Laite,  so  sich  der  Kramerei  und  Handels  be- 
fleißigen  ihun  bei  Kauff,  Verkauf  und  Tausch  bei  Hause  und  Jarmarkf.    Vcrteutscht 


—     28     — 

l"in  weiteres  Kapitel  handelt  von  den  noch  nicht  j,a-nannten 
Unkosten  für  das  Messen,  Bleichen,  Färben,  Beschauen  usw.,  so- 
<.lann  ein  fols^^endes  ')  von  dein  Frachtlohn  für  die  Beförderung  auf 
Wagen,  Saumtieren  und,  soweit  in('»glich,  zu  Schiff;  auch  die 
Zölle  usw.  für  die  Etappen  des  Bozener  und  des  Mailänder  Weges 
werden  angeführt.  Schließlich  spricht  noch  ein  Kapitel  von  den 
Zehrungskosten,  die  heim  Aufenthalt  im  Deutschenhaus  zu  Venedig 
entstehen,  und  von  den  Mietpreisen  einer  Kammer  dort'^). 

Die  weiteren  Ausführungen  des  Buches  müssen  als  ein  Anhang 
betrachtet  werden.  Zunächst  kommen  etwa  15  Blatt  Ausrechnungs- 
tafeln für  Warenpreise,  dann  eine  kurze  Anweisung  zum  kauf- 
männischen Rechnen  3),  ein  paar  Schuldbrief-,  Quittungs-,  Fracht- 
brief- und  Zolldeklarationsbeispiele  und  das  Muster  eines  Briefes, 
der  eine  Warensendung  anzeigt  und  um  Weiterbeförderung  nach 
Verauslagung  der  Fracht  bittet  (es  sind  das  die  ältesten  unserer 
wirklich  kaufmännischen  Briefanweisungen,  die  ich  kenne).  Zu- 
letzt erfolgt  noch  eine  kleine  Anweisung,  wie  man  für  sich  oder  als 
rechnungspflichtiger  Handlungsdiener  oder  Gesellschafter  seine  Ab- 
rechnung machen  soll  —  damit  nichts  vergessen  Wird ,  werden 
noch  einmal  alle  Unkostenarten  verzeichnet  —  eine  eigentliche 
Buchhaltungsunterweisung  ist  dies  letzte  Stück  jedoch  nicht. 

Von  der  Nelkenprobe  und -tara  dieses  Buches  von  1511  habe 
ich  eine  Abschrift  vom  Jahre  1528,  lose  in  einer  weiteren  Quart- 
aus dea  wahrhaftigen  Chronika  seit  die  Welt  stehet  biß  auf  diß  Jar,  so  man  zält 
146S  nach  Christo."  Sie  enthält  fast  nur  Anweisungen  zu  unredlichen  Handgriffen, 
zum  Umschmeicheln  der  Kunden  usw.  Mir  sind  „Betriebs"lehren  dieser  Richtung 
sonst  nicht  vorgekommen. 

1)  Bild  :  ein  Fuhrmann  mit  Wagen  unterwegs.  —  Zwischen  diesem  und  den 
zuletzt  genannten  Schreibstubenbildern  befindet  sich  eins,  auf  dem  jemand  von  einer 
Frau  vor  einer  Krambude  ein  Band  kauft;  daneben  schlägt  ein  anderer  ein  Faß  zu, 
Vielleicht  soll  der  Einkauf  eines  Geschenkes  dargestellt  sein;  zu  dem  Text  des  Buches 
finde  ich  das  Bild  in   keiner  Beziehung. 

2)  Bild  :  Ein  mit  einem  Packpferde  ankommender  Kaufmann  kehrt  in  einer 
Herberge  (im  Deutschenhaus?)  ein  und  gibt  einem  vor   ihr  Sitzenden  ein  Almosen. 

3)  Zur  Geschichte  des  kfm.  Rechnens  finden  sich  in  Wolfenbüttei  eine  ganze 
Anzahl  Handschriften.  Meistens  sind  es  freilich  bloße  Preisaus-  und  Umrech- 
nungen, also  ,,Tarife".  Die  älteste  Wolfenbütteler  Anweisung  zum  kfm.  Rechnen, 
eine  Art  Lehrbuch  des  Linienrechnens,  habe  ich  in  einem  Sammelband  16.  1.  Astr.  4" 
gefunden  („Wiltu  nach  icklicher  künst  meistlichen  lernen  vberschlaen  vnde  rechen 
durch  eyn  behendes  vnd  subtiles  legen  So  mach  zu  dem  ersln  lingen  uff  eyne 
disch  .  .  .").  Die  Handschrift  ist  von  einem  Unbekannten  wohl  um  1450  verfaßt 
(eine  andere  dieses  Bandes  ist  von  14S6) ;  besonders  bemerkenswert  ist,  daß  sie 
bereits  nach  den  Spezies  die  Regeldetri,  Gesellschaftsrechnung,  verschiedene  Waren- 
rechnungen usw.  erläutert.     Auch  die   Bruchrechnung   ist  darin  enthalten. 


—     29     — 

Handschrift  (Aug.  13.  4.  4*^)  der  Wolfenbütteler  Sammlung  liegend 
gefunden.  Weiter  lag  diesem  Bande  eine  kleine  Anzahl  kurzer 
Notizen  von  Handelsgebräuchen  bei,  die  ein  Augsburger  von  1561 
bis  1569  aufgezeichnet  hat;  u.  a.  verzeichnet  er  die  Manier  einer 
Preisauszeichnung  mit  Buchstaben,  bei  der  die  Ziffern  1 — 5  durch 
die  Buchstaben  i — n  und  die  von  6 — 0  durch  b — f  ersetzt  werden. 
Diese  Einlagen,  sowie  der  Band,  in  dem  sie  liegen,  und  ferner  das 
oben  beschriebene  Manuskript  von  1511  sind  von  verschiedenen 
Händen.  Wie  die  betreffenden  Schreiber  miteinander  in  Beziehung 
zu  bringen  sind,  darüber  läßt  sich  natürlich  auf  Grund  der  wenigen 
vorhandenen  Anhalte  nichts  weiter  sagen.  Die  Handschrift  Aug.  13.  4. 
4^  selber  ist  kaum  von  Aug.  18.  4.  4**  beeinflußt  worden,  es  müßte 
denn,  was  aber  wenig  wahrscheinlich  ist,  in  ihren  „Tarifen"  eine 
Fortsetzung  der  dort  begonnenen  erblickt  werden. 

Ms.  Aug.  13.  4.  40  ist  1530  begonnen,  in  seinen  letzten  Blättern 
aber  erst  1537  vollendet  worden.  In  seinem  ungenannten  Verfasser 
kann  wiederum  nur  ein  Augsburger  Kaufmann  vermutet  werden. 
Die  meisten  Blätter  enthalten  nichts  als  „Tarife"  über  den  Verkehr 
zwischen  Augsburg  und  Venedig.  Der  Titel  (beginnend :  „1530  Item 
so  ist  zu  wissen  dise  vorgeschriben  Tariffa  .  .  .")  erklärt  den  Ge- 
brauch der  Tafeln.  Diese  enthalten  nämlich  förmliche  Preisparitäten^ 
die  durch  Addition  bestimmter  Unkostensätze  zu  den  umgerechneten 
fremden  Preisen  gefunden  sind.  Wie  weit  man  in  der  Kalkulation 
bereits  voran  war,  darauf  deutet  das  letzte  Blatt  hin,  auf  dem  eine 
Sendung  englischer  Wolle  von  Calais  über  Antwerpen  bis  Venedig 
berechnet  wird;  leider  sind  die  Transportkosten  Antwerpen — Venedig 
in  einem  Posten  angegeben,  so  daß  diese  Berechnung  nicht  ganz 
so  lehrreich  ist,  wie  sie  sein  könnte. 

Dies  letzte  Blatt  beschließt  eine  Art  Anhang  der  Tarife,  in  dem 
fast  nur  von  dem  Einkauf  englischer  Wolle  in  Calais  und  ein  wenig 
vom  Pfefferkauf  in  Lissabon  die  Rede  ist.  Daß  die  ganzen  Auf- 
zeichnungen nur  für  den  Hausgebrauch  des  Schreibers  bestimmt 
waren,  darauf  deutet  der  Anfang  des  Anhanges  hin,  wo  es  heißt: 
,, Memoria.  Zu  Callis  ist  unser  Wirt  vom  Stapel  Thomas  de  wain  .  .  ." 
Hier  wird  u.  a.  geschildert,  zu  welcher  Mithilfe  dieser  Wirt  beim 
Wolleinkauf  verpflichtet  war.  Für  die  Bestimmung  der  Wollsorten 
hat  der  unbekannte  Verfasser  ein  eigenartiges,  kreisförmiges  Schema 
mit  eingelegtem  hohlarmigen  Kreuz  gezeichnet  und  dann  in  die 
Zwischenräume  die  Sortenmerkmale  geschrieben.  Ich  weiß  nicht, 
ob  die  Benutzung  dieses  Schemas  sein  besonderer  oder  ein  allge- 
meiner Gebrauch  war. 


—     30     — 

Diese  1  land-seliiift  hängt  alxr  nur  durch  ihre  etwas  ältere  erste 
Einlage  von  1528  merklich  mit  unserm  Buche  von  1511  zusammen, 
und  ferner  enthält  sie  nur  wenige  Schhiüseiten  mit  erzählenden 
Ausführungen.  Anders  ist  das  mit  einer  weiteren  Wolfenhütteier 
Handschrift  (20.  Aug.  Fol.),  die  das  Original  oder  noch  wahrschein- 
licher die  Abschrift  einer  nach  1537  entstandenen  Zusammenstellung 
handelskundlicher  Aufzeichnungen  ist;  sie  geht  offenbar  auf  die 
Handschrift  von  1511  zurück  und  enthält  schon  darum  eine  ähn- 
liche Handelskunde  wie  jene.  AufJer  ihr  befinden  sich  in  dem  ge- 
nannten Foliobande  eine  Anzahl  medizinischer,  chemischer  u.  ä. 
Handschriften,  so  daß  man  wolil  mit  Recht  vermuten  darf,  daß 
sein  früherer  Besitzer  (Erhard  Leser  oder  Lesser)  ein  Apotheker 
gewesen  sei^). 

Andererseits  ist  die  für  uns  in  Frage  kommende  Handschrift 
ohne  Zweifel  das  Original  oder  die  Abschrift  eines  ersten  Manu- 
skriptes zu  dem  1558  gedruckten  ,, Handel  Buch"  von  Lorenz 
Med  er,  Nürnljerg.  Um  eigenhändige  Aufzeichnungen  Meders 
dürfte  es  sich  wohl  nicht  handeln,  denn  die  in  Wolfenbüttel  befind- 
lichen sind  eigentlich  eine  Doublette  von  der  nämlichen  Hand,  nur 
daß  das  zweite  Stück  bloß  bis  zu  Blatt  10  abgeschrieben  oder  mit 
dem  Rest  verloren  gegangen  ist,  während  das  erste  4ö  Blätter  um- 
faßt. Demnach  dürfte  also  eine  bloße  Schreiberarbeit  (d.  h.  Abschriften 
von  Meders  Manuskript)  vorliegen,  denn  Meder  selbst  wird  sich 
wohl  kaum  der  Mühe  einer  doppelten  wörtlichen  Abschrift  unter- 
zogen haben  2). 

Wenn  ich  vorhin  sagte,  diese  Handschrift  ließe  sich  auf  die 
von  1511  zurückführen,  so  gilt  das  nur  für  die  allgemeine  Anregung 
und  für  die  mehr  oder  weniger  unveränderte  Übernahme  einzelner 
Kapitel,  wie  die  oben  beschriebene  Nelkenprobe  und  Nelkentarierung. 
Manche  Kapitel  der  älteren  Handschrift  fehlen  in  der  jüngeren  und 


1)  Nachträglich  finde  ich  einen  Robert  Leser  1502/04  als  einen  der  Venediger 
Vorsteher  der  Deutschen  genannt  bei  G.  M.  Thomas,  G.  B.  Milesios  Beschreibg. 
des  Deutschen  Hauses  in  Venedig  (.'Xbh.  d.  k.  bayer.  Ak.  d.  Wiss.  I.  Cl.  XVI,  11). 
Dadurch  werden  die  Vermutungen  über  den  Verfasser  der  hier  besprochenen  Hand- 
schriften auf  eine  deutlichere  Spur  gelenkt.  • 

2)  Solcherlei  Abschriften  scheinen  nicht  ungewöhnlich  gewesen  zu  sein.  Veit 
Konrad  Schwarz,  Sohn  des  bekannten  Fuggerfaktors  Matthäus  Schwarz,  hat,  auf 
dem  Fuggerkontor  beschäftigt,  schon  mit  13  Jahren  solche  Abschriften  machen 
müssen.  Darüber  sagt  er  in  seinem  „Trachtenbuch "  (Besitz  des  Herzogl.  Museums 
zu  Braunschweig):  „.  .  .  unter  andern  mußt  ich  den  Fuggern  .  .  .  etliche  Tariphe 
und  buchhahen  (Buchhaltungsanweisungen?  wohl  eher  eingesandte  Abrechnungen 
usw.  der  auswärtigen  Faktoren)  abschreiben." 


—     31     — 

in  dem  „Handel  Buch"  völlig  und  wieder  andere  sind  nur  in  den 
letzteren  Arbeiten  vorhanden,  also  Meders  eigenes  Werk..  Ein 
Hauptunterschied  liegt  in  der  Gliederung:  in  der  älteren  Arbeit  ist 
alles  nach  sachlichen  Gesichtspunkten  geordnet,  während  in  den 
jüngeren  die  geographische  Einteilung  nach  Ländern  oder  Handels- 
plätzen gewählt  ist.  Der  Unterschied  ergibt  sich  daraus,  daß  dort 
fast  nur  vom  Handel  mit  Venedig  die  Rede  ist,  während  bei  Med  er 
fast  alle  damals  wichtigen  Handelsbeziehungen  Süddeutschlands  be- 
rücksichtigt sind.  —  Alles  in  allem  ist  die  Vermutung  nicht  zu  ge- 
wagt, daß  die  Handschrift  von  1511  Meders  Vater,  der  auch  im 
X'orworte  des  ,, Handel  Buch"  erwähnt  wird,  gehört  hat,  und  daß 
Lorenz  Meders  Aufzeichnungen  zunächst  nur  den  älteren  archi- 
valischen  Familienbesitz  mit  Nachträgen  und  Zusätzen  ergänzen 
sollten.  Da  die  ältere  Schrift  von  1511  offenbar  von  Augsburg 
stammt,  während  Meder  Nürnberger  ist,  kann  als  ihr  Verfasser 
auch  ein  Augsburger  Teilhaber  einer  früheren  Mederschen  Gesell- 
schaft in  Frage  kommen,  wenn  die  Meder  nicht  vorher  in  Augs- 
burg ansässig  gewesen  sein  sollten. 

Die  Handschrift  (Meders?)  von  1530  hat  folgenden  Titel '):  »In 
Namen  Der  Hailigen  Vntailbaren  drifeltigkeit  amen  u.  Hernach 
Voigt  ain  schön  Cöstlich  vnnd  Nutzbariich  Puch  Merla)-  Landen 
vnd  Stet  gebrauch  der  Kauffmanschafft  so  ainem  Jedlichen  Kauff- 
man  nützlich  vnnd  gut  auch  von  nötten  zu  wissen."  Da  von  einem 
^Buch"  die  Rede  ist,  das  „jedem  Kaufmann"  nützen  könne,  so  darf 
ich,  wie  bei  der  Handschrift  von  1511  schon,  wiederum  vermuten, 
daß  die  hier  vorliegende  Zusammenschrift  der  sonst  wohl  verstreuten 
Notizen  im  Hinblick  auf  eine  beabsichtigte  Veröffentlichung  geschah. 
Allerdings  ist  dann  bis  zur  Drucklegung  des  „Handel  Buch"  noch- 
mals eine  Umarbeitung  erfolgt. 

Der  Text  beginnt  mit  Ausführungen  über  Metalleinkäufe  zu 
Hall  im  Inntal  nebst  Angabe  der  Unkosten  für  die  Verkäufe  in 
Augsburg,  Frankfurt,  Antwerpen,  Wien,  Venedig,  Mailand,  Genua 
und  Lissabon.  Darauf  folgt  der  Hauptteil  der  Arbeit,  nämlich  „viel 
schöne  Gebräuche  von  allerhand  Kaufmannschaft  der  Stadt  Venedig". 
Diese  Erläuterungen  sind  eine  Bearbeitung  und  Ergänzung  mancher 
Teile  der  Handschrift  von  1511;  der  Text  ist  hier  knapper,  aber 
nicht  immer  klarer.  Die  vielen  Rechentafeln  und  -tabellen  sind 
hierin  ausgelassen.  Dafür  sind  u.  a.  eine  Anzahl  guter  Ratschläge 
für  junge  Kaufleute  hinzugekommen;   so  sollen  sie  sich  über  Kredit- 

1)  In  den  ersten  Worten  rot  ausgemalt,  was  bei  der  weiteren  zehnblättrigen 
Abschrift  nicht  geschehen  ist. 


—     32     — 

nehmer  genau  (.rkundigcn,  sollen  besonders  den  Angotelllcn  im 
Deutschenhaus  nichts  leihen  usw.  Bemerkenswertes  bietet  dann  nur 
noch  die  Aufstellung  von  Prcispaiitäten  zwischen  Venedig  einerseits 
und  Augsburg,  Nürnberg,  Frankfurt,  Kctln,  Ulm  und  Antwerpen 
andererseits,  wobei  alle  Unkosten  eingeschlossen  sind.  Auch  deutsche 
und  englische  Waren  werden  bis  Venedig  berechnet. 

Nach  den  Gebräuchen  der  Mandel-,  Oel-  und  Saffranmärkte 
(hier  Berechnungen  für  Versendung  bis  Posen  und  Danzig)  folgen 
sodann  diejenigen  der  spanischen  und  portugiesischen  „Handlung"' 
(hier  u.  a.  „von  wexlen  vnd  Segurantz  in  Seuilla"  und  „wie  einer 
eine  Pertita  um  Spezerei  mit  dem  König  von  Portugal  machen 
soll"),  der  englischen  Handlung  (dabei  „ein  kleiner  Bescheid  des 
Weges  und  Gebrauchs  von  Antorf ')  nach  England  zu  reisen")  und 
der  Antorfer  Handlung.  Die  dann  noch  folgenden  Kapitel  mit  den 
Gebräuchen  von  Augsburg,  Nürnberg,  Bozen,  Bologna,  Como,  Florenz, 
Genua,  Mailand  und  Rom  sind  viel  weniger  umfangreich,  was  wohl 
nicht  allein  auf  die  geringere  Handelsbedeutung  dieser  Plätze  zurück- 
geführt werden  kann. 

Vergleichen  wir  mit  dieser  Handschrift  das  „Handel  Buch"  von 
Lorenz  Med  er,  Nürnberg  1558,  112  Seiten  Folio.  Sein  voller 
Titel  heißt:  „Handel  Buch  Darin  angezeigt  Wird,  welcher  gestalt 
inn  den  fürnembsten  Hcndelstetten  Europc,  allerley  Wahren  an- 
fencklich  kaufft,  dieselbig  wider  mit  nutz  verkaufft,  Wie  die  Wechsel 
gemacht,  Pfund,  Ellen,  und  Müntz  vberall  verglichen,  vnd  zu  welche 
zeit  die  Merkte  gewönlich  gehalten  .werden.  Sampt  anderen  mehr 
nutzungen  darzu  gehörig.  Allen  Hanthierern  vnd  Jungen  Kauff- 
leuten  gantz  nützlich  vnd  dienstlich.  Mit  einem  Register."  In  der 
Vorrede  heißt  es  u.  a.,  daß  Meder  auf  häufigen  Wunsch  von 
Gönnern  und  Freunden  zur  Veröffentlichung  seiner  Notizen  schreite. 
Daß  die  Bekanntgabe  dieser  „verborgenen  Künste,  so  bisher  noch 
nie  an  den  Tag  gekommen  und  von  niemand  bis  auf  diese  Stunde 
klärlich  durch  den  Druck  an  den  Tag  gegeben  worden"  seien,  ihm 
den  Vorwurf  des  Verrates  kaufmännischer  Geheimnisse  eintragen 
werden,  will  er  sich  nicht  weiter  kümmern  lassen,  weil  er  der  All- 
gemeinheit zu  nützen  hofft,  ja,  die  ängstliche  Geheimhalterei  für 
schädlich  hält.  Heute  würde  man  übrigens  in  den  Med  ersehen 
Mitteilungen  keine  Geheimnisse  erblicken,  während  es  damals  bei 
den  schlechteren  Verkehrsmöglichkeiten  welche*  gewesen  sein 
mögen. 


1)  Ältere  Bezeichnung  für  Antwerpen. 


—  sa- 
uber den  Inhalt  ist  wenig  mehr  zu  sagen,  als  daß  er  bis  auf 
unerhebliche  Umstellungen,  unwesentliche  Zusätze  und  ausführ- 
lichere, deutlichere  Fassung  mancher  Textstellen  mit  dem  Wolfen- 
bütteler  Ms.  20  Aug.  Fol.  von  1537  übereinstimmt.  Außer  einigen 
dort  noch  nicht  genannten  Handelsplätzen  sind  besonders  die 
Wechselgebräuche  hinzugekommen;  ein  „Bescheid,  wie  man  Vor- 
teile in  allerlei  Wechselsachen  suchen  soll",  gibt  uns  sogar  einen 
m.  W.  ersten  Einblick  in  die  damalige  Arbitrage.  Auf  den  letzten 
Blättern  sind  die  verschiedenen  Ellenmaße  durch  Linien  von  ver- 
hältnismäßiger Länge  mit  einander  verglichen  —  ein  Beweis,  wie 
sehr  das  Buch  für  den  Handgebrauch  im  Kontor  gedacht  war.  In- 
wiefern es  den  Bedürfnissen  seiner  Zeit  genügt  hat,  läßt  sich 
höchstens  vermuten.  Ich  habe  je  ein  Exemplar  davon  im  Ger- 
manischen Museum  zu  Nürnberg,  in  der  Leipziger  Stadtbibliothek 
und  in  der  Hamburger  Commerzbibliothek  gefunden.  Wolfenbüttel 
hat  zwei  Exemplare;  einem  davon  und  dem  in  Nürnberg  ist  noch 
ein  „Vndterricht  eins  gantzen  Handelbuchs",  Frankfurt/M.  1559, 
Folio,  angehängt,  der  nur  die  Buchhaltung  umfaßt;  den  Verfasser 
kennt  man  nicht.     Ob  Med  er  selber  in  Frage  kommt? 

Daß  Notizen  dieser  oder  ähnlicher  Art,  daß  besonders  aber 
bloße  „Tarife"  ohne  Text  damals,  wie  in  Italien,  so  auch  bei  uns 
regelmäßig  für  den  Hausgebrauch  aufgezeichnet  wurden,  erhellt 
aus  einer  ganzen  Reihe  weiterer  Manuskripte  der  Wolfenbütteler 
Bibliothek.  Ein  „tariff  von  dem  silber"  der  Wiener  Mark  ist  von 
1547  (65.  1.  Ms.,  80).  Eine  „Intrada"  betitelte  sehr  schöne  Hand- 
schrift (86.  1.,  Fol.)  enthält  Tafeln  aller  Venediger  Abgaben  und 
Unkosten  für  Mengen  von  1 — 1000  Ctr. ;  sie  dürfte  aber  nicht  vor 
Ende  des  16.  Jahrhunderts  angefertigt  sein.  Eine  „Buchführer 
Taxa^),  das  ist  Verzeichnis  aller  Bücher  so  in  den  2  Frankfurter 
und  3  Leipziger  Messen  verkäuflich  gefunden  werden  ....  Samt 
zu  Ende  kurz  angehängter  Papierrechnung,  beneben  Vermeldung: 
wie  ein  Buchhandel  ordentlich  und  richtig  anzustellen  sei,  also  daß 
sich  auch  dessen  Unerfahrene  leichtlich  darein  schicken  mögen. 
Mit  Fleiß  aus  vielen  Textbüchern  und  eigener  Erfahrung  zusammen  .  .  . 
gebracht  ..  .  1581  durch  Martin  Hecht,  Heringensen"  ist  leider 
nicht  einmal  in  ihrem  ersten  Teil  vollendet  worden  (Ms.  1117 
Heimst.). 

Dem  Augsburger  Philipp  Hainhofe r,  der  als  Faktor  des 
Herzogs    August     (Begründers     der    Wolfenbütteler    Sammlungen) 


1)  Das  Titelblatt  dieser  sauberen  Handschrift  ist  farbig  ausgemalt, 
Zeitschrift  für  die  ges.  Staatswissensch.    Ergänzungsheft  49.  3 


—     34     — 

seinem  Auftraggeber  wohl  auch  die  ineisten  der  bisher  genannten 
Handschriften  erworben  hat,  hat  sodann  ein  Ms.  23.  22.  Aug.  gehört^ 
das  „allerley  dubia  vnd  strittige  sachen,  so  sich  so  wol  in  wixlen 
als  kauffen  vnd  verkauffcn  der  wahren  begeben"  nach  den  von 
verschiedenen  Kaufleuten  (darunter  ein  Welser  und  der  Vater  Hain- 
hofers)  abgegebenen  Gutachten  verzeichnet ;  ferner  stehen  darin 
Notizen  über  die  Waren  und  die  Wechselkurse  zu  Frankfurt  1599- 
bis  1607,  weiter  der  Anfang  einer  1602  geschriebenen  Handels- 
kunde (das  vorliegende  Stück  betrifft  nur  kurz  ein  paar  italienische 
Plätze  und  schließt  mit  einem  italienischen  Wechseltraktat)  und  zu- 
letzt ein  Verzeichnis  der  größten  und  bekanntesten  Bankerotte,  die 
seit  1602  an  verschiedenen  Plätzen  vorgekommen  waren.  Zwischen 
den  einzelnen  Teilen  sind  noch  viele  leere  Blätter;  überhaupt  sind 
alle  Teile  so  unfertig,  daß  sie  uns  wenig  mehr  besagen,  als  daü^ 
man  auch  noch  im  17.  Jahrhundert  die  Aufzeichnung  solcher  Daten 
für  notwendig  hielt  und  daß  sie  hier  auch  auf  kaufmännische  Rechts- 
gutachten ausgedehnt  sind. 

Von  den  zahlreichen  Rechenbüchlein  in  Wolfenbüttel  sei  nur  noch 
Ms.  77.  Aug.  8^  (16.'  Jahrh.)  genannt,  das  auch  eine  Anweisung  zur 
Visierkunst  enthält.  Im  Germanischen  Museum  fand  ich  ebenfalls 
„Ein  Vnderricht  für  Einen  der  daß  Vissiern  Lernen  will"  i),  der  aber 
nach  den  angehängten  Bierbrauersatzungen  späteren  Datums  auch 
von  Anfang  an  im  Besitze  eines  Brauers  oder  im  Besitze  einer 
Brauerzunft  gewesen  sein  kann.  Weitere  Handschriften  habe  ich  nicht 
gefunden,  sollte  aber  meinen,  daß  sich  mit  der  Zeit  noch  mehr  ent- 
decken lassen. 

Nach  den  bisherigen  Anläufen  und  besonders  nach  der  \'er- 
öffentlichung  des  ..Handel  Buchs"  sollte  man  eine  allmählich  häu- 
figer werdendeHerausgabe  von  handelskundlichen  Schriften  erwarten. 
Aber  fast  das  ganze  17.  Jahrhundert  ist  für  die  Entwicklung  der 
Handlungswissenschaft  unfruchtbar  —  wohl  mit  eine  Folge  des  30- 
jährigen  Krieges.  Nürnberg  1645  erschien  von  G.  N.  Schurtz  ein 
Folioband  „Buchhalten",  in  dem  ein  Gedicht  eines  M.  Schirmer 
angeführt  wird,  das  „Erinnerungsregeln"  für  junge  Kaufleute  um- 
faßt. Hier  sind  einige:  „Dein  Gläubiger  gibt  acht  auf  dich,  ob  du 
dein  Haus  regierst  mit  Bedacht"  —  „Sortier  fein  ordentlich  die 
Waren  ins  Gesicht;  es  macht  dem  Käufer  Lust  und  bringt  dir 
Schaden  nicht"   —   „Wer  was  mit  neu  verkauft,  dem    trägt's  zwar 

1)  Folio;  wohl  Anfang  des  16.  Jahrhunderts  ;  eine  wunderhübsche  Handschrift 
mit  farbigem  Titel  und  einem  weiteren  farbigen  Bialte,  das  die  Tätigkeit  des  Vi- 
sierens   veranschaulicht. 


—     35     — 

wenig  bei,  doch  tut  er  besser,  als  der  was  behält  mit  Reu."  Viel- 
leicht sind  diese  Regeln  von  Schirm  er  selber  nur  gereimt  worden, 
jedenfalls  enthält  ein  fliegendes  Blatt  dieser  (oder  einer  etwas  spä- 
teren) Zeit ')  ihrer  44  ähnlichen  oder  gleichen  Inhalts  auch  un- 
gereimt. 

Nürnberg  1672  erschien  Schurtzens  „Buchhalter"  noch  ein- 
mal als  Anhang  zu  einem  dem  „Handel  Buch"  ähnlichen  Werke 
des  Genannten,  das  sich  „New  eingerichtete  Material  Kammer" 
nennt.  Ihren  Titel  „Material "-Kammer  verdankt  diese  Arbeit  ihrem 
hauptsächlich  waren-  und  usancekundlichen  Charakter.  Wenn  sie 
auch  an  Umfang  und  Bedeutung  dem  Med  ersehen  Buche  weit 
nachsteht,  so  berichtet  sie  doch  wenigstens  Tatsachen,  die  manchem 
Kaufmann  nützen  mochten;  ihren  Ursprung  mag  sie  ebenfalls  in 
für  den  eigenen  Gebrauch  gesammelten  Notizen  haben. 

Etwas  wertvoller  ist  für  uns  die  ,,Idea  Mercaturae  Darinnen, 
was  von  der  kauf  Leute  Commercienj  Credit  und  Glauben,  Falli- 
menten oder  Banckrotten,  W^exeln  und  dessen  Rechte,  Protesten, 
Parere,  Rescontreen,  Kaufmanns-Messen,  assecurationen,  Buchhalten 
und  bilanciren,  anzumercken  und  zu  behalten,  kurtz  jedoch  eigent- 
lich beschrieben  wird:  Jungen  und  annoch  ungeübte  Kaufleuten 
zum  nothwendigen  Unterricht  .  .  ,"  von  M.  Wagner,  anscheinend 
einem  Bremer  Buchhalter  und  Schulmeister.  Er  gab  das  Buch  zu 
Bremen  1661 -)  heraus  und  verteidigte  seine  Kühnheit  ähnlich  wie 
Med  er  und  noch  viele  Spätere  mit  dem  inständigen  Ersuchen  et- 
licher Lehrlinge  und  junger  Kaufleute. 

Die  Kapitelüberschriften  sind  bei  Wagner  in  Frageform  ge- 
kleidet. So  heißt  es  da  u.  a. :  Was  ist  der  kaufmännische  Kredit  und 
woher  ist  derselbe  entstanden  ?  Wodurch  verliert  ein  Kaufmann 
seinen  Kredit?  Was  ist  ein  Falliment?  Wodurch  wird  ein  Kauf- 
mann zu  einem  Falliment  oder  Bankrott  veranlaßt?  Wodurch  be- 
kommt ein  Bankrottierer  ein  freies  und  sicheres  Geleit?  Wie  kommt 
es,  daß  man  sich  manchmal  mit  20 — 30  "^/'o  begnügt?  usw.  usw. 
Es  folgen  einander  noch  Fragen  handeis-  und  wechselrechtlicher  Art, 
der  Meß-,  Markt-  und  Börsenskontration,  der  Versicherungen  und 
schließlich  noch  der  Buchhaltung.  Hier  urteilt  er  auch  sehr  ab- 
fällig   über   die   bisherige  Buchhaltungsliteratur,    die   statt    auf   das 


1)  Reproduziert  bei  G.  Steinhausen  ,  Der  Kaufmann  in  der  deutschen  Ver- 
gangenheit, S.  114.  Zuletzt  hatte  sie  J.  M.  Leuchs  in  seinem  ,.System  des  Handels" 
von  1S22  veröffentlicht  und  dabei  angegeben,  daß  ein  Nürnberger  Kunsthändler 
Johann  Hoffmann  ihr  Verfasser  sei. 

2)  78  Seitchen. 

3* 


—     36     — 

AVescntlichc  mehr  zu  achten,  sich  „allein  auf  praxin  gelegt".  Leider 
vermag  Wagner  selber  nichts  Besseres  zu  liefern,  und  überhaupt 
faf3t  das  ganze  Büchlein  nirgends  den  Stoff  herzhaft  genug  an,  um 
tiefer  in  ihn  einzudringen. 

Etwas  später,  1709,  machte  sodann  das  „Gevvürzschauamt"  zu 
Nürnberg  eine  ,, Instruction  oder  Unterweisung"  für  die  Gewürz- 
kramerlehrlinge  bekannt,  die  da  besagt  „Wie  sich  Jungen,  so  sich 
zu  dem  offenen  Spezere3'-riandel  begeben,  so  wol  in  ihrer  Herren 
Haus,  als  auch  in  den  Gewölben  und  Märckten  verhalten,  und  was 
sie  wehrender  ihrer  Lehr-Jahre  erlernen  sollen" ').  Als  bloß  auf 
den  Lehrling  bezogen ,  liegen  diese  Vorschriften  allerdings  etwas 
abseits  von  unserem  Wege;  im  Verein  mit  den  zuvor  genannten 
„Erinnerungsregeln"  beweisen  sie  aber  doch  auch  das  Vorhanden- 
sein von  Strömungen,  die  geschäftstheoretischen  Arbeits-  und  Wirt- 
schaftsregeln günstig  waren. 

Demgegenüber  bringt  der  „Deutsche  Helleuchtende  Kauff-  und 
Handels-Spiegel"  des  M.  J.  Schmal tz,  der  1677  zu  Altenburg 
erschien,  fast  nur  philosophische  und  allgemein-rechtliche  Betrach- 
tungen. Vom  eigentlich  Kaufmännischen  hat  der  Verfasser,  ,,Ka3'serl. 
Geh.  Hofpoet",  wohl  selber  keine  große  Ahnung  gehabt.  Immerhin 
versucht  er  einige  allgemeine  Grundsätze  für  das  Handeln  zu  finden. 
So  verlangt  er  vor  allem^  daß  der  Gelderwerb,  die  ,, causa  efficiens" 
des  Handels,  zum  Nutzen  der  Allgemeinheit  beitragen  müsse,  und 
daß  in  allen  Geschäften  die  ,, Ehrbarkeit"  und  die  ,, Nutzbarkeit" 
gleicherweise  zu  ihrem  Rechte  zu  kommen  hätten. 

Auch  „Das  Interesse  eines  Gewisscnhafften  Kauffmans",  aus  ver- 
schiedenen englischen  Büchern  zusammengetragen,  von  J.  D.  Kassel 
1674  in  120,  enthält  nichts  für  uns,  indem  es  lediglich  eine  christliche 
Morallehre  sein  will;  bemerkenswert  ist  nur  die  Gründlichkeit,  mit 
der  das  Büchlein  auf  die  einzelnen  praktischen  Fragen  eingeht. 
Später  sind  noch  mehr  solcher  Übertragungen  aus  dem  Englischen 
erschienen.  In  die  Gruppe  dieser  Bücher  gehört  auch  ein  noch 
älteres:  „Discurs  vnd  Rede  von  der  Edlen  vnd  in  der  gantzen  Welt 
berühmten  Mercanzy  vnd  Kauffmanschafft",  Hamburg  1642,  des 
Mathematikers  M.  G.  Schultz,  eine  Lobrede  des  Handels,  die  auf 
eine  Empfehlung  der  Mathematik  und  des  Rechnens  hinausläuft, 
welche  Kenntnisse  besonders  der  Buchhalter  haben  müsse. 

Sehen  wir  nun  zu,  was  uns  gegenüber  dem  ziemlich  unfrucht- 
baren 17.  Jahrhundert  das  folgende  gebracht  hat. 


1)  Ebenfalls  bei  Leuchs  a.  a.  O.  wiedergegeben. 


—     37     — 

E.    Paul  Jakob  Marperger  und  seine  Zeitgenossen. 

Noch  im  ganzen  17.  Jahrhundert  bestand  unter  den  einzelnen 
Schriften  der  deutschen  Fachliteratur  wenig  Zusammenhang,  und 
darum  ist  auch  bis  dahin  auf  keinem  ihrer  Einzelgebiete  ein  nennens- 
werter Fortschritt  festzustellen.  Am  ehesten  wäre  noch  das  kauf- 
männische Rechnen  als  in  langsamer  Entwickelung  begriffen  zu 
nennen  gewesen,  in  einer  Entwickelung,  die  u.  a.  an  einer  gewissen 
Pflege  der  welschen  Praktik,  der  Arbitrage  usw.  zu  erkennen  war*). 
Dagegen  kam  man  in  der  Buchführung  gar  nicht  recht  voran,  und 
Korrespondenzwerke  oder  Briefsteller  kaufmännischen  Inhalts  fehlten 
immer  noch 2),  Eine  Handelsgeschichte  ^)  gab  es  noch  nicht  einmal 
dem  Namen,  geschweige  denn  dem  Wesen  nach,  und  die  „Commerz- 
geographie" entstand  gerade  erst  in  einigen  Vorläufern,  die  hier 
übergangen  werden  können.  Die  kaufmännische  Rechts-  und  die 
Wechselkunde  steckte  noch  ganz  in  der  juristischen  Betrachtungs- 
weise ^).  Die  Handelskunde  und  die  Handlungswissenschaft  endlich 
hatten  erst  die  wenigen  Vorläufer  aufzuweisen,  von  denen  soeben 
die  Rede  war.  Mit  dem  beginnenden  18.  Jahrhundert  änderte  sich 
nun  dieses  Bild  vollständig,  indem  auf  all  den  genannten  Gebieten 
ein  etwas  regeres  Schaffen  einsetzte  oder  doch  nachhaltige  An- 
regungen dazu  erfolgten.  Es  geschah  das  hauptsächlich  durch  die 
einschlägigen  Veröffentlichungen  des  berühmten  Polyhistors  Paul 
Jakob  Marperger. 

Marperger  war  1656  zu  Nürnberg  geboren.  Schon  früh 
wurde  er  nach  Lyon  in  eine  kaufmännische  Lehre  getan  ^);  später 
war  er  in  Norddeutschland,  Schweden,  Rußland  und  Schlesien- 
Oesterreich  tätig.     Aus  dem  Kaufmann   wurde    allmählich   der  Ge- 


1)  Die  immer  zahlreicheren  Tabellenwerke  für  das  Rechnen  waren  meistens 
das  Ergebnis  der  Arbitragepraxis.  Bemerkenswert  erscheinen  mir  vor  allem 
J.  F.  Hoffmann,  Blüender  Wexels-Baum,  Frankfurt/M.  1666  (dann  1690  deutsch- 
französ.)  wegen  seiner  einleitenden  Anweisungen  zur  Arbitrage  und  von  den  spä- 
teren J.  Rademann,  Der  Stadt  Hamburg  stets  Blühender  Wexel-Baum,  Hamburg 
169S,  der  keine  Tabellen,   sondern  Musterberechnungen  enthält. 

2)  „Die  Geheime  Cassir-  und  Schreibstube",  16S8,  mag  ein  Buch  dieser  Art 
sein;  ich  kenne  von  ihm  nur  diesen  Titel. 

3)  Marpergers  Historischer  Kauffmann,  Lübeck  u.  Leipzig  1708,  war  wohl 
einer  der  ersten  Versuche. 

4)  So  die  auch  den  „Kauff-  und  Handels-Leuten"  gewidmete  Anleytung  zu 
gründlichem  Verstand  Deß  Wechsel-Rechts  von  J.  J.  Heydinger,  Frankfurt/M.  1676. 

5)  Vgl.  Einleitung  zu  Abschnitt  C.  —  Über  M.'s  Leben  und  Schriften  siehe 
G.  H.  Zincke  in  seinen  Leipz.  Sammlungen,  Bd.  II,  ferner  Allg.  Deutsche  Bio- 
graphie, Bd.  XX. 


—     38     — 

lehrte  und  Schriftsteller  Marperger,  der  erste  deutsche  Handels 
Wissenschaftler.  Nachdem  er  es  zu  der  Würde  eines  Mitgliedes  der 
Kgl.  Preußischen  Sozietät  der  Wissenschaften  gebracht  hatte,  wurde 
er  1712  als  Hof-  und  Kommerzienrat  nach  Dresden  berufen,  wo  er 
1730  starb.  Die  Kärglichkeit  seiner  Besoldung  sowohl  wie  auch 
die  Regsamkeit  seines  Geistes  trieben  ihn  zu  einer  immer  fieber- 
hafteren Tätigkeit  an.  Zahlreiche  X'eröffentlichungen  meist  kom- 
merziellen und  polizeilichen  Inhalts  und  zahlreiche  Eingaben  und 
Vorschläge  an  die  Behörden  zeugen  davon.  Sie  sind  ebenso  oft 
ganz  selbständiger  Art  als  zielsichere  Ausarbeitungen  und  Fort- 
setzungen von  Gedanken  anderer  über  die  Hebung  des  Handels, 
der  Gewerbe  und  der  öffentlichen  Wohlfahrt  überhaupt.  Leider 
geriet  Marperger  aber  auch  immer  mehr,  iiiehr  jedenfalls,  als  in 
der  Gewohnheit  seiner  Zeit  begründet  war,  in  eine  ermüdende  Ge- 
schwätzigkeit und  damit  in  eine  beklagenswerte  Oberflächlichkeit 
hinein  0-  Eine  große  Menge  seiner  Schriften  hat  er  im  Selbstverlag 
herausgeben  müssen,  und  häufig  sind  sie  ohne  Angabe  des  Jahres 
und  des  Druckortes  erschienen,  so  daß  schon  bald  nach  seinem 
Tode  manche  sehr  schwer  aufzutreiben  waren. 

Den  Reigen  seiner  auch  für  uns  bemerkenswerten  Arbeiten 
scheint  Marperger  mit  seinem  „Probirstein  der  Buchhalter  oder 
selbst  lehrende  Buchhalter-Schule'*,  Ratzeburg  1701  (2.  Aufl.  Lübeck  V) 
eröffnet  zu  haben,  ferner  mit  unserem  ältesten  kaufmännischen 
Korrespondenz  werke,  genannt  ,,Der  allzeit  fertige  Handelscorrespon- 
dent,  worinnen  die  gantze  Handelswissenschaft  mit  deroselben  Scrip- 
turen,  Briefen  und  Cautelen,  samt  allerhand  Arten  Rechnungs-For- 
mularen und  andern  Nothwendigkeiten  enthalten,  nach  dem  aller- 
neuesten  St}'!©  vornehmer  Kaufleute  eingerichtet."  Dies  Buch 
erschien  zuerst  wohl  Hamburg  1705  oder  1706,  in  den  nächsten 
Auflagen  vermehrt  um  einen  dritten  und  vierten  Teil  mit  dem  be- 
sonderen Titel  „Kluger  und  wohlgeübter  Kaufmanns-Secretarius", 
der  seinerseits  noch  1764  zu  Hamburg  in  fünfter  Auflage  erscheinen 
konnte.  Hierin  befinden  sich  außer  Ergänzungen  der  ersten  Teile  und 
Marp  ergers  bisheriger  Schriften  überhaupt  auch  Anmerkungen  und 
Belehrungen  über  Einzelfragen  des  Geschäftsbetriebes,  so  im  vierten 
Teile  sogar  Gedanken  über  Einkaufsgenossenschaften  der  Kaufleute. 
Wissenschaftlich  im  eigentlichen  Sinne  sind  übrigens  diese  und 
andere  Bücher  Marpergers  nicht,  auch  wenn  in  ihrem  Titel  von 
„Handelswissenschaft"    die    Rede    ist;    das    Etikett   ,, Wissenschaft" 

1)  W.  Röscher  in  seiner  Geschichte  der  National-Oekonomik  in  Deutschland 
urteilt  recht  hart  darüber. 


—     39     — 

diente  ihm  überall  nur  zur  Empfehlung  der  kaufmännischen  Wissens- 
gebiete oder  auch  als  bloßes  Synonym  für  „Wissensgebiet"  oder 
^, Wissen  und  Können". 

Der  große  und  berechtigte  Beifall,  den  die  genannten  Arbeiten 
fanden,  wurde  nun  von  Marperger  zu  Gelde  gemacht.  Schon 
-seine  ,, Neu -Eröffnete  Kauffmans- Börse,  worin  Eine  vollkommene 
Connoisance  aller  zu  der  Handlung  dienenden  Sachen  und  Merck- 
würdigkeiten,  auch  Curieusen  und  Reisenden  Anleitung  gegeben 
wird,  was  sie  davon  zu  ihrem  Vortheil  auff  Reisen  zu  bemercken*', 
Hamburg  1705,  enttäuscht  durch  die  Dürftigkeit  ihres  Inhalts.  Etwas 
hesser  ist  nur  das  3.  Kapitel  „Von  den  Maximen  und  Lehrsätzen, 
welche  Kaufleute,  die  ihren  Handel  und  Wandel  glücklich  treiben", 
•das  aber  auf  Savary  fußt.  ,,Le  parfait  negociant^'  hat  unserem 
Marperger  öfter  als  Grundlage  einzelner  Abschnitte  in  seinen 
Büchern  gedient;  wie  weit  er  im  allgemeinen  durch  jenes  Werk, 
das  er  vielleicht  schon  in  L3'on  kennen  gelernt  hat,  angeregt  worden 
ist,  läßt  sich  natürlich  nicht  mehr  feststellen.  Die  zweite  Auflage, 
die  die  ,,Kauffmans-Börse"  1707  fand,  kann,  abgesehen  von  der 
Zugkraft  des  Namens  Marperger,  nur  aus  der  Bescheidenheit  und 
dem  Lesehunger  seines  Leserkreises  erklärt  werden. 

Ein  paar  Beiträge  zur  Handelskunde  seiner  Zeit  lieferte  Mar- 
perger vor  allem  mit  seinem  ,,Moscowitischen  Kauffmann*',  Lübeck 
1705  und  1723,  seinem  ,, Schwedischen  Kauffmann",  Wismar  1706, 
und  seinem  ,,Schlesischen  Kauffmann",  Breslau  1714;  andere,  wohl 
ähnliche  Handelsbeschreibungen  einzelner  Länder  plante  er  für 
China  (I),  Italien,  England,  Frankreich,  Dänemark  und  Holland 0, 
-doch  scheinen  sie  nicht  herausgekommen  zu  sein.  Die  drei  wirk- 
lich gelieferten  stehen  auch  handelskundlich  nicht  sehr  hoch;  am 
besten  von  ihnen  ist  wohl  noch  der  „Schlesische  Kauffmann", 
während  in  dem  ,,Moscowitischen  Kauffmann"  nur  ein  von  Savary 
entlehntes  Kapitel  nennenswert  ist.  ,,Das  Neu  -  Eröffnete  Manu- 
facturen-Hauß",  Hamburg  1707,  die  ,, Ausführliche  Beschreibung  des 
Haar-  und  Feder-Handels",  Leipzig  1717,  eine  ,, Beschreibung  des 
Hanfes  und  Flachses"  und  auch  wohl  eine  nur  geplante  ,, Beschrei- 
bung des  Hornhandels"  bilden  eine  ebenfalls  hierher  gehörige 
Gruppe  von  gleichfalls  sehr  dürftigem  Inhalt.  Übersetzungen  und 
freie  Bearbeitungen  aus  dem  Savary,  nämlich  seiner  Pareres,  haben 
auch  in  dem  ,,Neu-eröffneten  Handelsgericht",  Hamburg  1708,  Auf- 
nahme  gefunden,    das    sonst  teils  handelspolitischen,  teils  handels- 

1)  Nach  seinen  eigeneu  Angaben  im  .Ersten  Hundert  Gelehrter  Kauffleute" 
<100  Lebensbeschreibungen),  Dresden  u.  Leipzig  o.  J.,  lt.  Zieger  a.  a.  O.  von  1717. 


—     40     — 

rechtskundlicheii  Inhaltes  i<t.  Seine  handelspraktischen  Kapitel 
stellen  es  in  eine  Reihe  mit  dem  „IVobirstein  der  Buchhalter"  und 
dem  „Handelscorrespondentcn".  Es  scheint,  als  wenn  Marper.i^er 
in  seinem  „Handels-Gericht"  zuerst  die  Errichtung  eines  Commerzien- 
Collegiums  befürwortet  hat,  einer  Art  Handelskammer  mit  weit- 
gehenden handclspolizeilichen  Befugnissen.  Nebst  anderen  seiner 
Lieblingsgedanken  empfiehlt  er  auch  diesen  immer  wieder  zur  Durch- 
führung. 

Von  Leipzig  1711  datiert  weiterhin  die  ,, Beschreibung  der 
Messen  und  Jahr-Märckte",  in  der  Marperger  Savarys  knapp  for- 
mulierte Ratschläge  für  einen  nutzbringenden  Meßbesuch  zu  drei 
langen  Kapiteln  (Nr.  7,  8  und  9)  ausspinnt,  in  denen  er  sagt,  was 
der  Kaufmann  vor,  während  und  nach  der  Messe  zu  tun  habe  ')• 
Während  sich,  um  ein  Beispiel  zu  nennen,  Savary  mit  der  bloßen 
Empfehlung  einer  Meßbuchführung  begnügt,  deren  Aufgabe  und 
Anlage  er  kurz  skizziert,  trägt  Marperger  gleich  das  völlig  durch- 
und  ausgeführte  Muster  einer  solchen  vor.  Ähnlich  verfährt  er  in 
dem  ,,\Vohl-unterwiesenen  Kauffmanns-Jung",  Nürnberg  1715  (eine 
Neuauflage  datiert  von  1738)  und  in  dem  ,, Getreuen  und  Geschickten 
Handels-Diener",  Nürnberg  und  Leipzig  1715,  der  Fortsetzung  des 
vorgenannten  Buches. 

Diese  beiden  Bücher  enthalten  so  ziemlich  alles,  was  sich  da- 
mals unter  ihrem  Titel  schreiben  ließ,  darunter  auch  die  Arbeits- 
lehren für  Lehrlinge  und  Gehilfen,  die  Savary  zu  seiner  Zeit  auf- 
gestellt hatte.  Nur  sind  sie  wiederum  nicht  einfach  übersetzt, 
sondern  frei  bearbeitet  und  ganz  erheblich  erweitert,  vor  allem  sind 
sie  auch  nach  der  moralischen  Seite  hin  weiter  ausgebaut.  Mar- 
perger fügt  diesen  Arbeits-  und  Morallehren  ferner  einen  Pflichten- 
kodex für  die  Prinzipale  und  für  die  Eltern  der  Lehrlinge  hinzu, 
damit  jede  der  Parteien  sich  vor  Schaden  hüte  und  durch  die 
Heranbildung  eines  tüchtigen  Nachwuchses  dazu  beitrage,  daß  der 
Handel  im  ganzen  blühe  und  gedeihe.  Auch  die  juristische  Stellung 
der  Lehrlinge  und  Gehilfen  wird  mit  zahlreichen  Hinweisen  auf  die 
einschlägige  Rechtsliteratur  erörtert,  so  daß  wir  in  jenen  beiden 
Büchern  eine  vortreffliche  Fundgrube  historischen  Materials  be- 
sitzen-). 


1)  Vgl.  S.  19  die  Wiedergabe  nach  Savary. 

2)  Teilweise  ist  ihr  Inhalt  von  mir  in  „Der  Kaufmann  und  das  Leben",  Bei- 
blatt zur  Zeitschr.  f.  Handelswissenschaft  und  Handelspraxis  V,  2  und  3,  unter  den 
Überschriften  .Der  Handlungslehrling  vor  200  Jahren"  und  „Der  Handlungsgehilfe 
vor  200  Jahren"  wiedergegeben  und  besprochen  worden. 


—     41     — 

Bis  auf  die  Anregung  selber  und  auf  die  Entlehnung  einiger 
äußerer  Umrisse  ist  der  „Kauffmanns-Jung"  wie  der  „Handels- 
Diener"  Marpergers  eigenes  Werk,  nur  im  „Handels-Diener"  be- 
findet sich  ein  aus  dem  „Parfait  negociant"  bloß  übersetzter  Ab- 
schnitt ')  über  die  Vorarbeiten  zur  Selbständigmachung.  Er  gehört 
natürlich  schon  mehr  in  die  eigentliche  Handlungsvvissenschaft  hinein. 
Mit  dieser  stehen  im  übrigen  beide  Bücher  nur  insofern  im  Zu- 
sammenhang, als  der  Kaufmann  in  seiner  Rolle  als  Lehrherr  und 
Brotgeber  behandelt  wird,  aber  gerade  diese  Ausführungen  sind  es 
auch,  um  die  Marperger  die  Handlungswissenschaft  Savarys  vor- 
angebracht hat. 

Marperger  hat  sich  anscheinend  eine  Zeitlang  mit  dem  Ge- 
danken getragen,  auch  noch  diese  Handlungswissenschaft  seines 
französischen  Vorbildes  auf  deutsche  Verhältnisse  zu  übertragen.  Es 
liegt  ja  so  nahe,  nach  den  Arbeitslehren  für  Lehrlinge  und  Gehilfen 
auch  eine  für  den  Kaufmann  selber  zu  schaffen,  zumal  bei  einem 
so  ausgezeichneten  Vorläufer.  Dennoch  ist  unser  Verfasser  an- 
scheinend niemals  damit  herausgekommen.  Zuerst  kündigte  er  sie 
im  ,, Kauffmanns-Jung"  zusammen  mit  dem  dann  auch  bald  nach- 
folgenden ,,Handels- Diener"  als  ,,Der  Gelehrte  Kauffmann"  an. 
1717  nennt  er  letzteren  in  seinem  ,, Ersten  Hundert  Gelehrter  Kauff- 
leute"  mit  unter  seinen  ,,aufs  Neue  unter  der  Preß  oder  doch  zum 
Druck  mehrenteils  fertig  liegenden"  Schriften  und  bezeichnet  ihn 
als  ,,Der  Gelehrte  Kauffmann,  welcher  gründlich  anweiset,  was  vor 
Studia  und  Wissenschafften  zur  Kauffmannschaft  erfordert  werden, 
wenn  man  solche  in  allen  Stücken  vollkommen,  und  nicht  auf  einen 
bloßen  Hazard  oder  nach  hergebrachter  Gewohnheit  tractiren  will." 
Auch  in  der  ,, Beschreibung  der  Banquen"  (Girobanken),  Leipzig 
und  Halle  1723,  gehört  er  noch  zu  den  ,,zum  Druck  fertig  liegen- 
den Büchern",  ohne  einen  Verleger  finden  zu  können.  Daß  aber 
Marperger  schKeßlich  doch  nicht  mehr  an  die  Schaffung  einer 
Handlungswissenschaft  unter  diesem  Titel  gedacht  hat,  erhellt  aus 
der  letzten  Erwähnung  des  Manuskriptes  in  der  „Ausführlichen  Be- 
schreibung des  .  .  .  Eibstroms",  Dresden  o.  J.,  denn  dort  heißt  das 
Werk  ,,Der  Gelehrte  Kauffmann,  welcher  ausweiset,  was  ein  Kauff- 
mann von  Rechnen,  Schreiben,  Buchhalten,  Waaren-Kenntniß,  von 
Manufacturen  und  Müntz -Wesen,  von  der  Mechanic,  und  andern 
Stücken  der  Mathesin,  it.  von  fremden  Sprachen,  und  denen  Civil- 
Rechten,  von    der  Philosophia,  Geographia,   Historia,  Politica,  von 

1)  Hier  wie  bei  seinen  sonstigen  Entlehnungen  ist  M.  ehrlich  genug,  seine 
Quelle  zu  nennen  —  sehr  im  Gegensatz  zu  vielen  späterea  Handelswissenschaftlern, 


—     42     — 

der  Red-Kunst,  dem  Jure  Publice,  Cambiali  &  Mercantili,  von  der 
Seefahrt,  und  endlich  auch  von  der  Morale  wissen  müsse."  Es 
dürften  überhaupt,  so  zahlreich  seine  Schriften  auch  sind  —  er  gab 
eine  Zeitlang  monatlich  ein  Stück  heraus  und  bekam  für  jedes 
Exemplar  von  seinen  festen  Abnehmern ,  deren  er  mehr  als  700 
hatte,  zwei  Groschen')  —  viele  der  von  ihm  geplanten  Arbeiten 
unvollendet  geblieben  oder  später  umgearbeitet  oder  überhaupt  nicht 
einmal  begonnen  sein.  Zu  ihnen  gehören  auch  ,.Der  kluge  Cam- 
bist", der  mit  im  ,, Ersten  Hundert"  genannt  wird,  dann  mehrere 
Buchhaltungsarbeiten,  eine  ,, Einleitung  zur  Wissenschaft  der  See- 
rechte" usw. 

Von  seinen  sonstigen  Schriften  haben  für  uns,  abgesehen  von 
seinem  noch  im  Zusammenhange  mit  anderen  zu  nennenden  Waren- 
lexikon, nur  noch  diejenigen  Interesse,  die  einzelne  Gedanken  zur 
Hebung  von  Handel  und  Gewerbe  unter  Mitteilung  mannigfacher 
handelskundlicher  Daten  aufgreifen  und  erläutern.  Dahin  gehören 
ein  , .Vorausgefertigter  Entwurf  des  künfftig  zu  erwartenden  voll- 
kommenen Commerzien-Raths"  (wohl  vor  1710),  die  ,,So  nöthig 
als  nützlichen  Fragen  über  die  Kauffmannschafft",  Leipzig  und 
Flensburg  1714,  die  ,, Erste  Fortsetzung"  dazu,  ebenda  1715-),  dann 
die  ,,Montes  Pietatis,  oder  Leyh-,  Assistentz-  und  Hülffshäuser, 
Lehn-Banquen  und  Lombards",  Leipzig  1715,  und  endlich  das  , »Tri- 
folium mercantile  aureum",  Dresden  und  Leipzig  1723.  Durch  die 
,, Fragen"  und  das  ,, Trifolium"  —  die  im  „Ersten  Hundert"  an- 
gekündigte ,,Neu-eröffnete  Kauffmanns-Akademie,  wie  und  in  was 
vor  Wissenschaften  die  zur  Kauffmannschafft  gewidmete  Jugend  in 
solcher  anzuführen,  und  woher  der  Fundus  solche  zu  unterhalten, 
genommen  werden  könnte",  ist  wohl  auch  ausgeblieben  —  kamen 
die  Handelsschulgedanken-')  in  Fluß,  die  ein  Menschenalter  nach 
Marp ergers  Tode  erst  anfingen,  verwirklicht  zu  werden.  Als 
Vater  dieser  Gedanken  hat  Marperger  auch  mittelbar  einen  An- 
teil an  der  weiteren  Pflege  und  Entwickelung  der  Handelsfächer, 
besonders  an  der  Schaffung  der  Handelsbetriebslehre  des  18.  Jahr- 
hunderts, der  ,, Handlungswissenschaft". 


1)  Nach  seinen  eigenen  Angaben  in  einigen  der  14  Stücke,  die  Leipzig  und 
Rudolstadt  IT33  als    „Auserlesene  kleine  Schriften"  noch  einmal  herauskamen. 

2)  Zieger  a.a.O.  sagt,  er  habe  die  „Erste  Fortsetzung"  —  eine  weitere  ist 
übrigens  nicht  erschienen  —  in  keiner  deutschen  Bibliothek  auftreiben  können.  Ich 
selbst  habe  sie  in  der  Herzogl.  Bibliothek  zu  Wolfenbüttel  gefunden,  wo  man  aller- 
dings von  ihrer  Seltenheit  noch  nichts  wußte. 

3)  Vgl.  Zieger,  Ein  sächs.  Merkantilist,  dann  Leipz.  Sammlungen  usw. 


—     43     — 

Die  Arbeiten  der  Marp  erger  sehen  Zeitgenossen  sind  bis  auf 
eine  Ausnahme  recht  unbedeutend.  Immerhin  sind  sie  weniger,  als 
man  denken  sollte,  bloße  Nachahmungen  von  Marpergers  Schriften. 
Der  schon  vor  Marperger  genannte  J.  Rademann  ^)  kam  in  Ham- 
burg 1714  mit  seinem  ,, Handelsmann  und  Buchhalter"  heraus,  und 
ebenda  scheint  1728  auch  sein  ,, Blühender  Wechsel-Baum"  eine 
nochmalige  Auflage  erlebt  zu  haben.  Von  einem  (J.  H.)  Spe rander 
besitzen  wir  den  , (Vollkommenen  Kauf-  und  Handels-Mann",  zuerst 
wohl  1712,  dann  Frankfurt  und  Leipzig  1729,  und  einen  ,, Sorg- 
fältigen Negotiant  und  Wechsler".  Dies  letzte  Buch,  das  ich  nicht 
gefunden  habe,  dürfte  dem  Rademannschen  ,, Wechsel-Baum"  und 
•dergleichen  Arbeiten  ähnlich  sein.  Das  erstere  ist  im  ganzen  mer- 
kantilistisch,  enthält  aber  auch  einen  Abschnitt  über  ,, Gewisse  Re- 
quisita,  welche  zu  einem  vollkommenen  Kauff-  und  Handels-Mann 
erfordert  werden",  auch  etwas  über  die  Düppelbuchführung  und, 
in  der  zweiten  Auflage,  den  Text  der  Hamburger  Bankordnung. 

Besser  und  auch  praktisch  brauchbarer  als  diese  Bücher  war 
„Des  sorgfältigen  Kauffmanns  Handels-Memorial"  von  G.  C.  Bohn, 
Hamburg  1717,  eine  hauptsächlich  handelskundliche  Arbeit.  Von 
ganz  ähnlichem  Inhalte  ist  sein  ,, Wohlerfahrener  Kaufmann",  dessen 
erste  Auflage  1719  mir  nicht  bekannt  geworden  ist.  Eine  Ergän- 
zung fand  dies  zweiteilige  Werkchen  in  ,,Des  Wohlerfahrenen 
Kaufmans  Dritter  Theil.  Oder:  Die  allzeit  wohlbestallte  Schreib- 
Stube",  von  G.  G.  Heyne,  Hamburg  1727,  herausgegeben,  der  im 
Auftrage  Bohns  gehandelt  haben  will.  Das  Buch  enthält  aber 
keine  Kontororganisationslehre,  sondern  nur  Buchhaltung,  Brief- 
wechsel und  Zugehöriges,  und  es  ist  seiner  ganzen  Anlage  nach 
■ein  Vorläufer  der  späteren  „Kontorwissenschaft".  Der  „Wohler- 
fahrene Kaufmann"  hat  übrigens  noch  weitere  Auflagen  erlebt,  zu- 
letzt wohl  eine  fünfte  Hamburg  1789  in  einer  Bearbeitung  von 
C.  D.  Ebeling  und  P.  H.  C.  Brodhagen.  Heyne,  der  Heraus- 
geber des  dritten  Teiles  von  1727,  ist  auch  selbständig  mit  seinem 
Büchlein  „Der  mit  Nutzen  klüglich  handelnde  neue  Handelsmann", 
Frankfurt  und  Leipzig  1727,  herausgekommen,  dessen  lockender 
Titel  aber  nur  einer  Warenkunde  für  Lederhändler  und  dergleichen 
Torgesetzt  ist. 

Eine  sehr  umfangreiche  -)  Arbeit  ist  sodann  des  bayerischen  Hof- 
rats und  Advokaten  J.  J.  Pock  ,, Hochschätzbarer  Ehren -Crantz 
•der  Kauffmannschafft",  München  1726.     Sie  ist  eine  in  einem  sehr 

1)  Vgl.  Fußnote  1,  Seite  36  .  . 

2)  Zwei  Quartbände  von  zusammen  rund  1750  Seiten! 


—     44     — 

altertümlichen  Stil  geschriebene  Handelskunde,  die  stark  theologisch 
gefärbt  ist.  Auch  ein  paar  handelswissenschaftliche  Fragen  werden 
darin  erörtert.  So  heißt  es  da  u.  a.  im  zweiten  Titel  des  zweiten 
Teiles,  daß  ein  Kaufmann  außer  sonstigen  Kenntnissen  auch  solche 
der  ,,nothwendigcn  Maximen  und  Lehrsätze"  für  das  Kaufen  und 
Verkaufen  haben  müsse.  Über  die  Frage  ,,Wie  weit  ein  gott- 
seeliger  tiandelsmann ,  im  Verkauf  seiner  Waaren,  mit  gutem  Ge- 
wissen steigen,  und  wieviel  er  über  seine  Unkosten  darauf  schlagen 
dürfe?"  ist  dagegen  mit  Recht  keine  handlungswissenschaftliche, 
sondern  nur  eine  theologische  Antwort  versucht  worden  und  zwar 
durch  Heranziehen  der  entsprechenden  Schrift  eines  Lübecker  Geist- 
lichen. Nach  ihm  darf  man  soviel  Gewinn  nehmen,  wie  man  vor  Gott 
und  seinem  Gewissen  und  mit  Rücksicht  auf  seine  Mitbürger  und 
die  bei  ihnen  geltenden  Begriffe  der  Ehrbarkeit  und  Rechtlichkeit 
verantworten  kann.  Eine  bessere  Antwort  dürfte  sich  auch  heute 
noch  nicht  finden  lassen. 

Etwas  viel  Brauchbareres  lieferte  sodann  ein  Praktiker  E.  B.  A. 
mit  seinem  Buche  ,,Der  in  allen  Vorfällen  vorsichtige  Banquier", 
Frankfurt  und  Leipzig  1733.  Zwar  enthält  es  nicht,  wie  man  nach 
dem  Titel  vermuten  könnte,  eine  Bankgeschäftslehre,  sondern  nur 
eine  stark  auf  das  Wechselrechtliche  i)  gerichtete  Bankkunde,  aber 
diese  ist  dafür  recht  gründlich  ausgefallen.  Sie  ist,  wie  unsere 
frühesten  handelswisscnschaftlichen  Arbeiten,  zunächst  nur  eine  No- 
tizensammlung für  den  Gebrauch  des  Verfassers  selber  gewesen. 
Als  E.  B.  A.  sie  —  wieder  auf  Anraten  von  dritter  Seite  —  ver- 
öffentlichen wollte,  hat  er  sie  wohl  überarbeitet  und  ihr  ein  paar 
Kapitel  über  die  wissenschaftliche  Seite  des  Wechselhandels  hinzu- 
gefügt, die  aber  recht  dürftig  geraten  sind.  —  Dieses  mehr  als 
1400  Quartseiten  dicke  Werk  ist  dasjenige,  welches  allein  unter  allen 
sonstigen  dieser  Zeit  den  besseren  Arbeiten  Marpergers  zur  Seite 
gestellt  werden  kann. 

Ebenfalls  von  einem  Unbekannten  kam  um  diese  Zeit  zuerst 
(eine  verbesserte  Auflage  ist  Leipzig  und  Halle  1738  datiert)  „Der 
allzeit  fertige  Meß-  und  Marckthelffer"  heraus,  ein  Rechentabellen- 
werk, das  ich  nur  darum  erwähne,  weil  es  die  oben-)  genannten 
44  Nürnberger  Kaufmannsregeln,  um  einige  vermehrt,  seinem  Haupt- 
inhalte voranstellt.  Im  übrigen  ist  es  eins  der  gewöhnlichen  Kontor- 
hilfsbücher jener  Zeit. 

1)  Bankgeschäft  und  Wechselhandlung  waren  damals  noch  dasselbe,  der 
Bankier  hieß  darum  auch  häufig  Cambist. 

2)  S.  34. 


—     45     — 

Hilfsbücher  und  Nachschlagewerke  für  den  kaufmännischen 
Gebrauch  entstanden  jetzt  überhaupt  immer  zahlreicher  und  unter 
den  verschiedensten  Namen.  Wegen  der  Vielseitigkeit  seines  In- 
haltes nenne  ich  noch  den  ,, Fertigen  und  hinlänglichen  Unterricht 
vor  Handlungs-Befließene",  Leipzig  1748/49  (zwei  Teile)  von 
F.  Stäps(en),  einem  Schreib-  und  Rechenmeister.  Das  Buch  ent- 
hält ein  kleines  kaufmännisches  Wörterbuch,  eine  Aufstellung  der 
regelmäßigen  Bezugskosten  über  Hamburg — Leipzig,  ein  Verzeichnis 
der  üblichen  Gewichte  von  mancherlei  Waren  in  ihren  gewöhnlichen 
Verpackungen,  eine  kleine  Abhandlung  über  das  Buchhalten,  dann 
Tabellen  über  Münzen,  Maße,  Gewichte,  Wechselkurse  und  Frachten, 
schließlich  noch  Muster  von  Geschäftsbüchern  usw.  usw.  Die  etwas 
späteren  Hilfsbücher  mit  speziellerem  Inhalte  waren  übrigens  weit 
besser.  So  seien  gleich  hier  erwähnt  ein  vorzügliches  Handbuch 
für  den  Wechselverkehr,  nämlich  der  „Allgemeine  und  beson- 
ders hamburgische  Contoirist",  Hamburg  1753  (zuletzt  1808)  von 
J.  E.  Kruse  und  das  „Allgemeine  Taschenbuch  der  Maß-,  Ge- 
wichts- und  Münzkunde,  der  Wechsel-,  Geld-  und  Fondcourse"  von 
J.  C.  Nelkenbrecher,  das  seit  1762  bis  auf  den  heutigen  Tag 
in  zahlreichen  Neubearbeitungen  herauskommen  konnte  —  kein 
anderes  kaufmännisches  Buch  hat  bisher  eine  solche  Lebensdauer 
aufzuweisen  gehabt. 

Von  größerem  Werte  für  die  weitere  Ausbildung  einer  Hand- 
lungswissenschaft hat  sich  keines  der  seit  Marp erger  genannten 
Bücher  erwie--en,  so  daß  alle  soeben  genannten  Schriften  lediglich 
der  Vollständigkeit  wegen  und  um  ein  Bild  des  aufblühenden  fach- 
literarischen Schaffens  jener  Zeit  zu  geben,  hier  angeführt  worden 
sind.  Nur  die  kameralistisch  -  handelsfachlichen  Schriften  ,  die  un- 
mittelbar zur  Schaffung  der  ersten  systematischen  handlungswissen- 
schaftlichen Arbeiten  führten,  fehlen  noch  in  diesem  Bilde.  Von 
ihnen  soll  jetzt  die  Rede  sein. 


II. 

Systematische  Versuche  unter  der  Kameral- 
wissenschaft. 

A.    Kameralistische  Anfänge  der  Privatwirtschaftslehre. 

Die  bisher  besprochene  Handelsliteratur  ging  fast  ganz  von 
Handelspraktikern  und  den  ihnen  nahe  stehenden  oder  aus  ihnen 
hervorgegangenen  Halbgelehrten  aus.  Dieser  handelspraktischen 
steht  nun  eine  sozusagen  akademische  Literatur  gegenüber,  die  ein 
Teil  der  kamerahvissenschaftlichen  ist.  Die  Kameralwissenschaft, 
die  Vorläuferin  unserer  Volkswirtschaftslehre,  zerfiel  in  drei  be- 
sondere "Wissensgebiete.  Dieses  waren  einmal  die  Kameralwissen- 
schaft im  engeren  Sinne,  die  etwa  der  heutigen  Finanzwissenschaft 
entspricht,  sodann  die  Lehre  von  der  polizeilichen  Ordnung  und 
Verwaltung  („Polizeiwissenschaft"  I  und  schließlich  noch  die  Summe 
der  Privatwirtschaftslehren,    die  Haushaltungslehre  mit   inbegriffen. 

Die  zuletzt  genannte  Gruppe  war  aber  das  Stiefkind  der  Ka- 
meralisten, denn  die  Privatwirtschaftslehren  waren  eben  nicht  Selbst- 
zweck, sondern  nur  eine  Art  Hilfswissenschaften  für  die  zuerst  ge- 
nannten Hauptgebiete. ^)  Immerhin  war  wenigstens  in  der  Idee  die 
Einheit  der  gesamten  damaligen  Wirtschaftswissenschaften  vor- 
handen, und  sie  wurde  auch  zuweilen  in  entsprechend  weit  gefaßten 
Lehrbüchern  zum  Ausdruck  gebracht.-)  Aber  die  einzelnen  Zweige 
der  Privatwirtschaftslehrc  kamen  dabei  regelmäßig  schlecht  weg, 
indem  sie  nicht  privatwirtschaftlich,  sondern  bloß  wirtschaftskund- 
lich  und  oberflächlich  einführend  behandelt  wurden. 

Ehe  jedoch  die  Zeit  für  derartige  Darstellungen  reif  war,  tauchten 
besonders  in  den  Lexika  wirtschaftlichen  oder  gar  speziell  kauf- 
männischen Inhaltes  hier  und  da  Werke  auf,  die  ersteren  mehr  oder 
weniger  als  Grundlage  dienten.    Schon  1659  ist  zu  Frankfurt  a.  M. 

1)  Sehr  deutlich  gesagt  in  dem  „Versuch  einer  Grundlehre  sämtl.  Kameral- 
wissenschaften"   %-on  J.  H.  Jung,  Lautern   1779. 

2)  Bei  E.  Baumstark,  Kameral'st  sehe  Encyklop ädie,  Heidelberg  und  Leipzig 
1835,  sind  die  Hauptwerke  aufgezählt. 


—     47     — 

eine  Übersetzung  von  Th.  Garzonis  „Piazza  Universale:  Das  ist 
Allgemeiner  Schauplatz,  Marckt  und  Zusammenkunfft  aller  Pro- 
fessionen" herausgekommen;  das  eigentliche  Zeitalter  für  kauf- 
männische Wörterbücher  ist  aber  erst  das  18.  Jahrhundert. 

Marperger  scheint  auch  hier  den  Reigen  eröffnet  zu  haben 
und  zwar  mit  seinem  kleinen  und  hauptsächlich  warenkundlichen 
Lexikon,  betitelt  „Das  in  Natur-  und  Kunstsachen  eröffnete  Ma- 
gazin", Hamburg  1708,  das  dann  noch  öfter,  zuletzt  wohl  ebenda 
1765,  herauskam  ')•  Sodann  war  auch  der  zweite  Teil  von  Bohns 
„Wohlerfahrener  Kaufmann"  ein  kleines  Warenlexikon.  Doch  stehen 
Wörterbücher  dieses  Inhalts  etwas  abseits,  und  so  mögen  sie  denn 
hier  nur  genannt  sein,  weil  sie  eben  auch  kaufmännisch  sind.  Im 
eigentlichen  Sinne  gehören  hierher  zunächst  zwei  von  einem 
J.  Hübner.  Nachdem  dieser  schon  1709  ein  '„Reales  Staats-, 
Zeitungs-  und  Konversationslexicon"  herausgegeben  hatte,  veröffent- 
lichte er  Leipzig  1712,  1727,  1741  (und  öfter?)  sein  „Curieuses  und 
reales  Natur-,  Kunst-,  Berg-,  Gewerck-  und  Handlungs-Lexicon." 
Ferner  erschien  in  dieser  Zeit,  von  einem  R.Beier  herausgegeben, 
ein  ähnliches  „Allgemeines  Handlungs-,  Kunst-,  Berg-  und  Hand- 
wercks-Lexicon",  Jena  1722. 

Die  diesen  Lexika  folgenden  stützen  sich  mehr  oder  weniger 
auf  das  umfangreiche,  tiefgründige  und  zuverlässige  „Dictionnaire 
universel  de  commerce,  d'histoire  naturelle,  d'arts  et  metiers", 
Paris  1723—1730  zuerst  2),  das  von  den  beiden  Söhnen  J.  Savarys-^) 
bearbeitet  wurde,  aber,  da  der  eine  von  ihnen  starb,  nur  von  dem 
überlebenden  J.  Savary  des  Brulons  herausgegeben  werden 
konnte.  Zunächst  stützte  sich,  wenn  auch  zu  seinem  Nachteil  nicht 
allzuviel,  „Die  Allgemeine  Schatzkammer  Der  Kauffmannschafft 
Oder  Vollständiges  Lexicon  aller  Handlungen  und  Gewerbe"  (fünf 
Teile),  Leipzig  1741  —  1743,  darauf.  Den  Plan  dazu  hatte  C.  G.  Lu- 
dovici  entworfen,  der  jedoch  zur  weiteren  Mitarbeit  keine  Zeit  fand, 
weil  ihn  die  Vollendung  des  großen  Zedier  sehen  Universallexi- 
kons noch  beschäftigte.  Mit  diesem  1750  fertig  geworden,  machte 
er  sich  selber  daran,  ein  kaufmännisches  Lexikon  zu  schaffen,  das 
dann  auch  1752—1756  zu  Leipzig  als  die  , Eröffnete  Akademie  der 

1)  Es  mag  wohl  darum  zu  seiner  Zeit  recht  wertvoll  gewesen  sein,  weil  M. 
darin  fast  nur  eigenes,  gründliches  Wissen  vorbrachte.  Im  .Handlungs-Diener"  er- 
zählt er  u.  a.  darüber,  daß  er  seit  Jahren  eine  fast  vollständige  Warensammlung 
besitze,  die  er  selber  angelegt  habe  und  noch  immer  ergänze. 

2)  Zuletzt  Kopenhagen  und  Genf  1759—1766. 

3)  Vgl.  S.  23. 


—     48     — 

Kaufleute:  oder  Vollständiges  Kaufiiianns-Lexicon"  erscheinen  konnte. 
Von  diesem  besten  unserer  kaufmännischen  Wörterbücher  aus  dem 
18.  Jahrhundert  wird  noch  wegen  seines  dreifachen  Anhanges  aus- 
führlicher die  Rede  sein. 

Welch  hoher  Wertschätzung  sich  solche  Wörterbücher  bei  den 
Kamcralisten  erfreuten,  geht  aus  einer  Besprechung  der  „Allgemeinen 
Schatzkammer"  hervor^),  in  der  der  hcrüiimte  G.  1 1.  Zincke  u.  a. 
folgendes  ausführte:  „Solche  Lexica,  und  zwar  dergleichen  voll- 
ständige, sind  gleichsam  die  Vorratsbehältnisse  aller  ersinnlichen 
Baumaterialien,  die  man  .  .  .  sonderlich  zu  einer  ordentlichen  syste- 
matischen Einleitung  in  die  Kommerzien-W^issenschaft,  daran  es  uns 
noch  fehlet,  brauchen  kann.  Marperger  und  andere  haben  zwar 
schon  sehr  viel  Baumaterialien  zu  einem  so  nöthigen  Lehrgebäude 
in  ihren  Schriften  zusammengeführet.  Allein  bis  jetzo  hat  sich 
dennoch  niemand  gefunden,  welcher  eine  vollständige  und  ordent- 
lich zusammenhängende  Einleitung  gemachet,  oder  ein  solches  ge- 
lehrtes Lehrgebäude  in  dieser  weitläuftigen,  schweren  und  so  vor- 
trefflichen Wissenschaft  aufgerichtet  hätte,  obgleich  unterschiedliche 
Grundlagen  dazu  vorhanden  ....  Vielleicht  hat  es  nur  daran  ge- 
fehlet, daß  man  jede  Art  von  Materialien  nicht  so  leicht  und  ohne 
viele  Mühe  finden  und  übersehen  könne,  da  dieselben  so  zerstreuet 
in  so  vielen  Büchern  zu  finden,  gleichwohl  aber  von  so  ungemeiner 
Menge  sind  ..." 

So  ähnlich  spricht  sich  Zincke  auch  in  einem  Aufsatze  über 
Marpergers  Leben  und  Schriften?)  aus,  wenn  er  sagt:  „Wer  sich 
auf  die  Handlung  legen  und  ein  wenig  gründlich  und  nicht  nur 
Pfennig-Krämer-haftig  die  Theorie  zugleich  mit  der  täglichen  Aus- 
übung der  Geschäfte  im  Gewölbe  und  Kontor  verknüpfen  will, 
kann  diese  (M ar per g ersehen)  Schriften  nicht  entbehren,  zumal 
wir  sonst  nichts  Rechtes  von  Handlungssachen  in  deutscher  Sprache 
haben  .  .  .  Mit  einem  Wort,  sie  enthalten  den  zusammengetragenen 
Stoff  und  die  Baumaterialien  in  sich,  von  der  Handlungswissen- 
schaft ein  vollständiges  und  ordentlich  zusammenhängendes  Lehr- 
gebäude aufzurichten  und  diese  so  weitläuftige  Wissenschaft  in 
einen  gründlichen  Lehrbegriff  zu  bringen." 

In  diesem  zeitgenössischen  Urteile,  das  neben  Marperger  nur 
noch  die  Lexika  als  brauchbare  Beiträge  zur  Handlungswissenschaft 
gelten  läßt,  liegt  zugleich  eine  Verurteilung  der  sonstigen  im  vorigen 
Kapitel  aufgezählten  Schriften,  die  wir  uns  zu  eigen  machen  müssen: 

1)  Leipziger  Sammlungen  I,  S.  179. 

2)  Leipziger  Sammlungen  II,  S.  422. 


49     — 


es  war  wirklich  außer  den  Marpergerschen  Sachen  nichts  Rechtes 
bei  uns  vorhanden,  und  auch  diesen  fehlte  es  noch  wie  bereits 
gesagt  meistens  an  der  nötigen  Kürze,  Ordnung  und  Gründlich- 
keit. Zincke  stellt  damit  aber  auch  in  lobenswerter  Bescheiden- 
heit seine  eigenen  Versuche  einer  systematischen  Einführung  in 
die  .Handlungswissenschaft"  in  den  Hintergrund,  die  in  diesem 
Zusammenhang  mit  besprochen  werden  mögen 

Vor  Zincke  scheint  nur  J.  J.  BecheV  dieses  Gebiet  einmal 
berührt  zu  haben,  nämlich  in  seinem  „PoHtischen  Discurs"  Frank- 
furt 1667  und  öfter.  In  dessen  zweitem  Teile  handelt  nämlich  das 
dritte  Kapitel  „Von  den  Kaufmanns-Compagnien  und  Gesellschaften 
auch  vom  Unterscheid  des  Handels  quoad  subjectum  in  genere"' 
und  ferner  spricht  das  vierte  Kapitel  u.  a.  davon,  „Wie  man  han^ 
dein  soll  oder  von  dem  Unterscheid  des  Handels  quoad  subjectum 
der  Commerzien,  das  ist  von  der  Wissenschaft  des  Kaufhandels" 
Hier  bringt  Becher  auf  etwa  zwanzig  Seiten  eine  große  Anzahl 
^'t  ,  r  ^^""^^'"'''^Seln.  Sie  werden  meistens  bloß  aufgezählt, 
wohl  deshalb  weil  sie  an  sich  einleuchtend  genug  sind.  So  heiß; 
es  da  u.  a  daß  es  am  vorteilhaftesten  sei,  bar  einzukaufen  und  bar 
ni  verkaufen,  im  Aktiv-,  wie  im  Passivkredit  recht  vorsichtig  zu 
sein  nur  gute  Waren  und  nur  zu  angemessenen  Preisen  abzugeben 
auch  beileibe  keine  Monopolstellung  zu  erstreben,  weil  sonst  de; 
Zusammenbruch  hinterher  um  so  ärger  sein  würde  usw.  Eine  be- 
ondere  Rolle  spielt  dort  auch  schon  die  Empfehlung  des  Kaufes 
aus   der   ersten  Hand,    der  vielen  Kameralisten  -  wir  sahen,  daß 

offener';  '   w"   ""u"'"    ^"'"'''"^    -    ^^^°^^  ^"^    P^i^^^^-    --    i- 
öf  entliehen  Wirtschaftsleben  als  das  Ideal  erschien^).    Einen  großen 

Te  I  cles  „Pohtischen  Discurs«  nehmen  sodann  wirtschaftskundliche 
Beschreibungen  der  wichtigsten  Handelszweige  ein.  Diese  fürs  er.te 
ganz  hübschen  Anfänge  blieben  jedoch  ebenso  wie  Savarys  und 
Marpergers  Beiträge  zunächst  unbeachtet,  und  erst  Zincke  war 
es,  der  sie  wieder  aufgriff  und  auf  die  dem  klassischen  Kameralis- 
mus  eigentümliche  Weise  weiter  zu  entwickeln  bemüht  war. 
sPh  ^•^:^'^'^^  S^^  s^it  1742  die  bedeutendste  der  kameralisti- 
und  r  ;;^!o^  ""'"'  ^'"  ^'''^  .Leipziger  Sammlungen"  heraus, 

^^nc^Leipzig  1742  erschien  auch  sein   „Grundriß  einer  Einleitung  zu 

1)  Vgl.  S.  16. 

nauer  r  °  .  ^"'^  "'     "'"'  ""  '°^''''  "  '^°  Privatwirtschaften  ge- 

äkturnc'r  '  ^;  "  "'"  "°''  -ancbeHandelskon^pagnie  und  n^anche  Manu- 

Zeit  ch    .  r?     "  -'"— en,  die    nachher  wieder  zu  Grunde  ging. 

Zeitschrift  für  die  ges   Staatswissensch.    Ergänzungsheft  49.  4 


—     50     — 

den  Cameralwissenschaftcn"  zuerst,  der  dann  ebenda  1755  noch 
einmal  erweitert  und  verbessert  als  „Anfangsgründe  der  Cameral- 
vvissenschaften"  erschien.  Mit  den  „Anfangsgründen"  hängt  der 
„\'erbesserte  Becher"  eng  zusammen,  auf  den  Zincke  in  jenem 
Buche  oft  verweist.  Es  ist  das  eine  Neuausgabe  der  Hauptteile  des 
„Politischen  Discurs"  von  J.  J.  Becher,  die  von  Zincke  mit  An- 
merkungen versehen  wurden.^)  In  den  „Anfangsgründen"  entwickelt 
nun  Zincke  sein  System  der  Wirtschaftswissenschaften,  nach  dem 
allen  ihren  Zweigen  eine  Generalökonomie  für  die  theoretisch-wirt- 
schaftlichen und  eine  Generalpolizeiwissenschaft  für  die  praktisch- 
verwaltungspolitischen  Ausführungen  übergeordnet  wird.  Diese 
Generalwissenschaften  sollen  die  allgemeinen  Grundsätze  für  die 
speziellen  Teile  entwickeln.  In  der  Generalökonomie  geschieht  das 
auf  Grund  einer  Einteilung  aller  wirtschaftlichen  Maßnahmen  in 
„Erlangungs-,  Bewahrungs-  und  Anwendungsgeschäfte".  Die  spezi- 
ellen Erörterungen  folgen  einer  Einteilung  des  Stoffes  nach  den 
kameralistischen  Kategorien  der  Landwirtschaft  (=  Inbegriff  der  auf 
dem  platten  Lande  ausgeübten  Tätigkeiten  einschließlich  des  Berg- 
baues) und  der  Stadtwirtschaft  (=  Inbegriff  der  regelmäßig  in  den 
Städten  getriebenen  Beschäftigungen).  Jeder  Erwerbszweig  wird 
wiederum   erst  ökonomisch   und  sodann  „polizeimäßig"   betrachtet. 

So  findet  sich  denn  unter  den  Betrachtungen  der  stadtwirt- 
schafdichen  Gewerbe  auch  ein  15.  Kapitel  ,.Von  den  Handlungs- 
und Kramgeschäften".  Der  „Verbesserte  Becher"  enthält  sogar 
eines  von  dem  städtischen  Grundstückliandel,  das  für  jene  Zeit,  in 
der  dieser  Handelszweig  doch  erst  in  den  ersten  Anfängen  steckte, 
sehr  merkwürdig  ist.  Leider  sind  Zinckes  Ausführungen  auch  in 
diesen  Kapiteln  viel  zu  allgemein  gehalten,  um  von  größerem  Werte 
zu  sein.  Man  kann  wenig  mit  der  Erkenntnis  anfangen,  daß  der 
Kaufmann  diese  und  jene  Kenntnisse  je  nach  seinem  besonderen 
Geschäftszweige  haben  müsse,  daß  er  seine  Stellung  zwischen  Pro- 
duktion und  Konsumtion  als  erste  oder  zweite  Hand  beachten  müsse 
usw.  Am  besten  ist  wohl  noch  der  im  Zusammenhange  mit  den 
Grundsätzen  der  Generalökonomie  sich  ergebende  Satz,  daß  die 
nicht  ins  Geschäft  gesteckten  Vermögensteile  als  Reserven  anzusehen 
sind,  und  daß  diese  Reserven  im  richtigen  Verhältnis  zum  Geschäfts- 
kapital und  seiner  Gefährdung  vermehrt  werden  sollten. 

Beinahe  wichtiger  als  dieser  erste  Versuch  selbst,  im  Rahmen 
einer  Art  System   der  Wirtschaftslehre  auch  die  Gewerbelehre  des 


1)  Frankfurt  und  Leipzig  1754. 


—     51     — 

Handels  mit  unterzubringen  und  abzuhandeln,  ist  der  scharfe  Hin- 
weis Zinckes  auf  die  Verschiedenheit  der  letzteren  von  der  „Staats- 
kommerzienwissenschaft" .  Das  „allgemeine  und  große  Welt-  und 
Staatskommerzien-  oder  Handelswesen"  dürfe  ja  nicht  mit  dem 
„partikularen  Stadthandlungs-  und  Kramwesen"  verwechselt  werden, 
das  eben  von  einer  besonderen  Wissenschaft,  die  unser  Autor  bald 
Handlungswissenschaft,  bald  Handelswissenschaft  und  sogar  Com- 
merzienwissenschaft  nennt,  erfaßt  wird.  Im  „Verbesserten  Becher" 
werden  als  ihre  Hauptstoffgebiete  die  Negotien,  die  Manufakturen 
und  Fabriken*)  genannt,  die  damals  noch  alle  drei  als  Handels- 
unternehmungen angesehen  wurden  und  daher  allzusammen  auch 
Handlungen  genannt  werden  mußten.  Neben  Waren-,  Manufaktur- 
und  Fabrikhandlungen  sprach  man  natürlich  auch  von  Bank-,  Spe- 
ditions-  und  Assekuranzhandlungen,  bis  die  Sprache  in  den  Aus- 
drücken „Unternehmen"  oder  „Unternehmung"  und  „Geschäft"  neue, 
passendere  Grundwörter  herausgebildet  hatte-). 

Um  die  Zeit,  als  der  „Verbesserte  Becher"  und  die  „Anfangs- 
gründe" erschienen,  begegnen  wir  auch  schon  dem  ersten  Versuch 
einer  S3^stematischen  Behandlung  der  Handlungswissenschaft  (wie 
wir  ebenfalls  die  damalige  Gewerbelehre  des  Handels  oder  die  da- 
malige Handelsbetriebslehre  nennen  wollen) ,  der  außerhalb  des 
Rahmens  eines  wirtschaftswissenschaftlichen  Gesamtsystems  gemacht 
wurde.  Er  ist  von  einem  Unbekannten  Frankfurt  und  Leipzig  1755 
in  einem  nur  48  Oktavseiten  starken  Büchlein  unternommen  worden 
und  nennt  sich  „Versuch  eines  Sistems  der  Handlungs- Wissenschaft, 
entworffen  von  einem  Kauffmann".  Der  sichtlich  von  kameralisti- 
schen  Schriften  angeregte  Verfasser  erweist  sich  als  ein  sehr  feiner 
Beobachter   wirtschaftlicher  Erscheinungen,    aber  als   ein   unbedeu- 


1)  Man  unterschied  damals  die  Fabrik  von  der  Manufaktur,  indem  man  viel- 
fach unter  Fabrik  nur  solche  Unternehmungen  verstehen  wollte,  die  mit  Hammer 
und  Feuer  arbeiteten.  Mir  scheint  aber,  man  hatte  mehr  das  dunkle  Gefühl,  daß 
in  den  Fabriken  etwas  wirtschaftlich  und  nicht  etwas  technisch  Besonderes  und 
Neues  aufgekommen  war,  denn  eine  Manufaktur  betrieb  man  damals  meistens  im 
Verlag,  zu  dessen  Begriffsinhalt  die  Fabrik  allerdings  nicht  gehören  konnte. 

2)  Im  Anfang  des  IS.  Jahrhunderts  wurde  der  Handel  noch  vorwiegend  „Kauf- 
mannschaft" genannt,  insofern  er  als  private  Erwerbstätigkeit  gemeint  war,  während 
er  als  Gegenstand  der  Staatsfürsorge  regelmäßig  Commerz  oder  Commerzien  ge- 
nannt wird.  Dafür  kamen  dann  die  Ausdrücke  Handlung  (=  Kaufmannschaft)  und, 
mehr  gegen  Ende  des  Jahrhunderts,  Handel  (^  Commerzien)  auf,  doch  fehlt  es 
nicht  an  zahlreichen  Beispielen  eines  geradezu  umgekehrten  Gebrauches.  Zincke 
ist,  wie  wir  sahen,  einer  von  denen,  die  wohl  den  Begriffsunterschied  erfaßt  haben, 
aber  ihre  Bezeichnungen  nicht  konsequent  anwenden. 

4* 


—     52     — 

tendcr  Systematiker:    Die   gehabte   Mühe   und    Gefahr,   die   Dienst- 
leistung für  den  Käufer,  sämtliche  Unkosten  und  gewöhnlichen  Ein- 
bußen,   die   Kosten   einer   standesgemäßen    Haushaltung,    die    Zahl 
usw.  der   Käufer   und  Verkäufer   usw.    usw.   wirken    bei   der   Preis- 
gestaltung  mit.     Der   Kaufmann    muß    es    verstehen,    ein    gewinn- 
bringendes Geschäft  ausfindig  zu  machen  und  sich  diesen  Gewinn 
2U   sichern;    die   genaueste  Kalkulation,    Überwachung    der  Außen- 
stände, Inventarisierung  und  Bilanzierung  ist  daher  erforderlich  — 
der  erzielte  Gewinn  vermehrt  das  Kapital  oder  wird  im  Haushalte 
verbraucht  oder  erspart.    Sehr  wichtig  ist  das  richtige  Arbeiten  und 
Arbeitenlassen,  wofür  der  Verfasser  Regeln  angibt.    U.  a.  meint  er, 
man   solle  bei   einer  Arbeit  bleiben,   sie  durch  „etwas  dazu  anrei- 
zendes  Schöne"    angenehm   machen,    wenn   sie    es   sonst  nicht  ist, 
„sollte  es  auch  nur  Spielwerk  sein"   (!);  man  soll  nicht  Hand-  und 
Kopfarbeit  zugleich  leisten,  sondern  das  Diktieren  bevorzugen  usw. 
Er   verlangt   weiterhin   keine  Warenkunde    im    landläufigen   Sinne, 
sondern    eine  nach   den  Gebrauchszwecken  gruppierte  Warenlehre. 
Soweit  geht  der  erste  Teil,  der  „Die  Handlung"  überschrieben 
ist.     Der  zweite  nennt  sich   „Das  Geschäft  der  Handlung  und  ihre 
Schreibere3-en"   und   zerfällt   in   die  Abschnitte    über  die  Geschäfts- 
leitung und  über  die  Kontortechnik,  zu  welch  letzterer  der  Verfasser 
aber  das  Entwerfen  von  Briefen  und  Verträgen  nicht  rechnet.    Die 
Wiederholung    einer    Geschäftsmaßnahme    nach    erprobten    Grund- 
sätzen gehört  jedoch  schon  wieder  zu  den  mehr  mechanischen  Ar- 
beiten und  nicht  zur  Geschäftsleitung.     Den  Schluß    des  Büchleins 
machen  Ausführungen   über   die  Forderungen,    die    die  Handlungs- 
wissenschaft an  die  Buchführung   stellen    muß.     Von   erkennbarem 
Einfluß  auf  die  weitere  Entwicklung  der  Handlungswissenschaft  ist 
es    nicht    gewesen,    da    es    sich    zwischen    den    „Anfangsgründen" 
Zinckes  nnd   den   gleich   nachfolgenden  Arbeiten  Ludovicis   zu 
unbedeutend  ausnehmen  mußte;  die  Späteren  haben  es  wohl  kaum 
dem  Namen  nach  gekannt. 

B.    Das  „Kaufmanns-System"  des  C.  G.  Ludovici  und  seine 
„Anfangsgründe  der  Handlungswissenschaft". 

A.  Carl  Günther  Ludovici  (in  früheren  Jahren  auch  Ludwig) 
wurde  1707  in  Leipzig  geboren  und  starb  dort  1778.  Seit  1726 
gehörte  er  zum  Lehrkörper  der  Universität  Leipzig;  sein  Fach  war 
die  „Vernunftlehre"  (=  praktische  Philosophie),  doch  scheint  es 
nicht,  als  hätte  er  kameralwissenschaftliche  Vorlesungen  gehalten. 
Seine  Einzelarbeiten,  die  nicht  sehr  zahlreich  waren,  sind  meistens 


—     53     — 

rein  philosophischen  Inhaltes.  Die  Anregung  zu  seinem  großen 
handlungswissenschaftlichen  Werke  hat  er  wahrscheinlich  während 
seiner  Mitarbeit  an  den  Encyklopädien  seiner  Zeit,  von  der  weiter 
oben  die  Rede  war,  empfangen;  jedenfalls  ist  er  dadurch  wohl  erst 
näher  mit  den  Marp  erger  sehen  und  sonstigen  handlungsliterari- 
schen Arbeiten,  vor  allem  auch  mit  dem  „Dictionnaire  universel" 
und  dem  „Parfait  negociant"  bekannt  geworden.  Natürlich  hat  er 
auch  die  kameralistische  Literatur  genau  gekannt,  und  es  ist  wohl 
nicht  zu  gewagt  zu  vermuten,  daß  das  bereits  angeführte  Urteil 
Zinckes  über  die  damaligen  Wirtschafts  Wörterbücher  und  die  Mög- 
lichkeit eines  systematischen  Lehrgebäudes  der  Handlungswissen- 
schaft ihn  hauptsächlich  zum  Schaffen  auf  diesem  noch  brachliegen- 
den Felde  ermuntert  haben.  Jedenfalls  ist  es  eine  Tatsache,  daß 
er  an  keiner  der  bereits  vorhandenen  Sammlungen  von  „Bausteinen" 
zu  diesem  Lehrgebäude  vorübergegangen  ist,  und  daß  er  sie  mit 
seinem  eigenen  „Kaufmanns-Lexicon"  um  die  beste  deutsche  Samm- 
lung seiner  Zeit  selber  noch  vermehrt  hat. 

Dieses  Lexikon  kam  1752 — 1756  als  die  „Eröffnete  Akademie 
der  Kaufleute:  oder  vollständiges  Kaufmanns-Lexicon"  heraus. ^ 
Eine  buchhändlerische  Ankündigung  des  Werkes  findet  sich  in  den 
Leipziger  Sammlungen,  Bd.  VIII.  Es  heißt  darin  u.  a.,  daß  die  bis- 
herigen deutschen  Lexika,  auch  die  „Allgemeine  Schatzkammer", 
nicht  an  das  „Dictionnaire  universel"  heranreichten,  indem  sie  er- 
hebhche  Lücken  aufwiesen  und  mehr  für  Laien  als  für  Kaufleute 
geschrieben  seien.  Manche  seien  zu  kompendiös,  andere  wieder  zu 
umfangreich.  Das  von  Ludovici  und  seinen  Verlegern  geplante 
Werk  solle  auf  vier  Teile  bemessen  werden. 2)  Als  Quellen  wolle 
man  nicht  nur  die  Arbeiten  der  Savary  benutzen,  „sondern 
auch  alle  in  die  Handlung  einigermaßen  einschlagenden  Schriften, 
beides  unserer  Landsleute  als  der  Ausländer,  soviel  deren  mit  vielen 
Kosten  und  Bemühungen  aufzutreiben  gewesen,  ....  und  nichts 
darin  enthaltenes  Nützliches  und  Nötiges  übersehen  .  .  ."  Im  ein- 
zelnen sollten  das  Lexikon  oder  seine  Anhänge  enthalten: 

1.  Eine  gründliche  Anweisung,  wie  die  Kaufmannschaft  in 
jedem  Orte  zu  treiben  ist,  Waren  mit  Nutzen  ein-  und  zu  ver- 
kaufen, Wagen  und  Schiffe  zu  befrachten,  Wechsel  zu  schließen 
sind  usw.; 

2.  eine  richtige  Beschreibung  aller  Seehäfen,  Städte  und  übrigen 

1)  1795/98  ist  es,  aber  ohne  die  Anhänge,  noch  einmal  von  J.  C.  Schedel  in 
keineswegs  verbesserter  Bearbeitung  herausgegeben. 

2)  Es  sind  aber  mit  den  drei   Anhängen  fünf  Bände  &"  geworden. 


—     54     — 

vornehmsten  Handelsplätze  mit  iliren  Merkwürdigkeiten,  die  den 
Kaufleuten  zur  Handlung  untl  allen  I  landlungsvcrwandten  auf  Reisen 
zu  wissen  nötig  sind ; 

3.  eine  ausführliche  Erklärung  aller  Arten  der  Handlung  in 
Groß  und  Klein,  als  der  Kommissions-,  Kompagnie-,  Wechsel-,  Ju- 
welen-, Gold-,  Silber-,  Blech-,  Wein-,  Korn-,  Buch-,  Tuch-,  Seiden-, 
Leder-,  Leinwand-,  Spezerei-  und  überhaupt  aller  Land-  und  See- 
handlungen, wie  eine  jede  gehörig  zu  etablieren,  mit  Nutzen  fort- 
zusetzen und  ohne  Schaden  zu  erweitern  ist; 

4.  eine  hinlängliche  Nachricht,  von  Handlungsbedienten,  als 
Buchhaltern,  Unterhändlern,  Maklern,  Dienern  und  Jungen; 

5.  einen  nötigen  Unterricht  von  Handelsrechnungen,  Handels- 
büchern und  -Briefen,  wie  solche  geschickt  anzufertigen  und  zier- 
lich zu  schreiben  sind; 

6.  eine  sichere  Anweisung  zur  Erkenntnis  des  Postwesens  .  .  , 
und  was  für  ein  Gewinn  daher  zu  ziehen  ist; 

7.  ein  vollständiges  Verzeichnis  aller  Arten  der  rohen  und  ver- 
arbeiteten Waren  usw. ; 

8.  einen  kurzen  Bericht  von  Künstlern,  Fabrikanten  und  Hand- 
werksleuten usw. ; 

9.  einen  umständlichen  Bericht  von  Kommerzienkollegia,  Han- 
delsgerichten usw.; 

10.  eine  genaue  Anzeige  aller  Rechte  und  Privilegien  der  Kauf- 
mannschaft ; 

11.  eine  deutliche  Erklärung  aller' im  Handel  usw.  gebräuch- 
lichen Wörter  und  Redensarten; 

12.  eine  getreue  Anleitung  für  Kaufmannsdiener; 

13.  die  Anfangsgründe  aller  kaufmännischen  Wissenschaften  und 

14.  eine   „Handlungshistorie". 

Dieser  großen  Aufgabe  hat  sich  nun  Ludovici  mit  einem 
wahren  Bienenfleiße  gewidmet,  und  er  hat  sie  fast  gänzlich  dem 
Plane  gemäß  wie  niemand  vor  und  nach  ihm  gelöst.  Das  „Kauf- 
manns-Lexicon",  unter  welchem  Titel  das  Gesamtwerk  schließlich 
herauskam,  enthält  nämlich  zunächst  das  versprochene  Wörterbuch, 
das  etwa  4V2  der  fünf  starken  Bände,  auf  die  es  schließlich  an- 
wuchs, in  Anspruch  nimmt.  Ihm  ist  sodann  ein  „Grundriß  eines 
vollständigen  Kaufmanns -Systems,  nebst  den  Anfangsgründen  der 
Handlungswissenschaft,  und  angehängter  kurzen  Geschichte  der 
Handlung  zu  Wasser  und  zu  Lande,  woraus  man  zugleich  den 
gegenwärtigen  Zustand  der  Handlung  von  Europa,  auch  bis  in  die 
andern  Welttheile,    erkennen   kann,    zum   Dienste    der  Handlungs- 


—     55     — 

beflissenen  entworfen",  angehängt,  der  in  drei  getrennten  und  selbst- 
ständigen Abhandlungen  die  Zusammenfassungen  enthält,  die  Lu- 
dovici  gegenüber  den  bloßen  Einzelausführungen  des  Wörterbuches 
für  am  dringendsten  nötig  hält').  Sie  stehen  mit  diesem  und  unter- 
einander durch  zahlreiche  Hinweise  in  Verbindung,  so  daß  in  ge- 
wissem Sinne  das  Gesamtwerk  ein  organisches  Ganzes  bildet.  Die 
einzelnen  Artikel  des  Lexikons  sind  leider  nicht  mit  Literatur- 
angaben versehen,  vielmehr  plante  Ludovici  die  Schaffung  einer 
besonderen  Literaturübersicht,  die  aber  niemals  erschienen  ist. 

Da  der  Verfasser  als  Nur-Gelehrter  allein  auf  das  Zusammen- 
tragen und  systematische  Aufbauen  des  Stoffes  und  nur  in  geringem 
Maße  auf  die  Hinzufügung  eigener  Meinungen  und  Erfahrungen 
sein  Augenmerk  richten  konnte,  so  erfüllte  ihn  denn  auch  diese 
damit  erstmalig  geleistete  Arbeit  mit  nicht  geringer  Genugtuung. 
„Ich  glaube  nicht",  so  schreibt  er  in  der  Vorrede  zum  Grundriß, 
„daß  mir  jemand  das  Vergnügen  streitig  machen  kann,  daß  ich 
der  erste  sei,  welcher  die  so  wichtige  als  höchst  nötige  Kaufmann- 
schaft, insofern  dieses  Wort  für  eine  Wissenschaft  der  Kaufleute  ge- 
nommen wird,  in  ein  ordentliches  und  nach  der  Kunst  abgefaßtes 
System  gebracht  hat.  Niemand  vor  mir  hat  überdacht,  (aus  welchen 
Teilen  sie)  bestehe.  Niemand  vor  mir  hat  den  Unterschied  der 
Handlungswissenschaft  oder  der  Wissenschaft,  die  Handlung  ordent- 
lich zu  treiben,  von  der  Handlungspolitik  oder  der  Regierungskunst 
des  Staates,  das  ist  der  Wissenschaft,  wie  die  Handlung  in  einem 
Staate  zu  ihrer  Vollkommenheit  und  in  den  besten  Flor  zu  bringen 
sei,  beobachtet.  Niemand  vor  mir  hat  alle  einem  Kaufmanne  nötigen 
oder  doch  nützlichen  Wissenschaften  in  zwei  Klassen  aufgestellt, 
deren  die  erstere  die  eigentliche  Kaufmannschaft  .  .  .,  die  letztere 
aber  die  angewendete  Kaufmannschaft  ...  in  sich  faßt. 

Es  hat  auch  endlich  niemand  vor  mir  den  (wichtigsten)  Teil 
der  kaufmännischen  Hauptwissenschaften,  nämlich  die  Handlungs- 
wissenschaft, in  eine  systematische  Ordnung  gebracht  und  derselben 
Anfangsgründe  in  solcher  Ordnung  wirklich  geliefert.  Was  nun 
diesen  letzten  Punkt  anbetrifft,  so  räume  ich  gern  ein,  daß  man 
von  dem  Herrn  Savary  und  einigen  anderen  in  Kaufmannssachen 
erfahrenen  Männern  schon  vorher,  ehe  ich  mich  mit  den  kauf- 
männischen Wissenschaften  zu  beschäftigen  angefangen  habe,  gründ- 
liche Ausarbeitungen  im  Druck  gehabt  habe,  welche  einem  Handeis- 
manne  gar   dienliche  Anleitungen    geben,   wie    man  die  Handlung 

1)  Dieser  dreifache  Anhang  ist  noch  einmal  für  sich  allein  176S  aufgelegt 
worden.    In  der  ersten  Auflage  bildet  er  die  zweite  Hälfte  des  fünften  Lexikonbanr'es. 


—     56     — 

mit  Vorteil  treiben  könne  und  solle.  Ich  gestehe  auch  \villi<,f  zu, 
daß  ich  ohne  solche  Schriften  nicht  würde  im  Stande  gewesen  sein, 
meinen  Grundriß  eines  vollständigen  Kaufmannssystems,  nebst  den 
Anfangsgründen  der  Handlungswissenschaft,  .  .  .  der  Presse  zu  über- 
geben. Allein  durchlieset  man  jene  Bücher,  so  wird  man  gar  bald 
entdecken,  daß  sie  nicht  in  einem  systematischen  Zusammenhange, 
wenigstens  doch  nicht  in  derjenigen  Ordnung  abgefasset  sind,  nach 
welcher  ich  meine  Anfangsgründe  der  Ilandlungswissenschaft  ge- 
schrieben, als  in  welchen  ich  die  genaue  Verknüpfung  der  Kapitel 
und  Materien  vermittelst  Anführung  der  Paragraphen,  worinnen 
dasjenige  bereits  abgehandelt  ist,  was  den  Grund  und  Urstoff  des 
Nachfolgenden  enthält,  allenthalben  angemerkt  habe."  Auch  für 
das  Studium  der  Handlungspolitik  ist  es  nötig,  die  davon  ganz 
verschiedene  „Lehre,  wie  man  eine  Privathandlung  zur  Erreichung 
des  vorgesetzten  Zweckes  regieren  soll",  zu  kennen,  „daher  ein 
Lehrer  der  Handlungspolitik  von  seinem  Zuhörer  nicht  ohne  Grund 
fordern  kann,  daß  er  schon  Vorlesungen  über  die  Handlungswissen- 
schaft gehört  habe." 

Bis  auf  Ludovicis  Meinung,  er  erst  habe  auf  die  Unterschiede 
dieser  beiden  Disziplinen  hingewiesen  —  wir  sahen  bereits,  daß 
Zincke  ganz  dasselbe  schon  vorher  getan  hatte  —  kann  man 
alles  das,  was  er  hier  als  sein  Verdienst  in  Anspruch  nimmt, 
wohl  unterschreiben.  Im  „Grundriß"  selber  setzt  er  übrigens  seine 
Ausführungen  zugunsten  der  Handlungsw^ssenschaft  fort.  Daß  noch 
kein  System  davon,  wie  es  sein  eigefies  „Kaufmannssystem"  ist, 
aufgestellt  worden  sei,  käme  wahrscheinlich  mit  daher,  daß  „man 
diese  Wissenschaft  bisher  verächtlich,  und  sonderlich  Prinzen  und 
adhger  Personen,  ja  überhaupt  der  Beschäftigung  eines  Gelehrten 
unanständig  gehalten  hat,  wo  man  doch  billig  hätte  einen  Unter- 
schied machen  sollen  zwischen  1)  selbst  handeln,  2)  die  Handlungs- 
wissenschaft und  die  .  .  .  Handlungspolitik  vortragen  und  3)  den 
Handel  eines  Staates  regieren."  Die  Notwendigkeit  eines  Systems 
werde  aber  weiterhin  auch  durch  gute  Lexika  nicht  aufgehoben, 
denn  es  könne  sich  ja  auch  niemand  von  einer  Uhr  einen  Begriff 
machen,  wenn  er  nur  die  Kenntnis  ihrer  auseinander  genommenen 
Teile  habe,  aber  das  Werk  in  seiner  Zusammensetzung  nicht  ge- 
sehen haben  sollte. 

B.  Das  Kaufmannssystem  ist  nun  für  Ludovici  der  Inbegriff 
aller  kaufmännischen  Wissenschaften  nach  ihrer  natürlichen  Ver- 
bindung untereinander  oder  auch  der  natürlich  zusammenhängende 
Inbegriff   aller  kaufmännischen  Wissenschaften.     Es  zerfällt  in  die 


—     57     — 

kaufmännischen  Haupt-  und  in  die  unentbehrlichen  und  die  bloß 
nützlichen  Nebenwissenschaften;  die  Hauptwissenschaften  ihrerseits 
zerfallen  wieder  in  die  Warenkunde,  die  Handlungswissenschaft  und 
die  Buchhaltung.  Demnach  ergibt  sich  folgendes  Bild^)  der  Ein- 
teilung des  Gesamtgebietes: 

Kaufmannssystem 

(Systema  scientiae  rei  mercatoriae) 

A.  B. 

Kaufmännische  Hauptwissen-  Kaufmännische  Nebenwissen- 
schaften Schäften 
(Kaufmannschaft    oder   Kaufmannswissen-  (Angewendete  Kaufmannschaft,  —  Merca- 
schaft  —  Mercatura  pura,  seu  proprietalis)  tura  mixta,  seu  applicata) 

1.  Warenkunde  1.   Unentbehrliche  Hilfswissenschaften 

2.  Handlungswissenschaft  2.  Nützliche  Hilfswissenschaften. 

3.  Buchhaltung. 

Abgesehen  von  der  Handlungswissenschaft,  deren  Anfangs- 
gründe Ludovici  in  dem  zweiten  Teile  des  Anhanges  zu  seinem 
„Kaufmannslexikon"  darlegt  —  der  erste  von  nur  30  Seiten  gr.  8^ 
ist  der  „Grundriß  eines  vollständigen  Kaufmanns -Systems",  der 
dritte  die  „Geschichte  der  Handlung  zu  Wasser  und  zu  Lande" 
mit  256  Seiten,  während  die  „Anfangsgründe  der  Handlungswissen- 
schaft" 335  Seiten  beanspruchen  —  entwickelt  er  die  übrigen  Glieder 
seines  Kaufmannssystems  nur  in  ganz  allgemeinen  Grundzügen. 
Was  die  W^arenkunde  anbelangt,  so  verweist  er  für  sie  auf  sein 
„Kaufmannslexikon",  und  das  Buchhalten  ist  nach  seiner  Meinung 
schon  von  anderen  so  hinlänglich  vorgetragen,  daß  er  sich  auf 
folgende  Systematisierung  dieser  Gebiete  beschränken  kann: 

Warenkunde  Buchhaltung 

I.  Allgemeine  Warenkunde  I.   Von  den  Handlungsarten 

1.  Einteilungen  der  Waren  1.  Proprehandlung 

2.  Ihre  Gewinnung    und    Herstellung  2.  Kommissionshandlung 

3.  Ihre  Eigenschaften  3.  Kompagniehandlung 

4.  Prüfungs-  und  Untersuchungsarten  II.   Von  den  notwendigen  Büchern 

5.  Sortierung  und  Auslese  1.   Memorial 

6.  Preise  und  Preisarten  2.  Journal 

7.  Arten  und  Ursachen  des  Verder-  3.  Hauptbuch 

bens  in.    Von   den  Nebenbüchern 

8.  Verpackung  und  Lagerung  IV.   Von  der  Führung  der  Bücher 

9.  Auffrischung  und  Verbesserung  1.  Inventur 


1)  Die  folgenden  Übersichten  sind  erst  von  mir  zusammengestellt. 


—     58     — 

10.  Aufmachung   und  Ausputz  2.  Grundrechnungen  und  Journalisie- 

11.  Verfälschungen  und  ihr  Nachweis  rung 

12.  Nutzen  und  Gebrauch  der  Waren  3.  Übertragungen 

II.  Besondere  Warenkunde  4.  Saldieren  und  Vortragen 

1.  Naturerzeugnisse  5.  Bilanzieren 

2.  Gewerbs-   und  Fabrikserzeugnisse  Ct.  Korrigieren 

V.    Von  den  Konten 

1.  Hauptkonten 

2.  Nebenkonten 

Eine  Warenkunde  oder  eine  Buchhaltung  in  der  Art  dieser 
Grundrisse  ist  m.  W.  niemals  versucht  worden,  obwohl  offenbar 
mancher  gute  Gedanke  damit  verwirklicht  worden  wäre.  Wie  der 
unbekannte  Verfasser  des  oben  genannten  „Versuchs  eines  Systems 
der  Handlungswissenschaft",  so  legt  auch  LudQvici  u.a.  Wert  auf 
eine  Gruppierung  der  Waren  nach  ihren  Gebrauchszwecken,  die 
aber  erst  in  neuerer  Zeit  wirklich  versucht  wurde.  Was  die 
Buchhaltung  anbetrifft,  so  läßt  sich  nach  der  Auffassung,  die  Lu- 
dovici  von  ihr  bekundet,  vermuten,  daß  er  heutzutage  wohl  nicht 
sie,  sondern  die  sogenannte  „Verrechnungswissenschaft"  als  dritten 
Teil  des  „Kaufmannssystems"  bezeichnen  würde.  Die  Warenkunde 
dagegen  können  wir  heute  überhaupt  nicht  mehr  zu  den  kaufmänni- 
schen Hauptwissenschaften  rechnen,  schon  darum  nicht,  weil  wir 
heute  im  Gegensatz  zu  früher  eine  Menge  Geschäftszweige  haben, 
für  die  sie  keine  Bedeutung  besitzt. 

Einen  großen  Teil  der  Handelskunde  hat  Ludovici,  wie  noch 
gezeigt  werden  soll,  in  seiner  Handlungswissenschaft  mit  unterge- 
bracht, den  Rest  dagegen  verteilt  er  auf  die  verschiedenen  Neben- 
wissenschaften. Er  zählt  zunächst  zu  den  notwendigen  das 
kaufmännische  Rechnen  und  Schreiben,  die  Münz-,  Maß-  und 
Gewichtskunde,  die  Kaufmannsgeographie,  das  Kaufmannsrecht, 
(Jurisprudentia  mercatoria),  die  Korrespondenzlehre  und  besondere 
kaufmännische  Wortkunst,  die  Warenzeichenkenntnis  und  die  Kunst, 
Warenpreise  mit  Buchstaben  u.  dgl.  anzugeben  („Cryptographie"),. 
und  endlich  die  Manufakturen-  und  Fabrikenkunde. 

Die  Korrespondenz  zählt  Ludovici  ganz  richtig  hier  mit  auf, 
insofern  sie  nach  Aneignung  der  Handlungswissenschaft  kein  be- 
sonderes Hauptgebiet  der  kaufmännischen  Wissenszweige  mehr  sein 
kann.  Die  Kaufmannsgeographie,  eine  Vorläuferin  unserer  Wirt- 
schaftsgeographie, sollte  nach  damaliger  Auffassung  u.  a.  auch 
darum  Produktionsgeographie  sein,  damit  der  Kaufmann  wisse,  wo 
er  aus  erster  Hand,  also  vermutlich  am  vorteilhaftesten,  kaufen 
könne,  und  welches   die   nächstgelegenen  Produktionsstätten  seien. 


—     59     — 

Sie  sollte  ferner  eine  Konsumtionsgeographie  sein,  damit  der  Kauf- 
mann seine  Waren  dorthin  führen  könne,  wo  er  die  höchsten  Preise 
erhoffen  dürfe  usw.,  und  ferner  war  sie  als  Verkehrsgeographie  im 
Hinblick  auf  die  Wahl  der  vorteilhaftesten  Verkehrswege  gedacht. 
Es  ist  aber  m.  W.  keine  Geographie  erschienen,  die  diesen  theore- 
tischen Forderungen  in  einer  für  die  kaufmännische  Praxis  verwert- 
baren Weise  gerecht  zu  werden  versucht  hafte,  und  sie  wird  auch 
wohl  nur  schwer  geschrieben  werden  können.  —  Die  Warenzeichen- 
lehre ist  eine  Vorläuferin  der  neuerdings  geforderten  Firmenkunde; 
sie  war  aber  von  Ludovici,  wie  einige  andere  Neben -„Wissen- 
schaften" auch,  nicht  gerade  als  ein  besonderer  Gegenstand  einer 
wissenschaftlichen  Darstellung  gedacht,  sondern  sollte  wohl  nur 
einen  gewissen  Kreis  praktischer  Kenntnisse  des  einzelnen  Kauf- 
manns andeuten.  —  Die  Manufakturen-  und  Fabrikenkenntnis  ist 
nach  ihm  dagegen  die  Kenntnis  technischer  Produktionsverfahren, 
die  teils  zur  Unterstützung  der  Warenkunde,  teils  als  Grundlage 
eigener  Verlags-  und  Fabrikationsversuche  den  Kaufleuten  nötig  ist. 

Als  bloß  nützliche  Nebenwissenschaften  bezeichnet  Ludovici 
schließlich  noch  die  Handelspolitik  der  Staaten,  die  Wappenlehre  zur 
Unterstützung  der  Münzkunde,  die  Naturlehre  und  die  Mechanik  als 
Ergänzung  der  Warenkunde,  die  Visierkunst  für  Inhaltsberechnungen, 
das  Zeichnen  zwecks  Herstellung  von  Mustern,  Plänen,  Grundrissen 
usw.,  die  Vernunftlehre  des  Wahrscheinlichen  und  schließlich  die 
„schönen"  Wissenschaften  zur  Vertiefung  der  Allgemeinbildung. 
Letzterer  dienen  auch  einige  der  schon  genannten  Fächer,  wie  die 
Kaufmannsgeographie;  sie  wird  nötig,  weil  es  „für  einen  Handels- 
mann allezeit  rühmlich  ist,  von  seiner  Gewerbs-  und  Lebensart 
gründlich  reden  zu  können."  —  Die  Vernunftlehre  des  Wahrschein- 
lichen ist  dem  Kaufmann  sehr  nützlich,  weil  ihm  „so  gar  viele  Fälle 
in  Ansehung  des  Gewinstes  und  Verlustes  vorkommen,  die  er  alle 
nach  den  Graden  der  Wahrscheinlichkeit  beurteilen  muß  ..."  Es 
ist  verwunderlich,  daß  erst  ein  Menschenalter  später  J.  M.  Leuchs 
auf  den  Gedanken  kam,  die  Regeln  dieser  Wahrscheinlichkeitslehre, 
die  für  die  kaufmännische  Unternehmung  in  Betracht  kommen,  wirk- 
lich herauszuarbeiten. 

Unter  den  „Neben Wissenschaften"  mag  man  vielleicht  die  Sprach- 
kenntnisse und  die  Handelsgeschichte  vermissen.  Beide  gehören 
nach  Ludovici  aber  mehr  zu  den  bloßen  Mitteln,  die  Kenntnisse 
in  den  bisher  genannten  Wissensgebieten  zu  vermehren  und  zu 
vertiefen.  Sie  stehen  in  einer  Reihe  etwa  mit  dem  Zeitungslesen, 
das  der  Verfasser  sehr  empfiehlt,  ferner  mit  dem  Nutzen  der  Kauf- 


—     60     — 

mannsakademien  und  tlcr  handlungswissenschaftlichen  Univcrsitäts- 
vorlesungen  nach  Marpcrgerschem  Muster,  dann  mit  tlein  Nutzen 
von  Warensainmlungcn  und  Kaufinannsbibliothcken.  Dergleichen 
Bibliotheken  müßten  nach  Ludovici  in  eine  historische  und  eine 
dogmatische  Abteilung  zerfallen.  „Das  Verzeichnis  historischer  und 
dogmatischer  Schriften,  so  zur  Kaufmannschaft  gerechnet  werden 
können,  sollte  die  gelehrte  Handelshistorie  (Ilistoria  htteraria  com- 
merciorum)  aufweisen,  die  jedoch  annoch  unter  die  nötigen  Wünsche 
gehört.''  Leider  hat  Ludovici  seine  Absicht,  selber  eine  solche 
Bücherkunde  zu  liefern,  nicht  mehr  verwirklicht,  sondern  diese 
Arbeit  ein  paar  späteren  Schriftstellern  überlassen.  Es  wird  davon 
noch  die  Rede  sein.  Auch  eine  Warensammlung,  die  er  sich  zu 
einer  Art  Kaufmanns-,  Geschäfts-  und  Handelsmuseum  ausgebaut 
denkt,  ist  zu  seiner  Zeit  nirgendwo  zu  finden  gewesen,  und  auch  wohl 
so,  wie  er  sie  sich  dachte,  bisher  noch  nirgends  eingerichtet  worden. 
Die  Zusammenstellung  der  Aus-  und  Fortbildungsmittel  und 
der  Nebenwissenschaften,  wie  sie  sich  so  im  ..Grundriß "  vorfindet, 
ist  aber  doch  wohl  nicht  so  scharf  durchdacht,  wie  es  die  übrigen 
Teile  dieses  Anhanges  sind.  Die  Einteilungsgründe  müßten  m.  E. 
aus  der  Erkenntnis  des  Zweckes,  des  Baues  und  des  Lebens  der 
Erwerbswirtschaften  des  Handels  entspringen,  wozu  denn  freilich 
vorweg  eine  genaue  Begrenzung  u.  a.  der  Begriffe  Handel  und  Er- 
werbswirtschaft nötig  wäre.  Jedenfalls  kann  die  Warenkunde  nicht 
als  eine  der  kaufmännischen  Hauptwissenschaften  gelten,  wenn,  wie 
hinterher  in  Ludovicis  „Anfangsgründen",  Warenhandlungen, 
Bank-,  Versicherungs-  und  Transportunternehmungen  usw.  in  einen 
Topf  geworfen  werden.  Aber  diese  Bemängelung  ist  auch  wieder 
insofern  unerheblich,  als  die  hier  gebotene  analytische  Entwicklung 
der  Handlungswissenschaft  und  der  Handlungswissenschaften  nicht 
nur  als  die  erste  ihrer  Art  bemerkenswert  ist.  Wenn  wir  auch  das 
aufgestellte  System  mit  Hei  lau  er  als  verfehlt  bezeichnen  müssen, 
so  ist  es  dennoch  zum  mindesten  lückenlos  und  in  seiner  Dreiteilung 
der  „Hauptwissenschaften''  (Warenkunde,  Handlungswissenschaft, 
Buchhaltung)  für  jene  Zeit,  in  der  der  Warenhandel  noch  so  gut 
wie  alle  kaufmännische  Tätigkeit  umfaßte,  immerhin  verständlich. 
Die  Abtrennung  der  ,.Nebenvvissenschaften"  weist  mit  Recht  einer 
Reihe  von  Kenntnissen  nur  untergeordnete  Bedeutung  zu.  Vor  allem 
aber  ist  wichtig,  daß  Ludovici  das  Haupt-  und  Kerngebiet  des 
für  den  Kaufmann  wertvollen  privatwirtschaftlichen  Wissens  der 
Handlungswissenschaft  zugewiesen  hat,  die  er  überhaupt  so  auffaßt, 
daß  sie  unserer  wissenschafdichen  Handelsbetriebslehre    entspricht. 


—     61     — 

C.  Seine  Auffassung  dieses  Kerngebietes  unserer  Fachdisziplinen 
erhellt  am  besten  aus  den  von  ihm  selbst  gleich  gelieferten  „An- 
fangsgründen der  Handlungswissenschaft",  dem  zweiten  Teile  des 
Anhanges  zu  seinem  Lexikon,  das  wir  nun  noch  betrachten  wollen. 

„Die  Handlungswissenschaft  ...  ist  eine  Wissenschaft,  die 
Handlung  gehörig  zu  treiben",  heißt  es  dort  im  ersten  der  732  Para- 
graphen der  „Anfangsgründe".  „Solchemnach  muß  sie  alles  das- 
jenige lehren  und  erklären,  was  überhaupt  von  der  Handlung,  an 
und  für  sich  betrachtet,  und  insonderheit  von  ihrer  gehörigen  Trei- 
bung, einem  Kaufmanne  zu  wissen  sowohl  nötig  als  nützlich  ist. 
Weil  nun  die  Treibung  der  Handlung  vermittelst  gewisser  Personen 
geschieht,  und  diese  sich  dabei  verschiedener  Hilfsmittel  bedienen, 
so  muß  die  Handlungswissenschaft  die  Treibung  der  Handlung 
dergestalt  abhandeln,  daß  sie  zuvörderst  die  Personen  und  sodann 
die  Hilfsmittel  zu  ihrem  besonderen  Gegenstande  hat.  Kurz:  es  hat 
die  Handlungswissenschaft  zu  ihrem  Augenmerke  1.  die  Handlung 
an  und  für  sich,  2.  die  zu  ihrer  Treibung  erforderlichen  Personen 
und  3.  die  zu  eben  diesem  Ende  nötigen  und  dienlichen  Hilfs- 
mittel." 

Nach  dieser  Erklärung  sollte  man  meinen,  daß  im  ersten  Teile 
die  allgemeinen  Grundlagen  der  Handlungswissenschaft  und  eine 
S3'stematische  Einführung  in  sie  geboten  würde,  während  der  zweite 
Teil  die  Grundzüge  der  Arbeitsorganisation  und  der  dritte  Teil  end- 
lich diejenigen  der  Kapitalsorganisation  darlegen  müßte.  Das  ist 
jedoch  nicht  der  Fall,  vielmehr  kommt  Ludovici  im  ersten  Teile, 
„Von  der  Handlung  an  und  für  sich",  zu  folgenden  Kapiteln: 
Einleitung  (wie  vorhin) §§       1—4 

1.  Von  der  Handlung  überhaupt §§       5—25 

2.  Von  dem  Preise  oder  Werte  .......§§     26—35 

3.  Von  den  Münzen  überhaupt  und  von  dem  Gelde 
insonderheit §§     36 — 58 

4.  Von  dem  Maße,   der  Wage  nebst  Gewicht,  der 

Zahl  und  Nummer §§     59—82 

5.  Von  dem  Kredite,  der  Schuld,  der  Zahlung  und 

von  den  Bankrotten §§     83 — 116 

6.  Von  der  Warenhandlung  überhaupt     .     .     .     .  §§  117 — 127 

7.  Von  dem  Tausch-  und  Kaufhandel §§  128—144 

8.  Von  dem  Einkaufe  der  Waren    ......§§  145 — 171 

9.  Von  dem  Verkaufe  der  Waren §§  172—196 

10.  Von  dem  Rabatte,   der  Tara    und    dem  Gutge- 
wicht     §4j   197—215 


—     62     — 

11.  Von  Scliließun«^    und    Bindigkeit   eines  Waren- 

handcls ^4j  216—220 

12.  \'on  dem  Versenden,  Einpacken,  Bezeichnen  und 
Auspacken  der  Waren,  wie  auch  von  Waren- 
ahgaben (Zöllen) 4}S  221—238 

13.  \'on  der  Grosso-  und  der  Kramhandlung,  auch 

von  der  Kramerei  und  dem  Ilandwerk.skrame  .  §{j  239 — 271 

14.  Von  der  Handlung  zu  Wasser  und  zu  Lande  .  §§  272 — 287 

15.  Von  der  in-  und  ausländischen  Handlung    .     .  §§  288 — 294 

16.  Von  der  Assekuranz  und  Großavanturhandlung  §§  295 — 326 

17.  \'on  der  Wechselhandlung  überhaupt  und  von 

dem  Geldwechsel  und  Aktienhandel  insbesondere  §§  327 — 360 

18.  Von  der  Wechselhandlung  im  besonderen    .     .  §§  361—430 

19.  \'on  der  Kommissions-,  Kompagnie-  und  Spe- 
ditionshandlung        4j§  431—472 

Der  zweite  Teil,  „Von  den  Handlungsfähigen  und  von  den  zur 
Handlung  erforderlichen  Personen",  zerfällt  in  die  folgenden  acht 
Kapitel: 

1.  Von  den  handlungsfähigen  Personen  .     .     .     .  ij>:j  473 — 481 

2.  \'on  den  zur  Handlung  erforderlichen  Personen 
überhaupt §§  482—493 

3.  Von  dem  Handeismanne §§  494  —  511 

4.  Von  dem  Handelsdiener i?§  512—533 

5.  Von  dem  Handelsjungen §§  534 — 545 

6.  Von  dem  Mäkler §§  546 — 554 

7.  Von  den  öffentlichen  Handlungskompagnien     .  $$  555 — 557 

8.  Von  den  Handels-  und  Wechselgerichten,  auch 

von  guten  Männern  (Schiedsrichtern)  ...•§§  558 — 568 

Der  dritte  Teil  endlich,  der  „Von  den  Hülfsmitteln  zur  Trei- 
bung der  Handlung",  hat  neun  Kapitel,  nämlich: 

1.  \'on  den  Hülfsmitteln  zur  Treibung  der  Hand- 
lung überhaupt §§  569 — 576 

2.  Von  den  Handels-,  Stapel-  und  Niederlagsstädten  §§  577 — 595 

3.  Von  Häfen  und  Gestaden §§  596 — 615 

4.  Von  den  Niederlagen,  Gewölben  und  Kramläden  §§  616 — 621 

5.  Von  den  Messen  und  Jahrmärkten §§  622 — 640 

6.  Von  der  Schiffahrt §§  641—693 

7.  Von  dem  Fuhrwerke  und  dem  Postwesen    .     .  §§  694 — 709 

8.  Von  den  Giro-  und  Lehnbanken §§  710 — 725 

9.  Von  den  Pflanzstätten  (Kolonien) §§  726—732 


—     63     — 

Aus  dieser  Inhaltsübersicht  läßt  sich  schon  entnehmen,  daß 
Ludovici  reichlich  viel  Handelskunde  mit  in  die  „Anfangsgründe" 
hineingenommen  hat;  besonders  aber  besteht  der  dritte  Teil  fast 
ganz  aus  Kapiteln,  die  in  dieses  Fach  gehören.  Während  dieser 
Teil  auf  Grund  von  Quellen  entstanden  ist,  die  nicht  mehr  im 
einzelnen  nachzuweisen  sind,  beruht  der  erste  fast  ganz  auf  dem 
„Parfait  negociant"  und  der  zweite  auf  Marpergers  „Kaufmanns- 
jung" und  „Handels -Diener",  also  mittelbar  auch  mit  auf  J.  Sa- 
varj's  Werk.  \'on  Darlegungen,  die  ausgesprochen  auf  eine  Ent- 
wickelung  der  Grundzüge  der  Arbeits-  und  Kapitalorganisation 
hinausgehen,  ist  daher  in  den  „Anfangsgründen"  nichts  zu  finden. 
Desto  mehr  finden  sich  die  Sa vary sehen  Analysen,  Regeln  und 
Leitsätze  (wie  man  am  vorteilhaftesten  handeln  könne  und  solle) 
hier  wieder  und  zwar  vielfach  weiter  ausgeführt,  erläutert  und  er- 
gänzt, ja  hier  und  da  sind  auch  ganz  neue  Stücke  hinzugekommen, 
die  vielleicht  Ludovici  selber  zu  verdanken  sind. 

Das  erste  Kapitel  (§§  5 — 25)  spricht  fast  nur  von  dem  Nutzen 
des  Handels,  das  zweite  dagegen  von  den  Preisarten  und  den  Ur- 
sachen der  Preisschwankungen,  die  der  Kaufmann  beobachten  und 
ausnützen  muß.  Die  beiden  folgenden  Kapitel  sind  handelskund- 
lichen  Inhalts  und  nur  durch  ihre  Vollständigkeit  bemerkenswert. 
Das  fünfte  gibt  u,  a.  die  wichtigsten  Regeln  für  die  Kreditgeber 
und  -Nehmer,  ist  aber  im  übrigen  eine  bloße  Klassifizierung  der 
Schulden,  Zahlungsarten  usw.;  dasselbe  gilt  von  dem  nächsten  in 
Bezug  auf  die  Feststellung  der  einzelnen  Handelszweige  und  von 
dem  siebenten  in  Bezug  auf  die  Kaufarten.  Dagegen  enthalten  das 
achte  und  neunte  Kapitel  ausführliche  Darstellungen  der  „Pflichten 
und  Behutsamkeitsregeln"  des  Käufers  und  des  Verkäufers;  letz- 
terem wird  auch  gesagt,  wie  er  seinen  Verkaufspreis  zu  ermitteln 
und  seine  Waren  auszuzeichnen  habe,  wie  er  sie  vertreiben  und 
nur  bescheiden  loben  solle,  und  ferner,  daß  er  über  sein  Lager 
richtig  disponieren  und  nach  jedem  Verkaufe  das  Ordnen,  An- 
schreiben usw.  nicht  vergessen  soll.  Über  die  Lage  und  die  Be- 
schaffenheit des  Ladens  und  des  Lagers  berichtet  der  Verfasser  aber 
erst  im  dritten  Teil,  Kapitel  4  (§§  620,  621).  Das  zehnte  Kapitel 
ist  wiederum  rein  handelskundlicher  Art,  das  elfte  dagegen  geht 
auf  den  Kaufvertrag  als  Rechtsgeschäft  ein.  Auch  das  zwölfte  ist 
in  eine  Reihe  mit  den  früheren  nur  berichtenden  und  klassifizieren- 
den Kapiteln,  wie  etwa  das  vorhergehende  zehnte  es  ist,  zu  stellen. 
Im  13.  Kapitel  erfahren  wir  die  besonderen  Grundsätze,  die  die  Groß- 
händler  und   die   Kramer  beachten    müssen,   letztere  z.  B.  inbetreff 


—     64     — 

der  Wahl  ihiL-r  Lieferanten  (erste  und  zweite  Hand  usw.),  im  14. 
dagegen  diejenigen,  die  für  den  Seehandeltreibenden  hinzukommen. 
Kapitel  15  spricht  nur  im  allgemeinen  vom  Binnen-  und  Außen- 
handel, Kapitel  16  dagegen  von  der  Seeversicherung,  nämlich  von 
ihrer  Abwickelung  und  von  den  Grundsätzen,  nach  denen  der  Ver- 
sicherer zu  arbeiten  hat;  die  gleichfalls  darin  berührte  „Großavantur" 
wird  nur  erläutert.  Die  Landtransportversicherung  kommt  nach 
unserm  Verfasser  nur  dann  vor,  wenn  geschmuggelt  oder  verbotene 
Ware  eingeführt  werden  soll. 

Im  siebzehnten  Kapitel  ist,  anscheinend  zum  ersten  Male  in 
der  deutschen  Literatur,  der  Aktienhandel  mit  besprochen  und  zwar 
auf  Grund  holländischer  Quellen:  die  Aktienpreise  steigen  und  fallen 
je  nachdem,  ob  eine  Gesellschaft  vom  Glück  begünstigt  ist,  ihren 
Kredit  verliert,  ob  sie  an  guten  oder  bösen  Nachrichten  aus  den 
Kolonien  oder  über  Krieg  und  Frieden  interessiert  ist,  ob  ihre 
Waren  gut  oder  schlecht  verkauft  werden,  oder  ob  viel  oder  wenig 
„Geld  auf  dem  Platze''  ist.  In  Holland  ist  der  Aktienhandel  schon 
so  bedeutend,  daß  es  dort  eine  Menge  Leute  gibt,  die  —  man  denke'. 
—  bloß  von  ihm  leben  und  reich  werden.  Das  folgende  Kapitel 
enthält  eine  zwar  umfangreiche,  aber  vorzügliche  W^echsellehre; 
leider  erfahren  wir  hier  nichts  über  die  Grundsätze  des  Wechsel- 
handels. Das  den  Schluß  des  ersten  Teiles  bildende  19.  Kapitel 
enthält  hauptsächlich  die  Savary  sehen  Geschäftsregeln  für  die 
Kommissionäre,  die  Spediteure  und  die  Teilhaber  einer  Handels- 
gesellschaft. 

Im  zweiten  Teile  finden  sich  zunächst  nur  Übersichten  über 
die  Arten  und  Eigenschaften  der  Kaufleute  und  dergleichen  mehr. 
§  505  enthält  eine  Erörterung  der  Frage,  ob  der  Kaufmann  speku- 
lieren (hazardieren)  dürfe*),  eine  Frage,  die  ich  bei  anderen,  auch 
bei  Savary,  vorher  nicht  behandelt  gefunden  habe.  Ludovici 
sagt  dazu :  „Wenn  ein  Kaufmann  nicht  mehr  hazardiert,  als  die 
Klugheit  erlaubt,  so  ist  solches  an  ihm  mehr  zu  loben  als  zu  tadeln. 
Es  sind  aber  drei  Fälle,  in  welchen  die  Klugheit  solches  erlaubt. 
1.  Wenn  das  anzuwendende  Mittel  kein  Geld,  sondern  bloße  Be- 
mühung kostet;  2.  wenn  das  Mittel  zwar  Geld  kostet,  aber  nicht 
mehr,  als  man  leicht  verschmerzen  kann,  und  der  Gewinn  gleich- 
wohl um  ein  Ansehnliches  größer  als  der  Aufw^and  ist,  und  3.  wenn 
Wahrscheinlichkeit  da  ist,  daß  die  Sache  gut  gehen  werde.  In 
Ansehung  des  letzten  Punktes  hat  man  die  Gründe  für  und  wider 

1)  Vgl.  S.  59. 


—     65     — 

die  Hoffnung  reiflich  zu  überlegen  und  gegeneinander  zu  halten, 
um  die  Grade  der  Hoffnung  bestimmen  zu  können.  Ist  nun  das 
Mittel  in  Ansehung  unseres  ganzen  Vermögens  von  sehr  hohem 
Werte  und  wir  haben  den  stärksten  Grad  der  Hoffnung  vor  uns 
oder  ist  das  Mittel  von  sehr  schlechtem  (geringem)  Werte  und  die 
Hoffnung  auch  in  einem  schlechten  Grade,  so  ist  es  in  beiden 
Fällen  zu  hazardieren  erlaubt,  wenn  der  gesuchte  Nutzen  sehr  groß 
ist.  Hingegen,  ist  die  Hoffnung  schlecht  und  die  Mittel  sind  sehr 
kostbar,  so  darf  man  sich  dem  Hazarde  nicht  aussetzen,  gleichwie 
es  auch  nicht  ratsam  ist,  sein  ganzes  Vermögen  an  Absichten  zu 
wagen,  wenn  auch  die  Hoffnung  und  der  gehoffte  Nutzen  noch  so 
groß  wären,  weil  es  gleichwohl  nur  Hoffnung  und  keine  Gewißheit 
ist.     Manche  Kaufleute  haben  ihre  besondere  Hazardkasse." 

§  507  enthält  die  Regeln  usw.,  die  der  Kaufmann  bei  der  An- 
legung einer  neuen  Handlung,  §  508  die,  die  er  bei  Übernahme 
einer  schon  bestehenden  Handlung  zu  beobachten  hat,  §§  509  und 
510  ebenso  diejenigen  für  die  Annahme  von  Gehilfen  und  Lehr- 
lingen. Sie  finden  sich  sämtlich  schon  bei  Savary  oder  Mar- 
p erger  und  sind  vielfach  nicht  besonders  tiefgründig.  Die  fol- 
genden beiden  Kapitel  enthalten  einen  Auszug  aus  Marpergers 
„Handels-Diener"  und  „Kaufmanns-Jung".  Das  sechste  Kapitel 
bringt  eine  Einteilung  der  Mäkler  und  dann,  nach  Savary,  die 
Arbeitslehre  für  diese.  Die  letzten  beiden  Kapitel  enthalten  nur 
Handelskundliches.  Ebenso  enthält,  wie  schon  oben  gesagt  wurde, 
der  ganze  nun  folgende  dritte  Teil  fast  nur  Handelskunde.  Aus- 
genommen sind  nur  die  schon  genannten  §§  620  und  621  und 
dann  die  §§  632  ff.  über  die  Pflichten  usw.  des  Kaufmannes,  der 
die  Messen  erfolgreich  besuchen  will,  endlich  auch  noch  Teile  des 
sechsten  Kapitels,  die  über  die  Arbeitspflichten  des  Schiffers  sprechen. 
Alle  übrigen  Erläuterungen  und  Zusammenstellungen  sind  zwar  an 
sich  und  auch  als  die  ersten  systematischen  sehr  verdienstlich,  aber 
doch  für  die  Kenntnis  vom  Bau  und  Leben  der  Handelsunternehmung 
und  für  die  Entwicklung  von  Organisations-  und  Betriebsgrundsätzen 
von  nur  geringem  Werte.  Sie  gestatten  nur  einen  Blick  in  die 
Technik  der  damaligen  Geschäfts-  und  Verkehrsabwickelung  und 
auch  das  noch  bloß  lückenhaft  und  mittelbar. 


Mit  Ludovici  hatte  die  Entwickelung  der  Handlungswissen- 
schaft insofern  einen  gewissen  Abschluß  erreicht,  als  nach  der 
Periode  unsystematischer  Einzelarbeiten  nun  eine  solche  systema- 
tischer, wissenschaftlicher  Zusammenfassungen  der  zerstreuten  Ein- 

Zeitschrift  für  die  ges.  Staatswissensch.    Ergänzungsheft  49.  5 


—     66     — 

zelcrkenntnisse  einsetzte.  Nach  nicht  allzu  zahlreichen,  sporadisch 
entstandenen  Schriften  mit  handlungswissenschaftlicher  Färbung 
entstand  der  „Parfait  negociant"  von  J.  Savary,  der  wohl  nur 
von  G.  D.  Paris  ,.Negotiante"  beeinflußt  war,  als  das  erste  Glied 
einer  von  da  an  fortlaufenden  Kette  weiterer,  besonders  deutscher 
Arbeiten.  P.  J.  Marperger  war  es,  der,  mächtig  angeregt  von  Sa- 
vary (und  auch  Perij,  bei  uns  den  Anstoß  zu  einem  lebhafteren 
Aufschwünge  der  gesamten  kaufmännischen  Literatur  gab  und  uns 
auch  das  eine  oder  andere  Kapitel  aus  dem  „Parfait  ndgociant" 
übersetzte  oder  bearbeitete.  Auch  in  seiner  Eigenschaft  als  halb 
kaufmännisch-praktischer,  halb  gelehrter  Schriftsteller  steht  er  auf 
der  Schwelle  der  neuen  Zeit,  die  vorwiegend  die  Tätigkeit  der  Kamera- 
listen auf  dem  Gebiete  der  Handlungswissenschaft  bringen  sollte. 
Immer  klarer  hatte  sich  aus  den  merkantilistisch-kameralistischen 
Grundgedanken  heraus  die  Notwendigkeit  und  Möglichkeit  einzelner 
Privatwirtschaftslehren  ergeben,  darunter  auch  die  der  Handlungs- 
wissenschaft, deren  Eigenart  von  G.  H.  Zincke  und  C.  G.  Ludo- 
vici  besonders  klar  erfaßt  wurde.  Ludovici,  der  Stubengelehrte, 
machte  sich  nun  daran,  auf  Grund  der  in-  und  ausländischen  Einzel- 
schriften älteren  und  neueren  Datums  und  auf  Grund  der  vorhan- 
denen lexikalischen  Materialsammlungen  seine  eigene  Sammlung, 
die  beste  bisherige  überhaupt,  zu  schaffen  und  deren  vereinzelte 
Ausführungen  in  den  „Anfangsgründen  der  Handlungs Wissen- 
schaft" systematisch  zusammenzufassen.  Er  ging  sogar  noch  weiter 
und  brachte  die  Gesamtheit  der  dem  Kaufmann  nötigen  und  nütz- 
lichen Kenntnisse  in  seinem  „Grundriß"  in  ein  System,  so  daß  die 
zentrale  Stellung  der  Handlungswissenschaft  im  Kreise  der  kauf- 
männischen Wissensgebiete  gebührend  hervorgehoben  wurde. 

Bemerkenswert  ist  die  Plötzlichkeit,  mit  der  diese  jüngste  Ent- 
wickelung  einsetzte,  indem  nämlich  Zinckes  undLudovicis  ein- 
schlägige Arbeiten  und  das  „Sistem"  jenes  unbekannten  Praktikers 
ungefähr  gleichzeitig  in  den  ersten  1750er  Jahren  herauskamen. 
Es  wäre  aber  verfehlt,  daraus  auf  ein  entsprechend  stark  ent- 
wickeltes kaufmännisches  Bedürfnis  schließen  zu  wollen.  Soweit 
nicht  überhaupt  nur  kameralwissenschaftliche  Strömungen  zu  gründe 
lagen,  war  das  kaufmännische  Interesse  immer  noch  überwiegend 
auf  das  Handelstechnische  gerichtet,  wenn  man  überhaupt  daran 
dachte,  den  Handelserwerb  über  das  Hergebracht-Handwerksmäßige 
hinaus  zu  entwickeln.  Ihn  auf  eine  wirklich  gediegene  wirtschafts- 
wissenschaftliche Grundlage  zu  stellen,  das  war  damals  wie  heute 
noch   nur  Wunsch    und    Bedürfnis    einer  sehr   dünnen  Oberschicht 


—     67     — 

von  Kaufleuten,  die  eine  entsprechende  Anlage  und  Neigung  zum 
Theoretisieren  besitzen  und  dem  spekulativen  Denken  neben  dem 
praktischen  Erfahren  eine  praktische  Verwertbarkeit  zuerkennen. 

C.  Der  „Versuch"  von  J.  K.  May. 

Wenige  Jahre  nach  dem  Erscheinen  der  Arbeiten  von  Ludo- 
vici  kam  zu  Altona  und  Lübeck  1762  der  „Versuch  einer  all- 
gemeinen Einleitung  in  die  Handlungswissenschaft"  von  J.  K.  May, 
einem  praktischen  Kaufmann  i),  heraus,  ein  Buch,  das  mehrere  Neu- 
auflagen, so  1770,  1786  (und  noch  1817?)  erlebte.  Ich  halte  mich 
im  folgenden  an  die  wesentlich  vermehrte  und  verbesserte  Auflage 
von  1786,  die  Frankfurt  und  Leipzig  erschien  und  in  zwei  Bänd- 
chen zusammen  820  Oktavseiten  umfaßt.  Die  Arbeit  ist  ganz  in 
der  hier  und  da  vorhandenen  kameralistischen  Anschauung  befangen, 
nach  der  unter  Handlung  der  gesamte  volkswirtschaftliche  Verkehr 
zu  verstehen  ist,  der  von  irgend  welchen  Erwerbswirtschaften  aus- 
geht, gleichgültig,  ob  es  sich  um  solche  des  Warenhandels  oder 
der  Gewerbe,  der  Schiffahrt  oder  der  Landwirtschaft  usw.  handelt  2). 
Da  der  Verfasser  alle  diese  Wirtschaftsarten  in  seine  Handlungs- 
wissenschaft hineinbeziehen  möchte,  seine  eigenen  Kenntnisse  und 
Erfahrungen  aber  zur  Ausfüllung  eines  so  weit  gesteckten  Rahmens 
nicht  ausreichen,  so  ist  nur  ein  Teil  der  Arbeit  voll  befriedigend 
ausgefallen.  Es  hat  sogar  den  Anschein,  als  wenn  May  in  be- 
wußtem Gegensatz  zu  Ludovici  seiner  Handlungs Wissenschaft  so 
weite  Grenzen  gibt,  und  als  wenn  er  sich  zu  seinem  „Versuch" 
auf  Grund  von  ein  paar  praktischen  Unrichtigkeiten,  die  er  bei 
jenem  gefunden  zu  haben  glaubt,  entschlossen  haben  könnte. 

Da  der  „Versuch"  besonders  zur  Einführung  junger  Kaufleute 
bestimmt  war,  so  mag  er  wohl  schon  deshalb  von  der  tiefgründigen 
und  auch  etwas  hölzernen  Tonart  der  Ludovici  sehen  Arbeiten 
abweichen.  Mit  Bezug  darauf  sagt  May  selber  3):  „Diejenigen,  für 
die  ich  eigentlich  nicht  schreibe,  werden  einige  Nachsicht  gegen 
meine  Arbeit  haben,  wenn  sie  das  vermeintlich  GründUche  und 
Gelehrte,  welches  sie  suchen,  vielleicht  nicht  finden.  Ich  schreibe 
als  ein  Handelsmann  ..."  May  ist  auch  der  Erste,  der  auch  an 
die  im  Handel  tätigen  Frauen  gedacht  hat.    Er  sagt  nämlich  u.  a.: 

1)  Lt.  Meusel  geb.  1731,  gest.  1784.  Nach  1780  machte  er  in  Kassel  „Ent- 
würfe zu  einer  Art  Handelsschule."  Viele  Auflagen  und  Übersetzungen  erlebte  sein 
„Vers,  in  Handlungsbriefen  .  .  .  nach  Gellertschen  Regeln",  Altona  1756. 

2)  Ähnlich  heute  bei  Schär  a.  a.  O. 

3)  Vorrede  zur  ersten  Auflage. 

5* 


—     68     — 

„Diejenigen,  die  ihrem  Stande  nach,  es  sei  durch  die  Geburt  oder 
durch  Verheiratungen,  mit  der  Handlung  verbunden  sind,  und  die 
etwas  WesentUches  den  Beschäftigungen  der  Eitelkeit  vorziehen, 
werden  Gelegenheit  haben,  aus  diesem  Werke  einen  richtigen  Be- 
griff von  dem  Wesen  der  Handlung  und  von  den  Handlungs- 
geschäften zu  erlangen,  ohne  nötig  zu  haben,  sich  der  gewöhn- 
lichen niederen  Lehrart  zu  unterwerfen.  Den  Nutzen  dieser  Kenntnis 
werden  die  gewiß  finden,  die  das  Unglück  trifft,  in  den  Witwen- 
stand zu  geraten  und  nicht  genugsam  mit  getreuen  Leuten  zur  Fort- 
setzung ihrer  Handlung  versehen  sind." 

Die  hier  ausgedrückte  Meinung,  als  könne  die  theoretische 
Ausbildung  die  praktische  ganz  ersetzen,  ist  für  einen  Praktiker, 
noch  dazu  vor  150  Jahren,  jcdenfalLs  recht  ungewöhnlich.  Sie  wird 
von  May  noch  einmal  ausdrücklich  betont,  indem  er  sagt,  es  sei 
„ein  ungegründetes  Vorurteil,  wenn  man  glaubt,  daß  die  Handlung 
nicht  anders  als  durch  Übung  und  Erfahrung  erlernt  werden  könne. 
Wahr  ist  es,  daß  diese  Meinung  auch  durch  die  mehresten  Handels- 
leute unterstützet  wird;  allein  wahrscheinlich  muß  man  eben  darin 
die  Ursache  suchen,  warum  so  viele  Handelsjungen  unwissend  aus 
der  Lehre  treten  ..." 

Nach  dem  Vorgange  kameralistischer  Arbeiten,  wie  der  von 
Zincke  z.  B.,  unterscheidet  nun  Mays  „Versuch"  einen  all- 
gemeinen oder  theoretischen  und  einen  besonderen  oder  praktischen 
Teil  der  Handlungswissenschaft.  Die  Theorie  des  ersten  Teiles 
soll  „die  Ursachen  des  Wachstums  und  Verfalls  eines  Handels  ein- 
sehen" lehren  und  „einen  allgemeinen  Begriff  von  den  Triebfedern 
und  Hülfsteilen  (der  Handlung)  im  ganzen"  geben;  man  lernt  aus 
ihm  „Unternehmungen  mit  Überlegung  anfangen  und  ausführen, 
aus  den  Zeitläuften  einen  Vorteil  ziehen  usw.  Die  Praktik  (im 
zweiten  Teile)  lehret  das  letztere  nicht  minder,  sie  läßt  sich  aber 
hauptsächlich  auf  jeden  besonderen  Teil  der  Handlungsarten  und 
Geschäfte  herab  und  bemerket  Kleinigkeiten,  welche  die  Theorie 
übersiehet"'). 

Vorausgeschickt  werden  der  ganzen  Arbeit  noch  eine  allgemeine 
vorläufige  Einleitung  und  Begriffsbestimmung,  eine  Geschichte  des 
Handels  und  der  Schiffahrt  und  eine  Erklärung  kaufmännischer 
Fachausdrücke;  der  besondere  Teil  wird  noch  einmal  durch  be- 
sondere Vorbemerkungen  über  die  Unterschiede  zwischen  den  theo- 
retischen und  praktischen  Teilen  und  dergleichen  eingeleitet.     Das 

1)  Vgl.  damit  die  Unterscheidung  einer  allgemeinen  und  einer  speziellen  Volks- 
wirtschaftslehre. 


—     69     — 

bemerkenswerteste  Stück  von  den  eben  genannten  ist  die  Handels- 
geschichte, die  aber  Anlehnungen  an  Lud o vi ci  zeigt,  nur  ist  auch 
hier  der  Stil  flüssiger  und  die  Darstellung  lebensvoller  als  bei  je- 
nem. Das  war  ihr  großer  Vorzug,  denn  damals  —  wie  heute  noch  — 
fehlte  es  an  einer,  die  der  Kaufmann  hätte  gern  lesen  müssen.  Na- 
türlich hätte  sie  an  dieser  Stelle,  ebenso  wie  die  Terminologie,  vom 
Standpunkte  der  Handlungswissenschaft  aus  gesehen,  auch  überhaupt 
fehlen  dürfen.  —  May  kommt  nun  zu  folgender  Gesamtdisposition: 

Handlungs  Wissenschaft 

Allgemeiner  Teil  Besonde  re  r  Teil 

A.  Vorläufige  Einleitung  usw.  A.  Über  Theorie  und   Praxis  usw. 

B.  Geschichte  des  Handels  und  der  Schiff-    B.  Praktische  Einleitung  in  die  Handlungs-' 

Wissenschaft. 
III.')    Von    der  Land-    und  Stadtwitrt- 

schaft  oder  von  den  Holzungen,  von 
dem  Land-,  Feld-  und  Bergbau  und 
von  den  Manufakturen  und  Fabriken 
IV.  Von  der  Schiffahrt  und  der  Fische- 
rei, von  den  Befrachtungen  und 
vom  Versicherungswesen 
Von  den  "Waren-,  Wechsel-,  Kom- 
missions- und  Speditionsgeschäften 

1.  Von  der  Warenhandlung 

a)  Von  dem  gewöhnlichen  Ein- 
und  Verkaufe 

b)  Von  dem  öffentlichen  Ein- 
und  Verkaufe 

c)  Von  den  Spekulationsgeschäf- 
ten 
a)   Ein-     und    Verkäufe     auf 

Lieferung 
ß)   Ein-    und    Verkäufe     auf 

Mutmaßung 
y)    Prämiengeschäfte 

d)  Von  den  Maßen,  Gewichten 
und  Abzügen  und  von  der  Aus- 
fertigung der  Rechnungen 

2.  Von  den  Wechsela 

3.  Von    den     einzelnen    WechseK 
geschaffen 

4.  Von  den  Kommissions-  und  Spe- 
ditionsgeschäften 

5.  Von  den  Kalkulationen 
VI.  Anhang:   Von  den  Fallimenten  und 


fahrt 

C.  Kaufmännische  Terminologie 

D.  Theoretische  Einleitung    in    die  Hand- 
lungswissenschaft 

I.  Von  der  Handlung,  den  Manufak- 
turen, den  Fabriken,  der  Schiffahrt 
und  ihren  „allgemeinen  Hülfsteilen" 
überhaupt 

1.  Von  der  Handlung  ganz  allge- 
mein 

2.  Von  Handelsfreiheiten  und  Ge- 
setzen 

3.  Vom  Kredit 

4.  Von  den  Zinsen 

5.  Vom  Gold  und  Silber  und  den 
Münzen  daraus 

6.  Von  den  Banken 

7.  Von  Pari,  Agio  und  Wechsel- 
kursen 

S-  Vom  Verdienst  und  Gewinn 
9.  Vom  Verlust  und  seinen  Folgen 
II.  Von  den  Eigenschaften  eines  Han- 
delsmannes, von  seinen  allgemeinen 
Verrichtungen,  von  den  Handels- 
gesellschaften und  den  Mäklern 

1.  V^on  den  Eigenschaften  und 
Pflichten  eines  "Lehrlings,  Ge- 
hilfen und  Kaufmannes 

2.  Von  den  allgemeinen  Kenntnissen 
und  Arbeiten  eines  Handels- 
mannes 

3.  Von   der   Einrichtung    und   Lei- 


V 


1)  Diese    fortlaufende  Nummerierung    entspricht  der  von  May  angewendeten. 


—     70     — 

tung  eines  Kontors  und  von  den  Bankrotten  und  der  Verwaltung  und 

Arbeiten  der  dort  erforderlichen  Ausschaltung  der  Massen. 

Personen 

4.  Von  den  Handlungsbflchern 

5.  Von  den  Handeisgesellschaften 

6.  Von  den  Mäklern. 

Aus  dieser  Übersicht  erhellt  schon,  daß  Abschnitt  I  der  theo- 
retischen Einleitung  und  Abschnitt  III,  IV  der  praktischen  Einleitung, 
sowie  die  Abschnitte  II  und  V  hüben  und  drüben  einander  ent- 
sprechen. Der  erste  kennzeichnet  sich  als  allgemein  volkswirtschaft- 
lich, der  zweite  als  allgemein  handlungswissenschaftlich,  wenn  auch 
nicht  in  so  ausgesprochenem  Maße.  Der  dritte  und  der  vierte  Ab- 
schnitt schweifen  beide  mehr  oder  weniger  in  das  Technische  der 
dort  behandelten  Erwerbszweige  ab,  statt  daß  sie  uns  etwa  so,  wie 
es  die  heutige  praktische  oder  spezielle  Volkswirtschaftslehre  tut, 
mit  ihren  rein  wirtschaftlichen  Besonderheiten  bekannt  machten. 
Die  Abschnitte  II,  V  und  VI  sind  am  besten,  weil  hier  der  \'er- 
fasser  aus  der  Fülle  seiner  praktischen  Erfahrungen  schöpfen  konnte, 
aber  auch  der  erste  Abschnitt  ist  davon  sehr  zu  seinem  Vorteil 
beeinflußt  worden.  So  erkennt  May  schon  die  Bedeutung  der 
Wechsel  für  die  Zahlungsbilanz,  die  Ursachen  des  Steigens  und 
Fallens  des  Zinsfußes,  des  Agios  und  der  Wechselkurse  usw.  U.  a. 
ist  er  auch  für  die  Schaffung  einer  Einheitswährung  und  -münze 
in  Deutschland^). 

In  den  letzten  Kapiteln  des  ersten  Abschnittes,  in  denen  vom 
Gewinn  und  Verlust  die  Rede  ist,  bekundet  May  eine  gesunde 
Auffassung  von  dem  Reingewinn,  der  je  nach  den  Haushaltsauf- 
wendungen mit  beurteilt  werden  muß.  Die  ersten  Kapitel  des  zweiten 
Abschnittes  gehen  vielfach  auf  Ludovici ,  Marpergcr  und  Savary 
zurück.  Hier  und  da  bietet  May  aber  auch  Eigenes  darin,  so  in  den 
§§  420 — 448  allgemeine  Grundsätze  der  Bekanntmachung  und  des 
Betriebes  eines  Geschäftes.  Neu  sind  auch  seine  Ausführungen  über 
die  Einrichtung  und  Führung  eines  Kontors  —  die  früheren  Autoren 
hatten,  wie  Boh  n-Heyne-),  unter  dieser  Überschrift  entweder  nur 
die  technische  Seite  einzelner  Kontorarbeiten  behandelt  oder  hatten 


1)  Die  merkantilistisch-kameralistischen  Schriftsteller  und  ihr  Gefolge  verfielen 
öfter  auf  dergleichen  Gedanken,  denn  ihre  Wirtschaftsphilosophie  erforderte  praktisch 
einen  zentral  organisierten,  machtvollen  Staat.  Becher  a.  a.  O.  war  bereits  für  die 
Schaffung  eines  Einheitsheeres  eingetreten,  andere  forderten  eine  Vereinheitlichung 
des  Rechtswesens,  nach  Marperger  sollten  sich  Preußen-Deutschland  für  einen 
Kanal  vom  Schwarzen  Meere  nach  Königsberg  einsetzen  usw.  usw. 

2)  Vgl.  S.  42,  43. 


—     71     — 

versucht,  das  Notwendigste  aus  der  Kontorarbeitslehre  mit  in  den 
Arbeitslehren  für  die  Angestellten  (Savary-Ludovici)  unterzu- 
bringen; eine  Ausnahme  machte  davon  wohl  nur  der  unbekannte 
Verfasser  des  „Sistems".  —  In  den  letzten  Kapiteln  dieses  Teiles 
weiß  May  freilich  nichts  Neues  zu  sagen,  es  sei  denn  einiges  über 
die  Aktiengesellschaften. 

Dem  ökonomisch-technologischen  nächsten  Abschnitt,  dem 
schon  mehrfach  genannten  ersten  der  praktischen  Einleitung,  läßt 
sich  nur  wenig  (über  die  Ortslage  von  Manufakturen,  über  Befrach- 
tung von  Schiffen)  für  uns  entnehmen ;  bei  der  Erörterung  der  Ver- 
sicherung kommt  der  Verfasser  auch  kurz  auf  die  Lebens-  und 
Viehversicherung,  während  bis  dahin  allein  die  Transportversiche- 
rung in  der  handlungswissenschaftlichen  Literatur  erwähnt  wurde 
(Ludovici).  In  dem  folgenden  fünften  Abschnitt  ist  May  ganz 
in  seinem  Elemente.  Besonders  bemerkenswert  ist  hier  seine  aufs 
Wesentliche  gerichtete  Einteilung  der  einzelnen  Kaufarten.  Der 
Auktionshandel  und  einige  Spekulationskauf  arten  werden  hier  zum 
ersten  Male  in  der  Handlungswissenschaft  erwähnt.  Spekulations- 
geschäfte waren  mehr  oder  weniger  der  Kauf  auf  Lieferung,  vor 
allem  aber  der  Kauf  „auf  Mutmaßung"  und  der  „auf  Prämien",  die 
wir  heute  als  Differenzgeschäfte  bezeichnen  würden.  Den  Effekten- 
handel erwähnt  May  aber  noch  nicht  bei  diesen  Kaufarten;  es 
kommt  ihm  nur  darauf  an,  ihr  Wesen  im  Warenhandel  zu  erläutern. 
Von  den  übrigen  Teilen  dieses  Abschnittes  sind  nur  die  beiden 
letzten  über  die  Kommissions-  und  Speditionsgeschäfte  und  über  die 
Kalkulationen  von  Belang;  sie  führen  aber  nicht  über  das  schon 
bei  anderen  Autoren  zu  findende  hinaus. 

Im  Anhange  ist  wiederum  ein  neuartiges  Kapitel  dasjenige  von 
der  Verwaltung  der  Fallitmassen  durch  die  Gesamtheit  der  Gläu- 
biger oder  einen  Beauftragten.  Wie  schon  Savary  eine  milde 
Auffassung  zu  gunsten  des  Gemeinschuldners  vertritt,  so  gelangt 
May  sogar  zu  der  Ansicht,  man  solle  den  ehrlichen  Schuldner  mit 
seinem  Kapitalbetrage  wie  einen  Gläubiger  an  der  Masse  teilhaben 
lassen.  Die  Trennung  von  Unternehmung  und  Haushalt  ist  damit 
so  scharf  wie  nur  irgend  möglich  aufgefaßt. 

Die  Verdienste  der  May  sehen  Arbeit  liegen  zunächst  in  einer 
Erweiterung  des  handlungswissenschaftlich  erfaßten  Gebietes  und 
dann  in  einer  Popularisierung  der  Handlungswissenschaft  selber,  die 
u.  a.  aus  den  wiederholten  Auflagen  des  Buches  hervorgeht,  während 
es  die  Anhänge  von  Ludovici  „Kaufmannslexikon"  nur  auf  eine 
zweite,  die  von  1768,  brachten.    Der  Praktiker  jedenfalls,  der  über- 


liaiipt  für  Arbeiten  dieser  Art  Interesse  hatte,  bevorzugte  die  von 
May,  die  zwar  nicht  so  anatomisch  subtil,  dafür  aber  auch  nicht 
ganz  so  nüchtern  und  pedantisch-gelehrt  anmutete.  Als  Systema- 
tiker kann  man  May  allerdings  nicht  so  zu  seinem  Vorteil  mit  Ludo- 
vici  vergleichen  —  der  Versuch,  einen  theoretischen  und  einen  prak- 
tischen (allgemeinen)  und  besonderen  Teil  der  I  landlungswissenschaft 
zu  konstruieren,  ist  zwar  ein  großer  Fortschritt,  den  aber  auch  wieder 
die  allzu  weite  Fassung  des  Begriffes  Handlung  beträchdich  hemmt. 
Im  ganzen  wird  man  May  wohl  am  ehesten  gerecht,  wenn  man 
seinen  „Versuch"  als  eine  Ergänzung  zu  den  Abhandlungen  Ludo- 
vicis  betrachtet,  als  ein  frisches,  grünes  Reis  von  des  Lebens  gol- 
denem Baum,  das  geeignet  war,  die  etwas  stubenfarbene  Ludo- 
vicische  Behandlung  der  Handlungswissenschaft  vor  der  Ver- 
knöcherung zu  bewahren. 


D.  Das  „Lehrbuch"  von  J.  H.  Jung. 

Da  sich  die  Arbeiten  von  Ludovici  und  May  so  gut  ergänzen, 
so  sind  sie  auch  von  einigen  nachfolgenden  Schriftstellern,  die  nichts 
Besseres  zu  sagen  wußten,  aus-  und  abgeschrieben  worden.  Hält 
man  sich  an  diejenigen  Nachahmer,  die  wenigstens  versuchten,  die 
Handlungswissenschaft  durch  einen  neuartigen  Aufbau  als  wissen- 
schaftliches System  zu  fördern,  so  fällt  zunächst  das  „Gemeinnützige 
Lehrbuch  der  Handlungswissenschaft  für  alle  Klassen  von  Kauf- 
leuten und  Handlungsstudierenden "  von  J.  H.  Jung  auf,  das  Leipzig 
1785  erschien*)  und  445  Seiten  8^  umfaßt.  Jung  war  zunächst 
Handlungsgehilfe  und  dann  Arzt  (I)  gewesen-^),  ehe  er  Professor 
der  Gewerbewissenschaften  an  der  Kurpfälzischen  Kameralhochschule 
zu  Lautern  wurde.  Außer  dem  genannten  Lehrbuch  hat  er  je  einen 
Versuch  zur  Forstwirtschafts-,  zur  Landwirtschaftslehre  und  zur 
„Fabrikwissenschaft"  herausgegeben-').  Er  ist  darin  aber  nicht  viel 
über  das  Technische  der  betreffenden  Gewerbe  hinausgekommen, 
denn  nach  ihm  wird  ..die  Wissenschaft,  Güter,  mithin  auch  Waren, 
zu  erzeugen  oder  zuzubereiten,  ...  in  der  Landwirtschaft  und 
Fabrikwissenschaft  gelehrt  ..." 


1)  2.  Aufl.  1799. 

2)  Vorrede  zum  j^Lehrbuch".     Später  wurde  er  gar  noch  Theologe, 

3)  Im  .Lehrbuch"  §  125.  Die  Technologie  war  den  Kameralisten  überhaupt 
sehr  wichtig.  Ich  habe  eine  zweite  Auflage  Nürnberg  1794  seines  .Versuchs  eines 
Lehrbuchs  der  Fabrikwissenschaft"   gefunden,  das  rein  technologisch  ist. 


—  Za- 
uber Ludovici  und  May,  die  von  Jung  recht  unverschämt 
ausgeplündert  werden,  fällt  er  selber  folgendes  Urteil:  »Als  ich  zum 
ersten  Male  die  Handlungswissenschaft  lehren  sollte,  so  glaubte  ich, 
Herrn  Carl  Mays  Einleitung  in  dieselbe  sei  recht  brauchbar  dazu; 
allein  ich  betrog  mich;  zu  akademischen  Vorlesungen  hat  dies  Werk 
weder  System  noch  Anlage,  hingegen  zum  häuslichen  Gebrauch 
für  Anfänger  mag  es  recht  gut  sein.  Herr  May  ist  ein  Sachver- 
ständiger und  hat  dabei  in  rebus  agendis  mein  völliges  Zu- 
trauen. 

Daß  man  Herrn  Ludovicis  System  der  Kaufmannschaft  noch 
weniger  brauchen  kann,  ist  gar  keine  Frage;  bei  aller  Ordnung 
fehlen  wesentliche  Sachen,  z.  B.  die  Warenkunde  und  das  Buch- 
halten, und  dann  wiederholt  er  sich  oft  und  ist  überhaupt  für  ein 
Compendium  zu  weilläufig.  Indessen,  wie  sehr  auch  Herr  May 
diesen  Schriftsteller  heruntermacht,  so  übertrifft  er  jenen  doch  bei 
weitem  in  der  Genauigkeit  und  Ordnung.  Ludovicis  Werke  sind 
mit  allen  ihren  unleugbaren  Unrichtigkeiten  unentbehrlich,  und  ihr 
Verfasser  ist  mir  sehr  verehrungswürdig." 

Mir  —  um  das  gleich  hinzuzufügen  —  ist  diese  letzte  sauer- 
süße Verbeugung  sehr  verdächtig,  nämlich  im  Hinblick  darauf,  daß 
Jung  so  sehr  viel  aus  Ludovici  und  auch  aus  May  „entlehnt" 
hat.  Daß  sich  bei  Ludovici  erhebliche  Unrichtigkeiten  oder  gar 
Wiederholungen  finden,  ist  ebenso  wenig  wahr,  wie  daß  May,  in- 
dem er  ein  paar  Stellen  bei  diesem  auf  Grund  seiner  Kenntnis  be- 
richtigt, ihn  „heruntermacht".  Die  Beurteilung  der  Brauchbarkeit 
beider  Werke  in  Bezug  auf  ihre  Verwendung  in  kameralistischen 
Vorlesungen  mag  dagegen  im  allgemeinen  wohl  richtig  sein,  wenn 
man  freilich  auch  die  Warenkunde  und  das  Buchhalten  nicht  für 
so  wesentlich  halten  wird,  wie  Jung.  Er  hat  diese  von  ihm  so 
vermißten  Teile  auch  nicht  etwa  selber  geliefert,  so  daß  man  meinen 
sollte,  er  habe  eben  bloß  nörgeln  wollen,  um  sich  selber  so  viel 
gewichtiger  erscheinen  zu  lassen  —  sind  doch  die  Gründe  Ludo- 
vicis für  seinen  Verzicht  auf  eigene  Darstellungen  dieser  beiden  Ge- 
biete triftig  genug'). 

Das  eigene  Verdienst  Jungs  liegt  nun,  wie  gesagt,  vor  allem 
in  der  Systematik.  Zunächst  bringt  er  die  Ausführungen  seiner 
Vorgänger  über  den  Kaufmann,  Gehilfen  usw.  in  einem  „Vorbericht 
von  den  Handelspersonen"  unter  und  erledigt  sodann  alles  Übrige 
nach  folgendem  Schema,  das  er  selber  entwickelt  und  so  aufstellt: 

1)  Vgl.  s.  57. 


ir. 

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3 

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05 

X 

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i 

—     74     — 

I  Warenkunde 
('icldkundc 
Ilandclskunde 

(Frachtkunde 
Zahlungskunde 
Kontorkunde 

Der  Gedanke,  diejenigen  Kenntnisse,  die  vor  und  bei  dem  Ab- 
schluß eines  Kaufvertrages  („Tausch")  nötig  sind,  von  denen  zu 
trennen,  die  auf  die  bloße  Erfüllung  der  beiderseitigen  Verbindlich- 
keiten Bezug  haben  („Expedition"),  hat  etwas  Bestechendes,  weil 
dieses  einen  auch  praktisch  vorhandenen  Intervall  zwischen  beiden 
Tätigkeitsgebieten  ausdrückt.  Die  Kontorkunde  gehört  aber  offen- 
sichtlich zu  beiden  oder  zu  keiner  der  beiden  Gruppen,  indem  sie 
—  oder  doch  die  unter  ihrem  Namen  zusammengefaßten  Tätig- 
keiten —  nämlich  beiden  zugute  kommt.  Sie  kann  auch  unter  der 
Überschrift  „Verwaltungsarbeiten-'  und  mit  den  Organisationsarbeiten 
(Gründung,  Aufbau,  Abbruch,  Umbau  der  Unternehmung)  zusammen 
den  Betriebs-(Erwerbsverkehrs-jarbeiten  gegenüberstehen,  als  welche 
man  dann  die  „Handels-,  Fracht-  und  Zahlungskunde"  Jungs  zu- 
sammenfassen könnte.  Aber  auf  Organisationsfragen  einzugehen, 
daran  dachte  man  eben  noch  nicht. 

Die  ersten  beiden  Abschnitte  unter  „Tausch"  sind  handlungs- 
wissenschaftlich ohne  Bedeutung;  erst  in  der  ., Handelskunde"  bietet 
Jung  in  dieser  Beziehung  einiges,  das  aber  auf  Ludovici  und 
May  zurückzuführen  ist.  Wie  sehr  aber  Jung  Kameralist  ist,  zeigt 
sich  selbst  in  den  wenigen  hier  vorkommenden  Handelsgrundsätzen: 
der  Kauf  aus  erster  Hand  ist  ohne  weiteres  der  beste,  und  eine 
Vervielfältigung  und  Beschleunigung  des  Umsatzes,  deren  Nutzen 
erkannt  zu  haben  vielleicht  Jungs  eigenes  Verdienst  ist,  wird  vor 
allem  darum  empfohlen,  weil  der  Kaufmann  die  Allgemeinheit  auf 
diese  Weise  billiger  versorgen  könne! 

Auch  unter  „Expedition"  merkt  man,  wie  sehr  Jung  bei  Ab- 
fassung seines  Buches  an  seine  „Handlungsstudiercnden"  dachte, 
nämlich  an  diejenigen  Kameralisten,  die  auch  Handlungswissenschaft 
hörten.  Unter  Frachtkunde  erklärt  er,  ganz  im  allgemeinen  —  er 
hält  sich  in  allen  Darstellungen  sehr  an  der  Oberfläche  —  was 
man  unter  Versendungen,  Schiffahrt,  Rhederei,  Versicherung,  Fuhr- 
und  Postwesen,  Spedition,  Stapel  usw.  zu  verstehen  hat,  und  unter 
Zahlungskunde  ist  ebenso  von  Schulden,  Kredit,  Zinsen,  Zahlungen, 
Pari,  Agio,  Wechseln    und   selbst  vom  Aktienhandel  und   von  den 


--     75     — 

Banken  die  Rede.  Die  Kontorkunde  endlich  vereinigt  mit  Aus- 
führungen über  die  Einrichtung  eines  Kontors  (nach  May),  solche 
über  die  Buchführung  und  sogar  über  die  Bankrotte,  die  ganz  gewiß 
nicht  dahin  gehören.  Die  für  die  Handlungswissenschaft  wesentliche 
Frage  nach  dem  Vorteil  oder  Nachteil  wird  fast  überall  von  Jung 
nur  gestreift. 

Jungs  Arbeit  ist  insofern  ein  Rückschritt,  als  sie  gar  zu  sehr 
an  äußeren  Erscheinungen  hängen  bleibt,  statt  die  ihnen  zugrunde 
liegende  Erwerbsabsicht,  das  Zweckhandeln  des  Kaufmannes,  in 
erster  Linie  zu  erläutern  und  als  in  diesen  Äußerlichkeiten  wirksam 
nachzuweisen.  Ein  Fortschritt  dagegen  ist  die  Einfachheit  und 
Klarheit  des  „S3-stems",  nach  dem  sie  ihren  Stoff  gruppiert,  eine 
Klarheit,  die  noch  dadurch  erhöht  wird,  daß  fast  alle  Nicht -Waren- 
handlungsgeschäfte fortgelassen  sind.  Am  glücklichsten  ist  wohl 
die  Dreiteilung  der  eigentlichen  Betriebsarbeiten  nach  den  Gesichts- 
punkten Handel  {=  Abschluß  von  Kaufverträgen),  Verfrachtung 
und  Zahlung,  aber  freilich  auch  bloß  diese  Teilung  und  nicht  auch 
die  Ausarbeitung  jeden  Teiles  selber  kann  als  verdienstlich  an- 
gesehen werden. 

E.    Das  „System  des  Handels"  von  J.  M.  Leuchs. 

Wesentlich  besser  als  Jungs  „Lehrbuch"  waren  die  Arbeiten 
des  Nürnberger  Kaufmanns,  Verlegers  und  Handelsakademieleiters  ^) 
J.  M.  Leuchs.  Leuchs  ist  geboren  1763  und  gestorben  1836.  Er 
gab  zunächst  Nürnberg  1791  ein  Büchlein  von  nur  110  Seiten  12*> 
heraus,  das  sich  „Allgemeine  Darstellung  der  Handlungswissenschaft, 
nebst  einer  Anzeige  der  damit  verbundenen  Kenntnisse  und  einige 
Gedanken  über  kaufmännische  Erziehung"  benannte.  Es  sollte  außer 
den  Gedanken  des  Verfassers  über  die  Erziehung  des  jungen  Kauf- 
mannes seinen  Plan  zu  größeren  handlungswissenschaftlichen  Ar- 
beiten bekannt  machen.  Dieser  besteht  im  allgemeinen  nur  aus 
der  folgenden,  genau  nach  dem  Original  wiedergegebenen  Über- 
sicht (siehe  S.  76). 

Dieser  Plan,  der  in  der  „Allgemeinen  Darstellung"  nicht  weiter 
erläutert  wurde,  erfuhr  erst  mehr  als  ein  Jahrzehnt  später  seine  Aus- 
führung in  einem  Leuchsschen  Buche,  das  zuerst  Nürnberg  1804 
unter  den  Titeln   „Vollständige  Handelswissenschaft"    und   „S3'stem 


1)  Nach  einer  Mitteilung,  die  ich  Herrn  Robert  Leuchs,  Charlottenburg,  ver- 
danke, wurde  die  1795  gegründete  Handelsschule  bald  wieder  aufgegeben,  „weil 
ihr  mit  wenig  Ausnahmen  nur  verlorene  Kinder  reicher  Häuser  zuströmten"   (I) 


—     7Ü     — 


-  I 


Waren- 
lehre 

Geld- 
lehre 


zum 
Geldumsatz 


Übersicht  allcrTeile  der  Handlungs  wissen  schaft ')  und 
ihrer  Verbindung. 

I  Rohe  Waren  desPlanzea-,  Tier-  u.  Mineralreiches 
Verarbeitete  Waren  der  Manufakturen,  Fabriken 

und   Laboratorien 
Münzen 
Papiergeld 
Banknoten 
l  Wertbestimmung 
(  Preisbestimmung 
'  Handel  überhaupt 
Einkauf 
Verkauf 
Zahlung 
Versendung 

Buchhaltung 
Briefwechsel 

Aufsätze  und  schriftliche  Ausfertigungen 
(  Banken 
Wechsel 
Aktien 
zum  )  Niederlagen,  Faktoreien,  Messen, 

Warenumsatz     l  Kompagnien,  Assekuranzen  usw. 
zur  Aufrecht-     j  Handlungsgerichte, Handlungsrechte, 
erhaltung  der    (  Seerechte,  Bankordnungen,  Haverei- 
Handlung^)     [  Ordnungen,  Fallitenordnungen 
Preisveränderungen 
Kursveränderungen 
Assekuranzgeschäfte 
Manufakturen  usw. 

oder  der  verarbeitenden  Anstalten 

I  zu  einzelnen  Volksklasseu 

lehrt  die  Verhältnisse  der  Handlung-)    1 

[  zum  Auslande 

j  äußere  Kennzeichen 
\  Gattungen  und  Arten 
Münz-,  Maß-  und  Gewichtskunde 

delsgebräuche 
Handelsanstalten 
Handlungsgeographie 
i  der  Handlung  an  sich:  Geschichte  des  Handels 
Handlungsgeschichte  \  ihrer  Darstellung:  Geschichte  und  Literatur  der 

Handlungs  Wissenschaft 


Tauschmittelieb  re 


Verhältnislehre 


Handelslehre  < 


Kontorwissenschaft 


Beförderungsmittel- 
lehre oder  Anstalten- 
lehre; enthält  die 
Anstalten 


Mutmaßungslehre   oder 

Spekulations  Wissenschaft ; 

enthält  das 

Wahrscheinliche  der 


Staatshandlungswissenschaft; 


Warenkunde 


Handelskunde 


["Münz 
J  Hanc 


1)  Später  sagte  Leuchs  Handelswissenschaft. 

2)  Lies:  des  Handels  (vgl.  S.  .51,  Fußnote  2). 


—     77     — 

des  Handels"  herauskam;  es  wurde  1816  noch  einmal  vermehrt  und 
zuletzt  1822  mit  einer  weiteren  Anzahl  von  Zusätzen  herausgegeben. 
In  dem  Vorbericht  der  ersten  Auflage  heißt  es  über  den  Zweck  des 
Werkes,  es  solle  ein  „Lehrbuch  für  Akademien  und  höhere  Lehr- 
anstalten und,  mit  den  Zusätzen,  für  den  eigenen  Unterricht  sein. 
Es  soll  aber  das  Vorhandene,  innerhalb  der  seit  Peri  und  Savary 
geschlossenen  Schranken,  nicht  wiedergeben;  es  soll  die  Handels- 
wissenschaft, dem  Gehalte  und  dem  Umfange  nach,  weiterbringen 
und  somit  eine  freie  Produktion  sein,  die  nicht  unter  aufgeschla- 
genen Büchern  ähnlichen  Inhalts  vor  sich  gehen  konnte.  ...  So 
sind  die  Warenlehre,  die  Wertbestimmungslehre  und  die  Lehre  des 
Wahrscheinlichen  neue  Teile;  so  sind  in  der  Lehre  des  Buchhaltens, 
der  Staatshandelswissenschaft  u.  a.  neue  Ansichten  eröffnet,  und 
selbst  die  Rechte,  die  nur  wiedergegeben  werden  konnten,  in  eine 
bessere  wissenschaftliche  Übersicht  gebracht  und  noch  vollständiger 
abgehandelt,  als  man  sie  außerdem  finden  wird  ..." 

Und  über  den  Vortrag  in  seinem  Buche  sagt  Leuchs  weiter- 
hin in  der  zweiten  Auflage:  „Man  wird  ihn  .  .  .  (knapp,  aber)  so 
deutlich  finden,  als  es  bei  einem  wissenschaftlichen  (nicht  diskur- 
siven, erzählenden)  möglich  ist.  Erklärungen,  richtige,  vollständige, 
den  Begriff  erschöpfende,  sind  das  Wichtigste  einer  Wissenschaft. 
Auf  sie  ist  sehr  gesehen  worden  .  .  .  Für  den  Handel  als  Geschäft 
waren  oft  eine  Menge  Forderungen  aufzustellen,  zur  Übersicht  zu 
bringen  und  anzugeben,  was  alles  getan  werden  soll.  Solche  Im- 
perativen bilden  allerdings  keinen  schönen  Vortrag,  aber  sie  ge- 
währen eine  leichte  Übersicht  ..." 

Es  muß  vorweg  bemerkt  werden,  daß  Leuchs,  wie  das  auch 
schon  aus  der  vorstehenden  „Übersicht"  hervorgeht,  die  Handels- 
wissenschaft im  weitesten  Sinne  des  Wortes,  nämlich  sowohl  volks- 
wirtschaftlich als  privatwirtschaftlich,  zu  erfassen  suchte,  daß  er 
also  ein  noch  weiter  gefaßtes  System  aufstellen  möchte,  als  Ludo- 
vicis  „Kaufmannssystem"  es  ist.  Er  hält  nun  zwar  beide  Gesichts- 
punkte richtig  auseinander,  aber  er  unterscheidet  sie  nicht  durch 
einen  präzisen  und  konsequenten  Gebrauch  der  Ausdrücke  Handel 
und  Handlung,  die  doch  dafür  recht  gut  geeignet  sind.  Er  bevor- 
zugte später  immer  mehr  das  Wort  Handel,  erklärte  aber  noch  in 
der  Einleitung  zum  ,, System"  den  Handel  begriffsmäßig  als  Kol- 
lektivum  für  W'arenumsatz  im  allgemeinen,  die  Handlung  dagegen 
als  ein  bestimmtes  Gewerbe.  Die  beiden  Hauptteile  seines  „Systems" 
unterscheidet  er  äußerlich  als  Bürgerliche  (in  der  ersten  Auflage 
Privat-)  Handelswissenschaft  und  Staatshandelswissenschaft.    W'äh- 


—     78     — 

rcnd    crstere    hauptsächlich    unsere   Ilandluugswissenschaft    umfaßt, 
ist  letztere  eine  Handelskunde  und  kaufmännische  Rechtslehre. 

Die  erste  Auflaije  beschränkte  sich  überhaupt  auf  diese  beiden 
Teile.  Die  zweite  und  dritte  dagegen  entwickelten  aus  einem  bloßen 
Anhang  in  der  ersten  einen  neuen  Teil  als  „Die  Forderungen  der 
Mandelskunde,  die  Erziehung,  das  kaufmännische  Leben  und  die 
Bücherkenntnis  enthaltend".  Auf  diese  Weise  und  durch  zahlreiche 
Anmerkungen  und  Zusätze  zum  Text  der  beiden  ersten  Teile 
wurden  denn  auch  aus  den  beiden  Bändchen  von  1804  mit  zu- 
sammen 592  Seiten  8^  schließlich  (1822)  1625  Seiten  in  drei  Bänden. 
Ich  halte  mich  im  folgenden  an  diese  letzte  Ausgabe. 

In  der  ihr  voraufgehenden  „Ableitung  der  Hauptteile  der 
Ilandelswissenschaft"  scheidet  Leuchs  das  Gesamtgebiet  in  die 
Handelskunde  oder  den  geschichtlichen,  beschreibenden  Teil  und 
in  die  Handelswissenschaft,  den  eigentlich  wissenschaftlichen,  d.  h. 
den  das  Allgemeingültige  und  Grundsätzliche  erforschenden  Teil. 
Letzterer  zerfällt  wieder  in  die  Tauschmittellehre,  die  Wertbestim- 
mungslehre, die  Handelslehre,  die  Kontorwissenschaft,  die  Speku- 
lationswissenschaft und  in  die  Beförderungsmittellehre  oder  Staats- 
handelswissenschaft. Dagegen  umfaßt  die  Handelskunde  die  Waren- 
kunde, die  Handelsgeographie  und  die  Handelsgeschichte  mit 
Einschluß  der  Handelsliteraturgeschichte.  Der  Hauptteil  hat  dem- 
nach gegenüber  dem  Plane  von  1791  eine  geringe  Änderung  er- 
fahren, die  in  der  Zusammenlegung  der  Beförderungsmittellehre  und 
der  dort  besonders  abgeteilten  „Staatshandlungswissenschaft"  be- 
steht. Offenbar  ist  das  eine  Verbesserung,  denn  beide  Gebiete 
hatten  schon  nach  dem  Plane  von  1791  viel  Gemeinsames.  Es  ist 
auffällig,  daß  Leuchs  beide  nicht  ohne  weiteres  seiner  Handels- 
kunde zuzählt,  der  sie  doch  viel  näher  stehen,  als  der  „Handlungs- 
wissenschaft im  engeren  Verstände"  seines  früheren  Planes  oder 
seiner  wissenschaftlichen  Handelswissenschaft  im  „System".  \'on 
diesem  logischen  Fehler  abgesehen,  ist  es  aber  sein  großes  Ver- 
dienst, überhaupt  und  zuerst  die  bloß  beschreibenden  Kapitel  von 
den  grundsätzlichen  getrennt  zu  haben. 

Leuchs  versteht  nun  unter  ^ Tauschmittellehre-'  die  Lehre  von 
den  Waren  und  vom  Gelde.  Die  „Warenlehre"  ist  keine  Waren- 
beschreibung oder  Warenkunde,  sondern  eine  Lehre,  die  die  For- 
derungen aufstellen  soll,  ,.die  an  Waren  gemacht  werden  können"*, 
sie  muß  also  „die  Eigenschaften  angeben,  die  sie  haben  müssen, 
wenn  sie  zu  einem  bestimmten  Zwecke  angewendet  werden  sollen". 
Da   von   dem    Grade   der   Zweckmäßigkeit,   den   eine  Ware  besitzt. 


—     79     — 

ihr  Wert  abhängt,  so  kann  man  die  Warenlehre  die  Wissenschaft 
nennen,  welche  die  Eigenschaften,  die  die  Waren  haben  sollen,  und 
die  Grade  ihres  Wertes  aus  der  Brauchbarkeit  zu  den  Zwecken 
ihrer  Anwendung  bestimmen  lehrt.  Leuchs  führt  also  denselben 
Gedanken,  der  schon  dem  unbekannten  Verfasser  des  „Sistems" 
und  Ludovici  vorschwebte,  hier  an  und  stellt  dann  selber  die 
Forderungen  auf,  die  an  die  Eßwaren,  die  Waren  zur  Bekleidung 
und  ein  paar  andere  gestellt  werden  müssen.  Er  scheint  sich  nicht 
bewußt  geworden  zu  sein,  welch  praktische  Schwierigkeiten  der 
Ausbau  einer  solchen  Lehre  zu  überwinden  hätte,  und  wie  fraglich 
ihr  Nutzen  sein  müßte,  sobald  sie,  wie  nötig,  eben  bloß  allgemein 
gehalten  bliebe.  Außerdem  kommt  es  für  den  Kaufmann  in  erster 
Linie  auf  die  richtige  Beurteilung  des  Marktwertes  und  nicht  des 
Nutzwertes  einer  Ware  an.  Die  Warenlehre  würde,  wenn  man 
sie  überhaupt  ernstlich  in  Angriff  nehmen  wollte,  w^ohl  am  besten 
als  der  allgemeine  Teil  einer  bloßen  Warenkunde  aufzufassen  und 
darzustellen  sein ;  als  System  für  sich  ist  sie  trotz  der  gegenteiligen 
Meinung  von  Leuchs  etwas  gesucht. 

Weniger  gilt  das  von  seiner  „Geldlehre".  Das,  was  Leuchs 
zu  ihr  auszuführen  wünscht,  sind  wir  aber  heute  im  Rahmen  der  all- 
gemeinen Volkswirtschaftslehre  behandelt  zu  sehen  gewohnt,  ferner, 
soweit  es  sich  um  die  praktische  Wertbestimmung  der  Münzen  usw. 
handelt,  im  kaufmännischen  Rechnen.  Somit  muß,  von  unserm 
heutigen  Standpunkte  aus  gesehen,  die  ganze  Tauschmittellehre  als 
selbständiger,  wenn  auch  nebensächlicher  Teil  ausscheiden. 

Sehr  wichtig  ist  dagegen  die  „Wertbestimmungslehre",  auch 
als  teilweise  Grundlage  der  nachfolgenden  Handelslehre  und  der 
Wahrscheinlichkeitslehre.  Sie  könnte  auch  als  Kalkulationslehre 
bezeichnet  werden,  weil  die  Fabrikations-,  Bezugs-  und  Verkaufs- 
halkulationen  *)  von  ihr  ihre  Grundsätze  entnehmen.  Sehr  viel  Wert 
legt  Leuchs  auf  eine  richtige  Verteilung  der  Unkosten  und  Zinsen 
und  selbst  auf  die  Berücksichtigung  der  Haushaltskosten. 

Die  nun  folgende  „Handelslehre"  umfaßt  nachstehende  fünf  Ab- 
schnitte: l.  Vom  Handel  überhaupt  und  von  seinen  Zweigen  ins- 
besondere, 2.  Einkaufslehre,  3.  Verkaufslehre,  4.  Zahlungslehre  und 
5.  Versendungslehre.  Im  ersten  Abschnitte  werden  die  allgemeinen 
privatwirtschaftlichen  Grundlagen  der  verschiedenen  Handelszweige 
und  Handelsarten  festgestellt.  So  heißt  es  da  vom  Warenhandel, 
daß  er  nach  Maßgabe  der  Feststellungen,  die  in  der  Einkaufs-  und 


1)  Andere  führt  Leuchs  hier  nicht  an. 


—     8U     — 

Verkaulslelire,  in  der  Wertbcstimniungslehic  und  in  der  Spekulations- 
wissenschaft gewonnen  werden,  zu  verfahren  hat.  Der  Wechsel- 
handel erfordert  umfangreiche  Verbindungen,  großen  Kredit,  viel- 
fältige Aufrechnungsniüglichkeiten  zur  Vermeidung  von  Barsendungen, 
Kenntnis  der  Geld-  und  Wechselkurse  und  der  Verhältnisse  des 
Geldmarktes  an  den  verschiedensten  Plätzen.  Beim  Kommissions- 
geschäft müssen  Kommittent  wie  Kommissionär  eine  Anzahl  von 
Grundregeln  beachten,  wie  sie  sich  schon  bei  Savary  ähnlich  finden. 
Im  Handel  auf  Lieferung  hat  der  Käufer  zu  erwägen  und  festzu- 
setzen: die  Menge  und  Beschaffenheit  der  Ware,  die  Lieferzeit  und 
-Art  und  den  Preis  nebst  den  Zahlungsbedingungen.  Der  Verkäufer 
hat  dagegen  zu  überlegen,  ob  er  die  Ware  gewiß  herbeischaffen 
kann,  ob  er  es  auch  zur  rechten  Zeit  kann  und  welchen  Preis  er 
schließlich  fordern  könnte.  Über  diesen  Handel  auf  Lieferung  und 
den  auf  Prämien  weiß  Leuchs  nur  wenig  zu  sagen,  weil  er  sie 
praktisch  nicht  recht  kennt. 

Im  Handel  mit  Aktien  muß  man  die  Grade  der  Sicherheit  des 
Aktienunternehmens,  die  Grade  der  W^ahrscheinlichkeit  und  der 
Größe  seines  Gewinnes  beachten  und  ferner  die  Flüssigkeit  usw. 
des  Geldmarktes,  der  vielleicht  eine  andere  Kapitalanlage  lohnender 
macht.  Der  Handel  mit  Staatspapieren,  den  Leuchs  zuerst  bei 
uns  erwähnt,  beurteilt  seine  Objekte  n^ch  folgenden  Gesichts- 
punkten: eine  Schuldverschreibung  ist  unter  sonst  gleichen  Um- 
ständen mehr  wert,  wenn  sie  von  selten  der  Gläubiger  kündbar 
ist  (I),  in  kürzester  Zeit  nach  der  Kündigung  zahlbar  ist,  das  Geld 
in  ihr  sicherer  angelegt  ist,  die  Zinsen  höher  und  die  Zinszahlungen 
richtiger  und  ordentlicher  sind,  und  wenn  sie  einen  willigeren  Markt 
findet.     Beim  Buchhandel  muß  man  folgendes  beachten: 

1.  Werke,  die  ein  Gesamtgebiet  umfassen,  finden  im  allge- 
meinen einen  größeren  Absatz,  als  solche  über  einzelne  Gegenstände; 

2.  Bücher,  die  faßlich,  deutlich  und  in  einer  leicht  übersehbaren 
Ordnung  geschrieben  sind,  werden  mehr  gesucht  als  ganz  tiefsinnige 
Werke, 

3.  Bücher  von  Autoren  von  Ruf  mehr  als  die  von  unbekannten; 

4.  Werke  von  Umfang,  zu  deren  Bearbeitung  viele  Kenntnisse 
und  viel  Zeit  erforderlich  sind,  haben  einen  länger  dauernden  Ab- 
satz als  solche,  deren  Ausarbeitung  und  Verlag  mehreren  möglich 
ist;  dasselbe  gilt  für 

5.  Werke,  die  dem  gleichzeitigen  Untersuchungsgeiste  und  der 
Mode  entsprechen,  mehr  als  für  die  übrigen,  und  schließlich  ist  noch. 


—     81     — 

6.  das  Verhältnis  der  Menge  von  Büchern  eines  Faches  zu  den 
Bedürfnissen,  zu  der  Bildungsstufe  und  den  Fortschritten  der  Wissen- 
schaften in  Anschlag  zu  bringen. 

Nach  kürzeren  Ausführungen  über  die  wesentlichen  und  die 
nur  gebräuchlichen  „Bedingnisse"  beim  Kaufabschlüsse  —  sie  hätten 
teilweise  besser  in  die  Kalkulationslehre  gepaßt  —  kommt  der  Ver- 
fasser nun  zur  Einkaufslehre.  Er  entwickelt  und  erklärt  hier  fol- 
gende Einkaufsgrundsätze: 

1.  Man  kaufe  so  wohlfeil  als  möglich  und 

2.  bei  gleichen  Preisen  die  marktgängigere  Ware;  jedoch 

3.  nur  so  viel,  als  man  bald  wieder  absetzen  kann,  es  sei  denn, 
die  Preise  wären  im  Steigen; 

4.  bewillige  man  den  geringsten  Gegenwert; 

5.  kaufe  bei  sonst  gleichen  Bedingungen  dort,  wo  das  längste 
Ziel  bewilligt  wird; 

6.  und  zwar  auch  dann,  wenn  die  Preise  dafür  etwas  höher 
sind,  als  die  Barpreise,  es  sei  denn,  der  Aufschlag  sei  im  Vergleich 
zu  den  gewonnenen  Zinsen  zu  hoch; 

7.  kauft  man  auf  Spekulation,  so  darf  man  nicht  mehr  kaufen, 
als  man  in  der  Zeit  der  günstigsten  Preisgestaltung  wird  absetzen 
können ;  man  muß  auch  die  Preissteigerung  abwarten  können  und 
muß  lieber, 

8.  wenn  zu  viele  zugleich  in  derselben  Ware  spekulieren,  den 
Einkauf  jenen  vorläufig  überlassen,  die  dann  häufig  noch  vor  der 
Zeit  die  Ware  billig  wieder  abstoßen  müssen. 

9.  Kauft  man  durch  Makler,  so  gebe  man  nicht  mehreren  zu- 
gleich den  Auftrag,  da  sonst  die  Nachfrage  zum  eigenen  Nachteil 
vergrößert  erscheint;   dagegen  soll  man 

10.  an  entfernten  Orten  möglichst  mit  mehreren  Konkurrenten 
arbeiten,  damit  man  selber  unabhängiger  bleibt. 

11.  Hat  es  mit  einem  Einkaufe  Zeit,  so  erkundige  man  sich 
bei  mehreren  an  verschiedenen  Orten  nach  den  Preisen;  eilt  er  da- 
gegen, so  kann  man  oft  mit  \'orteil  mehreren  je  einen  Teilauftrag 
erteilen. 

12.  Besonders  bei  auktionsweisem  Einkauf,  aber  auch  sonst 
(vgl.  Punkt  9)   beauftrage  man   nur   einen  einzigen  Kommissionär; 

13.  Lieferungs-  und  Differenzgeschäfte  besorge  man  am  besten 
durch  einen  Makler;  ratsam  sind  diese  Geschäfte  aber  nur  dann, 
wenn  man  selber  wirklich  die  Waren  zu  liefern  hat. 

Weiter  gibt  Leuchs  hier  noch  die  Regeln  zur  Erlangung  und 
Erhaltung  des  Kredits:  Bareinkauf,  pünkdiche  Zahlungen,  Vermei- 

Zeitschrift  für  die  ges.  Staatswissensch.   Ergänzungsheft  49.  6 


—     82     — 

düng  unbegründeter  Abzüge  und  Einwendungen  werden  vor  allem 
empfohlen. 

Die  Verkaufsichre  „entwickelt  die  Regeln,  die  man  zu  beachten 
hat,  um  so  viel  als  möglich  zu  gewinnen  und  so  wenig  als  möglich 
zu  verlieren,  oder  die  gekauften  Waren  auf  das  vorteilhafteste  zu 
verkaufen".  Es  kommt  daher  zunächst  auf  eine  nähere  Bestimmung 
der  Begriffe  Gewinn  und  Verlust  an.  Leuchs  führt  zu  dem  Zwecke 
ein  Beispiel  mit  verschieden  schnellen  Umsätzen  eines  gleichbleiben- 
den Kapitals  aus  und  folgert  u.  a.  schließlich,  daß  der  Gewinn  bei 
gleichem  Verkaufspreise  um  so  größer  oder  der  Verkaufspreis  bei 
gleichem  Gewinn  um  so  niedriger  sein  kann,  je  öfter  wir  umsetzen, 
je  früher  wir  die  Verkaufssumme  erhalten,  je  später  wir  selber  zu 
zahlen  brauchen,  und  je  größer  die  Einzelumsätze  sind. 

Was  die  einzelnen  Absatzarten  anbelangt,  so  empfiehlt  Leuchs 
den  Tausch  nur  im  Buchhandel.  Getauschte  Waren  soll  man  im 
i-ichtigen  Verhältnis  ihres  Wertes  veranschlagen,  vor  allem  soll  man 
keine  entgegennehmen,  die  nicht  größere  Aussicht  auf  einen  gün- 
stigen Absatz  bieten.  Den  Bar-  und  den  Zielverkauf  betreffend 
gelten  folgende  Regeln: 

1.  Man  bedinge  die  kürzeste  Zahlungsfrist; 

2.  bemesse  die  Zahlungsfrist  usw.  nach  der  Kreditfähigkeit  des 
Käufers  und  nach  ersterer  wieder  die  Preise; 

3.  ziehe  bei  sonst  gleichen  Verhältnissen  den  Barzahler  als  Ab- 
nehmer vor; 

4.  ist  das  längere  Ziel  die  Bedingung  für  einen  größeren  ein- 
zelnen Umsatz,  so  mag  es  bewilligt  werden,  wenn  das  Mehr  sonst 
nicht  vorteilhafter  angebracht  werden  kann,  wenn  wir  Überfluß  an 
Ware  haben  und  uns  schnell  mit  neuen  Vorräten  versehen  können ; 

5.  bei  steigenden  Preisen  kann  man  höhere  Forderungen  oder 
das  Verlangen  nach  Barzahlung  durchsetzen ; 

6.  man  soll  aber  darauf  verzichten,  wenn  andere  Geschäfte 
und  Verbindungen  in  der  Folge  zu  erwarten  sind; 

7.  überhaupt  begnüge  man  sich  gemeiniglich  mit  dem  zum 
Fortkommen  hinreichenden  Gewinn. 

Bei  dem  Verkauf  in  Kommission  soll  der  Kommissionär  keinen 
Auftrag  übernehmen,  den  er  nicht  zu  dem  vorgeschriebenen 
Preise  zu  erledigen  hoffen  darf,  es  sei  denn,  daß  ihm  überhaupt 
kein  Preislimitum  gesetzt  wurde.  Was  Leuchs  ihm  sonst  emp- 
fiehlt, findet  sich  schon  bei  Savary  ebenso  gut.*)  Der  Kommittent 
soll  dagegen 

1)  Vgl.  S.  20. 


—     83     — 

1.  auf  die  Eigenschaften  und  Kenntnisse  des  Kommissionärs 
sehen; 

2.  den  Wahrscheinlichkeitsgrad  eines  vorteilhaften  Verkaufs  be- 
achten; 

3.  den  kleineren  Gewinn  aus  dem  Propregeschäft  im  allge- 
meinen vorziehen,  und 

4.  den  kommissionsweisen  Verkauf  in  der  Regel  nur  dann 
wählen,  wenn  entweder  keine  Aussicht  auf  Absatz  am  Orte  und 
mit  den  eigenen  Hilfsmitteln  vorhanden  oder  wenn  das  Lager  über- 
füllt ist; 

5.  soll  er  nach  Möglichkeit  die  Ware  in  mehrere  Konsigna- 
tionen teilen,  die  nach  verschiedenen  Orten  bestimmt  sind,  an 
denen  der  größte  Bedarf,  die  geringste  Konkurrenz  und  damit  der 
größte  Nutzen  zu  erwarten  ist;  er  soll 

6.  genau  berechnen,  wie  teuer  sich  die  Ware  beim  Kommis- 
sionär stellt,  und  ob  die  zu  erwartenden  Preise  einen  entsprechenden 
Nutzen  lassen,  ferner,  in  welcher  Zeit  der  Absatz  erfolgt  sein 
dürfte  —  er  erwarte  aber  in  allem,  daß  das  wirkliche  Ergebnis  sich 
schlechter  stellt. 

Im  allgemeinen  wird  der  Zweck  des  Handels^  nämlich  der 
höchstmögliche  Verkaufsgewinn,  dadurch  erzielt,  daß  man 

1.  so  teuer  als  möglich  verkauft,  nämlich  so  viel  als  möglich 
in  die  letzte  Hand  zu  verkaufen  sucht,  mit  vielerlei  und  immer  ge- 
suchten Waren  handelt,  nur  gute,  schöne,  geschmackvolle  und 
modische  Waren  zu  führen  sucht,  aus  gemischten  Waren  die  besseren 
Sorten  heraussortieren  läßt,  den  Wettbewerb  nach  Möglichkeit  ver- 
meidet und  nicht  vermehrt,  Verkaufswege  und  -orte  sucht,  die  nicht 
jeder  kennt  oder  zu  benutzen  weiß,  die  Versendungs-  und  ähnliche 
Kosten  zu  verringern  sucht  und  die  Zeit  und  die  Umstände  für 
den  günstigsten  Verkauf  ruhig  abwartet; 

2.  so  viel  als  möglich  verkauft,  nämlich  durch  fleißiges  An- 
bieten, Besuchen  usw.  den  Abnehmerkreis  zu  erweitern  und  beson- 
ders Käufer,  die  viel  gebrauchen,  zu  erhalten  sucht,  indem  man 
ihnen  niedrigere  Preise  und  günstigere  Bedingungen  zubilligt  usw.; 

3.  so  oft  als  möglich  jeden  Umsatz  wiederholt  (damit  der  Anteil 
der  konstanten  Unkosten  sinkt),  nämlich  durch  beste  Dienstleistungen 
iür  den  Käufer,  richtige  Lagerdisposition  usw.; 

4.  sobald  als  möglich  die  Zahlung  zu  erhalten  sucht,  nämlich 
so  viel  als  möglich  mit  kurzen  Zahlungsfristen  verkauft,  sich  zu 
Wechselentnahmen  ermächtigen  läßt  und  sich  nicht  zuviel  Ware 
auf  den  Hals  lädt;  und 


—     84     — 

5.  so  sicher  als  möglich  die  Zahlung  zu  erhalten  sucht,  nämlich 
mit  nur  kreditfähigen  Abnehmern  handelt,  die  Anlässe  zu  Streitig- 
keiten von  vorn  herein  vermeidet  und  die  Zahlungsfrist  knapp 
bemißt.  Im  einzelnen  Falle  ist  nun  jeweilig  zu  bestimmen,  welchen 
Maximen  der  Vorzug  zu  geben  ist. 

„Die  Zahlungslehre  ist  nun  der  Teil  der  Handelswisscnschaft^ 
der  zeigt,  auf  welche  Art  wir  überhaupt  und  auf  welche  wir  in 
einzelnen  Fällen  mit  Vorteil  bezahlen  können."  Sie  bietet  nur  in 
einigen  Teilen  etwas,  das  über  die  mehr  technische  Abwickelung 
hinaus  Anweisungen  gibt.    So  heißt  es  bei  den  Wechselzahlungen: 

1.  Man  suche  den  niedrigsten  Kurs  für  einen  Wechsel  zu  be- 
dingen; 

2.  bei  gleichen  Kursen  die  früher  fälligen  Wechsel  zu  erhalten 

oder 

3.  die  von  den  solidesten  Ausstellern  oder  Indossanten; 

4.  suche  man  auch  durch  die  Arbitrage  den  günstigsten  Aus- 
gleich zu  ermitteln  und  beachte 

5.  die    verschiedenen   Wechselrechte,    die    möglicherweise    in 

Frage  kommen. 

Auch  die  Versendungslehre  spielt  etwas  stark  ins  Technische 
des  Verpackens  und  Expedierens  hinein,  was  natürlich  mit  in  ihrer 
Natur  liegt,  denn  sie  hat  anzugeben,  wie  die  Waren  versandfertig 
gemacht  werden  „und  wie  und  auf  welche  Art  die  Überlieferung  am 
schnellsten,  sichersten  und  wohlfeilsten  geschehen  könne".  Gegen- 
über den  entsprechenden  Ausführungen  bei  Savary  ist  hier  nur 
das  bemerkenswerter,  was  der  Spediteur  zu  beachten  hat.  Als 
Empfänger  muß  er  darauf  sehen,  daß  er  empfange,  was  er  emp- 
fangen soll,  daß  er  es  unbeschädigt  usw.  erhalte,  sich  vor  Ver- 
lusten schütze  usw.  Als  Versender  soll  er  bis  zur  Ablieferung  der 
Ware  an  den  Frachtführer  die  Ware  gut  lagern,  nötigenfalls  die 
Verpackung  ausbessern,  die  Ablieferung  schnell  und  mit  den  nötigen 
Papieren  vornehmen,  die  vom  ersten  Absender  erhaltenen  Anwei- 
sungen an  den  Empfänger  weitergeben,  seine  Kosten  berechnen  usw. 

Der  nun  folgende  vierte  Abschnitt  ist  die  „Contorwissenschaft" 
benannt,  die  in  die  Lehre  vom  Buchhalten,  vom  Briefwechsel  und 
von  den  „kaufmännischen  Aufsätzen"  =  sonstigen  schriftlichen  Aus- 
arbeitungen, Verträgen,  Formularen  usw.  zerfällt.  Die  Kontorwissen- 
schaft hat  die  ersten  Begriffe  für  diese  Gebiete  zu  entwickeln  und 
die  allgemeinen  Forderungen,  die  an  die  entsprechenden  Arbeiten 
im  Kontor  gestellt  werden  müssen,  darzustellen.  Als  eine  Lehre 
für    sich   ist    die   Kontorwissenschaft   trotz  der  „Kontorkunde"   von 


—     85     — 

Jung  Leuchs'  eigener  Gedanke,  während  sie  als  Technik  nicht 
nur  in  ihren  drei  Teilen,  sondern  auch  als  Ganzes  bereits  Vorläufer 
hatte ^j.  Es  ist  ihm  aber  nicht  gelungen,  ein  geschlossenes  Lehr- 
gebiet daraus  zu  konstruieren,  denn  als  Technik  stehen  sich  Buch- 
führung und  Korrespondenz  zu  fremd  gegenüber.  Andererseits  ist 
die  Trennung  des  Briefverkehrs  von  dem  sonstigen  Schriftver- 
kehr auch  wieder  zu  künstlich,  um  dauernd  beibehalten  zu  sein 2). 
Das  Beste,  was  Leuchs  in  seiner  Kontorwissenschaft  zu  sagen  weiß, 
betrifft  die  Buchführung.  Er  weist  nämlich  nach,  daß  man  entweder 
nur  über  das  Kapital  im  ganzen  und  in  seinen  einzelnen  Bestand- 
teilen, oder  allein  über  das  Verhältnis  zu  Schuldnern  und  Gläubi- 
gern oder  endlich  über  beides  zugleich  Buch  und  Rechnung  führen 
könne,  und  daß  somit  eine  vierte  Art  unmöglich  ist.  Für  die  An- 
fertigung von  Briefen  erteilt  er  folgende  Vorschriften  3),  die  immer- 
hin beweisen,  daß  er  sich  über  das  Grundsätzliche,  Gemeinsame  in 
ihnen  seine  Gedanken  gemacht  hat: 

L  Man  denke  sich  zuerst  das,  was  man  schreiben  will,  selbst 
deutlich; 

2.  wähle  die  bestimmtesten,  angemessensten  und  gangbarsten 
Ausdrücke  für  seine  Begriffe ; 

3.  sage  und  schreibe  immer  nur  das,  was  man  zu  sagen  braucht; 

4.  trage  die  Hauptsachen  zuerst  vor; 

5.  befolge  das  Übliche  sowohl  in  der  Anordnung  als  im  Aus- 
druck; 

6.  wahre  die  Würde  wie  die  Höflichkeit,  ohne  darin  auszuarten ; 

7.  beachte  überhaupt  immer  den  verfolgten  Zweck  usw. 

Das  Vorzüglichste,  w^as  Leuchs  zu  sagen  weiß,  findet  sich  in 
dem  letzten  Abschnitte,  der  Wahrscheinlichkeitslehre.  Vielleicht  hat 
er   die    Anregung    zu    ihr    aus   Ludovicis    Arbeiten    geschöpft^); 


1)  Bohn-Heyne,  Wohlerfahrener  Kaufmann,  und  Marperger,  Handels- 
Correspondent. 

2)  Leuchs  hat  auch  eine  vierteihge  „Vollständige  Kontorwissenschaft"  ge- 
schrieben. Ihr  erster  Teil  erschien  zuerst  1806  als  „Theorie  und  Praxis  des  ßuch- 
haltens",  der  zweite  1821  als  „Vollständiges  wissenschaftliches  Rechenbuch",  der 
dritte  (mit  einem  Vorläufer  von  1806)  kam  1S19  als  „Geld-,  Münz-,  Maß-  und  Ge- 
wichtäkunde"  heraus  und  der  letzte  als  „AUg.  Handelsbriefsteller"  1823.  Auch  „Die 
Contorwissenschaft",  2  Teile,  1820 — 21,  finde  ich  genannt.  Von  den  weiteren 
Arbeiten  Leuchs'  in  dieser  Richtung  kann  hier  abgesehen  werden. 

3)  Ich  finde  darin  eine  merkwürdige  Übereinstimmung  mit  den  Forderungen 
im  „Spiegel  der  waren  rhetoric",  einem  der  oben  S.  24  genannten  Formelbücher, 
<las  1484  zu  Freiburg  i.  Br.  erschien. 

4)  Vgl.  oben  S.  59  und  64. 


—     86     — 

jedenfalls  aber  hat  sie  niemand  vor  oder  nach  ihm  wieder  so  ent- 
wickelt und  so  umfangreich  gestaltet.  Zunächst  untersucht  er  die 
Grundlagen  des  glücklichen  Handelserfolge.s  und  die  Voraussetzungen 
ihres  Zutreffens.     So  setzen  voraus: 

1.  Die  Forderung,  daß  die  Ware  einen  Käufer  findet: 

a)  daß  sie  Bedürfnis  sei, 

b)  daß  die  Käufer  die  Mittel  haben,  die  Ware  anzuschaffen, 

c)  daß  der  Warenvorrat  in  einem  richtigen  Verhältnis  zu  dem 
Umfange  des  Bedürfnisses  stehe, 

d)  daß  die  Käufer  die  Ware  zu  finden  wissen,  und 

e)  daß  der  Verkäufer  in  jeder  Beziehung  konkurrenzfähig  sei; 

2.  die  Forderung,  daß  die  Ware  mit  Gewinn  verkauft  werden 
kann: 

a)  daß  sie  eine  starke  Nachfrage  vorfindet  und 

b)  knapp  vorhanden  ist, 

c)  daß  die  Verkäufer  nicht  aus  Geldbcdürfnis  verkaufen  müssen, 

d)  daß  sich  die  Preise  im  Vergleich  zu  den  gewöhnlichen  und 
zu  denen  ähnlicher  Waren  günstig  gestalten, 

e)  daß  größere  Zufuhren  und  dergleichen  Ursachen  ausbleiben^ 
die  die  Preissteigerung  hindern, 

f)  daß  die  Ware  mit  keinem  billigeren  Surrogat  zu  ersetzen  ist, 

g)  daß  der  Verkäufer  in  Preis-,  Kredit-  und  sonstigen  \'er- 
günstigungen  in  Wettbewerb  treten  kann,  und 

h)  daß  er  bei  den  Abnehmern  bekannt  ist  und  Vertrauen  genießtj 

3.  die  Forderung,  daß  der  Gegenwert  richtig  eingehe: 

a)  daß  der  geschlossene  Vertrag  rechtsgültig  sei, 

b)  daß  die  eigenen  Verpflichtungen  richtig  erfüllt  sind, 

c)  daß  der  Käufer  zahlen  könne  und  wolle,  was  wieder  von 
einer  großen  Zahl  von  Voraussetzungen  abhängt,  die  zugleich  seinen 
Kredit  bestimmen.  Hierzu  macht  Leuchs  noch  eine  Menge  sehr 
wertvoller  Anmerkungen,  denen  vor  allem  folgendes  zu  entnehmen  ist: 

Es  gibt  arbeits-  und  kapitalintensive  Handlungen.  Teilt  man 
die  Geschäfte  in  solche  des  Imports,  des  Binnengroßhandels  und 
des  Kleinverkaufs  an  die  Verbraucher  ein,  so  ist  die  zu  zweit  ge- 
nannte Klasse  diejenige,  deren  Geschäftserweitcrung  die  bestimm- 
testen Grenzen  gesteckt  sind,  weil  bei  ihr  Kapital  und  Arbeit  am 
meisten  beansprucht  werden,  das  Kapital  aber  oft  und  mit  an- 
gemessenem Gewinne  umgesetzt,  die  Gefahr  nicht  zu  groß  und  die 
erforderliche  Ordnung  und  Übersicht  des  Ganzen  erhalten  werden 
soll.  Das  eigene  Kapital  läßt  nur  einen  gewissen  Umfang  des  Ge- 
schäftes zu,  und  das  richtige  Verhältnis  zwischen  beiden  wird  durch 


—     87     — 

eine  allzukräftige  Beanspruchung  des  teuren  Bankkredits  leicht  nach- 
teilig verändert.  „Wir  widerraten  alle  großen  Geschäfte,  besonders 
wenn  sie  nicht  mit  eigenem  Kapital  betrieben  werden  können.  Es 
geht  solchen  übergroßen  Handelshäusern  wie  übergroßen  Staaten. 
Liegen  die  Außenenden  von  dem  Mittelpunkte  der  Tätigkeit  zu  weit 
entfernt,  so  verliert  er  an  innerer  Kraft  eben  so  viel,  wie  er  an  der 
Oberfläche  gewinnt."^) 

Leider  können  hier  nicht  all  die  vielen  geistreichen  und  so  oft 
zutreffenden  Anmerkungen  und  Ausführungen  Leuchs'  wiederge- 
geben werden,  die  besonders  auf  dem  Gebiete  der  Handelsbetriebs- 
lehre eines  Schriftstellers  von  heute  würdig  wären.  Es  seien  daher 
nur  noch  die  wichtigsten  Grundsätze  angeführt,  zu  denen  Leuchs 
schließlich  gelangt.  Zunächst  gilt  für  die  Spekulation 2)  in  Waren, 
L  Je  seltener  eine  Ware  wird,  desto  teurer  wird  sie,  wenn 
sie  nicht  etwa  durch  andere  ersetzt  werden  kann. 

2.  Man  erwarte  nicht  zu  viel  Gewinn,  sondern  gebe  zur  rechten 
Zeit  ab. 

3.  Zur  Zeit  des  Geldmangels  —  gleichgültig,  ob  unter  den 
Käufern  oder  Verkäufern  —  wird  nicht  viel  oder  nur  durch  langes 
Kreditgeben  abzusetzen  oder  zu  gewinnen  sei. 

4.  Man  benutze  die  niedrigen  Frachten  und  Wechselkurse. 

5.  Worauf  zu  viele  spekulieren,  darauf  spekuliere  man  nicht, 
oder  erwarte  doch  in  kurzem  nicht  zu  viel  Gewinn  daran. 

6.  Nicht  die  Masse  des  Erzeugnisses  eines  Landes,  sondern  die 
Erzeugnisse  aller  Länder  zusammengenommen  und  im  Verhältnis 
zu  ihrem  Bedarf,  den  Überlieferungskosten  usw.  bestimmen  den  Preis. 

7.  Bei  einer  örtlichen  Teuerung  ist  nur  innerhalb  kurzer  Zeit 
großer  Gewinn  und  Absatz  zu  erwarten,  bei  einer  allgemeinen  da 
gegen  ein  länger  dauernder. 

8.  Wenn  ein  sehr  großes  Bedürfnis  nach  einer  Ware  entsteht, 
ihr  Vorrat  ohnehin  gering  ist  und  auch  nicht  wohl  vermehrt 
werden  kann,  so  wird  von  einem  früheren  Einkauf  Nutzen  zu  er- 
warten sein. 

9.  Wenn  zwei  oder  mehrere  Waren  einander  ersetzen  können, 
so    erwarte   man    beim   Mangel    der    einen   und   beim  Überfluß    der 


1)  Diese  Erkenntnis  mutet  wie  ein  Satz  aus  Fr.  Ratzeis  Politischer  Geo- 
graphie an. 

2)  Vgl.  S.  59  u.  64,  ferner  für  die  folgenden  Grundsätze  teilweise  das  auf  S.  bO 
Angeführte  aus  der  ^Handelslehre".  Vgl,  auch  damit  die  Preistheorien,  die  die 
Volkswirtschaftslehre  aufgestellt  hat. 


—     88     — 

anderen  keinen  höheren  Gewinn  von  der  mani^ehiden,  als  das  Ver- 
hältnis ihres  Wertes  unter  sich  gestattet. 

10.  Zur  Zeit  von  Kriegen  werden  Kolonialwaren,  besonders 
solche,  die  Kriegsbedürfnissc  sind  und  aus  der  Ferne  kommen, 
teurer  werden. 

11.  Wird  die  Zahl  der  Verbraucher  in  einem  Lande  sehr  ver- 
mehrt, so  werden  alle  zu  ihrem  Unterhalte  erforderlichen  Landes- 
erzeugnisse steigen,  und  der  Gewinn  aus  früheren  Einkäufen  wird 
gleich  sein  dem  Mehrpreise  der  noch  aus  dem  Auslande  heranzu- 
schaffenden Waren. 

12.  Spekulationen,  die  auf  einer  erzwungenen  Preissteigerung 
beruhen,  bringen  sehr  unsichere  Gewinne. 

13.  Wenn  stilliegende  Fabriken  ihre  Arbeit  plötzlich  wieder 
aufnehmen,  ist  eine  Preissteigerung  der  Rohstoffe  um  so  mehr  zu 
erwarten,  je  größer  ihre  Verbrauchssteigerung  im  Verhältnis  zu  den 
Vorräten  ist,  und  je  langsamer  und  schwerer  sie  gewonnen  werden. 

14.  Alle  Begünstigungen  des  Staates  für  Erzeugnisse  können 
die  Preise  dafür  ungefähr  um  die  Größe  der  Begünstigungen  ver- 
mindern, alle  Hemmnisse  und  Erschwerungen  dagegen  können  sie 
um  deren  ungefähren  Betrag  verteuern. 

15.  Zur  Zeit  der  Ernte  oder  bei  größerer  Verkaufs  Willigkeit 
der  Verkäufer  werden  die  Preise  wahrscheinlich  sinken,  späterhin 
aber  wieder  steigen. 

16.  Von  leicht  verderblichen  Wajen  und  dergleichen  kaufe  man 
nicht  mehr,  als  mit  Sicherheit  schnell  wieder  abzugeben  sein  wird, 
es  sei  denn,  daß  die  Preise  ungewöhnlich  niedrig  stehen. 

17.  Man  spekuliere  mehr  auf  unentbehrliche  (I)  Waren  als  auf 
solche,  die  zu  umgehen  und  zu  ersetzen  sind*). 

18.  Die  Ursache  bestimmt  die  Wirkung,  der  Grund  die  Folge: 
steigen  die  Rohstoffe,   so  steigen  auch  die  Fabrikate  im  Preise. 

19.  Das  Ganze  setzt  seine  Teile,  die  Wirkung  ihre  Ursachen 
voraus ;  alle,  nicht  einige,  bewirken  sie.  Wenn  wir  also  auch  eine 
Hauptursache  aufgefunden  haben,  so  müssen  wir  doch  die  noch 
möglichen,  dem  Anscheine  nach  geringeren,  nicht  außer  Acht  lassen. 


1)  Das  ist  natürlich  rein  wirtschaftlich  gedacht  und  bedarf  in  seinen  letzten 
Folgerungen  eines  Gegengewichtes  durch  sittliche,  sozialethische  Bedenken.  Freilich 
stehen  diese  auf  einem  andern  Blatte  als  die  Lehre  von  der  aussichtsreichsten  Be- 
triebsführung. Sie  werden  von  dem  Kaufmann  nicht  in  seiner  Eigenschaft  als  Kauf- 
mann, sondern  in  seiner  Eigenschaft  als  Staatsbürger  zu  erwarten  sein.  Daher  wird 
man  es  nicht  mißbilligen  können,  wenn  sich  Leuchs  hier  nur  an  das  Wirtschaft- 
liche hält. 


—     89     — 

Die  Wahrscheinlichkeit,  daß  eine  Fabrik  einen  Ertrag  abwirft, 
hängt  davon  ab,  ob  genügend  Kapital  vorhanden  ist,  um  Anlagen, 
Rohstoffe,  Lager  und  Kredite  in  genügendem  Umfange  zu  gestalten, 
ob  die  Rohstoffe  näher,  wohlfeiler  und  besser  als  von  unseren 
Konkurrenten  erlangt  werden  können,  ob  wir  dem  Absatzmarkte 
näher  sind  und  überhaupt  an  den  Frachten  gewinnen  können,  ob 
die  Löhne  niedriger  sind,  ob  wir  unentbehrliche,  dauernd  gebrauchte 
und  dem  Geschmack  der  Abnehmer  angepaßte  Fabrikate  herstellen, 
und  ob  wir  schließlich  noch  durch  Zölle,  Vorrechte  und  dergleichen 
bevorzugt  werden.  Hemmungen  entstehen  aus  dem  Wettbewerb 
der  bereits  bestehenden  Fabriken,  aus  der  Vorliebe  der  Verbraucher 
für  das  Fremde,  aus  dem  Eigennutz  der  Zwischenhändler,  aus  un- 
klugen oder  veralteten  Staatsgesetzen  und  Wirtschaftsmaßnahmen, 
Zunftverfassungen  usw.  Vor  allem  muß  der  Fabrikant  auch  Fa- 
brikant bleiben  und  dem  Handeismanne  die  Arbeit  des  Absatzes 
überlassen.  Als  Fabrikant  aber  muß  er  vor  allen  Dingen  über  ein 
ausreichendes  Kapital  verfügen,  aber  auch  nicht  zu  viel  in  das 
Unternehmen  stecken.  Die  Nachteile  der  ÜberkapitaHsation  hatte 
schon  Marperger  erkannt  und  in  dem  Satze  ausgedrückt,  „daß 
eine  Manufaktur  sich  eher  mit  10  als  mit  100000  Talern  anfangen 
und  länger  kontinuieren  lasse"  0- 

Der  Wechselkurs  zwischen  zwei  Arten  und  zwischen  den  Käu- 
fern und  Verkäufern  von  Wechseln  wird  durch  das  Verhältnis  der 
Schulden  und  Forderungen  zwischen  den  Plätzen  oder  durch  das 
Verhältnis  der  Käufer  zu  den  Verkäufern  am  Orte  bestimmt.  Es 
wirken  aber  auch  auf  das  Steigen  und  Fallen  mit  ein  der  Geld- 
vorrat der  Käufer  und  das  Geldbedürfnis  der  Verkäufer,  die  kürzere 
oder  längere  Laufzeit,  die  Zinsfüße,  die  Kreditfähigkeit  der  Ver- 
käufer, die  Versendungskosten  des  baren  Geldes,  die  das  Maximum 
und  Minimum  der  Kurse  bestimmen'-),  wobei  der  Zeitunterschied 
der  Barsendung  gegenüber  der  Wechselsendung,  die  größere  Ge- 
fahr der  Barsendung,  die  vielleicht  bestehenden  Ausfuhrverbote  für 
Bargeld  und  die  Kurse  anderer  Orte  mit  zu  berücksichtigen  sind. 
Von  Einfluß  sind  auch  noch  die  Ernten,  die  großen  Auktionsver- 
käufe, die  Messen,  die  fürstlich-staadichen  Geldgeschäfte  mit  dem 
Auslande,  die  Anleihen  und  die  Kriege. 

Die  Preise  der  Staatspapiere  schwanken  je  nach  dem  Kredit 
des  betreffenden  Staates.     Die  Menge  seiner  Schulden  im  Verhält- 


1)  Lt.  dem  „Neu-eröffneten  Manufakturen-Hauß«,  S.  25,  in  den  Paradoxis  Mer- 
catoriis  zuerst  behauptet. 

2)  Goldpunkte! 


—     90     — 

nis  zu  seinen  Einkünften,  seine  inner-  und  außerpolitischen  A'erhält- 
nisse  haben  in  dieser  Beziehung  große  Bedeutung.  Weiterhin  kommt 
in  Betracht,  ob  Zurückzahlungen  zu  erwarten  sind,  neue  Anleihen 
oder  Zinsänderungen  bevorstehen,  ob  die  Rückzahlungstermine  nah 
oder  fern  liegen,  ob  die  gestellten  Sicherheiten  ihren  Wert  behalten 
oder  nicht,  ob  ferner  der  landesübliche  Zinsfuß  höher  oder  nie- 
driger als  der  des  Papieres  ist,  und  schließlich,  ob  die  allgemeinen 
Geldvcrhältnisse  und  Anlagemöglichkeiten  ihm  günstig  oder  un- 
günstig sind. 

Die  Wahrscheinlichkeit  des  Steigens  oder  Fallens  der  Aktien- 
kurse hängt  ebenfalls  von  den  zuletzt  genannten  Verhältnissen, 
vor  allem  aber  davon  ab,  welche  Dividendenaussichten  oder  Ver- 
lustquellen zu  erwägen  sind.  Die  Wahrscheinlichkeit,  daß  ein  Ver- 
sicherungsunternehmen Erfolg  hat,  ist  um  so  größer,  als  im  Ver- 
hältnis zu  den  vorhandenen  oder  beizuschießenden  Geldern  nicht 
zu  viel  auf  einzelne  Schiffe  versichert  wird,  sondern  die  Versicherungs- 
gefahr auf  viele  Schiffe  verteilt  wird,  die  zu  verschiedenen  Zeiten 
und  nach  verschiedenen  Orten  abgehen. 

Soweit  der  erste  Teil.  Eine  gewisse  Ergänzung  findet  er  in 
einem  Abschnitt  des  dritten  Teiles,  den  Leuchs  „Über  kaufmänni- 
sche Erziehung"  überschrieben  hat.  Nachdem  er  den  Werdegang 
eines  jungen  Handlungsbeflissenen  gezeigt  hat,  bespricht  er  dort 
auch  die  „Anlegung  und  Führung  einer  Handlung",  erteilt  Rat- 
schläge über  die  Geldmittel  und  Geldverteilung,  über  das  Handeln 
mit  vielen  oder  mit  einer  Ware,  über  die  Ortslage  der  Unter- 
nehmung, die  fremden  Hilfskräfte  und  ihre  Überwachung  und  die 
Verkaufspolitik  ')•  Im  übrigen  enthält  dieser  Band  ein  paar  kurze 
Forderungen,  die  man  nach  Leuchs  an  die  einzelnen  Teile  einer 
Handelskunde  stellen  muß,  und  dann  ein  mit  kritischen  Anmer- 
kungen versehenes  Verzeichnis  der  besten  Bücher  aus  der  gesamten 
Handelsliteratur  einschließlich  der  Sprachen. 

Der  zweite  Teil,  der  in  einem  besonderem  Bande  die  Staats- 
handelswissenschaft behandelt,  besteht  nicht  etwa  in  einer  Abhand- 
lung, die  wir  im  Sinne  der  heutigen  Volkswirtschaftslehre  „Handel 


1)  In  den  entsprechenden  Teilen  der  ersten  Auflage,  der  von  1SÜ4,  wird 
manches  noch  weiter  ausgeführt  als  später.  So  heißt  es  dort  u.  a.  über  die  Bedeu- 
tung der  Handelsgeschichte  usw.:  „Was  die  Handelsgeschichte  für  den  Handel  ist, 
das  kann  die  Geschichte  einzelner  Handlungshäuser  für  die  Handlungen  Einzelner 
werden.  Wie  man  aus  jenen  Forderungen  und  Bedingungen,  Grundsätze  und 
Maximen  für  den  Handel  abstrahieren  kann,  so  kann  dies  aus  dieser  für  die  Hand- 
lung des  Kaufmanns  geschehen  (§  7ü5). 


—     91     — 

und  Handelspolitik"  überschreiben  könnten,  sondern  mehr  in  einer 
Darstellung  des  damaligen  Handelsrechts,  der  Verkehrsanstalten  usw., 
überhaupt  alles  dessen,  was  den  Handel  als  Geschäft  und  im  all- 
gemeinen zu  unterstützen  und  zu  fördern  geeignet  ist.  Daher  auch 
die  Bezeichnung  „Beförderungsmittellehre",  die  zunächst  an  eine 
Art  „Versendungslehre"  denken  läßt,  mit  der  sie  aber  nicht  zu  ver- 
wechseln ist.  Was  Leuchs  hier  bietet,  gehört  in  die  Handels- 
kunde im  weiteren  Sinne  und  zwar  mit  demselben  Rechte,  wie  auch 
die  Warenkunde  usw.,  die  er  ihr  ja  selber  zuweist. 

Dagegen,  daß  die  Staatshandelswissenschaft  in  einem  höheren 
Sinne  als  Wissenschaft  angesehen  werde,  wandte  sich  schon  K.  H. 
Rau  in  seinem  Artikel  „Handelswissenschaft"  in  der  „Allgemeinen 
Enzyklopädie  der  Wissenschaften  und  Künste"  von  Ersch  und 
Gruber,  indem  er  sagte: 

„.  .  .  Man  muß  gestehen,  daß  die  Deutschen  ein  wenig  zu 
geneigt  sind,  neue  Wissenschaften  aufzustellen.  Es  ist  durchaus 
verwirrend,  wenn  man  schon  jede  zusammenhängende  Bearbeitung 
eines  Gegenstandes,  der  sonst  in  dem  Gebiet  mehrerer  Wissen- 
schaften zerstreut  vorkommt,  als  eine  eigene  Wissenschaft  gelten 
lassen  will,  denn  solcher  Kombinationen  und  Zusammenstellungen 
muß  es  eine  unendliche  Menge  geben.  Die  Verbindung  mehrerer 
Gesichtspunkte  behält  ihr  Nützliches,  wenn  man  auch  sich  bewußt 
bleibt,  daß  sie  nicht  ein  organisches  Ganze  ist  und  auf  keinen  Ge- 
samtnamen Anspruch  hat.  So  ist  die  Staatshandelswissenschaft 
der  Inbegriff  aller  Regeln  ^),  nach  denen  die  Regierung  in  Beziehung 
auf  den  Handel  verfahren  soll;  die  einzelnen  Regeln  gehören  teils 
der  Politik  des  Justizwesens,  teils  der  Polizeiwissenschaft,  teils  end- 
lich der  Lehre  von  der  Wohlstandssorge  und  der  Finanzwissen- 
schaft an.  ..." 

Über  die  „Handelswissenschaft"  selber 2)  sagte  Rau  dagegen: 
„Es  leidet  keinen  Zweifel,  daß  die  Beweggründe,  nach  denen  ein 
verständiger,  erfahrener  und  unterrichteter  Kaufmann  in  seinen  Ge- 
schäften zu  Werke  geht,  unter  allgemeine  Regeln  gebracht,  diese 
sodann    mit    einander   verbunden    und   in    wissenschaftlicher   Form 


1)  Leuchs  und  andere  geben  hier  jedoch  gar  keine  Regeln,  und  so  ernst, 
wie  Rau  es  auffaßt,  hat  Leuchs  den  Ausdruck  Handels  wissen  scha  ft  auch 
nicht  gemeint.  Das  gleiche  möchte  ich  für  die  Kontor^wissenschaft"  annehmen. 
Trotzdem  sind  Raus  Worte  bemerkenswert  genug,  denn  der  von  ihm  gerügten 
Neigung,  neue  Wissenschaften  aufzustellen,   folgen  wir  heute  mehr  denn  je. 

2)  Rau  meint  natürlich  die  Handlungswissenschaft  oder  unsere  heutige  Handels- 
betriebslehre. 


—     92     — 

dargestellt  werden  können.  Der  hüchstc  Griindsat/,  aus  welehcm 
alle  einzelnen  Regeln  abgeleitet  werden  müssen,  besteht  darin  daß 
man  nach  dem  größten  Gewinne  aus  dem  Einkauf  und  Verkauf 
streben  muß.  Die  Handelswissenschaft  ist  also  die  Lehre,  den 
Handel  als  Gewerbe  auf  die  vorteilhafteste  Weise  zu  betreiben. 
Da  die  hierzu  führenden  Mittel  bloß  aus  der  Erfahrung  erkannt 
werden  können,  so  ist  die  Handelswissenschaft  auch  nur  unter  die 
Krfahrungswissenschaften  zu  rechnen,  deren  Material  schon  außerhalb 
gegeben  ist  und  in  denen  nur  die  Auffassung  und  Darstellung  dem 
forschenden  Geiste  angehört.  Sie  ist  in  dieser  Hinsicht  den  an- 
deren Gewerbswissenschaften,  z.  B.  der  Bergbau-  und  Landwirtschafts- 
lehre ähnlich,  weicht  aber  darin  von  ihnen  ab,  daß  sie  viel  weniger 
als  diese  die  Gesetze  der  vernunftlosen  Natur  benutzt,  vielmehr  fast 
ganz  auf  die  Eigenschaften,  Zwecke  und  Einrichtungen  des  Menschen 
gebaut  ist.  Aus  dieser  Ursache  ist  in  den  Handelsgeschäften  mehr 
Wechsel  als  in  den  Unternehmungen  des  Landwirts  oder  des  Fa- 
brikanten, und  die  allgemeinen  Lehren,  welche  die  Handelswissen- 
schaft aufstellt,  sind  noch  schwerer  auszuüben  als  die  Vorschriften 
einer  anderen  Gewerbs Wissenschaft." 

„Der  ausübende  Kaufmann  gerät  leicht  in  \'ersuchung,  den 
Wert  einer  Theorie  in  Zweifel  zu  ziehen,  deren  Besitz  für  sich 
allein  noch  bei  weitem  nicht  die  Fähigkeit  vertritt,  an  den  Arbeiten 
wirklich  teilzunehmen,  und  aus  der  er  selbst  wenig  Neues  lernen 
kann.  Aber  er  vergißt,  daß  er  nur  in  dem  Grade  tüchtig  in  seinem 
Berufe  ist,  in  welchem  er  aus  dem  bei  einzelnen  Fällen  vorkommen- 
den Verfahren  sich  allgemeine  Regeln  abgezogen  hat,  die  er  mit 
Sicherheit  und  Klarheit  inne  hat,  daß  er  folglich  die  Wissenschaft, 
ohne  es  zu  ahnen,  auf  seine  Weise  mit  nicht  geringer  Mühe  sich 
hat  verschaffen  müssen,  und  daß  es  eine  große  Abkürzung  des 
Weges  sowohl  als  eine  Vervollständigung  des  Überblickes  bewirkt 
hätte,  wenn  die  Erlernung  der  Handelswissenschaft  in  die  Reihe 
seiner  vorbereitenden  Studien  aufgenommen  worden  wäre.  Die 
heutige  Verbreitung  einiger  guter  deutscher  Werke  über  die 
Handelswissenschaft  beweiset  auch,  daß  eine  nicht  geringe  Zahl 
von  Kaufleuten  dieses  Bildungsmittel  zu  gebrauchen  für  gut  findet. 
Noch  einleuchtender  ist  der  Nutzen  der  Handelswissenschaft  für 
diejenigen,  welche  sich  mit  dem  Wesen  des  Handels  bekannt  machen 
wollen,  ohne  ihn  selbst  zu  betreiben." 

In  diesem  Sinne  und  wohl  mit  unbewußter  Anlehnung  an 
May^)  sagt  nun  auch  Leuchs  über  die  Notwendigkeit  und  Möglich- 

1)  Vgl.  die  Vorrede  zu  seiuem  „Versuch"  oben  S.  68. 


—     93     — 

keit  einer  Theorie  des  kaufmännischen  ?>werbs:  „Es  ist  ein  wahro, 
grobes  Vorurteil,  wenn  man  glaubt,  der  Handel  lasse  sich  nicht 
lehren,  es  sei  keine  Theorie  desselben  möglich,  oder  alles,  was 
darüber  gesagt  werde,  seien  unfruchtbare  Sachen.  Jeder  Handel, 
wenn  er  gut  geführt  werden  soll,  muß  nach  Grundsätzen  geleitet 
werden,  die  immer  aus  den  ersten  Begriffen  und  den  Handelsver- 
hältnissen herzuholen  sind,  sie  mögen  nun  aus  deutlicher  Einsicht 
oder  durch  das  Herkommen  sich  fortgepflanzt  haben.  Aber  Grund- 
sätze, Regeln  und  Theorien  sind  allgemein  und  eben  deswegen 
Grundsätze,  Regeln  und  Theorien,  weil  sie  allgemein  sind.  Man 
muß  nun  zwar  bei  deren  Anwendung  stets  Rücksicht  auf  den  eigent- 
lichen Gegenstand  und  seine  Beziehungen  nehmen,  und  daher  macht 
freilich  die  Theorie  des  Handels  noch  keinen  praktischen  Kaufmann, 
und  diese  Bemerkung  hat  vielleicht  noch  jenes  Vorurteil  veranlaßt. 
Dies  ist  eben  kein  Vorwurf,  der  die  Handelstheorie  betrifft,  es  ist 
die  Natur  aller  allgemeinen  Kenntnisse  und  benimmt  ihrem  hohen 
Werte  nichts.  Durch  sie  allein  wird  der  Wirkungskreis  des  Kauf- 
manns erweitert,  sein  Verhalten  in  einzelnen  Fällen  leicht  und 
sicher  gemacht;  durch  sie  wird  er  sich  besser  finden  und  plan- 
voller zu  Werke  gehen  können:  daher  ist  sie  nicht  nur  wichtig, 
sondern  unentbehrlich  für  jeden,  der  auf  Handelskenntnisse  An- 
spruch machen  und  mehr  als  Krämer  sein  will." 

Diese  Theorie  „dem  Gehalte  und  dem  Umfange  nach",  wie 
es  im  Vorbericht  der  Auflage  von  1804  hieß  ^),  zu  vertiefen  und 
zu  erweitern,  ist  Leuchs  aufs  beste  gelungen.  Man  braucht  da- 
bei einzelne  Nachteile  seines  Systems  der  Handelswissenschaft  nicht 
zu  verkennen,  so  den  etwas  unfruchtbaren  Gedanken  einer  Waren- 
lehre, und  den  einer  Staatshandelswissenschaft,  dann  die  Kombi- 
nation der  kontortechnischen  Fächer  zu  einer  Kontorwissenschaft 
usw.  Ein  Übelstand  ist  es  auch,  daß  die  Wahrscheinlichkeitslehre, 
die  auch  nach  Raus  Meinung  das  Wichtigste  der  „Handelswissen- 
schaft" enthält,  an  den  Schluß  gesetzt,  statt  vor  die  Handelslehre 
gebracht  wurde,  so  daß  eine  Anzahl  Wiederholungen  nötig  wurden. 
Es  wäre  auch  hier  und  da  vorteilhaft  gewesen,  das  unter  die  An- 
merkungen Aufgenommene  oder  unter  „kaufmännische  Erziehung" 
im  Zusammenhange  Dargestellte  mit  in  den  Text  der  „Bürger- 
lichen Handelswissenschaft"  einzubeziehen.  Jedenfalls  haben  wir 
aber  in  Leuchs'  Arbeiten  den  Höhepunkt  der  bisherigen  Ent- 
wickelung   einer   systematischen   Handelswissenschaft    zu    erblicken 

1)  Vgl.  S.  75—77. 


—     94     — 

und  zwar  sowohl  dem  Umfange  als  der  Art  der  Durcharbeitung 
unseres  Gebietes  nach. 

Mit  dem  Umfange,  den  Leuchs  der  „Handels" Wissenschaft 
zuerkennt,  wird  man  insofern  nicht  einverstanden  sein  können, 
als  auch  der  Handel  mit  Wechseln  und  Wertpapieren,  die  Ver- 
sicherung und  die  Fabrikation  mit  dem  Warenhandel  zusammen- 
geworfen sind.  Der  schon  bei  Ludovici  festgestellte  „Fehler", 
unter  Handlung  und  Handel  nicht  nur  die  Geschäfte  des  gewerbs- 
mäßigen Kaufens  und  Vcrkaufens  zu  verstehen,  wird  also  von 
Leuchs  wiederholt.  Wir  sind  eben  zu  Anfang  des  .19.  Jahrhunderts 
noch  in  einer  Zeit,  in  der  noch  fast  alle  Kaufleute  (=  Unternehmer) 
aus  dem  Warenhandel  hervorgingen,  neben  dem  alle  sonstige  Unter- 
nehmertätigkeit nach  Umfang  und  Bedeutung  weit  zurücktrat. 

Eine  Lücke  weist  Leuchs'  Werk  noch  insofern  auf,  als  es 
die  Arbeit  als  Produktionsfaktor  nur  wenig  in  ihrer  Bedeutung  be- 
rücksichtigt. Offenbar  hat  der  Verfasser  seinen  Vorläufern  nicht 
auf  dem  Wege  folgen  wollen,  der  sie  sogar  zu  Arbeitslehren  für 
die  Angestellten  führte,  zumal  ihm  das  Rechnen,  das  Berechnen 
mehr  lag,  als  Betrachtungen  über  das  Arbeiten:  seine  Spekulations- 
wissenschaft beweist,  wie  sehr  er  das  Gewinnen  als  ein  Rechen- 
exempel  ansah,  und  seine  Betonung  der  Wichtigkeit  einer  richtigen 
KajMtalausstattung,  seine  Gewinndefinition  usw.  deuten  ebenfalls 
darauf  hin ').  Leuchs  ging  eben  in  jeder  Beziehung  seine  eigenen 
Wege  und  wußte  so  viele  neue  zu  finden,  die  seine  Arbeiten  ver- 
dienstlich machten,  daß  man  die  wenigen  Unvollständigkeiten  darin 
zunächst  übersieht. 

F.  Sonstige  Arbeiten  von  Ludovici  bis  auf  Leuchs. 

A.  Neben  den  sozusagen  klassischen  Arbeiten  von  Ludovici, 
May,  Jung  und  Leuchs  tauchten  in  dieser  Zeit  noch  eine  große 
Menge  anderer  auf,  die  die  Handlungswissenschaft  nur  mittelbar 
förderten  oder  ergänzten,  indem  sie  besonders  handelskundliches 
Material  bekannt  machten.  Manche  dieser  Schriften  nannten  sich 
sogar  mit  wenig  oder  gar  keinem  Recht  „Handlungswissenschaft". 
Sicherlich  ist  die  nun  einsetzende  literarische  Hochflut  durch 
die  ihr  günstige  Konjunktur  im  allgemeinen  und  durch  die  Speku- 
lation der  Buchhändler  im  besonderen  mit  veranlaßt  worden.    Dem 


1)  Auch  unsere  heutige  Handelsbetriebslehre  betrachtet  die  Unternehmungen 
noch  vorwiegend  als  bloße  Kapitalswirtschaften,  so  daß  man  unserm  Leuchs  diese 
Einseitigkeit  nicht  gar  zu  schwer  wird  anrechnen   dürfen. 


—     95     — 

immer  noch  recht  kleinen  und  außerdem  oft  urteilslosen  Leser- 
kreise, der  in  Frage  kam,  ist  jedenfalls  viel  mehr  zugemutet  worden, 
als  dem  Umfange  seines  Bedürfnisses  entsprach. 

Dieser  Leserkreis  hatte  sich  durch  die  Wirksamkeit  der  neu 
aufgekommenen  Handelsschulen  (1764  Hanau,  1768  Hamburg,  1770 
Wien,  1776  Düsseldorf  usw.  usw.),  der  Handels„akademien",  wie 
damals  diese  Privatanstalten  hießen,  inzwischen  allerdings  etwas 
erweitert.  Aber  die  meisten  Handelsschulen  waren  doch  von  zu 
kurzer  Dauer,  und  alle  hatten  bei  der  skeptischen  Haltung  der 
Praktiker  ihnen  gegenüber  eine  zu  geringe  Schülerzahl,  als  daß  sie 
als  solche  die  Handlungswissenschaft  zu  popularisieren  vermocht 
hätten.  Soviel  mehr  bewirkte  dafür  die  literarische  Tätigkeit  ihrer 
Lehrer  und  Leiter,  zu  denen  wir  bereits  May  und  Leuchs  mit 
rechnen  müssen,  ja,  man  kann  sagen,  daß  die  guten  Fachschriften 
fast  immer  von  solchen  Autoren  geschrieben  sind,  die  dem  kauf- 
männischen Unterrichtswesen  ihrer  Zeit  nahe  standen.  Dabei  ist 
allerdings  zu  bemerken,  daß  diese  Schriftsteller  damals  regelmäßig 
erst  aus  dem  Kaufmannsstande  hervorgegangen  waren.  Es  ist  leider 
im  einzelnen  oft  recht  schwer  festzustellen,  ob  ein  Verfasser  mit 
einer  Handelsschule  in  Verbindung  gestanden  hat  oder  nicht,  und 
mit  welcher  Anstalt  das  der  Fall  sein  möchte.  Denn  nicht  nur  ist 
die  ältere  Handelsschulgeschichte  noch  sehr  wenig  aufgeklärt,  son- 
dern auch  die  Fachschriften  jener  Zeit  verraten  oft  nichts  darüber. 
Am  wenigsten  sagen  sie  uns  durch  ihre  Anlage  und  ihren  Inhalt, 
denn  sie  waren  meistens  keine  bloßen  Schulbücher,  sondern  waren 
für  alle  handlungswissenschaftlich  interessierten  Kreise  bestimmt. 
Die  der  Schule  fernstehenden  Leser  waren  ja  auch  in  der  Überzahl. 

B.  Will  man  die  Fachschriften  der  zweiten  Hälfte  des  18.  Jahr- 
hunderts in  Gruppen  bringen,  so  dürfte  sich  zunächst  eine  ergeben, 
die  halb  oder  gar  ganz  kameralistisch  geartet  ist.  Zu  ihr  gehören 
außer  ein  paar  übersetzten  Büchern^),  wie  den  „Grundsätzen  der 
Handelschaft",  Wien  1762,  aus  dem  Französischen  und  dem  „All- 
gemeinen Kaufmann"  aus  dem  Englischen  des  N.  Mayen,  Berlin 
1763,  —  fälschlich  immer  Magen  genannt;  ein  Plagiat  dieses  Werkes 
von  dem  Engländer  Horsley  wurde  später  noch  einmal  unabhängig 
von  dieser  Ausgabe  übersetzt  —  noch  die  folgenden  rein  deutschen, 


1)  Während  der  Drucklegung  finde  ich  noch  ein  sehr  gutes  (aus  dem  Fran- 
'zösischen  (?)  übersetztes)  Buch,  betitelt  „Der  vernünftige  Kaufmann  oder  theoretische 
und  praktische  Grundsätze  der  Handlung",  Hamburg  und  Leipzig  1755.  Sein  Name 
ist  irreführend,  insofern  es  bis  auf  ein  Kapitel  „Vom  Wechsel"  (mit  einer  Theorie 
der  Arbitrage)  rein  volkswirtschaftlich  ist. 


—     96     — 

die  bei  den  I  landlungsvvisscnschaftlern  liauptsäclilidi  bckannl  waren, 
nämlich  z.unächst  der  „Wohlerfahrene  Kaufmann"  von  C.  V.  ilänel, 
Münster  und  Leipzii,'  1782  ('mit  einem  4.  Kajjitel  über  die  Krriehtung 
einer  Fabrik  oder  Manufaktur,  einem  17.  über  Wechselparitäten  und 
ihre  Beziehungen  zur  Handelsbilanz  und  nut  einem   18.  über  Münz- 
berechnungen)  und  dann  die  wesentlich  besseren    „Grundsätze  der 
Handlungswissenschaft",  ohne  Angabe  des  Verfassers,  Wien   1785. 
Dieses  Buch    spricht   in    einer   „Allgemeinen  Einleitung   in   die 
Handlungswissenschaft"    vom  Bedürfnis,    Tausch,    Handel,    Waren- 
und  Geldgut,  Agio,  Kauf  und  Verkauf,    Kredit,    Gewinn  usw.  usw. 
und  liefert  damit  einige  der  nötigsten  Begriffserklärungen   als  Vor- 
bereitung  auf  die    folgende  „Privathandlungswissenschaff'   —   „aus 
ihr   lernen   wir   die  Grundsätze,    nach   deren   Anleitung   durch    den 
vorteilhaften  Umsatz   der  Ware    ein    dauerhafter   Gewinn    kann    er- 
halten werden".     Dieser  Abschnitt    l)ietet   freilich    nur  einzelne  Ka- 
pitel   aus    seinem  Gebiete,    verrät    aber    doch    in    seinem  stichwort- 
artig  knappen  Text,    daß   der  Verfasser  den  Handel  wie   ein  guter 
Praktiker    kennt.     Gewinn   ist    nach    ihm    erst  das,    was  den    platz- 
üblichen Zins  übersteigt,  auch  beim  Wechselhandel  muß  der  Kurs- 
gewinn   höher   als    dieser  Zins   sein.     Ich    habe   den  Eindruck,    als 
wenn  Leuchs   aus   diesem  Buche,    das    selbständiger   als   manches 
ähnliche  ist,  verschiedene  Anregungen  empfangen  hätte. 

Von  ein  paar  anderen  Büchern,    von  denen    ich  nur  die  Titel 
kenne,    möchten    noch    zu   eben   derselben  Gruppe   gehören   zuerst 
die   „Gedanken  von   der  Handlung,    dem  Waren -Verschreiben  und 
dem  Buchhalten",   Berlin   1778,    wenigstens    mit   ihrem  ersten  Teil, 
dann  eine  „Kurzgefaßte  Einleitung  in  die  Commerz-  und  Handlungs- 
wissenschaft", Frankfurt  a.  M.  1779,  und  noch  die  „Grundsätze  der 
Handlungswissenschaft    für    Kaufleute",    Würzburg    1785,    sämdich 
von   ungenannten  Verfassern,    also  vermutlich    nicht   sehr   wertvoll. 
So  viel  mehr  Beachtung  fanden  natürlich  die  auf   den  Handel 
beschränkten    Arbeiten    der    berühmteren    Kameralisten.      Es    sind 
dies  besonders  der  zweite  Band  der  „Grundsätze  der  Polizey,  Hand- 
lung  und  Finanz"  von  J.  von  Sonnenfels,    die   von    1770  1776 
bis  1 804 T 805  sieben  Auflagen  erlebten,   und  eine  kleine  „Anleitung 
zur    Handlungswissenschaft.    —    Nebst    Entwurf    zur    Handlungs- 
bibliothek" von  J.  Beckmann,  Göttingen  1789.    Daneben  kamen 
dann  auch  des  letzteren  Bearbeitung  von  Justis  „Grundsätzen  der 
Polizey  Wissenschaft",  3.  Auflage,  Göttingen   1782,  und  die   „Grund- 
lehre   der   Staatswirtschaft"   von   dem    uns    schon   bekannten  Jung 
in  Betracht. 


—     97     — 

Die  Beckmannsche  „Anleitung"  ist  nicht  sehr  bedeutend, 
bringt  aber  gute,  bündige  Erklärungen.  Am  bemerkenswertesten 
erscheinen  mir  aus  ihr  folgende  Sätze: 

„Die  Handlung  oder  Kaufmannschaft  oder  das  Gewerbe  der 
Kaufleute  besteht  darin,  daß  Waren  eingekauft  werden,  um  sie  ohne 
weitere  Verarbeitung  wiederum  mit  Vorteil  zu  verkaufen.  Der  Inbegriff 
aller  der  Kenntnisse,  welche  zur  Betreibung  oder  zum  Verständnis 
dieses  Gewerbes  nötig  sind,  heißt  die  Handlungswissenschaft,  doc- 
trina  mercatoria.  Zu  ihren  Hilfswissenschaften  gehören  die  Mathe- 
matik, vornehmlich  die  Rechenkunst,  die  Geographie,  die  Techno- 
logie, die  Warenkunde  und  andere  Kenntnisse,  die  hier  als  bekannt 
vorausgesetzt  werden. 

Von  der  Handlungswissenschaft  ist  die  Handelskunde  unter- 
schieden, worunter  ich  die  Kenntnisse  des  gegenwärtigen  Zustandes 
der  Handlung  in  den  verschiedenen  Ländern  verstehe,  die  Kennt- 
nis der  Waren,  die  jedes  Land  aus-  und  einführt,  der  daselbst 
für  die  Handlung  errichteten  öffentlichen  Anstalten,  der  Münzen, 
Maße,  Gewichte,  der  Handelsverträge  mit  anderen  Nationen,  der 
Kolonien  und  Faktoreien  usw.  Diese  Handelskunde  ist  von  un- 
gemein großer  Ausdehnung  und  vielen  Veränderungen  ausgesetzt. 
Noch  zur  Zeit  ist  sie  nur  von  wenigen  besonders  abgehandelt 
worden,  aber  manche  Teile  derselben  findet  man  in  den  statistischen 
Lehrbüchern^)  an.  Sie  setzt  die  Kenntnis  der  Handlungswissen- 
schaft voraus." 

Aus  Sonnenfels'  Werk  verfertigte  J.  v.  Luca  einen  Auszug 
mit  dem  „Leitfaden  in  die  Handlungswissenschaft  des  Herrn  Sonnen- 
fels",  Wien  1775.  Er  diente  als  Leitfaden  in  dem  Fache  der 
„praktischen  Handlungswissenschaft"  an  der  Wiener  Real-Handlungs- 
akademie.  Wie  hier,  so  mag  auch  noch  an  anderen  Anstalten  dieses 
Fach  kameralistisch  behandelt  worden  sein,  doch  ist  wenig  darüber 
bekannt. 

In  Wien  gab  es  übrigens  außer  diesem  „Leitfaden"  mit  der 
Zeit  noch  mehr  solcher  abgeschriebenen  Bücher  für  Schulzwecke, 
die  einen  Vergleich  mit  den  „Handelswissenschaften"  des  späteren 
19.  Jahrhunderts  herausfordern.  Es  sind  dieses  die  „Grundsätze 
der  Handlungswissenschaft"  (Verfasser  ?)  von  1790  zum  Gebrauche 
an  der  eben  genannten  Anstalt,  dann  von  1813  „Die  Handlungs- 
wissenschaft in  ihrem  ganzen  Umfange"  von  einem  J.  M.  Liechten- 
stein, eine  dreiste,  wörtliche  Abschrift  von  Leuchs,  und  schließ- 

1)  Die  „Statistik"  jener  Zeit  ähnelt  weniger  dem,  was  wir  heute  darunter 
verstehen,  als  der  speziellen  Wirtschaftsgeographie  unserer  Tage. 

Zeitschrift  für  die  ges.  Staatswissensch.    Ergänzungsheft  49.  T 


—     98     — 

lieh    noch    von    1819    ein    ebenso    unselbständiges    „Lehrbuch    der 
Handels  Wissenschaft"    von   J.    Sonnleithner,    das    an    dem    poly- 
technischen  Institut    zu  Wien   gebraucht    wurde.   —  Von   ein   paar 
weiteren    österreichischen  VeröffentUchungen    habe   ich    leider  nur 
die  Titel  feststellen  können.     Es  sind  dies  eine  „Handlungswissen- 
schaft in  ihren  allgemeinen  Umrissen",  Wien   1813,  ein   „Grundriß 
der  Handlungswissenschaft"  von  J.  Nowack,  Wien  1808,  dann  „Der 
Kaufmann,  wie  er  sein  soll",  Prag  1815,  und  noch  ein  „Handbuch 
fürBanquiers  und  Kauf leutc'",  Brunn  1781  »j.  Einstweilen  tröstet  mich, 
daß    diese    Bücher    nirgendwo ,  in    der  Literatur   ihrer  Zeit   gelobt 
werden,  und  daß  ich  mit  Not  gerade  diese  Titel  aufgefunden  habe. 
C.  Was  nun  der  kameralistisch  gerichteten  Literatur  gegenüber 
die  mehr   handlungswissenschaftliche   anbelangt,   so   lassen   sich    ni 
ihr    bereits    wieder    mehrere   Richtungen    unterscheiden.     Die    eine 
davon  wird  durch  die  schon  besprochenen  Systeme  von  Ludovici, 
May,   Jung   und  Leuchs   gekennzeichnet,    die   sich  auf  ein  mehr 
oder 'weniger  umfangreich  gedachtes  Gesamtgebiet  beziehen.    Eine 
andere  dagegen  geht    schon    auf    speziellere  Sachgebiete   ein,    die 
Ausschnitte    aus    jenem    darstellen.      Sie    sind    allerdings    weniger 
wissenschaftlich  als  für  den  praktischen  Gebrauch  geschrieben.    Der 
Gruppe  der  hierher  gehörigen  Bücher  steht  die  lexikalische  Fach- 
literatur gegenüber,    die  Literatur  der  Handbücher,    Sammel-   und 
Nachschlagewerke,   die   teilweise  schon   wieder   in   das   Gebiet  der 
Buchführung,   der  Korrespondenz,   des   kaufmännischen  Rechnens, 
der  Wechsellehre   usw.  hinübergreifen,    indem    sie  nicht  mehr  bloß 
die   Handlungswissenschaft,    sondern   in    der   Art    von   Stäpsens 
„Hinlänglichem    Unterricht"    die    „Handlungswissenschaften"    zum 

Gegenstand  haben. 

Dieser  Plural  ist  neu.  Er  wird  manchmal  umschrieben  durch 
Ausdrücke,  wie  die  „Handlungswissenschaft  in  ihrem  ganzen  Um- 
fange" oder  „praktische  Handlungswissenschaft"  und  dergleichen, 
und  wenn  man  gar  auf  Titelzusätze  wie  „für  junge  Kaufleute"  stößt, 
so  ist  nicht  einmal  die  Vermutung  zu  kühn,  daß  in  den  betreffen- 
den Werken  von  der  eigentlichen  Handlungswissenschaft  überhaupt 
nichts  gesagt  worden  ist,  sondern  daß  sie  nur  einige  Kontorkennt- 
nisse vermitteln. 

Die  rein  handelskundliche  Literatur  nimmt  in  dieser  Zeit  einen 
großen  Aufschwung.  Naturgemäß  beansprucht  schon  in  den  bereits 
genannten  Literaturerscheinungen,  besonders  in  den  Sammelwerken, 

iyDi7~beideD  letzten  werden  allerdings  nicht  kameralistisch  sein;  ich  nenne 
sie  hier  nur  als  auch  österreichische  Arbeiten. 


-     99     — 

die  Handelskunde  einen  breiten  Raum.  Am  meisten  und  am  eigen- 
artigsten tritt  sie  aber  in  den  zahlreichen  Aufsätzen  der  neu  auf 
den  Markt  kommenden  Zeitschriften  kaufmännischen  Inhalts  in  die 
Erscheinung.  Diese  periodischen  Schriften  sind  ein  beredtes  Zeichen 
Aveniger  für  ein  kaufmännisches  Interesse  an  ihnen,  denn  sie  hielten 
sich  meistens  nicht  lange,  als  für  die  Produktivität  der  damaligen 
Handelswissenschaftler  und  für  die  Unermüdlichkeit  der  Verieger, 
die  Bedürfnisse  des  kaufmännischen  Publikums  zu  wecken.  Ein 
besonders  gepflegtes  Kapitel  jener  periodischen  Veröffentlichungen 
war  zuweilen  eine  literarische  Rundschau;  außerdem  gaben  mehr 
und  mehr  auch  Buchwerke  Literaturübersichten,  und  schlief3hch 
kamen  sogar  schon  einige  spezielle  Literaturverzeichnisse  heraus 
—  unzweifelhaft  die  Krone  dieser  ganzen  Hochflut  von  Schriften. 
D.  Wenden  wir  uns  nun  den  einzelnen  Arbeiten,  zunächst  den 
spezielleren  aus  dem  Gebiete  der  Handlungswisserschaft  selber,  zu. 
Schon  1740  erschien  zu  Kopenhagen,  aber  wohl  nur  in  Deutsch, 
ein  „Gründlicher  Unterricht  über  eine  Winkelier  oder  eine  kleine 
Handlung"  von  einem  unbekannten  Verfasser  i),  dem  eine  spätere 
„Darstellung  von  geschmackvollen  Handlungsläden,  Boutiken  und 
Gewölben",  auch  von  einem  Unbekannten,  Nürnberg  1804,  zur 
Seite  steht. 

In  der  Zwischenzeit  war,  wieder  von  einem  ungenannten  Ver- 
fasser, „Der  wohl  instruirte  Schiffer",  Lübeck  und  Wismar  1773 
schon  in  dritter  Auflage,  herausgekommen.  Darin  wird  erörtert, 
was  der  Schiffer  vor,  während  und  nach  der  Reise  zu  tun  hat, 
außerdem  hat  das  Buch  einen  Anhang  von  Schiffsverträgen  und 
dergleichen.  Aus  dem  Englischen  des  J.  Weskett  stammt  ferner 
eine  „Assekuranz -Wissenschaft",  von  J.  A.  Engelbrecht  über- 
setzt und  bearbeitet,  Lübeck  1787,  die  jedoch  bei  uns  wenig  Beifall 
gefunden  hat.  Es  ist  aber  darin  glücklich  die  gefähriiche  Klippe 
für  dergleichen  Bücher,  im  Juristischen  des  Stoffes  stecken  zu 
bleiben,  vermieden  worden.  Der  Inhalt  betrifft  dem  Stande  des 
damaligen  Versicherungsgeschäftes  entsprechend  natüriich  nur  die 
Seeversicherung  und  handelt  in  einiger  systematischen  Ordnung 
von  den  Versicherern  und  den  Versicherten,  von  den  Versicherungs- 
objekten, von  der  Haftung  des  Versicherers  und  den  Pflichten  des 
Versicherten,  von  der  Haverei,  Bodmerei  usw. 

Unter  den  Hilfsbüchern,  die  dem  Landfracht-  und  Meßverkehr 

1)  Das  Buch  selbst  ist  mir  nicht  bekannt  geworden;  ich  habe  aber  nach  spä- 
teren, ähnlichen  Titeln  den  Verdacht,  daß  es  nur  ein  Rechentabellenwerk  oder  der- 
gleichen ist. 

7» 


—     100     — 

des  Kaufmannes  dienen  sollten,  ragen  zwei  von  einem  E.  Meyer, 
einem  alten  Praktiker,  hervor.  Es  sind  dies  das  „Frachtbuch  für 
Kaufleute  und  Spediteure'',  Weimar  1801,  und  ,,Der  Kaufmann  auf 
den  Messen  und  Märkten",  Weimar  1802.  Ihrem  Verfasser  kam  es 
weniger  auf  die  Aufstellung  eines  Systems  in  ihnen  an,  als  auf  die 
Mitteilung  seiner  Erfahrungen,  auf  die  Kennzeichnung  von  Miß- 
ständen und  die  Mitteilung  von  Ratschlägen  zu  ihrer  Abhilfe 
und  überhaupt  auf  die  Erteilung  von  praktisch  oder  handelspolitisch 
brauchbaren  Winken.  Dadurch  bekommen  diese  Schriften  eine  stark 
persönliche  Note,  leider  geht  aber  auch  die  Schreibart  oft  sehr  in 
die  Breite. 

Das  ,, Frachtbuch"  hat  als  solches  keinen  Vorläufer.  Es  be- 
schränkt sich  im  allgemeinen  auf  den  Landtransport,  rügt  die  vielen 
Mißstände  beim  Verpacken,  Frachtenakkordieren  und  Empfangen, 
die  Lässigkeit  der  Fuhrleute  usw.  und  fordert  zur  Abhilfe  u.  a.  ein 
allgemeines  Handelsgesetzbuch.  Wenngleich  das  Rechtliche  mit 
beleuchtet  worden  ist,  so  ist  die  Darstellung  dennoch  nichtjuristisch, 
sondern  vorwiegend  auf  das  Wirtschaftliche  gerichtet.  Etwas  stö- 
rend sind  in  dem  Buche  die  vielfach  eingestreuten  moralischen  Kt- 
örterungen,  sowie  verschiedene  Wiederholungen. 

Auch  ,,Der  Kaufmann  auf  den  Messen  und  Märkten"  ist  um 
diese  Zeit  das  erste  Buch  seiner  Art.  Es  gab  zwar  ein  „Handbuch 
für  Kaufleute,  welche  die  Leipziger  Messen  besuchen",  von  einem 
Unbekannten,  Leipzig  1798,  jedoch  war  es  rein  juristisch,  und  es 
gab  sogar  ein  Rechentabellenwerk  von  einem  A.  Wagner,  Leipzig 
1799,  das  mit  dem  Titel  ,.Hülfs-Buch  für  Meß-Kaufleute"  auf  mehr 
Absatz  spekulierte,  aber  handlungswissenschaftlich  war  seit  Mar- 
pergers  „Beschreibung  der  Messen  und  Jahrmärkte",  die  z.T.  auf 
Sa  Vary  fußte,  nichts  für  Meßkaufleute  geschrieben  worden.  Von 
diesem  Buche  wußte  Meyer  aber  wohl  nichts;  der  bei  beiden  ähn- 
liche Aufbau  des  handlungswissenschaftlichen  Stoffes  —  Tätigkeit 
vor,  während  und  nach  der  Messe  —  liegt  in  der  Natur  der  Sache 
beo-ründet.  Meyers  Buch  ist  auch  zu  einem  großen  Teil  handels- 
kundlich,  indem  es  die  zugunsten  der  Meßbesucher -getroffenen  Ein- 
richtungen und  das  Meßtreiben  der  deutschen  Plätze  beschreibt. 
Es  bringt  auch  zum  ersten  Male  ein  ziemlich  vollständiges  Ver- 
zeichnis der  deutschen  Messen  und  Märkte. 

Noch  ein  drittes  Buch  schrieb  Meyer  über  ,,Die  Kunst,  sich 
glücklich  als  Kaufmann  oder  Fabrikant  zu  etabliren",  Weimar  1803. 
Sein  Untertitel:  „Belehrungen  für  junge  Kaufleute  und  Fabrikanten, 
welche    sich    etabliren    und  diesen   sehr   wichtigen  Schritt   nicht  zu 


—     101     — 

ihrem  und  anderer  Menschen  Unglück  thun  wollen",  sagt  schon, 
daß  es  in  einer  stark  moralisierenden  Tonart  abgefaßt  ist,  durch 
die  seine  rein  geschäftlichen  Winke  etwas  verwässert  werden.  Diese 
haben  freilich  durch  die  lange  geschäftliche  Erfahrung  und  durch 
die  Lebensweisheit  ihres  Verfassers,  die  aus  ihnen  spricht,  an  und 
für  sich  großen  Wert. 

Eine  mehr  systematisch  abgefaßte  Arbeit  ist  „Die  Speculations- 
wissenschaft"  von  S.  G.  Meisner,  Breslau  1811.  Wie  ihr  Titel 
schon  auf  das  Leuchssche  Vorbild  hinweist,  so  trägt  sie  in  der 
Tat  nur  dessen  Ausführungen  gekürzt  wieder  vor.  Ab  und  zu 
kommt  einmal  ein  neuer  Gedanke,  so  über  Rückversicherungen, 
über  die  Größe  des  Warenlagers  im  Verhältnis  zum  Absatz,  über 
die  Notwendigkeit  spekulativen  Handelns  für  den  Kaufmann  und 
seine  gemeinnützigen  Folgen,  aber  alles  ist  nur  stichwortartig  knapp 
angedeutet  und  gestreift.  Im  allgemeinen  steht  Meisners  Büchlein 
nicht  einmal  auf  der  Höhe  seines  Vorbildes. 

E.  Zu  den  Arbeiten  verschiedenen  Inhaltes  gehört  sodann  als 
anscheinend  älteste  in  diesem  Zeitraum  die  ,, Einleitung  zu  einer 
allgemeinen  Erkenntnis  aller  Handlungswissenschaften",  Frankfurt 
a.  M.  1769/1770,  in  drei  Oktavbänden,  von  S.  J.  Schröckh,  einem 
Frankfurter  Kaufmann.  Handlungswissenschaftlich  sind  darinnen 
aber  nur  die  im  dritten  Teile  enthaltenen  Kapitel  19  bis  22,  in  denen 
die  geschäftlichen  (und  moralischen)  Grundsätze  erörtert  werden,  die 
bei  der  Geschäftsgründung,  Vergesellschaftung,  Verheiratung  und 
Führung  de:^  Hauswesens  ^),  bei  der  Behandlung  der  Untergebenen, 
im  Briefwechsel,  bei  der  Erledigung  von  Streitigkeiten,  der  Ein- 
richtung und  Führung  eines  Kontors  zu  beachten  sind,  und  ferner 
die,  die  von  den  Gehilfen  und  Lehrlingen  als  Hausgenossen  und 
Mitarbeiter  befolgt  werden  sollten.  Dies  Werk  scheint  1780—85 
eine  weitere  Auflage  erlebt  zu  haben. 

Ihm  ähnlich  ist  ein  kleineres  Werk,  der  ,, Unterrichtende  und 
belehrende  Kaufmann"  von  C.  C.  Illing  (Dresden  1793?),  der 
durch  die  ,, Handlungsakademie",  Leipzig  1797,  ergänzt  wurde, 
wenigstens  gilt  das  von  diesem  Nachtrag.  Von  dem  gleichen  Schlage 
dürften  die  folgenden,  mir  bis  auf  ihre  Titel  unbekannt  gebliebenen 
Bücher  sein,  nämlich  die  ,, Einleitung  in  die  theoretische  und  prak- 
tische Handlungswissenschaft"  von  J.  K.  Peter,  Heidelberg  1789 
(auch  Mannheim  1798?),  ein  ,, Handbuch  für  junge  Kaufleute"  von 
J.  J.  Landewer,  Nördlingen  1787,    und  dann   der  ,, Unterricht   für 


1)  Vgl.  S.  8,  Fußnote  3. 


—     102     — 

die  zu  Kaufleuten  bestimmten  Jünglinge"  von  Ch.  Cliristiani, 
Hannover  1788  (dazu  zwei  Anhänge  von  1796  und  1806).  Ob  die 
späteren,  ein  , (Wissenschaftliches  Lehr-  und  Handbuch"  für  Handels- 
schüler und  junge  Kaufleute  von  I'.  J.  Karrer,  Leipzig  1804,  und 
eine  ,,Encyklopädie  der  Handlungswissenschaft"  von  P.  Burmann 
fauch  Bürmann),  Mannheim  und  Heidelberg  1813,  auch  in  diese 
Gruppe  oder  schon  zu  den  bloßen  Wörterbüchern  zu  rechnen  sind, 
kann  ich  ebensowenig  sagen^).  Es  ist  sehr  schwer,  die  schon  da- 
mals unbeachtet  gebliebenen  Bücher  heute  noch  aufzutreiben.  Da. 
gegen  habe  ich  in  einem  zuerst  wohl  Halle  1799,  dann  Halle  1801 
erschienenen  Buche  von  F.  H.  W.  Ihring,  „Der  praktische  Kauf- 
mann", ein  vorzügliches  Werk  für  die  Selbsteinführung  in  den  Gang 
eines  Handelsgeschäftes  gefunden.  Es  ist  ein  ,, Geschäftsgang"  vor- 
trefflicher Art,  dem  nicht  nur  die  ausgeführte  Korrespondenz  und 
Buchführung  beigegeben  ist,  sondern  auch  alle  handelsbetrieblichen 
Erläuterungen  eingefügt  sind,  so  daß  nichts  unerklärt  bleibt;  außer- 
dem sind  die  gegebenen  Erklärungen  gut.  Für  den  Selbstunterricht 
hat  man  jedenfalls  damals  nichts  Besseres  haben  können. 

F.  Unter  den  Handbüchern  unseres  Faches,  die  in  der  zweiten 
Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  ebenfalls  auftauchten,  sind  die  von 
Ricard-G  adebusch,  Schumann,  Berghaus  und  Buse  am 
wichtigsten.  S.  Ricards  ,, Handbuch  der  Kaufleute"  ist  ein  älteres 
französisches  Werk  (von  1714?),  das  nach  der  sechsten  französi- 
schen Auflage  von  Th.  H.  Gadebusch,  Greifswald  1783,  übersetzt 
worden  ist.  Es  enthält  aber  in  seiften  zwei  starken  Quartbänden 
nur  Handelskunde  und  im  besonderen  Welthandelslehre,  jedoch  mit 
vielen  Winken  für  den  Praktiker  über  die  beste  Zeit  des  Einkaufes 
und  dergleichen  mehr;  ein  besonderes  Kapitel  ist  den  ,, Handlungs- 
grundsätzen und  allgemeinen  Gewohnheiten"  gewidmet.  Eine 
zweite  deutsche  Auflage  des  Buches  ist  Hamburg  1791/1792  von 
J.  Ch.  Seh  edel  besorgt  worden.  Es  ist  handelskundlich  ein  sehr 
gutes  Buch. 

Demgegenüber  ist  das  dreibändige  ,,Compendiöse  Handbuch 
für  Kaufleute"  von  A.  Schumann,  Leipzig  1795/96,  fast  ganz 
kontortechnisch  ausgefallen,  aber  es  ist  recht  wertvoll  dadurch,  daß 
es  die  beste  Literatur  seiner  Zeit  benutzt  hat.    Es  scheint,  als  wenn 


1)  Ich  lichte  mich  in  meinen  nur  mutmaßenden  Zuteilungen  der  unbekannten 
Werke  vor  allem  nach  der  Gruppierung  in  den  am  Schlüsse  dieses  Kapitels  ge- 
nannten zeitgenössischen  Literaturverzeichnissen,  die  aber  leider  auch  nicht  ein- 
heitlich verfahren  sind. 


—     103     — 

einige  seiner  Teile  das  praktisch  durchgeführte  Vorbild  der  theo- 
retisch konstruierten  Kontorwissenschaft  von  Leuchs  gewesen  sind. 

Das  „Handbuch  für  Kaufleute"  von  J.  J.  Berghaus,  Münster 
und  Osnabrück  1796/97,  hat  die  Form  eines  alphabetisch  geordneten 
Wörterbuches  über  das  Gesamtgebiet  des  kaufmännischen  Wissens 
mit  Ausschluß  der  in  den  früheren  Wörterbüchern  hauptsächlich 
enthaltenen  Stoffe  aus  der  Warenkunde,  Technologie,  Geographie 
usw.  Sehr  wertvoll  ist  das  Werk  durch  die  sehr  eingehende  Lite- 
raturkenntnis seines  Verfassers  geworden.  Es  erschöpft  sich  jedoch 
nicht  im  bloßen  Zusammentragen,  sondern  bietet  auch  Eigenes, 
z.  B.  in  seinen  Definitionen,  die  allerdings  nicht  immer  klar  und 
einwandfrei  sind.     So  heißt  es  da  unter  anderem : 

,, Handlungswissenschaft  (doctrina  mercatoria)  enthält  den  In- 
begriff der  Kenntnisse,  die  zur  Betreibung  oder  zum  Verständnis 
(des  Handelsgewerbes)  nötig  sind  und  erfordert  werden  .  .  .  Sie 
lehrt  die  Regeln  zu  handeln,  Waren  zu  versenden,  zu  bezahlen. .  ."usw. 

H  an  dlungs-Ökonomie,  eigentlich  die  Wirtschaftslehre  der  Hand- 
lung, enthält  die  Grundsätze  der  besten  Benutzung,  Unterhaltung 
und  Vermehrung  des  zur  Handlung  bestimmten  Vermögens.  Auch 
ist  sie  eine  für  sich  bestehende  Wissenschaft,  das  ist  ohne  Rück- 
sicht auf  dieses  oder  jenes  Gewerbe  des  bürgerlichen  Lebens  zieht 
sie  Erfahrungen  in  Betracht,  welche  von  der  Klugheit  und  einer 
geprüften  Überlegung  geleitet  werden.  Hieraus  entstehen,  wie  in 
der  Mathematik,  zwei  Hauptabteilungen,  wovon  erstere  die  reine, 
letztere  abc^  die  angewandte  Handlungs- Ökonomie  genannt  wird, 
wobei  letztere  die  Grundsätze  der  ersteren  auf  die  wirklich  vor- 
handenen Handlungsgewerbe  anwendet." 

Es  scheint  demnach,  als  wenn  Berghaus  unter  Handlungs- 
wissenschaft das  versteht,  was  andere  damals  Handlungswissen- 
schaften (heute  Handelswissenschaften)  genannt  haben,  und  als 
wenn  seine  Handlungs-Ökonomie  der  damaligen  Handlungswissen- 
schaft und  der  heutigen  Handelsbetriebslehre  entspricht;  daneben 
kennt  er  auch  noch  die  Handelskunde.  Die  Einteilung  der  „Hand- 
lungs-Ökonomie" in  eine  reine  und  eine  angewandte  Wissenschaft 
entspricht  der  bei  Zincke  schon  vorhandenen  Teilung,  die  wir 
noch  heute  in  der  allgemeinen  und  speziellen  (theoretischen  und 
praktischen)  Volkswirtschaftslehre  anerkennen. 

Berghaus  wollte  übrigens  auch  ein  dem  Schumannschen 
, (Handbuch"  ähnliches  ,, Lehrbuch  der  Handlungswissenschaft" 
schreiben,  kam  aber  nur  mit  dessen  erstem  Bande,  einer  Buch- 
haltung, Leipzig  1799  heraus. 


—     104     — 

Nach  einem  sehr  weit  angelegten  Plane  ist  schließlich  noch  ein 
anscheinend  sechzehnbändiges  Werk  des  Erfurter  Handelsschulleiters 
G.  II.  Buse  unter  dem  Gcsamttitel  „Das  Ganze  der  Handlung  oder 
vollständiges  Handbuch  der  vorzüglichsten  Handlungskenntnisse"  zu 
Erfurt  1798  bis  1817  erschienen;  die  ersten  drei  Bände  haben  auch 
den  Titel  „Vollständiges  Handbuch  der  Comtoirkunde".  Jedes 
Einzelgebiet  wird  in  einem  oder  mehreren  Bänden  behandelt,  so 
daß  das  Gesamtwerk  ein  Vorläufer  der  späteren  „Sammlungen" 
und  „Bibliotheken"  ist.  Die  ersten  Teile  mit  einer  Einleitung  in  die 
eigentliche  Handlungswissenschaft  sind  am  besten  ausgefallen;  sie 
beruhen  auf  einer  gründlichen  Fach-  und  Literaturkenntnis,  wie  die 
Arbeiten  von  Schumann  und  von  Berghaus,  und  verbinden  die 
Vorzüge  dieser  beiden  Autoren.  Die  letzten  Bände,  die  der  Waren- 
kunde gewidmet  sein  sollen,  sind  mir  nicht  bekannt  geworden. 

Neben  diesen  neuen  Handbüchern  kamen  auch  noch  in  dieser 
Zeit,  wie  früher  schon,  weitere  Lexika  kaufmännisch -gewerblichen 
Inhaltes  heraus,  die  das  Erbe  von  Ludovicis  ,,Kaufmanns-Lexi- 
con"  fortsetzten.  Letzteres  selber  ist  noch  einmal  1797  in  einer 
Bearbeitung  von  dem  schon  genannten  J.  Ch.  Seh  edel  heraus- 
gegeben worden ,  die  aber  nur  darin  bestanden  zu  haben  scheint, 
daß  gerade  die  handlungswissenschaftlichen  Ausführungen  daraus 
entfernt  oder  doch  darin  vernachlässigt  worden  sind.  Es  finden 
sich  schon  zeitgenössische  Klagen  darüber.  Ein  zweibändiges  ,, Neues 
Handlungslexicon"  von  M.  Euler  erschien  zuerst  zu  Karlsruhe  und 
Frankfurt/M.  1790  und  dann  noch  'einmal  1792;  es  ähnelt  dem 
,, Handbuch"  von  Berghaus,  erreicht  es  aber  nicht.  Am  umfang- 
reichsten, und  wenn  auch  nicht  bloß  kaufmännisch  gehalten,  so  doch 
mit  sehr  vielen  —  und  zumeist  recht  zuverlässigen  —  Artikeln  aus 
fast  allen  kaufmännischen  Gebieten,  ist  in  dieser  ganzen  Zeit  das  be- 
rühmte Krünitzsche  Werk,  die  ,, Ökonomische  Enc3'klopädie",  von 
der  von  1777  bis  1794  zusammen  63  Teile  erschienen  sind.  Übri- 
gens sei  hier  noch  bemerkt,  daß  kleine  Warenlexika  und  Handels- 
terminologien schon  derzeit  häufig  aushelfen  mußten,  ein  Buch 
dicker  zu  machen,  wenn  sein  sonstiger  Inhalt  nicht  zu  genügen 
schien,  um  einen  höheren  Verkaufspreis  zu  rechtfertigen.  Bei  diesem 
bequemen  Verfahren  machte  es  den  Autoren  in  der  Regel  wenig 
aus,  auch  längst  Veraltetes  immer  wieder  mit  aufzuwärmen  oder 
gar  Falsches  mit  abzuschreiben. 

Eine  Besonderheit  ist  schließlich  noch  die  ,, Einleitung  zu  gründ- 
licher Kenntnis  der  Kaufmannschaft",  Frankfurt  und  Leipzig  1771, 
von  einem  J.  F.  v.  T.,    ein    geplanter    zweiter   Teil    scheint    nicht 


—     105     — 

herausgekommen  zu  sein.  In  dem  vorliegenden  ersten  wird  eine 
Anleitung  gegeben,  „sich  be}-  allen  Handelsgeschäften  nach  richtigen 
Begriffen  und  kunstmäßig  auszudrucken."  Wir  haben  also  eine  Art 
Wörterbuch  der  damaligen  Kaufmannssprache  vor  uns,  nur  daß  der 
Inhalt  nicht  lexikalisch  nach  Stichwörtern,  sondern  nach  handlungs- 
wissenschaftlichen Begriffen  in  erzählender  Form  vorgetragen  wird, 
also  z.  B.  nach  Ein-  und  Verkäufen  im  großen  und  kleinen,  nach 
Versendungs-,  Kommissions-,  Kontor-,  Meß-,  Fabrik-,  Barzahlungs-, 
Wechselgeschäften  usw.  Damit  wird  zugleich  eine  Einführung  in 
diese  Geschäfte  gegeben,  woraus  sich  der  Titel  des  Buches  erklärt*). 

G.  Die  meisten  Veröffentlichungen  zur  nicht  bloß  lexikalisch 
aufzählenden,  sondern  zusammenhängenden  beschreibenden  Handels- 
kunde finden  sich  in  Aufsatzform  in  den  neu  aufgekommenen  perio- 
dischen Fachschriften  dieser  Zeit,  d.  h.  in  den  Zeitschriften,  Jahr- 
büchern und  eigentlichen  Handelszeitungen. 

Die  älteste  Fachzeitschritt  dürfte,  wenn  Berghaus  recht 
unterrichtet  ist,  dem  ich  diese  Angabe  entnehme,  das  ,, Journal  de 
Commerce",  Brüssel  seit  1759  in  80,  gewesen  sein,  dem  seit  1777 
das  ,, Bulletin  du  Commerce  de  l'Europe"  in  4o  folgte.  In  unserm 
Deutschland  dürfte  ,,Der  Kaufmann",  eine  Wochenschrift  von  (einem 
früheren  Kaufmann?)  J.  C.  Sinapius,  Breslau  1766,  die  älteste  ge- 
wesen sein.  Sie  konnte  aber  nur  viermal  erscheinen,  und  mit  anderen 
Versuchen  dieser  Art  hatte  der  Herausgeber  ebensowenig  Glück. 
Zu  Altena  kam  er  1780/81  in  nur  vier  Monatsheften  mit  den  ,, Frag- 
menten aut:  dem  Gebiete  des  Handlungswesens"  heraus,  ferner  er- 
schien zu  Hamburg  1781/82  von  ihm  ,,Das  Comtoirblatt,  oder  die 
kaufmännisch-politische  Zeitung"  als  Vierteljahrsschrift,  die  dann  noch 
(1782)  ein  halbes  Jahr  lang  als  Wochenschrift  ihr  Leben  fristete. 
Schließlich  versuchte  er  es  noch  einmal  mit  seinen  „Merkantilischen 
Blättern",  von  denen,  Sorau  und  Leipzig  1799 — 1801,  fünf  Bändchen 
erschienen  sein  sollen.  Gemeinsam  mit  dem  uns  schon  oben  be- 
gegneten Seh  edel  gab  er  auch  noch  den  ersten  und  einzigen 
Jahrgang  des  ,, Allgemeinen  Journals  für  Handlung,  Schiffahrt, 
Manufactur  und  Gewerbe",  Leipzig  1800,  heraus. 

Schedel  für  sich  machte  noch  mehr  Versuche  auf  diesem  Ge- 
biete, die  aber  auch  sämtlich  fehlschlugen.  Sein  erster  dürfte  das 
,, Magazin  für  die  Handlung,    oder  Nachrichten  und  Versuche,    die 


1)  Heute  haben  wir  auf  diesem  Gebiete  das  „Wörterbuch  der  deutschen  Kauf- 
mannssprache" von  A.  Schirmer,  Straßburg  1911,  daß  aber  rein  sprachwissen. 
schafilich  ist.  Dasselbe  gilt  von  „Der  Kfm,  in  d.  deutschen  Spr.  und  Lit.  des  MA." 
von  P.  Nolte.    Gott.  Diss.  1909. 


—     106     — 

den  llandi.1  der  \'6lkcr  und  Länder  betreffen",  Leipzig  1783,  ge- 
wesen sein.  Ihm  folgten  die  ,,Ephemeriden  der  Handlung",  Lübeck 
r784,  und  dann  in  einem  ersten  und  einzigen  Bändchen  das  , .Ma- 
gazin für  den  Philosophen,  Naturforscher,  Kaufmann  und  Ökonomen", 
Magdeburg  1786,  während  das  dann  folgende  „Allgemeine  Journal 
für  die  Handlung",  Schwerin,  Wismar  und  Bützow  1786  87,  immerhin 
dreimal  erscheinen  konnte.  Das  ,,Neue  allgemeine  Journal  für  die 
Handlung",  Frankfurt  M.  1788  89,  mußte  nach  drei  Quartalen  sein 
Erscheinen  wieder  einstellen,  und  dem  , .Allgemeinen  Commerz- 
Merkur,  oder  Analecten,  Abhandlungen  und  Nachrichten  für  Kauf- 
leute", Nürnberg  1790,  ging  es  nicht  viel  besser.  1795  und  1796 
konnten  noch  die  ,,Ephemeriden  für  die  Naturkunde,  Ökonomie, 
Handlung,  Künste  und  Gewerbe"  in  sechs  Quartalsheften  erscheinen, 
während  es  von  dem  letzten  Versuch  des  unermüdlichen  Heraus- 
gebers, dem  , .Archiv  für  den  Zirkel  nützlicher  Wirksamkeit  unter 
Menschen.  Oder  Beiträge  zur  Ausbreitung  und  Bereicherung  unserer 
Kenntnisse  in  den  Fächern  des  Handels  und  der  Schiffahrt,  der  Ge- 
werbe, der  Staats-  und  Privatwirtschaft",  Münster  und  Leipzig  1803, 
wiederum  nur  ein  einziges  Stück  gibt. 

Schedel  gab  u.  a.  auch  noch  ein  ,, Allgemeines  Handlungs- 
Almanach,  auf  das  Jahr  1796"  zu  Leipzig  in  den  Druck,  und  viel- 
leicht sind  auch  die  ..Ephemeriden"  von  1784  nur  eines  der  damals 
sehr  beliebten  Jahrbücher.  Ob  das  von  einem  Ungenannten  heraus- 
gegebene ,,Buch  für  die  Handlung",  eine  Sammlung  von  Aufsätzen 
von  Frankfurt/lVI.  und  Leipzig  1789,  ein  Jahrbuch  ist,  kann  ich  nur 
mit  einiger  Bestimmtheit  vermuten.  Die  besten  kaufmännischen 
Jahrbücher  scheinen  die  von  A.  F,  W.  Crome  gewesen  zu  sein, 
die  Leipzig  1784  bis  1786  erschienen  sind.  Ich  selbst  habe  freilich 
nur  das  als  , .Handbuch  für  Kaufleute"  1784  herausgekommene  auf- 
treiben können,  dieses  ist  aber  in  der  Tat  sorgfältig  zusammen- 
gestellt. Es  enthält  47  Originalbeschreibungen  des  Handels  und 
der  Industrie  deutscher  Städte,  Aufsätze  über  das  deutsche  Fuhr- 
wesen (mit  zwei  ganz  neuen  Karten^)),  den  Handel  auf  der  Donau, 
im  Schwarzen  Meer  und  an  der  adriatischen  Küste,  die  Post  im 
Österreichischen,  die  kleine  Post  zu  Wien,  Handelsnachrichten  aus 
den  verschiedensten  Ländern  von  1783,  Reduktionstabellen  und 
zuletzt  noch  zwei  Reisekarten  für  den  Verkehr  zwischen  Leipzig 
und  Lübeck. 

In  diesem  Zusammenhang  muß  auch  noch  das   „Lesebuch  für 


1)  In  meinem  Exemplar  fehlten  sie  jedoch. 


—     107     — 

Kaufleute",  Hamburg  und  Leipzig  1783,  von  J.  C.  Sinapius  ge- 
nannt werden,  das  in  kleinerem  Umfange  schon  einmal  1777  unter 
dem  Titel  ,, Theorie  und  Praxis  der  Ilandlungswissenschaft"  er- 
schienen war.  Es  hatte  einen  ganz  ähnlichen  volkswirtschaftlich- 
handelskundlichen  und  teilweise  auch  feuilletonistischen  Inhalt,  wie 
die  hier  genannten  Zeitschriften  usw.  Ein  Schulbuch  war  es 
übrigens  nicht. 

Doch  kehren  wir  zu  unseren  Zeitschriften  zurück.  Nicht  nur 
Sinapius  und  Schedel  waren  auf  diesem  Gebiete  tätig.  Von 
einer  Amsterdamer  Wochenschrift  von  1767,  ,, De  Koopman",  wurde 
ein  Teil  aus  einem  nicht  recht  ersichtlichen  Grunde  —  denn  von 
größerem  Werte  ist  sie  nicht  —  auch  ins  Deutsche  übertragen, 
nämlich  Leipzig  1770  unter  dem  Titel  ,,Der  Kaufmann  oder  Bey- 
träge  zur  Aufnahme  der  Handlung  und  Seefahrt".  Die  im  selben 
Jahre,  zu  Berlin  aufgelegten  26  Wochenlieferungen  einer  gleich- 
namigen Schrift  mit  ebenfalls  ungenanntem  Herausgeber  dürften 
auch  dazu  gehören.  Berghaus  erwähnt  seinerseits  auch  noch 
eine  dritte  Schrift  unter  diesem  Titel,  von  der  zu  Hamburg  1777 
insgesamt  21  Stücke  erschienen  sein  sollen.  Eine  Vierteljahrszeit 
Schrift  war  sodann  das  ,, Journal  für  Kaufleute"  von  L.  V,  See- 
husen,  Hamburg  1780/81,  deren  zweiter  Band  jedoch  schon  von 
dem  Übersetzer  der  Weskettschen  ,,Assekuranz- Wissenschaft" 
Engelbrecht  herausgegeben  wurde.  Auf  mehr  hat  sie  es  viel- 
leicht überhaupt  nicht  gebracht.  Späterhin  gab  Engelbrecht  noch 
die  ,, Materialien  zum  nützlichen  Gebrauch  für  denkende  Kaufleute", 
Bremen  und  Leipzig  1787/88,  heraus,  die  aber  auch  schon  nach 
dem  ersten  Jahrgang  ihr  Erscheinen  einstellen  mußten. 

Einige  Zeitschriften  dienten  ausgesprochenermaßen  auch  der 
Propaganda  für  die  Handelsschulen  ihrer  Herausgeber.  Dazu  ge- 
hören das  Duisburger  ,, Handlungsakademie-Journal",  nur  ein  Heft 
Duisburg  1782,  die  ,, Handlungsbibliothek"  von  J.  G.  Busch  und 
C.  D.  Ebeling,  Hamburg  1785/89,  das  ,, Journal  für  Handlung  und 
Gewerbe"  von  J.  C.  Siede  und  J.  C.  Vollbeding,  zwei  Hefte 
Berlin  1791,  und  endlich  die  ,, Wochenschrift  für  Kaufleute",  heraus- 
gegeben von  der  Berliner  Handlungsschule  (J.  M.  F.  Schulz),  ein 
Quartal,  Berlin  1795.  Späterhin  hat  sich  überall  der  Eifer  auf  diesem 
Gebiete  gelegt,  weil  die  Unterstützung  des  kaufmännischen  Publi- 
kums eben  immer  noch  ausblieb;  viele  der  genannten  Veröffent- 
lichungen konnten  darum  auch  nur  im  Selbstverlag  ihrer  Heraus- 
geber erscheinen.  Es  ist  möglich,  daß  die  kaufmännischen  Kreise 
auch  darum  keine  Neigung   für    die  Zeitschriften    bekundeten,  weil 


—  los- 
es den  Herausgebern  nicht  gelang,  einen  größeren  Kreis  von  Mit- 
arbeitern zu  gewinnen  und  weil  der  einzelne  Schriftleiter  sich  darum 
bald  erschöpfte.  Außerdem  bemühten  sich  auch  eine  Anzahl  von 
eigentlichen  Handelszeitungen,  den  Kaufmann  nicht  nur  auf  dem 
Laufenden  der  engeren  Handelsnachrichten  zu  halten,  sondern  auch 
daneben  belehrende  Aufsätze  allgemein -kaufmännischer  Art,  Litc- 
raturbesprechungen  usw.  zu  bringen  und  damit  die  Zeitschriften 
überflüssig  zu  machen. 

Zu  denen,  die  sich  in  dieser  Beziehung  besonders  auszeichneten, 
gehörten  vor  allem  die  ,, Hamburgischen  Adreß-Comtoirnachrichten", 
seit  1767  wöchentlich  eine  Nummer,  die  ,, Handlungs-Zeitung"  von 
J.  A.  Hildt  in  Gotha,  seit  1784  wöchentlich  in  4*^  (später  als  ,,Neue 
Zeitung  für  Kaufleute,  Fabrikanten  und  Manufakturen"  und  dann 
als  ,, Magazin  der  Handels-  und  Gewerbskunde").  Weniger  wichtig 
waren  die  Leipziger  ,, Handlungs-Zeitung",  seit  1787  (?)  in  8  "  und 
die  wöchentliche  ,, Gewerbzeitung  für  Künstler,  Manufacturisten 
und  Kaufleute",  Prag  und  Wien,  seit  1787  in  4^;  ganz  hervor- 
ragend war  dagegen  wieder  das  , .Journal  für  Fabrik,  Handlung 
und  Mode",  Leipzig  seit  1791  in  gr.  S'^.  Zu  einer  weit  verbreiteten 
Tageszeitung  wurde  schließlich  noch  die  schon  seit  1794  bestehende 
,, Allgemeine  Handlungs-Zeitung",  ein  vorzügliches  Blatt,  das  unser 
Leuchs  in  Nürnberg  herausgab.  Von  einer  „Frankfurter  Handlungs- 
Avis-Comptoir-Zeitung"  kenne  ich  nur  das  Titelblatt  ihres  ersten 
Stückes  von   1771. 

Der  Inhalt  der  Zeitschriften,  Zeitungen  und  Almanache  bestand, 
so  weit  sie  sich  überhaupt  gleich  waren  und  Konkurrenz  machen 
konnten,  aus  Aufsätzen,  Mitteilungen  und  Ausschnitten  handels- 
kundlicher,  -geschichtlicher,  -geographischer,  -rechtlicher,  -statisti- 
scher, -politischer  und  auch  -technologischer  Art,  ebenfalls  kommen 
Anekdoten  und  moralische  Geschichten  vor;  Handlungswissenschaft- 
liches ist  aber  wenig  darin.  Die  Aufsätze  über  einzelwirtschaft- 
liche Fragen  halten  sich  vielmehr  meistens  im  Rahmen  des  Handels- 
rechts nnd  der  Kontorkenntnisse.  Eine  ständige,  zuweilen  gut  ge- 
leitete Rubrik  bildeten  in  einzelnen  Schriften  die  Bücherbesprechungen. 
An  Eifer,  gerecht  und  sachgemäß  zu  kritisieren,  scheint  es  nicht 
gefehlt  zu  haben;  die  Fächer  selber  ließen  sich  ja  bei  dem  da- 
maligen Stande  (praktisch  und  in  der  Literatur)  nicht  allzu  schwer 
beherrschen. 

H.  Auf  die  überaus  starke  und  vielseitige  fachliterarische  Tätig- 
keit, die  außer  der  bis  hierher  gekennzeichneten  die  zweite  Hälfte 
des    18.  Jahrhunderts   auszeichnet,    braucht   hier    nicht   weiter    ein- 


—     109     — 

gegangen  zu  werden,  da  sie  nur  die  Fortsetzung  einer  schon  mit 
Marp erger  einsetzenden  Hochflut  bedeutet.  Schreib-,  Sprach- 
und  Brieflehren,  Buchhaltungen  und  kaufmännische  Rechenwerke, 
Schriften  zur  Handelsgeschichte,  Handelsgeographie  und  dann  zum 
Münz-,  Maß-,  Gewichts-  und  zum  Marktwesen  überhaupt,  zum  Handels- 
und Wechselrecht  und  zur  Warenkunde  nebst  Technologie  usw. 
kamen  neben  den  handelskundlichen  und  handlungswissenschaft- 
lichen sehr  zahlreich  heraus.  Zur  kaufmännischen  Moral,  die  sogar 
als  besonderes  Fach  in  die  damaligen  Handelsschulen  Eingang 
gefunden  hatte  0,  erschienen  neben  den  „Moralischen  Briefen  über 
die  Handlung",  Hamburg  1754,  und  G.  J.  Zollikofers  „Moral  für 
Kaufleute",  Leipzig  1789,  noch  die  „Briefe  über  die  Moral  des 
Handels"  in  Zöllners  „Lesebuch  für  alle  Stände"  (1785)  und  ein 
Anhang  „Von  schönen  Handelsmaximen"  aus  dem  Englischen  in 
Eulers  „Unterricht  von  der  doppelten  Buchhaltung"  (1802).  Da- 
neben gab  es  noch  seit  den  1750  er  Jahren  eine  Anzahl  moralischer 
Wegweiser  für  junge  Kaufleute,  teilweise  auch  aus  dem  Englischen 
übertragen.  Ihren  Höhepunkt  fand  dieser  eigentümliche  Zweig 
unserer  Fachliteratur  noch  in  dem   18.  Jahrhundert  selber. 

/.  Nun  noch  ein  Wort  über  die  fachlichen  Literaturverzeich- 
nisse dieser  Zeit,  die  auch  ein  Beleg  für  den  großen  Umfang  ihrer 
fachliterarischen  Produktion  sind.  Wir  sahen  bereits  Ludovici 
sich  mit  dem  Plane  eines  solchen  Verzeichnisses  tragen.  Er  hat 
auch  mitgeteilt,  daß  ein  gewisser  Thurmann  eine  Bibliothecam 
mercatoriam  versprochen  habe.  Sicherlich  ist  aber  weder  das  eine 
noch  das  andere  erschienen.  Beckmann,  Berghaus,  Buse, 
Leuchs  und  Meisner  sahen  den  Literaturnachweis,  ja  sogar  die 
kritische  Einführung  in  die  Fachliteratur  als  eine  ihrer  Aufgaben 
an  und  waren  dabei  durchweg  gewissenhaft. 

Weniger  läßt  sich  das  von  den  ersten  selbständig  erschienenen 
Verzeichnissen  sagen,  nämlich  von  der  „Literatur  für  Kaufleute", 
Frankfurt  und  Leipzig  1787  (der  ungenannte  Verfasser  war  ein 
Dr.  Grub  er),  die  1794  sogar  in  zweiter  Auflage  erschien,  und 
dann  von  Seh ed eis  „Neuem  Handbuch  der  Literatur  und  Biblio- 
graphie für  Kaufleute",  Leipzig  1796,  über  das  schon  damals  ge- 
klagt wurde. 

Hauptsächlich  für  buchhändlerische  Zwecke  erschien  später  noch 
ein  ,, Handbuch  der  Literatur  und  Gewerbekunde"  von  J.  G.  Krieger, 
Marburg  1818,    mit   einem  Nachtrag   von    1822;    dann   folgte    eine 

1)  Vgl.  Penndorf,  Die  Geschäftsmoral  als  Unterrichtsgegenstand  in  der  Ver- 
gangenheit, D.  H.  L.  Z.  X,  Nr.  47. 


—     110     — 

, .Bibliothek  der  Handlungswissenschaft"  von  T.  C.  F.  Enslin,  Berlin 
1824,  später  fortgesetzt  von  W.  Engel  mann.  Diese  greifen  bis 
1700  zurück,  sind  aber  besonders  für  die  Zeit  bis  1750  weder  voll- 
ständig noch  sonst  zuverlässig.  Einen  Teil  unserer  Literatur,  und 
diesen  richtig,  nennt  noch  J.  S.  Ersch  in  seiner  , .Literatur  der 
Mathematik,  Natur-  und  Gewerbskunde",  Leipzig  1828.  Eine  „Mer- 
kantilische Bücherkunde",  Nürnberg  1832,  ist  nur  ein  unbedeuten- 
der Auszug  aus  dem  dritten  Teil  von  Leuchs'  ,, System",  enthält 
aber  nach  seinem  Vorbilde  auch  kritische  Anmerkungen.  Die 
noch  späteren  Quellenverzeichnisse  nennt  Heilauer  a.  a.  O.,  S.  14. 


III. 

Die  Verflachung  der  Handlungswissenschaft  zur 
Handelslehre. 

A.  Ihre  Ursachen. 

Wenngleich  unter  der  großen  Menge  fachwissenschaftlicher 
Arbeiten  in  dem  eben  besprochenen  Zeitraum  nur  diejenigen  von 
Ludovici,  May,  Jung  und  Leuchs  brauchbare  Versuche  zu  Lehr- 
büchern der  Handlungswissenschaft  darstellten,  so  war  doch  die 
ganze  Entwickelung  so  sehr  auf  den  Ausbau  dieser  neuen  Wissen- 
schaft gerichtet,  daß  man  zu  den  höchsten  Erwartungen  berechtigt 
sein  konnte:  man  war  ja  auf  dem  besten  Wege,  den  Kreis  der 
kaufmännischen  Wissenszweige  mit  der  Handlungswissenschaft  zu 
schließen  und  über  den  vorhandenen  Grundpfeilern  die  Kuppel 
des  ganzen  Gebäudes  zu  wölben.  Und  doch  trug  diese  ganze  Be- 
wegung auch  schon  die  Spuren  ihres  jetzt  rasch  einsetzenden  Ver- 
falls. Die  Abkehr  von  der  Handlungswissenschaft  vollzog  sich 
schließlich  so  vollständig,  daß  an  die  ganze  Entwickelung  bis  hin 
zu  Leuchs  bereits  in  den  1860er  Jahren  nur  noch  ein  paar  An- 
klänge in  der  Literatur  gemahnten  und  daß  nach  den  1870  er  Jahren 
auch   die   letzte  Erinnerung   an  sie   völlig   dahingeschwunden    war. 

Die  Ursachen  für  diesen  auffallenden  Niedergang  sind  teils  in 
der  hauptsächlich  abwartenden  oder  gar  ablehnenden  Haltung  der 
kaufmännischen  Praxis,  teils  in  der  Umgestaltung  des  Handelsschul- 
wesens nach  Organisation  und  Lehrzielen  und  teils  in  der  Ent- 
wickelung der  Kameralwissenschaft  zur  Volkswirtschaftslehre  zu 
erblicken. 

Es  scheint,  als  wenn  sich  zu  allen  Zeiten  in  keinem  Berufe  so 
viele  Widerstände  gegen  eine  gewerbliche  Theorie  gefunden  hätten, 
wie  gerade  in  dem  kaufmännischen.  Sicherlich  hängt  das  mit  der 
Eigenart  der  kaufmännischen  Berufsarbeit  zusammen.  Diese  hat  es 
nur  wenig  mit  den  feststehenden  Gesetzen  der  Natur,  aber  sehr 
viel  mit  den  schwankenden,  und  schwer  berechenbaren  Neigungen, 
Bedürfnissen,  Wünschen,  Meinungen  und  Absichten  der  Menschen, 


—     112     — 

kurz,  mit  den  unsicheren  Gesetzen  ihres  wirtschaftlichen  Verhaltens 
zu  tun,  und  sie  findet  daher  in  einem  viel  höheren  Grade,  als  es 
z.  B.  in  der  Landwirtschaft  der  Fall  ist,  daß  der  notgedrungen  auf 
das  Allgemeingültige  und  Regelmäßige  gerichteten  Theorie  eine 
unendliche  Fülle  von  theoretisch  kaum  erfaßbaren  praktischen  Ab- 
weichungen entgegengesetzt  ist ').  Auf  jeden  Fall  ist  aber  der  Nutzen 
von  Geschäftstheorien  allen  Kaufleuten  bis  auf  eine  geringe  Ober- 
schicht teils  nicht  groß,  teils  nicht  unmittelbar  genug,  als  daß  sie 
sich  für  ihre  Praxis  viel  von  ihnen  versprächen  und  dementsprechend 
ein  nennenswertes  Interesse  an  ihrer  Entwickelung  nähmen. 

Wie  dieses  heute  gilt,  wo  in  einer  einzigen  Unternehmung  oft 
mehr  Werte  auf  dem  Spiele  stehen,  als  früher  bei  dem  Handel 
ganzer  Länder,  so  galt  es  für  die  kapitalarmen,  sozusagen  hand- 
werksmäßigen Verhältnisse  im  Kaufmannsberufe  von  vordem  erst 
recht.    Wenn  in  dieser  Beziehung  allerdings  manche  Kaufleute  des 

18.  Jahrhunderts    beinahe    m^hr   Verständnis    zeigten,    als    die    des 

19.  Jahrhunderts,  so  liegt  das  mehr  daran,  daß  sie  von  den  be- 
geisternden Gedanken  und  Plänen  des  Merkantilismus  und  Realis- 
mus bewegt  wurden,  als  daß  sie  aus  sich  heraus  auf  die  Notwendig- 
keit einer  Änderung  aufmerksam  geworden  wären.  Aber  diese 
Teilnahme  an  den  Zeitfragen  war  doch  weder  allgemein  noch  nach- 
haltig genug;  die  Tatsache,  daß  es  keine  der  im  vorigen  Kapitel 
genannten  Zeitschriften  auf  mehr  als  ein  paar  Jahrgänge  gebracht 
hat,  beweist  das  zur  Genüge.  Der  Kaufmann  ließ  es  sich  schon 
damals  wohl  gefallen,  daß  seine  Angestellten  Buchhaltungs-,  Korre- 
spondenz- und  Rechenkenntnisse  aus  den  zahlreichen  Schriften 
darüber  schöpften,  aber  für  die  von  ihm  besorgte  Geschäftsleitung 
ließ  er  nur  seine  eigenen,  speziellen  Erfahrungen  gelten ;  für  sich 
war  er  schon  immer  der  Theorie  gegenüber  souverän. 

An  dieser  ablehnenden  und  abwartenden  Haltung  der  Praxis 
scheiterte  denn  auch  ein  gut  Teil  der  Bemühungen  der  ersten 
Handelsschulen,  die  Handlungswissenschaft  zu  popularisieren,  indem 
diesen  Anstalten  eben  die  Schülermenge  fehlte,  deren  sie  bedurft 
hätten,  und  deren  sie  vielfach  w-ürdig  gewesen  wären.  Sic  waren 
als  Privatanstalten,  meistens  noch  verbunden  mit  Pensionsanstalten, 
freilich  auch  recht  kostspielig,  entbehrten  oft  eines  genügenden 
Lehrkörpers  und  aller  P'rfahrung  und  Überlieferung  und  gingen 
regelmäßig  mit  dem  Tode  ihres  Leiters,  ihrer  Hauptkraft,  ein.  In  den 
Stürmen  der  napoleonischen  Zeit  sind  nur  wenige  erhalten  geblieben, 


1)  Nach  Rau  a.  a.  O, 


—     113     — 

und  nachher  ist  es  nicht  überall  geglückt,  die  fallengelassenen  Fäden 
wieder  aufzunehmen.  Inzwischen  war  auch  die  frühere  Begeisterung 
für  die  Realbildung  schon  etwas  abgekühlt  und  dafür  das  neuere 
humanistische  Bildungsideal  anerkannt  worden. 

Immerhin  war  doch  bei  dem  allmählich  lebhafter  gewordenen 
Handel  und  Wandel  das  Bedürfnis  nach  Handelsschulen  so  stark 
angewachsen,  daß  neben  der  ersten  unserer  öffentlichen  Handels- 
lehranstalten, der  Leipziger  von  1831,  nach  und  nach  noch  eine 
ganze  Reihe  anderer  bestehen  konnten.  Der  erste  Direktor  der 
Leipziger  Anstalt,  A.  Schiebe,  neigte  nun  aber  hauptsächlich  der 
Pflege  der  Kontorkenntnisse  zu,  die  er  nach  Leuchs'  Vorgang 
mit  dem  Sammelnamen  Kontorwissenschaft ^)  bezeichnete,  damit  aber 
ebensowenig  wie  jener  den  Anspruch  erhebend,  man  solle  sie  als 
wissenschaftlich  im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes  anerkennen. 
Handlungs-  oder  vielmehr  jetzt  handelswissenschaftlich  folgte  er 
einfach  dem  Vorbilde  der  berühmtesten  älteren  Handelsschule,  näm- 
lich der  von  Busch  in  Hamburg  (1768 — 1800),  die  nur  eine  be- 
sondere Einführung  in  das  Verständnis  des  Handels  im  volkswirt- 
schaftlichen Sinne  gekannt  hatte.  Und  wie  es  hier  in  Leipzig,  dem 
neuen  Vorbilde,  gemacht  wurde,  so  machte  man  es  anderswo 
meistens  nach. 

Es  wird  noch  an  den  einzelnen  literarischen  Erscheinungen 
zu  zeigen  sein,  wie  diese  volkswirtschaftlich-handelskundliche  Ein- 
führung, die  man  als  Fach  „Handelswissenschaft"  nannte,  entstanden 
ist  (von  Leipzig  aus  ist  sie  weniger  literarisch  gepflegt  worden). 
Genug,  sie  und  die  Kontorfächer  beharrten  schließlich  auf  dem 
Stande  der  Entwickelung,  den  sie  etwa  bis  1850,60  erreicht  hatten. 
Und  wie  in  der  Fachliteratur,  so  trat  allmählich  in  der  Entwickelung 
unserer  Fachschulen  selber  ein  Zustand  der  Erstarrung  ein :  die 
höheren  Handelsschulen  begnügten  sich  seit  den  Militärgesetzen 
von  1866/69  mit  der  Erlangung  der  Einjährigen-Berechtigung  für 
ihre  Zöglinge,  und  die  unteren  Handelsschulen,  d.  h.  die  kauf- 
männischen Fortbildungsschulen  (mit  zumeist  freiwilligem  Besuch) 
taten  sich  im  ganzen  mit  der  Konservierung  der  Volksschulkennt- 
nisse ihrer  Schüler  genug. 

Da  jetzt  neben  den  öffentlichen  Handelsschulen  für  private 
weniger  Raum  blieb  2),    so  ging  auch  von  diesen   im   ganzen  nicht 


1)  „Die  Contorwissenschaft"  ist  schon  1830  zu  Frankfurt  a.  M.  erschienen,  also 
noch  vor  Schiebes  Berufung  nach  Leipzig. 

2)  Ich  spreche  hier  nur  von  den  privaten  Schulen  im  eigentlichen  Sinne,  nicht 
von   den  Kursen,   „Pressen"  und  dergleichen,  die,  parallel  dem  wirtschaftlichen  Auf- 
Zeitschrift für  die  ges.  Staatswissensch.   Ergänzungsheft  49.  8 


—     114     — 

viel  literarische  Anregung  mehr  aus;  außerdem  lernen  jene  nicht 
gern  etwas  von  privaten.  Die  besten  Köpfe  konnten  zumeist  an  den 
öffentlichen  Anstalten  unterkommen.  Aber  auch  an  diesen  gab  es 
keinen  eigentlichen  Handelslehrerstand,  weil  es  noch  keinen  be- 
sonderen Handelslehrerbildungsgang  und  eine  nur  kleine  Zahl  von 
Schulen  mit  geordneten  Gehaltsverhältnissen  gab.  Alles  in  allem 
war  demnach  aus  Handelsschulkreisen  keine  lebhafte  Entwickelung 
zur  Handelsbetriebslehre  hin  mehr  zu  erwarten,  seitdem  die  Dinge 
einmal  von  der  Leipziger  Gründung  an  diesen  Lauf  genommen 
hatten. 

\'ielleicht  wäre  es  gar  nicht  zu  der  schon  angedeuteten  Heraus- 
bildung einer  bloßen  Handelswissenschaft  aus  der  Handlungswissen- 
schaft gekommen,  wenn  nicht  die  berufenen  Pfleger  der  Wirtschafts- 
wissenschaften, die  Akademiker,  gerade  auf  dem  Gebiete  der  Privat- 
wirtschaftslehre schlechthin  gar  nichts  getan  hätten,  seitdem  sich  die 
Kameralwissenschaft  zur  \'olkswirtschaftslehre  mit  Einschluß  der 
Finanzwissenschaft  umgebildet  hatte.  Während  die  Kameralwissen- 
schaft wenigstens  noch  eine  Art  wirtschaftskundlicher  Einführung 
in  die  Gewerbe  für  nötig  gehalten  hatte,  wo  sie  nicht,  wie  bei 
Ludovici  und  Jung,  im  eigentlichen  Sinne  die  Handlungswissen- 
schaft pflegte,  beschränkte  sich  die  neue  Volkswirtschaftslehre  ganz 
auf  die  Untersuchung  speziell  volkswirtschaftlicher  Probleme.  Zwar 
war  man,  wenigstens  fürs  erste  noch,  von  der  Gleichberechtigung 
der  „Bürgerlichen  Wirtschaftslehre'"  mit  der  „öffentlichen  Wirtschafts- 
lehre" überzeugt,  wie  die  Schriften  unseres  ersten  Volkswirtschaft- 
lers, K.  H.  Raus,  bezeugen,  aber  dabei  blieb  es  auch.  Ebenso- 
wenig, wüe  unter  der  Kameralwissenschaft  eigentlich  privatwirtschaft- 
liche Untersuchungen  angestellt  wurden,  wurde  jetzt  damit  begonnen, 
auch  nicht  durch  Rau,    der  wohl   der  Mann   dazu   gewesen  wäre. 

In  seiner  kleinen  Schrift  „Über  die  Kameralwissenschaft",  Heidel- 
berg 1825,  hat  er  folgendes  Schema  der  Wirtschaftswissenschaften 
aufgestellt: 

A.  Allgemeine  Wirtschaftslehre. 

B.  Besondere  Wirtschaftslehre,  nämlich 
I.  Bürgerliche  Wirtschaftslehre 

L  Erwerbslehre  (Erwerb, 

a)  aus   ..Stoff arbeiten", 

b)  aus    dem    Güterverkehr   —   darunter    die  „Handels- 
lehre"  — , 


stieg  nnd  dem  Hereinströmen  ungelernter  Arbeitskräfte  in  den  Handel,  gerade  jetzt 
erst  zum  Dasein  und  zur  Blüte  gelangten. 


—     115     — 

c)  aus  persönlichen  Diensten). 
2.  Hausvvirtschaftslehre. 
II.  Öffentliche  Wirtschaftslehre. 

Welche  Meinung  Rau  im  besonderen  von  der  „Handelslehre" 
oder  „Handelswissenschaft",  wie  er  auch  für  unsere  „Handlungs- 
wissenschaft'' sagt,  gehabt  hat,  geht  aus  seinem  schon  genannten 
Artikel  „Handelswissenschaft"  in  der  Allgemeinen  Enzyklopädie  von 
Er  seh  und  Grube  hervor  0- 

Warum  nun  trotz  dieser  günstigen  Auffassung  die  Gewerbe- 
lehren keine  Stätte  an  den  Hochschulen  fanden,  ist  schwer  zu  sagen. 
Es  mochte  wohl  eine  dankbarere  Aufgabe  sein,  der  Allgemeinheit 
mit  der  Erforschung  der  wirtschaftlichen  Zustände  und  Gesetze,  in 
und  nach  denen  sie  lebt  und  leben  sollte,  zu  dienen,  als  den  Ge- 
werben, vor  allem  den  die  Hochschulen  gar  nicht  besuchenden 
Kaufleuten,  Theorien  zu  erarbeiten,  von  denen  sie  gar  nicht  einmal 
€twas  wissen  wollten.  Sicherlich  war  es  aber  auch  bequemer,  am 
Studiertische  volkswirtschaftsphilosophische  Gedanken  auszuspinnen 
und  gelehrte  Systeme  aufzustellen,  als  einzelne  Unternehmungen  zu 
untersuchen,  was  doch  notwendigerweise  auch  bedeutet,  sie  auf- 
zusuchen, in  ihnen  zu  leben  und  sich  mit  ihren  vielen  praktischen 
Besonderheiten,  von  denen  noch  kein  Buch  etwas  vermeldete,  ver- 
traut zu  machen.  Vielleicht  liegt  es  gerade  an  dieser  unbequemen 
und  ungewohnten  Notwendigkeit,  daß  schon  die  Kameralisten  sehr 
viel  über  die  Gewerbe,  aber  wenig  über  den  Bau  und  das  Leben 
der  einzelnen  Gewerbebetriebe  zu  [sagen  wußten.  Wer  weiß,  ob 
sie  nicht  doch  in  der  Praxis  mehr  Fuß  gefaßt  hätten,  wenn  sie  ihr 
mit  etwas  mehr  als  bloßer  Buchweisheit  und  Stubengelehrsamkeit 
gekommen  wären. 

Es  wäre  müßig,  diese  und  ähnliche  Fragen  weiter  zu  erörtern. 
Die  tatsächliche  Entwickelung  hat  nun  einmal  mit  der  Aufnahme 
der  Volkswirtschaftslehre  zur  Aufgabe  der  Handlungswissenschaft 
geführt.  Niemand  hat  die  letztere  als  überflüssig  oder  unmöglich 
bezeichnet  und  damit  überhaupt  eine  Erörterung  ihrer  Daseins- 
berechtigung veranlaßt;  sang-  und  klanglos  ist  es  mit  ihr  zu  Ende 
gegangen.  Ein  paar  positive  Versuche  der  letzten  1860  er  Jahre, 
von  denen  noch  zu  sprechen  sein  wird,  scheinen  ihrer  Zeit  mehr 
etwas  Absonderliches,  denn  etwas  Besonderes  gewesen  zu  sein;  sie 
wurden  nicht  beachtet  und  schnell  vergessen.  Von  da  an  waren 
Wissenschaft,    Schule    und  Praxis    gleicherweise   in  Bezug   auf  alle 


1)  Vgl.  die  auf  S.  91  mitgeteilten  Sätze  aus  demselben  Artikel. 


—     116     — 

bisherigen  Versuche  dieser  Art  zu  ihrer  Tagesordnung  übergegangen: 
Die  Praxis  konnte,  zunächst  noch  mit  Recht,  behaupten,  daß  die 
kaufmännische  Betriebslehre  noch  nicht  als  ein  Bedürfnis  empfunden 
würde ;  die  Handelsschule  durfte  vorläufig  denselben  Standpunkt 
einnehmen  und  sich  dem  Ausbau  der  Fächer  widmen,  die  sie 
dringender  benötigte,  und  der  Volkswirtschaftslehre  konnte  man  es 
zum  mindesten  nicht  verdenken,  wenn  sie  es  zunächst  einmal  vor- 
zog, auf  ihren  ureigensten  Gebieten  in  die  Tiefe,  statt  von  Anfang 
an  zu  sehr  in  die  Breite  zu  gehen. 

B.    Die  Entstehung  der  Handelslehre  seit  J.  G.  Busch. 

Es  kann  hier  nicht  unsere  Aufgabe  sein,  die  Entstehung  der 
für  die  Privatwirtschaftslehren  ziemlich  unfr-uchtbaren  Volkswirt- 
schaftslehre zu  schildern,  sondern  nur  die,  an  Hand  der  hauptsäch- 
lichsten Literaturerscheinungen  das  Aufkommen  der  sogenannten 
Handelslehre  oder  Handelswissenschaft  —  nicht  der  von  Rau  im 
Sinne  der  Handelsbetriebslehre  und  der  älteren  Handlungswissen- 
schaft gemeinten,  sondern  des  Surrogates  der  Handelsschulen  — 
zu  zeigen.  Ihre  Anfänge  fallen  mit  denen  der  neueren  Volkswirt- 
schaftslehre zusammen. 

Es  ist  bereits  gesagt  worden,  daß  in  den  handlungswissen- 
schaftlich interessierten  Kreisen  eine  Anzahl  halb-  und  reinkamera- 
istischer  Arbeiten  selber  erst  entstanden  ist  oder  doch  dort  auf- 
merksam studiert  wurde,  darunter  auch  v.  Justis  Werk,  das  den 
Übergang  der  Kameralwissenschaft  zur  Volkswirtschaftslehre  vor- 
bereitete. Das  Werk  von  A.  Smith,  dem  Vater  der  Nationalöko- 
nomie, das  schon  1777  ins  Deutsche  übersetzt  wurde,  fand  demnach 
auch  hier  willige  Aufnahme  und  regte  ein  .selbständiges  Schaffen 
an,  das  sich  natürlich  in  der  volkswirtschaftlichen  Richtung  bewegte, 
die  die  oben  genannten  kameralistischen  Schriften  schon  mehr  oder 
weniger  eingeschlagen  hatten.  Der  bedeutendste  der  so  angeregten 
Handelsschriftsteller  war  J.  G.  Busch  in  Hamburg,  zunächst  Gym- 
nasialprofessor, dann  Leiter  der  von  1768  bis  1800,  seinem  Todes- 
jahre, dort  vorhandenen  privaten  „Handlungs- Akademie",  die  vor 
allem  durch  seine  literarische  Wirksamkeit  die  bekannteste  zu  ihrer 
Zeit  gewesen  ist. 

Schon  etwa  von  1770  an  hatte  Busch  sich  in  kleineren  Auf. 
Sätzen  usw.  betätigt;  seine  größeren  Arbeiten  waren  seine  „Ab- 
handlung von  dem  Gcldesumlauf",  Hamburg   1780/84'),   und  seine 


1)  Vgl.  HWB.  der  Staatswissenscb.  und  H.   Sieveking   in  Schmollers  Jahr- 


—     117     — 

„Theoretisch-praktische Darstellung  der  Handlung  (lies:  des  Handels) 
in  ihren  mannichfaltigen  Geschäften",  zwei  Bände,  Hamburg  1792, 
dazu  später  zwei  Bände  Zusätze.  Letzteres  Werk,  das  die  Ergeb- 
nisse auch  seiner  sonstigen  Schriften  mit  umfaßt,  ist  aus  einer 
Reihe  von  Vorträgen  entstanden ,  die  Busch  vor  einem  reiferen 
Publikum  von  Praktikern  gehalten  hatte. 

„Eine  Schwierigkeit  war  dabei  für  mich",  so  sagt  er  selber  in 
der  Vorrede,  „daß  ich  kein  Lehrbuch  zu  Grunde  legen  konnte.  Ich 
empfahl  meinen  Zuhörern,  Ludo  vicis  Handlungssystem  anzukaufen, 
welches  den  letzten  Band  von  dessen  Handlungslexikon  ^)  ausmacht 
.  .  .  dieses  Buch  war  viel  zu  weitläufig  und  kam  so  wenig  mit  der 
Art  meines  Vortrages  überein,  daß  ich  es  bloß  brauchen  konnte, 
um  diesen  nach  der  meinem  jetzigen  Buche  gegebenen  Einteilung 
zu  ordnen.  Aber  eben  deswegen  ward  der  Vortrag  nicht  zu  einem 
zusammenhängenden  Ganzen,  sondern  alles,  was  ich  darüber  in 
die  Feder  sagte,  war  eine  Sammlung  von  Anmerkungen  und  Re- 
flexionen über  die  vorzüglichen  Geschäfte  der  Handlung.  Viel 
derselben  gab  ich  damals  .  .  .  vorläufig  ins  Publikum  durch  deren 
Einrückung  in  die  Hamburgischen  Adreßkomptoirnachrichten  .  .  . 
Überhaupt  sind  fast  alle  meine  Schriften  über  Staatswirtschaft  und 
Handlung  aus  diesen  ersten  Vorlesungen  entstanden.  Ich  .  .  . 
verband  auch  damit  Vorlesungen  über  die  Handlungsgeschichte,  in 
welchen  ich  ebenfalls  des  Ludovici  Buch  nur,  so  zu  reden,  als 
einen  schlaffen  Leitfaden  gebrauchte.  Aus  diesen  sind  ebenfalls 
einzelne  historische  Schriften  von  mir  in  dem  Handlungsfach  ent- 
standen .  .  ." 

„Vor  27  Jahren,  da  ich  zuerst  als  Schriftsteller  im  Handlungs- 
fach auftrat,  hatte  ich  unter  den  Deutschen  keinen  Vorgänger,  auf 
dessen  Schultern  ich  mich  hätte  stellen  können-),  und  unter  den 
Ausländern  war  nur  ein  Steuart  da.  In  dem,  was  ich  über  Banken 
schrieb,  war  mir  keiner  vorangegangen.  Über  die  Handlungskom- 
pagnien hatte  niemand  mir  gleichstimmig  oder  so  im  allgemeinen 
geurteilt,  als  ich  (selber  früher)  tat.  Auch  in  meinem  Werke  über 
den  Geldumlauf   ging   ich  meinen  eigenen  .  .  .  Weg.     Daher  haben 


büchern  28,  1  und  2,  über  Büschs  Bedeutung  für  die  Entwickelung  der  Volks- 
wirtschaftslehre. 

1)  Die  Angabe  ist  ungenau.  —  Ob  wohl  die  zweite  Ausgabe  des  Ludovici- 
schen  Anhanges  zum  „Kaufmanns- Lexikon"  von  1768  dadurch  veranlaßt  worden 
ist,  daß  die  Empfehlung  durch  Busch  die  Nachfrage  plötzlich  vermehrte? 

2l  Gemeint  ist  hier  das  Gebiet  des  Handels  und  der  Handelspolitik  im  volks- 
wirtschaftlichen Sinne. 


—     118     — 

meine  Arbeiten  .  .  .  eine  Originalität,    die    nicht   leicht  jemand  ver- 
kennen wird  ..." 

Diese  volkswirtschaftliche  Betrachtungsweise,  die  damals  aller- 
dings Busch'  Arbeiten  zu  etwas  Besonderem  bei  uns  machten, 
ist  nun  auch  in  die  „Theoretisch -praktische  Darstellung"  überge- 
gangen, so  daß  die  Handlungswissenschaft  nur  mittelbar  durch 
dieses  Werk  gefördert  worden  ist.  Etwas  Schuld  daran  hat  auch 
Büschs  Einbildung,  um  jeden  Preis  in  allem  original  sein  zu  müssen. 
Er  sagt  selber  noch  in  der  gleichen  Vorrede:  ..So  viele  Anleitungen 
zur  Handlungswisscnschaft  auch  seit  zwanzig  Jahren  gedruckt  sind, 
so  hatte  ich  doch  geglaubt,  nichts  aus  denselben  erborgen  zu  dürfen, 
und,  um  mich  gewissermaßen  in  die  Unmöglichkeit  dazu  zu  ver- 
setzen, habe  ich  keine  derselben  seit  langer  Zek  gelesen  ..."  Wenn 
man  das  nun  auch  mit  einiger  Not  verstehen  mag  und  es  seiner 
Bitte  entsprechend  dem  Verfasser  nicht  als  Stolz  anrechnet,  so 
braucht  man  es  doch  gewiß  nicht  zu  billigen.  Gerade  bei  dem 
großen  Rufe,  den  Busch  mit  der  Zeit  schon  erlangt  hatte,  wäre 
er  es  seinen  Lesern  schuldig  gewesen,  die  zeitgenössische  Literatur 
zu  beachten  und,  sei  es  auch  nur  in  kritischen  Anmerkungen,  seine 
Stellung  zu  ihr  zu  erkennen  zu  geben;  außerdem  hätte  er  das  eine 
oder  andere  doch  auch  noch  daraus  lernen  können.  Bei  seiner 
Gemeinde  aber  nährte  er  so  den  Glauben,  daß  er  nicht  nur  in 
seinen  Anschauungen  selbständig,  sondern  für  alle  seine  Stoffe 
auch  der  erste  Bearbeiter  sei.     Das  war  er  aber  keineswegs. 

Doch  nun  zu  dem  Buche  selber.  'Es  zerfällt  nach  einer  Ein- 
leitung in  vier  Hauptteile.  Sie  handeln  vom  Gelde  in  allen  seinen 
Arten  und  von  den  Wechseln,  von  den  Waren,  den  Maßen,  den 
Abzügen  und  den  Preisbestimmungen,  von  den  einzelnen  Handels- 
betriebsarten, von  der  Schiffahrt,  der  Versicherung  und  der  Buch- 
führung, von  den  Bankrotten  usw.  usw.  Wir  würden  heute  Aus- 
führungen in  der  Art,  wie  sie  Busch  macht,  nur  in  einem  volks- 
wirtschaftlichen Lehrbuch  des  ^^Handels  und  der  Handelspolitik 
suchen.  Bemerkenswert  ist  Büschs  Neigung  zu  handelsgeschicht- 
lichen Erläuterungen,  doch  ist  er  in  der  Art  seines  Vortrages  nie- 
mals konsequent,  schweift  gern  ab  und  kommt  leicht  ins  Uferlose. 
Daß  das  Buch  tatsächlich  eine  bloße  „Sammlung  von  Anmerkungen 
und  Reflexionen  über  die  vorzüglichsten  Geschäfte  der  Handlung" 
(lies  wieder  „über  den  ?Iandel")  ist,  erhellt  z.  B.  aus  dem  Kapitel 
„Von  den  Zinsen  und  dem  Kredit".  Darin  ist  die  Rede  von  den 
Ursachen  des  Zinses,  von  der  Geschichte  der  Zinsverbote,  von  den 
Bestimmungsgründen  der  Zinsen,  von  den  Besonderheiten  des  Dis- 


—     119     — 

konts,  dann  —  von  der  Einteilung  des  Kredits  in  den  persönlichen 
und  den  hypothekarischen,  vom  Einfluß  der  Zinshöhe  auf  den  Handel 
und  auf  den  Ackerbau,  sodann  von  dem  der  Staatsschulden  auf  die 
Zinsen  und  schHeßlich  noch  vom  Wucher. 

Handlungswissenschaftlich  und  damit  auch  praktisch  am  besten 
ist  das,  was  Busch  über  die  Wechsel  und  Wechselkurse,  über 
Vergesellschaftungen,  Überversicherungen  und  über  das  Buchhalten 
sagt.  Aber  mehr  oder  weniger  finden  sich  diese  Ausführungen 
auch  in  seinen  sonstigen  Schriften,  wie  umgekehrt  hier  seine  Ge- 
danken über  den  Geldumlauf,  dann  über  die  Banken,  über  den 
Zwischenhandel,  über  das  Seerecht  usw.  immer  wiederkehren.  Im 
ganzen  kann  man  wohl  sagen,  daß  Busch  zwar  unsere  damalige 
Erkenntnis  wirtschaftlicher  Tatsachen  um  manche  grundlegende 
Feststellung  bereichert  hat  —  so  zum  Wiesen  der  Wechselkurse, 
des  Zwischenhandels,  des  Papiergeldes  und  der  Banknoten,  zur 
Überflüssigkeit  mancher  Rabatte;  sogar  eine  personalistische  Buch- 
führungstheorie stellte  er  auf  —  daß  aber  die  Handlungswissen- 
schaft im  besonderen  durch  ihn  nicht  sehr  gefördert  worden  ist,  es 
sei  denn  durch  die  Beleuchtung  der  allgemeinen  Handelsverhält- 
nisse. In  Leuchs'  ,, System"  dürfte  z.  B.  nur  der  Satz,  daß  die 
Zahl  der  Spekulanten  die  Aussichten  der  Spekulation  für  den  ein- 
zelnen verringert,  unmittelbar  von  Busch  entlehnt  sein. 

Eine  ganze  Anzahl  von  Werken,  besonders  von  kleineren  für 
Schulzwecke,  geht  auf  Busch  zurück.  Schon  1798  erschien  zu 
Elberfeld  eine  , .Gründliche  Anweisung  in  der  Handlungswissen- 
schaft" von  J.  Weißen  stein  ,  einem  Handelsschulmanne ,  2.  Auf- 
lage von  F.  G.  Clemenius  1807,  von  der  dies  voll  und  ganz  gilt. 
Der  uns  schon  als  Nachahmer  von  Leuchs  bekannte  Meisner 
schrieb  ferner  einen  ,, Grundriß  der  Privathandlungswissenschaft", 
Breslau  1804,  dem  noch  eine  ,, Staatshandlungswissenschaft"  1806 
folgte,  Schriften,  die  zwar  den  Titel  von  Leuchs,  den  Inhalt  jedoch 
vorwiegend  von  Busch  und  den  Kameralisten  entnehmen.  Der 
erste  Teil  der  „Privathandlungswissenschaft"  spricht  von  den  nötigen 
Kenntnissen  des  Kaufmannes,  ohne  die  Handlungswissenschaft  selber 
dabei  zu  nennen,  der  zweite  Teil  von  den  verschiedenen  Handels- 
arten und  der  dritte  noch  ,,von  den  Hülfsanstalten  und  den  Hülfs- 
geschäften  für  die  Handlung,  sowie  von  den  mancherlei  Vorfällen 
bei  dem  Handel",  nämlich  von  den  Banken,  Versicherungen,  Messen, 
Havereien,  Gesellschaften,  Zinsen,  Bankrotten,  Krisen  usw.  usw. 
In  Hamburg  selber  versuchte  ein  Handelsschulleiter  C.  Krüger  in 
den  Bahnen  Büschs   zu   wandeln.     Sein   vierbändiges  Werk  „Der 


—     120     — 

Kaufmann",  2.  Auflage  Hamburg  1820  (erste  von  ?),  ist  zwar  in 
der  Manier  seines  Vorbildes  geschrieben,  ist  aber  inhaltlich  weit 
schwächer  als  Büschs  Werke  und  im  allgemeinen  auch  nur  re- 
produzierend. 

Eine  selbständige  Arbeit  sind  dagegen  die  „Praktischen  und 
historischen  Ilandlungswissenschaften"  von  \V.  Spitta,  Han- 
nover 1799,  in  denen  einiges  Neue  über  Türkenpässe,  Großavan- 
turen,  \'ersicherungcn  usw.  gesagt  wird.  Der  Inhalt  erinnert  viel- 
fach an  den  der  ersten  kaufmännischen  Zeitschriften  oder  an  Sina- 
pius  ,, Lesebuch";  es  ist  jedoch  weder  recht  praktisch  noch 
historisch,  sondern  handelskundlich. 

Eine  nach  Umfang  und  Inhalt  sehr  dürftige  „P^inleitung  in  die 
Handelswissenschaft"  von  F.  Süpke,  Braunschweig  1825,  war  für 
den  Unterricht  an  einem  dort  entstandenen  Handelsg3'mnasium') 
bestimmt;  sie  fußt  sowohl  auf  Beckmann,  Busch  und  Rau,  als 
auf  Leuchs.  Süpke  war  später  Vertreter  der  Handelswissen- 
schaften an  der  Merkantilischen  Abteilung  des  Collegium  Carolinum 
in  Braunschweig,  einer  halbakademischen  Handelshochschulabteilung 
dieses  Instituts.  Von  dessen  Lehrkräften  sind  sonst  keinerlei  be- 
merkenswerte Bücher  herausgekommen.  Nur  Süpke  war  auch  in 
dieser  Stellung  literarisch  tätig,  indem  er,  zumeist  im  ..Braun- 
schweiger Magazin"  ,  eine  Reihe  von  Aufsätzen  veröffentlichte.  Wegen 
der  Bedeutung,  die  später  der  Ausdruck  „Handelsbetriebslehre"  er- 
langte, sei  erwähnt,  daß  in  einem  von  diesen  Artikeln  („Kurze  Dar- 
stellung des  Gebietes  der  Handelswissenschaften,  vornehmlich  über 
die  Theorie  und  Politik  des  Handels"  von  1836)  dieser  Ausdruck 
m.  W.  zum  ersten  Male  in  der  Literatur  gebraucht  wird,  und  zwar 
ungefähr  für  das,  was  Leuchs  „Handelslehre"  genannt  hatte.  Doch 
sei  gleich  hier  auch  bemerkt,  daß  dieser  Ausdruck  später  noch  ein- 
mal unabhängig  von  dem  genannten  Aufsatze  aufgekommen  ist. 

In  Leipzig  gebrauchte  man  den  kleinen  volkswirtschafdichen 
„Grundriß  der  Handelswissenschaft"  des  Nationalökonomen  L.  H. 
V.  Jakob,  Halle  1828.  Die  meisten  Anstalten  hatten  aber  ihre 
selbstverfaßten  Leitfäden.  So  schrieb  an  der  polytechnischen  Hoch- 
schule zu  Karlsruhe  L.  C.  Bleibtreu  ein  „Lehrbuch  der  Handels- 
wissenschaft", Karlsruhe  1830,  das  1847  noch  einmal  umgearbeitet 
als  „Mercantilpraxis"  herauskam.  Es  enthält  außer  der  Handels- 
wissenschaft auch  noch  eine  Buchhaltung.  Zu  jener  gehören  zu- 
nächst kürzere   Ausführungen    (rund   40  Seiten)    über   den    Handel 

1)  Vgl.  m.  Aufsatz  , Höhere  kaufmännische  Unterrichtsanstalteu  in  Braunschweig 
von  1745  bis  1862",  Z.  f.  d.  g.  k.  U.  XV,  Nr.  6,  7. 


—     121     — 

überhaupt,  über  das  Geld,  die  Zinsen  und  den  Kredit.  Dann  folgt 
das  von  Leuchs  in  die  Literatur  eingeführte  Kapitel  der  „Be- 
förderungsmittellehre", hier  „Von  den  Anstalten  und  Verfügungen 
zur  Beförderung  des  Handels"  genannt,  und  darauf  eine  Wechsel- 
lehre. Kleinere  Abschnitte  handeln  vom  Seefrachtwesen,  von  den 
Versicherungen,  vom  Waren-  und  Wertpapierhandel,  „von  der  Voll- 
macht" und  „vom  Falliment".  Dann  kommt  eine  Buchführung, 
ferner  auf  sieben  Seiten  etwas  von  dem  Verfahren  in  Handels- 
streitigkeiten und  schließlich  eine  Sammlung  von  Verträgen  mit 
einer  Einleitung  dazu.  Einige  Literaturangaben  gehen  dem  ganzen 
Buche,  das  606  Oktavseiten  umfaßt,  voraus.  Aus  diesen  Angaben 
mag  zur  Genüge  hervorgehen,  daß  an  die  alte  Handlungswissen- 
schaft schon  nichts  mehr  in  diesem  Buche  erinnerte,  jetzt  schon, 
nach  noch  nicht  10  Jahren  seit  dem  letzten  Erscheinen  von  Leuchs 
,, System" ! 

Dieses  Buch  gehört  übrigens  schon  zu  denjenigen,  die  wohl 
nicht  mehr  unmittelbar  aus  Büschs  Werken,  sondern  aus  der 
nach  jenem  bei  uns  entstandenen  volkswirtschaftlichen  Literatur 
geschöpft  haben.  Noch  schärfer  als  in  ihm  spricht  sich  die  Eigen- 
art der  schulmäßigen  Handelswissenschaft  in  dem  vielgerühmten 
„Systematischen  Lehrbuch  der  Handels  Wissenschaft"  von  F.  Noback , 
Berlin  1849  zuerst,  aus  (sein  Verfasser  ist  nicht  mit  dem  C.  A.  No  - 
back  zu  verwechseln,  von  dem  „Der  Handel  in  Compagnie  in 
merkantilischer  und  rechtlicher  Hinsicht  theoretisch  und  praktisch 
erläutert"  zu  Ilmenau  1829  herauskam),  das  das  Vorbild  der  spä- 
teren wurde.  Worin  sein  „System"  besteht,  ist  nicht  recht  ersicht- 
lich. Er  erklärt  die  Handelswissenschaft  als  „die  Gesamtheit  der- 
jenigen Kenntnisse,  welche  das  Wesen  und  die  Grundsätze  des 
Handels  und  seiner  Gegenstände,  seiner  Hilfsgewerbe  und  seiner 
Förderungsanstalten  umfassen".  Danach  behandelt  es  der  Reihe 
nach  „die  Handelsobjekte  und  ihr  Maß",  „die  Gestaltung  des  Handels 
und  seiner  Operationen",  den  Einzelkaufmann  und  die  Gesell- 
schaften, die  Hilfsgewerbe  des  Handels,  seine  Förderungsanstalten 
und  die  Handelsgewohnheiten,  die  ,, Geschäftsführung"  in  ganzen 
13  von  566  Seiten  Text  —  Unterabschnitte  sind  hier:  „Geschäfts- 
personal, fingierte  Rechnungen,  Limitum,  Contremandieren ,  Kauf 
nach  Probe,  Handel  auf  Besicht,  Fakturen  usw.,  Übergang  der  Ge- 
fahr, Zahlung"  — ;  ferner  ist  auf  fünf  Seiten  von  den  Preisen  und 
Spekulationen  die  Rede,  dann  auf  wiederum  fünf  Seiten  von  der 
Handelsmoral,  von  kaufmännischen  Empfehlungen  und  von  den 
Fallimenten,    und    schließlich   folgt  noch  einiges  aus  dem  Handels- 


_     122     

recht  und  der  Handelspolitik,  auch  sind  «in  paar  Wechselfonnulare 
angehängt. 

Das  kann  man  doch  nicht  „sj'stematisch"  nennen!  Es  fehlt  an 
einem  leitenden  Gedanken,  den  man  allerdings  auch  schwerlich 
anders  als  eben  in  der  Frage:  „Wie  steht  das  einzelne  Geschäft  zu 
diesen  Tatsachen?"  wird  finden  können,  einer  Frage,  die  dann  so- 
fort die  Probleme  der  Handelsbctriebslehre  selber  angeschnitten 
haben  würde.  Mit  einigen  Abweichungen  sind  so  noch  viele  Handels- 
wissenschaften (Handelslehren ,  Handelskunden)  entstanden ,  die 
meisten  davon  schlechter  als  die  von  Noback.  Die  älteren  seien 
hier  namentlich  angeführt,  nämlich  ein  „Lehrbuch  der  Handels- 
wissenschaften" von  L.Brentano.  Fürth  1853,  das  im  Maß-  und 
Gewichtswesen  und  in  der  Prozentrechnung  ('.)  stecken  bleibt,  ein 
„Katechismus  der  Handelswissenschaft"  von  L.  Simon,  2.  Auflage 
von  K.  Arenz  1856,  ein  sehr  dürftiges  Stück  fNr.  13)  aus  einem 
Sammelwerk,  dann  ein   „Handbuch  der  Handels-Wissenschaft"   von 

F.  A.  Stracker  Jan,  Pest  1861,  ein  „Leitfaden"  und  ein  „Abriß  der 
Handelswissenschaft  oder  allgemeinen  Handelslehre"  von  W.  Röh- 
rich, Stuttgart  1861,  ein  „Leitfaden  zu  Vorträgen  über  Handels- 
wissenschaft" von  J.  G.  Woerz,  Wien  1864,  ein  „Lehrbuch  der 
Handelswdssenschaft"  von  A.  Braune,  Leipzig  1866,  ein  „Grund- 
riß" und  ein  kürzerer  „Leitfaden  der  Handelswissenschaft"  von 
C.  F.  Findeisen  und  ein  „Leitfaden  für  den  Unterricht  in  der 
Handelswissenschaft"  von  A.  Adler,  Leipzig  1879,  die  alle  nach 
früheren  Vorbildern,  nur  in  anderer  Gruppierung  des  Inhaltes,  zu- 
geschnitten sind;  spätere  sind  noch  von  Behni,  Berger,  Gleis- 
berg, Haberer,  Jacobi,  Jorcke,  Sulzberger,  Ottel,  Wick, 
Goldberg  usw.  usw.  geschrieben  worden.  Von  Handelsbetriebs- 
lehre ist  nichts  darin. 

Zum  Teil  haben  diese  Arbeiten  mehrere  Auflagen  bis  in  die 
letzte  Zeit  hinein  erlebt  und  auch  der  jetzt  neu  belebten  Handels- 
betriebslehre durch  Titeländerungen,  seltener  auch  inhaltlich,  ver- 
schiedene Zugeständnisse  gemacht,  ohne  ihren  Grundcharakter  auf- 
zugeben. Meistens  sind  sie  nichts  weiter  als  sehr  bequeme  volkswirt- 
schaftlich-handelsrechtliche Auszüge  und  Zusammenstellungen  von 
nur  losem  inneren  Gefüge.  Sie  haben  kein  höheres  Ziel,  als  dem 
Unterricht  in  einem  verzopften  und  lange  Zeit  keiner  Entwicke- 
lung  fähigen  Schulfache  zu  dienen.     Es  ist  daher  begreiflich,  wenn 

G.  Cohn  über  diese  Art  Handels  „Wissenschaft"  in  seiner  „National- 
ökonomie des  Handels  und  des  Verkehrswesens"  sehr  abfällig  ur- 
teilt.    Doch  kann  ihm  auch  wieder  entgegengehalten  werden,   daß 


—     123     — 

sie  durchweg  ebensowenig  wie  die  frühere  Kontorwissenschaft  An- 
spruch auf  eigentlich  wissenschaftHche  Anerkennung  erhoben  hat, 
und  daß  sie,  leider,  gerade  von  der  Volkswirtschaftslehre  aus 
ohne  die  ihr  so  nötigen  privatwirtschaftswissenschaftlichen  An- 
regungen gelassen  worden  ist.  Wer  möchte  entscheiden,  wem  die 
größere  Schuld  zuzumessen  ist? 

Das  kann  jedenfalls  nicht  geleugnet  werden,  daß  vom  Stand- 
punkte der  Volkswirtschaftslehre  aus  und  besonders  unter  dem 
Gesichtspunkte  der  für  uns  vor  allem  in  Rede  stehenden  Handels- 
betriebslehre fast  alle  älteren  Leitfäden  usw.  der  Handelslehre  oder 
der  Handelswissenschaft  unzulänglich  sind.  Aber  um  ihnen  voll 
gerecht  zu  werden,  muß  man  doch  auch  fragen,  ob  sie  den  Schul- 
bedürfnissen ihrer  Zeit,  denen  sie  doch  erst  ihre  Entstehung  ver- 
dankten, entsprochen  haben  oder  nicht.  Die  Handelsschulverhält- 
nisse berücksichtigend,  wird  man  wahrscheinlich  zu  einem  etwas 
milderen  Urteile  über  diesen  Literaturzweig  gelangen. 

C.  Vereinzelte  Handelsbetriebslehren  um  die  Mitte  des 
19.  Jahrhunderts. 

A.  Ein  paar  Lichtblicke  gibt  es  aber  doch  noch  in  dieser  Zeit 
und  zwar  in  einigen  Schriften,  die  teils  die  Erinnerungen  an  die 
ältere  Handlungswissenschaft  wecken,  teils  Vorläufer  der  später  in 
neuem  Glänze  auferstandenen  Handelsbetriebslehre  sind.  Sie  haben 
bezeichnenderweise  mit  der  dazwischen  vegetierenden  Handelslehre 
fast  gar  nichts  zu  tun.  Zunächst  ist  da  die  „Allgemeine  Handels- 
lehre oder  Sj'stem  des  Handels"  von  E.  J.  V.  Lorenz,  einem 
Handelsschulmanne  von  einer  mir  unbekannten  Anstalt,  Leipzig 
1847.  Sein  Inhalt  war  bereits  1838/39  in  der  „Handelsschule", 
einer  Wochenschrift,  enthalten,  aber  bis  1847  nicht  in  dieser  Buch- 
form zusammengestellt. 

Die  Handelslehre  ist  nach  Lorenz  „die  Zusammenstellung  der 
Regeln  .  .  .  .,  nach  welchen  der  Handel  betrieben  werden  muß, 
wenn  sein  Zweck,  der  höchstmögliche  Gewinn,  durch  ihn  erreicht 
werden  soll".  Dieser  privatwirtschaftlichen  Auffassung  entspricht 
sodann  die  Durchführung  der  einzelnen  Kapitel  von  der  Idee  des 
Handels  und  der  Handelswissenschaften,  von  den  Handels-  und 
Tauschgegenständen  einschl.  einer  Tauschmittellehre,  von  der  Wert- 
bestimmungslehre, den  Beförderungsmitteln  des  Handels,  von  dem 
Handelsbetriebe  (mit  den  Unterabschnitten:  der  Weg  zum  Etablisse- 
ment, die  Wahl  der  Branche,  Lehre  vom  Einkauf,  vom  Kredit,  von 
der  Zahlung,  von  der  Preisbestimmung,  vom  Verkauf,  von  der  Ver- 


—     124      - 

senduni,',  von  Moratorien  und  Konkursen;  der  X'ollinaclitsvcrtraj,', 
die  Kontorwissenschaft)  und  vom  Wahrscheinlichen  im  Handel  oder 
von  der  Spekulationslehre;  den  Schluß  bildet  ein  Anhang  über  den 
^Handel  in  seiner  Beziehung  zur  Nationalökonomie". 

Es  zeigt  dieses  Buch  schon  auf  den  ersten  Blick  die  Beein- 
flussung durch  Leuchs.  Das  für  Schulzwecke  Wichtigste  aus 
letzterem  hat  es  mit  Eigenem  gut  zu  verquicken  gewußt  und  über- 
haupt, wenn  auch  ohne  seine  Schuld  so  gut  wie  vergeblich,  den 
Weg  gezeigt,  auf  dem  die  Handelsschulen  ihrerseits  auch  ohne  die 
Unterstützung  der  Nationalökonomie  die  Handlungswissenschaft  noch 
eine  Zeidang  fortentwickeln  konnten.  Von  ihm  wieder  oder  un- 
mittelbar von  Leuchs  ist  nur  das  ,.Lehrbuch  der  Handelswissen- 
schaft'" von  C.  J.  Scubert,  auch  einem  Handelslehrer,  Würzburg 
1858,  beeinflußt  worden.  Dieses  Buch  scheint  wie  das  vorige  nur 
eine  Auflage  erlebt  zu  haben. 

Es  hat  die  Leuchs  sehe  Einteilung  des  Stoffes  in  Einzellehren 
beibehalten,  bietet  aber  in  vielem  auch  Eigenes,  das  mit  Gedanken 
aus  Leuchs  und  mit  dem  üblichen  Stoffe  anderer  Handelswissen- 
schaften freilich  nicht  immer  so  recht  zu  einem  Gusse  verschmolzen 
ist.  Die  Einkaufslehre  zerfällt  bei  Seubert  in  folgende  sechs 
Paragraphen:  Begriff  des  Einkaufs;  einkaufende  Personen;  die  recht- 
liche Grundlage  des  Einkaufs;  seine  äußeren  Erscheinungsformen; 
die  Entrichtung  des  Gegenwertes;  Leitsätze  der  Erfahrung  beim 
Einkauf.  Die  Verkaufslehre  zerfällt  dagegen  in  acht  Paragraphen: 
Begriff  des  Verkaufs;  über  Gewinn  uild  Verlust;  Erfahrungssätze 
des  Gewinnens  und  Verlierens ;  Häufigkeit  des  Kapitalumschlags ; 
Grundsatz  des  schnellstens  Wiederverkaufs  und  des  Verkaufs  in 
möglichst  großen  Partieen;  Grundsatz  des  schnellsten  Empfanges 
der  Zahlung;  Grundsatz  der  größten  Sicherheit  ihres  Empfanges; 
über  die  Angemessenheit  des  Verkaufspreises.  Das  Buch  ist  etwas 
knapp  und  hastig  im  Text,  zeigt  aber  sicherlich  auch  einen  für  die 
Schule  damals  gangbaren  Weg  der  Verknüpfung  des  guten  Alten 
mit  dem  notwendigen  Neuen. 

Eine  recht  eigentümliche  Einführung  bietet  dagegen  noch  die 
„Handelswissenschaft"  von  L.  Schmidt,  Stuttgart  1857,  die  im  all- 
gemeinen eine  Kopie  einzelner  Geschäftsvorfälle  für  die  unterrichtliche 
Behandlung  darstellt.  Schmidt  stellt  nämlich  15  verschiedene 
praktische  Aufgaben  zur  Erörterung,  die  den  Warenbezug,  die 
Wechselzahlung  u.  a.  m.  betreffen.  Er  analysiert  nun  alles  Handels- 
betriebliche, wie  die  zugehörige  Buchhaltung  und  Korrespondenz 
nach  den  von  ihm  selbst  beantworteten  Fragen,  deren  z.  B.  für  den 


—     125     — 

ersten  Fall,  einen  Bezug  von  Zucker  von  Köln  über  Heilbronn  nach 
Stuttgartt  nicht  weniger  als  63  gestellt  werden.  Dies  Buch  erinnert 
sehr  an  das  von  Ihring^),  gehört  aber  auch  nur,  wie  jenes,  in 
einem  weiteren  Abstände  hierher;  beide  sind  ein  Beleg  für  die  früher 
fast  immer  ausgeübte  unterrichtliche  „Konzentration  der  Handels- 
fächer", um  die  heute  in  unseren  Schulen  gestritten  wird. 

Nicht  für  die  Schule,  sondern  für  die  Praxis  ist  dann  noch 
„Der  kluge  Speculant"  von  einem  Kaufmann  J.  S.  Meyer,  Leipzig 
1857  (Bd.  6  der  „Kleinen  Hülfs-Bibliothek"  von  L.  Fort,  einem 
Leipziger  Handelslehrer)  geschrieben,  das  völlig  auf  Leuchs  beruht; 
eben  deswegen  erwähne  ich  es  hier  hauptsächlich.  Das  Büchlein 
will  lediglich  einen  Teil  der  von  Leuchs  aufgestellten  Grundsätze 
bekannter  machen,  damit  die  Spekulanten  aus  bloßen  Glücksspielern 
zu  Berechnern  der  Wahrscheinlichkeit  eines  günstigen  Geschäfts- 
ausganges würden. 

Die  letzte  Nachwirkung  der  Leuchsschen  Arbeiten  habe 
ich  schließlich  in  der  „Vollständigen  Handelswissenschaft"  von 
Th.  Wenzelburger,  2.  Auflage  Hannover  und  Leipzig  1874  (erste 
von  ?),  gefunden.  Von  Leuchs  ist  ein  Stück  aus  dessen  Speku- 
lationslehre entnommen,  im  übrigen  aber  fußt  das  Buch  auf  den 
gleich  noch  zu  nennenden  Arbeiten  von  A.  Lindwurm.  Viel 
Selbständiges  ist  nicht  darin;  mit  der  Anhängung  einer  Buch- 
führung fällt  es  sogar  in  eine  um  diese  Zeit  bereits  überwundene 
Periode  der  Fachliteratur  zurück. 

B.  Der  eben  erwähnte  A.  Lindwurm,  vorher  Kaufmann  und 
Jurist,  dann  „Lehrer  der  Handelswissenschaft  und  der  Staatswirt- 
schaftslehre an  der  höheren  Handelsschule  zu  Hildesheim"  und 
später  Gründer  einer  privaten  Handelshochschule  (!)  bei  Bonn,  ist 
in  mehreren  Schriften  für  eine  Reform  der  kaufmännischen  Aus- 
bildung und  für  eine  klare  Abgrenzung  der  Privat-  gegenüber  der 
Volkswirtschaftslehre  eingetreten ;  jene  befürwortete  er  besonders 
in  „Die  Ausbildung  zum  Handelsstande",  Bremen  1861,  diese  in 
den  „Grundzügen  der  Staats-  und  Privatwirtschaftslehre"  Braun- 
schweig 1866,  und  in  seinem  bekannten  Buche  „Die  Handelsbetriebs- 
lehre und  die  Entwickelung  des  Welthandels",  Stuttgart  und  Leipzig 
1869.     Von  diesem  letzteren  ist  hier  hauptsächlich  zu  sprechen. 

Lindwurm  sagt  in  dessen  Vorwort,  daß  seit  Busch  (und 
Leuchs)  in  der  Handels  Wissenschaft  das  eigentlich  Wissenschaft- 
liche, die  Betriebslehre,  eher  zurückgegangen  als  gefördert  worden 


1)  Ihrings  Buch   ist  jedoch  nicht  katechetisch. 


—     126     — 

sei.  Die  Ursache  ist  nach  ihm  darin  zu  suchen,  „daü  die  .Volks- 
wirtschaftslehre' unter  dem  überwiegenden  Einfkisse  einer  mit  den 
praktischen  Wirtschaftsbedürfnissen  wenig  bekannten  Gelehrtenwelt 
sich,  in  einer  zwar  ebenso  unbestimmten  wie  unhaltbaren,  aber 
bestehenden  allgemeinen,  alle  Unterschiede  des  Wirtschaftsbetriebes 
ignorierenden  Form,  das  \'orrecht  angemaüt  hatte,  allein  etwas 
Wissenschaftliches  vorzustellen,  während  den  Gewerbslehren,  also 
auch  der  Handelswissenschaft,  die  Rolle  zuerkannt  worden  war, 
eine  bloß  zu  praktischen  Zwecken  vorgenommene  Zusammenstellung 
von  Regeln  zu  sein  (Röscher).  Als  eine  mitwirkende  Ursache 
ist  freilich  auch  anzusehen,  daß  die  der  Handelswissenschaft  ob- 
liegenden Schriftsteller,  ohne  gerade  in  der  Praxis  sehr  erfahren 
und  mit  vielfachen  Lebensanschauungen  ausgerüstet  zu  sein,  in 
Bezug  auf  allgemeine  wissenschaftliche  Bildung  den  Gelehrten  der 
Volkswirtschaft  nicht  entfernt  gewachsen  waren,  ihnen  deshalb  nicht 
nur  in  selbsteigner  Foi-schung  keinen  Widerstand  leisteten,  sondern 
namentlich  in  neuerer  Zeit,  aus  schwächlicher  Eitelkeit  vorzogen, 
als  Myriaden-Schriftsteller  im  Rose  her  sehen  Kometenschweife  zu 
erscheinen,  froh,  wenn  sie,  durch  die  der  herrschenden  Schulweis- 
heit dargebrachte  Huldigung,  sich  ernstere  Kritik  vom  Halse  hielten. 
Die  Handlungswissenschaft  sank  infolgedessen  immer  mehr  zur 
Buchhaltungs-,  Kontor-  und  Münz-,  Maß-  und  Gewichtskunde  herab." 

Es  ist  schade,  daß  dieser  zwar  etwas  übertriebenen,  aber  im 
Grunde  richtigen  Kritik  die  Höhe  des  in  Lindwurms  „Handels- 
betriebslehre" positiv  Geschaffenen  gar  nicht  entspricht.  Außer 
einer  hier  m.  E.  überflüssigen,  aber  nach  Lindwurms  Ansicht  sehr 
angebrachten  Handelsgeschichte  zerfällt  „Die  Handelsbetriebslehre" 
in  folgende  Kapitel:  der  Handelsgewinn  im  allgemeinen  (d.h.  der 
Anteil  des  Handels  am  Volkseinkommen) ;  der  Geschäftsgewinn  ins- 
besondere; die  Bereicherung;  die  privatwirtschaftlichen  Hülfsmittel 
des  Handels;  die  Ware;  die  Geschäftsführung  im  allgemeinen;  das 
überseeische  Geschäft;  der  Binnenhandel;  das  Kommissionsgeschäft; 
das  Unterhändlergeschäft;  das  Frachtgeschäft;  das  Bankgeschäft 
und  der  Buchhandel. 

Lindwurm  erklärt  die  Anpassung  des  Handels  wie  der  ein- 
zelnen Handelsunternehmungen  an  ihre  Mittelstellung  zwischen  an- 
deren Wirtschaftsarten  als  den  Haui)tgrundsatz  allen  Handels- 
betriebes. Er  nennt  den  Handel  die  berechnete  Orts-  und  Zeit- 
veränderung der  Waren ;  sein  regelmäßiger  Betrieb  bringe  sozusagen 
nur  den  bloßen  Arbeitslohn  für  den  Kaufmann  ein,  während  dem 
größeren   Gewinne    aus    dem    unregelmäßigen,    dem    Spekulations- 


—     127     — 

geschäfte,  auch  größere  Kapitaleinbußen  bez.  Gefahren  gegenüber- 
stünden. In  den  folgenden  Kapiteln,  die,  wie  schon  gezeigt,  über 
den  Umfang  des  bloßen  Warenhandels  hinausgehen,  aber  z.  B.  das 
Fabrikgeschäft  nicht  mit  einschließen,  bietet  Lindwurm  jedoch 
weniger  Forschungsergebnisse,  die  man  doch  wohl  hätte  erwarten 
dürfen,  als  allgemeine  Betrachtungen  und  Reflexionen  volles-  und 
privatwirtschaftlicher,  handelsgeschichtlicher  und  moralischer  Art, 
überhaupt  mehr  Reden  von  den  Gegenständen,  als  aus  ihnen  her- 
aus. Außerdem  krankt  das  ganze  Buch  an  dem  Bemühen,  eine 
nicht  einwandfreie,  nämlich  mehr  volks-  als  privatwirtschaftlich 
schmeckende  Werttheorie  in  den  Mittelpunkt  zu  stellen.  So  kommt 
der  Verfasser  denn  ebenso  wenig  zur  Darstellung  des  Tatsächlichen 
wie  zur  Gewinnung  von  Grundsätzen  und  Regeln.  Immerhin  wird 
manche  neuzeitliche  Frage  doch  wenigstens  angeschnitten,  so  die 
der  Surrogate,  der  Moden,  der  Angestellten  usw.  Beim  Buchhandel 
greift  Lindwurm  auf  Leuchs'  Grundsätze  zurück. 

Über  ihre  sachliche  Bedeutung  hinaus  hat  diese  Arbeit  Lind- 
wurms einen  geschichtlichen  Ruf  dadurch  erhalten,  daß  auf  sie 
der  neuere  Gebrauch  des  Wortes  Handelsbetriebslehre  zurückgeht ; 
R.  Ehrenberg  und  V.  Böhm  haben  es  in  den  1890er  Jahren 
bei  der  Erörterung  der  Handelshochschulfragen  wieder  aufleben 
lassen.  Lindwurm  selbst  wird  wohl  selbständig  auf  ihn  ge- 
kommen sein,  trotzdem  die  Nachbarschaft  von  Hildesheim  und  Braun- 
schweig, wo  Süpke  schon  1836,  wenn  auch  in  engerer  Bedeutung, 
diese  Bezeichnung  gebraucht  hatte,  auch  eine  Entlehnung  ver- 
muten lassen  könnte.  Nachweisen  ließe  sich  das  wohl  nicht 
mehr. 

Wie  Lindwurms  oft  dilettantenhaft  anmutende  Ausführungen 
wissenschaftlich  unzulänglich  blieben,  so  konnte  auch  die  „Praxis 
des  Geschäftslebens"  von  Th.  Piening,  Leipzig  1869  (eine  später 
auch  von  Böttger  und  Treiber  bearbeitete  Übersetzung  des 
„Practical  Treatise  on  Business"  des  Amerikaners  E.  T.  Freedley), 
der  Handelsbetriebslehre  nicht  auf  die  Beine  helfen,  und  zwar  weil  sie 
mehr  geschäftUche  Moral-  als  Betriebslehren  aufstellt.  So  hat  ,Jeder 
Mensch  das  Recht  und  zugleich  die  Pflicht^  so  viel  Geld  zu  erwerben, 
als  er  kann,  aber  in  steter  Übereinstimmung  mit  den  Gesetzen  des 
Landes,  der  Moral  und  der  Ehre" ;  es  werden  ferner  die  Geschäfts- 
lügen, der  Mißbrauch  des  Kredits  und  vieles  andere  als  unmoralisch 
erklärt,  aber  alle  diese  Erörterungen  berühren  eben  die  liandels- 
betriebslehre  doch  nur  an  ihrer  Peripherie,  indem  sie  vom  Stand- 
punkte der  Ethik  aus  geführt  werden. 


—     128     — 

Von  viel  größerem  Werte  für  die  Entvvickelung  unserer  Wissen- 
schaft hätte  dagegen  zu  einer  günstigeren  Zeit  als  der  damaligen 
die  „Allgemeine  Gewerkslehre"  von  A.  Emminghaus  sein  können, 
die  schon  etwas  vor  Lindwurms  „Mandelsbetriebslehre"  und 
Pienings  „Praxis"  1868  zu  Berlin  erschienen  war.  Emming- 
haus war  Professor  der  Wirtschaftslehre  am  Polytechnikum  zu 
Karlsruhe.  Wie  Lindwurm  ist  er  von  der  „Notwendigkeit  einer 
Gebietsteilung  zwischen  der  Allgemeinen  und  den  Privatwirtschafts- 
lehren"  überzeugt, 'die  beiden  Teilen  zugute  kommen  würde.  Sein 
eigener  Versuch  ist  eine  Betriebslehre  industrieller  Unternehmungen^ 
die  er  eben  als  Gewerkslehre  bezeichnet.  Er  gibt  ihr  im  Rahmen 
aller  Wirtschaftswissenschaften  eine  Stellung  nach  dem  ungefähren 
Schema  von  Rau,  das  oben  mitgeteilt  worden  ist.  Hier  ist  das 
seinige : 

Grundwissenschaft. 
Allgemeine  Wirtschaftslehre. 

(Volkswirtschaftslehre,  National-  oder  politische  Ökonomie.) 

Abgeleitete  Wissenschaften. 
Angewandte  Allgemeine  Wirtschaftslehren,  nämlich: 

Privatwirtschaftslehren  Staats  wirtschaftslehre 

, .    (Finanzvvissenschaft). 

Allgemeine  Hauswirtschaftslehre     Allgemeine  Gewerbslehren 

a)  AUg.  Landwirtschaftslehre 

b)  ,, .  Forstwirtschaftslehre 

c)  ,,  Bergbaulehre 

d)  ,,  Gewerkslehre 

e)  ,,  Handelslehre 

usw. 
„Eine   allgemeine   Gewerbslehre,"    sagt   Emminghaus   dazu, 
„wird  sich  zu  verbreiten  haben: 

L  über  das  Wesen,  die  wirtschaftliche  Bedeutung  und  die  Zwecke 
des  betreffenden  Gewerbes  oder  der  in  Betracht  zu  ziehenden 
Gruppe  von  Gewerben ; 

2.  über  das  Wesen,  die  Bedeutung,  die  Erwerbung  und  An- 
wendung der  Gewerbsmittel,  also  der  Arbeit  und  des  Kapitals 
innerhalb  des  fragl.  Gewerbes  oder  der  Gruppe  von  Gewerben; 

3.  über  das  Wesen,  die  Bedeutung  und  die  Benutzungsart  der 
dem  Gewerbe  oder  der  Gruppe  von  Gewerben  sich  darbieten- 
den unmittelbaren  oder  mittelbaren  Hilfsmittel; 

4.  über  die  innerhalb   des  betr.  Gewerbes  oder  der  Gruppe  von 


—     129     — 

Gewerben    möglichen    Betriebsmethoden    und    Betriebseinrich- 
tungen; 
5.  über    die   Mittel    zur  Prüfung    der    Betriebsresultate    und    die 
zweckmäßigste  Anwendungsart  dieser  Mittel." 
Der  Inhalt   der  „Allgemeinen  Gewerkslehre"  gliedert    sich    so- 
dann bei  Emminghaus  wie  folgt: 

I.  Einleitung:  Begriff,  Arten,  Stellung  der  Gewerke  zu  anderen 
Gewerben  und  Zweck  des  Gewerbsbetriebes  (er  liegt  „nicht  in  der 
Befriedigung  wirtschaftlicher  Bedürfnisse  des  Anderen,  sondern  in 
der  Beschaffung  von  Mitteln  zur  Befriedigung  seiner  [des  Unter- 
nehmers] eigenen  Bedürfnisse,  im  Verdienst,  im  Reingewinn,  in  der 
Vermehrung  und  Befestigung  seines  Vermögens") 

II.  Die  gewerkliche  Arbeit:  ihr  besonderer  Charakter,  die  Ar- 
beiten des  Unternehmers,  die  Erwerbung  der  Hilfskräfte,  die  Höhe 
des  Lohnes,  Kritik  der  Lohnzahlungsarten  (Natural-,  Zeit-,  Stück- 
und  Anteilslohn),  das  persönliche  Verhältnis  der  Unternehmer  zu 
den  Arbeitern  (Arbeitsvertrag,  Arbeitszeit,  Frauen-  und  Jugend- 
arbeit, Fürsorge,  Produktivgenossenschaften)  und  zu  den  Gehilfen, 
die  Arbeiterzahl. 

III.  Das  gew^erbliche  Kapital  im  allgemeinen:  Begriff  und  Um- 
fang, stehendes  und  umlaufendes  gewerkliches  Kapital,  Kapital- 
bedarfsermittelung, -Erwerb  und  -Anwendung  in  den  Gewerken, 
dann  im  einzelnen:  Grund  und  Boden,  Gebäude,  Roh-  und  Hilfs- 
stoffe, Geräte,  Werkzeug  und  Maschinen,  Geldkapital  einschl.  Ver- 
kauf der  Produkte  (jede  Kategorie  nach  Zweck,  Erwerb  und  An- 
wendung). 

IV.  Die  Hilfsmittel  der  Gewerke  und  ihre  Benutzung:  Wesen 
und  Arten;  unmittelbare  Hilfsmittel  (Fachschulen,  Fachliteratur 
Gewerbevereine,  Gewerbekammern,  Industriebörsen, Gewerbebanken 
Märkte  und  Messen,  Ausstellungen),  mittelbare  (Transport-,  Kredit-, 
Versicherungsanstalten,  Reklame  u.  ä.)- 

V.  Die  Wahl  der  Betriebsart  und  -Einrichtung:  Allgemeines, 
Klein-  und  Großbetrieb,  Verlags-  und  Fabrikbetrieb,  Einzel-  und 
Gesellschaftsbetrieb. 

VI.  Die  gewerkliche  Buchführung. 

Diese  Arbeit,  deren  Spuren  damals  leider  niemand  gefolgt, 
ist,  ist  unzweifelhaft  die  am  meisten  abgerundete  und  ergebnis- 
reichste unter  den  kaufmännischen  Erwerbslehren  der  1860er 
Jahre.  Einen  großen  Anteil  an  dieser  Höhe  des  Buches  hat 
seine  w-eise  Beschränkung  auf  eine  ganz  bestimmte  Gewerbegruppe, 
zu    der    sich    unsere    neuesten  Werke    leider    nicht    immer    haben 

Zeitschrift  für  die  ges.  Staatswissensch.   Ergänzungsheft  49.  9 


—     130     — 

entschließen  können.  Es  sind  in  ilini  die  Ergebnisse  der  volks- 
wirtschaftlichen Untersuchungen  seiner  Zeit  aufs  glücklichste  mit 
den  eigenen  privatwirtschaftlichen  Überlegungen  und  Feststellungen 
verknüpft  worden,  ohne  daß  seine  privatwirtschaftliche  Eigenart 
dadurch  verwässert  worden  wäre.  Insbesondere  ist  Emniinghaus 
trotz  der  hohen  sozialen  Auffassung,  die  z.  B.  seine  Ausführungen 
zur  Arbeiterfrage  in  der  Unternehmung  bekunden,  nicht  in  den 
Fehler  verfallen,  hier  von  dem  Unternehmer  die  völlige  Unter- 
ordnung seiner  geschäftlichen  Interessen  zu  fordern. 

„Der  Gewerktreibende  hat  als  Mensch  höhere  Aufgaben  als 
die  des  Vermögenserwerbs ,  für  ihn  als  Gewerktreibenden  aber  ist 
dieser  seine  eigentliche,  wahre  und  höchste  Aufgabe  .  .  .  ein  Ge- 
werbe treibt  man,  ein  Mittel  zum  Erwerben  also  wendet  man  an 
nicht  um  höherer  Zwecke,  sondern  um  des  Erwerbens  willen." 

„Es  liegt  gewiß  in  der  Aufgabe  der  Wissenschaft,  welche  ein 
System  von  Regeln  aufzustellen  hat  für  den  rationellen  Betrieb  der 
Gewerke,  auch  auf  die  besonderen  Gelegenheiten  zu  segensreichem 
Einwirken  auf  die  Umgebung  hinzuweisen,  welche  sich  dem  Ge- 
werksmann  in  allen  Zweigen  des  gewerklichen  Berufslebens  dar- 
bieten. Aber  es  ist  hier  zugleich  unerläßlich,  bei  der  wissenschaft- 
lichen Feststellung  des  Zweckes  des  Gewerksbetriebes  den  privat- 
wirtschaftlichen Gesichtspunkt  nicht  aus  den  Augen  zu  lassen  und 
sich  vor  verwirrenden  Eingriffen  in  andere  Gebiete  zu  hüten.  So 
bestimmt  muß  hier  jener  Gesichtspunkt  im  Auge  behalten  werden, 
daß  man  sich  selbst  für  inkompetent  erklären  muß,  über  Unter- 
nehmungen abzusprechen,  welche  mit  ihren  Erzeugnissen  geschickt 
auf  die  Torheiten  und  Schwächen  der  Zeit  spekulieren,  ja  über 
solche  selbst,  deren  Erzeugnisse  .  .  .  offenbar  und,  ohne  daß  der 
Unternehmer  darüber  im  Unklaren  sein  kann,  in  der  hergebrachten 
Anwendungsform  unsägliches  Unheil  stiften.  Die  Gewerkslehre  muß 
es  anderen  Forschungen  überlassen,  die  Grenze  zwischen  der  sitt- 
lich erlaubten  und  unerlaubten  Spekulation  .  .  .  festzustellen  und 
den  einzelnen  Fall  auf  seine  Verwerflichkeit  zu  prüfen.  Sie  hat  von 
ihrem  Standpunkt  aus  die  Grundsätze  des  rationellen  Betriebes, 
soweit  sie  aus  den  Gesetzen  des  Wirtschaftslebens  sich  ergeben, 
festzustellen;  von  ihrem  Standpunkt  aus  ist  jeder  Betrieb  rationell, 
der  im  einzelnen  Falle  die  Erreichung  des  Zieles  am  meisten  sichert. 
Daß  sie  nur  den  redlichen  wirtschaftlichen  Erwerb  in  ihren  Gesichts- 
kreis zieht,  bedarf  der  Erwähnung  kaum." 

Ein   paar   Sätze    aus    den   Untersuchungen    des  Werkes   selber 
mögen  in  dessen  Ergebnisse  Einblick  gewähren.    Die  verschiedenen 


—     131     -^ 

Wege,  den  Reinertrag  zu  erhöhen,  werden   in  folgenden  Formeln 
ausgedrückt: 

„Man  kann  den  Reinertrag  erhöhen,  indem  man 

1.  den  Rohertrag  vergrößert  und  die  Auslagen  vermindert; 

2.  den  Rohertrag  vergrößert,  während  die  Auslagen  gleichbleiben; 

3.  den  Rohertrag   und    die  Auslagen  vergrößert,  aber  den  Roh- 
ertrag in  stärkerem  Verhältnisse; 

4.  den  Rohertrag  erhält,  aber  die  Auslagen  vermindert; 

5.  den  Rohertrag  und  die  Auslagen  vermindert,  aber  die  letzteren 
in  stärkerem  Verhältnisse." 

Aus  der  Erörterung  der  Lohnfragen: 

„Eine  rechtzeitige  freiwillige  Lohnerhöhung  ist  für  beide  Teile 
vorteilhafter,  als  eine  verspätete  notgedrungene." 

„Wer  nach  der  Arbeitszeit  lohnt,  wo  nach  der  Arbeitsleistung 
gelohnt  werden  könnte,  belohnt  Trägheit  und  Ungeschicklichkeit 
gleich  hoch  wie  Fleiß  und  Geschick  .  .  .  (die  Stücklohnung)  ist 
durchführbar  bei  allen  Arbeiten,  welche  sich  in  deutlich  unterschie- 
dene und  selbständige  Leistungseinheiten  teilen  lassen." 

„Der  Grundsatz  der  Zentralisation  überträgt  sich  auch  auf  das 
Verhältnis  des  Unternehmers  zu  den  Gehilfen  in  der  Leitung  .  .  . 
Die  Monarchie  ist  die  ausschließlich  berechtigte  Verfassungsform  in 
gewerklichen  Unternehmungen  .  .  .  (der  Unternehmer)  muß  jeden 
selbständig  machen  in  der  Exekutive;  aber  die  Legislative  muß  in 
seiner  Hand  ruhen." 

Aus   der  Erörterung   der  Kapitalfragen   und  der  Selbstkosten: 

„Bei  einem  neu  zu  eröffnenden  Betriebe  ist  als  Erfordernis  für 
das  erste  Rechnungsjahr  zu  betrachten:  der  ganze  Bedarf  für  An- 
schaffung und  ein  Teil  des  Jahreszinses  und  des  Abnutzes  des 
stehenden  Kapitals;  von  dem  Bedarf  an  umlaufendem  Kapital  aber 
derjenige  Teil,  den  man  nicht  schon  im  Rechnungsjahre  selbst  durch 
den  Verkauf  der  Erzeugnisse  ersetzt  zu  erhalten  hoffen  darf." 

„Prima -Qualitäten  in  Rohstoffen  und  Hilfstoffen  kaufen  heißt, 
an  Rohstoffen  und  Hilfstoffen  sparen." 

„Geboten  ist  (die  Selbstherstellung  von  Geräten  usw.)  da,  wo 
die  fraglichen  Gegenstände  dem  individuellen  gewerklichen  Bedarfe 
so  angepaßt  sein  müssen,  daß  nur  der  Unternehmer  selbst  sie  dem 
Zwecke  entsprechend  herstellen  oder  unter  seiner  unmittelbaren  Lei- 
tung entsprechend  herstellen  lassen  kann  .  .  .  Nicht  eben  geboten, 
aber  doch  zweckmäßig  ist  es,  (diejenigen  selbst  zu  erzeugen,)  welche 
massenhaft  gebraucht  werden,  sich  sehr  rasch  abnutzen,  immer  von 
neuem    vorgerichtet   werden   müssen   und   keine   besondere    Kunst- 


—     132     — 

fertigkeit  bei  der  Herstellung  erfordern  .  .  .  Unbedingt  zu  wider- 
raten ist  die  Selbsterzeugung  .  .  .,  wo  dieselbe  eine  von  der  eigent- 
lichen Hauptleistung  des  Unternehmers  ganz  verschiedenartige  Tätig- 
keit erfordern,  wo  sie  die  eigentliche  Haupttätigkeit  ungebührlich 
unterbrechen,  die  Kräfte  zersplittern  würde." 

„Stets  und  unter  allen  Umständen  ist  es  verkehrt,  von  der 
Einführung  und  Anwendung  sogenannter  arbeitsparender  Maschinen 
abzusehen  mit  Rücksicht  darauf,  daß  eine  .  .  .  Zahl  von  . .  .  Arbeitern 
dadurch  beschäftigungslos  werden  könnte  ...  In  der  Tat  vereinigt 
sich  das  Gewinnstreben  des  Unternehmers  mit  allen  wahren  Hu- 
manitätsrücksichten." 

Über  den  Verkauf,  den  Emminghaus  seiner  Einteilung  zu- 
liebe mit  unter  dem  (Geld-)Kapitalerwerb  behandelt,  und  über  die 
Reklame : 

„Außer  zu  Reklamezwecken  in  Ausnahmefällen  wird  der  Ge- 
werksunternehmer  nie  die  Konkurrenz  auf  Kosten  seines  ganzen 
Reingewinns  unterbieten  dürfen  .  .  .  Unter  keinen  Umständen  mag 
man  sich  verleiten  lassen,  an  der  Qualität  des  Erzeugnisses,  anstatt 
am  Preise  zu  verdienen  .  .  .  Auch  in  einer  konkurrenzlosen  Lage 
mag  man  darauf  verzichten,  durch  Überforderung  immer  mehr  zu 
gewinnen  ..." 

„Das  erste  Erfordernis  einer  wirksamen  Reklame  ist,  daf3  sie 
auf  Menschenkenntnis  beruhe,  daß  sie  Eindruck  mache."  In  der 
Regel  hat  „auch  die  geschicktest  gefaßte  Anzeige  erst  bei  konse- 
quenter .  .  .  Wiederholung  Erfolg  .  .  .  Vor  Großsprecherei,  vor  über- 
triebener Anpreisung,  überhaupt  vor  unwürdiger  Behandlung  des 
Reklame  Wesens  sollte  man  sich  ernstlich  hüten." 

Schließlich  noch  über  ein  paar  Organisationsfragen: 

„Gleich  rationellen  und  gleich  schwungvollen  Betrieb  voraus- 
gesetzt, muß  (beim  Großbetrieb)  die  Rente  verhältnismäßig  größer 
sein  als  (beim  Kleinbetrieb)."  „Wo  die  Fabrik  und  die  Manufaktur 
(lies:  der  Verlag)  unter  sonst  gleichen  Bedingungen  mit  einander  wett- 
eifern, da  .  .  .  kann  die  Wahl  vorteilhaft  nur  zugunsten  des  fabri- 
kativen  Betriebes  entschieden  werden."  „Der  Gesellschaftsbetrieb 
hat  vor  dem  Einzelbetrieb  an  persönlichen  Annehmlichkeiten  und 
—  gleiche  Kapitalkräfte  hier  w'ie  dort  vorausgesetzt  —  auch  an 
wirtschafdichen  Vorteilen  durchaus  nichts  voraus." 

Das  mag  an  Stichproben  genügen,  um  einigermaßen  die  Art, 
die  Neuzeitlichkeit  und  die  Brauchbarkeit  der  erzielten  Ergebnisse 
und  daneben  das  Hineinspielen  der  volkswirtschaftlichen  Lehrsätze 
zu  kennzeichnen.    Es  scheint,  als  wenn  Emminghaus' Werk  auch 


—     133     — 

Anregungen  von  einem  etwas  älteren  französischen  des  J.  C.  Co ur- 
<:elle-Seneuil  empfangen  hätte,  das  unter  dem  Titel  „Theorie  und 
Praxis  des  Geschäftsbetriebs  in  Ackerbau,  Gewerbe  und  Handel", 
■deutsch  von  G.  A.  Eberbach  und  mit  einem  Geleitwort  von 
F.  v.  Steinbeis,  Stuttgart  1868,  in  unserer  Sprache  bekannt  wurde. 
Dieses  will  die  „bescheidene  Aufgabe"  lösen,  die  großen  Umrisse 
der  Volkswirtschaftslehre  „im  Kleinen  durchzuarbeiten  und  die 
Wechselbeziehungen  des  großen  Verkehrs  zu  dem  Geschäfts-  und 
Lebenskreise  des  Einzelnen  näher  darzulegen.  Die  Verschmelzung 
dieser  volkswirtschaftlichen  Grundsätze  mit  den  Erfahrungen  er- 
probter Geschäftsleute  .  .  .  kann  sicherlich  den  Vorwurf  zu  einem 
nützlichen  Buche  liefern,  in  welchem  die  Regeln  des  Geschäftslebens 
ihre  Begründung,  Bestärkung  und  Klärung  durch  die  Wissenschaft 
erhalten,  und  in  welchem  diejenigen,  welche  ein  selbständiges  Ge- 
schäft treiben  oder  beginnen  wollen,  die  leitenden  Grundsätze  und 
eine  Richtschnur  für  ihren  Geschäftsbetrieb  und  das  Verkehrsleben 
finden  mögen." 

Courcelle-Seneuil  hat  also  nicht  den  Ehrgeiz,  eine  besondere 
Erwerbslehre  einzuführen,  und  da  er  auch  gleich  drei  Erwerbsgruppen 
in  einem  zu  erfassen  sucht,  so  sind  seine  Ausführungen  und  Ergeb- 
nisse vielfach  zu  allgemein  und  gerade  praktisch,  wie  er  es  doch 
gewünscht  hatte,  nicht  von  der  Brauchbarkeit,  wie  es  diejenigen 
von  Emminghaus  in  ihrer  spezielleren  Fassung  sind.  Er  geht 
von  einer  Formel  aus,  nach  der,  ähnlich  wie  bei  Emminghaus, 
es  darauf  ankommen  muß,  den  Reingewinn  durch  eine  größtmög- 
liche Steigerung  des  Unterschiedes  zwischen  dem  Rohertrag  und 
den  Kosten  zu  erzielen  und  zu  erhöhen ;  die  übrigen  Kapitel  weisen 
dann  den  Vorteil  des  Unternehmers  mehr  im  einzelnen  nach.  Dies 
ist  die  Einteilung  des  Werkes: 

1.  Das  Geschäft  nach  seinen  inneren  Beziehungen:  Zweck, 
Grundzüge  und  allgemeine  Regeln,  persönliche  Arbeit  des  Geschäfts- 
herrn, Kapitalverwendung,  Kreditverwendung,  Verwertung  der  be- 
zahlten  Arbeit,    Gesellschaftsvertrag   und  Gesellschaften  überhaupt. 

2.  Das  Geschäft  nach  seinen  äußeren  Beziehungen:  der  Tausch- 
verkehr und  seine  Gesetze,  Warenabsatz,  Handelskrisen,  Spekulation, 
Selbstkosten  und  Reingewinn,  Grundzüge  der  Buchführung. 

3.  Der  eigentliche  Geschäftsbetrieb:  innere  Einrichtung  und 
äußere  Grenzen  des  Betriebes,  die  Handelsgeschäfte  (Einteilung, 
Großhandel,  Kleinhandel,  Übervorteilungen,  Ein-  und  Verkaufskunst, 
Mittelspersonen  im  Handelsverkehr),  gewerbliche  Unternehmungen 
(Übersicht  und  Einteilung,  große  und  mittlere  Gewerbe,  Kleingewerbe, 


—     134     — 

Ausbeutung  der  Natur  und  Frachtgeschäft),  landwirtschaftliche  Unter- 
nehmungen, Verhalten  in  Streitfällen  einschließlich  der  Fallimente, 
Geschäftsgründungen. 

4.  Allgemeine  Fragen  aus  dem  Geschäftsleben:  Erziehung  und 
Ausbildung,  Verschwendung,  Wrhältnis  des  Geschäftsmannes  zum 
Arbeiter  und  Kapitalisten,  die  Konkurrenz,  Urteile  über  Geschäfte 
und  Geschäftsleute,  der  Geschäftsgeist. 

Mit  den  Arbeiten  von  Lindwurm,  Emminghaus  und  Cour- 
celle-Seneuil  sind  diejenigen  Handelsbetriebslehren,  die  auf  volks- 
wirtschaftliche Anregungen  hin  und  als  Reaktion  auf  die  Einseitig- 
keit der  Volkswirtschaftslehre  entstanden  sind,  erschöpft.  Von  da 
an  ist  letztere  auf  diesem  Gebiete  ganz  unfruchtbar.  Daß  aus  diesen 
drei  Arbeiten  die  Handelslehre  der  Handelsschulen  nicht  viel  schöpfen 
konnte,  auch  wenn  sie  mehr,  als  es  der  Fall  gewesen  ist,  bekannt 
geworden  wären,  leuchtet  ein:  gerade  die  beste,  die  von  Emming- 
haus, ist  zu  spezieller,  auf  den  Fabrikbetrieb  gerichteter  Natur,  und 
aus  den  beiden  anderen  war  privatwirtschaftlich  nicht  genug  zu 
holen,  denn  sie  waren  selber  ziemlich  stark  in  der  volkswirtschaft- 
lichen Betrachtungsweise  befangen.  Nach  diesen  wenigen  Anläufen 
blieb  den  kaufmännischen  Erwerbslehren  gegenüber  wieder  alles  so 
kühl  wie  zuvor,  und  es  kam  lange  Zeit  niemandem  mehr  in  den 
Sinn,  welche  zu  schreiben. 


IV. 
Anhang. 

A.  Die  Entstehung  der  neueren  Handelsbetriebslehre. 

Schon  Marperger  und  Ludovici  forderten,  freilich  vergeb- 
lich, handelswissenschaftliche  Lehrstühle  an  Universitäten.  Die  For- 
derung besonderer  Handelshochschulen  ist  dagegen  erst  ein  Kind 
des  19.  Jahrhunderts.  Lindwurm  war  es,  der  sie  zuerst  für  not- 
wendig hielt,  um  die  Handelsbetriebslehre  zu  entwickeln  und  zu 
pflegen;  die  übrigen  Hochschulen  hatten  ja  auch  darin  versagt. 
Aber  seine  Rufe  und  die  anderer  nach  Handelshochschulen  ver- 
hallten ungehört.  Die  kaufmännische  Praxis  verhielt  sich,  wie  immer, 
durchweg  kühl  oder  gar  scharf  ablehnend.  Auch  aus  den  mittleren 
Handelsschulen  heraus  wollten  sich  keine  Ansätze  zur  Hinaufent- 
wickelung  zeigen;  das  kaufmännische  Schulwesen  lag  lange  Zeit 
in  fast  hoffnungsloser  Erstarrung. 

Und  doch  war  es  schließlich  dessen  letzter  Zweig,  die  kauf- 
männische Fortbildungsschule,  deren  Bedürfnisse  zur  Errichtung  von 
Handelshochschulen  und  zu  einer  neuen  Blüte  der  Handelsbetriebs- 
lehre, der  privatwirtschaftlichen  Forschung  überhaupt,  geführt  haben. 
Seit  1890  etwa  wuchs  das  kaufmännische  Fortbildungsschulwesen 
an  Umfang  und  Bedeutung  durch  die  ausgedehnte  Einführung  des 
Schulzwanges  für  die  Handlungslehrlinge,  und  zugleich  wollten  die 
Lehrlingsschulen  an  innerem  Werte  durch  eine  Umgestaltung  des 
Unterrichts,  vor  allem  durch  eine  stärkere  Betonung  der  Handels- 
fächer, gewinnen.  Damit  war  jedoch  die  Frage  der  Handelslehrer- 
beschaffung und  -Ausbildung  brennend  geworden,  eine  Frage,  die 
offenbar  nur  durch  die  Schaffung  eines  akademischen  Bildungs- 
ganges befriedigend  gelöst  werden  konnte.  Sie  traf  sich  mit  der 
Frage  der  Handelshochschulbildung  für  Kaufleute  selber,  die  all- 
mählich fühlbarer  geworden  war,  und  so  kam  es  denn  schon  bald, 
1898,  in  Leipzig  zu  der  ersten  deutschen  Handelshochschulgründung, 
der  dann  noch  mehrere  andere  folgten. 

Die  genannten  Schulfragen,  die  Handelshochschulfrage  einge- 
geschlossen,   hatten  vor  allem   durch   den  1895/96   ins  Leben  ge- 


—     136     — 

rufencn  Deutschen  \'erband  für  das  Kaufmännische  Unterrichts- 
wesen, der  von  Anfang  an  unter  der  Leitung  des  Braunschweiger 
Handelskammersyndikus  Dr.  R.  Stegemann  gestanden  hat,  die 
tatkräftigste  Förderung  erfahren.  U.  a.  hatte  R.  Ehrenberg  im 
Auftrage  des  Verbandes  eine  Umfrage  über  die  Stellung  der  be- 
teiligten Kreise  zur  Handelshochschule  veranstaltet'),  in  der  bereits 
die  Frage  der  Handelsbetriebslehre  —  diese  Bezeichnung  wurde  so- 
gleich gewählt  —  als  Hochschul  fach  angeschnitten  wurde,  und,  an- 
geregt durch  diese  Umfrage,  brachte  der  Nationalökonom  V.  Böh- 
mert  zum  Leipziger  Verbandskongreß  von  1897  eine  Denkschrift 2) 
heraus ,  in  der  unter  Hinweis  auf  einige  historische  Bestrebungen 
in  der  Handelshochschulfrage  auch  die  Handelsbetriebslehre  fauf 
der  Grundlage  des  von  Lindwurm  und  Emminghaus  Geschaf- 
fenen) eingehender  besprochen  und  dringend  der  Beachtung  emp- 
fohlen wurde.  Außerdem  befürwortete  er  eine  Handelsmorallehre 
neben  der  Handelsbetriebslehre. 

Aber  die  privatwirtschaftliche  Forschung  und  das  System  der 
Handelsbetriebslehre,  das  die  übrigen  kaufmännischen  Unterrichts- 
anstalten von  der  Handelshochschule  erwarteten,  blieben  zunächst 
noch  problematisch,  ließen  sich  naturgemäß  auch  nicht  übers  Knie 
brechen.  Aber  deswegen  ruhten  diese  Fragen  doch  nicht.  Das 
beweist  ein  Preisausschreiben  des  D.  \\  f.  d.  K.  U. ,  das  folgenden 
Wortlaut  hatte: 

„Wie  ist  die  Handelsbetriebslehre  (die  Lehre  von  der  Einrich- 
tung und  Führung  eines  Handelsgesch-äfts)  zur  selbständigen  Be- 
deutung zu  erheben  und  in  die  natürliche  Verbindung  mit  den 
übrigen  kaufmännischen  Unterrichtsfächern  zu  bringen  ? 

Wie  ist  der  Lehrstoff  einzuteilen,  und  welche  Methode  erweist 
sich  als  besonders  zweckmäßig?" 

Aus  dieser  Frageverknüpfung  geht  die  Ungeduld  in  den  Handels- 
schulkreisen hervor,  die  teilweise  schon  jetzt  im  Sinne  der  zu  er- 
wartenden neuen  Lehre  bemüht  waren,  den  Schülern  den  betriebs- 
mäßigen Zusammenhang  geschäftlicher  Tatsachen  zielbewußter  und 
eingehender  als  bisher  zum  Verständnis  zu  bringen'').  Das  Ergebnis 
des  Ausschreibens  war  nun  in  den  Hauptbeziehungen  negativ,  indem 
nur    eine    der   beiden   Antworten    darauf   zur   Veröffentlichung   an- 


1)  Ehrenberg,    Handelshochschulen,    I  und  II,   Bd.  3  u.  4    der   Veröff,    des 
D,  V.  f.  d.  K.  U. 

2)  Böhmert,  Handelshochschulen,  Dresden  1S9T, 

3)  Durch  die  sog.  Konzentration  des  Fachunterrichts  an  Stelle    der   allmählich 
zu  scharf  ausgeprägten  Auflösung  in  Einzelfächer. 


—     137     — 

genommen  werden  konnte  und  auch  diese  nur  zu  der  Feststellung 
gelangte,  daß  es  nicht  auf  die  Schaffung  einer  Handelsbetriebslehre 
(d.  h.  einer  Privatwirtschaftslehre  der  reinen  Handelsunternehmungen, 
anders  könne  sie  nicht  aufgefaßt  werden)  allein  ankomme,  sondern 
auf  den  Ausbau  einer  weit  umfassenderen  Einzelwirtschaftslehre. 
Diese  Arbeit  ist  von  L.  Gomberg  und  ist  unter  dem  Titel  „Handels- 
betriebslehre und  Einzelwirtschaftslehre "  als  26.  Band  der  Verbands- 
veröffentlichungen 1903  erschienen.  Sie  bildet  den  Auftakt  zu  den 
jetzt  immer  zahlreicheren  Arbeiten  nicht  nur  zur  Handelsbetriebs- 
lehre im  engeren  Sinne,  sondern  zu  der  privatwirtschaftlichen 
Forschung  unserer  Tage  überhaupt.  Der  Anteil  der  Volkswirt- 
schaftslehre an  ihr  geht  wohl  zur  Hauptsache  auf  Ehrenbergs 
Bestrebungen  zurück,  den  wir  schon  um  die  Gründung  unserer 
ersten  Handelshochschulen  bemüht  sahen.  Es  ergibt  sich  somit 
die  eigentümliche  Tatsache,  daß  letzten  Endes  die  Bedürfnisse  der 
so  lange  vernachlässigten  Handelsschulen  untersten  Grades,  nämlich 
der  kaufmännischen  Fortbildungsschulen,  auf  dem  Wege  über  den 
Deutschen  Verband  für  das  kaufmännische  Unterrichtswesen  und 
der  ihm  nahestehenden  Kreise  unsere  moderne  Privatwirtschafts- 
forschung ausgelöst  haben. 

Nach  Gomberg  sind  die  Wirtschaftswissenschaften  in  eine  all- 
gemeine Wirtschaftslehre  und  in  die  ihr  nachgeordneten,  unter  sich 
aber  gleichwertigen  Wissenschaften  der  Volkswirtschaftslehre  und 
der  Einzelwirtschaftslehre  einzuteilen.  Die  letztere  hat  es  nicht  nur 
mit  den  einzelnen  Privat-,  sondern  auch  mit  den  einzelnen  Gemein- 
wirtschaften (als  solchen,  wie  als  Konkurrenten  jener)  zu  tun.  Sie 
zerfällt  in  die  Lehren  einer  Reihe  von  Sondergebieten,  deren  eine 
die  Handelsbetriebslehre  als  Lehre  vom  Betriebe  der  reinen  Handels- 
unternehmungen ist.  Sie  soll  „die  Grundsätze  der  rationellen  Or- 
ganisation und  Verwaltung  der  Handelsunternehmungen  lehren", 
soll  forschend  sowohl  als  kunstlehrend  sein.  Im  allgemeinen  hat 
sie  nach  G.,  wie  die  ganze  Einzelwirtschaftslehre,  mit  der  Volks- 
wirtschaftslehre nichts  zu  tun.  Indem  er  aber  die  Möglichkeit  einer 
Handelskunde  neben  der  Handelsbetriebslehre  zugibt,  und  indem  er 
in  der  Handelslehre  oder  Handelswissenschaft  eine  sowohl  volks- 
als  einzelwirtschaftliche  Disziplin  als  denkbar  anerkennt,  räumt  er 
doch  auch  wieder  ein,  daß  die  Volkswirtschaftslehre  und  die  Einzel- 
wirtschaftslehre nach  der  Natur  ihrer  Forschungsgebiete  nicht  gar 
zu  scharf  getrennt  werden  können. 

Es  ist  immer  gewagt,  im  voraus  bestimmen  zu  wollen,  wie 
sich  eine  Wissenschaft  einmal  gliedern  und  aufbauen  soll.     In  der 


—     138    — 

Tat  sind  denn  auch  die  späteren  Arbeiten  andere  Wege  gegangen 
und  haben  besonders  nicht  Gombergs  „Schema  einer  Einzelwirt- 
schaltslehre",  in  dem  übrigens  die  private  Verbrauchswirtschaft 
übersehen  worden  ist,  akzeptiert.  Vor  allem  ist  aber  in  der  Lite- 
ratur bisher  noch  niemand  an  die  Einzehvirtschaftslehre  als  Ganzes 
herangetreten;  von  dem  Plane  einer  „Verrechnungswissenschaft", 
ihrem  dritten  Teile  (nach  der  Wirtschaftskunde  und  Wirtschafts- 
betriebslehre), dem  Gomberg  später  noch  ein  umfangreiches  Werk 
für  sich  gewidmet  hat'),  gilt  dasselbe.  Letztere  steht  und  fällt  mit 
der  Behauptung,  daß  die  „Schätzungs-  oder  Taxationslehre "  ihr 
Hauptteil  ist.  Ich  halte  sie  jedoch  für  einen  Bestandteil  der  Spe- 
kulations-,  also  der  Betriebslehre  selber.  Außerdem  möchte  ich  der 
Abzweigung  und  Verteidigung  dieser  „Wissenschaft"  gegenüber 
auf  die  schon  oben  beiLeuchs  zitierten  Worte  Raus -j  noch  ein- 
mal hinweisen,  die  dieser  gegen  die  Konstruktion  einer  besonderen 
Staalshandlungsvvissenschaft  gerichtet  hat; 

„Man  muß  gestehen,"  so  sagt  er,  „daß  die  Deutschen  ein 
wenig  zu  geneigt  sind,  neue  Wissenschaften  aufzustellen.  Es  ist 
durchaus  verwirrend,  wenn  man  schon  jede  zusammenhängende 
Bearbeitung  eines  Gegenstandes,  der  sonst  in  dem  Gebiet  mehrerer 
W^issenschaften  zerstreut  vorkommt,  als  eine  eigene  Wissenschaft 
gelten  lassen  will,  denn  solcher  Kombinationen  und  Zusammen- 
stellungen muß  es  eine  unendliche  Menge  geben.  Die  Verbindung 
mehrerer  Gesichtspunkte  behält  ihr  Nützliches,  wenn  man  auch  sich 
bewußt  bleibt,  daß  sie  nicht  ein  organisches  Ganze  ist  und  auf  keinen 
Gesamtnainen  Anspruch  hat." 

Diese  Worte  mögen  auch  gegenüber  übertriebenen  Absonde- 
rungsbestrebungen der  Privat-  von  der  Volkswirtschaftslehre  gelten 
und  natürlich  vor  allem  gegen  eine  zu  starke  Isolierung  von  Teil- 
gebieten im  Rahmen  dieser  Hauptfächer. 

B.  Ihre  Hauptwerke. 

Nachdem  seit  Gomberg  die  ganze  Frage  der  Handelsbetriebs- 
lebre  wenigstens  äußerlich  ein  paar  Jahre  geruht  hatte.^),  sind  nun 

1)  Gomberg,  Grundlegung  der  Verrechnungswissenschaft,  Leipzig  1907. 

2)  In  seinem  mehrfach  genannten  Artikel  bei  Ersch  und  Gruber. 

3)  Ich  sehe  dabei  von  der  weniger  auffallenden,  aber  für  die  ganze  Entwicke- 
lung  des  neuen  Zeitalters  der  Handelsbetriebslehre  sehr  wichtigen  Gründung  unserer 
beiden  rein  handelswissenschaftlichen  Zeitschriften  ab;  seit  1906  gibt  E.  Schmalen- 
bach  in  Köln  die  „Zeitschrift  für  handelswissenschaftliche  Forschung"  heraus  und 
seit    1908    erscheint    (von    mehreren)    die    „Zeitschrift    für    Handelswissenschaft    und 


I 


—     139     — 

in  den  letzten  Jahren  nicht  weniger  als  vier  bedeutendere  Veröffent- 
lichungen dazu  erfolgt,  nämlich  das  „System  der  Welthandelslehre" 
von  J.  Hellauer,  Berlin  1910,  die  „Allgemeine  Handelsbetriebs- 
lehre"  von  J.  F.  Schär,  Berlin  1911,  die  „Grundlegung  und  Syste- 
matik einer  wissenschaftlichen  Privatwirtschaftslehre"  von  M.  Weyer- 
mann  und  H.  Schönitz,  Karlsruhe  1912,  und  schließlich  noch  die 
„Allgemeine  kaufmännische  Betriebslehre  als  Privatwirtschaftslehre 
des  Handels  (und  der  Industrie)"   von  H.  Nicklisch,  Leipzig  1912. 

Hell  au  er  s  Werk  stellt  einen  Höhepunkt  in  der  Entwickelung 
der  privatwirtschaftlich  gerichteten  Handelskunde  da,  die  vor  allem 
in  Österreich  seit  R.  Sonndorf  ers  „Technik  des  Welthandels,  ein 
Handbuch  der  Internationalen  Handelskunde",  Wien  1889,  gepflegt 
worden  ist.  Arbeiten  dieser  Art,  noch  dazu  in  so  fleißiger  Durch- 
führung, sind  für  die  wissenschaftliche  Entwickelung  der  Handels- 
fächer ebenso  notwendig  wie  förderlich.  Für  die  Handelsbetriebs- 
lehre im  besonderen  bedeutet  eine  Handelskunde  so,  wie  sie  Hel- 
lauer auffaßt,  eine  willkommene  Entlastung  dadurch,  daß  sie  ein 
nach  der  Volkswirtschaftslehre  hinüberneigendes  Grenzgebiet  privat- 
wirtschaftlich behandelt.  Die  in  diesem  Buche  positiv  geleistete 
Arbeit  der  Sammlung,  Sichtung  und  Gliederung  und  systematischen 
Darstellung  des  Stoffes,  den  ich  bisher  hauptsächlich  als  handels- 
kundlich  bezeichnet  habe,  ist  sein  großes  Hauptverdienst.  Daneben 
ist  es  erfreulich,  wie  scharf  in  ihm  betont  wird,  daß  nur  der  Stand- 
punkt „der  einzelnen  Wirtschaftseinheit"  für  die  „Welthandelslehre" 
maßgebend  zu  sein  hat,  nachdem  fast  alle  bisherigen  Versuche, 
die  Handelskunde  wissenschaftHch  zu  gestalten,  daran  gescheitert 
sind,  „daß  die  betreffenden  Autoren  sich  auf  das  Gebiet  der  Volks- 
wirtschaftslehre verloren  haben"'.  Auch  die  Notwendigkeit  der 
Arbeitsteilung  auf  dem  Gebiete  der  Handelswissenschaft  unterstreicht 
Hellauer  mit  vollem  Recht. 

Dem  Wunsche  Heilau  ers,  die  „Welthandelslehre"  als  „selbst- 
ständige, besondere  Wissenschaft"  anerkannt  zu  sehen,  kann  man 
die  oben  zitierten  Worte  Raus  entgegenhalten.  Auch  seine  Glie- 
derung des  Gesamtgebietes  der  Handelswissenschaften  ^)  ist  anfecht- 
bar und  zwar  dadurch,  daß  er  die  „Kontorlehre"  (Sammelbegriff 
für  Buchhaltungslehre,  Korrespondenz  und  kaufmännisches  Rechnen) 


Handelspraxis".  Auch  von  den  zahlreichen  Spezialarbeiten  in  Buchform,  die  seit 
einigen  Jahren  zur  Handelsbetriebslehre  erschienen  sind,  muß  in  diesem  Anhang 
abgesehen  werden. 

1)  Schon  in  seinem  „Versuch  einer  Gliederung  der  Handelswissenschaften  als 
Hochschuldisziplinen"   Z.  f.  d.  g,  kfm.  U.  X,  Nr.  8,  aufgestellt. 


—      140     — 

mit  der  „Lehre  von  der  Betriebsorganisation"  (^  I  landelsbetriebs- 
lehre)  zu  einer  der  „I  landelsichre"  'Sammelbegriff  der  einzelnen 
llandelskundcn)  gegenüberstehenden  „kaufmännischen  Betriebslehre" 
zusammenfaßt.  Die  Kontorlehre,  also  die  technischen  Fächer,  sollten 
m.  E.  ganz  für  sich  bleiben.  Diese  i\usstellungen  sind  jedoch  so 
geringfügig,  daß  man  trotz  ihrer  der  Vollendung  des  vorliegenden 
ersten  Teiles  der  „Allgemeinen  Welthandelslehre"  und  der  weiter  in 
Aussicht  stehenden  „Speziellen"  mit  Vergnügen  entgegensehen  darf. 

Weniger  glücklich,  als  diese  erste  durch  die  jüngste  Entvvicke- 
lung  getragene  wissenschaftliche  Handelskunde  war  die  aus  der- 
selben heraus  entstandene  erste  systematische  Handelsbetriebslehre, 
die  von  Schär.  Zunächst  liegt  freilich  auch  hiervon  nur  ein  Teil 
vor,  nämlich  das  erste  Stück  einer  ..Allgemeinen  Handelsbetriebs- 
lehre". In  ihm  soll  gezeigt  werden,  wie  die  allgemeinen  Betriebs- 
grundsätzc  aus  einem  vorangestellten  Handelsbegriff  abzuleiten  sind, 
und  „wie  sich  der  Handelsbetrieb  unter  dem  Einfluß  der  Entwicke- 
lungstendenzen  des  Wirtschaftslebens  gestaltet".  Ein  schon  ange- 
kündigter zweiter  Teil  soll  sodann  die  einzelnen  Betriebsfaktoren 
und  die  Hauptbetriebsformen  usw.  behandeln. 

Mit  seinem  grundlegenden  Handelsbegriff  bekennt  sich  Schär 
zu  Voraussetzungen  seiner  Arbeit,  die  durchaus  fehlerhaft  sind. 
Er  will  „den  Handel  von  dem  Makel  der  Gewinnsucht  reinigen,  zu 
einem  nützlichen  Glied  im  wirtschaftlichen  Organismus  ausgestalten, 
ihn  ethisch  vertiefen  bezw.  auf  den  Weg  von  Treu  und  Glauben 
lenken,"  weil  „das  privatwirtschaftliche  Motiv  des  Handels  und  das 
volkswirtschaftliche  sich  nicht  widersprechen,  sondern  geradezu  zu- 
sammenlaufen," und  weil  es  dem  einzelnen  Träger  des  Handels 
„nur  in  dem  Maße  dauernd  gelingen  wird,  den  von  ihm  gesetzten 
privaten  Zweck  dauernd  zu  erreichen,  als  er  sich  dem  volkswirt- 
schaftlichen Prinzip  unterordnet,  bezw.  im  Wirtschaftsorganismus 
nützliche  und  notwendige  Arbeit  verrichtet."  Darum  fordert  Schär 
auch,  daß  die  Lehrsätze  der  Handelsbetriebslehre  „mit  denen  der 
Volkswirtschaftslehre    nicht   in  Widerspruch    geraten   dürfen"    usw. 

Eine  Verteidigung  des  Handels  (lies:  der  kaufmännischen  Er- 
werbstätigkeit) gegen  die  damit  bekundeten  ^Anschauungen  ist  nicht 
meine  Sache.  Aber  gegen  die  Verwässerung  der  Privatwirtschafts- 
lehre mit  ethischen  Werturteilen  und  gegen  ihre  bedingungslose 
Abhängigmachung  von  der  Volkswirtschaftslehre  muß  doch  der 
schärfste  Widerspruch  erhoben  werden,  noch  dazu,  wenn  sie,  wie 
eben  bei  Schär,  hauptsächlich  als  bloße  Kunstlehre  aufgefaßt  wird, 
die    die   Aufgabe   hat,    „Anleitung   zu   geben,    wie    man    ein    kauf- 


—     141     — 

männisches  Geschäft  einrichten  und  führen  muß".  Mit  diesem 
Widerspruch  haben  wir  nicht  nur  das  Zeugnis  und  die  Meinung 
von  Ludovici,  Leuchs  und  anderen  älteren  Schriftstellern  auf 
unserer  Seite,  sondern  auch  die  klaren  Äußerungen  von  R  a  u , 
Emminghaus  und  zuletzt  noch  Heilauer  und  Nicklisch,  die 
alle  eine  Wirtschaftslehre  mit  dem  Mittelpunkt  des  rein  privaten 
Gewinnstrebens  für  notwendig  und  möglich  halten.  Ich  sehe  dabei 
ganz  ab  von  den  Wissenschaftlern,  die  den  Privatwirtschaftslehren 
nur  gelegentlich  ein  Wort  gewidmet  haben  oder  die,  wie  Lind- 
wurm, keinen  ungeteilten  Beifall  für  ihr  Schaffen  finden  konnten. 

Es  ist  doch  wohl  so,  daß  die  Wirtschaftswissenschaften  und 
zwar  sowohl  die  Privat-  wie  die  Volkswirtschaftslehre,  zunächst 
gar  keine  Kunstlehren,  sondern  untersuchende  und  darstellende,  ab- 
strahierende und  systematisierende  Wissenschaften  zu  sein  haben, 
auf  denen  sich  erst  ihre  Kunstlehren  aufbauen.  Zu  dem  Zwecke 
aber  müssen  sie  die  Dinge  erst  einmal  so  sehen,  wie  sie  wirklich 
sind,  und  der  Blick  des  Forschers  darf  dabei  keinesfalls  durch 
ethische  Werturteile  und  vorgefaßte  Meinungen  getrübt  werden.  Die 
wirtschaftswissenschaftliche  Arbeit  darf  nur  wirtschaftswissenscliaft- 
liche  Wege  gehen  und  ebensolche  Ziele  haben.  In  der  Volkswirt- 
schaftslehre ist  der  Endzweck  zunächst  die  Feststellung  des  Allge- 
meingültigen der  volkswirtschaftlichen  Massen-  und  Verkehrserschei- 
nungen, in  der  Privatwirtschaftslehre  dagegen  desjenigen  der  privaten 
Erwerbs-  und  Haushaltungsmaßnahmen.  Dann  trennen  sich  die 
bis  dahin  ähnlichen  Wege  beider  Fächer  sehr  scharf,  weil  sich  die 
volkswirtschaftliche  Kunstlehre,  das  ist  die  Volkswirtschaftspolitik, 
nach  den  Erfordernissen  des  Gemeinwohls,  also  sehr  wesentlich 
nach  sittlichen  Grundsätzen  zu  richten  hat,  während  z.  B.  für  die 
kaufmännischen  Erwerbslehren  nur  die  eine  Frage  in  Betracht 
kommt,  wie  unter  den  gegebenen  wirtschaftlichen  Verhältnissen  mit 
den  vorhandenen  Mitteln  dauernd  der  höchstmögliche  Reingewinn 
hereingebracht  werden  kann. 

Andere  als  wirtschaftliche  Überlegungen  können  gar  nicht  zu 
den  Aufgaben  der  Privatwirtschaftslehren  gehören ;  will  man  auf 
sie  nicht  verzichten,  dann  mag  man  sie  in  einen  Anhang  verweisen. 
Eine  Handelsbetriebslehre  braucht  nicht  zugleich  eine  Wirtschafts- 
und eine  Morallehre  zu  sein,  und  es  ist  geradezu  eine  ihrer  be- 
rechtigten Eigentümlichkeiten,  in  der  „Gewinnsucht"  des  Kaufmanns 
keinen  „Makel"  zu  erblicken.  Der  individuelle  Gewinnzweck  ist 
nicht  neben-,  sondern  hauptsächlicher  Natur  in  ihr.  Die  Handels- 
betriebslehre hat  nur  die  wirtschaftliche  Vollkommenheit,  nicht  auch 


—     142     — 

die  volkswirtschaftliche  Berechtigung  von  kautinännischen  Betrieben 
zu  untersuchen;  denn  sie  ist  eben  nicht  so  sehr  ein  Teil  der  Volks- 
wirtschaftslehre, wie  Schär  meint,  als  vielmehr  ihre  Ergänzung, 
die  zu  ganz  eigentümlichen,  nicht  von  jener  erst  diktierten  Lei- 
stungen berufen  ist.  Wenn  es  anders  wäre,  Ijrauchte  man  sie  ja 
auch  gar  nicht. 

Übrigens  hat  Schär  in  dem  Teile  seiner  Handelsbetriebslehre, 
der  bisher  vorliegt,  nicht  den  Beweis  für  die  Notwendigkeit  seines 
vorweg  konstruierten  Handelsbegriffes  erbracht;    denn    er    hat    die 
große  Menge  seiner  für  den  weiteren  Ausbau  der  Handelsbetriebs- 
lehre  tatsächlich    brauchbaren  Feststellungen   entweder  ganz  ohne 
dessen  Zuhilfenahme  gewonnen,    oder  er   hätte  sie   doch  ohne  ihn 
ebenso  gut  gewinnen  können.    So  kommt  er  jedoch  unnötig  oft  in 
das  Fahrwasser   der  Volkswirtschaftslehre   oder   bleibt    in    handels- 
kundlichen  Stoffen  stecken,  die  von  Hei  lau  er  schon  vorher  in  an- 
derer Weise,  aber  glücklicher  behandelt  sind.    Übrigens  ist  Schars 
Arbeit  auch  gar  keine  Kunstlehre,  wie  man  nach  seinen  Erklärungen 
erwarten  müßte,  sondern  hauptsächlich  eine  untersuchende  und  syste- 
matisch darstellende  Arbeit,  was  sie  ja  auch  im  Grunde  sein  sollte. 
Schars  Arbeit  hätte  weniger  Widerspruch  zu  begegnen  brauchen, 
wenn  er   den  Begriff  „Handel"  etwa   auf   den  Umfang  des  Waren- 
handels  beschränkt   hätte.     Was   Heilauer    von    einer    alles    um- 
fassenden Handelslehre  sagt,  nämlich  daß  sie  ein  „Monstrum  ohne 
innerliches  systematisches  Gefüge"   bleiben  müßte,    das  dürfte  auch 
von  einer  Handelsbetriebslehre  gelten,   -die    die  Warenhandlungen, 
Fabriken,  Banken,  Versicherungen,  Transportanstalten  usw.  usw.  auf 
einmal  umfassen  will.     Indem  sich  Schär  in  dieser  Beziehung  zu- 
viel auf  einmal  vornimmt,  ist  er  nicht  nur  leichter  der  Versuchung 
unterlegen,    den   Abstand   von    der  Volkswirtschaftslehre    nicht  ge- 
nügend zu  wahren,  sondern  er  hat  damit  auch  auf  speziellere  und 
damit  praktisch  brauchbarere  Ergebnisse  verzichten  müssen.     Eine 
Arbeitszerlegung,    nach  der  jeder  Mitarbeiter  in  einem  Ausschnitte 
in   den   aufzuarbeitenden   Stoff    einzudringen    sucht,    unbekümmert 
darum,   ob   später  einmal   eine  einzige   Betriebslehre   aus   den  ein- 
zelnen Ergebnissen  zusammengeschweißt  werden   kann,    ist  für  un- 
sere Forschungen  heute  noch  das  erste  ökonomische  Gebot. 

Schär  hat  auch  eine  weitgehende  Gliederung  des  Gebietes  der 
gesamten  Handelswissenschaften  vorgenommen  i),  auf  deren  Be- 
sprechung hier  aber  ebenso  wie  auf  die  von  Weyermann-Schö- 

1)  Zuerst  dem  Danziger  Kongreß  des  D.  V.  f.  d.  K.  U.  vorgelegt  und  dann  der 
„Allgemeinen  Handelsbetriebslehre"  vorangestellt. 


—     143     — 

nitz  verzichtet  werden  kann.  Die  letztgenannten  Verfasser  be- 
mühen sich  um  die  Handelsbetriebslehre  (mit  dem  von  ihnen  ge- 
brauchten Ausdruck  „Privatwirtschaftslehre"  müßten  sie  von  Rechts 
wegen  die  Haushaltungen  ein-  und  die  Staatsbetriebe  ausschließen) 
etwa  so,  wie  seinerzeit  Gomberg  in  seinen  genannten  Werken 
um  die  „Verrechnungswissenschaft"  und  „ Einzelwirtschaftslehre ", 
indem  sie  eben  nur  eine  Grundlegung  und  Systematik  liefern 
wollen.  Abgesehen  davon,  daß  sie  bis  zu  diesem  selbst  ge- 
steckten Ziele  gar  nicht  einmal  vordringen,  wandeln  sie  leider 
auch,  wenngleich  weniger  scharf  ausgesprochen,  in  den  Bahnen 
Schars,  indem  sie  die  Privatwirtschaftslehre  als  einen  Teil  der 
Volkswirtschaftslehre  auffassen  und  damit  auch  in  jener  gewisse 
volkswirtschaftlich-politische,  also  nicht  hineingehörende  Forderungen 
berücksichtigt  wissen  wollen.  Zwar  unterscheiden  sie  die  beiden 
Seiten  der  wissenschaftlichen  Arbeit,  nämlich  die  des  Untersuchens 
und  systematischen  Darstellens  von  der  erst  aus  diesen  Ergebnissen 
abgeleiteten  Aufstellung  von  Kunstlehren,  aber  über  Gomberg  und 
Schär  führen  sie  im  allgemeinen  nicht  hinaus. 

Wie  bei  Gomberg,  so  muß  man  auch  hier  bedauern,  daß 
statt  der  Erörterungen,  wie  eine  noch  nicht  vorhandene  Wissen- 
schaft gestaltet  werden  könnte,  nicht  kurzerhand  eine  praktische 
Ausführung  erfolgte.  Hoffentlich  holen  die  Verfasser  das  noch  nach, 
aber  ohne  auf  die  Abwege  Schars  zu  geraten. 

Nun  das  Buch  von  Nick  lisch.  Es  beginnt  mit  einigen  syste- 
matologi'chen  Erörterungen  und  kommt  zu  folgender  Übersicht  der 
„  Privatwirtschaftswissenschaft"  : 

Privatwiitschaftswissenschaft 


Privatwirtschaftslehre  Privatwirtschaftspolitik    Privatwirtschafts- 

(streng  wissenschaftl.   Disziplin)  (Kunstlehre)  geschichte 

Handelslehre  Kaufm.  Betriebslehre     Verkehrs-    Betriebs- 

(Tatsachen  usw.  (Tatsachen  usw.  technik         technik 

zwischen  den  innerhalb  des 

einzelnen  Wirtschaften)  Betriebes  derEinzelwirtschaft) 

Wie  bei  Weyerm  ann-Schönitz  wird  auch  hier  das  Stoff- 
gebiet enger  gefaßt,  als  der  Name  „Privatwirtschaft"  besagt.  Offen- 
bar sollen  nur  die  Unternehmungen  in  dem  mitgeteilten  Schema 
gemeint  sein.  Ebenso  dürfte  die  „ Privatwirtschaftslehre "  hier  nur 
der  Sammelname  für  ihre  Unterabteilungen  der  „Handelslehre"  und 
„kaufmännischen  Betriebslehre"  sein  sollen,  erstere  dabei  wohl  im 
Sinne  He  Hauers,  letztere  dagegen  mit  der  Privat  Wirtschaftspolitik 
zusammen  als  unsere  Handelsbetriebslehre  aufgefaßt. 


—     144     — 

Währnul  licl  lauer  m.  K.  mit  Kccht  für  eine  schärfere  Spe- 
zialisierun«,'  nach  Stoffgebieten  eintritt,  scheint  Nick  lisch  darin 
nicht  so  weit  gehen  zu  wollen.  So  soll  sich  —  und  das  ist  eine 
Annäherung  an  Schär  —  auch  bei  ihm  die  Privatwirtschaftslehre 
des  Handels  nicht  auf  diejenigen  Wirtschaften  beschränken,  die 
ausschließlich  oder  überwiegend  Handel  treiben,  „sondern  es  sollen 
alle  Wirtschaften  getroffen  sein,  die  überhaupt  Handel  treiben  und 
soweit  sie  es  tun,  ob  ausschließlich  oder  nebenher,  ob  regelmäßig- 
oder  ausnahmsweise".  Ich  sollte  meinen,  daß  wohl  Hell  au  er  in 
seiner  „Welthandelslehre "  die  gesamte  Warenhandelstätigkeit  er- 
fassen mußte,  daß  sich  aber  eine  analoge  Handelsbetriebslehre  so 
ähnlich  wie  die  Schär  sehe  wiederum  eine  zu  große,  heute  wenig- 
stens noch  zu  große  Aufgabe  stellt.  Eine  besondere  Fabrik-  und 
eine  besondere  Bankbetriebslehre  neben  der  Warenhandelsbetriebs- 
lehre ist  nicht  nur  leichter,  sondern  auch  mit  mehr  positivem  Nutzen 
für  Wissenschaft  und  Praxis  zu  schreiben.  Wenn  bei  Nick  lisch 
die  Mängel  der  Gesamtbehandlung  allerdings  nicht  gar  zu  stark 
zu  Tage  treten,  so  liegt  das  wohl  daran,  daß  er  die  Betriebsstatistik^ 
also  ein  überall  ziemlich  gleichartiges  Moment,  ganz  besonders  be- 
rücksichtigt und,  wo  die  Zusammenfassung  zu  keinen  lohnenden 
Ergebnissen  führen  würde,  die  Besonderheiten  der  einzelnen  Unter- 
nehmungsgruppen mit  Recht  auch  je  für  sich  erörtert. 

Der  vorliegende  Teil  der  Nick  lisch  sehen  Gesamtarbeit  be- 
handelt nur  die  „Organisation  des  Vermögens"  der  Unternehmungen, 
während  „von  den  Kräften"  in  eineru  späteren  Bande  gehandelt 
werden  soll.  Die  jenem  Teile  entsprechende  Privatwirtschaftspolitik 
oder  -Kunstlehre  wird  häufig  mit  eingeflochten,  da  nach  des  Ver- 
fassers Meinung  eine  Trennung  bei  dem  heutigen  Stande  noch  nicht 
möglich  ist.  Ich  glaube,  letztere  ist  auch  gar  nicht  so  nötig,  wie 
wir  ja  auch  an  den  entsprechenden  Teilen  der  speziellen  Volkswirt- 
schaftslehre die  jeweils  anschließende  Erörterung  der  politischen 
Maßnahmen  gewöhnt  sind  ^).  Leider  ist  bei  Nicklisch  die  Kunst- 
lehre noch  nicht  so  ausgearbeitet,  wie  die  systematischen  Darstel- 
lungen selber,  die  allerdings  hier  und  da  auch  teils  etwas  zu  eilig, 
teils  reichlich  abstrakt  geschrieben  sind. 

Nichtsdestoweniger  ist  das  Buch  unzweifelhaft  ein  großer  Fort- 
schritt gegenüber  dem  von  Schär.  Die  präzise  Schreibart  und  die 
ausgiebige   Verwendung   von    betriebsstatistischen    Untersuchungen 

1)  Schon  Sa  Vary  und  Ludovici  haben  uns  gezeigt,  daß  sich  die  Darstellung 
des  Tatsächlichen  mit  der  Empfehlung  des  Wünschenswerten  und  Nötigen  sehr  gut 
verknüpfen  läßt. 


—     145     — 

beweisen  das  schon  äußerlich.  Es  kommt  hinzu,  daß  Nicklisch 
es  ablehnt,  volkswirtschafdiche  Betrachtungen  anzustellen,  und  natür- 
lich auch  nicht  daran  denkt,  die  Praxis  Moral  zu  lehren.  Bei  Schär 
zu  weite  Fassung  des  Begriffes  Handel,  Befangenheit  in  der  An- 
schauung, daß  die  Triebfeder  des  Handels  eine  tadelnswerte  „Ge- 
winnsucht" sei,  die  wissenschaftlich  unbeachtet  bleiben  oder  ausge- 
merzt werden  müsse,  und  zu  viel  bloß  handelskundliche  Theorien 
—  bei  Nicklisch  dagegen  auch  wohl  ein  noch  zu  weitgefaßtes, 
aber  doch  schon  etwas  eingeschränktes  Stoffgebiet,  Vermeidung 
aller  anderen  Gesichtspunkte  als  des  des  kaufmännischen  Gewinn- 
strebens :  das  sind  etwa  die  Hauptmerkmale,  nach  denen  mir  scheint, 
daß  die  Zukunft  nur  dem  von  Nicklisch  eingeschlagenen  Wege 
recht  geben  wird.  Außerdem  deutet  der  unbestrittene,  große  Erfolg 
der  Hellauerschen  Arbeit  und  der  unter  Schmalenbach  ent- 
standenen oder  von  ihm  herausgegebenen  Einzeluntersuchungen  in 
dieselbe  Richtung,  und  unsere  alten  Freunde  Savary,  Ludovici, 
Leuchs  und  Emminghaus,  um  nur  die  bedeutendsten  Autoren 
zu  nennen,  stimmen  uns  ebenfalls  zu. 

C.  Schlußwort. 

Es  ist  gewüß  nicht  zu  befürchten,  daß  die  heutige  Handels- 
betriebslehre das  Schicksal  der  alten  Handlungswissenschaft  er- 
leiden wird.  Vielmehr  als  früher  sind  es  jetzt  die  Kaufleute  selber» 
die  in  wachsendem  Maße  kaufmännischen  Betriebslehren  das  Wort 
reden,  indem  sie  zum  mindesten  ein  bewußt  systematisches  und  wohl- 
organisiertes Handeln  und  Verfahren  in  allen  praktischen  Verhält- 
nissen für  notwendig  halten  und  mehr  und  mehr  für  große  Unter- 
nehmungsleiter auch  eine  hochschulmäßige  Ausbildung  außer  der 
Praxis  verlangen.  Und  mit  der  Praxis  drängt  auch  die  Handels- 
schule auf  diesem  Wege  voran. 

Außerdem  ist  es  der  iungen  und  doch  in  ihren  Anfängen  so 
außerordentlich  weit  zurückreichenden  Handelsbetriebslehre  sehr 
förderlich,  daß  die  Volkswirtschaftler  ihrer  Entwickelung  durchweg 
freundlich  gegenüberstehen.  Insoweit  sie  ihr  gegenüber  noch  eine 
abwartende  und  kritische  Haltung  einnehmen,  kann  das  für  ihre 
Jünger  nur  ein  Ansporn  zu  erhöhten  Leistungen  sein  und  ferner 
eine  Warnung  vor  Übertreibungen  (wie  in  den  Abgrenzungsfragen) 
und  vor  Abirrungen  von  dem  Wege,  auf  dem  allein  sie  zu  eigentüm- 
lichen Leistungen  gelangen  kann  (ich  verweise  auf  die  Verwechse- 
lung ihrer  Ziele  mit  denen  der  Volkswirtschaftslehre  und  der  Moral- 
lehre). 

Zeitschrift  für  die  ges.  Staatswissensch.   Ergänzungsheft  49.  10 


—     146     — 

Die  Handelshochschullehrer  selber  und  überhaupt  der  große 
Kreis  der  heute  handelsliterarisch  Tätigen,  dem  die  wissenschaft- 
liche Vertiefung  der  Mandelswisscnschaft  obliegt,  lassen  es  ja  an 
Ernst  und  Eifer  in  keiner  Beziehung  fehlen,  so  daß  die  Zeit  nicht 
mehr  fern  zu  sein  scheint,  wo  ihr  die  volle  Anerkennung  als  not- 
wendiger und  nützlicher  Zweig  der  Wirtschaftswissenschaften  zuteil 
wird,  und  wo  die  gegenseitige  Befruchtung  von  Handelsbetriebslehre 
und  kaufmännischer  Praxis  ebenso  selbstverständlich  geworden  ist, 
wie  heute  schon  das  Hand-in-Hand-Arbeiten  der  Landwirtschaft  und 
der  Technik  mit  ihren  Wissenschaften.  Auf  den  Weg  zu  solchen 
Zielen  möchte  ich  der  Handelsbetriebslehre  diese  Geschichte  ihrer 
bisherigen  Literatur  mitgegeben  haben. 


)m7 


Inhalt. 

Seite 

Einleitung 1 

I.  Vorläufer  der  systematischen  Versuche. 

A.  Allgemeines 4 

B.  Italienische  Arbeiten  bis  Ende  des   17.  Jahrhunderts 6 

C.  „Le  parfait  negociant"   des  J.  Savary 12 

D.  Die  deutsche  Fachliteratur  bis  zum  ausgehenden   17.  Jahrhundert      ,  23 

E.  Paul  Jakob  Marperger  und  seine  Zeitgenossen 36 

II.  Systematische  Versuche  unter  der  Kameralwissenschatt. 

Ai  Kameralistische  Anfänge  der  Privatwirtschaftslehre 46 

B.  Das   „Kaufmanns-System"    des    C.  G.  Ludovici    und  seine   „Anfangs- 
gründe der  Handlungswissenschaft" 52 

C.  Der  „Versuch"   von  J.  K.  May 67 

D.  Das  „Lehrbuch"  von  J.  H.  Jung 72 

E.  Das  „System  des  Handels"  von  J.  M.  Leuchs 75 

F.  Sonstige  Arbeiten  von  Ludovici  bis  auf  Leuchs 94 

III.  Die  Verflachung  der  Handlungsvvissenschaft  zur  Handelslehre. 

Ä.  Ihre  Ursachen      ,     .     , 111 

B.  Die  Entstehung  der  Handelslehre  seit  J.  G.  Busch .  116 

C.  Vereinzelte  Handelsbetriebslehren  um  die  Mitte  des  19.  Jahrhunderts  123 

IV.  Anhang. 

A.  Die  Entstehung  der  neueren  Handelsbetriebslehre .  135 

B.  Ihre  Hauptwerke 138 

C.  Schlußwort 145 


10^ 


IM^ 


/^  ZEITSCHRIFT 

FÜR  DIE  GESAMTE 

STAATSWISSENSCHAFT 

In  Verbindung  mit 

Oberbürgermeister  a.  D.  Dr  F.  ADICKES  in  Frankfurt  a.  M.,  Prof.  Dr  G.  COHN  in 
Göttingen,  Ober-Verw.-Ger.-Rat  Prof.  Dr  F.  v.  MARTITZ  in  Berlin,  Kaiserl. 
Unterstaatssekretär  z.  D.  Prof.  Dr  G.  v.  MAYR  in  München,  Prof.  Dr  A.  VOIGT 
in  Frankfurt  a.  M.,  Wirkl.  Geh.  Rat  Prof.  Dr  A.  WAGNER,  Exz.,  in  Berlin, 
Dr  Freiherr  v.  WEICHS  Ministerialrat  am  k.  k.  Handelsministerium  in  Wien 

HERAUSGEGEBEN     " 

VON 

Dr  K.  BÜCHER, 

o.  Professor  an  der  Universität  Leipzig. 


Ergänzungsheft   L. 
Konzentration  der  Güterschiffahrt  auf  der  Elbe. 

Von 

Dr.    Erich  Pleißner. 

Mit   5  Diagrammen  im  Text. 


TÜBINGEN 

VERLAG  DER  H.  LAUPP'SCHEN  BUCHHANDLUNG 

1914. 


Konzentration 

der  Güterschiffahrt 

auf  der  Elbe. 


Von 


Dr.  Erich  Pleißner. 


Mit  5  Diagrammen  im  Text. 


TÜBINGEN 
VERLAG  DER  H.  LAUPP'SCHEN  BUCHHANDLUNG 

1914. 


.^/ 


ALLE  RECHTE  VORBEHALTEN. 


DRUCK  VON  H.  LAUPP  JR  IN  TÜBINGEN. 


V 


Inhalts-Uebersicht. 

Seite 

Einleitung i 

I.  Abschnitt:  Der  Güterverkehr  auf  der  Elbe  als  Gegen- 
stand der  Organisation. 

1.  Kapitel:  Umfang  und  Entwicklung  des  Frachtverkehrs  auf 

der  Elbe 5 

2.  Kapitel:  Entwicklung  der  Eibflotte 27 

II.  Abschnitt:  Organisation  der  Einzelunternehmungen. 

1.  Kapitel:  Wesen  der  gewerblichen  Einzelunternehmung     .  40 

2.  Kapitel:  Die  Kleinschiffahrt 43 

i)  Das  Wesen  des  Kleinbetriebes 43 

2)  Umfang  und  Entwicklung  des  Kleinbetriebes 48 

3)  Wirtschaftliche  Lage  und  Stellung  des  Kleinbetriebes  in  der 
Gesamtschiffahrt cg 

3.  Kapitel:  Die  Großschiffahrt 87 

i)  Wesen  und  Umfang  des  Großbetriebes 87 

2)  Entwicklung  der  einzelnen  Großbetriebe 91 

a)  Prager  Dampf-  und   Segelschiffahrtsgesellschaft     ....  91 

b)  Vereinigte  Hamburg-Magdeburger  Dampfschiffahrts-Komp.  92 

c)  Neue  Norddeutsche  Flußdampfschififahrtsgesellschaft      .     .  97 

d)  Elbschiffahrts-Gesellschaft 99 

e)  »Kette«,  Deutsche  Kettenschleppschiffahrts-Gesellschaft    .  100 

f)  Oesterreichische     Nord-West-Dampfschiffahrts-Gesellschaft  113 

g)  Vereinigte  Elbschiffahrts-Gesellschaft en        122 

h)  Deutsch-Oesterreichische  Dampfschiffahrtsgesellschaft  .     .  132 

i)   »Elbe«,  Dampfschiffahrts-Aktiengesellschaft 134 

k)  Neue  Deutsch-Böhmische  Dampfschiffahrtsgesellschaft        .  136 

3)  Zusammenfassende  und   vergleichende  Darstellung  der  Groß- 

schiffahrtsbetricbe 137 

Zeitschrift  für  die  ges.  Staatswissensch.     Ergänzungsheft  50. 


—     VI     — 

Seite 

III.  Abschnitt:     Die    wirtschaftlichen     Vereinigungen     und 
Kartelle  in  der  Eibschiffahrt. 

1.  Kapitel:    Die    wirtschaftlichen  Vereinigungen    der    Klein- 

schiffahrt        «47 

i)  Entwicklung  des  Verbandsgedankens  bis  zum  Jahre    1903     .  147 

2)  Die   >Privatschiffer-Transport-Genossenschaft< 158 

2.  Kapitel:  Die  Kartellbestrebungen  in  der  Großschiffahrt  .  166 

i)  Wesen  der  Karlelle '66 

2)  Die  Karlelle  bis  zum  Jahre    1903 169 

3.  Kapitel:  Betriebskonzentration  der  Klein-  und  Großschiff- 

fahrt seit   1903 '85 


I     — 


Einleitung. 


Seit  etwa  40  Jahren  spielt  sich  in  dem  SchilTahrtsgewerbe  auf 
der  Elbe  ein  Vorgang  von  großer  dramatischer  Lebendigkeit  ab, 
bei  dem  die  beiden  Hauptentwicklungsrichtungen  unseres  heutigen 
Wirtschaftslebens :  Entwicklung  zur  kapitalistischen  Betriebsform 
und  zur  Betriebskonzentration  in  interessanter  Weise  miteinander 
verbunden  sind. 

Denn  einmal  vollzieht  sich  in  der  Eibschiffahrt  heute  vor 
unseren  Augen  die  Umbildung  vom  handwerklichen  Kleinbetrieb 
zur  kapitalistischen  Unternehmungsform.  Andererseits  aber  ist  ein 
starkes,  aus  wirtschaftlicher  Notwendigkeit  herausgeborenes  Be- 
streben vorhanden,  die  große  Zahl  von  Einzelbetrieben  zu  einer 
Einheit  zusammenzufassen.  Diese  beiden  Entwicklungstendenzen, 
die  Neigung  zur  Aenderung  nicht  nur  der  Form,  sondern  gleich- 
zeitig auch  der  Zahl  der  Betriebe,  die  auf  den  meisten  anderen 
Gebieten  des  Wirtschaftslebens  nach  einander  aufgetreten  sind, 
fallen  in  der  Eibschiffahrt  in  einen  Zeitabschnitt  zusammen  und 
erzeugen  dadurch  eigenartige  volkswirtschaftliche  Erscheinungen. 
So  ist  z.  B.  die  Konzentrationsbewegung  hier  gezwungen,  einer- 
seits etwa  5 — 6  Großunternehmungen  zu  einer  Annäherung  und 
möglichst  engen  Vereinigung  zu  veranlassen,  andererseits  fällt  ihr 
die  schwierige  Aufgabe  zu,  weit  über  1000  kleine  Einzelunter- 
nehmungen, die  zum  Leben  zu  schwach,  zum  Sterben  aber  noch 
zu  gesund  sind,  unter  sich  einheitlich  zusammenzufassen,  um  sie 
dann  als  ein  geschlossenes  Ganzes  an  die  Vereinigung  der  Groß- 
unternehmungen anzugliedern.  Es  gehen  also  zwei  Konzentrations- 
bewegungen, eine  kleinbetriebliche  und  eine  großbetriebliche, 
selbständig  nebeneinander  her,  die  ihrerseits  wieder  ein  gemein- 
sames Zusammenarbeiten  erstreben. 

Zweck  der  vorliegenden  Arbeit  soll  sein,  diese  Entwicklung 
mit  ihrer  reichen  Vielgestaltigkeit  und  gesunden  Lebenskraft,  mit 

Zeitschrift  für  die  ges.  Staatswissensch.     Ergänzungsheft  50.  I 


ihrer  reichen  Fülle  an  interessanten  Problemen  und  wechselvollen 
Erfolgen  in  ihren  einzelnen  Stufen  zu  schildern. 

Vorauszuschicken  sind  einige  allgemeine  Bemerkungen  über 
die  örtliche  Abgrenzung  des  Klbgebietes,  wie  es  die  Grundlage 
der  vorliegenden  Untersuchung  bilden  soll.  Die  Eibschiffahrt  ist 
in  der  Praxis  nicht  ganz  scharf  zu  umgrenzen,  denn  der  Strom 
hat  zahlreiche  schiffbare  Nebenflüsse  und  ist  durch  Kanäle  viel- 
fach mit  anderen,  vor  allem  den  östlichen  Wasserstraßen  ver- 
bunden. Mit  diesen  unterhält  sie  einen  sehr  regen  wechsel- 
seitigen Verkehr :  ein  großer  Teil  der  Güter,  die  auf  der  Elbe 
schwimmen,  benutzt  zu  Anfang  oder  am  Ende  seiner  Reisen 
andere  deutsche  Wasserstraßen ;  zahlreiche  Schiffe,  die  auf  der 
Elbe  den  Verkehr  vermitteln,  betreiben  die  Schiffahrt  auch  auf 
anderen  Gewässern  oder  sind  an  anderen  Wasserstraßen  be- 
heimatet. Es  muß  deshalb  betont  werden,  daß  eine  absolut 
genaue,  zahlenmäßige,  wirtschaftliche  Erfassung  des  reinen,  aus- 
schließlichen Eibverkehres  nach  seiner  Art  und  Organisation  un- 
möglich ist. 

Die  natürlichen  Nebenflüsse  der  Elbe,  von  denen  außer  der 
Havel,  die  gleich  zu  erwähnen  sein  wird,  nur  die  ^Moldau  und 
die  Saale  in  Betracht  kommen,  stören  das  wahre  Bild  kaum,  weil 
ihre  Schiffahrt  bei  der  verhältnismäßigen  Kürze  und  wirtschaft- 
lichen Unselbständigkeit  der  beiden  letzteren  Flüsse  nur  so- 
weit Bedeutung  hat,  als  sie  auch  die  Elbe  berührt;  deshalb  sind 
ihr  Verkehr  und  die  Zahl  ihrer  Schiffe  und  Schiffahrtsbetriebe 
ohne  Bedenken  denen  der  Elbe  zuzuzählen. 

Sehr  störend  dagegen  für  das  Bild  der  reinen  Eibschiffahrt 
sind  die  märkischen  Wasserstraßen  einschließlich  der  Havel.  Sie 
weisen  als  Zufahrtswege  zu  der  Millionenstadt  Berlin  einen  sehr 
regen  Verkehr  auf,  der  bei  Beginn  oder  am  Ende  der  Fahrt  die 
Elbe  benutzt;  weiter  besitzen  sie  an  ihren  Ufern  eine  bedeu- 
tende Zahl  von  Schiffahrtsunternehmungen,  die  fast  alle  auch 
auf  der  Elbe  mehr  oder  weniger  regelmäßig  fahren.  Hier  also 
läßt  sich  eine  feste  Grenze  nicht  ziehen,  zumal  auch  nicht  etwa 
das  den  Verbindungskanälen  dieses  Wasserstraßengebietes  an- 
gepaßte Maß  der  Schiffsgefäße,  das  sog.  Kanalmaß  (=  600  t) 
dazu  dienen  kann,  eine  Scheidung  der  Verkehrsgebiete  vorzu- 
nehmen; denn  auch  reine  Elbschiffahrtsunternehmungen  bauen 
vielfach  ihre  Kähne  nach  dem  Kanalmaß,  einerseits  um  bei 
Älangel  an  reinen  Eibfrachten  auch  Frachten  nach  den  märkischen 


—     3     — 

Wasserstraßen,  besonders  nach  Berlin,  annehmen  zu  können, 
andererseits  um  bei  etwaigem  Verkauf  ihrer  Kähne  für  sie  einen 
größeren  Käuferkreis  zu  besitzen. 

Trotzdem  ist  in  der  vorliegenden  Arbeit  versucht  worden, 
eine  künstliche  Scheidung  zwischen  dem  Eibverkehr  und  dem 
Verkehr  der  märkischen  Wasserstraßen  durchzuführen.  Ihre 
innere  Berechtigung  findet  diese  Darstellungsweise  darin,  daß  es 
tatsächlich  ein  sehr  großes,  auf  dem  Eibstrom  relativ  und  absolut 
überwiegendes  Schiffahrtsgewerbe  gibt,  das  den  Verkehr  aus- 
schließlich oder  doch  zum  weitaus  größten  Teil  seiner  Tätigkeit 
nur  auf  der  Elbe  ausübt  und  seiner  Organisation  wie  seiner 
wirtschaftlichen  und  sozialen  Gliederung  nach  besondere  Merk- 
male aufweist.  Diese  Scheidung  ist  aber  auch  deshalb  berechtigt, 
weil  die  märkischen  Wasserstraßen,  deren  Verkehr  zusammen 
mit  dem  Eibverkehr  zu  behandeln  man  vielleicht  im  Hinblick  auf 
den  engen  Zusammenhang  für  gerechtfertigt  halten  könnte,  ihrer- 
seits keinen  eignen  scharf  abgegrenzten  Verkehr  besitzen.  Denn 
sie  haben  nur  ein  geringes,  wirtschaftlich  nicht  sehr  bedeut- 
sames Hinterland,  und  ihr  Verkehr  dient  fast  ausschließlich  der 
Versorgung  von  Groß-Berlin.  Jeder  langstreckige  Verkehr  dieser 
Wasserwege  muß  am  Anfang  oder  am  Ende  seiner  Fahrt  ent- 
weder die  Elbe  oder  die  Oder  (stromauf  oder  stromab),  vielfach 
sogar  die  noch  weiter  östlich  gelegenen  Schiffahrtswege  benutzen. 
Es  besteht  also  ebensowenig  wie  zwischen  der  Elbe  und  den 
märkischen  Wasserstraßen  eine  natürliche  Verkehrsabgrenzung 
zwischen  den  märkischen  Wasserstraßen  und  der  Oder.  Wofern  man 
also  es  nicht  wagen  wollte,  eine  künstliche  Abgrenzung  der 
Verkehrsgebiete  vorzunehmen,  könnte  man  sich  gezwungen  sehen, 
bei  einer  Schilderung  der  Elbverkehrsverhältnisse  auch  die  der 
märkischen  Wasserstraßen  und  der  Oder,  ja  aller  ostdeutschen 
Wasserstraßen  mit  heranziehen  zu  müssen. 

Aus  diesen  Gründen  hat  man  sich  auch,  entgegen  den  ur- 
sprünglichen Absichten,  bei  Einführung  der  staatlichen  Unfallver- 
sicherung entschlossen,  eine  selbständige  Elbschiffahrts-Berufs- 
genossenschaft  neben  der  Ostdeutschen  Binnenschiffahrts-Berufs- 
genossenschaft,  die  alle  Schiffahrtswege  östlich  der  Elbe  umfaßt, 
zu  begründen.  Und  aus  gleichen  Gründen  behandelt  die  deutsche 
Reichsstatistik  für  die  Binnenschiffahrt  den  Verkehr  der  Elbe  und 
der  märkischen  Wasserstraßen  getrennt. 

Es   ist    deshalb  versucht  worden,    im    folgenden    einen  theo- 

I* 


—     4     — 

retisch  wie  praktisch  brauchbaren  Begriff  der  Eibschiffahrt  in  der 
Weise  aufzustellen,  daß  gezählt  worden  sind  bei  den  Unter- 
suchungen 

i)  über  die  Güter  des  Eibverkehres:  die  auf  der  Elbe  schwim- 
menden Güter  ohne  Rücksicht  auf  den  Ort  ihrer  Herkunft  oder 
Bestimmung, 

2)  über  die  Schiffsflotte  des  Eibverkehres :  die  an  den  Ufern 
der  Oberelbe  beheimateten  Schiffe,  und 

3)  über  die  Schiffsbetriebe  des  Eibverkehres:  diejenigen  Be- 
triebe, die  in  den  an  die  Elbe  angrenzenden  unteren  Verwaltungs- 
bezirken ihren  Sitz  haben. 

Bei  Gesellschaften  und  größeren  Unternehmnngen  konnte, 
wenn  es  zweifelhaft  war,  ob  sie  dem  Eibschi ffahrtsge werbe  zu- 
zurechnen waren,  meistens  durch  direkte  Anfrage  Klarheit  ge- 
schaffen werden.  Unberücksichtigt  geblieben  sind  alle  (Groß-  und 
Klein-) Betriebe,  bei  denen  feststand,  daß  sie  in  der  Regel  die 
Elbe  zu  dem  direkten  Verkehr  zwischen  Hamburg  und  Berlin 
nur  auf  der  Strecke  Hamburg-Havelmündung  benutzen ;  denn  sie 
gehören  ihrem  ganzen  Wesen  nach  dem  Verkehr  der  märkischen 
Wasserstraßen  an,  was  sich  schon  äußerlich  daran  erkennen  läßt, 
daß  sie  meist  ihren  Sitz  in  Groß-Berlin  haben,  wie  z.  B.  der 
Berliner  Lloyd,  A.-G.,  Berlin. 

Diese  Art  der  Umgrenzung,  die  durch  die  tatsächlichen  Ver- 
hältnisse und  die  Art  des  zur  Verfügung  stehenden  statistischen 
Materials  bedingt  ist,  geht,  wie  man  sieht,  von  verschiedenen 
Gesichtspunkten  aus.  Wenn  daher  bei  einigen  der  folgenden 
Untersuchungen  Zahlen  jener  drei  verschiedenen  Gruppen  mit- 
einander in  Zusammenhang  gebracht  oder  miteinander  verrechnet 
werden  müssen,  so  ist  es  klar,  daß  diese  zahlenmäßigen  Ergebnisse 
nicht  den  Wert  absolut  wahrheitsgetreuer  Größen  haben  können, 
sondern  daß  sie  nur  relative  Zahlenwerte  darstellen  und  deshalb 
nur  als  Vergleichswerte  angesehen  werden  können,  die  gleiche 
Fehlerkoeffizienten  besitzen. 


—     5 


I.  Abschnitt. 

Der  Güterverkehr  auf  der  Elbe  als  Gegen- 
stand der  Organisation. 

I.  Kapitel. 

Umfang   und  Entwicklung   des  Frachtverkehres   auf 

der  Elbe. 

Auf  jedem  Gebiete  des  Wirtschaftslebens,  auf  dem  freie 
Konkurrenz  herrscht,  wird  sich  diejenige  Organisationsform  durch- 
setzen und  Anerkennung  verschaffen,  die  für  Erreichung  ihrer 
Aufgaben  die  einfachste  und  zweckmäßigste  ist.  Denn  die  wirt- 
schaftlichen Verhältnisse  schaffen  sich  ihre  Formen  selber,  denen 
sie  als  Inhalt  dienen  sollen. 

Daher  muß  man,  um  die  Organisationsentwicklung  der  Elb- 
schiffahrtsunternehmungen  verstehen  zu  können,  die  wirtschaft- 
hchen  Verhältnisse  festzustellen  suchen,  in  denen  sich  die  Einzel- 
unternehmungen ordnend  und  regelnd  betätigen. 

Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  ist  es  vor  allem  notwendig, 
das  Güterangebot,  das  der  Eibverkehr  zu  bewältigen  hat,  und 
die  Verkehrsmittel,  die  ihm  dafür  zu  Gebote  stehen,  einer  kurzen 
Betrachtung  zu  unterziehen. 

Die  Elbe  als  Binnenwasserstraße  reicht  im  technischen  Sinne 
von  Melnik  in  Böhmen,  wo  die  Elbe  beginnt,  schiffbar  zu  werden, 
bis  zum  Freihafen  in  Hamburg.  Diese  742  km  lange  Strecke 
wird  auch  kurz  »Oberelbe«  genannt,  im  Gegensatz  zur  Unter- 
elbe, d.  h.  der  Elbe  von  Kamburg  stromabwärts  bis  zur  Mündung. 
Letztere  kommt  als  Binnenwasserstraße  im  wissenschaftlichen  Sinne 
nicht  in  Betracht,  weil  sich  entweder  auf  ihr  ein  Kleinschiffahrtsver- 
kehr  nur  rein  lokaler  Natur  abspielt,  oder  sie  die  Anfangsstrecke  eines 
transatlantischen  Seeverkehres  bildet. 


—     6     — 

Die  Obcrelbe  fließt  mit  635  km  ihres  T.aufcs  in  Deutschland, 
mit   107  km  in  Oesterreich. 

Eine  wahrheitsgetreue  Erfassung  und  Darstellung  des  Elb- 
verkchrcs  sowie  seiner  Bedeutung  für  das  Wirtschaftsleben  stößt, 
zumal  bei  Berücksichtigung  der  Entwicklung  während  der  letzten 
40  Jahre,  auf  nicht  geringe  Schwierigkeiten.  Diese  bestehen  vor  allem 

1.  in  der  räumlichen  Abgrenzung  des  Elbegebiets  von  an- 
deren Wasserstraßen,  und 

2.  in  der  Art  des  zur  Verfügung  stehenden  statistischen  Materials. 
Ueber  den  ersten  Punkt  ist  schon  in  der  Einleitung  das  Nötige 

gesagt  worden.  Hinsichtlich  des  zweiten  Punktes  liegen  die  Ver- 
hältnisse wenig  erfreulich.  Denn  das  zur  Verfügung  stehende 
amtliche  statistische  Material  ist,  soweit  zuverlässig,  nur  sehr 
gering,  meist  unzureichend,  und  oft  wegen  seiner  großen  Ver- 
schiedenheit nach  Art  der  Erhebung  sowie  Gruppierung  für  eine 
zusammenfassende  Darstellung  und  für  Vergleiche  schwer  ver- 
wertbar. Die  Sorgfalt  der  Erhebung,  der  Aufstellung  und  Ver- 
öffentlichung, die  IMethode  der  Erhebung,  endlich  der  Zweck,  der 
bei  Aufnahme  der  Statistik  seitens  der  Behörden  verfolgt  wurde, 
haben  für  das  ganze,  keinem  einheitlichen  Staatsverbande  an- 
gehörende Stromgebiet  der  Elbe  eine  solche  Buntscheckigkeit 
und  Verschiedenheit  des  Zahlenmaterials  hervorgebracht,  daß  das- 
selbe oft  nicht  einmal  für  die  allgemeinsten  Aufstellungen  eines 
einzelnen  Jahres,  geschweige  denn  für  eine  Darstellung,  die  sich 
über  mehrere  Jahrzehnte  erstrecken  soll,  als  sicheres  Quellen- 
material zu  verwenden  ist. 

Will  man  versuchen,  den  Umfang  und  die  wirtschaftliche 
Bedeutung  des  Eibverkehrs  zu  erfassen,  so  stehen  hierfür  in  der 
Hauptsache  nur  die  Angaben  über  das  Gewicht  der  auf  der 
Elbe  zur  Verfrachtung  gelangten  Gütermengen  zur  Verfügung, 
wie  sie  die  Reichsstatistik  in  ihren  Angaben  über  den  Verkehr 
auf  den  Binnenwasserstraßen  und  die  Statistik  des  Staates  Ham- 
burg geben.  Dagegen  fehlen  amtliche  Aufstellungen  über  die 
tonnenkilometrischen  Leistungen  des  gesamten  Eibverkehres  so- 
wie über  den  kilometrischen  Verkehr  auf  der  Elbe  vollständig, 
obwohl  nur  sie  ein  wahrheitsgetreues  Bild  von  den  Leistungen 
eines  Verkehrsweges  zu  geben  vermögen.  Nach  der  neuesten  Ver- 
ordnung des  Bundesrates  über  Erhebung  der  Binnenschiffahrts- 
statistik vom  5.  Dezember  1907,  die  vielerlei  Verbesserungen  für 
die  Schiffahrtsstatistik  gebracht    hat,    sind  zwar    ausdrücklich  Er- 


—     7     — 

Hebungen  der  tonnenkilometrischen  Leistungen  und  des  kilo- 
metrischen Verkehres  der  deutschen  Ströme  nach  dem  Muster 
der  Eisenbahnfrachtstatistik  angeordnet  worden,  doch  ist  die  Be- 
arbeitung des  gesamten  Materiales,  das  zum  Zwecke  dieser  Fest- 
stellungen auf  der  Elbe  erhoben  worden  ist,  noch  so  lückenhaft 
und  die  ganze  Statistik  auf  der  Elbe  auf  so  große  Hindernisse 
gestoßen,  daß  auf  diese  neuere  Reichsstatistik  zur  Erfassung  der 
wirtschaftlichen  Bedeutung  des  Eibverkehres  als  wertlos  ver- 
zichtet werden  muß.  Die  zahlenmäßigen  Nachweise  für  die 
letzten  Jahre  haben  sich  daher  gegen  früher  bedeutend  ver- 
schlechtert. Dies  wird  in  der  ersten  amtlichen  Veröffentlichung 
auf  Grund  der  neuen  Bestimmungen  für  das  Jahr  1909  ausdrück- 
Hch  anerkannt.  Es  heißt  dort  (Stat.  d.  deutschen  Reiches.  Bd.  235, 
S.  16):  »Insbesondere  war  das  Material  für  die  Elbe  und  die  öst- 
lichen Wasserstraßen  nicht  geeignet,  eine  auch  nur  einigermaßen 
zuverlässige  Grundlage  für  tonnenkilometrische  Berechnungen  zu 
geben.«  Und  im  nächsten  Jahre  1910  heißt  es  (Bd.  245,  S.  10): 
»Die  großen  Schwierigkeiten  und  Widerstände,  die  der  neuen 
Binnenschiffahrts-Statistik  im  ersten  Erhebungsjahre  namentlich 
in  Preußen  entgegentraten,  sind  auch  im  Jahre  1910  nicht  zu 
überwinden  gewesen.  Der  größte  Ausfall  wurde  dadurch  ver- 
ursacht, daß  an  einer  Reihe  zum  Teil  sehr  wichtiger  Plätze  die 
Bearbeitung  der  abgegebenen  Zählkarten  unterblieben  ist.  —  — 
Vereinzelt  zeigte  sich  auch  bei  Schiffsunternehmungen  und  Spedi- 
teuren eine  Abneigung  zur  Ausfüllung  der  Zählkarten.  —  — 
Was  die  Lücken  im  Gebiete  der  Elbe  anbetrifft,  so  wurden  wegen 
der  großen  Ausfälle  an  Nachweisungen,  die  durch  die  Nicht- 
beteiligung  von  Magdeburg  und  durch  die  nicht  vollständige  Be- 
teiligung anderer  Häfen  an  der  Binnenschiffahrts-Statistik  ent- 
standen sind,  der  Verkehr  zwischen  den  Eibhäfen  untereinander, 
soweit  er  nachgewiesen  wurde,  zwar  summarisch  aufgeführt,  von 
der  weiteren  Bearbeitung  aber  ausgeschlossen.«  Und  ebenso  liegt 
es  für  das  Jahr  191 1.  So  ist  man  also  auch  in  neuerer  Zeit  für 
die  Erfassung  des  Eibverkehres  auf  Schätzungen  und  private  Be- 
rechnungen angewiesen. 

Nur  für  den  sehr  kurzen  Teil  des  in  Oesterreich  gelegenen 
Eibgebietes  gibt  die  österreichische  amtliche  Statistik  Zahlen  über 
die  tonnenkilometrischen  Leistungen  und  den  kilometrischen  Ver- 
kehr, doch  sind  sie  in  ihrer  Isoliertheit  für  die  Zwecke  der 
vorliegenden  Untersuchung  nicht  gut  zu  verwerten. 


—     8     — 


Für  das  deutsche  Eibgebiet  besitzen  wir  derartii^e  Zahlen 
nur  auf  Grund  privater  Berechnungen.  Für  die  Jahrfünfte  von 
1875— 1910  hat  Dr.  Sympher  in  der  ^Zeitschrift  für  Binnen- 
schiffahrt« auf  Grund  des  lückenhaften  amtlichen  Materiales  mit 
Hüte  von  umfangreichen  eigenen  l^erechnungen  und  Schätzungen 
versucht,  ein  brauchbares  Bild  des  gesamten  deutschen  Binnen- 
schiffahrtsverkehres zu  schaffen.  Er  kommt  dabei  für  die  deutsche 
Elbe  zu  folgenden  Ergebnissen : 

Tab.    I. 
Güterverkehr  auf  der    deutschen  Oberelbe, 
(nach  Dr.  Sympher^. 


I. 

2. 

3- 

4. 

■      5- 

6. 

Geleistete  Ne  tto-Tonn  en- 

Durchschn.  kilometrischer 

Kilometer 

Prozen- 

Verkehr 

Jahr 

auf  sämtlichen  1       auf  der 

tualer 

j  auf  d.  deut- 

auf  der 

deutschen     !     deutschen 

Anteil 

;schen  Wasser- 

Wasserstraßen!         Elbe 

d.  Elbe 

straßen 

Elbe 

in  I  000  000  tkm 

in  I  000  t. 

1875 

2  900 

435 

15% 

290 

720 

1S85 

4  800 

I  298 

27% 

2  100 

1895 

7500 

1952 

26  0/0 

3  150 

1900 

II  500 

2  605 

23% 

4  200 

1905 

15  000 

3581 

24% 

I  500 

5  800 

1910 

19  000 

4  026 

21  %| 

I  900 

6504 

Aus  diesen  Zahlen  ersieht  man,  daß  sowohl  die  durch  die 
Eibschiffahrt  geleisteten  tkm  wie  auch  der  kilometrische  Verkehr 
in  35  Jahren  eine  Steigerung  um  das  9  fache  aufzuweisen  hat, 
was  um  so  bedeutsamer  ist,  als  in  dem  gleichen  Zeiträume  auf 
anderen  Verkehrswegen  das  Wachstum  ein  so  schnelles  nicht 
gewesen  ist.  Der  Verkehr  auf  sämtlichen  deutschen  Eisenbahnen 
stieg  während  desselben  Zeitraumes  an  geleisteten  tkm  von  1 1 
auf  56,3  Milliarden  (Steigerung  um  das  5  fache),  und  ihr  kilo- 
metrische Verkehr  vermehrte  sich  von  410000  auf  960  000  t 
(Steigerung  um  das  2,25  fache).  Da  ferner,  wie  Tab.  1  zeigt,  der 
Eibverkehr  reichlich  den  5.  Teil  der  auf  sämtlichen  Binnenwasser- 
straßen geleisteten  tkm  ausmacht,  so  ergibt  sich,  daß  er  sowohl 
hinsichtlich  seiner  Bedeutung  für  das  Wirtschafts-  und  für  das 
Verkehrsleben,  wie  hinsichtlich  seines  Wachstums  eine  hervor- 
ragende Stellung  in  der  deutschen  Volkswirtschaft  einnimmt.  Er 
wird  an  Umfang  wie  an  Geschwindigkeit  des  Wachstums  nur 
vom  Rheinverkehr  übertroffen. 

Will  man  den  Eibverkehr  in  seiner  Besonderheit  erfassen,  so 


—     9     — 

ist  es  notwendig,  den  Berg-  und  Talverkehr  getrennt  zu  betrach- 
ten. Hierbei  treten  aber  schon  die  erwähnten  Schwierigkeiten 
infolge  Mangelhaftigkeit  des  Zahlenmateriales  erschwerend  ent- 
gegen, und  es  wird  notwendig,  gerade  hierbei  Zahlen  zu  benutzen, 
die  nur  relativen  Wert  besitzen.  In  den  folgenden  Tabellen  2  A 
und  2  B  (S.  13)  ist  nach  Berg-  und  Talverkehr  getrennt,  nach 
dem  Gewicht  der  Empfang  einiger  Eibhafenplätze  an  Trans- 
portgütern auf  Grund  der  Reichsstatistik  zusammengestellt. 

Hat  man  aus  Mangel  an  anderem  statistischen  Material  sich 
entschlossen,  als  Maßstab  für  den  Verkehr  die  der  Schiffahrt 
übergebene  Güter  menge  zugrunde  zu  legen,  so  hat  man  die  Wahl, 
ob  man  sich  für  diesen  Zweck  der  an  den  einzelnen  Punkten 
angekommenen  oder  abgegangenen  Gütermengen 
bedienen  will,  d.  h.  ob  man  die  Güter  beim  Verlassen  der  Elbe 
oder  beim  Uebergang  auf  dieselbe  erfassen  will.  Der  Verfasser 
hat  sich  für  das  erstere  entschieden,  da  es  für  die  Erlangung 
eines  möglichst  wahrheitsgetreuen  Bildes  wichtiger  zu  sein  scheint, 
zu  wissen,  wohin  der  Verkehr  die  Güter  sendet,  als  w  o- 
h  e  r  er  sie  bringt.  Ueberdies  ließ  sich  hierbei  auch  der  für 
den  Eibverkehr  sehr  wichtige  Verkehr  mit  Böhmen  tatsachen- 
getreuer in  die  Elbgesamtverkehrszahlen  einbeziehen.  Denn 
die  von  böhmischen  Stationen  ausgehenden,  nach  deutschen 
Stationen  verladenen  Güter  sind  zum  weitaus  größten  Teile  nur 
nach  einigen  wenigen  großen  deutschen  Stationen  (Dresden, 
Magdeburg,  Hamburg),  die  von  der  Reichsstatistik  berücksichtigt 
werden,  bestimmt.  Sie  sind  also  dort  leicht  durch  die  Zahlen 
der  angekommenen  Güter  statistisch  festzustellen.  Dagegen 
erfolgt  die  Auflieferung  der  in  Deutschland  mit  der  Bestimmung 
nach  Böhmen  zur  Elbe  gegebenen  Güter  zum  größten  Teil  de- 
zentralisiert. Ihre  Mengen  würden  sich  also  nur  schwer  und  un- 
vollständig durch  Abgangszahlen  wiedergeben  lassen.  Dagegen 
erscheinen  dieselben  Güter  zentralisiert  und  leicht  statistisch  zu 
erfassen  als  Ankunftsgüter  im  Bergverkehr  an  der  deutsch-böhmi- 
schen Grenze,  wenn  man  Böhmen  als  einheitlichen  Ankunftsort  auf- 
faßt. Letzteres  ist  auch  um  deswillen  notwendig,  weil  die  Schiffahrts- 
verkehrsstatistik in  Oesterreich  nach  ganz  anderen  Grundsätzen 
erhoben  und  verarbeitet  wird  als  in  Deutschland,  und  es  deshalb 
nicht  angeht,  die  österreichischen  Zahlen  der  böhmischen  Eiborte 
mit  den  Zahlen  der  Reichsstatistik  für  die  deutschen  Hafenplätze 
zusammenzustellen    und  zu   summieren.     Andererseits    entspricht 


—       10      — 

ein  einheitliches  Zusammenfassen  aller  b()hmischen  Hafenorte  an- 
nähernd der  wirtschaftlichen  Wirklichkeit.  Denn  die  bedeutenderen 
böhmischen  Eibhäfen  sind  auf  einer  verhältnismäßig  kurzen  Eib- 
strecke zusammengedrängt;  sie  sind  daher  bei  Beurteilung  der 
Richtung  und  des  Umfanges  des  Verkehres  als  Einheiten  auf- 
zufassen. 

Außer  von  den  Empfangshäfen  sind  von  verschiedenen 
Punkten,  an  denen  auf  der  Elbe  transportierte  Güter  diese  ver- 
lassen und  auf  eine  andere  Wasserstraße  übergehen,  die  Zahlen  und 
zwar  der  durchgegangenen  Güter  angegeben  worden,  da 
diese  Güter  zwar  zum  Eibverkehr  gehören,  aber  von  keinem  Eibhafen 
als  angekommen  und  empfangen  registriert  werden.  Nicht  erfaßt 
werden  konnte  auf  diese  Weise  der  Wechselverkehr  der  Elbe  mit 
der  Saale.  Hierzu  hätten  nach  der  Reichsstatistik  nur  die  Zahlen 
zur  Verfügung  gestanden,  die  auf  der  Saale  an  der  Schleuse  zu 
Kalbe  festgestellt  werden.  Da  aber  in  den  hier  für  den  Berg- 
verkehr (also  von  der  Elbe  nach  der  Saale)  erhobenen  Zahlen 
Güter  enthalten  sind,  die  auf  der  Elbe  sowohl  in  der  Berg-  wie 
in  der  Talfahrt  an  der  Saalemündung  angekommen  sind,  und 
deshalb  einheitlich  weder  dem  Elb  b  e  r  g  verkehr  noch  dem  Elb- 
t  a  1  verkehr  zuzurechnen  sind,  so  können  die  Zahlen  der  Güter, 
die  nach  der  Saale  hin  die  Elbe  verlassen  haben,  weder  in 
Tab.  2  A  noch  in  Tab.  2  B  untergebracht  werden.  Der  Fehler, 
den  dadurch  die  Statistik  erleidet,  -ist  nicht  allzu  bedeutend,  da 
die  Saale  von  der  Elbe  im  Jahre  19 lo  nur  ungefähr  180000  t 
Güter  überwiesen  erhielt. 

Natürlich  haben  nur  diejenigen  Hafenplätze  berücksichtigt 
werden  können,  die  in  der  Reichsbinnenschiffahrtsstatistik  regel- 
mäßig aufgeführt  wurden.  Dies  sind  zwar  in  der  }  lauptsache  die 
wichtigsten  Eibplätze,  der  Zahl  nach  aber  nur  ein  ver- 
schwindend kleiner  Teil  aller  Eibhäfen ;  denn  die  deutsche 
Oberelbe  besitzt  über  200  Hafen-  und  Eandungspätze.  Daß  aber 
auch  nicht  alle  gleichwichtigen  Eibhäfen  in  der  -  Reichsstatistik 
Berücksichtigung  finden,  lehrt  der  Hafen  von  Riesa,  der  erst  seit 

1909  in  die  Schiffahrtsstatistik  aufgenommen  ist,  obwohl  er  schon 
seit  langem    ein   sehr  wichtiger  Schiffahrtsplatz  ist  und  im  Jahre 

1910  mit  453000  t  Empfang  im  Bergverkehr  unter  den  Eibhäfen 
an  4.  Stelle  stand.  In  Tab.  2  A  und  B  mußte  auch  für  das 
Jahr  19 10  der  Riesaer  Hafen  unberücksichtigt  bleiben,  um  die 
Vergleichbarkeit  der  Endsummen    mit    denen    der   anderen  Jahre 


—     II     — 

zu  erhalten.  Es  sei  wiederholend  aber  auf  die  Relativität  dieser 
Zahlen  hingewiesen. 

F"ür  das  Jahr  1909  war  es  wegen  des  schon  früher  erwähnten 
völligen  Versagens  der  Binnenschiffahrtsstatistik  auf  der  Elbe 
gänzlich  unmöglich,  den  Berg-  und  Talverkehr  auch  nur  einiger- 
maßen sicher  festzustellen,  und  auch  für  das  Jahr  19 10  mußten 
einige  schätzungsweise  Ergänzungen  vorgenommen  werden,  vor 
allem,  weil  für  Magdeburg,  den  nächst  Hamburg  wichtigsten 
Hafen  an  der  deutschen  Elbe,  die  Reichsstatistik  keine  Zahlen 
angibt.  Deshalb  sind  auch  die  Endziffern  für  das  Jahr  19 10  nur 
von  bedingtem  Wert  ^). 

Im  einzelnen  sind  die  Zahlenangaben  von  folgenden  Eib- 
plätzen verwendet  worden : 

A.  F  ü  r  d  e  n  T  a  1  V  e  r  k  e  h  r  : 

1.  Schöna. 

2.  Schandau  (Hafenplatz). 

3.  Dresden. 

4.  Wallwitzhafen. 

5.  Aken. 

6.  Schönebeck. 

7.  Magdeburg. 

8.  Wittenberge. 

9.  Schleuse  im  Flauer  Kanal,  und  zwar  von  1875  — 1885 
die  Schleuse  zu  Parey,  und  von  1890  an  die  Flauer  Schleuse. 
An  dieser  Schleuse  sind  die  Zahlen  der  Güter  aufgenommen, 
die  in  der  Richtung  von  der  Elbe  nach  der  Havel  die  Schleuse 
benutzt  haben,  und  hierdurch  sollen  die  Güter  erfaßt  werden, 
die  auf  der  Elbe  im  Tal  verkehr  transportiert  worden  sind, 
aber  die  Elbe  auf  dem  Flauer  Kanal  nach  den  märkischen 
Wasserstraßen  hin  verlassen  haben,  ohne  in  einem  Eibhafen 
als    angekommen  gebucht  worden  zu  sein. 

10.  Hitzacker. 

11.  Der  Obereibische  Durchgangsverkehr    an    der  Hamburg- 
Entenwerder  ZoUcr-renze. 


l)  Die  Zahlen  des  Jahres  191 1  sind  bei  allen  vergleichenden  statistischen 
Angaben  des  Eibverkehrs  im  folgenden  fortgelassen  worden,  weil  die  Ver- 
kehrszahlen dieses  Jahres  wegen  des  abnorm  niedrigen  Wasserstandes  und  der 
lückenhaften  Erfassung  durch  die  Reichsstatistik  für  Vergleiche  völlig  unbrauchbar 
sind. 


—        12       — 

12.  Harburg;    (Süder-Mlbe)    mit    seinem    Obereibischen    Em- 
pfang. 

B.  1'^  ü  r  den  B  e  r  g  v  e  r  k  e  h  r  : 

1.  Hitzacker. 

2.  Durchgangsverkehr  zu  Berg  (Richtung  von  der  Elbe  nach 
der  Havel)  an  der  Rathenower  Hauptschleuse.  Hier  soll  der 
an  der  Havelmündung  die  Elbe  in  der  Richtung  nach  den 
märkischen  Wasserstraßen  verlassende  Eibbergverkehr  erfaßt 
werden. 

3.  Wittenberge. 

4.  Magdeburg. 

5.  Schönebeck. 

6.  Aken. 

7.  Wallwitzhafen. 

8.  Dresden. 

9.  Schandau. 

10.  Schöna. 

11.  Schandauer  Zollgrenze.  Hier  wird  das  Güterquantum 
erhoben,  das  zu  Berg  die  Zollgrenze  überschritten  und  die  deut- 
sche Elbe  nach  Böhmen  hin  verlassen  hat.  (Siehe  Tabelle 
S.   13.J 

Vergleicht  man  die  Endziffern  der  einzelnen  Jahre  in  diesen 
beiden  Tabellen  miteinander,  so  wird,  man  ein  wichtiges  Merkmal 
der  Eibschiffahrt  erkennen :  der  Talverkehr  überwiegt  absolut  an 
Umfang  nicht  unbedeutend  den  Bergverkehr.  Diese  Feststellung 
ist  wichtig  für  die  späteren  Ausführungen,  denn  auf  dieser  Tat- 
sache beruht  zum  Teil  die  Finanz-  und  Tarifpolitik  der  Unter- 
nehmer in  der  Eibschiffahrt ;  auch  für  Gründung,  Organisation 
und  geschäftliche  Ausgestaltung  der  Schiffahrtsgesellschaften  ist 
sie  von  besonderer  Wichtigkeit  gewesen.  Hierauf  wird  später 
zurückzukommen  sein. 

Noch  ein  weiteres  wichtiges  Moment  lassen  die.  Tabellen  er- 
kennen: Der  gesamte  Eibverkehr,  sowohl  zu  Berg  wie  zu  Tal, 
konzentriert  sich  an  zwei  Punkten ;  nämlich  in  Hamburg  und  im 
österreichischen  Böhmen,  obwohl  in  Böhmen  die  Elbe  für  größere 
Fahrzeuge  nur  auf  76  km,  und  für  kleinere  auf  107  km  schiffbar 
ist.  ^lan  kann  diese  Behauptung  noch  weiter  dahin  präzisieren, 
daß  für  den  Talverkehr  Böhmen,  für  den  Bergverkehr  Hamburg 
das  Zentrum  bildet,  dem  der  frachtsuchende  Schiffer  zustrebt  und 


—     13     — 


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Hitzacker 

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Magdeburg        .... 
Schönebeck       .... 

Aken 

Walhvitzhafen       .      .     . 

Dresden        

Schandau  (Hafen)      .     . 
Schandau  (Zollgrenze)  . 

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Hamburg 

Hilzacker 

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Wittenber 

Magdebur 

Schünebec 

Aken 

Wallwitzh 

Dresden 

Schandau 

Schüna 

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1 

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—     14     — 


wo  er  seine  I  lauptbeschäftigung  findet.  Noch  deutlicher  veran- 
schaulicht das  Tab.  3,  zu  der  aber  zu  bemerken  ist,  daß  die  hier 
berechneten  Prozentzahlen  für  den  Anteil  Hamburgs  und  Böhmens 
etwas  zu  hoch  sind,  da  sie  durch  Vergleich  der  durch  die  Ham- 
burger und  durch  die  österreichische  Statistik  aufgestellten,  ab- 
solut wahrheitsgetreuen  Zahlen  mit  den  durch  die  Tab.  2  berech- 
neten, nur  relativ  richtigen,  etwas  zu  kleinen  Zahlen  des  Gesamt- 
verkehrs gefunden  worden  sind.  Trotzdem  läßt  sich  aus  ihnen 
die  selbst  nach  einer  entsprechenden  Verringerung  des  pro- 
zentualen Anteiles  immer  noch  große  Wichtigkeit  Hamburgs  für 
den  Bergverkehr  und  Böhmens  für  den  Talverkehr  erkennen. 

Tab.  3. 
Anteil  Hamburgs  und   Böhmens  am  Elbverkehr    1880 — 1911. 


I. 

2. 

3.     i 

4-     1 

5- 

6. 

7- 

8.       1 

9- 

10. 

II. 

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Davon 

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Von  Sp.  2    ' 
Destimmt  nach 

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bestimmt  nach 

Von  Sp 
stammt 

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aus 

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% 

1000  t 

in  I  000 1 

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1880 

2  605 

I  365 

51 

764 

29 

1038 

155 

15 

773 

77 

1885 

2 173 

1474 

52 

1275 

58 

I  226 

171 

14 

1323 

77 

1890 

3011 

2  804 

93 

1556 

51 

1953 

268 

13 

1683 

88 

1895 

2605 

2  208 

84 

1638 

63 

2442 

322 

13 

1942 

80 

1900 

4243 

2  662 

63 

2  526 

60 

3679 

432 

II 

2875 

77 

I90I 

4358 

2897 

67 

2526 

58 

3  226 

465 

14 

2875 

89 

1902 

4  402 

2827 

64 

2413 

54 

3040 

383 

13 

2777 

92 

1903 

5570 

3498 

62 

3  012 

53 

3585 

500 

14 

2  960 

82 

1904 

3970 

2434 

61 

I  979 

49 

^672 

403 

15 

2  326 

89 

1905 

5744 

3  157 

55 

2  522 

44 

4195 

591 

14 

3  399 

80 

1906 

5597 

3033 

54 

3213 

57 

4308 

523 

12 

3681 

85 

1907 

5 193 

3  139 

60 

3000 

57 

5177 

633 

II 

3905 

75 

1908 

5065 

2774 

55 

3  102 

60 

4963 

646 

13 

3817 

77 

1909 

, 

. 

, 

• 

I9I0 

6342 

2  410 

38 

4  139 

65 

5189 

702 

13 

3769 

72 

Auf  den  ersten  Blick  könnte  es  erscheinen,  als  wäre  diese 
Lagerung  der  Hauptausgangshäfen  notwendig  und  natürlich  als 
Ausgangs-  und  Endpunkt  der  Eibschiffahrt  überhaupt ;  jedoch 
beweist  die  folgende  Statistik  der  leer  in  Hamburg  ankommenden 
und  leer  nach  Böhmen  einfahrenden  Frachtschiffe,  daß  sich 
zwischen  diesen  beiden  Hauptschiffahrtszentren  nur  ein  geringer 
direkter  Verkehr  abspielt.  Die  Schiffer  suchen  vielmehr  diese 
beiden  Punkte  als  voraussichtlich  Verdienstmöglichkeiten  bietende 
Landungsstellen  mit  Vorliebe,  vielleicht  sogar  mit  einer  zu  großen 
Anhänglichkeit  auf,  auch  wenn  sie  keine  direkten  Ladungen  für 
diese  Orte  haben. 


—     15    — 


Tab.  4. 

Zahl  der  beladenen  und  unbeladenen   Frachtkähne  im  Hamburaer 

und  Schandauer  Ob  erel  be- Verkehr  während  des  Jahres  1910" 


3.  I  4.  s.  I  6. 

Frachtkahne  insgesamt        Davon  beladne  Frachtkahne 
Zahl  I  Tragfähigkeit  I  ^^^,  |  Tragfähigkeit 


in   1000  t 


Zahl 


in   1000  t 


angekommen 
In         I        zu  Tal 
Hamburg   |    abgegangen  j 
!       zu  Berg      ! 

durchgegana? 


In 
Schandau 


zu  Tal 

durchgegang. 

zu  Berg 


20541 
20995 

6302 
6  161 


13283 

19393 

6  198 

2  700 


Die  Art  des  Schiffsverkehres    an    diesen  beiden  Punkten    ist 
eine    ganz    verschiedene,    was    durch    das  Wesen    Hamburgs   als 
überseeischer  Importhafen  und  das  Wesen  Böhmens   als  Pr^'oduk^ 
tionsland  zahlreicher  gewerblicher  Erzeugnisse  und  hochwichtio-er 
Rohstoffe    bedingt   ist.      So   ist   die    Art   der  Güter,    die    an    d"en 
beiden  Punkten  zur  Verladung    kommen,    ganz   verschieden.      In 
Hamburg  werden  der  Binnenschiffahrt  die  überseeischen  Massen- 
artikel,   wie    Getreide,    Reis,    Baumwolle,    Düngemittel    usw.,    in 
Böhmen    dagegen    in  überwiegendem  Maße  Rohstoffe,  besonders 
die  böhmische  Braunkohle,  übergeben.      Gerade  diese  kann  man 
als  eigentlichen  Lebensnerv  der  gesamten  Kleinschiffahrt  auf  der 
Elbe  ansehen,  zumal  die  Kleinschiffer  aus  Gründen,  die  noch  be- 
sprochen werden  sollen,  an  dem  Talverkehr  viel  stärker  beteilic^t 
und  mteressiert  sind,  als  am  Bergverkehr.      So    betrug   z.  B     im 
Jahre   1905  die  Beförderung  der  Braunkohle  von  Böhmen  auf  der 
Elbe  nach  Deutschland  2100000  t  oder  etwa  66  %  des  gesamten 
österreichischen  Eibimportes,  andererseits  aber  auch  ungefähr  37  % 
des    gesamten  Talverkehres    oder   etwa   190/,    des  gesamten  Ver- 
kehres  auf   der   Elbe    überhaupt.      Hieraus    erhellt,    wie  eng  die 
Eibschiffahrt  mit  dem  böhmischen  Braunkohlenbergbau  verknüpft 
ist,    wie    sie    also   stark  abhängig    ist  vom  Ausland    und  in  ihren 
Interessen  besonders  nach  dem  Ausland  hinneigt. 

Hierin  liegt  ein  spezifisches  Merkmal  der  Efbschiffahrt,  durch 
das  sie  sich  von  dem  Verkehr  anderer  deutscher  Wasserstraßen 
ungunstig  unterscheidet.  Denn  sie  wird  stärker  als  irgend  eine 
andere  deutsche  Wasserstraße  von  der  Richtung  unserer  aus- 
wärtigen   Handelspolitik    in    Mitleidenschaft    gezogen.       So    hat 


i6     — 


Ta- 
Prozentualer   Anteil  des  Tal- 


I. 

2.       1        3. 

i88o    1    1885 

4- 
1890 

5- 
1895 

6. 
1900 

7- 
1901 

Gesamt-Elb-Verkehr  in    looo  t 

Prozentualer  Anteil    des  T  a  1- 

verkehrs  am  Gesamt-Verkehr 

3643 
72% 

3  399 

64% 

4964 
61% 

5047 

52% 

7922 
53% 

7584 
58% 

beispielsweise  die  Einführung  des  Hochschutzzolles  in  Deutsch- 
land um  das  Jahr  1880  die  Gründung  einer  der  größten 
Elbschiffahrtsgesellschaften,  der  »Oesterreichischen  Nord-West- 
Dampfschiffahrts-Ges.«  und  damit  eine  verhängnisvolle  Verstärkung 
der  Konkurrenz  auf  der  Elbe  zur  Folge  gehabt.  Die  starke 
Berührung  der  Eibschiffahrt  mit  österreichischen  Interessen  wird 
noch  klarer,  wenn  man  bedenkt,  daß  Hamburg  nicht  nur  der 
wichtigste  deutsche  Ueberseehafen  ist,  sondern  dieselbe  Rolle  auch 
für  Oesterreich  spielt,  und  daß  für  Oesterreich  die  Elbe  die  Zu- 
fahrtsstraße zu  diesem  Hafen  bildet. 

Faßt  man  nach  diesen  ganz  allgemeinen  Erwägungen  ein- 
zelne Umstände  ins  Auge,  die  für  die  Gestaltung  des  Eibverkehres 
von  Wichtigkeit  geworden  sind,  und  betrachtet  sie  in  ihrem 
historischen  Werden,  so  wird  man  vor  allem  dem  Verhältnis 
zwischen  Berg-  und  Talverkehr  seine  Aufmerksamkeit  zuwenden 
müssen.  Es  ist  leicht  verständlich,  daß  dieses  Verhältnis  für  die 
Schiffahrt  überhaupt  und  für  die  einzelnen  Organisationsformen 
in  ihr  von  größter  Bedeutung  ist.  Denn  die  Bergschiffahrt  liegt, 
wie  erwähnt,  heute  fast  vollständig  in  den  Händen  der  Groß- 
und  Gesellschaftsbetricbe.  Diese  sind  ihrem  Ursprung  wie  ihrem 
heutigen  Charakter  nach  in  erster  Linie  Schlepp  schiffahrts- 
unternehmungen  und  deshalb  an  der  Berg  Schiffahrt  möglichst 
vieler  Frachtkähne  hauptsächlich  interessiert.  Die  Kleinschiffahrt 
dagegen,  der  bei  der  Bergschiffahrt  ein  Teil  ihrer  Frachteinnahmen 
durch  Schlepplöhne  zugunsten  der  Gesellschaften  verloren  geht, 
sucht  naturgemäß  ihren  Hauptverdienst  in  der  Talschiffahrt,  bei 
der  sie  ihre  Kähne  von  der  Strömung  treiben  läßt  und  für  die 
Fortbewegung  ihrer  Fahrzeuge  nichts  zu  entrichten  hat.  Das 
läßt  erkennen,  wie  wichtig  auch  für  Organisationsfragen  die  Ent- 
wicklung des  Talverkehres  einerseits  und  des  Bergverkehres  an- 
dererseits ist.  Eine  Steigerung  der  Bergschiffahrt  kennzeichnet 
eine  Kräftigung  der  Großschiffahrt,  eine  Zunahme  der  Talschiffahrt 
dagegen    eine    solche    der   Kleinschiffahrt.     Eine    nach  Tal-    und 


belle  5. 

Verkehrs  am  Gesamtverkehr  der  Elbe    1880 — 1910. 


8. 
1902 

9- 
1903 

10.            II. 
19Ö4         1905 

12. 
1906 

13- 
1907 

14- 
1908 

15- 
1909 

16. 
1910 

7442 
59% 

9155 
61% 

6642 
60  0/0 

9  939 
57% 

9905 
56% 

10370 
50% 

10  028 
50% 

II  531 
55% 

Bergverkehr    getrennte    Darstellung    der    Entwicklung    des    Eib- 
verkehrs ist  in  Tab.  5   versucht  worden. 

Aus  dieser  Tabelle  ersieht  man,  daß  der  Talverkehr  fort- 
dauernd dem  Bergverkehr  an  Gütermengen  überlegen  ist,  daß 
aber  der  Vorsprung  des  Talverkehres  vor  dem  Bergverkehr  immer 
geringer  wird,  ja  daß  letzterer  den  Talverkehr  seit  1907  eingeholt 
und  ihn  vielleicht  heute  schon  überholt  hat,  wofür  verschiedene 
Anzeichen  vorliegen^).  Es  findet  also  augenblicklich  eine  Um- 
kehrung der  Richtung  des  Hauptverkehres  statt. 

Diese  Feststellung  ist  für  die  Organisation  und  Rentabilität 
der  Schiffahrt  von  großer  Bedeutung.  Es  wird  deshalb  auf  die 
Ursachen  des  relativen  Rückganges  des  Talgüterverkehres  noch 
näher  einzugehen  sein.  Vorher  mag  jedoch  zur  besseren  Ver- 
anschaulichung des  Charakters  des  Eibverkehres  darauf  hin- 
gewiesen werden,  daß  sowohl  der  Tal-  als  der  Bergverkehr  nicht 
an  allen  Stellen  des  Flußlaufes  von  gleicher  Stärke  und  gleicher 
Bedeutung  ist.  Denn  wie  schon  Tab.  4  erkennen  läßt,  ist  ein 
direkter  Verkehr  zwischen  Anfang  und  Ende  der  Schiffahrt  im  Ver- 
hältnis zur  Gesamtschiffahrt  nur  schwach  ausgebildet.  Das  deutet 
darauf  hin,  daß  der  Güterverkehr  längs  der  Elbe  von  verschiede- 
ner Dichtigkeit  sein  muß.  Diese  Vermutung  wird  zahlenmäßig 
durch  Tab.  6  bestätigt,  in  der  eine  Aufstellung  von  Dr.  SympJier 
(aus    der  Zeitschr.  für  Binnenschiffahrt  1907)    wiedergegeben   ist. 

Hier  wird  für  das  Jahr  1905  die  Verteilung  des  Verkehres 
über  das  Elbegebiet  veranschaulicht.  Man  ersieht  aus  der  Tabelle, 
daß  zwischen  der  böhmischen  Grenze  und  unterhalb  Magdeburgs 
der  Talverkehr  den  Bergverkehr  beträchtlich  übersteigt;  dann 
aber  bleibt  er  bis  Hamburg  immer  stärker  hinter  dem  Berg- 
verkehr  zurück.      Der  Bergverkehr    dagegen    wird    schwächer,    je 


1)  Die  Prozentzahl  des  Jahres  1910  steht  dem  nicht  entgegen,  weil  die  sie 
ergebenden  Ursprungszahlen  in  bezug  auf  Richtigkeit  und  Vollständigkeit  nicht 
sicher  sind  (vergl.  S.   Ii). 

Zeitschrift  für  die  ges.  Staatswissensch.     Ergänzungsheft  50.  2 


—     i8     — 


Tab.  6. 

Kilometrischer  Verkehr  an  verschiedenen  Elbstreckcn 

im  Jahre    1905. 


I. 
II. 
III. 
IV. 

V. 
VI. 


Bezeichnung  der  Eibstrecke 


Bergverkehr 


Talverkehr 


Oberhalb  Hamburg  und  Harburg 

Unterhalb  der  Havelmündung 

Oberhalb  der  Havelmündung 

Unterhalb  von  Magdeburg 

Oberhalb  von  Magdeburg 

An  der  österreichischen  Grenze 


in  I  000  t 


4836 
4764 
2843 

3  "7 
2  204 

591 


3243 
3298 
2723 
3832 
3513 
3  157 


weiter    er   sich   von  Hamburg    entfernt.      Diese    entgegengesetzte 
Tendenz    ist    für   die  Schiffahrtstreibenden   bedeutsam    und   trägt 
mit    dazu    bei,    daß    sich  die   Eibschiffahrt    im    Kleinbetrieb    nur 
wenig  rentiert.     Denn  der  Schiffer,  der  in  Hamburg  eine  Ladung 
sucht,  erhält  sie  meist  nur  für  einen  geringen  Teil  der  Eibstrecke 
zwischen    Hamburg    und    Böhmen.      Böhmen    aber    strebt    jeder 
Schiffer    so    oft    wie    möglich    zu   erreichen,    weil    die    Talfracht- 
sätze hier  meist  rentabler  sind;  denn  die  Selbstkosten  verringern 
sich   bei    der  Talfahrt   durch    den  Fortfall    der  Schlepplöhne  und 
eine  Fahrt  von  Böhmen  stromab  ermöglicht  die  längste  Talfahrt. 
So  muß   also    der  Schiffer    in   der  Regel    den    größten   Teil    der 
Strecke  Hamburg-Böhmen    leer   fahren   und    noch    obendrein  die 
Schleppkosten  tragen.  Die  größeren  Elbschiffahrtsunternehmungen 
sorgen  dagegen  durch  ihre  meist  eigenen  Frachtkontore  in  Ham- 
burg, die  vielfach  mit  größeren  Verladern  oder  Versendern  lang- 
fristige  Frachtverträge    abschließen,    für  genügende  Gütermengen 
nach  Böhmen  und  verhüten  dadurch  einen  Verlust  bei  der  Berg- 
fahrt.     Aus    dem    Grunde,    daß    für   den  Kleinschiffer   allein    die 
T  a  l  fahrt  nutzbringend  ist,    erklärt   sich    die  Erfahrung,    daß  der 
Kleinschiffer    immer   bestrebt    ist,    sobald    er   in   Hamburg    seine 
Talfracht  gelöscht  hat,  so  schnell  wie  möglich  an  eine  möglichst 
weit    oberhalb    gelegene  Eibstation  zwecks  Wiederaufnahme  von 
Talfrachten   zu   gelangen.     Er   ist  deshalb    geneigt,    in   Hamburg 
und  auch  an  anderen  Stellen  Güter  zur  Bergfahrt  zu  jedem  Fracht- 
satz anzunehmen,  selbst   wenn  dieser   für  ihn  verlustbringend  ist. 
Die  Zahlen  der  Tabelle  6  erklären  sich  aus  dem  allgemeinen 
Charakter  des  Güterverkehrs  auf  der  Elbe:  Oberhalb  der  Strecke  6, 
also  in  Böhmen,  werden  der  Schiffahrt    große  Mengen  Güter  zu- 


—     19     — 

geführt,  die  zu  ihrem  weitaus  größten  Teile  nach  Dresden,  Riesa 
und  Magdeburg  (vgl.  Tab.  ii),  im  übrigen  aber  hauptsächlich 
nach  Groß-Berlin  und  Hamburg  (österreichischer  Transitverkehr) 
bestimmt  sind.  Der  Verlust,  den  der  Talverkehr  durch  Ablieferung 
seiner  böhmischen  Güter  zwischen  6  und  4  erleidet,  wird  durch 
neue  Ladung  aus  den  durchfahrenen  Gebieten  mehr  als  ersetzt. 
Vor  allem  liefert  auch  das  mitteldeutsche  Kaligebiet  durch  den 
Hafen  von  Schönebeck  bedeutende  Mengen  Landungsgüter.  Unter- 
halb der  Strecke  4  verliert  der  Elbtalverkehr  eine  sehr  ansehn- 
liche Gütermenge,  die  in  der  Hauptsache  nach  Groß-Berlin  be- 
stimmt ist,  durch  den  Ihle-  und  den  Flauer  Kanal,  an  die  märki- 
schen Wasserstraßen,  ohne  dafür  von  dorther  entsprechenden  Ersatz 
zu  erhalten.  Daher  erklärt  sich  der  geringe  kilometrische  Verkehr 
an  der  Strecke  3  im  Talverkehr.  Neue  Frachten  von  den  mär- 
kischen Wasserstraßen  erhält  die  Elbe  für  die  Talfahrt  erst  wieder 
durch  die  Havel;  diese  Frachten  gehen  zum  größten  Teil  bis 
Hamburg  (Strecke  2  und   i). 

Im  Berg  verkehr  gelangen  die  weitaus  meisten  Güter  in 
Hamburg  auf  die  Elbe  (vgl.  Tab.  3),  und  diese  Gütermenge  bleibt 
ihr  ziemlich  unvermindert  bis  zur  Havelmündung  (Strecke  i  und  2). 
Hier  verliert  die  Elbe  im  Bergverkehr  einen  wesentlichen  Teil 
ihrer  Frachten  an  die  märkischen  Wasserstraßen  (Strecke  3) ;  der 
übrig  bleibende  —  nach  Magdeburg  und  Dresden  bestimmte  — 
Teil  erhält  an  der  Mündung  des  Flauer  und  des  Ihle-Kanales  eine 
kleine  Verstärkung  (Strecke  4  und  5).  Bis  nach  Böhmen  hinein 
vermittelt  der  Bergverkehr  den  Transport  nur  einer  geringen 
Gütermenge  (Strecke  6). 

Es  ergibt  sich  also  das  Gesamtbild,  daß  der  T  a  1  verkehr, 
wenn  auch  in  mäßigem  Umfang,  mit  annähernd  gleicher  Stärke 
von  Böhmen  bis  Hamburg  anhält,  also  dem  Schiffer  auf  der 
ganzen  Strecke  ziemlich  die  gleiche  Verdienstmöglichkeit  ge- 
währt, während  der  Berg  verkehr  an  seinem  Anfang  zwar  sehr 
machtvoll  einsetzt,  aber  bis  zu  seinem  Ende  hin  stark  abflaut. 
Rückfrachten  für  die  ganze  Strecke  sind  für  den  Schiffer  daher 
nur  schwer  zu  erlangen. 

Wenn  im  Jahre  1905  trotz  der  bedeutend  geringeren  Inten- 
sität des  Talverkehres  im  Vergleich  zum  Bergverkehr  auf  den  drei 
ersten  Wegstrecken  der  Tab.  6  dennoch  der  Talverkehr  in  Tab.  2 
auf  der  ganzen  Eibstrecke  dem  Bergverkehr  überlegen  oder 
doch  wenigstens  ebenbürtig  erscheint,  so  ersieht  man  daraus  die 

2* 


—       20      — 

Ta- 
Ocsterreichs  El  b  verkehr  mit  Deutschland  an 

(Auf  Grund  der  deut- 


II  1897 

3- 
1S98 

4- 
1899 

5- 
1900 

6. 
1901 

7- 
1902 

Zu  Tal  (Einfuhrn ach  Deutschi.)'  2952 
Zu  Berg  (Ausfuhr  aus  Deutschi. )J      490 

2818 
490 

3  181 
430 

2  662 

432 

2897 
465 

2827 
383 

Tab.  7  b. 
Oesterreichs  Ausfuhr  nach  Deutschland  nach  den   3  Ilauptgüterarten  in  1000  t. 


1,000 
240 

230 

220 

210 

100 

190 

180 

170 

160 

150 

uo 

130 
120 
110 
100 
90 
80 
70 
60 
50 
40 
30 
20  < 
10 

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1 
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Braunk 

roh/a 

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1 

398    99     1900      Ol       02       03       0".     1905     05       07       08      M      IS'O    " 

—       21 


belle  7a. 

der  Zollgrenze  in  Schandau   1S97 — 1911   in   i  000  t. 

sehen  Zollstatistik.) 


8. 
1903 

9.             10. 
1904    1     1905 

II. 

1906 

12. 
1907 

13- 

1908 

14. 
1909 

15- 
1910 

16. 
1911 

3498 
SOI 

2434 
404 

3  157 
591 

3033 

524 

3  139 
634 

2774 
646 

2  632 
717 

1796 
711 

1626 

575 

Tab.  7  c. 
Oesterreichs  Einfuhr  aus  Deutschland  nach  den  3  Hauptgüterarten  in   looo  t. 


bedeutsame  Rolle,  die  der  Eibverkehr  der  Strecke  3,  besonders 
aber  der  böhmische  Verkehr  spielt  ^).  Es  liegt  deshalb  nahe,  bei 
Untersuchung  des  oben  bei  Besprechung  der  Tab.  5  festgestellten 
relativen  Rückganges  des  Talverkehres  ein  besonderes  Augenmerk 
auf  die  Entwicklung  des  Verkehres  dieser  Strecke  zu  werfen. 
Hierbei  wird  man  finden,  daß  der  Rückgang  des  Talverkehrs  auf 
das  immer  noch  zunehmende  Fernbleiben  der  böhmischen 
Frachtgüter  von  der  Elbebeförderung  zurückzuführen  ist.  Dies 
zeigen  deutlich  die  Zahlen  der  graphischen  Darstellungen  der 
Tab.  7  a. 

i)  Da  das  Jahr  1905  ein  normales  Wirtschaftsjahr  war,    so  können  die  Tat- 
sachen der  Tabelle  5  auch  für  andere  Jahre  verwendet  werden. 


1905  ist  der  Höhepunkt  der  österreichischen  Elb  a  u  s  fuhr 
nach  Deutschland  erreicht;  bis  1907  hält  sie  sich  annähernd  auf 
gleicher  Mühe,  dann  jedoch  beginnt  der  Rückgang  ^). 

Genau  die  entgegengesetzte  Tendenz  weist  dagegen  die 
österreichische  Elb  e  i  n  fuhr  aus  Deutschland  auf,  die  in  immer 
stetiger,  wenn  auch  langsamer  Steigerung  begriffen  ist.  Sie  hat 
sich  in  den  Jahren   1895  —  ^9^^   reichlich  verdoppelt. 

Der  Rückgang  der  österreichischen  Gütermengen  im  Eib- 
verkehr beruht  hauptsächlich  auf  dem  Rückgang  der  Braunkohlen- 
verfrachtung in  Böhmen,  wie  sie  Tab.  7  b  veranschaulicht,  die  auch 
die  Bewegung  der  beiden  nächstwichtigeren  Gütergattungen  Zucker 
und  Gerste  darstellt.  Der  Rückgang  der  böhmischen  Braunkohle 
in  der  Eibverfrachtung  beruht  auf  dem  Nachlassen  des  deutschen 
Konsums  derselben  und  wird  verursacht  durch  den  Aufschwung 
der  deutschen  Braunkohlenproduktion  und  das  mächtige  Auf- 
blühen der  deutschen  Brikettindustrie.  Jene  Frachtgüter  und  die 
daraus  entspringenden  Verdienstmöglichkeiten  sind  der  Eib- 
schiffahrt voraussichtlich  dauernd  verloren;  daß  dadurch  die  Eib- 
schiffahrt in  eine  Art  dauernden  Siechtums  verfallen  ist,  wird 
später  gezeigt  werden. 

Der  Rückgang  bei  anderen  böhmischen  Verfrachtungsgütem 
beruht  einesteils  auf  ungünstigen  Ernteergebnissen  während  der 
letzten  Jahre,  andernteils  muß  er  auf  die  der  Eibschiffahrt  un- 
freundlich gesinnte  österreichische  Eisenbahnpolitik  zurückgeführt 
werden,  die  bestrebt  ist,  durch  Vorzugstarife  den  österreichischen 
Uebersee-Export  von  der  Verschiffung  über  Hamburg  und  damit 
von  der  Elbe  abzuhalten  und  dem  österreichischen  Seehafen 
Triest  zuzuführen.  Daß  für  das  Ausbleiben  der  böhmischen 
Transportgüter  nicht  etwa  die  Tarif-  und  Frachtpolitik  der  Eib- 
schiffer verantwortlich  zu  machen  ist,  wird  in  einem  späteren 
Kapitel  gezeigt  werden. 

Diese  Wandlung  in  der  Zusammensetzung  des  Eibverkehres 
hängt  aber  auch  mit  der  Aenderung  zusammen,  die  unsere  Volks- 
w^irtschaft  während  der  letzten  40  Jahre  erfahren  bat.  Während 
z.  B.  in  den  70  er  und  in  beschränkterem  INIaße  auch  noch  in  den 
80  er  Jahren  landwirtschaftliche  Erzeugnisse,  insbesondere  Getreide 


i)  Auf  die  Zahlen  des  Jahres  191 1  kann  sowohl  für  die  Ausfuhr,  wie  für 
die  Einfuhr  kein  besonderes  Gewicht  gelegt  werden,  weil  dieses  Jahr  einen  ganz 
abnorm  tiefen  Wasserstand  aufwies  und  dadurch  Monate  hindurch  der  Eibverkehr 
mit  Bühmen  ganz  unterbrochen  war. 


—      23      — 

auf  der  Elbe  nach  Hamburg  als  Ausfuhr  guter  transportiert 
wurden,  sind  solche  in  der  Folgezeit  wegen  der  geringen  oder 
ganz  fehlenden  Ueberschußproduktion  unserer  Landwirtschaft  im 
Talverkehr  fast  vollständig  verschwunden ;  sie  treten  statt  dessen 
im  Bergverkehr  auf  als  Einfuhr  guter  aus  ausländischen  Pro- 
duktionsländern. Die  Massenproduktion  von  Rohstofferzeugnissen, 
die  wegen  ihrer  eigenen  Geringwertigkeit  auf  den  bedeutend  billigeren 
Wassertransportweg  angewiesen  sind,  ist  im  letzten  Jahrzehnt  imElb- 
hinterland  stark  zurückgegangen.  Diese  Produkte  gelangen  statt 
dessen  in  umgekehrter  Richtung,  also  im  Bergverkehr  über  Ham- 
burg, als  Roh-  und  Hilfsstoffe  für  die  verarbeitenden  Industrien  aus 
ausländischen  Gebieten  zur  Einfuhr.  Dagegen  eignen  sich  unsere 
industriellen  Inlandserzeugnisse,  die  zum  Export  oder  sonstigen 
weiteren  Transport  gelangen,  nur  zu  geringerem  Teile  für  den 
Wassertransport,  weil  sie  meist  hochwertige  Artikel  darstellen 
und  deshalb  den  schnelleren  und  pünktlicheren,  wenn  auch 
teureren  Eisenbahnweg  aufsuchen  und  aushalten  können,  eine 
Tatsache,  die  durch  die  planmäßige,  der  Schiffahrt  feindliche 
Politik  der  deutschen  Eisenbahnen  begünstigt  wird.  Einen  deut- 
lichen Beweis  hierfür  liefert  die  Statistik  Hamburgs  über  seine 
Aus-  und  Einfuhr  nach  seinen  Hinterlandsgebieten,  wenn  man  die 
Zahlen,  getrennt  nach  Eisenbahnen  und  Binnenwasserstraßen  zu- 
sammenstellt, wie  in  Tab.  8  und  9  S.  24  für  die  Jahre  1890  bis 
191 1   geschehen  ist. 

Aus  dieser  Zahlenzusammenstellung  ersieht  man,  daß  die  Be- 
deutung der  Elb  zufuhr  quantitativ  für  Hamburg  stets 
eine  bedeutende  Rolle  gespielt  hat,  qualitativ  aber  die  gering- 
wertigsten Güter  gebracht  hat,  was  bei  dem  Wesen  des  Wasser- 
weges als  Massentransportweg  nicht  auffallen  kann.  Der  pro- 
zentuale Anteil,  den  die  E  1  b  zufuhr  an  Hamburgs  Gesamtzufuhr 
vom  Binnenlande  her  aufweist,  ist  von  Jahr  zu  Jahr,  einzelne  be- 
sondere Ausnahmen  abgerechnet,  stetig  zurückgegangen,  und  zwar 
qualitativ  schneller  und  bedeutender  als  quantitativ.  Daß  dies 
nicht  ohne  Bedeutung  für  die  Binnenschiffahrtstreibenden  bleiben 
konnte,  liegt  auf  der  Hand,  zumal  sich  bei  diesem  Verkehr  in 
den  letzten  Jahren  nicht  nur  ein  relativer,  sondern  ein  absoluter 
Rückgang  bemerkbar  macht.  Umgekehrt  ist  der  Anteil  des  Eib- 
verkehres an  der  Aus  fuhr  nach  dem  Hinterlande  sowohl  quan- 
titativ, wie  qualitativ  in  dauerndem  Wachstum  begriffen,  und 
zwar    in    beiderlei  Beziehung    fast    gleichmäßig.     So    betrug   die 


—     24     — 


Tab.  8.  Tab.  9. 

Einfuhr  nach  Ausfuhr  von 

H  a  m  1)  u  r  f; 
mit  Eisenbahn  und  auf  der  Oberelbe.     (Nach  der  Hamburger  Statistik) 


I. 

2.     1      3- 

4-           5- 

6.   7r|!"8:"^ 

<^     1 

10. 

Tl.  1 

12.      13. 

Gesamteinfuhr 

Davon  auf 

Ant.d  Elb-  Gesamtausfuhr 

Davon  auf     | 

Ant.d  Elb- 

Jahr 

auf  Eisenbahn 

Oberelbe 

Verkehrs          j-  Eisenbahn 
am  Ges.- 

der  Ob 

erelbe 

(1.  Gesamt- 

und Oberelbe 

eingeführt 

Verkehr   |  und  Ob 

erelbe 

ausge 

führt 

ausfuhr 

Gewicht  Wert  in 

Gewicht 

Wert  in 

"ü 

1              1 
-     1  Gewicht 

Wert  in 

Gewicht  Wert  in  | 

in        1 000000 

in 

I  000000 

•iö5 

«55,       in  ^ 
>        1  000  t 

1 000000 

in 

1 000000 

1000 1         M. 

lOOO  t 

M. 

V 

0 

M. 

1  000  t 

M. 

1890 

3  232 

I  205 

I  729 

386 

53.5 

32,5          • 

91 

3  477 

I  243 

1923 

445 

55.1 

35-4!   2639 

I   140 

I  709 

464 

65.0 

40,3 

92 

3  064 

I  117 

I  490 

341 

48,6 

30,6    2758 

I  "5 

I  825 

466 

65,9 

42,3 

93 

3368 

I  171 

1712       364 

50,7 

30,7     2741 

I  117 

I  696 

419 

62,0 

37,5 
44,8 

94i 

3485 

I  085 

1869       3S1 

53,7 

35-1    3174 

I  137 

2  291 

514 

72,2 

1895 

3  503 

I  191 

I  734  1     352 

49,4 

29,4''  3  167 

I  129 

2309 

488 

72,8 

43,3 

96 

3  957 

I  277 

2  023      406 

51,0 

32,8!  3813 

I  197 

2  908 

548 

76-3 

45,8 

97 

4  193 

I  235 

2248      411 

53-633,3,1  4261 

I  258 

3182 

572 

74,6 

45,2 

98 

4  410 

I  229 

2258 

419 

5i>2 

34,1;   4702 

I  362 

3651 

684 

77,9 

50,0 

99 

4  636 

I  338 

2435 

453 

52,3 

33-6'    4677 

I  409 

3514 

690 

75-0 

48,9 

1900 

1  4967 

I  523 

2  606 

508 

52,5 

33,6    4763 

1478 

3457 

705 

72,9 

47,3 

Ol 

4988 

I  437 

2565      475 

5i>3 

32,6!;  4712 

I  398 

3489 

661 

74,0 

47,0 
48,2 

02 

4938 

I  470 

2  449       433 

49-5 

29,2    4  506 

I  411 

3335 

677 

73-8 

03 

5865 

1638 

3319       578 

56,6 

35-3J  4  934 

I  522 

3799 

780 

76,6 

51.3 

04 

5  214 

I  624 

2  178 

395 

41-8 

24,6t  4  691 

I  627 

3°I3 

631 

64,1 

38,6 

1905 

5866 

I  820 

3  001 

560 

51. 1 

30,7  i  6341 

I  926 

4643 

918 

73-1 

48,1 

06 

6856 

2  II  I 

3567 

624 

52,0 

29-3; 

6771 

2  134 

5007 

986 

74-0 

46,3 

07 

6645 

2  261 

3  186 

595 

48,0 

26,1] 

7817 

2380 

5844 

I    lOI 

74,6 

46,2 

08 

6440 

2018 

3082 

566 

47.8 

28,2 

7401 

2  147 

5522 

972 

74-7 

45,1 

09 

6  964 

2  197 

3  353 

605 

48,1 

26,8 

7897 

2  302 

5966 

1039 

75,5 

'^•3 

1910 

9542 

2755 

5079 

805 

53,4 

29,0 

9758 

2  708 

7506 

I  309 

76,9 

40,1 

II 

8725 

2937 

2  911 

598 

34,9 

20,4 

j 

8862 

2775 

4  455 

968 

50,4 

i35,9 

1 

Steigerung  von  1890— 191 1  gewichtsmäßig  11,4%  und  dem  Werte 
nach  11,5  %,  so  daß  191 1  dem  Gewichte  der  Transportgüter  nach 
3/4,  dem  Werte  nach  fast  ^2  des  gesamten  Hamburger  Hinterland- 
ausfuhr  Verkehres  auf  der  Elbe  befördert  wurde. 

Diese  Entwicklung  der  Hamburger  Aus-  und  Einfuhr  vom 
Hinterlande  rechtfertigt  deutlich  die  Behauptung,  daß  die  Tal- 
schiffahrt an  Umfang  und  Bedeutung  nicht  unbedeutend  in  den 
letzten  Jahren  abgenommen  hat,  daß  diese  Abnahme  aber  nicht 
durch  gänzlichen  Wegfall  der  von  ihr  bisher  beförderten  Güter- 
mengen für  den  deutschen  Güterverkehr  überhaupt  ihren  Grund 
hat,  sondern  daß  jene  Gütermengen  auf  andere  Transportwege 
und  zwar  auf  die  Eisenbahnen  übergegangen  sind.  Schuld  an 
diesem  Umstände  sind  nicht  die  Transportleistungen  der  Eib- 
schiffahrt ;  denn  diese  haben  sich,  was  Schnelligkeit,  Regelmäßig- 


—      25      — 

keit,  Pünktlichkeit  und  vor  allem  Billigkeit  der  Beförderung  an- 
langt, in  weitgehender  Weise  vervoUkommt  und  verbessert. 
Was  z.  B.  die  Billigkeit  betrifft,  so  sei  nur  darauf  hingewiesen, 
daß  noch  im  Jahre  1890  für  eine  Tonne  Kohlen  von  Aussig  bis 
Hamburg  die  Transportkosten  durchschnittlich  3,20  M.  (gleich 
0,53  Pfg.  für  I  tkm),  1908  dagegen  nur  noch  2,80  M.  (gleich 
0,41  Pfg.  für  I  tkm)  betrugen,  und  daß  die  Strecke  Hamburg- 
Dresden  1875  für  Massengut  durchschnittlich  noch  13  M.  für 
I  t  (gleich  2,32  Pfg.  für  i  tkm)  Fracht  kostete,  19 10  dagegen 
nur  noch  3,20  M.  für   i   t  (gleich  0,53  Pfg.  für   i   tkm). 

Jener  Rückgang  des  Eibverkehres  ist  also  lediglich  auf  Ver- 
änderungen in  unserer  gesamten  Volkswirtschaft,  nicht  aber  auf 
Rückständigkeit  und  deshalb  Reformbedürftigkeit  der  Eibschiffahrt 
zurückzuführen. 

Da  der  österreichische  Eibverkehr  eine  so  bedeutende  Rolle 
auch  für  die  Organisation  der  Eibschiffahrt  spielt,  so  sei  noch  ein 
kurzer  Blick  auf  die  Art  der  böhmischen  Eibtransportgüter  und 
ihre  Bestimmungsorte  geworfen.  Als  Beispiel  seien  die  Verhält- 
nisse des  Jahres  1910  wiedergegeben,  das  im  allgemeinen  als  ein 
leidlich  normales  Schiffahrtsjahr  gelten  kann.  In  diesem  Jahre 
versandte  Böhmen  auf  der  Elbe  nach  Deutschland  i  796906  t 
Güter  und  empfing  aus  Deutschland  711  216  t.  Auf  welche  Güter- 
arten sich  diese  Güterbewegung  erstreckte,  darüber  gibt  Tab.  10 
(S.  26)  Aufschluß,  in  der  alle  Waren  aufgeführt  sind,  die  mit  mehr 
als  30COO  t  die  Elbe  benutzt  haben. 

Diese  Tabelle  zeigt  die  überragende  Rolle,  die  in  dem 
böhmischen  Versand  die  Braunkohle  spielt,  die  hauptsächlich 
in  den  Häfen  Aussig-Stadt  und  Rosawitz  zur  Verladung  kommt. 
Der  größte  Teil  dieser  Kohle  legt  aber  nur  einen  verhält- 
nismäßig geringen  Weg  auf  der  Elbe  zurück,  denn  von  der 
Gesamtmenge  von  875000  t  ist  für  410000  t  das  Königreich 
Sachsen  mit  seinen  Haupthäfen  Dresden  und  Riesa  Bestimmungs- 
land. Dies  zeigt  Tab.  1 1  (S.  26),  die  darstellt,  wieviele  und  welcher 
Art  Güter  die  einzelnen  deutschen  Eibbezirke  aus  Böhmen  em- 
pfangen haben.  Größere  Mengen  böhmischer  Braunkohle  gehen 
nächst  dem  nach  der  Provinz  Sachsen  (162  000  t),  hauptsächlich 
wohl  nach  Magdeburg,  und  ferner  noch  nach  den  märkischen 
Wasserstraßen  (106454  0-  Die  ganze  Elbe  bis  Hamburg  hinab 
geht  nur  ein  sehr  geringer  Teil  der  böhmischen  Kohle,  nämlich 
50952  t. 


—      26 


Tab.    10. 

Versand  und  Empfang  Böhmens  nach  bez.  von 

Deutschland   im    Jahre    loio   in    i  ooo  t. 


I. 

2. 

... 

4. 

Menge  in 
1  ooo  t 

Davon  waren 

Gütergattung 

Menge 

Braunkohlen 

875 

Verbrauchszucker 

277 

Gesamt- 

Holz  (weich,  verarb.) 

176 

Versand 

1796 

Gerste 

66 

Pflastersteine 

49 

Malz 

41 

Rohrzucker 

34 

Chemikalien 

30 

I.ciii-  n.   Oelsaaten 

Ol 

Schwefelkies 

67 

Gesamt- 
Empfang 

711 

Roheisen 

Salz 

Borke,  Gerbstoffe 

Oel,  Fett,  Talg  und 

61 
61 

37 

Tran 

35 

Tab.   II. 

Die  einzelnen  El  b  Verkehrsbezirke    mit  ihrem    Güter  versand 

nach  und  Güterempfang  von  Böhmen  im  Jahre   1910. 

(Statistik  d.  Deutschen  Reiches  Bd.  245.) 


2.         I  3-1      4- 

Versand  nach  Böhmen 


5-1  6.  I      7- 

Empfang  von  Böhmen 


Verkehrsbezirke 
der  Elbe 


Gesamt  in 
1000  t 


Davon  waren 


Gesamt  in 
Güterarten    |g\t«,^      1000  t 


Davon  waren 


Güterarten 


Menge 
in  1000 t 


Elbe  von  Geest- 

hach  bis 

Falkental 

(Hamburg) 


636 


Lein-,Oelsaat, 
Phosph.  Kalk 
Schwefelkies 
Chilesalpeter 
Roheisen  j 

Borke,  Gerbh. 
Oele,  Fette, 
Talg 


91 
67 
67 
61 
61 
37 

33 


698 


Verbr.-Zucker 
JMineralöle 
Braunkohle 
I     (roh) 
Gerste 
[Malz 

'Rohzucker 
iChemikalien 


277 
So 

51 
50 
39 
34 
31 


Elbe  in  Hannover 


15      1 Braunkohle 


15 


Elbe  i.  Brandenbg.;!        — 


41 


Braunkohle 


41 


Elbe  in  Pr.  Sach-| 
sen  und  Anhalt    < 


70 


Salz  (Koch-, 
Speise-,  Vieh-,) 


61 


173 


Braunkohle 


Elbe  im  Königr. 
Sachsen 


162 

iBraunkohle      1  410 

632     iW.bearb.Holzj    172 

Pflastersteine   j     24 


Mark.  Wasserstr.  — 


iio      Braunkohle 


106 


Nächst  der  Braunkohle  ist  der  wichtigste  böhmische  Export- 
artikel der  Zucker,  und  zwar  in  Gestalt  des  Verbrauchszuckers: 
277663  t  (Rohzucker  34240  t).  Dieser  böhmische  Exportartikel 
ist  für  die  Eibschiffahrt  sehr  wichtig ;  denn  einerseits  wird  er  in 
den  Versandhäfen  —  hauptsächlich  Aussig-Schönpriesen  108  000  t, 
Laube  45  000  t,  und  durch  Vermittlung  der  Moldau  Prag  34  200  t  — 
in  großen  Mengen  als  Massengut  schiffsladungsweise  verfrachtet 
und  somit  durch  ihn  die  Schiffstragfähigkeit  sogleich  ganz  aus- 
genützt. Andererseits  benutzen  diese  Zuckerladungen  die  Elbe 
so  lange  wie  irgend  möglich.  Sie  bilden  reines  Transitgut,  da 
Hamburg  als  österreichischer  Exporthafen  dient,  eine  Stellung, 
die  ihm  von  Triest  stark  streitig  gemacht  wird.  Dieser  Zucker 
geht  unter  Zollverschluß  von  Böhmen  bis  zum  Hamburger  Frei- 
hafen durch.  Es  sei  schon  hier  bemerkt,  daß  die  Großschiffahrt 
dieses  günstige  und  wichtige  Transportgut  fast  ganz  an  sich  ge- 
rissen hat. 

Die  dritte  Stelle  in  der  Reihe  der  böhmischen  Transportgüter 
nimmt  in  der  Talschiffahrt  weiches  bearbeitetes  Nutz-  und  Bau- 
holz ein,  das,  im  Gegensatz  zum  Floßholz,  in  Kähnen  zur  Ver- 
ladung gelangt ;  dieses  Gut  benutzt  die  Elbe  fast  ausschließlich 
nur  bis  zum  Königreich  Sachsen. 

Im  ganzen  betrug  der  direkte  Versand  Böhmens  nach  Ham- 
burg  19 10:  445  000  t. 

Der  Empfang  Böhmens  aus  Deutschland  auf  der  Elbe 
besteht  in  der  Hauptsache  aus  Transitgütern,  die  die  Elbe  von 
Hamburg  aus  benutzt  haben.  Sie  bestehen  vor  allem  aus  Lein- 
und  Oclsaat  (1910:  91  103  t),  Schwefelkies  (67000  t),  Borke  und 
Gerbhölzer  (37  745  t).  Insgesamt  betrug  der  böhmische  Empfang 
direkt  aus  Hamburg  530000  t.  Weitere  wichtige  Empfangsgüter 
Böhmens  sind  Roheisen  (61  000  t)  und  Salz  (61  000  t) ;  letzteres 
stammt  ausschließlich  aus  der  Provinz  Sachsen  und  benutzt  die 
Elbe  meist  von  Schönebeck  aus. 

II.  Kapitel. 

Entwicklung  der  Eibflotte. 

Nachdem  gezeigt  worden  ist,  welche  Art  von  Gütern  die 
Eibschiffahrt  aufsucht  und  nach  welchen  Punkten  der  Verkehr 
hauptsächlich  gerichtet  ist,  soll  nunmehr  dargestellt  werden, 
w^elcher  Schiffspark  der  Eibschiffahrt  zur  Bewältigung  jener  Güter 


—       28       — 

zur  Verfügung  steht  und  wie  sich  die  Eibflotte  in  den  letzten 
Jahrzehnten  entwickelt  hat. 

Die  sicheren  statistischen  Unterlagen,  die  hierfür  zur  Ver- 
fügung stehen,  sind  ziemlich  gering  und  wenig  ergiebig,  denn 
es  fehlt  bei  der  Elbe  gänzlich  an  Veröffentlichungen  und  Zu- 
sammenstellungen, wie  sie  der  Rhein  in  den  jährlichen  Veröffent- 
lichungen der  vereinigten  Rheinschiffahrtsregister  und  der  Rhein- 
schiffahrtskommission, ferner  in  den  leicht  zugänglichen  und 
für  jenes  Stromgebiet  ziemlich  vollständigen  Registern  der  Ver- 
sicherungsgesellschaften in  Frankfurt  und  Mannheim  und  in 
den  Vermessungsbüchern  des  Germanischen  Lloyd  besitzt,  die 
fast  sämtliche  in  den  letzten  15  Jahren  für  den  Rhein 
erbaute  Schifte  enthalten.  Derartige  Hilfsmittel  sind  für  die  Elb- 
schiftahrt  nur  unvollkommen  vorhanden  oder  fehlen  ganz,  so  daß 
man  bei  Darstellung  der  Eibschiffahrt  auf  die.  Angaben  der  deut- 
schen Reichsstatistik  beschränkt  ist,  die  seit  1872  alle  fünf  Jahre 
über  den  Schiffsbestand  der  deutschen  Binnenschiffahrt  er- 
hoben und  veröffentlicht  werden.  Da  aber  die  Art  der  Erhebung 
eine  wenig  gründliche  und  nicht  immer  zuverlässige  ist  und  die 
Fragestellung  sich  oft  auf  Punkte  erstreckt,  die  für  die  Praxis 
und  die  wissenschaftliche  Bearbeitung  ziemlich  nebensächlich 
sind,  während  wichtige  Tatsachen  von  der  Erhebung  unbe- 
rücksichtigt gelassen  werden,  so  ist  aus  ihr  nur  ein  wenig  er 
giebiges  Material  zu  entnehmen.  Eine  Vergleichung  der  veröffent- 
lichten Erhebungsergebnisse  der  einzelnen  Jahre  untereinander 
und  ihre  Verwertung  für  eine  entwicklungsmäfMge  Darstellung  der 
Eibschiffahrt  ist  deshalb  nur  in  ganz  beschränktem  Umfange  mög- 
lich, zumal  die  Fragestellung  und  das  Zahlenmaterial,  das  nach 
jeder  statistischen  Aufnahme  veröffentlicht  wird,  fast  jedesmal 
wechselt  und  die  gewonnenen  Zahlenresultate  wegen  veränderter 
Gruppierung  der  statistischen  Ergebnisse  oft  untereinander  nicht 
vergleichbar  sind. 

Aus  diesen  Gründen  sind  bei  den  folgenden  Zusammen- 
stellungen die  Jahre  1872,  1877  und  1882  ganz  fortgelassen 
worden,  weil  eine  Vergleichung  der  für  diese  Jahre  von  der 
Reichsstatistik  angegebenen  Zahlen  mit  den  späteren  zu  ganz 
irreführenden  Ergebnissen  führen  würde.  Für  die  übrigen  Jahre 
von  1887  bis  1907  sind  nur  diejenigen  wenigen  Zahlenangaben 
zum  Vergleich  herangezogen  worden,  deren  Unterlagen  in  den 
verschiedenen  Jahren  durch  gleiche  Erhebungsmethoden  gewonnen 


—      29      — 

sind,  oder  die  sich  auf  Grund  der  Statistik  nachträglich  mit 
Sicherheit  gleichmäßig  berechnen  Ueßen. 

In  Tabelle  12  (S.  30)  ist  versucht  worden,  ein  Gesamtbild 
des  Schiffsparkes  des  gesamten  deutschen  Eibstromgebietes,  also 
der  Elbe  mit  all  ihren  Nebenflüssen,  den  märkischen  Wasser- 
straßen und  dem  Hamburger  Binnenhafen  zu  geben,  wobei  freilich 
die  Einschränkung  gemacht  werden  muß,  daß  die  zahlenmäßigen 
Werte  der  im  österreichischen  Elbegebiet  beheimateten  Eib- 
schiffe aus  Mangel  an  statistischen  Unterlagen  haben  unberück- 
sichtigt gelassen  werden  müssen. 

Denn  es  bestehen  keine  Zählungen  und  Angaben  des  öster- 
reichischen Schiffsbestandes  auf  der  Elbe.  Die  Oesterreichische 
Betriebszählung  für  das  Jahr  1902  jedoch  weist  an  der  Elbe 
222  Wassertransportbetriebe  mit  insgesamt  630  beschäftigten 
Personen  auf,  ferner  noch  8  Schiffahrtsbetriebe  als  Nebenbetriebe. 
Aus  dem  Vergleich  der  Zahlen  der  in  den  Betrieben  Beschäftigten 
und  der  Betriebe  ersieht  man,  daß  diese  sämtlich  kleine  Betriebe 
sein  müssen,  von  denen  wohl  keiner  mehr  als  einen  Kahn  be- 
sitzt ;  denn  zur  normalen  Besatzung  gehören  3  Personen.  Da  in 
diesen  Ziffern  auch  die  zahlreichen  Fahrbetriebe  enthalten  sind, 
so  wird  man  nicht  fehlgehen,  wenn  man  annimmt,  daß  1902  in 
Böhmen  etwa  170  Schiffsunternehmungen  mit  ebensoviel  Schlepp- 
kähnen für  den  weitstreckigen  Eibverkehr  vorhanden  waren.  Diese 
Zahl  wird  sich  während  der  für  die  folgende  Berechnung  in  Be- 
tracht kommenden  Zeit  annähernd  gleich  geblieben  sein,  weshalb 
die  Zahl  170  für  alle  Jahre  als  Zahl  der  österreichischen  an 
der  Elbschiffahrt  beteiligten  Schleppkähne  den  Zahlen  der  deut- 
schen Statistik  im  Endergebnis  hinzugezählt  werden  wird.  Dies 
wird  umso  eher  der  Wahrheit  entsprechen,  als  in  Böhmen  nie- 
mals während  dieser  Zeit  ein  Großschiffahrtsunternehmen  bestan- 
den hat. 

Nicht  unerwähnt  darf  bleiben,  daß  mehrfach  österreichisches 
Kapital  in  Schiffen  angelegt  ist,  die  in  Deutschland,  zumeist  im 
Königreich  Sachsen  beheimatet  sind.  Das  hat  seinen  Grund 
darin,  daß  hier  die  Steuern  und  Abgaben  niedriger  sind  als  in 
Oesterreich.  So  hat  die  größte,  mit  österreichischem  Geld  ge- 
gründete Elbschiffahrtsgesellschaft,  die  »Oesterreichische  Nord- West- 
Dampfschiffahrts-Ges.<-  ihren  Sitz  in  Dresden.  Die  Schiffe  dieses 
rein  österreichischen  Unternehmens  sind  daher  in  den  Zahlen  der 
deutschen  Binnenschiffahrtsstatistik  mit  enthalten. 


—     30 


Tab.    12. 

Bestand  an  Binnenschiffen   im  Stromgebiet  der  Elbe 

(nach  der  Rcichsstatislik). 


Jahr 


3-  4- 

Anzahl  der  Schiffe 


ohne 
eigne 
Trieb- 
kraft 


mit 
eigner 
Trieb- 1   N 
kraft   ' 


I      0.     I      7.     I      8.     I     9.    I    10.  I   II.    ]   12. 
Die  Tragfähigkeit  soweit  angegeben  betrug: 


bei  Schiffen  ohne 
eigne  Triebkraft 


Zahl 

der 
Schiffe 


_ta, 


Zus. 

Trag 

fähiRk.  I  =icni 

in  looo  t,—  in  -  ^ 


b. Dampfschif- 
fen überhaupt 


Zahl 

der 

Schiffe 


H.5 


bei  Frachtdampf- 
schifTen 


Zahl     Tragf. 

der    I      in 

Schiffe    looo  t 


I887I 
1892 

1897 
1902 


10  151 

11  582 
10756 
II  622 


19071  12  005 


726 

940 

I  382 

I  771 


10  622 

12  308 
I  I  696 

13  004 
13776 


10  HO 

11  506 

10  610 

11  478 
II  992 


976 

96 

271 

17 

39 

.S 

1 274 

III 

521 

28 

48 

7 

I  435 

135 

759 

41 

57 

7 

2  0S6 

181 

I  222 

60 

70 

12 

2356 

196 

I  770 

81 

431 

29 

136 

147 
118 

«75 
68 


Aus  Spalte  2 — 4  dieser  Tabelle  geht  hervor,  daß  die  Zahl 
der  Eibschiffe  in  den  letzten  Jahren  bedeutend  gestiegen  ist. 
Und  zwar  ist  die  Vermehrung  der  in  Spalte  3  aufgeführten 
Schiffe  mit  eigener  Triebkraft  bei  weitem  größer,  als 
diejenige  der  in  Spalte  2  dargestellten  Schiffe  ohne  eigene 
Triebkraft,  also  der  Fracht-  und  Lastkähne.  Trotzdem  aber 
reichen  erstere  in  ihrer  Bedeutung  für  den  Frachtverkehr  als 
Gütertransportschiffe  nicht  im  entferntesten  an  die  der  Fracht- 
kähne heran,  was  ein  Vergleich  der  Tragfähigkeit  der  reinen 
Frachtdampfer  in  Spalte  1 1  mit  derjenigen  der  Frachtkähne  in 
Spalte  6  beweist.  Ferner  lehrt  eine  Gegenüberstellung  von 
Spalte  8  und  10,  daß  der  Zahl  nach  die  weit  geringere  Menge  der 
Eibdampfschiffe  aus  Frachtdampfern,  dfe  Mehrzahl  aber  aus  kleinen 
Verkehrsbooten  besteht,  die  vor  allem  im  Hamburger  Hafen  zum 
Hafendienst  und  auf  den  märkischen  Wasserstraßen  zum  Personen- 
und  beschränkten  Gütertransport  dienen.  Eine  dritte  Gruppe 
unter  ihnen  bilden  die  reinen  Schlepp  dampfer,  die  zwar  für 
den  Schiffahrtsverkehr  sehr  wichtig  sind,  aber  für  die  Bewältigung 
des  Gütertransportes  nur  mittelbar  in  Frage  kommen. 

Das  wichtigste  Gütertransportmittel  auf  der  Elbe  bilden  die 
Frachtkähne,  deren  Entwicklung  deshalb  einer  besonderen  Be- 
trachtung unterzogen  werden  soll. 

Spalte  5  und  6  der  Tabelle  12  veranschaulichen  zuerst  das 
für  die  Eibschiffahrt  typische  Wachstum  der  Zahl,  wie  der  Größe 
der  Frachtschiffe.  Ihre  Zahl  ist  von  1887  bis  1907  von  10  HO 
auf    1 1  992    (18%)    gestiegen,    während    die    Tragfähigkeit    von 


_     31     — 

976560  t  auf  2  356507  t  (131  %)  anwuchs.  Es  zeigt  sich  also, 
daß  die  Steigerung  der  Leistungsfähigkeit  des  Kahnparkes  gegen- 
über der  absokiten  Zahl  der  Schiffsgefäße  eine  bedeutend  größere 
ist,  d.  h.,  daß  die  Größe  und  Tragfähigkeit  der  einzelnen  Schiffe 
sich  nicht  unbeträchtlich  vermehrt  hat. 

Wenn  freilich  in  Spalte  7  die  durchschnittliche  Tragfähig- 
keit für  das  Jahr  1887  auf  96  t  und  für  das  Jahr  1907 
auf  196  t  angegeben  wird,  so  läßt  das  wohl  ein  wahrheitsgemäßes 
Bild  der  relativen  Leistungsfähigkeitssteigerung,  nicht  aber  ein 
solches  der  absoluten  Größen  der  eigentlichen  Eibfahrzeuge 
zu ;  denn  in  der  statistischen  Aufstellung,  die  das  ganze  Strom- 
gebiet der  Elbe  umfaßt,  sind  auch  die  kleinen  und  kleinsten 
Schifferboote  der  Unterelbe  und  der  märkischen  Gewässer, 
die  in  der  Reichsstatistik  dem  Stromgebiet  der  Elbe  zugerech- 
net sind,  sowie  die  nur  zum  Hamburger  Hafendienst  be- 
stimmten, sehr  zahlreichen  Schuten  und  Leichterboote  enthalten. 
Diese  an  Zahl  den  eigentlichen  Eibtransportschiffen  weit  über- 
legenen kleinen  Fahrzeuge,  die  für  den  weitstreckigen  Güter- 
transport nicht  in  Frage  kommen,  drücken  die  Durchschnittszahl 
der  Tragfähigkeit  für  das  Elbegebiet  auf  ein  tieferes  Niveau  herab 
und  entstellen  dadurch  die  Wirklichkeit.  Daher  sind  diese  sum- 
marisch gewonnenen  Zahlen  nicht  allzu  wertvoll.  In  folgendem 
(S.  32)  ist  eine  Tabelle  zusammengestellt  worden,  die,  jene  Fehler 
möglichst  vermeidend  und  verbessernd,  ein  Bild  von  der  wirklichen 
Entwicklung  der  Frachtgüterflotte  der  Elbe  geben  soll.  Es  sind  in 
ihr  nur  die  unmittelbar  an  der  deutschen  Oberelbe  mit  Ausschluß 
ihrer  Nebenflüsse  und  Kanäle  beheimateten  Kähne  ohne  eigenen 
Antrieb  berücksichtigt.  Die  nur  im  Hamburger  Hafen  zu  Ver- 
mittlungs-  und  Verladungstransporten  benutzten  kleinen  Schuten 
und  Leichter  sind  in  Spalte  3  und  6  sowohl  nach  Zahl  wie  nach 
Tragfähigkeit  gesondert  aufgeführt,  damit  sie  nicht  das  Gesamt- 
bild für  die  Frachtkähne  störend  beeinflussen. 

Die  Zahl  der  Frachtkähne,  die  in  Spalte  2  aufgeführt  sind, 
und  die  die  eigentliche  Transportflotte  der  Elbe  darstellen,  möchte 
fast  wegen  ihrer  Niedrigkeit  im  Verhältnis  zu  den  in  Tabelle  12, 
Spalte  5  mitgeteilten  Zahlen  Verwunderung  erregen :  dort  weist 
das  Jahr  1907  12  005  Schiffe,  hier  dasselbe  Jahr  nur  1782  Schiffe 
auf,  also  kaum  den  siebenten  Teil.  Anders  stellt  sich  jedoch  ein 
Vergleich  der  Tragfähigkeit  dieser  Schiffe  für  dasselbe  Jahr,  wie 
er  aus  Tabelle  12,  Spalte  6  und  Tabelle  13,  Spalte  5  entnommen 


—     32     — 

Tab.    13. 

Bestand  an  antriebslosen  Schleppkähnen  an  der  Elbe  ohne  ihre 

Nebenflüsse  von  Saclisen  bis  Hamburg. 

I.Ulf  Grund  der  Reichs-  und  Hamburger  Statistik). 


I. 

2- 

3- 

4- 

5- 

6.      1        7. 

8.  1 

9.      1 

10. 

Zahl  der  Schleppkähne 

Tragfähigk.d.  Schleppkähne 

Proz. Zunahme 
seit  1887 

Sui  c 

Jahr 

ohne  die 

Leichter 

ohne  die]  Leichter 

5351 

Trae- 

"^—  - 

Leichterund 

und 

Zu- 

Leichter  u.i      und       Zusammen 

"  «Ifähiekeit 

Schuten 

Schuten 

sammen 

Schuten  d.|  Schuten 

(ausSp.  5) 

t  «  c'yj 

Hamburgs 

Hamburgs 

Hanib.Geb.  in  Hamb. 

NX 

% 

QH'Ö  « 

1887 

I  629 

3057 

4686 

195  009 

114  794 

309803 

i 

122 

1892 

2  015 

3791 

5806 

508  634 

149946 

658  580 

24! 

165 

254 

1897 

2044 

3325 

5369 

577346 

148  650 

725996 

26! 

196 

288 

1902 

2  169 

4256 

7425 

956919 

238  678 

I  195  597 

34  1 

390 

435 

1907 

I  782 

5484 

7  266 

I  051  929 

349587 

I  401  516 

9i 

439 

584 

werden  kann:  dort  Gesamttragfähigkeit  aller  antriebslosen  Eib- 
schiffe 2  356  507  t,  hier  Gesamttragfähigkeit  aller  Eibfracht- 
schiffe I  051  929  t,  also  fast  die  Hälfte.  Somit  ergibt  sich  aus 
diesen  beiden  Tabellen,  daß  der  siebente  Teil  aller  Schiffe  fast 
die  Hälfte  der  Tragfähigkeit  aller  Schiffe  in  sich  vereinigt,  und 
daraus  folgt  weiter,  daß  sich  in  Tab.  13,  Spalte  10  für  die  Größe 
und  Tragfähigkeit  der  Frachtkähne  bedeutend  höhere  Durch- 
schnittswerte ergeben  müssen,  als  in  Tab.  12,  Spalte  7. 

Betrachtet  man  nun  die  Entwicklung  dieser  so  gefundenen 
wirklichen  Eibtransportflotte  im  engeren  Sinne  \),  von  der  im  fol- 
genden allein  noch  die  Rede  sein  soll,  eingehender,  so  zeigt  sich 
in  den  20  Jahren  von  1887 — 1907  ihrer  Zahl  nach  nur  eine 
Steigerung  von  9  % ,  der  Tragfähigkeit  nach  aber  eine 
solche  von  439  % .  Doch  ist  sie  in^  den  einzelnen  Zeitabschnitten 
eine  so  verschiedene,  daß  es  sich  verlohnt,  diese  Verschiedenheit 
etwas  näher  zu  betrachten.  Von  1887/ 1892  weist  die  Eibflotte 
ihr  größtes  Wachstum  auf,  nämlich  in  der  Zahl  der  Schiffe  24  % 
und  in  ihrer  Tragfähigkeit  165  %.  Es  hängt  dieses  Wachstum 
damit  zusammen,  daß  Ende  der  80  er  Jahre  der  Eibverkehr  von 
und  nach  den  märkischen  Wasserstraßen  einen  bedeutenden  Auf- 
schwung nahm,  überhaupt  die  Konjunktur  in  der  Eibschiffahrt 
eine  besonders  günstige  war,  so  daß  zahlreiche  neue  Schiffahrts- 
betriebe entstanden.  In  dem  folgenden  Jahrfünft  ist  die  Ent- 
wicklung eine  bedeutend  ruhigere,  da  der  Bedarf  an  Schiffsmaterial 
in    der    vorhergehenden  Periode    gedeckt  worden  war  und  durch 


i)  Hinzuzurechnen  sind  dabei,  wie  oben  angeführt,  für  jedes  Jahr  rund   170 
österreichische  Schleppkähne  mit  ca.  40  000  t  Tragfähigkeit. 


—     33     — 

zahlreiche  Vereinbarungen  unter  den  Schiffahrttreibenden  eine 
allzu  scharfe  gegenseitige  Konkurrenz  vermieden  wurde.  Wenn 
auch  mehrere  neue  große  Schiffahrtsunternehmungen  in  dieser 
Zeit  gegründet  wurden,  so  begnügten  sich  diese  doch  meist  damit, 
alten  Kahnraum  aufzukaufen  und  in  ihrer  Hand  zu  vereinigen, 
ohne  Neubauten  vornehmen  zu  lassen,  so  daß  sich  daraus  nur  eine 
Neuerung  in  der  Organisation,  nicht  aber  eine  Vermehrung  der 
gesamten  Transportmittel  ergab.  Eine  ganz  andere  Tendenz  zeigt 
dagegen  das  nächste  Jahrfünft  von  1897/ 1902,  ^^^  ^^^  Anfang 
der  Zeit  schärfster  Konkurrenzkämpfe  bildet.  Während  dieser 
Kampfjahre,  die  genauer  vom  Jahre  1901  bis  zum  Jahre  1904 
reichen,  vermehrten  fast  alle  größeren  Unternehmungen  in  einer 
der  Entwicklung  des  Frachtangebotes  nicht  entfernt  entsprechenden 
Weise  ihre  Bestände  an  Schleppkähnen  sowohl  der  Zahl  wie  der 
Größe  und  Tragfähigkeit  nach,  um  einerseits  die  günstige  Kon- 
junktur zu  Beginn  des  Jahrhunderts  voll  ausnutzen  zu  können 
und  andererseits  ihre  Konkurrenten  niederzukämpfen.  So  kam 
es,  daß  von  1897/1902  die  Zahl  der  Schiffe  um  34%,  ihre  Trag- 
fähigkeit um  390%^)  gegenüber  dem  Jahre  1887  gestiegen  war, 
während  im  Jahre  1897  die  Steigerung  für  die  Schiffszahl  erst 
26%,  für  die  Tragfähigkeit  196%  betragen  hatte  und  sie  im 
Jahrfünft  1892/1897  nur  um  2%  bez.  31%  gewachsen  war. 
Demgegenüber  stellt  das  Jahr  1907  ein  bedeutend  geringeres 
Wachstum  der  Eibflotte  fest,  was  eine  Folge  der  seit  1904  zur 
Durchführung  gelangten  Konzentrationsbewegung  in  der  Eib- 
schiffahrt war.  Die  Zahl  der  Schiffe  wies  sogar  absolut  einen 
nicht  unerheblichen  Rückgang  gegen  das  Jahr  1902  auf,  und  die 
Tragfähigkeit  steigerte  sich  gleichzeitig  nur  in  mäßigen  Grenzen 
(49%  gegen  194%  im  Jahrfünft  1897/1902).  Die  Kartellgesell- 
schaften setzten,  nachdem  der  Konkurrenzkampf  durch  ihren  Zu- 
sammenschluß bedeutend  abgeschwächt  war,  nunmehr  zahlreiche 
alte  kleinere  Kähne,  die  durch  die  Höhe  ihrer  Betriebs-,  Unter- 
haltungs-  und  Versicherungskosten  schon  längere  Zeit  unrentabel 
gearbeitet  hatten,  außer  Betrieb. 

Es  ist  nicht  uninteressant,  einen  Vergleich  anzustellen  zwischen 

i)  Zu  dieser  Zahl  ist  zu  bemerken,  daß  im  Jahre  1902  eine  Neueichung  aller 
Eibschiffe  stattgefunden  hat  und  daß  durch  ein  neues  Eichverfahren  die  Trag- 
fähigkeit einzelner  Schiffe  etwas  höher  berechnet  worden  ist,  als  die  früheren  Eich- 
ungen ergeben  hatten.  Doch  macht  diese  Verschiebung  nur  einen  verschwindenden 
Teil  des  Zuwachses  der  Gesamttragfähigkeit  aus. 

Zeitschrift  für  die  ges.  Staatswissensch.     Ergänzungsheft  50.  3 


—     34 


dem  der  Elbe  jährlich  zufließenden  Frachtgüterquantum  und  dem 
ihr  für  dessen  Bewältigung  zur  Verfügung'  stehenden  Kahnraum. 
Zu  diesem  Zwecke  ist  in  nachfolgender  Tabelle  14  die  Gesamt- 
transportgütermenge der  Eibschiffahrt,  wie  sie  in  Tabelle  5  ge- 
funden und  zusammengestellt  worden  ist,  mit  der  zu  ihrer  Be- 
wältigung zur  Verfügung  stehenden  Eibflotte  nach  Tabelle  13 
Spalte  2  bez.   5  verglichen  worden. 

Hierbei  sei  jedoch  betont,  daß  die  Zahlen  der  Tabelle  14 
nur  einen  Vergleichswert  besitzen,  und  nicht  als  absolute  Zahlen 
verwendet  werden  können.  Denn  diese  Zahlen  sind,  wie  oben 
ausgeführt,  nur  von  relativer  Richtigkeit,  und  überdies  muß  be- 
achtet werden,  daß  zur  Bewältigung  des  Güterangebotes  auf  der 
Elbe,  vor  allem  für  das  nach  und  von  Hamburg  kommende,  nicht 
nur  die  >reine«  Eibflotte,  wie  sie  in  Tab.  13  aufgestellt  ist,  son- 
dern abgesehen  von  den  etwa  170  in  Böhmen  beheimateten 
Schiffen,  auch  die  der  märkischen  Wasserstraßen  stark  mit  heran- 
gezogen werden  müssen.  Da  für  letztere  jedoch,  soweit  sie  am 
langstreckigen  Eibverkehr  beteiligt  sind,  keine  sicheren  Zahlen 
gefunden  werden  können,  so  konnten  hier  nur  die  an  der  Elbe 
beheimateten  Transportkähne  berücksichtigt  werden.  Trotzdem 
können  die  gefundenen  Zahlen  als  Vergleichswerte  ein  brauch- 
bares Material  ergeben.  Außerdem  sind  in  Tab.  14  auch  nicht 
die  Fracht  d  a  m  p  f  e  r  berücksichtigt  worden,  deren  Transport- 
leistung zwar  im  Verhältnis  zum  Gesamtverkehr  gering  ist,  deren 
Zahl  und  Tragfähigkeit  aber,  wie  aus  Tabelle  12  zu  ersehen  ist, 
doch  in  letzter  Zeit  stark  anwächst.  Im  allgemeinen  werden  die 
in  Spalte  4  der  Tab.  14  gefundenen  "Zahlen  in  der  Wirklichkeit 
noch  etwas  kleiner,  also  ungünstiger  sein. 

Tab.   14. 
Vergleich  zwischen  Frac  htschi  ff  flott  e  und  Gesamt- 
verkehr auf  der  Elbe. 


I. 

Jahr 

2. 

Gesamttragfähigkeit  der 

Frachtdampfer  und 

Schleppkähne  auf  der 

deutschen  Elbe  in  t 

3- 

Gesamt- 
güterverkehr 
in  t 

4- 
Auf 
I  Schiffs- 
tonne kom- 
men Güter- 
tonnen 

1887 
1892 
1897 
1902 
1907 

200  000 
515700 
584  000 
968  90G 
I  080  900 

3  80G  000 

5  ooo  000 

6  200  000 

7  442  000 
IG  370  000 

19,0 

9,6 

10,6 

7-5 
9,6 

—     35     - 

Betrachtet  man  die  Verhältniszahlen  in  Spalte  4  der  vor- 
stehenden Tabelle,  so  wird  die  oben  geäußerte  Vermutung  durch 
sie  ihre  Bestätigung  finden:  Von  1887/ 1907  hat  sich  die  durch- 
schnittliche Beschäftigungs-  und  Ausnutzungsmöglichkeit  der  Eib- 
schiffe genau  um  die  Hälfte  verringert  und  zwar  in  ziemlich  gleich- 
mäßigem Rückgang^).  Die  kleine  Aufbesserung,  die  das  Jahr  1907 
aufweist,  ist  nicht  hoch  zu  bewerten,  da  in  ihm  zwar  einerseits  der 
Zusammenschluß  eines  großen  Teiles  der  Elbschiffahrttreibenden 
erfolgte  und  dabei  manche  alte,  bisher  nur  für  den  heißesten 
Konkurrenzkampf  verwendete  Frachtschiffe  aus  den  Schiffslisten 
gestrichen  wurden,  dafür  aber  andererseits  am  Ende  des  Jahres  1907 
ein  neues  bedeutendes  Schiffahrtsunternehmen  gegründet  wurde, 
das  schon  im  Jahre  1909  mit  59  neu  erbauten  Schleppkähnen 
größter  Abmessung  auf  der  Elbe  fuhr  und  dadurch  den  Kahn- 
raum wieder  stark  vermehrte,  ohne  daß  im  Güterangebot  sich 
eine  entsprechende  Steigerung  zeigte.  Ganz  besonders  deutlich 
kann  man  übrigens  auch  aus  dieser  Tabelle  die  schon  erwähnte 
Tatsache  erkennen,  daß  zwischen  den  Jahren  1897  und  1902  der 
Kahnraum  infolge  des  Konkurrenzkampfes  in  einer  übermäßigen, 
der  Nachfrage  nicht  entfernt  angepaßten  Weise  vermehrt  und 
dadurch  die  Beschäftigungsmöglichkeit  der  einzelnen  Frachtfahr- 
zeuge fast  um  25  %  verringert  worden  ist.  Die  auf  eine  Trag- 
fähigkeitstonne eines  Frachtschiffes  kommende  jährliche  Güter- 
menge sank   in  diesem  Zeitabschnitt   von   10,0  t  auf  7,5  t  herab. 

Durch  zwei  Momente  wird  dieses  ungünstige  Resultat  in  seiner 
Bedeutung  für  die  Schiffahrt  noch  beträchtlich  verstärkt. 

Es  muß  berücksichtigt  werden,  daß  von  Jahr  zu  Jahr  durch 
technische  Fortschritte  im  Bau  der  Frachtfahrzeuge  und  Schlepp- 
dampfer, sowie  durch  Vervollkommnung  der  Verfrachtungs-  und 
Löschtechnik  in  den  Hafenplätzen  die  Leistungsmöglichkeit  einer 
Schiffseinheit  sich  bedeutend  gesteigert  hat  und  auch  wegen  der 
weit  höheren  Bau-  und  Betriebskosten  in  neuerer  Zeit  sich  steigern 
mußte.  Die  Reisezeit  zu  Berg  ist  in  den  letzten  15  Jahren  etwa 
um  ^/s — ^/2,  die  Löschzeit  in  den  Häfen  etwa  um  die  Hälfte  ver- 
kürzt worden,  so  daß  jedes  Frachtschiff  nach  Empfang  eines  Fracht- 
auftrages   bedeutend   schneller   wieder  auf  dem  Frachtmarkt  ver- 


i)  Die  Zahlen  des  Jahres  1892  sind  als  unnormal  zu  betrachten,  weil  in  die- 
sem Jahre  der  Verkehr  auf  der  Elbe  wegen  der  Choleraepidemie  in  Hamburg  ein 
ganz  außergewöhnlich  geringer  gewesen  ist,  ohne  daß  dies  mit  dauernden  wirtschaft- 
lichen Verhältnissen  im  Zusammenhang  gestanden  hätte. 

3* 


-     36     - 

wendbar  wurde.  Man  rechnet,  daß  durch  diese  Umstände  die 
Leistungsfähigkeit  eines  Frachtschiffes  gleicher  Tragfähigkeit  in 
den  letzten  25  Jahren  sich  etwa  verdoppelt  hat.  Das  läßt  also 
die  Ueberproduktion  an  Kahnraum,  wie  sie  aus  Tabelle  14  her- 
vorgeht, noch  bedeutsamer  werden. 

Und  noch  ein  zweites  Moment  kommt  hinzu :  Die  Ladefähig- 
keit eines  Frachtschiffes  nimmt  naturgemäß  mit  dem  Sinken  des 
Wasserstandes  ab,  da  bei  der  geringen  Tiefe,  die  im  allgemeinen 
die  Elbe  aufweist,  bei  niedrigem  Wasser  die  Tauchtiefe  der 
Schiffe  verringert  werden  muß,  die  Frachtsätze  normalerweise 
aber  aufsteigen.  So  kommt  es,  daß  nur  ein  geringer  Teil  des 
Jahres  es  erlaubt,  die  Frachtschiffe  mit  voller  Ladung  fahren  zu 
lassen,  wodurch  sich  die  vorhandene  Gütermenge  auf  eine  größere 
Zahl  von  Fahrzeugen  verteilt  und  die  Ausnutzungsfähigkeit  des 
einzelnen  herabgemindert  wird.  In  dieser  Beziehung  sind  aber 
in  den  letzten  20  Jahren  bedeutende  Wandlungen  durch  die  staat- 
lichen Stromregulierungsarbeiten  eingetreten,  so  daß  von  Jahr  zu 
Jahr  die  Zahl  derjenigen  Betriebstage  wächst,  an  denen  selbst 
die  größten  Fahrzeuge  mit  voller  Ladung  die  ganze  Elbe  von 
Hamburg  bis  Böhmen  befahren  können.  Das  bedeutet  aber  wieder 
nichts  anderes,  als  daß  die  Ausnutzungs  möglichkeit  einer 
Schiffseinheit  gewachsen  ist. 

Aus  diesen  Umständen  ersieht  man,  daß  man,  um  das  Kahn- 
raumangebot im  Verhältnis  zum  Güterangebot  richtig  zu  be- 
werten, nicht  nur  die  Ergebnisse  der  Tab.  14  Spalte  4  benutzen 
darf,  sondern  daß  man  vielmehr  für  die  letzten  Jahre  gegenüber 
den  früheren  die  Tragfähigkeitsangaben  noch  um  ein  reichliches 
Drittel  vermehren  muß  und  sie  dann  erst  in  das  Verhältnis  zu 
dem  Gesamtgüterangebot  der  Elbe  setzen  darf.  Nur  so  erhält 
man  ein  richtiges  Bild  von  der  durchschnittlichen  tatsäch- 
lichen Ausnütz  ung  des  Kahnraumes  auf  der  Elbe  im  Ver- 
hältnis zu  seiner  Ausnutzungs  f  ä  h  i  g  k  e  i  t  und  Ausnutzungs- 
möglichkeit. 

Wirft  man  die  Frage  auf,  wie  sich  solche  Zustände  in  der 
Eibschiffahrt  bei  freier  Konkurrenz  haben  herausbilden  können, 
so  ist  darauf  hinzuweisen,  daß  der  Eibverkehr  in  hohem  Maße 
ein  Saisonverkehr  ist,  d.  h.  zeitweise  sehr  starke  Anforderungen 
stellt,  um  aber  schnell  wieder  abzuflauen,  und  daß  dieser  Charakter 
des  Eibverkehres  sich  von  Jahr  zu  Jahr  verstärkt  hat.  Dies  ver- 
anschaulichen die  Tab.  15  und  16,  auf  denen  der  Bergverkehr  ab 


—     37     — 

Hamburg  und  der  Talverkehr  an  der  böhmischen  Grenze  nach 
ihren  monatlichen  Leistungen  für  die  wohl  als  normal  geltenden 
Jahre  1885,  1895,  1905  dargestellt  werden.  Man  sieht  aus  ihnen, 
wie  vor  allen  Dingen  in  den  Frühjahrs-  und  Herbstmonaten  plötz- 
lich sehr  starke  Anforderungen  an  den  Eibverkehr  gestellt  werden, 

Tab.    15. 
Durchgangsverkehr  zu  Tal  an  der  Zollgrenze  zu  Schandau. 


und  zwar  an  beiden  Hauptverkehrszentren,  in  Hamburg  und  Böh- 
men, zu  gleicher  Zeit,  daß  diese  Anforderungen  aber  ebenso 
schnell  wie  sie  gekommen,  wieder  zurückgehen.  Es  hängt  dies 
einerseits  mit  den  Wasserstandsverhältnissen,  andererseits  aber 
mit  der  Art  der  Frachtgüter  zusammen,  die  auf  der  Elbe  ver- 
schifft werden,  indem  vor  allen  Dingen  in  Hamburg  im  Herbst 
und    im  Frühjahr    die   Getreidemassen    der    letzten   überseeischen 


-     38     - 

Ernte  und  in  Böhmen  im  Herbst  für  den  Winterbedarf  und  im 
Frühjahr  für  die  AuffüUun«,'  des  gelichteten  Winter-  und  Frühjahr- 
vorrates Braunkohlenmassen,  sowie  ebenfalls  große  Getreidemengen 
zur  Verfrachtung  gelangen. 

Tab.    i6. 
Hamburgs  Elb  verkehr  zu  Berg. 


1,000  t. 

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Die  Ausrüstung  eines  auf  freier  Konkurrenz  beruhenden  Ge- 
werbes mit  den  ihm  nötigen  Betriebsmitteln  richtet  sich  aber 
automatisch  nach  den  stärksten  Beschäftigungszeiten,  zumal 
diese  in  der  Regel  die  lohnendsten  sind.  Das  trifft  auch  für  die 
Eibschiffahrt  zu.  Von  einer  Ueberproduktion  an  Kahnraum  konnte 
man,  wenigstens  bis  vor  5  oder  6  Jahren,  während  der  günstigsten 


—     39     — 

Beschäftigungszeiten  im  Frühjahr  und  Herbst  nur  in  geringem  Um- 
fang reden ;  nach  ihr  wird  die  Menge  des  notwendigen  Kahnraumes 
berechnet.  Und  da  die  Kurven  der  plötzlichen  Nachfrage  immer 
höher  und  zwar  ganz  unvermittelt  ausschlagen,  so  ist  es  auch  er- 
klärlich, daß  der  Kahnraum  noch  von  Jahr  zu  Jahr  eine  immer 
stärkere  Vermehrung  finden  mußte,  wenn  er  diesen  plötzlichen, 
freilich  nur  vorübergehenden  Anforderungen  gerecht  werden 
wollte.  Auf  die  günstige  Geschäftszeit  aber  folgt  die  flauere,  und 
zwar  auf  allen  Gebieten  der  Elbe  zu  gleicher  Zeit,  während 
der  dann  der  Kahnraum  nur  wenig  beschäftigt  ist  und  unren- 
tabel brach  liegt.  Einigermaßen  regulierend  wirkt  zwar  während 
der  beschäftigungsarmen  Sommerperiode  der  sinkende  Wasserstand 
und  damit  die  verringerte  Ladefähigkeit  der  Frachtschiffe  auf  das 
Verhältnis  von  Kahnraumangebot  und  Güterangebot  ein.  Doch 
ändert  das  nichts  an  der  Tatsache,  daß  auf  der  Elbe  in  wach- 
sendem Maße  eine  Ueberproduktion  von  Kahnraum  vorhanden 
ist,  bei  deren  Besprechung  der  Jahresbericht  der  *  Vereinigten 
Elbschiffahrts-Gesellschaften«  für  das  Jahr  1910  noch  einen  weiteren, 
nicht  unwichtigen  Grund  hervorhebt,  wenn  er  sagt:  »Diese  Ver- 
mehrung ist  keineswegs  durch  das  vorhandene  Bedürfnis  bedingt 
gewesen,  sondern  hervorgerufen  durch  das  übermäßige  Angebot 
von  selten  der  Mehrzahl  der  Werften,  die  neben  der  eigenen  weit- 
gehenden Krediteinräumung  Schiffshypothekengelder  in  großem 
Umfange,  vornehmlich  von  ausländischen  Banken,  zur  Verfügung 
hatten.  Zu  der  so  geschaffenen  Ueberproduktion  an  Betriebs- 
mitteln standen  die  vorhandenen  Gütermengen  in  gar  keinem  Ver- 
hältnis. ^<  Im  folgenden  Abschnitt  wird  ausführlich  auf  diesen 
Punkt  eingegangen  werden. 


—     40 


II.  A  b  s  c  h  n  i  1 1. 

Organisation  der  Einzelunternehmungen. 

I.   Kapitel. 

Wesen  der  gewerblichen  Einzelunternehmung. 

Der  Betrieb  der  Eibschiffahrt  zersplittert  sich  in  eine  große 
Zahl  mehr  oder  weniger  kapitalkräftiger  Einzelbetriebe  und  Einzel- 
unternehmungen, eine  Erscheinung,  wie  wir  sie  bei  der  Schiffahrt 
auf  fast  allen  wichtigeren  Binnenwasserstraßen  finden.  Kaum  in 
einem  anderen  Gewerbe  bestehen  nebeneinander  so  bedeutende 
Unterschiede  von  Betriebsgrößen,  wie  in  der  Frachtschiffahrt,  was 
mit  den  verschiedenen  Zwecken  zusammenhängt,  mit  denen  der 
Gütertransport  auf  einer  Wasserstraße  betrieben  wird- 

Scharf  trennt  sich  vor  allem  nach  Art  der  Unternehmer  und 
des  Geschäftsbetriebes  der  lokale  und  der  weitstreckige  Fracht- 
verkehr, jener  oft  vergleichbar  mit  dem  Botenfuhrwerk  auf  der 
Landstraße,  dieser  mit  der  Eisenbahn.  Zwergbetriebe,  die  mit 
Schiffsgefäßen  von  kaum  mehr  als  50  bis  70  t  Tragfähigkeit  ar- 
beiten, finden  wir  heute  vielfach  noch  in  der  Mark,  aber  auch  in 
den  mecklenburgischen  Gebieten  der  Oberelbe.  Es  ist  selbst- 
verständlich, daß  derartige  Betriebe  nicht  der  Frachtschiffahrt 
einer  großen  Binnenwasserstraße  zugerechnet  werden  dürfen  und  des- 
halb in  vorliegender  Arbeit  keine  Berücksichtigung  und  Bespre- 
chung finden  können.  Denn  das  Wesen  und  die  Bedeutung  des  Bin- 
nenwasserstraßenverkehrs im  engeren  Sinne  liegt  gerade  in  der  Größe 
der  Transportgefäße,  die  es  ermöglicht,  auf  einer  Fahrt  ge- 
waltige Gütermengen  zu  transportieren  und  deshalb  vorzüglich 
geeignet  ist  zur  Verfrachtung  von  Massenkonsumartikeln.  Wäh- 
rend z.  B.  ein  normaler  Eisenbahnzug  Güter  im  Gewichte  von 
400—600  t  fortbewegt,    sind  heute    auf  der  Elbe  Schiffsladungen 


—     41     — 

von  700—800  t  das  Normale,  solche  von  looo — i  loo  t  nichts 
Seltenes  mehr. 

In  diesen  Größenausdehnungen  der  Schiffsladungen  und 
Schiffsräume  liegt  jedoch  auch  eine  gewisse  Einschränkung  für 
die  Verwendbarkeit  des  Wasserstraßentransportes,  die  für  ihn  zu- 
gleich auch  ein  ganz  spezifisches  Charakteristikum  bildet :  Er  ist 
nur  anwendbar  für  die  Beförderung  auf  größere  Entfernungen. 
Das  Verladen  und  Verstauen  von  so  gewaltigen  Gütermengen 
am  Ausgangshafen,  wie  das  Entladen  am  Bestimmungsort  er- 
fordert auch  bei  Vorhandensein  der  modernsten  technischen  Hilfs- 
mittel und  des  bestgeschultesten  Ladepersonals  eine  nicht  geringe 
Summe  von  Zeit  und  Kosten,  die  stets,  sollen  sie  nicht  die  Ren- 
tabilität des  Wassertransportes  ungünstig  beeinflussen  und  seine 
Konkurrenzfähigkeit  gegenüber  der  Eisenbahn  herabmindern,  in 
einem  gewissen  Verhältnis  zu  der  Länge  des  Transportweges 
stehen  müssen.  Die  Rentabilität  des  Wasserweges  für  Fracht- 
güter wächst  mit  der  Entfernung,  auf  der  letztere  ihn  benutzen. 
So  betrug  (nach  Synipher)  im  Jahre  19 10  die  mittlere  Transport- 
entfernung auf  den  deutschen  Wasserstraßen  293  km,  auf  den 
deutschen  Eisenbahnen  jedoch  nur  153  km,  also  fast  nur  die 
Hälfte. 

Es  ergeben  sich  somit  für  die  Frachtschiffahrt  im  engeren 
Sinne,  wie  sie  in  den  folgenden  Abschnitten  hinsichtlich  ihrer 
Organisation  besprochen  werden  soll,  zwei  deutliche  Merkmale : 
Die  Benutzung  des  Wasserweges  für  Massen  transporte,  und 
zwar  nur  auf  weitere  Entfernungen.  Deshalb  ist  also 
jener  früner  erwähnte  Klein  verkehr  lokaler  Natur  auf  den 
Eibwasserstraßen  von  der  Besprechung  hier  auszuschließen. 

Aber  auch  noch  weitere  Einschränkungen  sind  für  die  Behand- 
lung der  verbleibenden  großen  Zahl  von  Schiffahrtsbetrieben  zu 
machen.  Es  soll  hier  nur  die  Rede  sein  von  den  Betriebs- 
organisationsformen im  Schiffahrts  g  e  w  e  r  b  e.  Nicht  jeder  Unter- 
nehmer, der  ein  Frachtschiff  auf  der  Elbe  schwimmen  läßt,  be- 
treibt die  Schiffahrt  gewerbsmäßig.  Unsere  natürlichen  Binnen- 
wasserstraßen sind  heute  noch  frei,  d.  h,  sie  stehen  einem  jeden 
zur  Benutzung  als  Transportweg  offen,  bisher  sogar  ohne  beson- 
dere Abgabenentrichtung.  Aus  diesem  Umstand  aber  ist  für  die 
Betreibung  des  Gütertransportes  auf  Wasserstraßen  ein  geringeres 
Betriebskapital  nötig  und  wird  eine  größere  Einfachheit  und  Be- 
quemlichkeit der  Verkehrsunterhaltung  herbeigeführt.    Der  Unter- 


nchmcr  bedarf  des  Kapitals  nur  für  Bcschaffunt,'  und  Unterhaltung 
der  Transport  g  e  fä  ß  e  ,  nicht  aber  für  Bau  und  Erhaltung  des 
Transport  w  e  g  e  s,  so  daß  auch  die  Amortisationskosten  bedeutend 
geringer  als  bei  anderen  Verkehrsarten  sind.  Da  überdies  das 
Personal,  welches  beim  Schiffstransport  Verwendung  findet,  ver- 
hältnismäßig gering  und  zum  «größten  Teil  ein  ungeschultes  und 
billiges  ist,  das  auch  bei  anderen  Arbeitsverrichtungen  verwendet 
werden  kann,  so  ist  es  kaum  verwunderlich,  wenn  man  sieht, 
daß  zahlreiche  Industrie-  oder  Handelsunternehmungen,  deren 
Rohstoff-,  Produktions-  oder  Absatzgebiet  von  den  Eibwasserstraßen 
berührt  oder  durchflössen  wird,  auf  diesen  in  größerem  oder  ge- 
ringerem Umfange  Frachtkähne,  Fracht-  oder  Schleppdampfer  unter- 
halten, die  nur  zur  Befriedigung  ihrer  eignen  Verkehrsbedürfnisse  die- 
nen. Derartige  Schiffahrtsbetriebe,  die  nur  Nebenbetriebe  anderer 
gewerblicher  Hauptbetriebe  sind,  und  die  auf  der  Elbe  nicht  selten 
in  Verbindung  mit  industriellen  Unternehmungen,  wie  Zucker- 
fabriken, Pulverfabriken,  Mühlen,  Ziegeleien,  Steinbruchsbetrieben 
und  dergleichen,  auch  im  Petroleum-  und  Übsthandel  anzutreffen 
sind,  finden  in  folgendem  keine  oder  nur  nebensächliche  Be- 
rücksichtigung. Hier  sollen  nur  die  gewerblichen  Schiff- 
fahrtsunternehmungen einer  Untersuchung  und  Be- 
sprechung unterzogen  werden,  und  diese  Bezeichnung  kommt 
jenen  nebenbetrieblichen  Schiffahrtsunternehmungen  um  so  weniger 
zu,  als  sie  die  Schiffahrt  nur  nach  eignem  Bedarf  und  daher  oft 
nur  periodenweise  ausüben,  um  sie  die  übrige  Zeit  im  Jahre 
ruhen  zu  lassen.  Freilich  sei  schon  hier  bemerkt,  daß  es  bei 
manchen  Schiffahrtsunternehmungen  mittlerer  Größe  nicht  leicht 
ist,  zu  entscheiden,  ob  sie  wirklich  noch  der  gewerblichen  Schiff- 
fahrt zuzuzählen  oder  nur  als  Nebenbetriebe  von  Speditions-  oder 
Getreide-  oder  Kohlenhandelsgeschäften  anzusehen  sind. 

Die  Betriebszählung  von  1907  weist  Binnenschiffahrt  als 
Nebenbetrieb  an  der  Elbe  40  mal  nach,  während  die  Betriebs- 
zählung von   1895  noch  66  solche  Betriebe  feststellte. 

Unter  gewerbsmäßiger  Güterschiffahrt  vereinigen  sich  in  der 
Eibschiffahrt  zwei  verschiedene  Schiffahrtsarten :  die  hVachtschiffahrt 
und  die  Schleppschiffahrt.  Wenn  auch  letztere  nur  mittelbar  an 
der  verkehrsmäßigen  Bewältigung  des  Frachtgüterangebotes  be- 
teiligt ist,  so  verbindet  sie  doch  ihr  geschäftliches  Interesse  eng 
mit  der  P^rachtschiffahrt,  so  daß  beide  nicht  voneinander  zu 
trennen  und  auch  vielfach  bei  größeren  Unternehmungen  in  einer 


—     43     — 

Hand  vereinigt  sind.  Denn  die  Frachtschiffahrt  ist,  wie  schon 
früher  gezeigt  worden,  auf  der  Elbe  zum  weitaus  größten  Teil 
Sache  der  Schleppkähne,  die  keine  eignen  Antriebsmaschinen  be- 
sitzen. Dampfschiffe  kommen  für  die  Frachtbeförderung  nur  bei 
Eil-  und  Stückgütern  in  Betracht.  Die  Schleppkähne  lassen  sich 
bei  der  Talfahrt  in  der  Regel  von  der  Strömung  des  Flusses 
treiben,  bei  den  Reisen  zu  Berg  aber  müssen  sie  sich  fremder 
motorischer  Kräfte  bedienen,  die  auf  der  Elbe  heute  nur 
in  privaten  Schleppdampfern  vorhanden  sind.  Im  Talverkehr 
wird  dagegen,  im  Gegensatz  zum  Rhein,  auf  der  Elbe  nur  selten 
geschleppt,  fast  nur  bei  Stückgüterladungen.  Ohne  die  Schlepp- 
schiffahrt ist  also  auf  der  Oberelbe  die  Bergfrachtschiffahrt  heute 
überhaupt  nicht  mehr  denkbar,  und  so  gehört  auch  die  erstere 
ihrem  Wesen  nach  zur  Güterschiffahrt. 

IL  Kapitel. 
Die  Kleinschiffahrt. 

I.  Wesen  des  Kleinbetriebes. 

Der  private  Kleinschiffer  ist  ein  Unternehmer,  dessen  wirt- 
schaftliche Interessen  lediglich  darauf  gerichtet  sind,  das  in  seinem 
ihm  als  Eigentümer  gehörigen  Schiffsgefäß  fundierte  Anlagekapital 
möglichst  hoch  zu  verzinsen  und  dadurch  aus  ihm  Gewinn  zu 
ziehen.  Damit  unterscheidet  er  sich  begrifflich  deutlich  von  dem 
Vertreter  des  modernen  Schifferhandwerkes,  von  dem  sogenannten 
Schifferknecht  oder  Schiffsmann.  Im  Sprachgebrauch  dagegen 
werden  diese  beiden  ganz  verschiedenen  Berufsarten  kurzerhand 
als  Schiffer  bezeichnet  und  damit  die  Angehörigen  des  Schiff- 
f  a  h  r  t  s-  und  des  Schiffer  gewerbes  gleichmäßig  benannt,  ob- 
wohl sie  nur  wenig  miteinander  gemeinsam  haben.  Denn  der 
Schiffseigner  zieht  seinen  Gewinn  aus  dem  im  Schiffsgefäß  an- 
gelegten Kapital,  der  Schifferknecht  dagegen  aus  seiner  persön- 
lichen, körperlichen  Arbeit  und  Leistungsfähigkeit.  Der  Schiffahrts- 
unternehmer,  von  dem  allein  in  diesem  Abschnitt  gesprochen 
werden  soll,  ist  also  an  sich  weder  Händler  noch  Schiffsführer, 
weder  Handwerker  noch  Handarbeiter,  sondern  er  ist  Kapitalist, 
d.  h.  Eigentümer  eines  Wertobjektes,  aus  dessen  wirtschaftlicher 
Ausbeutung  er  sich  Gewinn  und  Lebensunterhalt  verschafft.  Des- 
halb ist  auch  der  vielfach   im  Eibgebiet  gebräuchliche  Ausdruck 


—     44     — 

Privatschiffseigner  klarer  und  sinnentsprechender,  als  der  eben- 
falls denselben  Stand  bezeichnende  Ausdruck  I'rivatschiffer  oder 
Kleinschiffer  ;  trotzdem  werden,  dem  Sprach^^ebrauch  entsprechend, 
alle  drei  Bezeichnungen  der  Kürze  halber  im  folgenden  als  gleich- 
bedeutend nebeneinander  verwendet. 

Die  beiden  letzten  Bezeichnungen  können  leicht  zu  der  irrigen 
Annahme  verführen,  als  ob  das  Wesentliche  am  Kleinschiffer 
seine  körperliche  Tätigkeit  auf  einem  Schleppkahn,  z.  B.  als 
Steuermann  oder  Schifferknecht,  sei.  Eine  solche  kommt  prak- 
tisch zwar  vielfach  bei  dem  Schiffseigner  hinzu,  wodurch  die  Be- 
triebskosten durch  Ersparung  von  Mannschaftslöhnen  verringert 
und  die  Rentabilität  des  Schiffes  oder  des  in  ihm  angelegten 
Kapitals  erhöht  werden.  Notwendig  aber  zum  Begriff  und  Wesen 
des  Kleinschiffers  ist  diese  eigne  Tätigkeit  nicht,  und  es  gibt  in 
der  Tat  einige  Privatschiffseigner  im  Elbegebiet,  die  nicht  per- 
sönlich auf  ihren  Schiffen  fahren.  Vielmehr  beruht  diese  Ge- 
wohnheit auf  dem  Wesen  des  Kleinkapitalisten  überhaupt,  der 
den  Ertrag  seines  Kapitales  durch  Verwertung  seiner  eignen 
körperlichen  oder  geistigen  Arbeitskraft  zu  vermehren  sucht  und 
auch  relativ  stärker  vermehren  kann  als  der  Großkapitalist. 

Die  Richtigkeit  der  Auffassung,  daß  der  Kleinschiffer  seinem 
Wesen  nach  Kleinkapitalist  ist,  tritt  noch  deutlicher  hervor,  wenn 
man  die  Verwertungsmöglichkeiten  eines  Erachtschiffes  und  da- 
mit den  Wirkungskreis  und  das  Betätigungsfeld  des  Privatschiffs- 
eigners näher  ins  Auge  faßt.  Er  kann  seinen  Kahnraum  aus- 
nutzen : 

I.  Durch  Ankauf  von  Gütern  auf  eigene  Kosten  an  einem 
Orte,  an  dem  sie  geringen  Marktwert  besitzen ;  darauf  trans- 
portiert er  sie  zu  Wasser  an  einen  Ort,  an  dem  sie  höher  im 
Werte  stehen  und  verkauft  sie  daselbst  über  den  Einkaufspreis. 
Sein  Gewinn  besteht  hierbei  lediglich  in  dem  Ueberschuß,  den 
er  beim  Verkauf  der  Güter  über  dem  Einkaufspreis  samt  Un- 
kosten erhält.  Der  Kleinschiffer  wird  also  hier  zum  Händler, 
sein  Handelsgewinn  muß  neben  seinem  Unternehmergewinn  auch 
die  Betriebskosten  enthalten,  zu  denen  die  Verzinsung  des  im 
Schiff  angelegten  Kapitals  zuzurechnen  ist.  Diese  Art  Fracht- 
schiffahrt, bei  der  der  Schiffseigner  nicht  nur  Frachtführer,  son- 
dern auch  Eigentümer  der  Frachtgüter  ist,  war  früher,  noch  bis 
in  die  80 er  Jahre  hinein,  nicht  selten  bei  der  Kohlenfrachtschiff- 
fahrt  auf  der  Elbe  von  Aussig  talwärts  zu  finden.     Heute  ist  sie 


—    45     — 

auf  der  Elbe  ganz  verschwunden,  nachdem  kleinere  Kahnräume 
ihre  Rentabilität  verloren  haben,  die  Kohlenladungen  großer 
Schiffsgefäße  aber  ein  allzu  großes  Wertobjekt  darstellen,  dessen 
Eigentümer  der  Schiffseigner  aus  Mangel  an  genügend  eigenem 
Kapital  oder  Kredit  nicht  zu  werden  vermag.  Neuerdings  tritt 
sie  gelegentlich  wieder  bei  der  Verschiffung  von  böhmischem 
Obst  auf. 

2.  Durch  Abschluß  eines  Miet-  oder  Werkvertrages  mit  einem 
Verfrachter,  dessen  Frachtgütern  er  seinen  Kahnraum  zur  Ver- 
fügung stellt  und  deren  Transport  nach  einem  bestimmten  Orte 
er  übernimmt.  Dieser  Vertrag  kommt  so  zustande,  daß  der 
Schiffseigner  selber  auf  dem  Frachtmarkt  erscheint,  dem  Ver- 
frachter gegenübertritt  und  mit  ihm  den  Frachtpreis,  d.  h.  den 
Mietzins  für  den  von  den  Gütern  eingenommenen  Kahnraum  samt 
Transportvergütung  vereinbart.  Der  Kleinschiffer  tritt  hier  als 
selbständiger  Frachtführer  auf,  der  Frachtgewinn  abzüglich  der 
Betriebskosten  stellt  für  ihn  die  Verzinsung  seines  im  Schiffe  an- 
gelegten Kapitales  dar,  so  daß  er  an  der  Höhe  des  Frachtpreises 
voll  beteiligt  ist.  Diese  Betriebsart  war  früher  die  typische  für 
die  Privatkleinschiffahrt  im  Elbegebiet;  sie  ist  heute  durch  das 
Aufkommen  der  Gesellschaften,  in  deren  Befrachtungs-  und  Ver- 
mittlungskontoren sich  der  größte  Teil  der  der  Eibschiffahrt  zu- 
fließenden Verfrachtungsaufträge  konzentriert,  für  das  Fracht- 
geschäft zu  Berg  fast  ganz  verdrängt,  aber  auch  in  der  Talschiffahrt 
stark  in  Abnahme  begriffen.  Ihr  Hauptanwendungsgebiet  findet 
diese  Betriebsart  heute  noch  bei  der  Aussiger  Kohlenverfrachtung. 

3.  Durch  Abschluß  eines  Werkvertrages  mit  einem  Fracht- 
unternehmer, der  den  Schiffseigner  zu  einer  einmaligen  Transport- 
leistung verpflichtet.  Die  Vergütung,  die  hierfür  der  Schiffer  er- 
hält, besteht  in  den  häufigsten  Fällen  nicht  in  dem  vollen  Fracht- 
preis, den  der  Absender  für  den  Transport  seiner  Güter  bezahlen 
muß.  Vielmehr  fließt  dieser  dem  Frachtvermittler  zu,  der  seiner- 
seits bemüht  ist,  die  Vergütung,  die  er  für  Ausführung  der 
Frachtleistung  dem  Schiffer  zu  zahlen  hat,  möglichst  tief  unter 
dem  Frachtpreis  des  Marktes  zu  halten  und  aus  der  Differenz 
seinen  Gewinn  zu  ziehen.  Der  Schiffer  aber  muß  von  seinem 
Lohne,  wie  auch  sonst,  seine  sämtlichen  Betriebsauslagen  be- 
streiten und  kann  nur  den  etwa  bleibenden  Rest  als  Verzinsung 
seines  Betriebskapitals  ansehen.  Der  Schiffseigner  bleibt  aber 
selbständiger    Frachtführer.      Diese    Art    des    Geschäftes    ist    die 


-     46     - 

häufigste  Form  des  Kleinfrachtschiffahrtbetriebes  während  der 
letzten  30  Jahre  gewesen,  soweit  die  Schiffer  noch  vöUii^  selb- 
ständig waren  und  sich  nicht  einem  Verbände  oder  einer  Organi- 
sation, die  sie  dauernd  band  oder  verpflichtete,  angeschlossen 
haben  (das  neuere  System  der  Anteilfrachten). 

4.  Durch  Abschluß  eines  Dienstvertrages  mit  einem  Fracht- 
unternehmer, indem  sich  der  Schiffer  auf  die  Vertragsdauer  ver- 
pflichtet, unter  bestimmten  Umständen,  z.  B.  so  oft  er  mit 
leerem  Kahnraum  in  einem  bestimmten  Hafen  eintrifft,  Frach- 
ten nur  von  diesem  Frachtunternehmer,  und  zw'ar  zu  einem 
während  der  ganzen  Vertragszeit  gleichbleibenden  Fracht- 
satze zu  nehmen.  Es  kommt  dieses  Verhältnis  einer  be- 
dingten Vermietung  des  Kahnraumes  sehr  nahe.  Bei  dieser  Be- 
triebsweise verliert  der  Unternehmer  gänzlich  das  eigene  Interesse 
an  der  Lage  des  Frachtmarktes.  Sie  wurde  früher  auf  der  Elbe 
das  ältere  System  der  Anteilfrachten  genannt  und  war  während 
der  80  er  und  teilweise  noch  während  der  90  er  Jahre  im  Ver- 
hältnis zwischen  den  Schleppschiffahrtsgesellschaften  und  den 
Kleinschiffern  die  übliche,  indem  die  ersteren  suchten,  durch 
dieses  Verfahren  unter  den  Privatschiffseignern  speziell  für  ihr 
Hamburger  Geschäft  sich  eine  feste  Kundschaft  für  ihre  Schlepp- 
dampfer zu  sichern. 

5.  Durch  Vermietung  ihres  Fahrzeuges  auf  längere  oder  kür- 
zere Frist  an  Frachtunternehmer  zu  deren  völlig  freier  Verfügung. 
Der  Mietpreis  stellt  die  Verzinsung  des  in  dem  Schiff  angelegten 
Kapitals  dar,  soweit  der  Schiffseigner  durch  den  Mietvertrag  nicht 
noch  zur  Bemannung  und  Transpo'rtleistung  im  Auftrage  und 
nach  Anweisung  des  Mieters  verpflichtet  ist  und  in  diesem  Falle  von 
dem  Mietzins  noch  die  Mannschaftslöhne,  die  sonstigen  Betriebs- 
kosten sowie  Reparatur  und  Amortisationsaufwand  für  das  Schiff 
bestreiten  muß.  In  diesem  Verhältnis  stehen  heute  diejenigen 
Schiffseigner,  die  sich  der  Privat-Schiffer-Transport-Genossenschaft 
oder  einem  anderen  Großunternehmen  angeschlossen  haben. 

Diese  verschiedenen  Ausnutzungsmöglichkeiten  des  eigenen 
Schiffes  wendet  der  einzelne  Schiffseigner  an,  je  nachdem  sich 
ihm  die  Gelegenheit  bietet  und  ihm  günstige  Angebote  gemacht 
werden.  Er  nutzt  seinen  Kahnraum  während  der  einen  Reise 
auf  diese,  während  der  nächsten  auf  eine  andere  Weise  aus,  so- 
weit er  nicht  vertraglich  auf  Zeit  an  eine  bestimmte  Benutzungs- 
art seines  Fahrzeuges  gebunden  ist. 


I 


—     47     — 

Der  Kleinschiffahrtsunternehmer  unterscheidet  sich,  im  Gegen- 
satz zum  Kleinunternehmer  in  anderen  Betrieben,  durch  seine 
Stellung  und  seine  Funktionen  wesentlich  von  seinen  Angestellten, 
seinen  Gehilfen.  Das  ist  schon  in  seinem  Wesen  als  Kapitalist 
begründet;  er  ist  in  viel  stärkerem  Sinne  der  Leiter  und  Organi- 
sator seines  Betriebes,  als  etwa  der  Handwerksmeister  in  seiner 
Werkstatt.  Das  geht  schon  daraus  hervor,  daß  häufig  der  Schiffs- 
eigner nicht  persönlich  auf  seinem  Schiffe  fährt,  also  gar  nicht 
das  handwerksmäßige  Schiffergewerbe  selbst  ausübt,  sondern  am 
Lande  bleibt  und  dort  nicht  selten  irgendein  anderes  kleines 
Gewerbe  als  Beruf  betreibt,  z.  B.  eine  Schankwirtschaft,  Kramerei 
usw.  und  nur  den  von  ihm  angestellten  und  bezahlten  Schiffs- 
führern seine  allgemeinen  Anweisungen  gibt.  Fährt  er  aber  selbst 
auf  seinem  Fahrzeug  mit,  was  in  der  Eibschiffahrt  die  Regel 
bildet,  so  übt  er  hier  die  Funktionen  des  Transportführers  und 
des  Steuermannes  aus,  eine  Betätigung,  die  sich  nicht  unerheblich 
von  der  des  übrigen  Schiffspersonales  unterscheidet.  Es  liegt  also 
hier  tatsächlich  ein  schärfer  ausgeprägtes  Ueber-  und  Unter- 
ordnungsverhältnis zwischen  Unternehmer  und  Gehilfen  vor,  als 
im  Handwerk. 

Unterscheidet  sich  demnach  der  Privatschiffseigner  von  den 
Vertretern  des  Schifferhandwerks,  den  Schifferknechten  durch 
seine  Stellung  innerhalb  seines  Betriebes,  so  hebt  er  sich  von  den 
Großschiffahrtsunternehmungen  durch  die  Art  ab,  wie  er  sich  sein 
Betriebskapital  verschafft,  und  durch  die  rechtliche  Haftung  für 
Verpflichtungen  aus  seinem  Betrieb.  Der  Privatschiffseigner  ver- 
wendet in  seinem  Unternehmen  sein  eignes  Kapitalvermögen; 
reicht  es  allein  nicht  aus,  so  verstärkt  er  es  aus  Darlehen,  für 
die  er  durch  Eintragung  von  Schiffshypotheken  oder  auf  andere 
Weise  Sicherheit  leistet  und  für  die  er  feste  Zinsvergütung 
zahlen  muß.  Kleinschiffahrtsunternehmungen,  die  zwecks  Kapital- 
beschaffung auf  dem  Aktienprinzip  aufgebaut  sind,  gibt  es  im 
Gegensatz  zum  Rhein  auf  der  Elbe  nicht.  Die  Elbgroßschiffahrt 
dagegen  ist  ausnahmslos  auf  dem  Gesellschafts-  oder  Genossen- 
schaftsprinzip aufgebaut. 

Man  kann  sagen,  daß  in  der  Eibschiffahrt  für  den  Kleinbe- 
trieb das  Arbeiten  mit  einem  einzigen  eigenen  Fahrzeuge,  und 
zwar  mit  einem  Schleppkahne,  die  Regel  bildet.  Denn  ein  mo- 
derner eiserner  Schleppkahn,  der  einen  Wert  von  30 — 50000  M. 


-     4.S     - 

besitzt,  erfordert  schon  ein  so  bedeutsames  Betriebskapital,  daß 
es  nur  wenigen  Kleinschiffern  möglich  ist,  mehrere  derartige 
Schiffsgefäße  anzuschaffen,  zumal  das  Risiko  ihrer  Rentabilität 
bei  einer  Tragfähigkeit  von  looo — 1200  t  mit  ihrer  Zahl 
mehr  als  proportional  wächst ;  denn  es  ist  bedeutend  leichter, 
für  einen  Kahn  1000  t  Fracht  auf  einmal  zu  erlangen  als  für 
3 — 4  Kähne  3 — 4000  t.  Freilich  gibt  es  und  hat  es  stets  auf  der 
Elbe  einige  Privatschifferunternehmungen  gegeben,  die  sich  durch 
die  Talkraft  ihrer  Leiter  in  ein  oder  mehreren  Generationen  zu 
bedeutenderem  Umfang  hinaufgearbeitet  haben.  So  beispielsweise 
die  Inhaber  der  Privatschifferfirmen  Fr.  Andreae-Magdeburg(für  den 
Eibverkehr:  14  Schleppkähne);  Karl  Böhme-Dresden  (2  Dampfer, 
28  Schleppkähne)  und  Gebr.  Tonne-Magdeburg  (4  Dampfer,  14 
Schleppkähne).  Doch  selbst  diese  Unternehmungen  stellen  ihrer 
Organisation,  wie  den  Standesinteressen  ihrer  Inhaber  nach  nichts 
anderes  als  gut  entwickelte  Kleinschifferunternehmungen  dar. 

2.   Umfang  und  Entwickelung  des  Kleinbetriebes. 

Es  ist  schwer,  für  die  Elbe  ein  klares  Bild  zu  gewinnen  von 
dem  zahlenmäßigen  Umfange  des  Kleinschiffergewerbes  in  dem 
Sinne,  wie  es  im  vorhergehenden  Kapitel  umgrenzt  worden  ist. 
Es  herrschen  über  diesen  Gegenstand  sehr  stark  von  einander 
abweichende  Ansichten,  denn  eine  Zählung  des  weitstreckigen 
Binnenschiffahrtsgewerbes,  soweit  es  ausschließlich  an  der  Elbe 
beheimatet  ist,  ist  bisher  weder  von  Behörden  noch  von  privater 
Seite  vorgenommen  worden.  Im  folgenden  soll  versucht  werden, 
auf  verschiedenen  Wegen  die  Zahl  'der  Kleinschifferbetriebe  fest- 
zustellen. 

Man  könnte  versucht  sein,  als  sicher.ste  Quelle  die  Zahlen 
der  Elbschiffahrts-Berufsgenossenschaft  heranzuziehen ;  sie  um- 
faßte 

im  Jahre      l886     4053  Betriebe. 

»  »  I9IO  4   423  T 

191 1      5245 

Es  wäre  aber    irreführend,    diese  Zahlen    als    die    wirklichen 

Zahlen  der  Elbkleinschifferbetriebe  anzusehen.    Denn  einmal  reicht 

die  Elbschiffahrts-Berufsgenossenschaft  örtlich    sehr    stark    in   die 

märkischen   Wasserstraßen  hinein  ^)   und    andererseits  umfaßt  die 

i)  Im  Jahre  1910  lagen  von  insgesamt  4  423  Betrieben  nicht  weniger  als  421 
im  Verwaltungsbezirk  Burg  (bei  Magdeburg)  und  687  im  Verwaltungsbezirk  Bran- 
denburg. 


—     49     — 

Berufsgenossenschaft  neben  der  hier  behandelten  Güterschiffahrt 
auch  alle  Bugsier-,  Personenschiffahrts-,  Fähr-  und  Baggerbetriebe, 
sowie  die  große  Zahl  von  kleinsten  lokalen  Schiffahrtsbetrieben 
und  die  Schiffahrtsbetriebe  des  Hamburger  Hafens  und  der  Unter- 
elbe ^),  so  daß  die  Zahlen  der  Berufsgenossenschaft  allenfalls  nur 
als  Höchstzahl  der  an  der  Elbe  überhaupt  möglicherweise  be- 
stehenden Schiffahrtsbetriebe  angesehen  werden  können. 

Unterlagen  zur  Berechnung  der  gewerblichen  Güterschiffahrts- 
betriebe gewähren  ferner  die  Erhebungen  der  deutschen  und 
österreichischen  Betriebs-  und  Berufsstatistik.  Die  Berufsstatistik 
besitzt  jedoch  nur  mit  ihren  Gesamtzahlen  für  die  gesamte  Elbe 
Wert.  Denn  für  die  einzelnen  Bezirke  gibt  sie  nicht  die  Zahl 
der  tatsächlich  dort  die  Schiffahrt  Ausübenden  an,  sondern  nur 
die  Zahl  derjenigen  Schiffer,  die  zufällig  am  Tage  der  Zählung 
sich  im  Bezirk  aufgehalten  haben.  Ueberdies  macht  sie  keinen 
Unterschied  zwischen  Schiffseignern  und  Schiffsangestellten,  so 
daß  diese  Statistik  für  unsere  Zwecke  nicht  verwendbar  ist. 

Es  bleiben  daher  für  das  deutsche  Oberelbegebiet  nur  die 
Zahlen  der  Betriebszählung  vom  i.  Juni  1895  und  vom  12.  Juni 
1907.  Die  Zahlen  des  Jahres  1882  sind  zu  wenig  spezialisiert 
veröffentlicht  worden. 

Tab.  17  versucht  ein  zahlenmäßiges  Bild  von  der  Zahl  und 
der  Verteilung  der  Kleinschiffer  zu  geben ;  sie  beruht  auf  den 
Zahlen,  welche  für  die  an  die  Elbe  angrenzenden  unteren  Ver- 
waltungsbezirke ermittelt  worden  sind.  Dabei  ist  es  freilich  nicht 
zu  vermeiden  gewesen,  daß  auch  Betriebe  zur  Anrechnung  ge- 
langt sind,  die  nicht  unmittelbar  an  der  Elbe,  sondern  an  einer 
anderen  Wasserstraße,  aber  in  einem  Verwaltungsbezirk  gelegen 
sind,  der  auch  an  die  Elbe  grenzt.  Solche  Bezirke  sind  vor  allem 
Westpriegnitz,  und  Jerichow  I  und  II,  teilweise  auch  Dessau.  Die 
hier  festgestellten  Zahlen  sind  in  der  Hauptsache  von  dem  End- 
ergebnis, das  die  reine  Eibschiffahrt  darstellen  soll,  abzuziehen. 

Sp.  2  weist  für  das  Jahr  1895  3188  Hauptschiffahrtsbetriebe 
auf,  und  Sp.  3  für  das  Jahr  1907  2537.  Dies  sind  zwar  die 
Zahlen  sämtlicher  Elbschiffahrtsbetriebe,  also  einschließlich  der 
Großschiffahrt,  doch  kann  diese  Zahl  ohne  Bedenken  als  E  n  t- 
wickelungs  zahl  der  reinen  Klein  schiftahrtsbetriebe  be- 
trachtet werden,  da  1895  ^^^  4  ^^^   190?  "ur  6  Großschiffahrts- 

i)  Im  Jahre  1910  weisen  die  Verwaltungsbezirke  Hamburg  und  Harburg  924 
bez.  934  Betriebe  auf. 

Zeitschrift  für  die  ges.  Staatswissensch.     Ergänzungsheft    50.  4 


—     50 


Tab.    17. 

Die  Binnenschiffahrtsbetriebe  an   der  Elbe  in  Deutschland 

nach  Betriebszählung  vom   14.  Juni   1895  und   12.  Juni   1907. 


I. 

2. 

3- 

4- 

5. 

6.        1 

7- 

Kreis 

Hauptb 

etriebe 

Neb 
betr 

1895I 

en- 
ebe 

Gewerbetätige 
Personen 

1895 

1907 

1907 

1895       1 

1907 

Hamburg  (Stadt) 

I  156 

531 

5 

I 

6371 

7279 

Hamburg  (Landkreis  Bergedorf) 

76 

70 

12 

3 

178 

192 

Preußen ;  Stadtkr.   Harburg 

77 

71 

I 

I 

165 

105 

»           Landkr.          » 

28 

23 

I 

I 

46 

41 

»           Herzogtum  Lauenburg 

72 

78 

— 

— 

208 

235 

»          Landkr.  Lüneburg 

36 

41 

I 

2 

69 

76 

»           Kreis  Winsen 

29 

45 

21 

14 

61 

96 

>              »       Bleckede 

8 

12 

3 

— 

16 

19 

>              5.        Dannenberg 

38 

20 

— 

59 

30 

»              »       Lüchow 

21 

15 

— 

— 

32 

38 

Mecklenb.-Schw. ;  Bez.  Hagenow 

IG 

8 

— 

— 

21 

20 

»              »            >      Ludwigslust 

63 

61 

—  , 

— 

148 

165 

Preußen ;  Kreis  West-Priegnitz 

86 

149 

3 

I 

247 

372 

2               »        Osterburg 

6 

9 

— 

— 

II 

21 

»               5>        Stendal 

65 

lOI 

— 

I 

242 

312 

»               >       Jericho w  II 

224 

294 

I 

— 

597 

846 

»               »        Jerichow   I 

51 

40 

— 

— 

147 

107 

»               »       Wolmirstedt 

8 

34 

8 

I 

15 

96 

»           Stadtkr.  Magdeburg 

294 

188 

3 

2 

I  318 

I  090 

»           Kreis  Wanzleben 

10 

6 

I 

39 

27 

Anhalt ;  Bezirk  Zerbst 

40 

lOI 

— 

— 

170 

317 

>              j.       Dessau 

16 

18 

— 

3 

63 

56 

Preußen;  Landkreis  Kalbe 

338 

240 

2 

— 

I  226 

747 

»           Kreis  Wittenberg 

89 

93 

I 

— 

298 

299 

»                i>     Schweinitz 

— 

— 

— 

— 

— 

__ 

»                »     Torgau 

26 

13 

I 

I 

lOI 

40 

»                s     Liebenwerda 

22 

22 

— 

I 

88 

89 

Sachsen ;  Amtsh.  Oschatz 

15 

7 

I 

— 

43 

30 

»                »         Großenhain 

26 

36 

— 

107 

179 

s               »         Meißen 

30 

46 

I 

— 

200 

283 

»           Stadt  Dresden 

28 

23 

4 

5 

I  136 

2  910 

»           Amtsh.  Dresden-Altst. 

2 

2 

I 

6 

3 

»                 j.        Dresden-Neust. 

15 

12 

— 

— 

48 

34 

»                 >        Pirna 

183 

128 

3 

1      3 

688 

581 

im  gesamt,  deutsch.  Obereibgebiet 

I3188 

2537 

66 

1    40 

14  161 

17  019 

betriebe  in  diesen  Zahlen  enthalten  sind.  Bei  einem  Vergleiche 
der  Zahlen  aus  Sp.  2  und  3  macht  sich  eine  Entwicklungstendenz 
bemerkbar,  die  für  die  Eibschiffahrt  bezeichnend  ist,  nämlich  der 
starke  Rückgang  der  Betriebe  (fast  21  %  in  12  Jahren).  Dies 
ist  um  so  beachtlicher,  als  einige  Bezirke  wie  Westpriegnitz,  Je- 
richow II,  Zerbst  usw.  nicht  unbedeutende  Vermehrungen  ihrer 
Betriebe  aufzuweisen  haben,  die  wohl  nicht  nur  auf  Zuwanderung 
alter  Betriebe  aus  anderen  Bezirken,  sondern  teilweise  auch  auf 
Neugründungen  beruhen.    Wenn  nun  auch  der  gesamte  Rück- 


—     51     — 

gang  der  Betriebe  nicht  auf  Verminderung  solcher  Betriebe,  die 
den  Gegenstand  vorliegender  Arbeit  bilden,  beruht  —  denn  die 
Betriebsstatistik  umfaßt  ja  alle  Binnenschiffahrtsbetriebe,  auch  die 
kleinsten  und  bedeutungslosesten  — ,  so  zeugen  doch  diese  Zahlen, 
wie  noch  später  näher  auszuführen  ist,  davon,  daß  das  Elbschiff- 
fahrtsgewerbe  kein  sehr  blühendes  ist. 

Der  Rückgang  hängt  einerseits  mit  der  geringen  Rentabilität 
der  Eibschiffahrt  zusammen,  infolge  deren  der  Schiffer  sein  kleines 
Kapital,  das  er  bisher  in  seinem  Kahne  angelegt  hatte,  leichter 
und  günstiger  auf  andere  Weise  zu  höherem  Zinsfuß  verwenden 
konnte,  andererseits  kommen  die  wachsende  Größe  und  die  da- 
mit verbundenen  höheren  Anschaffungs-  und  Unterhaltungskosten 
der  modernen  Schiffsgefäße  in  Betracht,  vermöge  deren  frühere 
Schiffseigner  mit  dem  ihnen  zur  Verfügung  stehenden  Geld  und 
Kredit  nicht  mehr  imstande  waren,  ein  eigenes  neues  Schiff  an- 
zuschaffen. Dadurch  wurden  sie  gezwungen,  entweder  sich  einem 
anderen  Berufe  zuzuwenden,  oder  nach  einer  der  östlichen  Was- 
serstraßen überzusiedeln,  wo  noch  mit  kleinen  Schiffsgefäßen 
bei  besserer  Rentabilität  gefahren  werden  kann,  oder  aber 
sich  miteinander  zu  verbinden,  um  gemeinsam  mit  einem  ein- 
zigen gemeinschaftlichen  Schiff  den  Wassertransport  zu  betreiben. 
Es  zeigt  sich  hier  das  Bestreben  zur  Konzentration  der  Betriebe, 
das  auf  einem  gewissen  natürlichen  Ausleseprinzip  beruht,  und 
nicht  von  einem  bewußten  Willen  geleitet,  sondern  durch  die 
starke  Konkurrenz  und  die  Erhöhung  des  nötigen  Betriebskapitales 
verursacht  worden  ist. 

Unter  den  3188  bez.  2537  Betrieben  gehört  aber  sicherlich  eine 
große  Anzahl  nicht  zu  derjenigen  Gruppe  der  Elbkleinschiffer, 
die  hier  betrachtet  werden  soll.  So  betreibt  unter  den  1136  bez. 
531  KleinschifTern  des  Hamburger  Bezirkes  der  weitaus  größte 
Teil  Schiffahrt  mit  kleinsten  Schiffsgefäßen  nur  im  Hamburger 
Hafen  oder  auf  der  Unterelbe.  Auch  von  den  Betrieben  der  Be- 
zirke Westpriegnitz  und  Jerichow  I  und  II  werden  zahlreiche 
nicht  auf  der  Elbe  selbst  beheimatet  sein  und  auf  ihr  ihr  Ge- 
werbe ausüben,  sondern  vorwiegend  der  Schiffahrt  der  märki- 
schen Wasserstraßen,  die  ebenfalls  diese  Bezirke  durchfließen,  zu- 
zuzählen sein.  Deshalb  sind  diese  Zahlen  der  Betriebszählung 
mit  Vorsicht  zu  benutzen.  Doch  gewährt  Tab.  17  immerhin  eine 
Anschauung,  wie  das  Elbschiffahrtsgewerbe  entlang  dem  Fluß- 
laufe verteilt  ist. 


—     52 


Zur  Ergänzung  der  deutschen  Statistik  stellt  Tab.  iS  die 
Zahlen  der  österreichischen  Betriebsstatistik  von  1902  zusammen, 
die  in  den  für  den  langstreckigen  Elbschiffahrtsverkehr  in  Be- 
tracht kommenden  Elbbczirken  erhoben  worden  sind. 

Tab.  18. 

Die  Schiffahrtsbetriebe  auf  der  österr.  Elbe 
nach  der  Retriebszälilunf:^  von    1902. 


I. 

Eibbezirke 

Haupt- 
betriebe 

3- 

Gewerbstätige 
Personen 

Neben- 
betriebe 

Tetschen 

Aussig 

Leitmeritz 

Raudnitz 

Melnik 

114 

76 
8 

14 
10 

372 
192 

19 
27 
20 

4 
8 

I 

Gesamt 

222 

630 

8 

Die  wirkliche  Bedeutung  und  der  Umfang  der  Kleinschift- 
fahrt dürfte  am  sichersten  auf  indirektem  Wege  zu  ermitteln 
sein  und  zwar  dadurch,  daß  von  der  Zahl  der  sämtlichen  nach 
der  amtlichen  Statistik  auf  der  Elbe  im  Ferntransport  beschäf- 
tigten Schleppkähne  (Tab.  13)  die  Anzahl  derjenigen  in  Abzug 
gebracht"  wird,  die  im  Besitz  der  Großbetriebe  sich  befinden. 
Auf  diesem  Wege  erhält  man  folgende  Zahlen : 

Tab.    19. 
Verteilung  der  Eibschleppkähne  auf  Groß-  und  Kleinbetriebe. 


2. 
1887 


3- 
l8q2' 


4- 
1897 


5- 
1902 


6. 
1907 


Gesamtzahl  der  Eibschlepp- 1 
kähne 

Davon  im  Besitz    der  Groß- 
betriebe                                 j 

I  629 

334 

2  015 

327 

2044 
367 

2  169 
404 

I  782 
I  179 

Rest                          1 

1295 

1688 

1677 

I  765 

603 

Diese  Statistik  besitzt,  wie  nicht  übersehen  werden  darf,  eine 
Reihe  von  Mängeln.  Vor  allem  sind  in  der  Restsumme  der  Tab.  19 
auch  diejenigen  Kähne  mit  enthalten,  die  einzelne  industrielle 
Unternehmungen  zu  ihrem  eigenen  Bedarf  auf  der  Elbe  schwim- 
men lassen  und  die,  wie  in  der  Einleitung  ausgeführt  wurde, 
weder  zu  den  Kleinschiffern  noch  zu  den  Großschiffern,  vielmehr 
überhaupt  nicht  zum  Schiffahrtsgewerbe  zu  rechnen  sind.  Die 
Zahl  dieser  Schleppkähne  ist  freilich  nicht  groß.  Die  Betriebs- 
statistik   von   1895    gibt  66,    diejenige    von   1907  40  Betriebe  an, 


1 


—     53     — 

die  als  Nebenbetriebe  die  Schiffahrt  auf  der  Elbe  unterhalten, 
also  Kähne  besaßen.  Da  diese  Betriebe  in  der  Hauptsache 
selten  mehr  als  einen  Kahn  für  ihren  Nebenbetrieb  besitzen,  so 
wird  es  der  Wirklichkeit  nahe  kommen,  wenn  für  die  Jahre  1887, 
1892,  1907  entsprechend  der  Betriebsstatistik  von  1895  70  Schlepp- 
kähne in  Abzug  gebracht  werden,  um  aus  der  Tab.  19  die  Kähne 
der  Kleinschiffer  zu  ermitteln. 

Dagegen  müssen  zu  dem  Resultate  des  Jahres  1907  noch  702 
Schleppkähne  hinzugezählt  werden,  welche  in  diesem  Jahre 
die  »Vereinigten  Elbschiffahrts-Gesellschaften«  den  Privatschiffs- 
eignern abgemietet  und  in  den  Dienst  der  Großschiffahrt  gestellt 
hatten,  ohne  sie  deshalb  endgültig  den  Kleinschifferkreisen  zu  ent- 
ziehen. Ferner  ist  noch  zu  den  Endzahlen  aller  Jahre  die  Zahl 
170  hinzuzuzählen,  das  ist  die  Kahnzahl  der  an  der  österreichischen 
Oberelbe  angesiedelten,  auch  auf  der  deutschen  Elbe  arbeiten- 
den Kleinschiffer  ^).  Auf  Grund  dieser  Korrekturen  stellt  sich  die 
Schiffszahl  der  an  der  deutschen  und  österreichischen  Elbe  be- 
heimateten Kleinschiffer  auf: 

Tab.  20. 
1887   1395  Schleppkähne 
1892   1788 
1897   1777      » 
1902   1890      » 
1907   1430 

Diese  Zahlen  können  zwar  schon  mit  Rücksicht  auf  die  Art, 
wie  sie  gefunden  worden  sind,  keinen  Anspruch  auf  absolute  Ge- 
nauigkeit machen,  trotzdem  aber  vermögen  sie  einen  Anhalt  für 
die  Beurteilung  des  Umfangs,  der  Leistungsmöglichkeit  und  der 
Entwicklung  der  Kleinschiffahrt  zu  geben.  Keinen  Aufschluß 
dagegen  gewähren  sie  über  die  Zahl  der  Kleinschiffer  u  n  t  e  r- 
nehmungen. 

Ueber  diese  eine  befriedigende  Auskunft  zu  geben,  wird  erst, 
freilich  mit  gewissen  Einschränkungen,  möglich,  wenn  man  die 
bestentwickelten  Kleinbetriebe,  die  mehr  als  2  Kähne  in  ihrem 
Eigentum  haben,  mit  ihrer  Schiffszahl  von  der  Gesamtschiffszahl 
der  Kleinschiffahrt  absondert.  Die  zahlenmäßige  Möglichkeit  für 
eine  solche  Feststellung  gewähren  die  statistischen  Materialien 
nur  für  zwei  Jahre,  für  das  Jahr  1892  und  1907.  Zu  diesen  Zeit- 
punkten waren  als  kleinbetriebliche  Frachtschiffahrtsunternehmungen 

I)  Vgl.  s.  34. 


—     54     — 

folgende  Firmen    mit    mehr    als   zwei  Frachtkähnen   an  der  Elbe 
nach  der  deutschen  Reichsstatistik  beheimatet  und  tätiu : 

Tab.  21. 
Kleinbetriebe  mit  mehr  als  2  Schleppkähnen  auf  der  Elbe. 


I. 

2. 

3-     1 

4-     1 

5.    ' 

6. 

Firmen 

1892 

1907 

Art  und  Strecke  des 

Damp- 

Schlepp- 

Damp- 

Schlepp- 

Schiffahrtsbetriebes 

fer 

kähne 

fer 

kähne 

Lauenburger  Dampf- 

Schleppgeschäft:    Hamburg- 

schleppschiffahrt 

4 

— 

— 

— 

Berlin 

Gebr.  Tonne, 

Frachtschiffahrt:    Hamburg- 

Magdeburg 

4 

14 

— 

— 

Magdeburg 

Karl   Bühme, 

Frachtschiffahrt:    Hamburg- 

Dresden 

2 

28 

— 

— 

Riesa-Dresden- Aussig 

Fr.  Andrea, 

EiJgutverkelir:     Magdeburg- 

Magdeburg 

8 

17 

8 

16 

Berlin  und  Stettin 

W.  Strack, 

Gütertransport:     Magdeburg 

Magdeburg 

— 

— 

2 

II 

über  Berlin  nach  Schlesien 

C.  Stahlkopf, 

Schiffahrt  auf  d.  Wasserstr. 

Magdeburg 

— 

— 

4 

— 

zwisch.  Magdeb.  u.  Stettin 

Aug.  Mann,  Magdeburg 

— 

— 

3 

— 

Güterverkehr:  Hambg.-Halle 

Andrea  &  Berlling, 

Güterverkehr:     Magdeburg- 

Magdeburg 

— 

— 

2 

— 

Lübeck. 

Lüders  &  Stange, 

Seg.  u,  Dampfschleppschiffrt: 

Magdeburg 

— 

— 

2 

19 

Lübeck-Hambg.-Magdebg. 

Stettin  &  Lüdeke, 

Person.-   u.    Güterschiffahrt: 

Havelberg 

— 

— 

3 

Magdebg.-Havelbg.-Berlin 

Rothenbücher,  Maß  &  Lü- 

Schleppschiffahrt: Hamburg- 

deke,  Havelberg 

6 

30 

5 

— 

Havelmündung 

Math.  Burmeister, 

Schleppschiffahrt:  Hamburg- 

Magdeburg 

— 

— 

4 



Berlin 

Summe: 

1     24 

89 

33 

46 

In  dieser  Statistik  interessieren  verläufig  nur  die  Angaben  über 
die  Firmen  mit  eigenen  Schleppkähnen.  Es  haben  nach  ihr  1892 
4  Firmen  mit  89  und  1907  3  Firmen  mit  46  Schleppkähnen  be- 
standen. Bei  Berücksichtigung  dieser  Zahlen  erhält  man  für  die 
entsprechenden  Jahre  als  Schiffszahl  der  Kleinbetriebe  mit  ein 
oder  höchstens  zwei  Schleppkähnen  1892  1699  Schiffe,  1907 
1384  Schiffe. 

Innerhalb  dieser  Zahlen  ist  nunmehr  noch  die  Anzahl  der- 
jenigen Kleinschifferbetriebe  festzustellen,  deren  Eigentümer  in 
dieser  Aufstellung  zweimal  enthalten  sind,  weil  sie-  zwei  Schlepp- 
kähne besitzen.  Ihre  Zahl  läßt  sich  nur  auf  dem  Wege  der 
Schätzung  ermitteln.  Im  allgemeinen  trifft  man  bei  einer  hierauf 
gerichteten  Umfrage  und  bei  Stichproben  aus  den  gerichtlichen 
Schiffsregistern  an  der  Elbe  es  sehr  selten  an,  daß  ein  Klein- 
schiffer mehr  als  einen  modernen  Schleppkahn  besitzt,,  und  zwar 


-     55     — 

im  letzten  Jahrzehnt  noch  seltener  als  im  vorigen  Jahrhundert. 
Es  hängt  dies  mit  der  erhöhten  Tragfähigkeit  und  der  sehr  ge- 
stiegenen Höhe  der  Anschaffungskosten  eines  modernen  Schlepp- 
kahnes zusammen.  Wenn  daher  für  das  Jahr  1902  100  Betriebe 
mit  je  zwei  Kähnen  und  für  das  Jahr  1907  60  solcher  Betriebe 
angenommen  werden,  so  ist  ihre  Zahl  eher  zu  hoch  als  zu  niedrig 
gegriffen.  Tab.  22  zeigt  das  Endergebnis  dieser  etwas  um- 
ständlichen und  wegen  der  zahlreichen  Schätzungen  keinen  An- 
spruch auf  absolute  Richtigkeit  erhebenden  Berechnung  der  Klein- 
schifferbetriebe. Diese  Zahlen  geben  gleichwohl  ein  zutreffen- 
deres Bild  von  der  Kleinschiffahrt  auf  der  Elbe,  als  die  viel  zu 
hoch  gegriffenen  Zahlen  der  offiziellen  Betriebsstatistik. 

Tab.  22. 

1882   1599  Betriebe  mit   1788  Schleppkähnen 
1907   1324     »  »    1430      » 

Für  das  Jahr  1913  wird  von  sachkundiger  Seite  die  Zahl 
der  an  der  Elbe  beheimateten  Privatschifferunternehmungen  auf 
etwa   iioo  geschätzt. 

Die  gefundenen  Zahlen  weisen  eine  nicht  unbeträchtliche 
Flotte  von  leistungsfähigen  Fahrzeugen  auf,  die  einer  nicht  min- 
der großen  Zahl  von  Einzelbetrieben  angehören.  Die  Kleinbe- 
triebe zusammengenommen  stellen  einen  bedeutenden  Wirtschafts- 
faktor dar.  Bisher  ist  es  ihnen  mit  ihren  1483  Schleppkähnen, 
die  einen  Wert  von  etwa  40  Millionen  Mark  darstellen,  gelungen, 
gegenüber  den  479  Kähnen  der  Großbetriebe  in  weitem  Maße 
das  Feld  zu  behaupten. 

Es  wird  im  folgenden  wiederholt  darauf  hinzuweisen  sein, 
und  sei  auch  hier  schon  bemerkt,  daß  infolge  der  eigenartigen 
Organisation  der  Eibschiffahrt  es  unrichtig  sein  würde,  von  einem 
Gegensatz  zwischen  Groß-  und  Kleinschiffahrt  zu  sprechen;  viel- 
mehr haben  sich  beide  so  sehr  einander  angepaßt,  daß  sie  in 
der  Gesamtorganisation  der  Schiffahrt  fast  eine  Einheit  bilden, 
daß  sie  jede  für  sich  besondere  Leistungen  verrichten,  die  erst 
zusammengenommen  die  Frachtschiffahrt  bilden. 

So  erklärt  sich  die  starke  Konservierung  der  Kleinschiffahrt, 
obwohl  sie  inhaltlich  eine  andere  geworden  ist,  als  sie  noch  vor 
40  Jahren  war.  Statt  gegen  die  neuzeitliche  Betriebsweise  anzu- 
kämpfen und  bei  ihren  alten  Gewohnheiten  zu  bleiben,  hat  sie 
sich  ihr  anzupassen  gesucht  und  dadurch  sich  lebensfähig  erhalten. 
Selbstverständlich    ist    beim    Aufkommen    der    Großbetriebe    die 


-     56     - 

Zahl  der  Privatschiffseigner  nicht  unerheblich  zurückgegangen; 
wurde  doch  die  Zahl  ihrer  Kähne  um  die  Mitte  der  6oer  Jahre 
auf  etwa  4000  geschätzt.  Die  Verringerung  ihrer  Zahl  und  ihres 
Kahnbesitzes  hängt  aber  wohl  weniger  mit  der  unmittelbaren  Zu- 
wendung der  Kleinschifferkundschaft  zur  Dampfschiffahrt  zusam- 
men, als  vielmehr  mit  dem  bereits  besprochenen  Umstand,  daß 
durch  Einführung  der  Dampfschleppschiffahrt  auf  der  Reise  zu 
Berg  die  Größe  und  Tragfähigkeit  der  Schleppkähne  bedeutend 
gesteigert  werden  konnte. 

Das  weit  verzweigte  Netz  der  Nebenwasserstraßen  der  Elbe 
hat  wiederholt  als  eine  Art  Ausgleichsventil  für  die  Elbschiftahrt» 
oft  freilich  auch  im  ungünstigen  Sinne,  gewirkt.  Es  ist  dort 
eine  ganze  Reihe  von  Schiffahrtsunternehmungen  beheimatet,  die 
auf  den  märkischen,  wie  auf  den  ostelbischen  Wasserstraßen 
Schiffahrt  von  mehr  lokaler  Natur  mit  ihren. Fahrzeugen  kleinerer 
Abmessung  betreiben.  Treten  nun  auf  oder  nach  der  Elbe  gün- 
stige Konjunkturen  ein,  so  unternehmen  sie  ausnahmsweise  Reisen 
bis  zur  Elbe  und  auf  ihr  bis  Hamburg  oder  ^Magdeburg.  Zu 
solchen  Zeiten  kann  man  auf  der  Elbe  selbst  Frachtkähne  von 
der  Weichsel  sehen,  ja  es  ist  auch  z.  B.  im  Jahre  1899  nach- 
weislich vorgekommen,  daß  Frachtkähne  von  der  Weser  saison- 
weise über  Bremen  nach  der  Elbe  gekommen  sind.  Dies  wirkt 
selbstverständlich,  wenn  es  in  großem  Umfange  geschieht,  beun- 
ruhigend und  preisdrückend  auf  den  Eibfrachtenmarkt  ein,  weil 
dadurch  der  auf  der  Elbe  vorhandene  Kahnraum  nicht  unbedeu- 
tend vermehrt  wird. 

Andererseits  findet  in  Zeiten  anhaltend  ungünstiger  Kon- 
junktur auf  der  Elbe  eine  zeitweise  Abwanderung  oder  auch 
eine  dauernde  Uebersiedelung  von  Kleinschiffahrtsbetrieben  oder 
einzelnen  Fahrzeugen  von  der  Elbe  nach  den  Nebenwasserstraßen, 
speziell  den  östlichen  statt. 

Dies  ist  um  so  begreiflicher,  als  in  den  letzten  Jahrzehnten, 
während  deren  auf  der  Elbe  die  Rentabilität  des  Güterverkehrs 
im  Rückgang  begriffen  ist,  der  Verkehr  zwischen  Berlin  und 
seinem  Hinterlande,  besonders  auf  der  Oder  bis  Breslau,  eine 
nicht  unerhebliche  Steigerung  erfahren  hat,  und  somit  dort  zahl- 
reiche Eibschiffer  Beschäftigungsmöglichkeiten  erwarten  konnten. 
So  erklären  sich  teilweise  auch  die  Schwankungen  der  im  Klein- 
betriebe verwandten  Eibschleppkähne,  z.  B.  (nach  Tab.  20)  die 
Steigerung  zwischen    den   Jahren    1887/1892    von    1395    auf  1788 


. 


—     57     — 

Schiffe  und  die  Abnahme  zwischen  1902/1907  von  1890  auf  1430 
Schiffe. 

Es  ist  bisher  immer  nur  von  Kleinbetrieben  die  Rede  ge- 
wesen, die  reine  Frachtschiffahrtsunternehmungen  sind  und  dieses 
Geschäft  nur  mit  antriebslosen  Schleppkähnen  ausüben.  Diese 
sind  auch  die  bei  weitem  häufigste  Erscheinungsform  der  Klein- 
unternehmungen auf  der  Elbe.  Daneben  gibt  es  aber  noch  eine 
Anzahl  von  Kleinbetrieben,  die  ausschließlich  oder  in  Ver- 
bindung mit  der  Frachtschiffahrt  die  Schlepp- 
schiffahrt betreiben.  Ein  Verzeichnis  dieser  Betriebe,  soweit 
sie  überhaupt  für  den  weitstreckigen  Verkehr  in  Betracht  kom- 
men, ist  schon  in  Tab.  21  auf  Grund  der  Reichsstatistik  für  die 
Jahre  1892  und  1907  aufgestellt  worden.  Die  dort  in  Sp.  6  ge- 
machten kurzen  Angaben  über  den  Wirkungskreis  dieser  Unter- 
nehmungen geben  zugleich  auch  Aufschluß  über  ihr  Wesen :  Sie 
verzichten  fast  alle,  was  den  Schleppbetrieb  oder  die  Dampf- 
frachtschiffahrt anlangt,  auf  ausgedehntere  Betätigung  auf  der 
Elbe  selbst,  haben  vielmehr  ihre  eigentliche  Tätigkeit  auf  die 
Nebenwasserstraßen  der  Elbe  verlegt.  Daher  kommen  sie  nur 
in  geringem  Maße  für  die  eigentliche  Eibschiffahrt  in  Betracht. 
Denn  hier  stellen  ihnen  die  Großbetriebe  eine  scharfe  Konkur- 
renz entgegen,  und  die  Schleppschiffahrt  ebenso  wie  die  Dampffracht- 
schiffahrt hat  sich  hier  fast  ausschließlich  als  Domäne  des  Groß- 
betriebs ausgebildet,  während  in  der  Frachtschiffahrt  mit  Schlepp- 
kähnen die  Kleinschiffahrt  noch  konkurrenzfähig  ist.  Bezeichnend 
übrigens  für  den  kleinbetrieblichen  Charakter  jener  Unterneh- 
mungen ist,  daß  sie  meist  von  nur  geringer  Dauer  sind :  Von 
den  5  Firmen,  die  1892  bestanden,  waren  im  Jahre  1907,  also 
nach  15  Jahren,  nur  noch  2  vorhanden.  Es  ist  dies  das  immer 
sich  wiederholende  Schicksal  dieser  Unternehmungen,  daß  sie 
entweder  aus  mangelnder  Rentabilität  zugrunde  gingen  oder 
sich  anderen  gewerblichen  Hauptbetrieben  als  Nebenbetriebe  an- 
gliederten, z.  B.  der  Spedition,  dem  Getreidehandel,  oder  aber 
daß  sie,  wenn  ihre  Geschäfte  und  ihre  Entwicklung  günstig 
waren,  von  Großschiffahrtsunternehmungen  übernommen  und  mit 
ihnen  vereinigt  wurden.  So  gingen  z.  B.  die  Firmen  Gebr.  Tonne 
in  Magdeburg  und  Karl  Böhme  in  Dresden  in  den  Jahren  1897 
bez.  1898  in  der  »Dampfschleppschiffahrts-Gesellschaft  Vereinigter 
Elbe-  und  Saale-Schiffer«  auf. 

Im   Jahre    191 3    bestanden    nur  5  größere,    meist    gemischte 


-     58     - 


Ta- 
Anteil  der  Groß-  und  Privat- 


.8^,8  .8^0  .Ibo  .88.'.HhJ.88V.884    I^^^^-^-^^  '«»«!  ''"«°'  '»'^"l  ■'»^'     '»9' 


Frachtleistung.       1.  in   looo   t       |i  „q 
d.  Großunter-    II.lAnt.  am  Ge-j 
nehmungen      I         |samtverkchr 


I  453 


Von  Sp.  1  wur-    III-j 
den  auf  e  i  g-  IV.  in   looo  t 
n  en  Schiffen         lAnteil  an  d. 
d.    Gcsellsch.           Gütern  in 
befördeit  Sp.  I. 


1893 


V.  Anteil  der  Pri\  atschiffer  am 

Gesamtverkehr  (nach  Sp.  II)      .         ■ 

Betriebe  an  der  Elbe,  die  für  den  reinen  Eibverkehr  in  Betracht 
kommen,  und  zwar  die  Firmen: 

I  Mathias  Burmeister  in  Lauenburg,  die  mit  7  Dampfern  aut 
der  Elbe  bis  Magdeburg  Schlepp  Schiffahrt  und  zwischen  Ham- 
buro-  und  Berlin  F  r  a  c h  t  Schiffahrt  betreibt; 

"2  Fr  Andreae  G.  m.  b.  H.  in  Hamburg,  die  abgesehen  von 
ihrem  starken  Verkehr  nach  den  märkischen  Wasserstraßen  und 
der  Oder  auf  der  Elbe  mit  14  eisernen  Schleppkähnen  zwischen 
Hamburg  und  iNIagdeburg  die  Frachtschiffahrt  ausübt; 

3  Lüders  &  Stange  in  Hamburg-Lübeck,  deren  Abteilung 
für  Flußschiftahrt  von  Hamburg  und  Lauenburg  nach  Berlm  und 
Magdeburg  nebst  Zwischenstationen  die  Frachtschiffahrt  mit  2  Eil- 
frachtdampfern  und  12  eigenen  Schleppkähnen,  und  in  freilich 
nur  geringem  Umfange  auf  der  Elbe  Schleppschiffahrt  mit  4  Damp- 
fern betreibt,  die  meist  zu  Bugsierdiensten  im  Hamburger  und 
Lübecker  Hafen  und  für  den  Verkehr  zwischen  diesen  beiden 
Häfen  verwendet  werden; 

4  Behnke  &  Meves  in  Hamburg,  die  neben  einem  umfang- 
reichen Befrachtungsgeschäft  mit  9  großen  Radschleppdampfern 
die  Eibschiffahrt   auf  der  gesamten  Elbe  von  Hamburg  bis  Boh- 

men  ausübt;  , 

5.  Albrecht    in  Wittenburg,    der    ebenfalls    Schleppschiffahrt 

auf  der  ganzen  Elbe  betreibt. 

3.  Die  Stellung  der  Kleinbetriebe  in  der  Eibschiffahrt  und 
ihre  wirtschaftliche  Lage. 
Die  wirtschaftliche  Bedeutung  und  die  wirtschaftliche  Lage 
der  Privatschiffer  auf  der  Elbe  ist  nicht  leicht  klar  zu  erfassen, 
weil  hier  viele  Ober-  und  Unterströmungen  in  ihren  Wirkungen 
gegeneinander  arbeiten  und  auch  die  Verhältnisse  auf  dem  ganzen 
Latf  der  Elbe  nicht  einheitliche  sind. 


—     59     — 


belle  23. 

Schiffahrt  am  Eibverkehr  1S78— 1912, 


19.  1  20.     Tai.     f^22. 
1894  1  1893  1  1896  1  1897 

23. 

1898 

24. 

1899 

25.   "1   26. 
1900  1  I901 

27-        28.    1  29. 
1902     1903  1  1904 

3°.       31.       32.       33.    1  34- 
1905      1906     1907     iqo8  1  iQoo 

35-   1  36-   1     37- 

I9IOI    IQIll     IQI2 

2023 

757 
34% 

I  797 

35% 

697 

38% 

2  169 

725 
33% 

2477 

2  961 

2963 

2  988 
37  % 

2983 
39% 

• 

2  930  3  213 
39%   35% 

2  310 
34% 

3  354 
33% 

3382 
34% 

3  272 
31% 

5  473 
54% 

6381 

6426 

57% 

4726 

6878 

65% 

63% 

61% 

61  %   65  % 

66% 

67% 

66% 

69% 

46% 

43% 

Zuerst  soll  die  wirtschaftliche  Bedeutung  betrachtet  werden, 
wie  sie  sich  in  den  Transportleistungen  der  Kieinschiffer  dar- 
stellt, wobei  alle  Formen  der  Ausnutzung  des  Kahnraumes  zu 
berücksichtigen  sind.  Welche  Güterquanten  einerseits  von  den 
Privatschiffern,  andererseits  von  der  Großschiffahrt  befördert  wor- 
den sind,  darüber  fehlen  freilich  statistische  Erhebungen.  Nur 
aus  den  Betriebsangaben  der  Großunternehmungen  kann  man 
deren  Beteiligung  am  Eibverkehr  feststellen  und  durch  Subtrak- 
tion dieser  Summe  von  den  Zahlen  des  gesamten  Eibverkehrs, 
wie  er  in  Tab.  5  gefunden  worden  ist,  läßt  sich  auf  rechnerischem 
Wege  die  Beteiligung  der  Kleinschiffer  annäherungsweise  er- 
kennen. Die  auf  diesem  Wege  gefundenen  Zahlen  der  einzelnen 
Jahre  sind  in  Tab.  23  zusammengestellt. 

Tab.  23  veranschaulicht  in  Spalte  V  annähernd  den  Pro- 
zentualanteil der  Kleinschiffahrt  an  der  Bewältigung  des  Gesamt- 
verkehrs auf  der  Elbe.  Diese  Zahlen  zeigen  in  ihrer  relativen 
sowie  umgerechnet  in  ihre  absolute  Höhe  die  hervorragende  Be- 
deutung, welche  von  jeher,  und  in  beschränkterem  Maße  auch 
noch  heute,  die  Kleinschiffahrt  auf  der  Elbe  besitzt.  Ohne  ihren 
Kahnraum  wäre  der  Eibverkehr  nicht  zu  bewältigen.  Sie  ist 
nicht  nur  ein  wichtiger,  sondern,  was  die  Bereitstellung  des  Kahn- 
raumes anbelangt,  fast  noch  der  ausschlaggebende  Faktor  in  der 
Eibschiffahrt,  wie  später  bei  Besprechung  der  Kartelle  noch  deut- 
licher hervortreten  wird.  Es  ist  in  unserem  heutigen,  wirtschaft- 
lichen Leben  eine  seltene  Erscheinung,  daß  sich  auf  einem  Wirt- 
schaftsgebiete die  Kleinunternehmung  so  leistungsfähig  neben  der 
Großunternehmung  erhalten  hat,  wie  hier.  Freilich  lassen  die 
Zahlen  der  Spalte  V  auch  keinen  Zweifel  darüber,  daß  die 
positive  Bedeutung  der  Kleinschiffahrt  in  letzter  Zeit  relativ  stark 
im    Sinken    begriffen    ist.     Die    absoluten    Zahlen    der  Frachtlei- 


—     6o     — 

stungcn  haben  sich  etwa  auf  der  alten  J  lohe  gehalten,  sie  haben 
also  die  Verkehrssteigerun^  im  IClbverkehr  nicht  mitgemacht. 
Diese  Tatsache  wird  noch  genauer  auf  ihre  Ursache  und  ihren 
Umfang  zu  untersuchen  sein. 

Tatsächlich  sind  durch  die  Kleinschiffer  aber  noch  größere 
Gütermengen  befördert  worden,  als  dies  Spalte  V  der  Tab.  23 
vermuten  läßt.  Denn  hier  sind  nur  diejenigen  Güterverfrach- 
tungen aufgenommen,  die  die  Kleinschiffahrt  auf  eigene  Rech- 
nung ausgeführt  hat.  Nun  ist  die  Tatsache  bereits  erwähnt  worden, 
und  wird  später  noch  genauer  zu  besprechen  sein,  daß  auch  zahl- 
reiche Transporte,  die  die  Großunternehmungen  in  ihren  Betriebs- 
statistiken aufführen,  tatsächlich  von  der  Kleinschiftahrt  ausge- 
führt werden.  Denn  die  Großunternehmungen,  die  im  vorwiegen- 
den Maße  Schlepp  Schiffahrtsunternehmungen  sind,  besitzen 
sämtlich  ihre  eigenen  P>achtkontore,  die  nicht  nur  Frachten  für 
die  meist  verhältnismäßig  geringe  Anzahl  der  eigenen  Schlepp- 
kähne annehmen,  sondern  deren  eigentlicher  Zweck  und  vor- 
wiegende Tätigkeit  darin  besteht,  die  von  ihnen  angesammelten 
Frachtaufträge  den  PrivatschifFseignern  zur  Ausführung  für  Rech- 
nung der  Großunternehmungen  zuzuweisen.  Alle  auf  diese  Weise 
zur  Erledigung  gekommenen  Transporte  sind  in  den  Betriebs- 
statistiken als  von  den  Großunternehmungen  ausgeführt  behandelt 
und  berechnet  worden,  fehlen  also  in  den  Betriebszahlen  der 
Kleinschiffahrt  und  verschieben  dadurch  das  Resultat  zum  Nach- 
teil derselben.  Eine  genaue  statistische  Erfassung  des  Umfanges, 
in  dem  die  Kleinschiffahrt  durch  die  Großunternehmungen  be- 
nutzt wird,  läßt  sich  nicht  für  alle  in  Betracht  kommenden  Jahre 
ermöglichen.  Nur  für  die  Jahre  1888  bis  1896  liegen  die  dazu 
notwendigen  Angaben  der  einzelnen  Unternehmungen  vor.  Sie 
sind  in  Spalte  III  und  IV  der  Tabelle  23  wiedergegeben.  Die 
Zustände  in  diesen  Jahren  und  die  Entwicklungstendenz,  die  sich 
in  den  wiedergegebenen  Zahlen  ausdrückt,  können  aber  auch 
für  andere  Perioden  der  Eibschiffahrt  als  zutreffend  angesehen 
werden. 

In  Spalte  III  ist  die  Gewichtssumme  derjenigen  Güter  ange- 
geben, welche  von  den  Gesellschaften  auf  ihren  eigenen  Kähnen 
durch  Vermittlung  ihrer  Frachtkontore  befördert  wurden.  Da 
aber  in  Spalte  I  die  Gesamt  frachtleistungen  der  Gesellschaften 
(also  auf  eigenen  und  fremden  Kähnen)  sich  angegeben  finden, 
so  ergibt  die  Vergleichung  der  Spalten  I  und  III  diejenigen  Güter- 


—     6i     — 

mengen,  die  von  den  Frachtkontoren  der  Gesellschaften  der  Klein- 
schiffahrt zur  Beförderung  überwiesen  worden  sind,  und  in  Spalte  V 
nicht  Berücksichtigung  gefunden  haben.  Daß  auf  diese  Weise 
die  Transportleistungen,  die  mit  dem  Kahnraum  der  Kleinschififer 
ausgeführt  worden  sind,  noch  bedeutend  vermehrt  werden,  stellen 
Spalte  IV  der  Tab.  23  und,  zur  Ergänzung,  Spalte  13  der 
Tab.  40  dar,  in  denen  in  Prozenten  angegeben  ist,  wie  viele  ihrer 
gesamten  Frachtleistungen  die  sämtlichen  Großunternehmungen 
bez.  die  > Nord-West«  durch  eigene  Kähne  zur  Ausführung 
gebracht  haben.  Dieser  Prozentsatz  ist  verhältnismäßig  nicht 
groß  und  zeigt,  was  besonders  wichtig  ist,  eine  stark  fallende 
Tendenz,  die  in  den  letzten  Jahren  noch  ganz  bedeutend  ge- 
wachsen ist  ^),  so  daß  heute  die  Großunternehmungen  nur  einen 
ganz  geringen  Prozentsatz  ihrer  Gesamtfrachtleistungen,  wenigstens 
im  Bergverkehr,  mit  eigenen  Schiffen  ausführen.  Die  Bedingungen, 
unter  denen  die  Privatschiffer  die  Frachten  von  den  Gesellschaften 
zugewiesen  erhalten,  sind  sehr  verschiedenartig;  sie  schwanken 
zwischen  der  Forderung,  sich  auf  der  Bergreise  von  den  Schlepp- 
dampfern der  zuweisenden  Gesellschaft  schleppen  zu  lassen,  und 
der  Charterung  des  ganzen  Kahnes  für  eine  Reise,  eine  Saison 
oder  gar  mehrere  Jahre. 

Es  würde  jedoch  zu  Trugschlüssen  führen,  wollte  man  aus 
dem  Umfang  ihrer  Transportleistungen  auf  die  wirtschaft- 
liche und  soziale  Stellung  der  Kleinschiffahrt  in  der  ge- 
samten Eibschiffahrt  einen  Rückschluß  ziehen.  Die  Mehrzahl 
der  Transporte  wird  zwar  von  ihr  besorgt,  das  bedeutet  aber 
noch  nicht,  daß  auch  ihr  Wille  der  allgemein  maßgebende  im 
Schiffahrtsgewerbe  ist,  daß  ihren  Anordnungen,  ihren  Preisfor- 
derungen und  Transportbedingungen  sich  die  übrigen  Elbschiffahrts- 
unternehmungen  und  die  Elbschiffahrtsinteressenten  fügen  müßten. 
Vielmehr  ist  das  nur  in  geringem  Umfange  der  Fall.  Zwei  Um- 
stände sind  es,  die  zu  diesen  auf  den  ersten  Blick  etwas  ver- 
wunderlichen Zuständen  geführt  haben :  Einmal  die  Bedeutung 
der  Leistungen  des  Kleinschiffergewerbes  als  Teil  funktion  bei 
Durchführung  der  Wassertransporte,  und  andererseits  die  tief- 
greifende Zersplitterung  und  die  wirtschaftliche  Lage  des  Privat- 
schifferstandes. 


1)  Ein  ziffernmäßiger  Nachweis  läßt  sich    in  Ermanglung    zuverlässiger  stati- 
stischer Unterlagen  allerdings  nicht  führen. 


—       62       — 

Für  das  Verständnis  des  erstcren  Umstandes  ist  daran  zu 
erinnern,  daß  in  der  Elbschiffahrt  das  Berg-  und  TalschilYahrts- 
geschäft  nach  Art,  Inhalt,  Wesen  und  Organisation  sich  vonein- 
ander wesentlich  unterscheidet. 

Bei  den  Reisen  zu  Tal,  also  vor  allem  von  Aussig  nach 
Hamburg  und  Berlin,  lassen  sich  die  Schleppkähne,  die  keine 
Antriebsmaschinen  besitzen,  fast  immer  —  Ausnahmen  bilden 
fast  nur  die  selteneren  Kähne  mit  Stückgutladungen  —  durch 
die  natürliche  Strömung  des  Flusses  hinabtreiben.  Infolgedessen 
brauchen  die  Talfrachtlöhne  an  Betriebskosten  nur  die  Mann- 
schaftslöhne und  eine  gewisse  Quote  zu  den  Versicherungs-, 
Amortisations-  und  Erhaltungskosten  des  Fahrzeuges  aufzubringen. 
Anders  dagegen  bei  den  Reisen  zu  Berg:  Hier  hat  das  Fahrzeug 
die  ihm  entgegenstehende  Strömung  des  Flusses  zu  überwinden, 
und  da  es  keine  eigene  Antriebsmaschine  TDesitzt,  muß  es  sich 
einer  künstlichen,  fremden,  bewegenden  Kraft  als  Zugkraft,  und 
zwar  auf  der  Elbe  immer  eines  privaten  Dampfschleppschiffes 
bedienen.  Die  Kosten  hierfür  aber  sind  sehr  bedeutend,  und 
sie  müssen  über  die  auch  bei  der  Talschiffahrt  bestehenden  Be- 
triebsunkosten hinaus  durch  die  Frachtlöhne  gedeckt  werden. 
Ja,  da  die  Schlepplöhne  ungefähr  doppelt  so  hoch  sind,  als  alle 
übrigen  Betriebsunkosten  einer  Bergfrachtreise  zusammengenom- 
men, so  sind  sie  fast  allein  ausschlaggebend  für  die  Rentabilität 
der  Bergfrachtschiffahrt.  In  der  Schleppschiffahrt  aber  besitzen 
die  Großunternehmer  eine  nicht  zu  überwindende  Uebermacht, 
und  so  sind  sie  es,  die  in  der  Bergfrachtschiffahrt  ein  gewich- 
tiges Wort  mitzusprechen  haben,  obwohl  sie  nur  einen  ganz  ver- 
schwindend geringen  Teil  des  eigentlichen  Frachtschiffraumes  be- 
sitzen und  die  Frachtaufträge  meist  nicht  selbst  ausführen.  So 
hat  es  kommen  können,  daß,  obwohl  zahlenmäßig  bedeutend  in 
der  Ueberzahl  und  persönlich  selbständig,  die  Privatschiffseigner 
in  der  Bergfrachtschiffahrt  in  eine  weitgehende,  wirtschaftliche 
Abhängigkeit  von  der  Großschiffahrt  geraten  sind.  Wohl  können 
die  Kleinschiffcr  infolge  ihrer  Zersplitterung  und  großen  Zahl 
die  Frachtsätze  herunter  drücken  und  dadurch  ihren  eigenen 
geschäftlichen  Erfolg  schädigen,  dagegen  sind  sie  in  nur  sehr 
geringem  Umfange  imstande,  ihre  Einnahmen  aus  dem  Berg- 
frachtgeschäft aufzubessern.  Denn  ziehen  auch  auf  dem  Frachten- 
markte bei  Mangel  an  Kahnraum  oder  zielbewußtem  Zusammen- 
halten der  Kahnraum  anbietenden  Kleinschiffer  die  Frachten  an. 


-     63     - 

so  steht  es  doch,  soweit  sie  einig  sind,  in  dem  freien  Belieben 
der  Schleppschiffahrtsunternehmungen,  die  Schleppsätze  ebenfalls 
aufzubessern  und  damit  den  Frachtschiffern  wieder  einen  Teil 
ihrer  Mehreinnahme  zu  entziehen.  Die  Dampfkraft  der  Schlepp- 
dampfer wird  heutzutage,  wo  die  festen  Schlepptarife  nur  noch 
auf  dem  Papier  stehen,  ebenso  börsenmäßig  gehandelt,  und  ihr 
Preis  wird  ebenso  börsenmäßig  bestimmt,  wie  die  Frachtsätze. 
So  besitzen  die  Schleppunternehmungen,  soweit  sie  einig  sind, 
und  sich  nicht  gegenseitig  zu  unterbieten  suchen,  eine  bedeutende 
Macht  in  der  Frachtschiffahrt.  Deshalb  haben  es  zahlreiche 
Kleinschiffer  vorgezogen,  entweder  ganz  auf  die  Frachtschiffahrt 
zu  Berg  zu  verzichten  und  ihre  Schleppkähne  leer  zu  billigeren 
Tarifen  und  schneller  bergwärts  schleppen  zu  lassen,  oder  für 
die  Bergfrachtschiffahrt  in  ein  Vertragsverhältnis  von  längerer 
oder  kürzerer  Dauer  mit  einem  der  Schleppschiffahrts-Großunter- 
nehmungen  zu  treten,  das  ihnen  zwar  den  Einfluß  auf  den  Berg- 
frachtmarkt unmöglich  macht,  aber  ihnen  eine  gewisse  sichere 
Einnahme  und  dadurch  Verzinsung  ihres  Anlagekapitals  gewähr- 
leistet, oder  zum  mindesten  unentgeltliche  Beförderung  des  Kahnes 
zu  Berg  sichert. 

In  der  Talschiffahrt  dagegen  ist  ihre  Stellung  eine  günstigere  ; 
es  ist  ihnen  aber  auch  hier  leichter,  die  Frachtpreise,  und  damit 
ihre  Einnahmemöglichkeit,  zu  verschlechtern  als  zu  ver- 
bessern. Denn  es  liegt  im  Wesen  und  in  der  Betriebsweise 
des  Kleinschiffers,  daß  er  aus  Mangel  an  eigenem  zurückgelegten 
Kapitalvermögen  fortgesetzt  zu  seinem  Lebensunterhalt,  wie  zur 
Erfüllung  seiner  Verpflichtungen  barer  Einnahmen  aus  seinem 
Geschäftsbetriebe  bedarf.  Dieser  Umstand  nötigt  ihn,  ohne  Rück- 
sicht auf  Konjunktur  und  Angebot,  seine  Dienste  und  seinen 
Kahnraum  sofort  nach  Erledigung  seines  letzten  Auftrages  wieder 
anzubieten,  womöglich  noch  an  demselben  Orte,  wo  er  entladen 
hat.  Dieser  Zwang  zur  Beschäftigung  ohne  Berücksichtigung 
und  ohne  Ausnutzung  der  Marktlage  muß  die  Bezahlung  seiner 
Dienste  ungünstig  beeinflussen.  Der  Kleinschiffer  arbeitet  auf 
einem  Spekulationsmarkte  und  mit  Spekulationsunternehmern,  oft- 
mals ohne,  aus  Mangel  an  Geldmitteln,  Reserven  und  kaufmänni- 
schen Kenntnissen,  in  der  Lage  zu  sein,  selbst  zu  spekulieren. 

Das  führt  zur  Erörterung  der  wirtschaftlichen  Lage 
der  Privatschiffer.  Wie  bei  den  meisten  Gewerben  ist  es  schwer, 
ein  einheitliches  Urteil  über  die  Vermögensverhältnisse  der  Privat- 


-     64     - 

Schiffer  längs  der  ganzen  Elbe  7.11  finden.  Denn  einerseits  schwan- 
ken die  Vermögen  der  Einzelnen  innerhalb  weit  von  einander 
liegenden  Höchst-  und  Mindestgrenzen,  andererseits  fehlen  über 
die  einzelnen  Verm()gen  sichere  statistische  Erhebungen. 

Man  ist  daher  nur  auf  Schätzungen  Sachkundiger  angewiesen. 
Im  allgemeinen  kann  man  wohl  sagen,  daß  die  Eibschiffer  nur 
recht  wenig  eigenes  Vermögen  besitzen.  Die  verhältnismäßig 
wohlhabendsten  Eibschiffer  sind  in  der  Provinz  Sachsen  und  der 
Mark  Brandenburg,  z.  B.  in  Aken  und  Tangermünde  beheimatet; 
hier  sind  nicht  selten  Frivatschiffseignerfamilien  anzutreffen,  deren 
Vermögen  auf  60  bis  70000  M.  geschätzt  wird.  Ihre  Zahl  hat 
jedoch,  je  mehr  wir  uns  von  den  90er  Jahren  des  vorigen  Jahr- 
hunderts der  Gegenwart  nähern,  stark  abgenommen.  Denn  wer 
sich  ein  kleines  eigenes  Vermögen  erworben  hat,  kann  es  sicherer 
und  rentabler  in  anderen  Gewerben  anlegen,  als  heute  in  der 
Eibschiffahrt.  So  verliert  die  Elbe  immer  gerade  ihre  kapital- 
fähigsten Privatschiffer  an  andere  Berufe,  oder  die  reinen  Schiffs- 
eignerexistenzen gliedern  sich  einen  Nebenerwerb,  wie  z.  B. 
Steinbruchsbetriebe,  Kohlen-  und  Obsthandel,  Spedition  und  der- 
gleichen an,  der,  wenn  er  einschlägt,  bald  zum  Haupterwerb  wird. 
Auch  an  anderen  Stellen  des  Elblaufes  lassen  sich  solche  Vor- 
gänge nachweisen. 

Je  mehr  sich  jedoch  die  Heimat  der  Privatschiffer  von  den 
Schifferzentren  stromauf  und  stromab  der  Elbe  entfernt,  desto 
geringer  wird  durchschnittlich  der  Vermögensstand  der  Schiffer. 
Die  durchschnittliche  Höhe  des  eigenen  Kapitals  der  Privatschiffer 
wird  hier  auf  etwa  6—10000  M.  geschätzt,  doch  ist  es  auch 
kein  seltener  Fall,  daß  Privatschiffer  völlig  ohne  jedes  eigene 
Kapital  ihren  Betrieb  beginnen  und  auch  weiterhin  in  dieser 
Weise  arbeiten.  Für  die  gesamte  Elbe  wird  man  das  eigene 
Kapital  des  Schiffers  kaum  höher  als  durchschnittlich  8—10000  M. 
einschätzen  dürfen. 

Und  bei  diesem  geringen  eigenen  Vermögen  ist  ein  Betriebs- 
kapital von  30—50000  M.  notwendig.  Denn  ein  moderner 
eiserner  Elbschleppkahn  von  650  t  kostet  heute  etwa  36  000  M., 
ein  solcher  von  1000  t,  wie  er  auf  der  Elbe  keine  Seltenheit  ist, 
etwa  50000  M.  Hölzerne  Kähne  kleinerer  Abmessung,  wie  sie 
früher  auf  der  Elbe  üblich  waren,  und  die  sich  bedeutend  bil- 
liger stellten,  sind  heute  in  dem  reinen  Eibverkehr  nicht  mehr 
rentabel. 


-    65     - 

Die  Gegenüberstellung  des  eigenen  Vermögens  und  des  Be- 
triebskapitals der  Privatschiffer  zeigt,  daß  diese  mit  fremdem 
Kapital  von  bedeutender  Höhe  arbeiten,  ein  Zustand,  der  sich  erst 
in  den  letzten  beiden  Jahrzehnten  herausgebildet  hat  und  noch 
immer  mehr  überhand  nimmt.  Er  stellt  eine  schwere  Gefahr  für 
den  Kleinschifferstand,  wie  für  die  gesamte  Eibschiffahrt  dar. 
Denn  es  ist  zu  bedenken,  daß  der  Privatschiffer  kein  kaufmännisch 
gebildeter  Unternehmer  ist,  der  vor  Eröffnung  seines  Geschäftes 
eine  genaue  Kalkulation  aufstellt,  sich  über  die  Verhältnisse  des 
Marktes  orientiert  und  nach  einem  festen  wirtschaftlichen  Plan 
arbeitet.  Die  Privatschiffer  entstammen  vielmehr  zumeist  den 
einfachsten  ländlichen  Verhältnissen,  ihre  Schulbildung  geht  über 
das  Ziel  der  einfachen  Volksschule  nicht  hinaus,  zumal  der  Schul- 
besuch meist  in  der  Jugend  wegen  des  Wanderlebens  der  Eltern 
ein  sehr  unregelmäßiger  ist.  An  diesem  Bildungsniveau  vermögen 
auch  die  etwa  30  Schifferfachschulen  an  der  Elbe  nicht  viel  zu 
ändern,  die,  als  VVinterschulen  betrieben,  in  kaum  zwei  bis  drei 
Wintermonaten  Kenntnisse  in  Deutsch,  Schreiben,  Rechnen,  Geo- 
graphie, Schiffbau,  Schiffsdienst,  Maschinenbau,  Gesetzeslehre  und 
Samariterdienst  zu  vermitteln  suchen. 

Mit  derartigen  Vorkenntnissen  muß  es  nun  der  Schiffer 
unternehmen,  mit  einem  das  eigene  Kapital  oft  um  das  vier-  bis 
fünffache  übersteigenden  fremden  Kapitale  einen  Gewerbebetrieb 
zu  eröffnen,  in  dem  Preise  und  Beschäftigungsmöglichkeit  nach 
rein  kaufmännischen,  spekulationsmäßigen  Grundsätzen  gebildet 
werden. 

Das  fremde  Betriebskapital  verschafft  sich  der  Schiffer  auf 
verschiedene  Weisen  und  unter  verschiedenen  Bedingungen.  Die 
ursprüngliche  P'orm  bestand  für  den  Privatschiffer  darin,  daß 
seine  gesamte  engere  und  weitere  Familie  mit  kleinen  und 
größeren  Geldbeträgen  an  der  Anschaffung  des  Kahnes,  der  bar 
bezahlt  wurde,  sich  beteiligte.  Diese  fremden  Kapitalbeträge 
wurden  entweder  schenkungsweise  oder  als  zinslose  Darlehen 
auf  unbestimmte  Zeit  überlassen,  oder  die  beisteuernden  Familien- 
glieder nahmen  nach  Höhe  ihrer  Kapitalbeträge  an  dem  Reiner- 
trag des  Kahnes  teil.  Dabei  wurde  der  zur  Kapitalbeschaffung 
zur  Verfügung  stehende  Verwandtenkreis  oftmals  durch  Heiraten 
zwischen  den  verschiedenen  Schifferfamilien  innerhalb  der  kleinen 
Schifferorte  noch  erweitert.  Starb  dann  der  Schiffer,  so  betrie- 
ben   seine  Frau,    sein    ältester  Sohn,    oder    auch    sämtliche  Ver- 

Zeitschrift  für  die  ges.  Staatsvvissensch.     Ergänzungsheft  50.  C 


-     66     — 

wandten  gemeinsam  mit  dem  Kahne  das  Gewerbe  weiter,  mit 
dem  der  Stolz  und  die  Ehre  der  b'amihc  verbunden  war.  Diese 
Art  der  Kapitalbeschaffung  findet  man  heute  nur  noch  selten, 
allenfalls  noch  in  der  Provinz  Sachsen  und  in  der  Mark ;  die  ver- 
änderten wirtschaftlichen  und  vor  allem  die  sozialen  Verhältnisse, 
auch  die  wachsenden  Kosten  der  Kahnbeschaffung,  haben  sie 
verdrängt.  Dieser  Betriebsweise  aber  verdanken  viele  Schiffer- 
familien, ja  ganze  Schifferdörfer  ihren  heutigen  Wohlstand. 

In  ähnlicher  Weise  verschafft  sich  der  Schiffer  bisweilen  sein 
notwendiges    Betriebskapital    auch    heute    noch    durch    Personal- 
kredit,   indem    er    bei  Freunden    und  Nachbarn    im   Heimatdorfe 
sich,  meist  unter  Stellung  von  ein  bis  zwei  Bürgen,  das  fehlende 
Kapital    leiht;     auch     hierbei    halten    sich    Zinshöhe    und    Rück- 
zahlungsbedingungen   in    Grenzen,    die    dem    Schiffahrtsgewerbe 
angepaßt   sind     und   den  Schiffer    nicht   allzu  drückend  belasten. 
Die    weitaus    häufigsten  Kreditgeber   an    der  Elbe   sind  aber 
gegenwärtig  die  Werften,  und  zwar  fast  ausschließlich  die  kleinen 
und   kleinsten  Werften.     Es    haben   sich    hierbei    sehr  ungesunde 
Verhältnisse   herausgebildet,    die   in    gleicher  Weise  das  Schifi"er- 
wie  das  Schiffsbaugewerbe  auf  der  Elbe  gefährden.     Das  Schiffs- 
baugewerbe   an   der  Elbe  liegt  seit  Jahren   stark    danieder.     Um 
nun  Aufträge    zu    erlangen,    suchen    die  Kleinwerftbesitzer  selbst 
oder  durch  Agenten  Schiffer  zu  finden,  die  einen  Kahn  bestellen. 
Dabei   macht    der  Schiffbauer    dem  Schifi'er  die  günstigsten  Zah- 
lungsangebote.    Die   Anzahlung    beträgt    meist    nur    lo    Prozent, 
die    auch    wieder    in  Raten    je    nach 'Fortschreiten  des  Baues  zu 
erfolgen  hat.     Die  Restsumme  kreditiert   der  Schiffbauer,    indem 
er  einen    Vertrag    mit    dem    Schiffer    abschließt,    nach    welchem 
letzterer  Eigentümer  des  Kahnes  erst  werden  soll,  wenn  er  inner- 
halb einer  bestimmten  Zeit    die  Restsumme  einschließlich  Zinsen 
(meist  6  Prozent)  gezahlt  hat;  im  Schifi"sregister  wird  jedoch  der 
Schiffer    trotz    dieses  p:igentumvorbehaltes   als  Eigentümer  einge- 
tragen,  während  der  Schifi"bauer  auf  einen  Eintrag  einer  Schiffs- 
hypothek   meist    verzichtet,    um    den  Kredit    des  Schiffers    nicht 
zu  beeinträchtigen.     Doch  läßt  er  sich  solchenfalls  als  Sicherheit 
den  Schiffsbrief  von  dem  Schiffer  aushändigen.     Oder  der  Schiff- 
bauer   verspricht   dem  Schiffer,    daß  er  ihm  einen  Geldgeber  für 
einen  Teil  des  Kahnpreises,  ja  oft  sogar  für  den  ganzen 
K  a  h  n  p  r  e  i  s  ,  vermitteln  will,   den  Rest  des  Kaufpreises 
aber  kreditiert    er.     Auch    hierbei    wird    oftmals  keine  Hypothek 


-     67     - 

ins  Schiffsregister  eingetragen.  Es  ist  selbstverständlich,  daß  der 
Schiffbauer  mit  Rücksicht  auf  sein  Risiko  den  Preis  des  Kahnes 
bedeutend  über  den  Normalpreis  bemißt,  so  daß  der  Schiffer,  der 
außerdem  noch  oft  unter  schweren  Bedingungen  für  Zins  und 
Amortisation  zu  sorgen  hat,  zu  einem  ganz  unverhältnismäßig 
teuern  Besitz  kommt,  der  ihn  zugrunde  richten  muß. 

In  neuerer  Zeit  geht  die  Verleitung  der  Schiffer  zum  Erwerb 
von  Kähnen  auch  öfters  direkt  von  gewerbsmäßigen  Geldver- 
leihern aus.  Doch  spielen  hierbei  auf  der  Elbe,  im  Gegensatz 
zum  Rhein,  die  holländischen  Schiffshypothekenbanken  noch  keine 
große  Rolle.  Wie  auf  diesem  Wege  der  Schiffer  zu  seinem 
Kahne  kommt,  hat  Kommerzienrat  Tonne-Magdeburg,  einer  der 
besten  Kenner  der  Elbschiffahrtsverhältnisse,  in  einer  Rede  ge- 
schildert, die  er  im  großen  Ausschuß  des  deutschen  Zentral- 
vereins für  Binnenschiffahrt  in  Berlin  am  ii.  Dezember  19 12  bei 
Erörterung  des  Schiffshypothekenwesens  gehalten  hat  und  die  in 
Heft  2j  Jahrgang  13  der  Zeitschrift  für  Binnenschiffahrt  abge- 
druckt ist.     Es  heißt  dort: 

»Die  Geldvermittlungsagenten  verfügen  gewöhnlich  an  vielen 
Orten  unserer  Wasserstraßen  über  ein  geschultes  Personal,  dessen 
unterer  Teil  in  der  Regel  aus  früheren  Schiffern  besteht,  denen 
die  Aufgabe  zufällt,  die  Wirtshäuser  zu  besuchen,  in  denen  Schiffer 
verkehren,  um  unter  diesen  die  Leute  ausfindig  zu  machen,  von 
denen  sie  annehmen,  daß  sie  gewillt  sind,  Fahrzeuge  mit  wenig 
Anzahlung  auf  Abzahlung  zu  kaufen. 

Letztere  gibt  es  ja  immer  noch  recht  viele,  und  wenn  die 
Unteragenten  einen  solchen  gefunden  haben,  wird  er  dem  Chef 
zugeführt. 

Diese  Herren  sind  mit  der  Zeit  vorzüglich  in  ihr  Geschäft 
hineingewachsen ;  das  Kapitalgeschäft  wird  in  der  Regel  leicht 
und  schnell  erledigt. 

Die  Vermittlungsprovision  für  die  Kapitalien  soll,  wie  ich 
zuverlässig  erfuhr,  272—4^2%  betragen,  wie  die  Verhältnisse  es 
gerade  gestatten.  Aber  mit  dieser  Provision  allein  begnügen 
sich  die  Herren  nicht  mehr,  sie  haben  herausgefunden,  daß  man 
bei  einem  kapitalsuchenden  Schiffer,  wenn  man  nur  ein  bißchen 
findig  ist,  viel  mehr  herauszuholen  in  der  Lage  ist. 

Das  Fahrzeug,  für  welches  man  das  Geld  verlangt,  muß  in 
erster  Linie  bei  einem  Schiffbauer  bestellt  werden,  und  da  letztere 
ein    berechtigtes  Interesse    daran   besitzen,    daß  die  festgesetzten 

5* 


—     68     — 

Zahlungstermine  auch  richtig  eingehalten  werden,  stehen  sie 
selbstverständlich  mit  den  Agenten  des  Geldgebers  auf  einem 
freundschaftlichen  Fuße. 

Derselbe  hat  stets  eine  Anzahl  Schiffbauer  zu  seiner  Ver- 
fügung, er  schlägt  dem  Schitter  einige  als  empfehlenswert  vor 
und  zieht  demjenigen,  der  den  Auftrag  erhält,  2  %  von  der  Bau- 
summe für  seine  Bemühungen  ab,  die  indirekt  natürlich  der 
SchitTer  tragen  muß. 

Vor  der  Inbetriebnahme  ist  das  Fahrzeug  selbstverständlich 
gegen  alle  möglichen,  ihm  drohenden  Gefahren  zu  versichern. 
Die  Schiffer,  welche  ihre  Fahrzeuge  ohne  fremde  Beihilfe  bauen, 
pflegen  die  Versicherung  bei  ihren  Kompakten  mit  0,9  —  1,2% 
Prämie  zu  decken;  der  mit  Hypotheken  beglückte  Mann  muß 
indessen  die  Versicherungsanstalt  benutzen,  welche  ihm  zu  einer 
Prämie  bis  zu  2^1 2%  vom  Agenten  vorgeschrieben  wird,  und  zwar 
zu  dem  ziemlich  durchsichtigen  Zweck,  die  10%,  welche  dem 
Agenten  bei  einer  Kasko-Versicherung  von  der  betreffenden 
Versicherungsanstalt  bei  jeder,  alljährlich  stattfindenden  Neuver- 
sicherung gezahlt  werden,  einziehen  zu  können«. 

Auf  diese  Verhältnisse  wird  in  der  Hauptsache  für  die  letzte 
Zeit  die  starke  Ueberproduktion  an  Kahnraum  auf  der  Elbe 
zurückgeführt,  welche  die  Hauptursache  der  schweren,  wirtschaft- 
Hchen  Lage  der  Eibschiffahrt  bildet.  Sie  hat  aber  auch  noch 
einen  anderen  Grund :  wie  in  anderen  Gewerben,  so  ist  es  auch 
im  Schiffergewerbe  erklärlich,  daß  der  Unternehmer  nicht  aus- 
schließlich mit  eigenem  Betriebskapital  arbeiten  kann.  Fremdes 
Betriebskapital  erhält  aber  der  Schiffer  von  gewerbsmäßig  geld- 
ausleihenden Instituten  auf  alte  Kähne  vielfach  nicht.  Denn 
für  die  Binnenschiffahrt  ist  zwar  durch  das  Binnenschiffahrtsge- 
setz von  1895  der  Registerzwang  eingeführt  worden,  der  äußer- 
lich Aehnlichkeit  mit  dem  Grundbuchzwange  für  Grundstücke 
hat;  jedoch  kommt  dem  Schiffsregister  nicht,  wie  dem  Grund- 
buch des  bürgerlichen  Gesetzbuchs,  der  öffentliche  Glauben  zu. 
Die  Einträge  im  Schiffsregister  gelten  nur  insoweit  und  solange 
für  richtig,  als  nicht  das  Gegenteil  ihres  Inhalts  bewiesen  wor- 
den ist.  Die  Einträge  besitzen  nur  deklaratorische,  nicht  konsti- 
tutive Kraft.  Wenn  also  jemand  dem  Privatschiffer  auf  einen 
alten  Schleppkahn  Geld  leihen  will,  so  klärt  ihn  der  Inhalt  des 
Schiffsregisters  nicht  unbedingt  maßgebend  über  die  Rechtsver- 
hältnisse, die  an  diesem  Kahn  bestehen,  auf;  der  Kreditgeber  ist 


-     69     - 

nicht  sicher,  daß  der  im  Schiffsregister  eingetragene  und  von  ihm 
ein  Darlehen  erbittende  Schiffseigner  wirkUch  der  rechtmäßige 
Eigentümer  dieses  Kahnes  ist.  Deshalb  haben  größere  Geldinsti- 
tute, welche  die  Beleihung  von  Binnenschiffen  gewerbsmäßig  be- 
treiben, die  Gewährung  von  Darlehen  ausschließlich  auf  neu  er- 
baute Kähne  beschränkt,  über  deren  Eigentumsverhältnisse  sie 
durch  Erkundigungen  bei  der  den  Kahn  erbauenden  Werft  Sicher- 
heit erlangen  können.  Daraus  folgt  aber,  daß  ein  Schiffseigner, 
der  Geld  braucht,  gezwungen  ist,  seinen  alten  Kahn,  auf  den  er 
keine  Schiffshypothek  gewährt  erhält,  zu  verkaufen,  um  sich  statt 
dessen  einen  neuen  Kahn  erbauen  zu  lassen.  Es  beruht  also 
die  ungesunde  Ueberproduktion  an  Kahnraum  auf  der  Elbe  in 
dieser  Hinsicht  weniger  auf  den  unüberlegten  Neubaubestel- 
lungen der  Privatschiffseigner,  als  vielmehr  auf  ihrem  wohlver- 
ständlichen Bedarf  an  fremdem  Betriebskapital,  der  auf  andere, 
der  Schiffahrt  weniger  gefährliche  Weise  nicht  befriedigt  wer- 
den kann. 

Zu  welchen  durchaus  ungesunden  und  unerträglichen  Zu- 
ständen eine  derartige  Ueberlastung  des  Schiffers  mit  zu  teurem 
Betriebskapital  führen  kann,  veranschaulichen  sehr  treffend  zwei 
Musterbeispiele  und  deren  rechnerische  Durchführung,  die  Kom- 
merzienrat  Tonne  bei  der  schon  erwähnten  Gelegenheit  aufge- 
'stellt  hat.  Sie  sind  in  den  Tabellen  24 — 27  wiedergegeben. 
Hier  sind  für  zwei  Kähne  verschiedener  Größe,  und  zwar  Tab.  24 
und  25  für  einen  Kahn  von  650  t  zum  Preise  von  36  000  M. 
und  Tab.  26  und  27  für  einen  Kahn  von  1000  t  zum  Preise  von 
50000  M.,  Berechnungen  über  die  Summe  aufgestellt,  welche 
der  Schiffseigentümer  jährlich  für  Tilgung  und  Verzinsung  der 
fremden  Betriebskapitalien  auszugeben  hat  (Tab.  24  bez.  26) ; 
weiter  wird  gezeigt,  wie  sich  dieser  Schuldendienst  zu  den  durch- 
schnittlichen Gesamteinnahmen  des  Schiffers  stellt  (Tab.  25  bez.  27), 
wenn  der  Schiffer  bei  ersterem  Beispiel  mit  17%  (=  6000  M.) 
und  im  zweiten  Beispiel  mit  20%  (=  10  000  M.)  eigenem  Kapi- 
tal arbeitet.  Zinssatz  und  Provision,  sowie  Amortisation  von 
jährlich  8  %  sind  die  in  den  letzten  Jahren  an  der  Elbe  üblichen. 
Den  Betriebseinnahmen  ist  der  von  der  Privatschiffer-Transport- 
Genossenschaft  ihren  etwa  700  Genossenschaftern  während  der 
letzten  5  Jahre  gezahlte  Satz  zugrunde  gelegt,  während  die  Be- 
triebsausgaben nach  den  langjährigen  Erfahrungen  derselben  Ge- 
nossenschaft berechnet  sind. 


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15- 
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M. 

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13- 
Summe 

der 
Spalt. 

10.   II.  12 

M. 

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12. 

Ver- 
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zinsen 
M. 

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1 1. 

Der  Fehl- 
betrag des 
vorange- 
gangenen 
Jalires   M. 

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[      10. 

ebs- 

Ver- 
lust 
M. 

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CM 

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1       1       1       1       1       1             —    M    u~>\0  OO    C-)  CO 

CO 

00 

CO 

8. 

Summe 
der  Aus- 
gaben 

M. 

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cO^OOMLOOOOcOvOON'^l       1 

«    o    O    C^C^C^O^O^  O^CO  CO  00 

Kapitals- 
rückzah- 
lungen u. 
Zinsen 
M. 

Tj-Tl-M    1-1    «     O    O^OO    t^vO    u^M 

oo^TTt^-Ocnvoco-Tj-t^c^l      1 
\0  lOLO'^TTTT'^'r'^cocoto 

6. 
Be- 

triebs- 

aus- 

gabe 

M. 

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IOLOI^IOU^U->W-)LOLOLOLOLO       1           1 

oooooooooooo    1     1 
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5- 

Ein- 
nahme 

M. 

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Os  O^  Qs  QN  0^  0^  O^  O^  Q^  O^  ^  Q\ 

4- 
Die  Hypo- 
theken- 
hühe  be- 
trägt 
M. 

O^O    MCO     TfOvO    NOO     Tj-OO 
OOcOO^^OcOC^vO^»C^\OCJ       i        1 
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3- 

Das  eigene 
Kapital 
beträgt 

M. 

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2. 

Kapitals- 
Zuwachs 

M. 

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1      COCOCOCOCOCOCOCOCOCOCOCO     1 

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I. 

Anzahl 

der 
Jahre 

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—     74     — 

Es  mag;  hier,  bevor  auf  die  Resultate  dieser  Berechnung  ein- 
gegangen wird,  ausdrückHch  betont  werden,  daß  diese  Beispiele 
in  ihrer  wörtlichen  Ausführung  nicht  etwa  den  Normalzustand 
auf  der  IClbe  darstellen  sollen,  sondern  nur  theoretische  Muster- 
beispiele für  die  Folge  sind,  die  eintreten,  wenn  ein  Schiffer 
unter  diesen  oder  ähnlichen  Verhältnissen  sein  Gewerbe  be- 
treibt. 

Es  ist  ein  trauriges  Bild,  welches  Tab.  25  uns  zeigt;  12  Jahre 
angestrengter  Arbeit  Jahr  für  Jahr  mit  Verlust  abzuschließen,  nur 
um  den  alten  Hypothekenverpflichtungen  nachkommen  zu  können, 
und  um  im  13.  Betriebsjahr  eine  Schuld  von  23  840  M.  ange- 
häuft zu  finden !  Und  das  noch  dazu  unter  der  sehr  günstigen 
aber  nicht  wahrscheinlichen  Voraussetzung,  daß  keine  unvorher- 
gesehenen Unkosten,  wie  z.  B.  Ableichtern  .  während  der  Fahrt 
wegen  sinkenden  Wasserstandes  und  dergleichen,  und  keine  un- 
günstigen Wasserstandsverhältnisse,  Eisgang,  unrentabler,  niedriger 
Wasserstand  usw.  eintreten!  Es  liegt  auf  der  Hand,  daß,  wie 
oben  gesagt  wurde,  jeder,  der  eigenes  Vermögen  besitzt,  sein 
Geld  überall  anders  besser  anlegen  kann,  als  durch  Erwerb  und 
Betrieb  eines  Eibkahnes  im  Kleinschiffergewerbe.  Es  muß  frei- 
lich zum  Verständnis  dieser  Rentabilitätsberechnung  bemerkt 
werden,  daß  die  1400  M.,  die  als  Steuermanns-(Schiffer-)Gehalt  in 
die  Betriebsunkostenberechnung  aufgenommen  sind,  der  Klein- 
schifTer  fast  immer  dadurch  erspart,  daß  er  selbst  als  Steuermann 
auf  seinem  Kahne  fährt.  Aber  diese  1400  M.,  von  denen  der 
Schiffer  und  seine  F^amilie  ihr  Leben  fristen,  sind  der  Ertrag 
seiner  Arbeitskraft,  und  dürfen  deshalb  nicht  zur  Rentabilitäts- 
berechnung des  Anlage-  und  Betriebskapitales  herangezogen  wer- 
den. Andererseits  muß  bemerkt  werden,  daß  6710  M.  Jahres- 
bruttoeinnahme einen  sehr  günstigen  Geschäftsverlauf  voraussetzt. 

Günstiger  gestaltet  sich  die  Rentabilität  eines  Kahnes  von 
1000  t  unter  gleichen  Voraussetzungen,  wie  Tab.  26  und  27  zei- 
gen; aber  auch  hier  ist  ein  effektiver  Gewinn  nach  Abstoßung 
der  Schulden  aus  dem  Erwerb  erst  im  14.  Jahre  möglich.  Dabei 
ist  aber  zu  bedenken,  daß  es  bedeutend  schwerer  ist,  für  einen 
1000  t  Kahn  immer  Gelegenheit  zur  vollständigen  Ausnutzung 
zu  finden  als  für  einen  kleineren  Kahn,  und  daß  die  Besatzung 
eines  so  großen  Kahnes  mit  einem  Steuermann  und  zwei  Deck- 
leuten nur  bei  den  allergünstigsten  Wasser-  und  Witterungsver- 
hältnissen   ausreicht,    meist    vielmehr  noch  ein  dritter  Deckmann 


—    75     — 

mit  1 1 50  M.  Lohn  angestellt  werden  muß.  Es  sind  sogar  Be- 
strebungen vorhanden,  die  eine  Bemannung  von  dieser  Stärke 
für  größere  Kähne  polizeilich  vorschreiben  wollen.  Dann  aber 
würde  auch  der  Schiffahrtsbetrieb  mit  einem  looo  t  Kahn  ähn- 
lich unrentabel,  wie  Tab.  25  für  den  650  t  Kahn  nachweist. 

In  diesen  beiden  Beispielen  ist  die  Rentabilität  in  den  ersten 
13  Betriebsjahren  dargestellt.  Nur  bei  dem  lOOO  t  Kahn  tritt 
nach  diesem  Zeitraum  endlich  ein  schuldenfreier  Reingewinn  auf. 
Welcher  Kleinbetrieb  aber  hält  eine  so  lange  Zeit  hindurch  eine 
derartige  hohe  Verschuldung  aus !  Die  gewöhnliche  Folge  ist 
die  Zwangsversteigerung  des  Kahnes  schon  nach  wenigen  Jahren 
oder  die  vertragsmäßige  Eigentumsentziehung  durch  den  Schiff- 
bauer. Damit  aber  geht  die  Anzahlungssumme,  die  meist  die 
gesamten,  mühsam  erarbeiteten  Ersparnisse  des  Privatschiffers 
bildet,  samt  den  pünktlich  gezahlten  Raten  dem  Schiffer  verloren, 
der  somit  völlig  mittellos  wieder  von  vorn  anfangen  muß.  Eine 
Statistik  über  die  Zwangsversteigerungen  von  Eibschiffen  besteht 
nicht,  doch  soll  ihre  Zahl  nach  übereinstimmendem  Urteil  aller 
Sachkundigen  auf  der  Elbe  sehr  hoch  sein.  Kein  Wunder,  daß 
findige  Köpfe  unter  den  Kleinschiffern  aus  der  herrschenden  Not 
Nutzen  gezogen  haben,  indem  sie  mit  geborgtem  Geld  die  An- 
zahlung leisteten,  für  diese  aber,  wie  für  die  Hypotheken  der 
Restkaufsumme,  die  Zinsen  nicht  oder  nur  unvollständig  zahlten, 
die  Amortisation  aber  ganz  unterließen.  Schreiten  dann  nach 
zwei  bis  drei  Jahren  die  Gläubiger  zur  Zwangsversteigerung  des 
Kahnes,  so  läßt  diese  der  Schiffer,  da  er  in  der  Zwischenzeit 
etwa  15—20000  M.  Roheinnahmen  bei  9 — 13000  M.  Betriebs- 
ausgaben (einschließlich  des  in  seine  Tasche  fließenden  1400  M. 
jährlichen  Steuermannslohnes)  mit  dem  Kahn  verdient  hat,  ruhig 
über  sich  ergehen ;  hat  er  doch  ohne  jedes  eigene  Kapital  als 
Differenz  zwischen  Gewinn  und  Ausgaben  6 — 7  000  M.  Rein- 
gewinn in  der  Zwischenzeit  mit  dem  Kahn  erlangt  und  auf  die 
Seite  gebracht.  »Unternehmungen«  auf  dieser  Grundlage  sollen 
in  den  letzten  Jahren  auf  der  Elbe  keine  Einzelerscheinungen  ge- 
bheben  sein. 

Die  Zwangsversteigerung  oder  die  Rücknahme  des  Kahnes 
durch  die  Werft  hat  aber  nicht  nur  für  den  Schiffer,  der  sein 
Anzahlungskapital  verliert,  nachteilige  wirtschaftUche  Folgen. 
Diese  erstrecken  sich  vielmehr  auf  die  gesamte  Eibschiffahrt. 
Denn   der   neuerbaute  Kahn   besteht    einmal   und   vermehrt  auch 


-   ;6   - 

nach  dem  wirtschaftlichen  Zusammenbruch  seines  Bestellers  und 
ersten  Besitzers  das  preisdrückende  Angebot  von  Kahnraum  auf 
der  Elbe.  Ja  er  wird  sogar  jetzt  noch  gefährlicher  als  vorher. 
Denn  der  Werftbesitzer,  der  auf  Grund  des  ursprünglichen  Kauf- 
vertrages mit  Eigentumsvorbehalt  den  Kahn  zurückgenommen 
hat,  oder  als  Hypothekengläubiger  bei  der  Zwangsversteigerung 
den  Kahn  erworben  hat,  wird  bemüht  sein,  denselben  auf  ähn- 
liche Weise  bei  einem  Schiffer  wieder  an  den  Mann  zu  bringen. 
Da  die  von  dem  ersten  Besitzer  an  den  Schiffsbauer  geleisteten 
Anzahlungen  meist  den  Abnutzungswert  bedeutend  übersteigen, 
so  ist  der  letztere  bei  einem  abermaligen  Verkauf  in  der  Lage, 
ohne  daß  ihn  ein  Verlust  trifft,  den  Kahn  unter  dem  Werte  zu 
verkaufen.  Dadurch  wird  aber  der  neue  Erwerber  in  die  Lage 
gesetzt,  mit  dem  billig  erstandenen  Kahn-  Transporte  zu  so 
niedrigen  Frachtpreisen  anzubieten  und  auszuführen,  wie  sie  kein 
Schiffahrtsunternehmer,  der  seinen  Kahn  vollwertig  bezahlt  hat, 
zu  leisten  vermag.  Hierin  liegt  mit  die  Ursache  des  die  gesamte 
Eibschiffahrt  untergrabenden,  stetigen  Untcrbietens  der  einzelnen 
Unternehmer  auf  dem  Frachtmarkt.  Einzelne  Großunternehmungen 
sind  deshalb  in  letzter  Zeit  bemüht  gewesen,  zur  Zwangsversteige- 
rung gelangende  Kähne  zu  erstehen,  und  durch  Einreihung  in 
ihren  Kahnpark    auf  dem   Frachtmarkt    unschädlich   zu    machen. 

Was  die  Zusammensetzung  des  Einkommens  der  Privat- 
schiffer betrifft,  so  können  die  den  Tab.  25  und  27  zugrunde 
liegenden  Zahlen  nicht  unbedingt  als  maßgebend  angesehen  wer- 
den, weil  sie,  wie  später  gezeigt  werden  wird,  nicht  durch  freie, 
wirtschaftliche  Tätigkeit  der  Schiffer  zustande  gekommen  sind, 
sondern  durch  einen  langjährigen  Pachtvertrag,  durch  den  die 
Kleinschiffer  die  eigene  Verfügung  über  ihre  P^rachtkähne  aufge- 
geben hatten. 

Das  Einkommen    des    Kleinschiffers    setzt    sich    zusammen  : 

1.  aus  den  Einnahmen  durch  Verwaltung    des    eigenen    Kahnes, 

2.  aus  Einnahmen,  die  der  Schiffahrtsbetrieb  als  Nebeneinnahme  ab- 
wirft,   und  3.  aus  Einnahmen    durch    besondere  P2rwerbstätigkeit. 

Zunächst  einiges  Wenige  über  die  Nebenerwerbstätigkeit. 
Im  allgemeinen  betreibt  der  Eibschiffer  keinen  Nebenerwerb.  In 
einigen  Fällen  kommt  es  jedoch  vor,  daß  Familienangehörige  der 
Privatschiffer,  die  im  allgemeinen  auf  der  Elbe  nicht  regelmäßig 
mit  auf  dem  Kahn  zu  fahren  pflegen,  im  Heimatorte  noch  einen 
Kleinhandel  mit  Viktualien  oder  dergleichen  oder    etwas    Acker- 


I 


—    17     — 

Wirtschaft  betreiben.  Einzelne  zu  einer  gewissen  Wohlhabenheit 
gelangte  Kleinschiffer,  die  dann  auch  oft  mehrere  Kähne  besitzen, 
haben  an  ihren  Schiffahrtsbetrieb  in  größerem  oder  geringerem 
Umfang  Handel  mit  Kohlen,  Eibkies,  Obst  und  dergleichen, 
ferner  in  einzelnen  Fällen  im  Königreich  Sachsen  auch  Stein- 
bruchbetriebe angeschlossen.  Doch  kann  man  in  diesen  als  Aus- 
nahme dastehenden  Fällen  oft  schwer  unterscheiden,  ob  die 
Schiffahrt  Haupt-  oder  Nebenerwerb  ist.  Meist  lassen  diese  Un- 
ternehmungen in  der  Talfahrt  ihre  Kähne  nur  für  ihr  eigenes 
Geschäft  fahren,  während  sie  bei  der  Bergfahrt,  um  die  Kosten 
derselben  zu  verringern  und  noch  etwas  zu  verdienen,  fremde 
Fracht  zu  erhalten  suchen. 

Die  Haupteinnahmequelle  des  Schiffers  ist  die  Verwaltung 
und  Ausnutzung  des  eigenen  Kahnraumes.  Die  aus  ihr  fließen- 
den Einnahmen  bestanden  ursprünglich  für  den  größten  Teil  der 
Privatschiffahrt  in  den  für  den  Transport  fremder  Güter  an  sie 
gezahlten  Frachtlöhnen.  Diese  Frachtlöhne  weisen  in  ihrer  Höhe 
oft  von  Tag  zu  Tag,  besonders  aber  für  größere  Zeiträume  sehr 
wesentliche  Schwankungen  auf,  denn  sie  kommen  nach  dem 
Verhältnis  von  Angebot  und  Nachfrage  zustande.  In  Hamburg 
und  Magdeburg  werden  die  Frachtsätze  an  der  Produktenbörse 
festgesetzt,  in  Aussig  besteht  seit  1899  eine  besondere  Frachten- 
börse, und  an  den  übrigen  Plätzen  bilden  sich  die  Frachtpreise 
in  ähnlicher  Weise.  Es  werden  hier  sowohl  Tages-  wie  Termin- 
frachtgeschäfte abgeschlossen,  doch  kommen  letztere  für  die 
Privatschiffer  kaum  in  Betracht. 

Um  zu  veranschaulichen,  welche  Faktoren  bei  der  Preisbil- 
dung im  Laufe  der  Jahre  von  Einfluß  gewesen  sind,  und  in  wel- 
cher Stärke  sie  gewirkt  haben,  ist  auf  Tafel  28  eine  graphische 
Darstellung,  i.  des  Jahresdurchschnittes  der  Frachtsätze  für  einen 
tkm  im  Verkehr  von  Massengütern  von  Hamburg  nach  Dresden 
von  1895  bis  1910  auf  Grund  der  Frachtnachweise  in  der  Zeit- 
schrift »Das  Schiff<;,  2.  des  Jahresdurchschnittes  des  Wasserstan- 
des am  Dresdner  Eibpegel  von  1895  bis  1910  und  3.  des  pro- 
zentualen Anteils  der  oberelbischen  Ausfuhr  an  der  gesamten 
Hinterlandsausfuhr  Hamburgs  von  1891  bis  1910  gegeben  worden; 
bei  dieser  Darstellung,  die  auf  den  Zahlen  der  Tab.  9  Sp.  12  be- 
ruht, ist  der  Prozentualanteil  an  der  gesamten  Hinterlands- 
ausfuhr Hamburgs  und  sind  nicht  die  absoluten  Gewichtszahlen  der 
auf  der  Elbe  beförderten  Gütermengen  gewählt  worden,  um  an  der 


-     78     - 

Hand   der   graphischen  Darstellung    leicht  feststellen  zu  können, 
wie  weit  etwa  infolge  Einwirkung  der  beiden  anderen    Ivnktoren, 

Tab.    2S. 


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Frachtpreis  und  Wasserstand,  eine  Verschiebung  zwischen  den 
für  den  Gütertransport  in  Hamburg  zur  Verfügung  stehenden 
beiden  Verkehrswegen,  Eisenbahn  und  Elbe,  stattgefunden  hat. 
Es  sei  zu  dieser  graphischen  Linie  noch  bemerkt,  daß,  wie  man 


—     79    — 

aus  Tab.  9  ersehen  kann,  die  absoluten  Gewichtszahlen  sowohl 
der  gesamten  Hinterlandsausfuhr,  wie  auch  der  oberelbischen 
Wasserausfuhr,  in  den  in  Betracht  kommenden  Jahren,  abgesehen 
von  geringen  Schwankungen,  Jahr  für  Jahr  dauernd  gestiegen 
sind. 

Vergleicht  man  in  dieser  Darstellung  die  Linie  des  Wasser- 
standes und  die  der  Frachtsätze,  so  erkennt  man  deutlich  eine 
starke  Abhängigkeit  derselben  von  einander.  Und  zwar  ver- 
laufen die  Linien  in  den  entsprechenden  Jahren  fast  stets  in 
entgegengesetzter  Richtung,  also  bei  niedrigem  Wasserstand  hohe 
Frachten  und  umgekehrt.  Diese  Regelmäßigkeit,  die  nur  in 
Jahren  sehr  guten  Geschäftes  z.  B.  1897  ""d  1908  oder  in  (meist 
durch  übertriebenen  Konkurrenzkampf  hervorgerufenen)  außer- 
gewöhnlich ungünstigen  Jahren  z.  B.  1900  bis  1903  und  1907  Ab- 
weichungen aufweist,  wird  dadurch  verursacht,  daß  einerseits  bei 
sinkendem  Wasserstand  der  Schiffer  seinen  Kahn  geringer  be- 
laden kann,  und  dadurch  die  sich  gleich  bleibenden  oder  bei 
niedrigem  Wasserstand  sogar  sich  steigernden  Selbstkosten  auf 
eine  kleinere  Menge  Güter  verteilt  werden  müssen.  Dadurch 
werden  die  einzelnen  Gewichtseinheiten  derselben  stärker  belastet. 
Dazu  kommt,  daß  bei  sinkendem  Wasserstand  infolge  der  gerin- 
gen Ladungsfähigkeit  des  einzelnen  Kahnes  die  vorhandenen 
Gütermengen  sich  auf  eine  größere  Zahl  von  Kähnen  verteilen 
und  einer  größeren  Zahl  von  Unternehmern  Verdienst  gewähren, 
wodurch  die  gegenseitig  sich  unterbietende  Konkurrenz  gemildert 
wird.  Dagegen  läßt  sich  eine  gleich  sichere  Regelmäßigkeit  der 
Linien  des  Hamburger  Ausfuhranteils  mit  den  beiden  anderen 
Linien  nicht  feststellen,  wenn  auch  eine  gewisse  Tendenz  des 
Güteranteiles,  bei  steigendem  Frachtsatz  zu  sinken  und  umgekehrt, 
unverkennbar  vorhanden  ist. 

Die  genaueren,  zahlenmäßigen  Angaben  über  die  Entwick- 
lung der  Eibfrachten  von  und  nach  den  verschiedenen  Stationen, 
immer  für  Massengüter  berechnet,  weist  in  ihrer  absoluten  Höhe 
und  umgerechnet  auf  den  tkm  die  Tab.  29  Sp.  i  — 12  nach. 
Für  die  Jahre  1871  bis  1889  beruhen  diese  Angaben  auf  Auf- 
zeichnungen verschiedener  Gesellschaften  und  Schiffsprokureure, 
für  die  Jahre  1890  bis  191 2  aber  auf  den  wöchentlichen  Fracht- 
berichten in  der  Zeitschrift  »Das  Schiff«. 

Diese  Tabelle  zeigt  deutlich  ein  starkes  Sinken  der  Fracht- 
preise während  der   letzten   40    Jahre.     Dies    ist    begreiflich  ;    ist 


—     So     — 

Tab.   29. 

Frachtsätze  für  Massengüter  und  Anteilfrachten  auf  der  Elbe 

1S70 — 1912   (in    ITciini^eii). 


1. 

2. 

3- 

4- 

5- 

6. 

7- 

Ö. 

9- 

10. 

II. 

12.    ,   I 

3. 

I 

4.  1  I 

5- 

16. 

Wasser- 
stand 

am 
Dresd- 
ner 
Pegel. 

[ahresdurchschnitt 

der  Frachtsät 

ze  für 

Massengüter 

J 

ahresdurchschnitt  der 
zahlten  Anteilfrachten 

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Von  Aussig  nach 

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Aussig 

Magd 

eburg 

Hamburg     ||mi 

tlerenElb-  oberen  Elb- 

durch- 
schnitt 

(275 

km) 

(570  km) 

(671 

km) 

(396  km) 

(671 

km)           s 

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I  tkm 

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I  tkm 

100  kg 

I  tkm    ICK 

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I  tkm 

1871 

120 

2,06 

.62 

1,67 

72 

125 

2,16 

67 

1,82 

. 

. 

73 

105 

1,80 

71 

1,90 

80 

1,19 

74 

95 

1,67 

64 

1,72 

72 

1,07 

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105 

1,80 

60 

1,62 

67 

1,00 

76 

. 

85 

1,46 

. 

60 

1,62 

65 

0,97 

77 

. 

85 

1,46 

. 

54 

1,46 

60 

0,90 

78 

. 

80 

1.37 

45 

1,21 

55 

0,82 

79 

73 

1.25 

41 

I,II 

50 

0,75 

1880 

, 

74 

1,27 

39 

1,05 

50 

0,75 

81 

. 

72 

1,23 

41 

1,12 

45 

0,67 

82 

62 

1,07 

31 

0,85 

32 

0,48 

83 

. 

77 

1,33 

41 

1,10 

44 

0,66 

84 

. 

71 

1,22 

37 

1,01 

38 

0,57 

1885 

—   90 

61 

1,05 

43 

1,17 

45 

0,67 

86 

-   67 

. 

57 

0,99 

40 

1,07 

36 

0,55 

87 

—   92 

. 

62 

1,07 

43 

1,15 

48 

0,72 

88 

—   32 

55 

0,95 

29 

0,79 

32 

0,48 

89 

—  94 

. 

71 

1,22 

40 

1,09 

42 

0,62 

1890 

—  22 

45 

0,77 

31 

0,77 

91 

—  55 

33 

1,22 

42 

0,74 

40 

1,00 

35 

0,52 

92 

-  63 

33 

1,19 

46 

0,82 

38 

.0,95 

35 

0,52 

93 

—  91 

37 

1.38 

69 

1,21 

37 

0,92 

94 

—  62 

20 

0,72 

38 

0,68 

54 

0,80 

20 

0,50 

23 

0,35 

1895 

-  64 

35 

1,28 

56 

0,95 

76 

1,13 

36 

0,90 

40 

0,59 

96 

—  49 

22 

0,81 

38 

0,67 

49 

0,62 

17 

0,42 

22 

0,32 

97 

—  34 

28 

1,04 

50 

0,88 

63 

0,94 

25 

0,62 

26 

0,38 

98 

-  85 

26 

0,95 

48 

0,85 

63 

0,95 

32 

0,80 

33 

0,49      I 

8 

0,65  i    2 

2 

0.31 

99 

—  80 

23 

0,84 

43 

0,75 

58 

0,87 

24 

0,60 

26 

0,38 

7 

0,25      I 

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1900 

-  46 

34 

1,22 

59 

1,03 

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1,16 

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0,90 

42 

0,63       I 

4 

0,50      I 

4 

Oi20 

Ol 

—  81 

28 

1,02 

49 

0,86 

62 

0,92 

22 

0,55 

•   27 

0,40       I 

2 

0,43      I 

2 

o>i8 

02 

—  99 

18 

0,64 

32 

0,56 

41 

0,62 

18 

0,45 

23 

0,35 

8 

0,29 

8 

0,12 

03 

-  98 

18 

0,65 

34 

0,62 

40 

0,59 

5 

0,18 

9 

0,13 

04 

—  124 

38 

1,38 

61 

1,08 

67 

1,00 

28 

0,70 

31 

0,46      3 

0 

1,09;  3 

4 

0,50 

1905 

-87 

30 

1,09 

52 

0,91 

64 

0,95 

26 

0,65 

I 

8 

0,65 : 2 

4 

0,35 

06 

-  84 

23 

0,84 

46 

0,80 

58 

0,87 

26 

0,65 

28 

0,42      I 

3 

0,47  I 

6 

0,23 

07 

-  87 

31 

1,13 

55 

0,96 

68 

1,01 

29 

0,72 

34 

0,50      1 

8 

0,65  2 

0 

0,28 

08 

_I24 

30 

1,09 

47 

0,82 

59 

0,88 

25 

0,62 

26 

0,38      1 

6 

0,58 ,  I 

7 

9.25 

09 

—  87 

30 

1,09 

52 

0,91 

63 

0,95 

24 

0,60 

28 

0,42       1 

9 

0,69 !  2 

0 

0,28 

1910 

—  72 

18 

0,65 

32 

0,56 

43 

0,64 

18 

0,45 

27 

0,40 

9 

0,32; 

9 

0,13 

II 

_I24 

39 

1,41 

67 

1.17 

78 

1.16 

5 

iS 

1,01     3 

\3 

0,49 

12 

— 

91 

20 

0,72 

42 

0,73 

7 

0 

1,04 

. 

I 

0, 

40    1 

1 

5 

0,22 

—     8i     — 

doch,  wie  an  einer  früheren  Stelle  angeführt  worden  ist  ^),  die  Aus- 
nutzungsmöglichkeit und  dadurch  die  Rentabilitätsmöglichkeit  der 
gleichen  Kahneinheit  auf  der  Elbe  während  der  letzten  25  Jahre 
auf  etwa  das  Doppelte  gestiegen.  Freilich  ist  auch  der  auf  der 
Elbe  schwimmende  Kahnraum  und  dadurch  die  Konkurrenz  so 
gewachsen,  daß  der  Schiffer  schon  lange  nicht  mehr  so  intensiv 
wie  früher  einen  Kahn  ausnutzen  kann.  Somit  bedeutet  das  be- 
deutende Sinken  der  Frachtpreise  auch  eine  nicht  unbedeutende 
Verringerung  der  Verdienste  des  einzelnen  Schiffers  für  die 
gleiche  Transportleistung  gegen  früher.  Freilich  lassen  die  Zahlen 
aus  Tab.  29  keine  unbedingt  sicheren  Rückschlüsse  auf  die  Ver- 
dienste der  einzelnen  Jahre  zu,  da  das  Hauptgeschäft  in  der  Eib- 
schiffahrt in  den  Herbst,  etwa  in  die  Monate  September  bis 
November,  fällt  und  für  das  ganze  Jahresgeschäft  die  Frachtpreise 
dieser  Monate  maßgebend  sind,  deren  Höhe  jedoch  nicht  aus  den 
Jahresdurchschnittszahlen  in  Tab.  29  ersehen  werden  kann. 

Die  vorstehenden  Darstellungen  und  Zahlen  zeigen,  daß  die 
gewöhnliche  Einnahmequelle  des  Schiffers,  das  Frachtgeschäft, 
wie  alle  Geschäfte,  deren  Preise  börsenmäßig  festgesetzt  werden, 
einen  stark  spekulativen  Charakter  trägt.  Diese  Natur  des  Schiffer- 
einkommens wird  aber  durch  das  bisher  Gesagte  noch  nicht  voll- 
ständig begründet ;  vielmehr  kommt  noch  ein  zweites  spekulatives 
Moment  hinzu. 

Die  Frachtsätze  richten  sich,  wie  dargelegt,  im  allgemeinen 
nach  dem  augenblicklichen  Wasserstand  und  werden  für  eine  be- 
stimmte Gütermenge  festgesetzt.  Das  Beladen  eines  Kahnes 
dauert  stets  mindestens  zwei  bis  drei  Tage  oder  länger  und  für 
eine  Fahrt  von  Hamburg  bis  Böhmen,  und  ebenso  in  umgekehrter 
Richtung,  rechnet  man  durchschnittlich  etwa  20  bis  30  Tage. 
Nun  rechnet  der  Schiffer,  wenn  er  eine  Ladung  annimmt  und 
den  Frachtpreis  vereinbart,  insgeheim  damit,  daß  sich  während  der 
Ladezeit  oder  bis  er  die  Bestimmungsstation  erreicht,  das  Wetter 
und  damit  der  Wasserstand  ändern  wird.  Hat  er  z.  B.  bei  nie- 
drigem Wasserstand,  der  auf  der  oberen  Eibstation,  dem  Bestim- 
mungshafen, nur  ein  Drittel  der  gewöhnlichen  Tauchtiefe  und  da- 
durch der  Ladungsfähigkeit  gestattet,  eine  Ladung  von  Hamburg 
nach  Aussig,  so  nimmt  er,  wenn  er  bis  zu  seiner  Ankunft  an  der 
höher  gelegenen  Eibstation  steigenden  Wasserstand  erwartet,  eine 
größere  Gütermenge,  als  der  augenblickliche  Wasserstand  gestatten 

ÖVgTs.  30. 
Zeitschrift  für  die  ges.  Staatswissensch.    Ergänziingsheft  50.  6 


82 


würde,  zu  den  günstigeren  Frachtsätzen  des  niederen  Wasserstan- 
des an.  Treffen  nun  seine  Erwartungen  hinsichtlich  der  Besserung 
des  Wasserstandes  ein,  so  hat  er  ein  gutes  Geschäft  gemacht.  Hat 
er  sich  aber  getäuscht,  so  erleidet  er  einen  sehr  bedeutenden 
Verlust.  Denn  er  ist  dann  gezwungen,  unterwegs,  sobald  er  in 
allzu  seichtes  Wasser  kommt,  entweder  seine  l-'ahrt  zu  unter- 
brechen, oder  seinen  Kahn  auf  eigene  Kosten  abzuleichtcrn,  also 
auf  seine  Kosten  einen  anderen  Kahn  zu  chartern,  und  auf  freier 
Strecke  ohne  Verladevorrichtungen  einen  Teil  seiner  Fracht  auf 
den  anderen  Kahn  überzuladen.  Dieser  Umstand  bildet  ein  sehr 
gefährliches  und  unsicheres  Moment  in  den  Geschäften  des 
Schiffers,  und  hat  schon  manchem  Schiffer,  ohne  daß  eine  Speku- 
lationsabsicht bestand,  bei  unvorhergesehenen  Witterungs-  und 
Wasserstandsveränderungen  schweren  Schaden  gebracht,  ja  sogar 
seine  ganze  Existenz  zerstört. 

Bisher  war  nur  von  den  Einnahmequellen  desjenigen  Privat- 
schiffers die  Rede,  der  selbstständig   auf   dem   Frachtmarkt    dem 
Produzenten,     Exporteur     oder     sonstigen     Transportgelegenheit 
Suchenden    gegenübertritt.      Dieses    Verhältnis     aber   kommt    an 
der  Elbe  nur  noch    in   den  seltensten  Fällen    vor    und    hat   auch 
früher  niemals   allgemein    bestanden.     Der    Privatschiffer    ist    für 
derartige  Geschäfte  zu  schwerfällig  und   ist   auch  mit  den  beson- 
deren Verhältnissen  an  den  verschiedenen    Orten   zu    wenig    ver- 
traut;    an    der    Börse     vermag    er    überhaupt    nicht    aufzutreten. 
Deshalb    hat    sich    von    jeher    der    Privatschiffer    in    der    Regel 
der     Schiffsprokureure,     d.   h.      selbständiger     Frachtmakler    be- 
dient, abgesehen  von  anderen  Einrichtungen,    die   in    einem    spä- 
teren Kapitel  besprochen  werden.     Diese  Prokureure  vermittelten 
ursprünglich,  insbesondere  während  der  70er  und  80er  Jahre,  den 
Privatschiffern  zu  einem   festen   Provisionssatz    die  Ladungsgüter, 
und  dem  Schiffer  fiel  dann  der  volle  von    den    Prokureuren    mit 
dem  Versender  vereinbarte  Frachtlohn  zu,  wofür  er  die  Einlade-, 
Versicherungs-    und    eventuell    auch    Schleppkosten    aus    seiner 
Tasche  zu  tragen  hatte. 

Diese  Verhältnisse  änderten  sich  gegen  Ende,  des  vorigen 
Jahrhunderts  dahin,  daß  die  Prokureure  von  da  ab  mit  den 
Versendern  einen  Frachtpreis  vereinbarten,  diesen  ausgezahlt  er- 
hielten, und  nunmehr  versuchten,  einen  Schiffer  zu  finden,  der 
ihnen  den  Transport  zu  einem  niedrigeren  als  dem  von  dem 
Versender  gezahlten  Frachtpreis  ausführte.     Der  Frachtsatz,    den 


-     83     - 

der   Prokureur    dem    Schiffer    zahlte,    wurde    und    wird    »Anteil- 
fracht«,   zeitweise    und    ortsweise    auch    »Hauptfracht«    genannt. 
Die   Anteilfracht    ist   eine  Art   Scharterlohn,   d.  h.   sie  bildet  das 
Entgelt  des  Schiffers  dafür,    daß  er  dem  Prokureur  seinen  Kahn- 
raum überläßt    und  den  Kahn    an   den    Bestimmungsort   geleitet ; 
alle  Spesen    des  Transportes    mit  Ausnahme    der   Leichterkosten 
und  Löhne    der   Schiffsbesatzung    trägt    der    Prokureur,   also    die 
Einladungs-,  Schlepp-  und  Versicherungskosten  und  dergleichen. 
Diese    Anteilfrachten,    die    sich    wieder    ausschließlich    nach  An- 
gebot  und    Nachfrage    regulieren    und    auch    von   der   Höhe   der 
vom  Versender  bewilligten  Frachten  abhängig    sind,    werden    für 
die  Ladungseinheit,   meist   für    loo   kg    Ladung   vereinbart.     Der 
Privatschiffer    behält    also    das    Interesse    daran,    eine    möglichst 
große  Ladungsmenge  für  seinen    Kahnraum   zu    erhalten,    und  es 
bleibt  folglich  die  Spekulationsmöglichkeit,  aber  auch  das  Risiko, 
die,  wie  oben  ausgeführt,  mit  der  Veränderung  des  Wasserstandes 
verbunden  sind.     Dieses  System    der    Anteilfrachten    kommt   seit 
Ende  der  90  Jahre    des   vorigen   Jahrhunderts   in   der  Bergschiff- 
fahrt fast  ausschließlich  zur  Anwendung  und  hat  sich    seit   Mitte 
des  ersten  Jahrzehntes  des  20.  Jahrhunderts  auch  im  Verkehr  zu 
Tal    eingebürgert.      Auch    bedienen   sich   dieser   Art    von    Kahn- 
raumbeschaffung heute  nicht  nur  die  Prokureure,  sondern  in  sehr 
weitem  Umfange  auch  die  Großschiffahrtsunternehmungen.     Zah- 
lenmäßige  Angaben    darüber  enthält  Tab.  23,    Sp.  IV  und  Tab. 
40,    Sp.  XII.     Heute   tritt    der    Privatschiffer    nur    noch    bei    den 
freilich  sehr  umfangreichen  und  wichtigen  Kohlen-  und  Getreide- 
verfrachtungen in  Böhmen  völlig  selbständig  und  selbstbietend  auf 
dem  Frachtmarkt  auf,  was  ihm  durch  die  Aussiger  Frachtenbörse 
ermöglicht  wird.     Da  aber  diese  Transporte,  wie   im   ersten   Ka- 
pitel gezeigt  worden  ist,  stark  und  dauernd  in  Abnahme  begriffen 
sind,  so  wird  auch  dieses  letzte  selbständige  Geschäft  des  Privat- 
schiffers immer  geringer  und  auch  unrentabler. 

Ueber  die  durchschnittliche  Höhe  der  während  der  einzelnen 
Jahre  auf  dem  Hamburger  Frachtenmarkt  ausgezahlten  Anteil- 
frachten geben  für  die  Zeit  von  1898  bis  1912  Tab.  29  Spalte  13 
bis  16  Auskunft.  Die  Zahlen  der  Anteilfrachten  bieten  viel 
besser,  als  die  in  Tab.  29  Spalten  i  bis  12  wiedergegebenen 
Zahlen  der  gewöhnlichen  Frachten  ein  klares  Bild  von  den  Kon- 
kurrenzverhältnissen unter  den  Kleinschiffern  und  zusammen 
mit  den  Wasserstandsverhältnissen  und  der  durch  sie   gebotenen 

6* 


-     84     - 

Ladungsmöglichkeit  ein  Bild  von  der  Voraussetzung  des  Ein- 
kommens der  Privatschiftcr.  Ist  es  doch  in  Zeiten  des  heißesten 
Konkurrenzkampfes  z.  B.  Ende  März  1903  vorgekommen,  daß 
die  Klcinschiftcr  in  ihrem  Unterbietungseifer  ihren  Kahnraum  in 
Hamburg  unentgeltlich,  also  auch  ohne  jede  Anteilfracht  zur  Berg- 
reise angeboten  haben,  nur  um  ohne  Kosten  nach  Böhmen  zurück- 
zugelangen, und  dort  zu  mäßigem  Satz  die  immer  reichlich  vor- 
handenen Braunkohlentalfrachten  zu  erhalten,  oder  daß  sie  aus 
denselben  Gründen  für  die  671  km  lange  Strecke  Hamburg- 
Aussig  um  12  bis  25  7o  geringere  Anteilfracht  verlangten,  als 
für  die  nur  275  km  lange  Strecke  Hamburg-Magdeburg  (z.  B 
von  Januar  bis  Juni  1903).  Daß  unter  solchen  Umständen, 
die  es  den  Verfrachtern  ermöglichten,  unentgeltlichen  Kahn- 
raum und  unentgeltlichen  Transportdienst  zu  erlangen,  den 
vernichtendsten  Frachtunterbietungen  Tür  und  Tor  geöffnet  sind 
und  ein  reeller  und  rentabler  Schiffahrtsbetrieb  für  fmanziell 
schwache  Kräfte  unmöglich  wird,  ist  nur  zu  begreiflich. 

Will  man  die  Einnahmequellen  des  Kleinschiffers  übersehen, 
so  muß  noch  auf  gewisse  Nebeneinnahmen  hingewiesen  werden, 
die  das  Frachtgeschäft  mit  sich  bringt  und  die  vielfach  fast  ebenso 
einträglich  sind,  wie  das  Frachtgeschäft  selbst.  So  gibt  es  zahl- 
reiche' Handelsusancen,  die  dem  Schiffsführer  gestatten,  kleinere 
Güterquanten,  die  bei  der  Entladung  oder  bei  anderen  Gelegen- 
heiten zurückbleiben  oder  als  überzählig  sich  erweisen,  in  seinem 
eigenen  Nutzen  zu  verwerten,  nachdem  bei  der  Entladung  die 
auf  dem  Frachtbrief  vermerkte  Gütermenge  oder  auch  diese  ab- 
züglich des  usancemäßigen  Mankos  abgeliefert  ist.  Auch  >  Zu- 
gaben« beim  Verwiegen  und  Einladen  im  Abgangshafen  sind  bei 
bestimmten  Warengattungen  z.  B.  bei  Getreide  in  Hamburg,  bei 
Kohlen  in  Aussig,  zeitweise  üblich  gewesen  und  kamen  den 
Schiffern  zugute.  Freilich  ist  bei  diesen  »Nebenverdiensten«, 
die  in  letzter  Zeit  wegen  der  genaueren  Kalkulation  der  Absen- 
der und  Empfänger  immer  mehr  eingeschränkt,  ja  fast  ganz  be- 
seitigt worden  sind,  die  rechtmäßige  von  der  unrechtmäßigen 
Aneignung  oft  nicht  leicht  zu  unterscheiden.  Es  hat  Zeiten  ge- 
geben, während  deren  die  Beraubungen  von  Schiffsladungen  auf 
der  Elbe  fast   zu  den  Alltäglichkeiten  gehörten. 

Aus  dem  über  die  Einnahmequellen  der  Privatschiftcr  Ge- 
sagten ist  zu  ersehen,  daß  für  die  Höhe  der  durchschnittlichen 
Jahreseinnahmen  des  Eibschiffers  keine  bestimmten  Angaben  ge- 


\ 


-     85     - 

macht  werden  können  ;  sie  sind  von  zu    vielen    nicht    kontrollier- 
baren Möglichkeiten  abhängig. 

Einen  gewissen  Anhalt  über  die  Einkommensverhältnisse  der 
Schiffseigner  können  die  Angaben  der  Elbschiffahrts-Berufsgenossen- 
schaft  über  das  Jahreseinkommen  der  ihr  freiwillig  als  Selbst- 
versicherte beigetretenen  Schiffahrtsunternehmer  gewähren.  Hier- 
nach betrug  das  durchschnittliche  Jahreseinkommen  dieser  Schiffs- 
eigner etwa  I200  bis  1500  M. ;  es  ist  aber  zu  berücksichtigen, 
daß  es  zum  großen  Teil  gerade  die  schlechtest  gestellten 
Schiffseigner  sein  werden,  welche  die  Unfallversicherung  benutzen, 
denn  die  besser  gestellten  bedürfen  ihrer  weniger.  Jene  Zahlen 
dürfen  deshalb  wohl  nur  als  untere  Durchschnittseinkommens- 
grenze angesehen  werden.  Wie  mühsam  sich  der  Schiffseigner 
sein  Einkommen  verdienen  muß,  kann  man  aus  einer  Kosten- 
berechnung ersehen,  die  »Das  Schiff«  im  Jahre  1895  für  einen 
Kahn  von  400  t  aufstellte,  der  sich  bei  voUschiffigem  Wasser  an 
der  Kohlenverfrachtung  zwischen  Aussig  und  Magdeburg  beteiligte. 
Zum  besseren  Verständnis  sei  vorausgeschickt,  daß  eine  große 
Zahl  von  Kleinschiffern  lediglich  die  T  a  1  Schiffahrt  zwischen  Aussig 
und  Magdeburg  betreibt.  Diese  Schiffer  lassen  nach  Ablieferung 
.und  Entladung  ihrer  Fracht  im  Bestimmungshafen  den  leeren  Kahn 
sogleich  wieder  nach  Aussig  schleppen,  da  sie  von  Magdeburg  nach 
dorthin  nur  sehr  selten  direkte  Fracht  finden  würden,  eine  Fahrt 
nach  Hamburg  aber,  um  dort  Bergfracht  einzunehmen,  bei  der 
geringen  Rentabilität  der  Frachtschiffahrt  zu  Berg  sich  nicht  ver- 
lohnen v/ürde.     Es  heißt  an  jener  Stelle  im  »Schiff«  : 

Dauer  der  Einladung  in  Aussig  4  Tage 

Fahrt  Aussig — Magdeburg  6       > 

Liegezeit  in  Magdeburg  (zur  Löschung  der  Ladung)  14      » 

Rückfahrt  nach  Aussig  (leer)  6      » 


Sa.     30    Tage 


A  u  s  g  ab  e  n. 
Lohn  für  30  Tage 

1  Steuermann  ä  M.  3.50  pro  Tag 

2  Deckleute       ä  M.  2.50     »       » 

Kosten  der  Einladung  in  Aussig  (40  Waggon  Kohlen) 

Frachtvermittlungskosten 

Schlepplohn  des  leeren  Fahrzeuges  (Magdeburg — Aussig) 


Dem  stehen  als  Einnahmen  nur  die  aus  den  Frachtlöhnen  gegen- 
über. Es  wurde  damals  für  einen  Doppelhektoliter  =  2^/4  Ztr. 
Kohlen  Aussig-Magdeburg  30  Pfg.  gezahlt,    was    sich    für    eine  t 


M.   105 

.      150 

»     X59 

>       75 

»     362 

Sa. 

M.  851 

—     86     — 


auf   2,iS  M.  oder    für    die    Schiffsladung   von   400  t    auf   872  M. 
belaufen  würde. 


Also 


Einnahmen  M.  872 

Ausgaben  M.  85 1 


Gewinn  aus  einer  Reise  M.     21 

Da  ein  Kahn  während  eines  Jahres  auf  dieser  Strecke  höchstens 
II  Fahrten  machen  kann,  so  beträgt  der  Jahresgewinn  eines 
Kahnes  ohne  Abzug  von  Reparatur-  und  Amortisationskosten 
231.—  M. ;  bei  ca.  20000  M.  Anschaffungswert  des  Kahnes  würde 
dies  eine  reichlich  i  %  ige  Verzinsung  des  investierten  Kapitals  be- 
deuten. Davon  kann  der  Schiffseigner  nicht  leben,  er  fährt  deshalb 
meistens  auf  seinem  eigenen  Schiff  als  Steuermann,  wodurch  er  den 
Lohn  für  diesen  in  Höhe  von  11 55  M.  erspart  und  somit  ins- 
gesamt 1386  M.  Jahresgewinn  erhalten  kann,  was  eine  sehr  ge- 
ringe Verzinsung  seines  Kapitales  und  einen  sehr  niedrigen  Er- 
trag seiner  Arbeitskraft  darstellt. 

Im  allgemeinen  kann  wohl  gesagt  werden,  daß  die  Betriebs- 
ergebnisse, wie  sie  in  Tab.  25  und  Tab.  27  zugrunde  gelegt  wor- 
den sind,  also  für  einen  650  t-Kahn   6700  M.  Betriebseinnahmen 
bei  4600  M.    Betriebsausgaben,    d.  h.  2100  M.    jährlich    Betriebs- 
überschuß,   und    bei   größeren  Kähnen    entsprechend   höher,    bei 
kleineren  entsprechend  niedriger,    als    ein    sehr    günstiger  Jahres- 
abschluß anzusehen  sind.    Rechnet  man  die  fast  immer  ersparten 
Steuermannslöhne    von   jährlich   1400  M.    hinzu,   so    ergeben  sich 
3500  M.  als    das   sehr    reichliche    Jahreseinkommen   eines    unver- 
schuldeten Privatschiffers,  der,  wie  es  fast  immer  geschieht,    sein 
Gewerbe  nur  mit  einem  Kahn  betreibt.     Dazu  würden  die  frei- 
lich meist  nur  noch  sehr  geringen  Nebeneinnahmen  zu  rechnen  sein. 
Da  jedoch  völlige  Unverschuldetheit  bei  Privatschiffern  heute  auf 
der  Elbe  nur  noch  sehr  selten  anzutreffen  ist,  so  wird  man  den  durch- 
schnittlichen Reingewinn  eines  soliden  Privatschiffers  auf  der  Elbe 
aus    seinem  Kapital   und    seiner  Arbeitskraft   in   einem   normalen 
Durchschnittsjahr  kaum  höher  als  mit  2100  M.  ansetzen  können. 
Nach  alledem  läßt  es  sich  leicht  verstehen,  daß  "wie  es  auch 
Tab.  22  und  die  an  sie  angeknüpften  Erörterungen    zahlenmäßig 
darzulegen  gesucht  haben,    allmählich    in    den    letzten  Jahren  ein 
Rückgang    in    der  Zahl   der  Kleinschifferbetriebe    eingetreten  ist, 
und  daß    sich    ihre  Unternehmer    anderen  Beschäftigungen    oder 
anderen  Wasserstraßen  zugewendet  haben. 


-     87     - 

III.  Kapitel. 
Die  Groß  Schiffahrt. 

I.  Wesen  und  Umfang  der  Großbetriebe. 

Das  Großunternehmen  in  der  Eibschiffahrt  charakterisiert 
sich  vor  allem  durch  die  Art  der  Beschaffung  seines  Betriebs- 
kapitals und  durch  die  Stellung  seiner  Unternehmer.  Denn  pri- 
vate Betriebe,  die  man  nach  sonst  allgemein  gültigen  Gesichts- 
punkten als  Großbetriebe  ansprechen  könnte,  bestehen  in  der 
Eibschiffahrt  nicht.  Es  hat  sich  auch  in  der  Praxis  die  Bezeich- 
nung Großschiffahrt  nur  für  diejenigen  Betriebe  herausgebildet, 
die,  abgesehen  von  einer  gewissen  Höhe  des  Betriebskapitals,  auf 
gesellschaftsrechtlicher  Grundlage,  insbesondere  auf  dem  Aktien- 
prinzip aufgebaut,  nach  kapitalistischen  Grundsätzen  verwaltet 
und  geleitet  werden  und  sich  gewerbsmäßig  nur  mit  der  Güter- 
schiffahrt auf  der  Elbe  befassen. 

Derartige  Unternehmungen  hat  es  in  den  letzten  40  Jahren 
auf  der  Elbe  1 1  gegeben,  und  zwar :  Die  Prager  Dampf-  und 
Segelschiffahrts-Gesellschaft,  die  Vereinigte  Hamburger-Magde- 
burger Dampfschiffahrts-Kompagnie,  die  Neue  Norddeutsche  Fluß- 
dampfschiffahrts-Gesellschaft,  die  Elbdampfschiffahrts-Gesellschaft, 
die  Frachtdampfschiffahrts- Gesellschaft,  die  »Kette«  Deutsche 
Elbschiffahrts  -  Gesellschaft ,  die  Oesterreichische  Nord-West- 
Dampfschiffahrts  -  Gesellschaft,  die  Vereinigten  Elbeschiffahrts- 
Gesellschaften,  die  Deutsch-österreichische  Dampfschiffahrts-Ge- 
sellschaft, die  »Elbe«  Dampfschiffahrts- Aktien-Gesellschaft  und  die 
Neue  Deutsch-böhmische  Dampfschiffahrts-Gesellschaft. 

Von  diesen  bestehen  heute  noch  6,  und  zwar  .•  die  Neue 
Norddeutsche  Plußdampfschiffahrts-Gesellschaft,  die  Oesterreich- 
ische Nord-VVest-Dampfschiffahrts-Gesellschaft,  die  Vereinigten 
Elbschiffahrts-Gesellschaften,  die  Deutsch-österreichische  Dampf- 
schiff"ahrts-Gesellschaft,  die  '>Elbe<-,  Dampfschiffahrts- Aktien-Ge- 
sellschaft, die  Neue  deutsch- böhmische  Dampfschiffahrts-Gesell- 
schaft. 

Die  Bedeutung  der  Großschiffahrt  läßt  sich  am  leichtesten 
durch  Darstellung  der  Entwicklung  ihrer  Schiffsflotte  veranschau- 
lichen, wenn  man  auch,  wie  später  gezeigt  werden  wird,  aus 
diesen  Zahlen  nicht  allzuweitgehende  Schlüsse  auf  die  Tätigkeit 
der  Großschiffahrt  ziehen  darf     Die  Zahl  der  Schiffe  betrug: 


—     88     — 


Tab.  30. 
Zahl  der  Schiffe  der  Großbetriebe. 


I. 

2. 

3- 

4- 
Anteil  an  der  Ge- 

Jahr 

Dampfschiffe 

Schleppkähne 

samiellischlepp- 
schifTflolte 

1872 

31 

12 

1877 

39 

39 

1882 

71 

322 

1887 

92 

377 

23% 

1892 

88 

372 

18  0/0 

1897 

HO 

367 

18% 

1902 

133 

404 

19% 

1907 

136 

■479 

26  0/0 

Diese  Zahlen  stellen  eine  bedeutsame  Flotte  dar,  die  im 
Dampfschleppverkehr  fast  eine  monopolartige  Stellung  auf  der 
Elbe  gewonnen  hat,  während  sie  hinsichtlich  der  Frachtschiffe, 
wie  die  Tab.  30  zeigt,  etwa  ^5  ^^^^^'  deutschen  Schleppfahrzeuge 
der  Elbe  umfaßt. 

Ueber  die  Gesamtleistung  dieses  Schiffsparkes  der  Großbe- 
triebe fehlt  es  an  umfassenden  brauchbaren  Angaben ;  sie  lassen 
sich  mit  einer  gewissen  Sicherheit  nur  für  das  Frachtgeschäft  bei- 
bringen, obwohl  gerade  die  Haupttätigkeit  der  Großunterneh- 
mungen in  der  Schleppschiffahrt  liegt. 

Es  bildet  eine  Eigentümlichkeit  eines  Teiles  der  Elbschiff- 
fahrtsgroßbetriebe,  daß  es  ihnen  gelungen  ist,  einen  nicht  unbe- 
trächtlichen Teil  des  Frachtverkehres  in  ihre  Hände  zu  bekom- 
men, ohne  ihn  selber  auszuüben,  oder  sich  wenigstens  in  be- 
schränktem Maße  selbst  an  der  Frachtschiffahrt  zu  beteiligen. 
Die  Ausführung  der  Frachtaufträge  ist  auf  der  Elbe  noch 
ein  fast  unbestrittenes  Vorrecht  der  Kleinschiffahrt,  während  ein 
selbstgeschaffenes  Privileg  der  Großbetriebe  die  Ausübung  der 
Schleppschiffahrt  bildet.  Es  mag  dies  zwar  bis  zu  einem  ge- 
wissen Umfange  in  den  hohen  Anschaffungs-  und  Unterhaltungs- 
kosten des  Schleppbetriebes  begründet  sein,  den  Hauptgrund 
dafür  aber  bildet  die  Tatsache,  daß  die  Großschiffahrt  bisher 
noch  nicht  imstande  gewesen  ist,  ohne  unverhältnismäßig  hohe 
Aufwendungen  der  Kleinschiffahrt  in  ihrem  altangestammten 
Wirkungskreis,  der  Frachtschiffahrt,  Abbruch  zu  tun,  obwohl  es 
im  Laufe  der  Zeit,  z.  B.  in  den  80er  Jahren,  nicht  an  Versuchen 
hierzu  gefehlt  hat.  Als  jedoch  die  Großunternehmungen  die  Un- 
möglichkeit   dieses    Unternehmens  erkannt  hatten,    waren   sie   so 


-     89     - 

klug,  den  starken  Nebenbuhler  nicht  unnötig  zu  reizen,  sondern 
mit  ihm  sich  gütlich  zu  einigen ;  denn  sie  bedurften  seiner  not- 
wendig als  Kunden  für  das  Schleppgeschäft.  So  überließ  man 
ihm  die  Frachtschiffahrt  nahezu  ungestört  und  suchte  ihn  nur 
zur  Benutzung  der  eigenen  Schleppdampfer  anzuregen  und  zu 
verpflichten.  Dieses  doppelte  Ziel  aber  konnte  man  am  leichte- 
sten dadurch  erreichen,  daß  sich  die  schleppschiffahrttreibenden 
Großbetriebe  eigne  Frachtbureaus  anlegten,  die  den  frachtsuchen- 
den Kleinschiffern  unter  gewissen  Bedingungen  Frachten  ver- 
mittelten und  zuwiesen.  Die  Bedingungen  bestanden  aber  darin, 
daß  der  Schiffer  sich  für  die  meist  kostenlose  Zuweisung  von 
Frachtgütern  verpflichten  mußte,  bei  seiner  Bergreise  sich  nur 
der  Schleppkraft  jenes  Großbetriebes  zu  bedienen,  durch  den 
er  die  Transportaufträge  erhalten  hatte.  So  bildeten  sich  zwi- 
schen der  Schleppschiffahrt  der  Großbetriebe  und  der  Fracht- 
schiftahrt  der  Kleinbetriebe  die  ersteren  als  Frachtvermittlungs- 
institute zu  ^Mittelspersonen  und  Bindegliedern  aus  und  knüpf- 
ten damit  ein  festes  Band  zwischen  den  beiden  Unternehmer- 
gruppen. Diese  von  den  Gesellschaften  nur  vermittelten  aber 
nicht  selbst  ausgeführten  Verfrachtungen  sind  m^eist  unter- 
schiedslos in  den  Nachweisen  der  Verfrachtungsgelder  der  Ge- 
sellschaften mit  aufgenommen,  so  daß  diese  Nachweise  für  die 
wirklichen  Frachtschiffahrtleistungen  der  Gesellschaften  ein  un- 
genaues, weil  zu  günstiges  Bild  geben. 

Wie  groß  die  von  den  Gesellschaften  verfrachteten  Güter- 
massen sowie  ihr  Anteil  an  dem  Gesamteibverkehr  gewesen  sind, 
zeigt  die  Tab.  23,  Spalten  I  und  II.  In  Spalten  III  und  IV  ist 
auch  für  die  Jahre  1888 — 1S96  der  Anteil  derjenigen  Frachtgüter- 
mengen an  der  Gesamtverfrachtung  der  Gesellschaften  ange- 
geben, der  von  ihnen  auf  eignen  Frachtschiffen  befördert  wor- 
den ist;  wie  er  in  Tab.  40  noch  gesondert  für  die  ;> Nord-West« 
für  die  Jahre  1887 — 1904  zahlenmäßig  zusammengestellt  worden 
ist.  Man  sieht  aus  diesen  Zusammenstellungen  deutlich,  wie  ge- 
ring die  eignen  Frachttransportleistungen  der  Großunternehmungen 
sind,  wie  bedeutend  sich  dagegen  ihr  Fracht  vermittln  ngs- 
geschäft  ausgebildet  hatte,  und  wie  letzteres  von  Jahr  zu  Jahr 
seinem  Umfang  nach  in  Zunahme  begriffen  war.  Leider  sind 
diese  Zahlen  für  die  letzten  Jahre  wegen  ihres  Fehlens  in  den 
Betriebsveröffentlichungen  seit  1896  nicht  mehr  für  alle  Gesell- 
schaften  zu  berechnen;    es   zeigt   sich    aber    aus    den  Zahlen  der 


-     90    — 

> Nord- West«,    daß   jene  Tendenz  im   I'"iacht|^eschäft  dieselbe   ge- 
blieben ist. 

Es  ist,  wie  schon  erwähnt,  unmöi^lich,  in  ähnlicher  Weise, 
wie  für  das  Frachtgeschäft  auch  eine  Darstellung  der  Leistungs- 
fähigkeit der  Gesellschaften  in  der  Schleppschiffahrt  zu  geben. 
Die  Geschäftsberichte  weisen  in  dieser  Hinsicht  so  verschiedene, 
unter  sich  völlig  unvergleichbare  und  nicht  zu  vereinigende  An- 
gaben auf,  daß  man  sich  nur  auf  die  Ausweise  über  die  Ge- 
samteinnahmen der  Gesellschaften  aus  dem  Schleppgeschäft  be- 
schränken muß,  um  ein  ungefähres  Bild  von  der  Bedeutung,  dem 
Umfang  und  der  Entwicklung  des  großbetrieblichen  Schleppge- 
schäftes zu  erhalten.  Man  kommt  auf  diesem  Wege  zu  folgenden 
Ergebnissen : 

Tab.  31. 

Gesamteinnahmen  der  Groß- 
betriebeaus dem  Schleppgeschäft. 


I.          ' 

2. 

T     1. 

Gesamtschlepplohn- 

Jahr 

einnahmen 

1000  M. 

1882 

3697 

83 

3450 

84 

3746 

1885 

3384 

86 

2984 

87 

3064 

88 

3367 

89 

39.07 

1890 

4  174 

91 

4365 

92 

4283 

93 

5469 

94 

5742 

1895 

5683 

96 

5716 

Es  sei  noch  bemerkt,  daß  sämtliche  Großschiffahrtsbetriebe 
eigne  Schleppdampfer  besitzen  und  für  eigne  wie  für  fremde 
Frachtkähne  den  Schleppbetrieb  unterhalten.  Doch  ist  das  Ver- 
hältnis der  geschleppten  eignen  Kähne  zu  den  fremden  bei 
den  verschiedenen  Großunternehmungen  ein  ganz  verschiedenes, 
w'ie  später  noch  näher  auszuführen  sein  wird. 

Wie  sich  die  Einzeluntcrnehmungen  entwickelt  haben,  soll 
im  folgenden  Abschnitt  auf  Grund  ihrer  Jahresberichte  und  son- 
stigen Betriebsangaben  geschildert  werden. 


\ 


—     91     — 

2.  Entwicklung  der  einzelnen  Großbetriebe. 

Der  Versuch,  eine  lückenlose  Darstellung  der  Entwicklung 
der  einzelnen  Großbetriebe  zu  geben,  stößt  auf  empfindliche 
Schwierigkeiten.  Ist  man  schon  für  die  heute  bestehenden  Gesell- 
schaften beim  Nachforschen  nach  zuverlässigen  Nachrichten  fast 
nur  auf  die  oft  wenig  ausführlichen  und  nicht  immer  allgemein 
zugänglichen  Jahresberichte  der  Gesellschaften  angewiesen,  so 
versagt  auch  diese  Quelle  für  ältere  Entwicklungsstufen  der  heu- 
tigen, vor  allem  aber  für  frühere,  jetzt  nicht  mehr  bestehende 
oder  in  anderen  Gesellschaften  aufgegangene  Unternehmungen. 
So  erklärt  es  sich,  wenn  im  folgenden  für  einzelne  Betriebe  nur 
spärliche  und  lückenhafte  Mitteilungen  gemacht  werden  können, 
während  für  andere  ein  reichlicheres  und  interessantes  Material 
zur  Verfügung  steht. 

a)    Prager-Dampf-    und    Segelschiffahrtsgesell- 
schaft. 

Die  P.D.S.S.G.  ist  die  erste  Schiffahrts-Gesellschaft  auf  der 
Elbe  gewesen.  Sie  wurde  im  Mai  1822,  also  noch  vor  Einfüh- 
rung des  Dampfes  als  Antriebsmittel  auf  der  Elbe,  mit  einem 
Aktienkapital  von  65  500  fl  C-M  in  Prag  unter  der  Firma  »Prager 
Schiffahrts-Gesellschaft«  gegründet.  Trotz  ihrer  anders  lautenden 
Firma,  war  sie  ursprünglich  nur  ein  Frachtvermittlungsunter- 
nehmen, eine  reine  Speditionsfirma,  die  durch  ein  Kontor,  an- 
fangs in  Niedergrund  an  der  Pllbe,  seit  1828  in  Tetschen,  die 
ihr  zugeführten  Frachtgüter  an  die  Schiffahrt  weiter  gab.  Erst 
in  der  am  27.  Mai  1857  stattgefundenen  Generalversammlung 
beschloß  man  eine  Erweiterung  und  Umgestaltung  des  Geschäfts- 
betriebes. Das  Kapital  wurde  auf  600  000  fl  C-M  erhöht  und 
am  I.Januar  1858  begann  die  Gesellschaft  unter  der  neuen  Firma 
»Prager  Dampf-  und  Segelschiffahrts-Gesellschaft«  mit  eignem 
Gütertransport  auf  eignen  Schleppschiffen.  Im  Laufe  der  nächsten 
2  Jahre  wurden  5  Radschleppdampfer  von  je  60  PS  und  eine 
Anzahl  Schleppkähne  in  Betrieb  gestellt.  Die  Geschäftsergeb- 
nisse, über  die  sich  nirgends  nähere  Angaben  finden  lassen, 
scheinen  aber  im  allgemeinen  nicht  sehr  günstige  gewesen  zu  sein, 
wenigstens  wird  wiederholt  von  größeren  oder  kleineren  Fehlbe- 
trägen bei  den  Jahresabschlüssen  berichtet.  Trotzdem  erweiterte 
und  vermehrte    man  während  der  60er  Jahre    den  Schiffsbestand 


—     92     — 

nicht  unbeträchtlich,  so  daß  ilie  Gesellschaft  1.S72  6  Radschlepp- 
dampfer neuerer  und  neuester  Konstruktion  mit  insgesamt  1 500  PS 
besaß.  Anfangs  des  Jahres  1870  suchte  sie,  nachdem  bei  Magde- 
burg und  Dresden  von  anderer  Seite  unternommene  Versuche 
mit  der  Kettenschleppschiffahrt  günstig  ausgefallen  waren,  um 
die  Genehmigung  für  diese  Schiffahrtsbetriebsart  auf  der  Strecke 
zwischen  Schandau  und  Aussig  ')  nach  und  erhielt  sie  im  August 
desselben  Jahres.  Der  Betrieb  mit  diesem  neuen  Beförderungs- 
mittel wurde  im  März  1872  mit  2  Dampfern  eröffnet.  Trotz  alle- 
dem bestand  das  Hauptgeschäft  der  Gesellschaft  noch  in  der 
Frachtvermittlung  und  später  in  dem  Schleppen  fremder  Fahr- 
zeuge. Der  eigne  Frachtschiffpark  ist  immer  nur  gering  und  teil- 
weise stark  veraltet  und  deshalb  bei  den  mehr  und  mehr  sinken- 
den Frachtsätzen  unrentabel  gewesen;  nur  zögernd  ging  man  an 
die  Einstellung  von  Schleppkähnen  modernerer  Bauart.  Dagegen 
mußte  man  bereits  im  Jahre  1877  an  eine  völlige  Auswechselung 
der  abgenutzten  Schleppkette  gehen,  was  nicht  geringe  Kosten 
verursachte.  Doch  war  das  Schleppgeschäft  ein  so  reges  und 
rentables,  daß  man  1879  und  1882  je  einen  neuen  Kettenschlepp- 
dampfer in  Betrieb  stellen  konnte.  Dann  aber  traten  in  der 
Schiffahrt  Verhältnisse  ein,  die  es  der  Gesellschaft  im  Jahre 
1882  geraten  erscheinen  ließen,  ein  sehr  günstiges  Kaufangebot 
der  neugegründeten  Oesterreichischen  Nord-West-Dampfschiffahrt- 
Gesellschaft  über  das  gesamte  bewegliche  Betriebsmaterial  anzu- 
nehmen und  zu  liquidieren.  Die  Kaufsumme  betrug  i  450000  fl, 
also  fast  2-/2  Millionen  Mark. 

b)  Die  Vereinigte  Hamburger- Magdeburger 
Dampfschiffahrts-Kompagnie  in  Magdeburg. 

Die  V.H.M.D.K.  ist  die  erste  Gesellschaft  und  nach  dama- 
ligen Verhältnissen  das  erste  Großunternehmen  auf  der  Elbe,  das 
zur  Einführung  und  regelmäßigen  Ausnutzung  des  Dampfes  für 
die  Schiffahrt  gegründet  wurde.  Im  Jahre  1836  vereinigte  sich 
eine  Reihe  Magdeburger  Großkaufleute  zu  dem  Zwecke,  für  ihren 
eignen    Handel     die    Dampfschiffahrt    zwischen    Magdeburg    und 


l)  Diese  Strecke,  die  die  Durchbruchslelle  der  Elbe  durch  das  Elbsandslein- 
gebirge  bildet,  war  wegen  ihres  starken  Gefälles  und  ihrem  geringen  Wasserstand 
eine  sehr  schwierige  und  gefährliche  Wegstrecke  für  die  Bergschiffahrt ;  für  sie 
eignete  sich  die  Kettenschiffahrt  ganz  besonders. 


—     93     — 

Hamburg  einzuführen,  jedoch  ihre  Schiffe  auch  der  Personenbe- 
förderung zur  Verfügung  zu  stellen.  Das  Gründungskapital  be- 
trug anfangs  150000  TIr.  Der  Betrieb  wurde  1838  mit  einem 
Dampfer  aufgenommen  und  die  Erfolge  waren  günstige.  In  den 
ersten  Jahren  überwogen  die  Einnahmen  aus  der  Personenbeför- 
derung diejenigen  aus  der  Güterbeförderung  noch  beträchtlich, 
wie  Tab.  32  ergibt. 


Tab.  32. 
Verkehrsleistungen  der    »Ver.  Hamburg- Magdeburger    Dampfsch.- 

Komp.«    1838 — 1844. 


I. 

2. 

3- 

4- 

5- 

6. 

7- 

8. 

Zahl 

Zahl  der 

Zahl  der 

Gewicht  der 

Einnahmen 

Einnahmen 
aus  Güter- 

Divi- 

Jahr 

der 
Damp- 

Doppel- 

beförderten 
Personen 

beförderten 
Güter 

aus  Personen- 
beförderung 
in  Taler 

beförde- 

den- 
de 

fer 

reisen 

in  Ztr. 

rung 
in  Taler 

in% 

1838 

I 

34 

2705 

9966 

15326 

6324 

4 

1839 

2 

65 

4678 

18372 

23  356 

12  115 

6 

1840 

3 

120 

8452 

32775 

38708 

17424 

5 

1841 

7 

229 

17  719 

122  828 

loi  383 

61  830 

6 

1842 

7 
8 

155 
312 

II  302 

99994 

55410 

50326 

4 

1843 

195- 

-189 

0 

1844 

8 

289 

23  942 

235713 

95  164 

89  164 

0 

Man  sieht  jedoch  zugleich  aus  dieser  Tabelle,  daß  der 
Frachtverkehr  für  die  Einnahmen  der  Gesellschaft  eine  immer 
wichtigere  Rolle  zu  spielen  begann,  bis  er  Anfang  der  50er  Jahre 
die  Einnahmen  aus  der  Personenbeförderung  überwog.  Die  Ge- 
sellschaft konnte  sich  jedoch  nicht  lange  ihrer  Konkurrenzlosig- 
keit  auf  der  Elbe  erfreuen,  denn  schon  im  Jahre  1838  trat  eine 
Vereinigung  Hamburger  und  Leipziger  Kaufleute  unter  der  Firma 
Hamburg -Leipziger  Dampfschiffahrts- Kompagnie  auf  den  Plan 
und  die  Konkurrenz  der  beiden  Unternehmungen  wurde  eine  so 
heftige  und  für  beide  gleich  verlustreiche,  daß  man  sich  ent- 
schloß, mit  dem  i.  Januar  1841  die  Leipziger  Gesellschaft  in  der 
V.H.M.D.K.  mit  dem  Sitz  in  Magdeburg  aufgehen  zu  lassen;  zu- 
gleich wurde  das  Kapital  der  letzteren  auf  360000  Tlr.  erhöht. 
Während  man  anfangs  hauptsächlich  Personenschiffahrt  be- 
trieb und  Güter  nur  nebensächlich  befördert  wurden,  ging  man 
Mitte  der  40  Jahre,  als  ersterer  Geschäftszweig  wegen  der  Kon- 
kurrenz der  Eisenbahn  immer  weniger  gewinnbringend  wurde, 
zur  Annahme  von  Schlepp  auftragen    für  fremde  Frachtkähne 


—     94     — 

über.  Dieser  neue  Betriebszweig  sollte  allmählich  zur  Hauptein- 
nahmcquelle  der  Gesellschaft  werden,  denn  nachdem  man  schon 
Mitte  der  50er  Jahre  die  Dampferzah!  auf  1 1  erhöht  hatte,  ent- 
schloß man  sich,  um  bei  den  schlechtregulierten  Wasserverhält- 
nissen der  Elbe  im  Güterverkehr  in  bezug  auf  Schnelligkeit  und 
Leistungsfähigkeit  mit  der  Eisenbahn  konkurrenzfähig  zu  bleiben, 
im  Jahre  1863,  nach  dem  Muster  der  Seineschiffahrt  auch  auf  der 
Elbe  für  den  Schleppverkehr  Versuche  mit  der  Kettenschlepp- 
schiffahrt anzustellen.  Jedoch  kam  erst  1866  ein  regelmäßiger 
Betrieb  auf  der  5  km  langen  Versuchsstrecke  bei  Magdeburg 
zwischen  Neustadt  und  Buckau  zustande,  der  sich  bewährte. 
Trotzdem  ging  man  mit  der  weiteren  Anwendung  dieser  neuen 
Betriebsmethode  wegen  der  hohen  Herstellungskosten  nur  sehr 
allmählich  vor:  1868  wurde  die  51  km  lange  Kette  zwischen 
Neustadt  und  Ferchland,  1872  zwischen  Ferchland  und  Witten- 
berge  [j"]  km)  und  erst  1874  zwischen  Wittenberge  und  Ham- 
burg (165  km)  und  somit  die  Kette  auf  der  ganzen  Strecke 
Magdeburg-Hamburg  vollendet. 

Mit  der  stärkeren  Betonung  der  Schleppschiffahrt  wuchs  aber 
auch  das  Interesse  der  Gesellschaft  an  dem  Klbfrachtverkehr,  vor 
allem  soweit  er  bergwärts  gerichtet  war.  Man  errichtete  deshalb 
anfangs  der  60er  Jahre  je  ein  Frachtkontor  in  Hamburg  und  in 
Magdeburg,  versuchsweise  auch  ein  solches  in  Dresden ;  sie  waren 
ursprünglich  dazu  gegründet,  um  den  Frachtverkehr  auf  der  Elbe 
zu  beleben,  den  Schiffseignern  lohnende  Beschäftigung  im  Berg- 
verkehr zu  verschaffen  und  dadurch  indirekt  das  Schleppgeschäft 
der  Gesellschaft  zu  heben.  Es  lag  jedoch  nahe,  daß  die  Gesell- 
schaft im  Laufe  der  Zeit  auch  selbst  Frachtkähne  anschaffte, 
durch  ihre  Beladung  die  Aufträge  ihrer  Frachtkontore  selbst  er- 
ledigte und  damit  zugleich  ihren  Schleppdampferpark  beschäftigte. 
Dieser  kombinierte  Schlepp-  und  Frachtschiffahrtsbetrieb  führte 
sich  so  gut  ein,  daß  das  Frachtvermittlungsgeschäft  für  die 
Frachtschiffseigner  schließlich  stark  hinter  der  eignen  Fracht- 
schiffahrt der  Gesellschaft  zurücktrat. 

Durch  die  Anfang  der  70er  Jahre  in  Wirksamkeit  getretene 
Einführung  der  Kettenschleppschiffahrt  wurde  auch  das  Schlepp- 
geschäft der  Gesellschaft  bedeutend  erweitert :  so  wuchs  allein 
im  Jahre  1872  durch  Eröffnung  der  Kettenstrecke  Neustadt- 
Ferchland  die  Schleppleistung  der  Gesellschaft  gegenüber  dem 
Vorjahr    um     1066    Kähne    mit    694000    Ztr.    Ladungsgut    und 


—    95     — 

50416  TIr.  Einnahmen.  Dafür  blieb  aber  die  Leistung  der 
Frachtschiffahrt  in  diesen  Jahren  um  320000  Ztr.  hinter  der  des 
Vorjahres  zurück.  Die  beiden  nächsten  Jahre  gestaUeten  sich 
für  das  Unternehmen  ungünstig ;  waren  sie  an  sich  schon  für  die 
gesamte  Elbschii^ahrt  wegen  Mangel  an  Gütern  wenig  gewinn- 
bringend, so  fiel  für  die  V.H.M.D.  noch  besonders  der  Umstand 
in  die  Wagschale,  daß  ihr  nunmehr  auf  der  Elbe  in  der  später 
zu  besprechenden  neuen  Dresdner  Ketten-Schlcppschiffahrts- 
Gesellschaft  sowohl  auf  der  Strecke  zwischen  Hamburg  und 
Magdeburg,  vor  allem  aber  oberhalb  Magdeburgs  im  Schlepp- 
geschäft ein  sehr  regsamer  Konkurrent  erstanden  war.  Als  das 
Jahr  1874  für  die  Gesellschaft  mit  einem  Jahresverlust  von 
13200  Tlr.  im  Gütergeschäft  und  37625  Tlr.  im  Schleppge- 
schäft abschloß  und  auch  das  nächste  Jahr  sich  ähnlich  ungün- 
stig anließ,  entschloß  man  sich,  im  Frühjahr  1875,  den  bisher 
ziemlich  hohen  Kettenschlepptarif  mit  Genehmigung  der  Regie- 
rung um  33%  herabzusetzen,  um  durch  die  Masse  der  trans- 
portierten Schleppgüter  die  Verluste  wieder  einzubringen.  Mit 
diesem  Vorgehen  hatte  man  insoweit  Erfolg,  als  beim  nächsten 
Jahresabschluß  kein  Defizit,  aber  auch  kein  Ueberschuß  sich  her- 
ausstellte. Die  Ergebnisse  der  Kettenschleppschiffahrt  blieben  auch 
in  diesem  wie  in  den  folgenden  Jahren  hinter  den  auf  sie  ge- 
setzten Hoffnungen  zurück,  da  die  Anschaffungs-  und  Erhaltungs- 
kosten sehr  bedeutend  waren.  So  betrugen  allein  die  jährlichen 
Abschreibungen  für  die  Kette  60  000  Tlr.  und  es  ist  daher  nicht 
vervvunderlich,  wenn  die  Gesellschaftsberichte  die  Geschäftsab- 
schlüsse des  Jahres  1876  als  »befriedigend«,  1877  »kein  unbe- 
dingt befriedigendes  Resultat«,  1878  »Einnahmeerfolg  befrie- 
digend«, 1879  »wenig  befriedigend«  und  1880  »Gewinn  befriedigt 
noch  nicht  ensprechend  den  hohen  Anlagekosten«  bezeichneten. 
Die  Geschäftsentwicklung  bheb  bis  zum  Ende  der  70er  Jahre 
eine  w'enig  günstige.  Dies  war  wohl  hauptsächlich  auf  zwei 
Ursachen  zurückzuführen.  Einmal  hatte  die  Gesellschaft  An- 
fang der  70er  Jahre  bei  Einführung  der  Kettenschleppschiffahrt 
zwischen  Magdeburg  und  Hamburg  ihre  sämtlichen  früheren  Rad- 
schleppdampfer verkauft;  dadurch  aber  wurde  ihr  der  Schlepp- 
verkehr oberhalb  Magdeburgs  unmöglich  gemacht.  Sie  konnte 
ihrer  Schleppkundschaft,  wenn  diese  weiter  elbaufwärts  wollte, 
nur  bis  Magdeburg  mit  ihrer  Schleppkraft  dienen.  Hier  mußte 
sie  die  Schiffer  ihrem  Schicksal  überlassen,  die  infolgedessen  oft 


-    96     - 

mehrere  Tage  lani,'  warten  mußten,  bis  sie  eine  Schleppgelegen- 
heit nach  ihrem  oberhalb  Magdeburgs  gelegenen  Bestimmungs- 
hafen fanden.  Infolgedessen  zogen  es  letztere  vor,  möglichst  schon 
in  Hamburg  sich  eines  Schleppunternehmens  zu  bedienen,  das 
ihnen  ihre  Schleppkraft  auch  weiter  als  bis  Magdeburg  zur  Ver- 
fügung stellen  konnte.  Das  war  ein  Grund,  weshalb  der  V.H.M.IJ.K. 
ein  großer  Teil  ihrer  Schlcppkundschaft  verloren  ging,  zumal  ge- 
rade in  dieser  Zeit  der  Bergverkehr  nach  Böhmen  sich  zu  ent- 
wickeln begann.  Infolgedessen  bestand  ihr  Schleppgeschäft  in  der 
Hauptsache  aus  kurzstreckigen  Transporten,  die  im  Verhältnis 
zu  den  hohen  Betriebskosten  nicht  die  nötigen  Einnahmen  ab- 
warfen.    Es  zeigt  dies  deutlich  folgende  Tabelle. 


Tab.  33. 
Das  Schleppgeschäft  der  V.H.M.D.K.  in  den  Jahren   1875,    1878,   1880. 


I. 

2. 

3-    ' 

4- 

5- 

6.  j 

7-        1 

8. 

9-    1 

10.          1 

I  I. 

Geschleppte  Strecke 

Ent- 
fer- 
nung 

1875 

1878 

1880 

km 

1 

c 

4)  „• 

"«   n 

c  5 

V 

IS.  g- 

u 
CA 

ii  u  ^  c 

c 
"b  9 

a 

c 

m 

«Joe 

►J      U3  — 

e 
u    . 

a  0 

c  2 
c  0 

Direkt 

Hamburg-Magdeburg 

275 

534 

1 541 

216 

I    183 

3025 

42H 

I  274 

4756 

bbi 

Direkt 

Niegripp-Magdeburg 

20 

1543 

1351 

32 

2039 

1797 

48 

2  269 

2  195 

b-i 

Zwischen  Zwischen- 

. 

stationen 

I  060 

884 

i     ^^ 

I  201 

846 

89 

1298 

831 

112 

Neustadt-Buckau 

5 

— 

— 

3866 

2991 

42 

4676 

4676 

52 

So  war  es  kein  Wunder,  daß,  als  im  Jahre  18S1  ein  neuer 
besonders  heftiger  Konkurrenzkampf  auf  der  Elbe  auszubrechen 
drohte,  die  Gesellschaft  es  vorzog,  das  ihr  sehr  günstige  Kauf- 
angebot der  Dresdener  Kettenschleppschiffahrts-Gesellschaft,  mit 
der  sie  schon  im  Vorjahr  im  Vertragsverhältnis  gestanden  hatte, 
anzunehmen  und  ihr  ganzes  bewegliches  Betriebsmaterial,  be- 
stehend aus  14  Kettenschleppschiffen,  2  Eilgutdampfern  und  30 
Frachtschiffen,  für  den  Preis  von  2335000  M.  an  diese  zu  ver- 
äußern. Die  näheren  Umstände  und  Verkaufsbedingungen  wer- 
den später  bei  Darstellung  der  Konkurrenzgesellschaft  Erwähnung 
finden. 


—     97     — 


c)DieNeueNorddeutscheFlußdampfschiffahrts- 

Gesellschaft. 

Tab.   34. 

Geschäftsergebnisse  der  »Neuen  Norddeutschen  F  1  u  ß- 

dampfschiffahrts-Gesellschaft«. 


I. 

2, 

3. 

4- 

5- 

6.   1    7- 

Jahr 

Aktien- 
kapital 

Obligationen 

Gesamt- 
einnahmen 

Divi- 
dende 

Zahl  der 
Dampf-   Schlepp- 

looo M. 

1000  M. 

1000  M. 

% 

schiffe     kähne 

1896 

742 

917 

9 

97 

742 

955 

II 

98 

742 

II 

99 

742 

. 

II 

1900 

742 

14 

Ol 

742 

I  209 

14 

02 

742 

922 

6 

03 

742 

988 

10 

04 

742 

6 

1905 

742 

14 

06 

742 

I  120 

10 

07 

742 

6 

08 

742 

7 

09 

742 

270 

I  171 

7 

1910 

742 

263 

4 

II 

742 

2 

50 

I  013 

0 

? 

63 

Tab.  35- 

Betriebsleistungen  der  »N  euen  Norddeutschen  Fluß- 

dampfschiffahrts-Ges.«    190 1  — 1911. 


I. 

2. 

3-     1        4- 

Frachtgeschäft 

Bugsiergeschäft 

Jahr 

Befördert  mit  eignen 
Kähnen 

Fremde  Kähne  bugsiert 

Ladungsgewicht  in  t 

Zahl     Ladungsgewicht  in 

t 

1901 

276  000 

I  105 

213  000 

1902 

276  000 

6Ö2 

127  000 

1903 

324  000 

416 

64  800 

1904 

271  OOÜ 

415 

68  200 

1905 

391  000 

583 

78300 

1906 

367  000 

789 

120  000 

1907 

395  000 

958 

134  000 

1908 

422  000 

710 

94  400 

1909 

388  000 

655 

86  200 

1910 

423  000 

597 

96  600 

191 1 

328  000 

420 

68  700 

1857  wurde    von    mehreren   Berliner    und    Hamburger  Kauf- 
leuten die  Gesellschaft  »Norddeutsche  Dampfschiffahrt«  gegründet. 

Zeitschrift  für  die  ges.  Staatswissensch.    Ergänzungsheft  50.  7 


-     98     - 

Sie  nahm  auf  der  Strecke  Hamburg-Berlin  mit  2  großen  und  4 
kleinen  Dampfern  die  Frachtschiffahrt  auf,  mußte  aber  infolge 
ungünstiger  Geschäftsergebnisse  bereits  1863  wieder  in  Liquidation 
treten.  Aus  ihr  ging  mit  einem  Aktienkapital  von  742  000  M. 
die  N.N. F.D.G.  hervor,  deren  Aktien  in  wenigen  Händen  ver- 
einigt waren  und  noch  heute  sind.  Die  Gesellschaft  ist  trotz 
einer  fast  50jährigen  Entwicklungszeit  ihrem  Charakter  nach  sich 
gleich  geblieben.  Sie  betreibt  fast  nur  F>achtschiffahrt,  und  zwar 
in  hervorragendem  Maße  zwischen  Hamburg  und  Berlin.  Nur 
selten  fahren  ihre  Fahrzeuge  einmal  auf  der  Elbe  bis  Schönebeck 
oder  Torgau  hinauf.  Deshalb  spielt  sie  auch  unter  den  reinen 
Elbschiffahrtsunternehmungen  nur  eine  geringe  Rolle  und  hat  sie 
sich  gegenüber  den  Einigungsbestrebungen  und  der  Vertrags- 
politik derselben  meist  zurückhaltend  gezeigt.  Sie  ist  sicher 
fundiert  und  erfuhr,  wenn  auch  keine  sehr  schnelle,  so  doch  eine 
ruhige,  beständige  Aufwärtsentwicklung.  Während  der  80er  und 
90er  Jahre  zahlte  sie  durchschnittlich  zwischen  8 — 12  %  Divi- 
dende, 1889  sogar  16%  und  selbst  in  einem  für  die  Gesamt- 
schiffahrt so  ungünstigem  Jahre,  wie  dem  Jahre  1904,  warf  sie 
für  ihre  Aktionäre  eine  Dividende  von  6%  aus.  1882  bestanden 
ihre  Betriebsmittel  aus  7  Raddampfern  von  je  100 — 200  PS,  39 
eisernen  und  14  hölzernen  Schleppkähnen  von  insgesamt  14500  t 
Tragfähigkeit.  Sie  erweiterte  diesen  Besitz  bis  zum  Jahre  1909 
auf  8  Raddampfer  zu  je  180 — 900  PS,  l  Doppelschraubendampfer 
(280  PS),  4  Hafendampfer  und  61  eiserne  Schleppkähne  mit  einer 
Gesamttragfähigkeit  von  33  600  t.  Wie  schon  erwähnt,  bestehen 
die  Einnahmen  der  Gesellschaft  zu  dem  weitaus  größten  Teile  in 
Einnahmen  aus  dem  Frachtgeschäft.  Dieselben  betrugen  im 
Jahre  : 

1888  bei  689000  M.  Gesamteinnahme  645000  M.  aus  dem  Frachtgeschäft 

1890    >  853000    »  »  809000    »       »        »  » 

1896    »  917000     >  »  835000   ■>       »        »  > 

1903    »  98S  000    >  »  944000    »       »        >  > 

1906    »  1 120  000    »  »  992000     »       >       >  > 

Im  Frachtgeschäften  hielten  sich   das  Tal-   und  Berggeschäft 
ziemlich  die  Waee. 


99 


d)Elb-Dampf- Schiffahrts-Gesellschaft 
in  Dresden. 

Tab.  36. 

Betr  iebs  ergebnisse  der   »Elbdam  pf  s  chi  ff  a  h  rt  s- 

G  esellscha  f  t«. 


I. 

2. 

3- 

4. 

5- 

6. 

Gesamt- 

Divi- 

Zahl 

der 

Ges. -Trag- 

Jahr 

einnahmen 

dende 

fähigkeit  der 

Dampf- 

Fracht- 

Frachtkähne 

M. 

% 

schiffe 

kähne 

looo  t 

1870 

373  122 

20 

3 

15 

71 

394  600 

20 

4 

16 

4 

72 

450  112 

20 

5 

19 

6 

73 

525827 

17 

5 

24 

9 

74 

367925 

9 

5 

24 

1875 

447  096 

12 

5 

24 

76 

468  IK^ 

12 

5 

24 

77 

532886 

12 

6 

24 

■78 

617  037 

14 

6 

24 

79 

658  084 

17 

7 

25 

1880 
--,•       TT  ^ 

rv  r^     „,,,..J^    „. 

24 

7 

25 

Die  E.D.G.  wurde  am  23.  Mai  1866  mit  dem  Sitz  in  Dres- 
den gegründet.  Das  von  ihr  erworbene  Privileg  der  Personen- 
schiffahrt hat  sie  niemals  ausgeübt,  sondern  anfangs  nur  der 
Schleppschiffahrt  für  fremde  Kähne  obgelegen,  später  aber  auch 
eigne  Frachtfahrzeuge  erworben  und  mit  ihnen  in  nicht  geringem 
Umfang,  ebenso  wie  mit  ihren  Frachtdampfern  die  Frachtschiff- 
fahrt zwischen  Hamburg  einerseits,  und  Sachsen  und  Böhmen 
andrerseits  betrieben.  Im  Laufe  der  70er  Jahre  erwuchs  ihrer 
Tätigkeit  als  Schleppunternehmung  in  der  Dresdener  Ketten- 
schleppschiffahrts-Gesellschaft  eine  starke  Konkurrentin,  durch 
die  sie  noch  mehr  als  früher  auf  das  Frachtgeschäft  zurückge- 
drängt und  eingeschränkt  wurde.  Trotzdem  blieben  ihre  Be- 
triebsergebnisse stets  sehr  günstige,  wie  die  verteilten  Dividenden 
beweisen,  die  niemals  unter  7V2  %  heruntergingen  und  3  Jahre 
lang  sogar  (1870— 1872)  20%  erreichten.  Als  sich  jedoch  1881 
eine  Einigung  und  Zusammenfassung  der  deutschen  Eibschiffahrt 
gegenüber  der  übermächtigen  neugegründeten  österreichischen 
Konkurrenz  notwendig  machte,  kam  zwischen  ihr  und  der  Ketten- 
schleppschiffahrts-Gesellschaft  ein  Vertrag  zustande,  nach  welchem 
letztere  das  gesamte  Betriebsmaterial  der  E.D.G.  für  1446000 
Mark  ankaufte  und  die  E.D.G.  liquidierte. 


—       lOO      — 


e)  »K  c  1 1  ec^  Deutsche    S  c  h  1  c  j)  p  s  c  h  i  t"  i"  a  li  r  t  s  -  G  e  s  e  1 1- 
schalt  in   D  r  e  s  d  e  n. 

Tab.  37. 
Geschäftsergebnisse  der   >Kelte,    Deutsche  Dam  p  f  seh  i  f  f  ah  rts  -  G  e  s.t 

in    looo   M. 


Jahr 


1870 

71 
72 

73 

74 

1875 

76 

77 
78 
79 

1880 
81 
82 
83 
84 

1885 
86 
87 


1890 

91 
92 

93 

94 

1895 

96 

97 

98 

99 

1900 

Ol 


Aktien- 
kapital 


1000  M. 


3- 
Obli- 
gationen 


1000  M. 


4- 
■Divi- 
dende 


03 


1  116 

2  100 
2250 
2  400 
2  400 
2  400 
2  400 
2  400 
2  700 
2  700 
2  700 

7  200 
7  200 
7  200 

7  200 

7  200 
7  200 

7  200 
7  200 
7  200 
7  200 

7  200 
7  200 
7  200 

6450 
6450 

6450 
6450 
6450 
6450 

6450 
6450 
6450 
6450 


300 

I   000 

I  000 
I  000 
I  460 

I    120 

I  oSo 
I  040 

I  000 

I  300 
I  100 
I  200 
I  200 

I  200 

I  475 
I  444 

I  413 

I  379 
I  347 
I  309 


Zahl   der 


2,5 

2 

5.5 

6,5 

2,5 

6,5 

7 

7.5 

5.5 

6,5 

9 

8,5 

5 

7 

7 

2,6 


i>5 
I 

1,5 
3.5 
4.5 
I 

2 

3 

5,5 

5.5 

4,5 

o 

o 


Dampf-  Schlepp- 
schiffe     kähne 


9 

9 

12 

13 
13 
13 
13 
15 
15 
15 
15 
37 
37 
38 
38 
39 
39 
39 
36 
37 
39 
37 
37 
37 
36 
41 
41 
41 
43 
43 
43 
42 

42 


120 
125 
127 

143 
145 
151 
154 
154 
147 
145 
144 
144 
108 
100 

94 
96 
92 
91 
92 
86 
88 
66 


Einnahmen  aus  dem  Elbe- 
verkehr     1000  M. 


Fracht- 
schiffahrt 


^w^^T.     Gesamt 
Schiffahrt 


II 

365 
418 

451 
648 

1  615 

2  000 
2350 
2  358 
2  182 
2  089 
2  263 

2  373 
2.518 
2  242 
I  907 
1833 
I  647 
I  271 


129 

245 
540 
.  726 
667 
796 
874 
938 
936 
993 
I  346 

1  300 

2  181 
2  664 

2439 
2  042 

I  736 

1  740 

1913 

2  071 
2  127 
2318 
2  152 
2  323 
2  191 
2  270 
1914 

2  139 

2  2S2 

2451 
2  506 
2  256 
148S 


140 

245 
540 
721 
774 
799 
885 

965 
I  301 

1  667 

2  144 
2  466 
3830 

4  770 
4922 
4542 
4097 
4074 
4288 

4445 
4702 

4615 
4177 
4077 
3787 
3552 


10,  II. 

Einnahme  : 

looo  M. 


Saale- 
Schiff-  I  Wei: 
fahrt     I 


22 
26 
44 
29 
40 
42 
43 
41 
39 
42 
60 
103 

99 
107 
130 

105 
119 
118 

95 
88 

95 

78 


99 
226 

333 
493 
658 

659 
I  1 10 
981 
717 
982 
917 
951 
854 
978 
I  070 

859 
I  222 
I  232 
I  556 
1955 
I  669 
2294 
1803 
2023 


Mit  Gründung  der  Dresdener  Kettenschleppschiffahrts-Gesell- 
schaft  im  Jahre  1868  erschien  zum  erstenmale  auf  der  Elbe  die 
Flagge  eines  in  großzügiger  Weise  geplanten  und  erfolgreich 
durchgeführten  modernen  kapitalistischen  Unternehmens,  das  von 


—       lOI       — 

Anfang  an  das  Bestreben  hatte,  sich  zu  erweitern  und  bisher 
isohert  dastehende  schwächere  Kräfte  in  sich  aufzunehmen.  Wenn 
ihr  Name  auch  heute  nach  über  ßojährigem  Bestehen  aus  der 
Liste  der  Elbschiffahrts-Unternehmungen  geschwunden  ist,  so  ist 
er  doch  unlöslich  mit  der  Geschichte  der  Eibschiffahrt  verknüpft. 
Die  Gesellschaft  wurde  1868  von  dem  Ingenieur  Bellingrath  im 
Verein  mit  mehreren  Kleinschiffseignern  und  Kapitalisten  zur 
Ausnutzung  der  eben  erst  in  Deutschland  in  das  Stadium  des 
Versuches  eingetretenen  Kettenschleppschiffahrt  für  die  Elbe  unter 
der  Firma  »Kettenschleppschiffahrt  der  Oberelbe«  gegründet.  So- 
gleich im  Jahre  1869  ging  man  an  den  Ausbau  einer  6,6  Meilen 
langen  Versuchsstrecke  zwischen  Loschwitz  und  Merschwitz  bei 
Dresden,  und  als  man  hier  gute  Resultate  erzielt  und  Erfahrungen 
gesammelt  hatte,  bewarb  man  sich  im  Jahre  1870  zugleich  um 
die  sächsisch-anhaltische  und  preußische  Kettenkonzession  für 
die  Eibstrecke  von  Schandau  bis  Magdeburg,  die  auch  am  11. 
bez.  13.  Dezember  1870  erteilt  wurde.  Im  darauffolgenden  Früh- 
jahr und  Sommer  wurde  so  lebhaft  an  der  Verlegung  der  Kette 
und  der  Betriebsorganisation  gearbeitet,  daß  bereits  nach  einem 
halben  Jahre,  am  i.  Oktober  1871  mit  9  Kettendampfern  der 
Betrieb  auf  der  330  km  langen  Strecke  eröffnet  werden  konnte. 
Dieses  Ergebnis  ist  umsomehr  hervorzuheben,  als  die  V.H.M.D.K. 
für  ihre  275  km  lange  Strecke  Hamburg-Magdeburg,  auf  der  die 
natürlichen  Wasser-  und  Schiffahrtsverhältnisse  weit  günstiger 
lagen,  8  Jahre  zur  Legung  der  Kette  gebraucht  und  im  Jahre 
1871   erst  65  km  in  Betrieb  genommen  hatte. 

So  bewies  die  Kettenschleppschiffahrt  der  Oberelbe  schon 
bei  ihrer  Betriebseröffnung  sich  als  ein  großzügig  angelegtes  und 
mit  modernem  vorwärtsstrebendem  Scharfblick  und  Unternehmungs- 
geist geleitetes  Unternehmen.  Die  Festschrift  des  Sächsischen 
Schiffervereines  aus  dem  Jahre  1896  sagt  (S.  92)  über  die  Wir- 
kungen, die  das  Auftreten  der  Gesellschaft  auf  der  Elbe  hervor- 
riefen, folgendes:  »In  wenigen  Jahren  führte  sie  eine  vollständige 
Aenderung  der  Jahrhunderte  hindurch  stets  gleichgebliebenen  Be- 
triebsweise auf  der  Elbe  herbei.  Der  Segelbetrieb  kam  bald 
gänzlich  in  Wegfall  oder  kam  doch  nur  noch  als  Notbehelf  in 
Betracht.  Die  schwere  Takelage  wurde  überflüssig,  die  Beman- 
nung eines  Kahnes  wurde  um  mehr  als  die  Hälfte  ermäßigt.  Der 
Schiffer  wurde  von  ungünstigen  Witterungsverhältnissen  unab- 
hängig.   Die  Zahl  der  Fahrten  eines  Schiffes  wurden  fast  auf  das 


—       I02       — 

Dreifache  vermehrt.  Diese  Aenderunj^  hätte  auch  der  Schlcpp- 
betrieb  mit  Raddampfern  herbeiführen  können.  Das  Wesen  der 
Kettenschiffahrt  als  eines  im  gewissen  Maße  monopoHsierten 
Unternehmens  machte  jedoch  zur  Bedingung,  daß  dasselbe  durch 
die  hierzu  erteilte  Konzession  angehalten  wurde,  die  Schlepp- 
kraft jedermann  und  jederzeit  in  i^enügendem  Maße  und  zu  fest 
begrenzten  Tarifen  zur  Verfügung  zu  stellen.  Erst  daraufhin 
konnte  der  Schiffer  den  Segelbetrieb  verlassen  und  allgemein 
zum  Schleppbetrieb  übergehen.  Daraufhin  konnten  die  Schiffe, 
welche  bis  zu  jener  Zeit  zumeist  nur  2000  Ztr.  (=  100  t)  trugen, 
vergrößert  werden,  derart,  daß  dieselben  nach  10  Jahren  mit 
etwa  10  000  Ztr.  {=  500  t),  nach  20  Jahren  mit  12 — 16000  Ztr. 
(=  6 — 800  t)  Tragfähigkeit  gebaut  wurden.  Der  Verkehr,  welcher 
sich  von  1830 — 1874  nahezu  gleichmäßig  auf  einer  Höhe  ge- 
halten hatte,  und  zwar  von  Hamburg  bergwärts  auf  jährlich  7 — 8 
Millionen  Ztr.,  nach  Hamburg  talwärts  auf  rund  6  Millionen  Ztr., 
stieg  nach  Vollendung  der  Kettenschiffahrt  sofort  stetig  an  und 
erreichte  nach  10  Jahren  etwa  das  Vierfache,  28  Millionen  Ztr. 
bergwärts  und  24  Millionen  Ztr.  talwärts.« 

Jene  oben  erwähnten  Konzessionsbedingungen  waren  für  die 
Gesellschaft  nicht  besonders  günstig.  Ueber  die  Tarife  sagt 
§   IG — 13  der  Konzessionskunde  folgendes: 

>^  10.  Der  Tarif  für  die  Beförderung  durch  die  Ketten- 
dampfer ist  dem  Finanzministerium  zur  Genehmigung  vorzulegen 
und  kann  ohne  dessen  Zustimmung  nicht  erhöht  werden,  c 

»§  II.  Wenn  der  Unternehmer,-  sei  es  für  die  gesamte  kon- 
zessionierte Strecke  oder  für  einen  Teil  derselben,  die  im  Tarif 
bestimmten  Sätze  herabzusetzen  beschließt,  so  dürfen  dieselben 
erst  nach  Ablauf  eines  Jahres  wieder  erhöht  werden.« 

»§  12.  Die  Beförderungsgebühren  sind  für  alle  Waren,  Ver- 
sender, Schiffseigentümer  und  Schiffsführer  in  gleicher  Höhe  nach 
Verhältnis  der  Entfernung,  auf  welche  die  Beförderung  bean- 
sprucht wird,  zu  erheben.  < 

»Will  der  Unternehmer  zugunsten  einzelner  Waren,  Versen- 
der, Schiffseigentümer  oder  Schiffsführer  eine  Preisermäßigung 
bewilligen,  so  hat  er  dies  dem  Finanzministerium  anzuzeigen,  und 
ist  letzteres  berechtigt,  die  allgemeine  Anwendung  der  solcher 
Gestalt  ermäßigten  Sätze  vorzuschreiben.  Eine  dergestaltig  her- 
abgesetzte Gebühr  kann  ebenfalls  erst  nach  Ablauf  eines  Jahres 
wieder  erhöht  werden.« 


—     I03     — 

>§  13-  Die  Tarife  werden  von  5  zu  5  Jahren  neu  festge- 
gestellt.  Hat  der  jährliche  Reinertrag  des  Unternehmens  10  % 
des  nachweislich  in  dem  Unternehmen  angelegten  Kapitals  über- 
stiegen, so  ist  das  Finanzministerium  berechtigt,  eine  derartige 
Herabsetzung  des  Tarifes  zu  verlangen,  daß  der  Reinertrag  unter 
Zugrundelegung  der  stattgehabten  durchschnittlichen  Einnahmen 
und  Ausgaben    präsumtiv    10%  jenes  Kapitales  nicht  übersteigt.« 

Durch  diese  Bestimmungen  ist  der  Kettenschiffahrt  eine  freie, 
ebenbürtige  Konkurrenz  mit  anderen  Schlepparten  unterbunden 
worden.  Denn  während  diese  ihre  Tarife  frei  nach  Angebot  und 
Nachfrage  regeln,  die  Schlepplöhne  auch  nach  der  Menge  des 
Schleppgutes,  das  ihnen  von  einem  einzelnen  Verfrachter  zuge- 
führt wurde,  in  einzelnen  Fällen  berechnen  oder  auch  Sonderab- 
kommen auf  längere  Zeit  hinaus  mit  einzelnen  ihrer  Kunden  ab- 
schließen konnten,  war  diese  Freiheit  der  Kettenschiffahrt  ge- 
nommen. Von  noch  einschneidenderer  Bedeutung  aber  waren 
die  §§  6  und  9  der  Konzessionsurkunde  : 

Ȥ  6.  Der  Unternehmer  ist  gehalten,  ein  jedes  beladene 
oder  unbeladene  Fahrzeug  nach  Reihenfolge  der  Anmeldung  zu 
befördern,  und  zwar  ohne  Unterschied,  ob  dieselben  die  Schlep- 
pung auf  längere  oder  kürzere  Zeit  beanspruchen. 

§  9.  Dem  Unternehmer  ist  gestattet,  Waren  und  Fahrzeuge 
für  eigene  Rechnung  zu  befördern.  Fremde  Fahrzeuge  haben 
jedoch  unter  allen  Umständen,  auch  wenn  sie  später  angemeldet 
worden  sind,  den  Vorzug  in  der  Beförderung.« 

Dies'^;  Bestimmungen  mußten  ganz  offensichtlich  eine  Benach- 
teiligung, ja  fast  die  Unterbindung  des  eigenen  Frachtschiffahrts- 
geschäftes der  Gesellschaft  zur  Folge  haben.  Auf  diese  Vor- 
schriften ist  es  wohl  zum  guten  Teil  zurückzuführen,  daß  die  Ketten- 
schiffahrtsgesellschaft von  Anfang  an  mit  dem  Bestreben  auftrat, 
mit  anderen  Gesellschaften,  wie  auch  mit  größeren  Verbänden 
von  Privatschiffern  Frachtabkommen  abzuschließen,  und  dadurch 
die  Begründerin  und  im  Laufe  der  Zeit  die  stärkste  Förderin  des 
heute  auf  der  Elbe  so  mächtigen  Kartell-  und  Fusionierungsge- 
dankens  zu  werden,  von  dem  in  dem  nächsten  Kapitel  die  Rede 
sein  wird. 

Bei  Gründung  der  Gesellschaft  im  Jahre  1868  bestand  das 
Gründungskapital  aus  i  116000M. ;  bei  Eröffnung  des  Betriebes 
im  Herbst  1871  w'urde  es  auf  2100  000  M.  erhöht.  Jedoch 
reichte,  wie  vorausgesehen  worden  war,    auch  dieses  Kapital  bei 


—     104     — 

der  dauernden  Vermehrung  der  Betriebsmittel  nicht  aus,  so  daß 
man  schon  1872  eine  weitere  Erhöhung  auf  2250000  M.,  1873 
auf  2  400  000  M.  und  schUeßUch   1878  auf  2  700  000  M.  beschloß. 

Als  der  Betrieb  auf  der  ganzen  Strecke  von  Schandau 
bis  jMagdeburg  am  1.  Oktober  1S71  mit  9  Kettendampfern,  deren 
Zahl  bis  I^nde  der  70  er  Jahre  sich  bis  auf  15  vermehrte,  eröffnet 
wurde,  beabsichtigte  man,  ausschließlich  die  Schleppschiffahrt  zu 
betreiben.  Man  erwarb,  um  die  Elbschififahrt  rentabler  zu  machen, 
1873  die  Kettenschleppkonzession  lür  die  Saale  von  Halle  bis 
zu  ihrer  Mündung  noch  hinzu. 

Die  Erfolge  der  Gesellschaft  in  den  ersten  Betriebsjahren 
waren  sehr  günstig.  Die  Zahl  der  geschleppten  Kähne  und  zurück- 
gelegten Tonnenkilometer  wuchs  andauernd,  und  auch  die  Schlepp- 
lohneinnahmen gestalteten  sich  derart  günstig,  daß  trotz  reich- 
licher Abschreibungen  1872  S'/a  %  und  1873  6V2  %  Dividende 
verteilt  werden  konnte.  Doch  begnügte  man  sich  mit  diesem 
Erfolge  nicht  und  beschloß,  für  Schiffahrtsbeginn  1874  einen  er- 
höhten Schlepptarif  einzuführen,  der  auch  die  Genehmigung  der 
Regierung  fand.  Die  Sätze  wurden  abgestuft  um  9—17%  er- 
höht, und  man  erreichte  damit  fast  dieselben  Tarifsätze,  wie  sie 
die  V.H.M.D.K.  besaß,  an  deren  Kette  man  in  Magdeburg  An- 
schluß hatte.  Aber  die  Folgen  dieser  Maßnahmen  blieben  nicht 
aus:  Die  Schlepplohneinnahmen  sanken  von  726944  M.  im 
Jahre  1873  auf  667278  M.  im  Jahre  1874,  und  damit  die  Divi- 
dende von  672  auf  272%  im  Jahre  1874.  Indessen  war  an  die- 
sem ungünstigen  Geschäftsergebnis'  der  neue  Tarif  nicht  allein 
schuld;  vielmehr  war  dieses  Betriebsjahr  wegen  anhaltend  un- 
günstigen Wasserstandes  für  die  Gesamtschiffahrt  überhaupt  ein 
sehr  unbefriedigendes.  Deshalb  konnte  man  sich  auch  im  näch- 
sten Jahre  1875,  als  die  Magdeburger  Gesellschaft  am  10.  Mai 
ihre  Frachttarife  um  25%  und  am  i.  August  um  3372%  herab- 
setzte, nicht  zu  demselben  Schritt  entschließen,  zumal  man  durch 
§  12  der  Konzession  an  einem  baldigen  Wiederaufbessern  der 
Schleppsätze  gehindert  gewesen  wäre. 

Es  war  auch  zu  bedenken,  daß  durch  die  Schnelligkeit  der 
Kettendampfer  im  Vergleich  zu  den  Raddampfern  eine  bedeutend 
stärkere  Ausnutzung  der  Fahrzeuge  der  Schiffseigner  erreicht 
werden  konnte,  die  sich  jährlich  auf  etwa  ^/4 — V3  belief  und  so- 
mit einen  höheren  Schlepptarif  rechtfertigte.  Denn  während  ein 
Raddampfer    mit    entsprechender    Eigenbelastung    oder   Schlepp- 


—     105     — 

anhang  während  der  70  er  Jahre  zur  Zurücklegung  der  Strecke 
Magdeburg-Dresden  durchschnittlich  120  Stunden  bedurfte,  legten 
die  Kettendampfer  mit  dem  gleichen  Schleppanhang  die  Strecke 
in  72  Stunden  zurück. 

Durch  das  oben  erwähnte  selbständige  Herabsetzen  der 
Schleppsätze  von  selten  der  V.H.M.G.K.  wurde  das  bisherige 
gute  Einvernehmen  der  Gesellschaften,  abgesehen  von  noch  an- 
deren Gründen,  gestört,  und  es  begann  nach  erfolglosen  Kartell- 
verhandlungen im  Jahre  1876  ein  sehr  heißer  Konkurrenzkampf 
zwischen  beiden.  Die  Dresdner  Ketten-Schlepp-Schiffahrts-Gesell- 
schaft eröffnete  aus  diesem  Grunde  in  Hamburg  ein  eigenes  Ver- 
frachtungsbureau. Man  verfolgte  damit  ein  dreifaches  Ziel :  ein- 
mal trat  man  auf  dem  Frachtmarkt  als  selbständiger  Verfrachter 
der  Magdeburger,  wie  auch  allen  übrigen  Konkurrenzfirmen  im 
Wettbewerb  gegenüber  :  zweitens  konnte  man  auf  diese  Weise 
gleich  hier  in  Hamburg  am  Ausgangspunkt  der  Frachtgüter  die 
Schiffseigner,  die  mit  ihren  Kähnen  über  Magdeburg  hinausfahren 
wollten,  als  Schleppkundschaft  sich  sichern,  indem  man  ihnen 
eine  prompte  direkte  Beförderung  bis  zu  ihrem  Bestimmungsorte 
gewährleistete,  während  dies  die  Magdeburger  Firma  nicht  ver- 
mochte. Schließlich  aber  förderte  man  auch  die  Schleppschiff- 
fahrt im  allgemeinen  auf  der  ganzen  Strecke,  indem  man  dem 
Schiffer,  der  ohne  Benutzung  von  Schleppkraft  talwärts  nach 
Hamburg  gekommen  war,  die  Sorge  und  auch  das  Risiko  für 
Erlangung  günstiger  Bergfracht  abnahm.  Man  stellte  ihm  so- 
gleich eine  Bergfracht  zur  Verfügung,  natürlich  unter  der  Be- 
dingung, daß  er  sich  von  den  Dampfern  der  Gesellschaft  berg- 
wärts  schleppen  ließ.  Zu  diesem  Zweck  organisierte  man  die 
Kleinschiffer,  die  diese  neue  Einrichtung  zu  benutzen  gewillt 
waren,  zu  einem  Verbände,  dem  *  Verband  Überelbischer  Schiffer«, 
von  dem  im  nächsten  Abschnitt  berichtet  werden  wird.  Als 
Schleppkraft  aber  zwischen  Hamburg  und  Magdeburg  —  denn 
hier  begann  erst  die  eigene  Kettenschleppschiffahrt  der  Gesell- 
schaft —  erwarb  man  sich  einen  Raddampfer  und  suchte  sich 
noch  zwei  weitere  durch  Vertrag  zu  sichern.  Denn  im  Oktober 
gelang  es  der  Gesellschaft,  mit  der  Dresdner  Frachtschiffahrts- 
Gesellschaft,  einer 'nicht  unbedeutenden  Konkurrentin  im  Fracht- 
verkehr, aber  auch  guten  Kundin  für  den  Schleppbetrieb,  einen 
Vertrag  abzuschließen,  der  eine  gegenseitige  Konkurrenz  aus- 
schloß.     Die    letztere    Gesellschaft     verzichtete    auf    ein    eigenes 


—     io6     — 

Fiachtkontor  in  Hamburg,  trat  vielmehr  mit  23  Schleppkähnen 
dem  Verband  Oberelbischer  Schiffer  bei,  empfing  die  Ladung 
von  dem  l^\-achtkontor  der  Kettengesellschaft,  und  stellte  dieser 
ihre  eigenen,  nunmehr  überflüssig  gewordenen  Radschleppdampfer 
als  Schleppkraft  zwischen  Hamburg  und  Magdeburg  zur  Ver- 
fügung. Dieses  enge  Vertragsverhältnis  führte  im  darauffolgen- 
den Jahre,  am  18.  September  1877,  ^^s  die  Magdeburger  Kon- 
kurrenzfirma die  r'rachtschiffahrts-Gesellschaft  durch  günstigere 
Angebote  von  dem  Vertrag  abspenstig  zu  machen  und  an  sich 
zu  fesseln  suchte,  zu  dem  vollständigen  Ankauf  der  Frachtschiff- 
fahrts-Gesellschaft  durch  die  »Kettengesellschaft';  ;  letztere  über- 
nahm für  den  Kaufpreis  von  365  000  M.  das  ganze  Betriebs- 
matcrial  der  ersteren,  das  in  einem  Raddampfer,  4  eisernen  und 
19  hölzernen  Kähnen,  sowie  dem  Schiffsbauplatz  Ucbigau  bei 
Dresden  bestand.  Durch  diese  kleine  Schiffswerft  erfüllte  sich 
auch  zugleich  der  langjährige  Wunsch  der  Gesellschaft,  eine 
eigene  Reparaturwerkstatt  für  ihre  Schiffe  zu  besitzen.  Diese 
Schiffswerft  entwickelte  übrigens  sich  im  Laufe  der  Jahre  aus 
kleinen  Anfängen  so  günstig,  daß  sie  im  Jahre  1902  als  selb- 
ständige Aktien-Gesellschaft  abgezweigt  wurde. 

So  wurde  die  Keltenschleppschiffahrts-Gesellschaft,  die  ur- 
sprünglich als  eine  reine  Schleppschiffahrts-Gesellschaft  gegründet 
worden  war,  auch  zu  einem  bedeutenden  Faktor  in  der  Frachtschiffahrt, 
die  in  einem  steigenden  Maße  Anteil  an  den  Gesamteinnahmen 
der  Gesellschaft  hatte.  In  diesen  neuen  Geschäftszweig  lebte  sich 
die  Gesellschaft  sehr  schnell  ein ;  sie  w'ußte  ihn  nutzbringend 
noch  weiter  auszubilden.  So  wurde  in  Verabredung  mit  der 
Handelskammer  in  Dresden,  später  auch  in  ähnlicher  Weise  mit 
der  zu  Leipzig  und  Halle,  ein  regelmäßiger  Eilfrachtverkehr 
zwischen  Hamburg  und  Dresden  mit  abgekürzter  Ladezeit  und 
besonderem  Tarif  eingerichtet.  Auch  führte  im  Jahre  1877  die 
Ketten-Gesellschaft  in  Verbindung  mit  dem  Norddeutschen  Lloyd 
einen  direkten  Verkehr  zwischen  Bremen  und  den  oberelbischen 
Stationen  bis  Dresden  ein.  Es  wurde  dafür  ein  einheitlicher 
Tarif  aufgestellt  und  die  sehr  kurze  Lieferzeit  von  17  Tagen  von 
Bremen  bis  Dresden  vereinbart  und  eingehalten.  Jedoch  scheint 
sich  dieser  Verkehr  nicht  sonderlich  entwickelt  und  rentiert  zu 
haben,  zumal  man  von  den  17  Tagen  Fahrzeit  vier  Tage  in 
Hamburg  auf  Zollrevision  und  Zollabfertigung  rechnen  nmßte. 

Unterdessen  ging  auch  der  Konkurrenzkampf  in  der  Schlepp- 


—     lo;     — 

Schiffahrt  weiter.  Er  gestaltete  sich  für  diesen  Geschäftszweig 
noch  viel  ruinöser  als  bei  dem  Frachtgeschäft,  weil  man  hier 
durch  allerlei  lautere  und  unlautere  Mittel  die  privaten  Schiffs- 
eigner für  sich  zu  gewinnen  suchte  und  in  diesem  Vorgehen  die 
Ketten-Gesellschaft  durch  ihre  Konzessionen  eingeschränkt  und 
behindert  war.  Der  Jahresbericht  der  Gesellschaft  von  1878  sagt 
darüber,  daß  zwei  Konkurrenzgesellschaften  außer  einem  loo/oigen 
allgemeinen  Nachlaß  auf  Fahrzeuge  und  Ladung  die  Sätze  für 
das  leere  Fahrzeug  durch  willkürlich  geringe  Veranschlagung  der 
Tragfähigkeit  des  Fahrzeuges  um  weitere  10 — 25  %  verminderten, 
einem  Vorgehen,  dem  die  Ketten-Gesellschaft  wegen  ihrer  Kon- 
zessionsbedingungen sich  nicht  anschließen  könnte.  Auf  Grund 
dieser  Zustände,  die  im  Jahre  1878  zum  erstenmale  einen  Rück- 
gang der  Schleppeinnahmen  der  Gesellschaft  gebracht  hatten, 
suchte  man  im  Jahre  1879  eine  Aenderung  der  Konzessionsbe- 
dingungen zu  erreichen  und  drang  damit  auch  durch.  Die  Re- 
gierung genehmigte  die  wichtige  Neuerung,  daß  die  Gesell- 
schaft nicht  mehr  verpflichtet  war,  solche  Fahrzeuge  zu  schleppen, 
deren  Eigentümer  selber  gewerbsmäßig  Schleppschiffahrt  betrie- 
ben. Ferner  wurde  ihr  erlaubt,  die  Tarifsätze  nach  Bedürfnis  zu 
erhöhen  oder  zu  vermindern,  und  zwar  ohne  daß  sie  deshalb  die 
in  einzelnen  Fällen  zugestandenen  Ausnahme-Tarifsätze  allgemein 
zu  gewähren  gezwungen  werden  konnte. 

Als  der  allzuheftige  Konkurrenzkampf  die  Ergebnisse  der 
Eibunternehmungen  immer  ungünstiger  beeinflußte,  näherten  sich 
die  beteiligten  Gesellschaften  einander  wieder  und  traten  in  Ver- 
handlungen wegen  Abschlusses  von  Verträgen.  Dieses  Vorgehen 
hatte  im  Jahre  1880  den  Erfolg,  daß  man  sich  über  gemeinsame 
Geschäftsmaßnahmen  einigte,  und  zwar  so,  daß  die  Dresdner 
Ketten-Gesellschaft  einerseits  mit  der  Hamburger-Magdeburger- 
Ketten-Gesellschaft  einen  einjährigen  Vertrag  über  gleiche  Höhe 
der  Schlepplöhne  und  über  gegenseitige  Aushilfe  mit  Schlepp- 
kraft auf  der  Strecke  Flamburg-Magdeburg  schloß,  andererseits 
einen  gleichen  Schlepplohnvertrag  mit  der  Elb-Dampf-Schiffahrts- 
Gesellschaft  auf  zwei  Jahre  anschloß,  der  aber  schon  eine  viel 
engere  Verbindung,  ja  fast  eine  Betriebsgemeinschaft  der  beiden 
Gesellschaften  darstellte,  zumal  man  sogar  beiderseits  auf  eigene 
Frachtbureaux  in  Hamburg  verzichtete  und  ein  gemeinsames 
unter  der  Firma  Julius  Schott  errichtete ;  die  Verteilung  der 
Güter,  wie  die  der  Schleppkraft  wurde  nach  einheitlichen  Gesichts- 


—      lOS      — 

punkten  i,fercg^elt.  Ucber  den  ErfolLj  dieses  Zusamment^ehens 
sagt  der  Jahresbericht  von  1.S80:  „Das  endHch  erreichte  Zu- 
sammendrehen der  »Elb-Uampf-SchilTahrts-Gesellschaft«  und  der 
»Kettenschiffahrt  der  Oberelbe-  hat  sich,  wie  die  beiden  letzten 
Jahre  erweisen,  nicht  nur  für  die  Gesellschaften,  sondern  mehr 
noch  für  die  Verkehrsinteressenten  bewährt.  Indem  die  unnützen 
Reibuntren  vermieden  wurden,  konnten  die  zuströmenden  Güter 
zweckmäßiger  verteilt,  rascher  t^eladen  und  die  Transporte  be- 
schleunigt werden,  und  obwohl  die  Schleppkähne  billiger  gehalten 
wurden,  wie  je  zuvor,  haben  sich  doch  die  Schlejiplohneinnahmen 
infolge  der  günstigen  Belastung  und  reichlichen  Bewegung  der 
Dampfer  außerordentlich  vorteilhaft  gestaltet.« 

So  lagen  die  Verhältnisse,  als  das  für  die  ganze  Eibschiff- 
fahrt höchst  bedeutsame  Jahr  1881  herankani,  das  in  der  Organi- 
sation der  Eibschiffahrt  tiefgreifende  V^eränderungen  und  Um- 
wälzungen mit  sich  brachte.  Altes  stürzte  und  verschwand,  und 
Neues  begann  kräftig  sein  Haupt  zu  erheben.  Aehnlich  wie  das 
Jahr  1881  führte  in  der  Folge  auch  das  Jahr  1903  zu  einer  Ge- 
sundung innerhalb  der  Elbschiffahrtsbetriebe.  Ueberlebtes  mußte 
fallen,  um  Zeitgemäßem  das  Feld  zur  freien  Betätigung  zu  räumen. 
Im  Jahre  1881  stand  die  Ketten-Schlepp-Schiffahrts-Gesellschaft 
an  der  Spitze  dieser  Bewegung,  zu  der  den  Anstoß  die  Neu- 
gründung jener  Konkurrenz-Gesellschaft,  der  »Oesterreichischen 
Nord-West-Dampf-Schiffahrts-Gesellschaft«  in  Wien  mit  10  Mil- 
lionen Aktienkapital  gegeben  hatte.  Die  Ursachen,  die  zu  dieser 
Gründung  führten,  werden  später  bei  Besprechung  jener  Gesell- 
schaft Erw'ähnung  finden.  Hier  sei  nur  die  Wirkung  hervor- 
gehoben, daß  nämlich  alle  bisher  bestehenden  Schiffahrts-Groß- 
betriebe auf  der  Elbe  mit  der  einzigen  Ausnahme  der  Neuen 
Norddeutschen  Fluß-Dampf-Schiffahrts-Gesellschaft  in  den  beiden 
großen  Gesellschaften  der  bisherigen  Dresdner  Ketten-Schiffahrts- 
Gesellschaft  und  der  neuen  österreichischen  Gesellschaft  auf- 
gingen. 

Als  sich  die  Nachricht  von  der  bevorstehenden  Gründung 
jener  mächtigen  österreichischen  Konkurrenz  verbreitete,  trat 
die  Kettenschiffahrts  -  Gesellschaft  sogleich  mit  allen  deutschen 
Elbschiffahrts-Großunternehmungen  in  Verbindung  zwecks  Zu- 
sammenschlusses gegenüber  der  drohenden  österreichischen  Ge- 
fahr. Und  ihre  Bestrebungen  hatten  Erfolg:  es  gelang  ihr,  mit 
3  großen  Firmen  Kauf-   und  Fusionsverträge   abzuschließen   und 


—     109     — 

deren  Betriebe  dem  ihrigen  einzuverleiben.  Dies  waren  die 
»Vereinigte  Hamburger-Magdeburger  Dampfschiffahrts-Kompag- 
nie« (Kaufpreis  2325000  M.),  die  »Elb-Dampfschiffahrts-Gesell- 
schaft«  (Kaufpreis  i  446  000  M.)  und  die  Firma  W.  Richter  in 
Wehlen  (Kaufpreis  185000  M.).  Ueber  die  Erwerbung  der 
erstgenannten  Gesellschaft  sagt  der  Jahresbericht  von  1881  :  »Bei 
Abschluß  des  Vertrages  ging  man  von  der  Ansicht  aus,  daß 
unsere  in  Dresden  domizilierte  Gesellschaft  in  Magdeburg  nicht 
fremd  werden  dürfe,  daß  das  Interesse  des  Handels  dieser  Stadt 
in  so  hervorragender  Weise  an  die  Eibschiffahrt  geknüpft  sei 
und  daß  deshalb  den  Magdeburger  Interessenten  ein  gebührender 
Einfluß  auf  die  erwerbende  Gesellschaft  gewährt  werden  müsse. 
Der  Kaufpreis  sollte  daher  in  Aktien  der  Gesellschaft  bezahlt 
werden,  in  Magdeburg  sollte  eine  Zweigniederlassung  eingetragen 
und  eine  selbständige  Direktion  errichtet  werden,  während  zu- 
gleich statutarisch  festzustellen  wäre,  daß  wenigstens  5  Mitglieder 
des  Aufsichtsrates  im  Kreise  Magdeburg  wohnhaft  sein  müssen.« 

Die  Ketten-Schleppschiffahrts-Gesellschaft  selbst  änderte  ihre 
Firma  in  »Kette,  Deutsche  Schleppschiffahrts-Gesellschaft«  um 
und  erhöhte  ihr  Aktienkapital  von  2  700  000  auf  7  200  000  M. 
Ueber  das  Verhältnis  zu  der  neugegründeten  österreichischen 
Gesellschaft  sagt  der  schon  oben  angeführte  Jahresbericht  von 
1881  :  »In  freundlicher  Verständigung  mit  ihr  haben  wir  bereits 
über  mancherlei  Punkte  eine  Vereinbarung  herbeiführen  können. 
Unter  Wahrung  der  Konkurrenz  und  der  Selbständigkeit  werden 
beide  Gesellschaften  doch  vereint  vorgehen,  um  die  Schäden, 
welche  mit  einer  Konkurrenz  ohne  Grenzen  verbunden  sind,  ins- 
besondere mancherlei  unwürdige  Konzessionen  an  die  Verfrachter 
und  Frachtvermittler  zu  beseitigen,  gleichmäßige  Verkehrsnormen 
aufzustellen  und  dadurch  die  Umständlichkeit  des  jetzigen  Ver- 
kehres zu  mildern  und  durch  gegenseitige  Aushilfe  die  Leistungen 
der  Schiffahrt  zu  erhöhen.«  Der  Jahresbericht  schließt  dann  mit 
der  Bemerkung:  »Es  bestehen  gegenwärtig  auf  der  Elbe  außer 
dieser  Gesellschaft  und  der  unserigen  noch  die  Neue  Norddeutsche 
Fluß-Dampfschiffahrts-Gesellschaft  in  Hamburg,  welche  jedoch 
ihren  Hauptbetrieb  nach  Berlin  hin  findet,  und  die  Personen-  und 
Frachtdampfschiffahrt  der  Herren  Gebr.  Burmester  in  Lauenburg. 
Außerdem  sind  noch  zwei  Privatschleppdampfer  tätig,  von  denen 
der  eine  zu  uns  in  ein  festes  Kartellverhältnis  gelangt  ist.« 

Diese  Vorgänge  bedeuten  eine  weitgehende  Vereinheitlichung 


—       1  lO      — 

der  Elbschiffahrtsuntcrnehmungen.  An  Betriebsmitteln  besaß  nun- 
mehr die  ^ Kette «  :  27  Kettenschleppdampfcr,  12  Radschlepp- 
dampfer, 8  Eilgutfrachtdampfer,  103  Frachtschiffe,  39  Leichter- 
boote, 6  Materialschiffe,  i  schwimmenden  Dampfkrahn  und  die 
623,7  ^^^  lange  Schleppkette  auf  der  ganzen  deutschen  Oberelbe 
von  Hamburg  bis  zur  sächsisch-böhmischen  Grenze. 

Die  folgenden  Jahre  sind  mit  teilweis  sehr  heißen,  wirtschaft- 
lichen Kämpfen  der  Gesellschaft  ausgefüllt.  Denn  der  Vertrag 
mit  der  »Nord-West«  wurde  bereits  am  12.  Mai  1882  wieder  ge- 
kündigt und  von  letzterer  Gesellschaft  sofort  der  »Kette«  der 
Fehdehandschuh  durch  Herabsetzung  der  Schlepplöhne  zuge- 
worfen. Sie  verminderte  für  die  Strecke  Schandau-Aussig  die 
Schlepplöhne  um  30%,  für  die  Strecke  Magdeburg-Schandau 
um  40  %  und  für  die  Reststrecke  Hamburg-Magdeburg  sogar  um 
60  %  des  früheren  Normaltarifes.  Notgedrungen  antwortete  die 
■> Kette«  mit  gleichen  Maßnahmen;  doch  waren  dies  Kampftarife, 
bei  denen  beide  Gesellschaften  bedeutende  Mittel  zusetzten.  Da 
jedoch  ein  mit  solchen  Waffen  geführter  Kampf  für  beide  Gegner 
mit  der  Zeit  zur  Vernichtung  führen  mußte,  näherte  man  sich 
schon  gegen  Ende  des  Jahres  1882  wieder  durch  Verhandlungen. 
Dieser  zeitweise  Friedensschluß  war  umsomehr  angezeigt,  als  mit 
dem  Jahre  1883  den  beiden  Großgesellschaften,  die,  solange  sie 
einig  waren,  fast  ein  Schleppmonopol  auf  der  Elbe  besaßen,  aus 
den  Kreisen  der  Kleinschiffer  heraus  ein  nicht  zu  verachtender 
Gegner  in  der  »Dampfschiffahrts-Gesellschaft  Vereinigter  Schiffer« 
erwuchs.  Durch  dieses  Unternehmren  suchten  sich  die  Klein- 
schiffer frei  zu  machen  von  der  Macht  der  Gesellschaften,  was 
ihnen  auch,  wie  später  gezeigt  werden  wird,  in  weitgehendem 
Maße  gelang.  Für  die  alten  Gesellschaften  wurde  dies  vor  allem 
in  der  starken  Austrittsbewegung  aus  dem  der  »Kette«  ange- 
gliederten »Verband  oberelbischer  Schiffer«  fühlbar.  Hierdurch 
und  durch  den  damit  verbundenen  Rückgang  der  Schleppgelegen- 
heit ab  Hamburg  sah  sich  die  »Kette«  in  den  nächsten  Jahren 
genötigt,  Maßregeln  zu  ergreifen,  um  für  Ausnutzung  ihrer  Schlepp- 
kräfte von  den  Kleinschiffern  unabhängig  zu  werden.  Das  führte 
sie  zur  Vermehrung  und  zum  Ausbau  ihres  eigenen  Fracht- 
schiffparkes. Trotzdem  machten  sich  die  neuen  Konkurrenz- 
verhältnisse dauernd  sehr  störend  fühlbar,  sodaß  die  Dividende, 
die  von  1875  bis  1884  nicht  unter  5V2%  gefallen  und  die 
letzten  Jahre  auf  7%  in  die  Höhe  gegangen  war,   im  Jahre   1885 


—     III     — 

auf  2%    sank    und    sich    lo  Jahre    lang  nicht  wieder  über  372% 
erhob. 

188S  verwandelte  die  Gesellschaft  ihr  Frachtkontor  in  Ham- 
burg in  eine  Gesellschaftsfiliale  und  im  darauffolgenden  Jahre 
mietete  sie  ausgedehnte  Lager-  und  Löschschuppen  in  dem  neu- 
eröffneten Freihafengebiet  zur  Beschleunigung,  Verbilligung  und 
Vereinheitlichung  des  Ent-  und  Beiadens  ihrer  eigenen  Schiffe, 
wie  die  ihrer  Schleppkundschaft.  —  Seit  1885  bleibt  das  Fracht- 
geschäft zu  Berg  dauernd  hinter  dem  Talgeschäft  zurück,  während 
es  bis  dahin  letzterem  überlegen  gewesen  war  oder  wenigstens 
mit  ihm  die  Wage  gehalten  hatte.  Die  nächstfolgenden  Jahre 
sind  ohne  besondere  Wichtigkeit  für  die  Entwicklung  der  Gesell- 
schaft. Wie  der  gesamten  Eibschiffahrt,  so  brachten  auch  der 
> Kette«  die  Jahre  1892  und  1893  wegen  der  ungünstigen  Wasser- 
verhältnisse, und  vor  allem  wegen  der  Choleraepidemie  in  Ham- 
burg und  der  Lahmlegung  des  dortigen  wirtschaftlichen  Lebens 
starke  Einnahmeausfälle:  Das  Frachtgeschäft  des  Jahres  1893 
schloß  mit  einem  Verlust  von  14000  M.  ab.  1895  beteiligte 
sich  die  »Kette«  an  der  »Elb-Schleppschiffahrts-Vereinigung«^ 
von  der  an  anderem  Orte  noch  ausführlich  zu  sprechen  sein 
wird;  unter  ihrer  Wirksamkeit  vermochte  die  »Kette«  1895  end- 
lich wieder  4V2  %  Dividende  zu  verteilen.  Es  folgten  aber  gleich 
darauf  in  den  nächsten  Jahren  wieder  scharfe  Konkurrenzkämpfe, 
die  die  Dividende  auf  i  und  2  %  sinken  ließen  und  sich  erst 
besserten,  als  gegen  Ende  des  Jahres  1898  die  Gesellschaften 
sich  auf  dem  Vertragswege  wieder  näherten.  In  demselben  Jahre 
gibt  die  Gesellschaft  auch  die  Kette  nschiffahrt  zwischen 
Hamburg  und  Niegripp  auf,  weil  letztere  sich  neben  der  Rad- 
schleppschiffahrt nach  Regulierung  der  dortigen  Stromverhältnisse 
nicht  mehr  rentabel  erhalten  konnte. 

Nach  zwei  günstigen  Betriebsjahren  folgten  dann  die  Jahre 
1901  — 1903,  die  für  die  Eibschiffahrt  zu  den  wirtschaftlich  schwer- 
sten und  verlustreichsten  gehören,  die  sie  je  durchgemacht  hat. 
Waren  schon  durch  den  allgemeinen  Tiefstand  der  wirtschaft- 
lichen Konjunktur  auch  die  Geschäfte  der  Eibschiffahrt  damals 
stark  in  Mitleidenschaft  gezogen,  so  steigerte  sich  dieser  un- 
günstige Zustand  infolge  der  rücksichts-  und  schrankenlos  ent- 
fesselten Konkurrenz  für  zahlreiche  Schiffahrtsunternehmungen  zu 
einem  Kampf  um  Sein  oder  Nichtsein,  der  sich  zu  einem  Kampf 
aller    gegen  alle    aus  wuchs.      Hiervon    wurde    auch    die    »Kette« 


—       112       


sehr  fühlliar  in  Mitleidenschaft  gezogen,  und  daher  entschloß  sie 
sich  wohl  nicht  ganz  freiwillig,  auf  die  von  den  A^'ereinigten 
Elbeschiffern«    eingeleiteten    Vertragsverhandlungen    im    Oktober 

Tab.   38. 

Schlepp-und  Frachtleistungen  der  >Kette,   Deutsche  Dampf- 
schiff ahrts-Gcscllsc  ha  ft-^    1870 — 1902. 


I. 

2.       j 

3-    1 

4- 

5- 

'■       1 

'•    1 

8. 

Schleppgesch 

ä  f  t 

Frachtgesc 

häf  t 

Jahr 

Eigne 

Geschleppte  '. 

Cähne 

Eigne 

Be- 

Ver- 

Schlepp- 
dampfer 

Zahl 

Ladungs- 
gewicht 

Geschleppte 
tkm 

i'racht- 
kähne 

Zahl 

frachtete 
Kähne 

frachtete 
Güter 

Zahl             1 

1000  t 

.1000  tkm 

Zahl 

1000  t 

1870 

4446 

51 







71 

9 

6984 

91 

— 

— 

— 

72 

9 

9588 

136 

16079 

^ 

— 

— 

73 

12 

10  093 

147 

19637 

— 

— 

— 

74 

13 

9901 

117 

13694 

— 

— 

— 

1875 

13 

9965 

154 

18832 

— 

— 

— 

76 

13 

10  782 

173 

18066 

— 

80 

12 

77 

13 

10427 

160 

19367 

— 

211 

38 

78 

15 

10  167 

126 

30 

386 

90 

79 

15 

9571 

204 

29 

400 

104 

1880 

15 

12  410 

292 

31 

81 

15 

II  527 

353 

69 

898 

221 

82 

37 

19924 

I  005 

170  201 

120 

I  830 

447 

83 

37 

19  968 

I  030 

169  129 

125 

I  880 

522 

84 

38 

20  462 

I  162 

201  103 

127 

2086 

569 

1885 

38 

19451 

886 

143763 

143 

2  199 

511 

86 

39 

19  172 

871 

117  335 

145 

2  HO 

502 

87 

39 

21  243 

910 

128394 

151 

2396 

487 

88 

39 

20439 

I  028 

114  369 

154 

2  201 

586 

89 

36 

20934 

I  168 

125  076 

154 

2545 

630 

1890 

37 

19965 

I  172 

146327 

147 

2495 

696 

91 

39 

22  126 

I  204 

163  032 

145 

2038 

772 

92 

37 

20  050 

I  004 

149882 

144 

2  692 

665 

93 

37 

22  661 

I  107 

121  154 

144 

3028 

676 

94 

37 

20  196 

I  360 

219570 

108 

2  980 

848 

1895 

36 

18850 

I  315 

199638 

100 

2  627 

707 

96 

41 

19816 

I  468 

238  869 

94 

2566 

787 

97 

41 

96 

2548 

742 

98 

41 

92 

3  437 

943 

99 

43 

91 

2765 

829 

1900 

43 

92 

2635 

795 

Ol 

43 

■ 

86 

2  418 

745 

02 

42 

88 

2  029 

770 

1903  einzugehen.  Letztere  führten,  für  die  ganze  Schiffahrt  völlig 
unerwartet,  zu  einer  Vereinigung  und  Fusionierung  der  drei 
wichtigsten  Elbschiffahrtsunternehmungen :  In  der  neuen  Fusions- 
gesellschaft »Vereinigte  Elbschiffahrts-Gesellschaften  Aktienge- 
sellschaft <:    gingen    die   i- Kette«    und    die    österreichische    »Nord- 


—     113     — 

West«  —  jene  beiden  Gesellschaften,  die  sich  jahrelang  so  feind- 
lich gegenüber  gestanden  hatten  —  und  die  »Vereinigten  Eib- 
schiffer« auf,  worüber  noch  bei  Besprechung  der  letzteren  Gesell- 
schaft ausführlich  die  Rede  sein  wird.  Mit  dem  Jahre  1903  ver- 
schwand somit  die  Flagge  der  »Kette«  auf  der  Elbe,  nachdem 
sie  34  Jahre  ehren-  und  erfolgreich  auf  ihr  geweht  hatte. 

Ausführliche  Zahlenangaben  für  die  Entwicklung  der  Verkehrs- 
leistungen der  Gesellschaft  enthält  die  nebenstehende  Tabelle  38. 

Sehr  deutlich  läßt  sich  auch  in  diesen  Zahlen  der  bedeutende 
Umfang  der  Tätigkeit  der  Gesellschaft  auf  der  Elbe  erkennen; 
besonders  der  Schleppbetrieb  zeigt  eine  große  Ausdehnung.  Die 
Zahlen  der  Tabelle  38  lassen  auch  klar  die  ansehnliche  Ver- 
größerung ersehen,  die  die  »Kette«  im  Jahre  1882  erfuhr,  wäh- 
rend auch  der  hartnäckige  Konkurrenzkampf  von  1885 — 1888  mit 
den  zwei  neuen  Konkurrenzunternehmungen  vor  allem  im  Schlepp- 
geschäft deutlich  sich  ausdrückt.  Zu  Spalte  7  und  8  sei  bemerkt, 
daß  die  Frachtleistungen  fast  immer  zu  -/s  im  Bergverkehr 
lagen. 

f)    Oesterreichische     Nord-West-Dampf-Schiff- 
fahrts-Aktien-Gesellschaft. 

Die  »Nord-West«  ist  ein  rein  österreichisches  Unternehmen 
und  verdankt  ihre  im  Jahre  1881  erfolgte  Gründung  dem  ver- 
änderten wirtschaftlichen  Kurs  der  deutschen  Reichspolitik  Ende 
der  70er  Jahre. 

Als  Z.U  dieser  Zeit  die  Verstaatlichung  der  deutschen  Eisen- 
bahnen gewaltige  Fortschritte  gemacht  hatte,  und  man  zugleich 
vom  Freihandel  zu  einer  immer  stärkeren  Schutzzollpolitik  im 
Reiche  überging,  machte  man,  wie  bekannt,  die  staatliche  Be- 
herrschung der  Eisenbahnen  auch  der  Wirtschaftspolitik  nutzbar 
und  führte  am  i.  Januar  1880  einen  neuen  Güterfrachttarif  auf 
den  deutschen  Bahnen  ein,  der  weniger  von  verkehrspolitischen, 
als  von  schutzzollpolitischen  Rücksichten  beherrscht  war.  Wie  diese 
Maßregel  auf  ausländische,  insbesondere  auf  österreichische  Güter- 
verfrachter wirken  mußte,  darüber  berichtet  der  Geschäftsbericht 
der  »Nord- West«  von  1881  in  äußerst  anschaulicher  Weise  fol- 
gendes : 

»So  lebendig  sich  auch  der  Güterverkehr  auf  der  Elbe  bis 
Ende  1879  gestaltet  hatte,  so  umfaßte  derselbe  doch  nur  eine 
ziemlich   eng  begrenzte  Anzahl  von  Artikeln,    z,  B.  Braunkohlen, 

Zeitschrift  für  die  ges.  Staatswissensch.     Ergänzungsheft  50.  8 


114 


Tab.   39. 

Geschäfisergebnisse  der    >Oeslerreichischen  Nord- W  es  t- 

Dampfschiffahrts-Ges.t    1882 — 1903. 


I. 

2. 

3- 

4.         1 

5^-    '   1 

6. 

7-        1 

b. 

Eigne  Schiffs 

flotte 

Einnahmen  in 

I  000000  M.  aus 

Aktien- 

Divi- 

Jahr 

Zahl 

der 

Tragfähigkeit 

kapital 

dende 

der 
Schleppkähne 

Fracht- 
schiffahrt 

Schlepp- 

Dampf- 

Schlepp- 

schiffahrt 

in  1000  M. 

% 

schiffe 

kähne 

in  t 

1882 

6800 

3 

26 

152 

i 
^■.')^       \        0,5 

83 

6800 

0 

28 

155 

2,23 

0,8 

84 

6800 

0 

31 

155 

2,30 

0,7 

1885 

6800 

0 

31 

158 

2,14 

0,7 

86 

6800 

3 

31 

l62 

50  000 

2,04 

0.5 

87 

6800 

2 

31 

166 

52  000 

2,10 

0,6 

88 

6800 

2,5 

31 

166 

52  000 

2,34 

0,6 

•   89 

6800 

3,5 

31 

167 

53000 

2,53 

0,8 

1890 

6800 

2 

31 

167 

53000 

2,56 

1,0 

91 

6800 

2 

32 

164 

51  000 

2,39 

1,0 

92 

6800 

2 

32 

160 

51  000 

2,04 

1,1 

93 

6800 

4 

32 

157 

50  000 

2,00 

2,0 

94 

6800 

4 

32 

155 

49  000 

1,96 

1.9 

1895 

6800 

4 

32 

151 

48000 

2,06 

1,9 

96 

6800 

0 

31 

148 

48  000 

1-74 

1,7 

97 

6800 

0 

31 

140 

45  000 

1,94 

1,9 

98 

6800 

0 

31 

143 

50  000 

2,09 

i>7 

99 

3400 

0 

31 

143 

51  000 

2,19       1        1.9 

1900 

3400 

8 

31 

142 

52  000 

4y^ 

Ol 

3400 

7 

31 

142 

52  000 

4,19 

02 

3400 

5 

37 

134 

70  000  *) 

3,47 

03 

3400 

5 

37 

134 

70  000  1) 

3,83 

Rohzucker,  Roheisen  usw.  Der  größte  Teil  der  Güterfrequenz 
zwischen  Oesterreich-Ungarn  und  Hamburg  wurde  dagegen  von 
den  verschiedenen  Eisenbahnrouten  vermittelt,  weil  die  gemein- 
same Tätigkeit  der  Österreich-ungarischen  und  deutschen  Bahnen 
dem  Handelspublikum  bis  zu  dem  genannten  Zeitpunkte  rationelle 
direkte  Eisenbahntarife  zur  Disposition  gestellt  hatte,  welche  die 
Verfrachtung  dieser  Güterquantitäten  der  Elbe  um  so  weniger 
lukrativ  erscheinen  ließen,  als  die  österreichisch-ungarischen  Bahnen 
bis  Ende  1879  die  Elbe  durch  ihre  Tarifpolitik  so"  gut  wie  gar- 
nicht  unterstützten.  Die  mit  i.  Januar  1880  eingetretene  ge- 
änderte   Tarifpolitik    der    deutschen    Bahnen,     sowie    der    Rück- 

l)  Die  im  Vergleich  zu  den  Vorjahren  ausgewiesene  größere  Tragfähigkeit 
erklärt  sich  vorwiegend  aus  der  auf  Grund  eines  neuen  Eichverfahrens  erfolgten 
Neuvermessung  der  SchifTe. 


—     115     — 

schlag,  welcher  hierdurch  auch  auf  die  Tarife  der  österreichisch- 
ungarischen Bahnen  ausgeübt  wurde,  führte  eine  sehr  erhebHche 
Modifikation  der  bis  dahin  bestandenen  Verkehrsbeziehungen 
herbei  und  der  österreichisch-ungarische  Handel  sowohl,  als  auch 
die  beteiligten  österreichisch-ungarischen  Bahnen  sahen  sich  vor 
die  Notwendigkeit  gestellt,  andere  Kommunikationswege  zu  er- 
öffnen, um  ihren  Verkehr  zu  schützen.  In  dieser  Beziehung  zeigte 
sich  die  kräftige  Ausnützung  des  Eibweges  ab  bzw.  bis  zur 
böhmischen  Grenze  als  ein  sehr  geeignetes  jNIittel.  Eine  der 
österreichischen  Bahnen  benützte  die  sich  ihr  darbietenden  Qün- 
stigen  Uferverhältnisse,  um  in  der  Nähe  genannter  Grenze  (bei 
Laube)  einen  entsprechenden,  sich  bald  sehr  erweiternden  Um- 
schlageplatz einzurichten,  und'  die  Gesamtheit  der  an  dem  er- 
wähnten Verkehr  interessierten  österreichisch-ungarischen  Bahnen 
unterstützte  durch  entsprechende  Tarifbildung  die  Benutzung  des 
kombinierten  Verkehrsweges.  Es  bestand  daher  die  Absicht, 
einen  großen  Teil  des  österreichisch-ungarischen  Verkehres,  der 
bis  1879  stets  nur  die  direkten  Eisenbahnwege  gewählt,  durch 
die  neue  Tarifpolitik  der  deutschen  Bahnen  aber  bedeutende 
Unterbindung  zu  fürchten  hatte,  fortan  mittelst  der  Elbe  zu  be- 
fördern und  diesem  Strome  einen  für  denselben  absolut  neuen 
Verkehr  zuzuführen.  Sollte  sich  diese  kombinierte  Verkehrsroute 
jedoch  als  geeignetes  Ersatzmittel  für  den  direkten  Eisenbahn- 
verkehr erweisen,  so  war  es  notwendig,  daß  die  Benutzung  des 
Stromes  selbst,  was  Regelmäßigkeit,  Zuverlässigkeit  und  Sicher- 
heit des  ^Veges,  sowie  möglichst  prompte  Lieferfrist  anbelangt, 
sich  soweit  als  tunlich  den  beim  direkten  Eisenbahnverkehr  ein- 
gelebten  Usancen  anpaßte,  wie  es  der  österreichische  Handel 
verlangen  mußte,  um  die  kombinierte  Verfrachtungsweise  ent- 
sprechend zu  finden ;  so  gab  die  Notwendigkeit,  gebesserte  Ver- 
kehrseinrichtungen auf  der  Elbe  herbeizuführen,  Anlaß  zur  Ent- 
stehung unserer  Gesellschaft.« 

Auf  Grund  dieser  Erwägungen  trat  die  österreichische  »Nord- 
West-Privat-Eisenbahn-Gesellschaft«  —  denn  in  ihren  Händen 
lag  in  Nordösterreich  und  Böhmen  der  größte  Teil  des  Fracht- 
geschäftes für  diejenigen  Güter,  die  zur  Ausfuhr  nach  Deutsch- 
land oder  über  Hamburg  nach  transatlantischen  Stationen  be- 
stimmt waren  —  zu  Beginn  des  Jahres  1880  mit  der  »Ketten- 
Schlepp-Schiffahrts-Gesellschaft  der  Oberelbe«  in  Verhandlungen, 
zwecks  Einrichtung  eines  einheitlichen,  kombinierten  Frachtverkehrs 


—     ii6     — 

zwischen  Schiffahrt  und  ICiscnbahn  auf  Grund  von  Ausnahme- 
tarifen. Die  Schiftahrts-Gesellschaft  glaubte  aber  in  ihrem  eigenen 
Interesse  wie  in  dem  der  i^csamtcn  deutschen  Privatschiffahrt,  auf 
diese  enge  Betriebsgemeinschaft  nicht  eingehen  zu  können.  Auch 
einige  Kautelen  ihrer  Konzession  legten  einem  solchen  Zusammen- 
gehen mit  einzelnen  Interessenten  Schwierigkeiten  in  den  Weg. 
Die  Verhandlungen  zerschlugen  sich  daher.  Da  entschloß  sich 
die  österreichische  Eisenbahn-Gesellschaft,  selbst  eine  neue  österrei- 
chische Elbschiffahrt-Gesellschaft  ins  Leben  zu  rufen,  die  ihr  für  ab- 
sehbare Zeit  die  Garantie  bot,  ihre  Eisenbahnfrachtgüter  zu  billigen 
Vorzugs-  und  Ausnahmetarifen  auf  der  Elbe  auch  weiterhin  nach 
Deutschland  und  zur  Seeausfuhr  über  Hamburg  nach  der  Nordsee  ge- 
langen zu  lassen.  Zu  diesem  Zwecke  gründete  sich  auf  Anre- 
gung und  unter  Leitung  des  Vizepräsidenten  der  österreichischen 
»Nord- West-Eisenbahn-Gesellschaft«  Ludwig  Freiherr  von  Haber- 
Linsberg  und  des  Verwaltungsrates  dieser  Bahn  Hugo  Fürst  von 
Thurn  und  Taxis  im  April  1881  in  Wien  die  »Oesterreichische  Nord- 
West-Dampf-Schiffahrts-Aktien-Gesellschaft«  mit  einem  Aktienka- 
pital von  12000000  fl.,  von  dem  jedoch  anfangs  nur  2000000  fl. 
und  ein  halbes  Jahr  später  4  000  000  fl.  voll  eingezahlt  wur- 
den. i\Ian  hatte  es  von  Anfang  an  weniger  auf  die  Vermehrung 
der  Konkurrenz  in  der  Eibschiffahrt  durch  Neubauten  von  Be- 
triebsmitteln abgesehen,  als  vielmehr  auf  eine  Reorganisation  des 
Verkehres  durch  Verschmelzung  der  zahlreichen  alten  Ge- 
sellschaften in  eine  neue  große,  monopolartig  den  Verkehr  be- 
herrschende Gesellschaft  unter  Leitling  der  interessierten  öster- 
reichischen Eisenbahnverwaltungen.  Von  diesem  Gedanken  ge- 
tragen, erwarb  die  neue  »Nord -West«  schon  vor  Eröffnung 
ihres  eigenen  selbständigen  Betriebes  im  Jahre  1881  die  älteste 
Elb-Dampf-Schiffahrts-Gesellschaft,  die  >  Prager  Dampf-  und  Segel- 
Schiffahrts-Gesellschaft«:  mit  ihren  gesamten  Betriebsmitteln  für 
I  450000  fl.,  ferner  die  erst  zu  Anfang  des  Jahres  1881  in  Dresden 
neu  gegründete  >Neue  Elb-Dampf-Schiffahrts-Gesellschaft«  für 
I  720000  M.  und  die  Privatfirma  von  R.  Nietschner  &  Sohn  in 
Dresden  für  335  000  M.  Auf  diese  Weise  wurde  es  der  Gesell- 
schaft ermöglicht,  bei  Eröffnung  ihres  Betriebes  am  i.  Januar  1882, 
mit  26  Dampfschiffen  und  152  Frachtkähnen  von  einer  Gesamttrag- 
fähigkeit von  45  490  t  auf  der  Elbe  zu  erscheinen,  einer  achtungge- 
bietenden Macht,  die  allgemein  Schrecken  einflößte.  Dem  bei 
ihrer  Gründung  verfolgten  Zweck  entsprechend  blieb  anfangs  die 


—     ii;     — 

Gesellschaft  in  der  Hauptsache  ein  Fracht  Schiffahrtsunternehmen, 
das  aber  doch  schon  ca.  ein  Viertel  seiner  Gesamteinnahmen  aus 
dem  Schleppgeschäft  bezog,  zumal  man  von  der  alten  Prager 
Gesellschaft  deren  Kettenkonzessionen  und  Kettendampfer  miter- 
worben hatte. 

§  5  der  Gesellschaftsstatuten  bestimmt  als  Geschäfte  der 
Gesellschaft : 

»§  5  Geschäfte  der  Gesellschaft:  i.  regelmäßiger  Retrieb  von 
Dampfschiff-,  Ketten-,  Drahtseil-  und  Segelschiffahrt  auf  der  Elbe, 
deren  Nebenflüssen  für  Personen-  und  Güterverkehr,  2.  desgleichen 
Dampf-  und  Segelschiffahrt  auf  der  Nordsee  und  anderen  Meeren 
für  Personen  und  Güter,  wenn  vorteilhaft,  3.  schleppen  anderer 
Schilfe,  4.  Gewährung  von  Vorschüssen  auf  die  zur  Beförderung 
übernommenen  Güter,  5.  Bau  und  Reparatur  von  Schiffen  und 
Maschinen  für  eigene  und  fremde  Rechnung,  6.  Errichtung  und 
Betrieb  öff"entlicher  Lagerhäuser.« 

Die  Maßnahmen,  die  von  selten  der  bisher  bestehenden  äl- 
teren Gesellschaften  gegen  die  neue  gefährliche  Konkurrentin  er- 
griffen wurden,  sind  bereits  bei  Besprechung  der  »Kette«  erwähnt 
worden.  Die  anfangs  nicht  mit  vorhergesehene  Schlepp-Schiffahrt 
nahm  die  Gesellschaft  sehr  bald  auch  auf  der  deutschen  Elbe 
auf,  da  ihre  Dampfkraft  durch  ihr  eigenes  Frachtgeschäft  nicht 
genügend  ausgenützt  wurde. 

Man  richtete  schon  1883  regelmäßige  Eilgutdampferfahrten 
von  Böhmen,  Dresden  und  Magdeburg  nach  Hamburg  und  zurück 
ein,  und  vermehrte  1884  das  Betriebsmaterial  um  2  große  Rad- 
schleppdampfer, einen  großen  Kettendampfer  und  6  Schleppkähne, 
auch  wurde  in  Hamburg  der  Bau  eines  eigenen  Gütermagazins 
in  Angriff  genommen.  In  demselben  Jahre  kaufte  die  »Nord- 
West«  die  Schiff"swerft  und  Maschinenfabrik  der  »Sächsischen 
Dampfschiff-  und  Maschinenbauanstalt«  in  Dresden  für  i  100  000 
Mark  an,  in  der  sie  den  Bau  und  die  Reparatur  nicht  nur  ihrer 
eigenen  Schiffe,  sondern  auch  solcher  für  fremde  Rechnung 
vornahm. 

Daß  das  Unternehmen  bei  einer  so  stark  betätigten  Expan- 
sionstendenz in  den  ersten  beiden  Betriebsjahren  keine  Dividende 
zahlte,  ist  nicht  auffällig,  zumal  auch  trotz  der  Neuheit  des  Be- 
triebmateriales  bedeutende  Abschreibungen  vorgenommen  wurden. 
Doch  auch  die  nachfolgenden  Jahre  hielten  nicht  das,  was  man 
von  ihnen  erwartet  hatte.     Bei  Gründung  der  Gesellschaft   hatte 


—      1  I  s     — 

man  damit  gerechnet,  daß  die  Fracht-  und  Schlepplöhnc  auf  der 
Elbe  die  gleichen  bleiben  würden  wie  bisher,  daß  aber  die 
Güterzufuhr  zur  Eibschiffahrt  durch  die  Verbindung  mit  den 
österreichischen  Eisenbahnen  gewaltig  gesteigert  werden  würde. 
Letztere  Erwartungen  erfüllten  sich  nun  zwar  in  gewissem  Um- 
fange, die  erstere  dagegen  nicht,  es  trat  sogar  das  Gegen- 
teil ein :  Fracht-  und  Schleppreise  sanken  während  der  8oer 
Jahre  und  auch  später  noch  fortgesetzt  und  unaufhaltsam.  So 
stellte  es  sich  wegen  der  Konkurrenz  der  Privatschiffseigner  auch 
bald  als  unmöglich  heraus,  feste,  einheitliche  Vorzugstarife  mit 
den  österreichischen  Eisenbahnen  zu  vereinbaren  und  einzuhalten, 
wie  ursprünglich  beabsichtigt  gewesen  war.  Aus  diesem  Grunde 
hat  die  Gesellschaft  niemals  die  großen  Erwartungen  erfüllt,  die 
man  in  finanzieller  Hinsicht  bei  ihrer  Gründung  gehegt  hatte. 
Die  Dividende  erhob  sich  während  der  8oer  Jahre  niemals  über 
3^'2  %  und  während  der  90er  Jahre  niemals  über  4  "/o,  ja  von 
1895  bis  1899  konnte  sie  sogar  wegen  fortgesetzter  Fehlbeträge 
bei  den  Jahresabschlüssen  überhaupt  keine  Dividende  verteilen. 
Erst  mit  dem  Jahre  1.9CXD  trat  eine  gewisse  Gesundung  der  Ge- 
sellschaft ein.  Es  scheint  sich  überhaupt  aus  der  Geschichte  der 
Elbschiffahrtsgroßbetriebe  zu  ergeben,  daß  hier  Betriebe,  sobald 
sie  eine  gewisse  mittlere  Größe  überschritten  haben,  in  ihrer 
Rentabilität  zurückgehen. 

Die  Tätigkeit  und  die  Leistungen  der  Gesellschaft  wuchsen 
zwar  fortgesetzt,  doch  da  die  Preise  für  ihre  Leistungen  sanken, 
so  hielt  das  Einnahmewachstum  nicht  gleichen  Schritt.  Im  Jahre 
1888  z.  B.  betrug  die  Steigerung  des  im  Frachtgeschäft  bewäl- 
tigten Güterquantums  17  "/o,  diejenige  der  daraus  erzielten  Fracht- 
einnahme jedoch  nur  11  7o-  Im  Jahre  1890  mußte  man  sogar 
wegen  gedrückter  Frachtsätze  während  eines  großen  Teils  des 
Jahres  bei  reichlicher  Beschäftigung  des  Frachtschiffraumes  unter 
den  Selbstkosten  arbeiten. 

Die  Gesellschaft  beteiligte  sich  während  der  80er  und  90er 
Jahre  an  allen  Kartellen  und  Verträgen,  die  eine  Besserung  der 
Fracht-  und  Schleppsätze,  jedoch  meist  vergeblich,-  erstrebten. 

Der  Ausbau  des  Gesellschaftsbetriebes  geschah  unter  diesen 
Verhältnissen  nur  sehr  allmählich.  1889  wurde  in  Hamburg  ein 
zweiter  Güterspeicher  für  den  Eilgüterverkehr  erbaut  und  während 
der  90er  Jahre  ersetzte  man  allmählich  den  veralteten  Fracht- 
schiffspark durch  Neubauten. 


—     119     — 

Dann  aber  kamen  die  für  die  Gesellschaft  äußerst  ungün- 
stigen Jahre  1896 — 1899.  War  diese  Zeit  für  die  gesamte  Eib- 
schiffahrt keine  besonders  günstige,  so  war  sie  für  die  > Nord- 
West«  durch  zwei  Momente  noch  besonders  verhängnisvoll.  Denn 
erstens  arbeitete  seit  dem  Jahre  1895  wegen  der  allgemein  flauen 
Konjunktur  in  der  deutschen  Maschinenindustrie  die  Dresdener 
Schiffs-  und  Maschinenbau-Anstalt  der  Gesellschaft  mit  nicht  un- 
beträchtlichen Verlusten,  während  sie  bisher  in  bedeutendem 
Maße  zu  dem  Jahresgewinn  der  Gesellschaft  beigetragen  hatte. 
Die  zweite  wichtigere  Ursache  aber  war  ein  für  die  Gesellschaft 
sehr  verlustreicher  Prozeß  mit  der  Kommerz-  und  Diskonto-Bank 
in  Hamburg.  Im  Oktober  1898  wurden  nämlich  von  letzterer 
Bank  Unregelmäßigkeiten  aufgedeckt,  die  sich  der  erste  Direktor 
der  > Nord- West«  bei  der  Beleihung  von  Zuckerfrachten  hatte  zu 
schulden  kommen  lassen;  die  Hamburger  Bank,  die  dadurch  be- 
deutend geschädigt  worden  war,  klagte  infolgedessen  gegen  die 
Gesellschaft  auf  Schadenersatz  in  Höhe  von  3  500000  M.  Dieser 
Prozeß  untergrub  den  Kredit  der  Gesellschaft  so  stark,  daß  ihre 
bisherigen  Frachtkunden  sich  vielfach  weigerten,  mit  ihr  längere 
und  bedeutendere  Frachtabschlüsse  zu  treffen,  oder  ihr  größere 
Bestellungen  für  ihre  Maschinenfabrik  zugehen  zu  lassen.  Der 
Geschäftsbetrieb  der  Gesellschaft  wurde  dadurch  brach  gelegt 
und  diese  selbst  sah  sich  vor  einer  sehr  gefährlichen  Krisis.  Unter 
diesen  Umständen  schloß  die  »Nord-West«  Mitte  des  Jahres  1899, 
ohne  das  zweitinstanzliche  Urteil  abzuwarten,  einen  Vergleich  mit 
der  Kommerz-  und  Diskonto-Bank.  Sie  verpflichtete  sich  durch  den- 
selben zur  Zahlung  von  55  %  der  Klagsumme,  ohne  Aussicht  zu 
haben,  bei  der  Zahlungsunfähigkeit  ihres  bisherigen  Vorstandes  an 
diesem  sich  schadlos  halten  zu  können.  Im  November  1899 
wurde  sodann  eine  außerordentliche  Generalversammlung  einbe- 
rufen, welche  eine  Reorganisierung  des  Unternehmens  beschloß. 
Das  Betriebskapital  wurde  durch  Zusammenlegung  der  Aktien 
von  4  000  000  fl  auf  2  000  000  fl  herabgesetzt  und  die  Dresdener 
Maschinenfabrik  mit  Verlust  verkauft.  Auf  dieser  Grundlage  er- 
holte sich  die  »Nord-West«  trotz  augenblicklicher  schlechter 
wirtschaftlicher  Verhältnisse  schnell.  Nachdem  zwar  4  Jahre 
lang  keine  Dividende  gezahlt  worden  war,  konnte  schon  im  Jahre 
1900  eine  solche  von  8  %  zur  Verteilung  gelangen.  Diese  Renta- 
bilität erhielt  sich  auch  in  den  folgenden  für  die  Schiffahrt  wohl 
schwersten  und  verlustreichsten  Jahren  1901  — 1903,  in  denen  die 


—       120      — 

meisten  Schiffahrtsunternehmungen  keine  Dividenden  zahlen  konn- 
ten, während  die  »Nord-Weste   7%,  5%,  und  5%  verteilte. 

Als  dann  im  Jahre  1903  infolge  der  schlechten  wirtschaft- 
lichen Verhältnisse  die  Fusionierung  der  großen  Klbschiffahrts- 
unternehmungen  zustande  kam,  beteiligte  sich  die  Gesellschaft 
dadurch  an  dieser,  daß  sie  der  Fusionsgesellschaft,  der  »Ver- 
einigten Elbschiffahrts-Gesellschaften«  ihr  gesamtes  Betriebsmate- 
rial bis  zum  Jahre  1930  pachtweise  gegen  eine  jährliche  Rente 
überließ,  die  einer  4prozentigen  Verzinsung  ihres  Aktienkapitals 
und  einer  3 — 7prozentigen  Abschreibung  des  verpachteten  Be- 
triebsmateriales  gleichkam.  Die  Gesellschaft  hat  somit  die  eigene 
Geschäftstätigkeit  aufgegeben.  Ihre  Haupttätigkeit  beschränkte  sich 
auf  die  Verteilung  der  Pachtrente  an  ihre  Aktionäre,  die  aber, 
wie  später  gezeigt  werden  wird,  auch  nur  eine  scheinbare  ist. 

1907  nahm  die  Gesellschaft  eine  Anleihe  von  2000000  Kr. 
zu  4  prozentiger  Verzinsung  auf  zwecks  Vermehrung  ihres  schwim- 
menden Betriebsmateriales  und  der  Errichtung  eines  neuen  Güter- 
speichers in  Aussig.  Auch  diese  neuen  Betriebsmittel  wurden 
den  Vereinigten  Elbschiffahrts-Gesellschaften  pachtweise  über- 
lassen. 

Tab.  40  gibt  auf  Grund  der  in  der  österreichischen  Verkehrs- 
statistik veröffentlichten  Zahlenangaben  ein  Bild  von  der  Entwick- 
lung des  Fracht  geschäftes  der  Gesellschaft ;  ähnliche  Auf- 
zeichnungen über  das  Schlepp  geschäft  bestehen  nicht.  Tab.  40 
Spalte  I  läßt  die  von  der  Gesellschaft  transportierte  Gütermenge  er- 
kennen, wie  sie,  wenn  auch  nicht  ohne-Schwankungen,  im  allgemei- 
nen ein  stetiges  absolutes  Wachstum  erfahren  hat.  Relativ  jedoch  im 
Verhältnis  zum  Gesamtelbeverkehr  (nach  Tab.  2)  hat  die  Gesellschaft 
sich  nicht  dauernd  auf  gleicher  Höhe  halten  können:  Wie  Spalte  II 
veranschaulicht,  hat  die  Gesellschaft  zu  Beginn  der  90er  Jahre 
ihren  Höhepunkt  mit  14%  Anteil  im  gesamten  Eibverkehr  er- 
reicht. Die  Verteilung  des  Frachtgeschäftes  auf  Tal-  und  Berg- 
verkehr hat  im  Laufe  der  Jahre  bei  der  Gesellschaft  eine  Ver- 
änderung erfahren,  indem  das  Talgeschäft  von  seiner  absoluten 
Ueberlegenheit  von  60  %  des  gesamten  Frachtverkehres  allmäh- 
lich relativ  zurückging  bis  zu  40%  1896,  dann  aber  relativ  wie- 
der etwas  an  Bedeutung  wuchs.  Es  ist  etwa  die  gleiche  Ent- 
wicklung, wie  sie  nach  Tab.  5  in  der  gesamten  Eibschiffahrt  zu 
beobachten  gewesen  ist.  An  dem  deutschen  Eibexportverkehr 
nach  Böhmen    ist    die  Gesellschaft    stark  beteiligt  gewesen,    und 


121 


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zwar  in  immer  wachsendem  Maße  (von  33%  im  Jahr  189.S  bis 
50%  im  Jalire  1902).  In  geringerem,  wenn  auch  noch  immerhin 
in  bedeutsamem  Maße,  hatte  die  Gesellschaft  Anteil  am  Ham- 
burger Verkehr  und  zwar  im  allgemeinen  im  Bergverkehr  stärker 
als  im  Talverkehr.  Es  läßt  sich  auch  hier  aus  den  Prozentzahlen, 
die  für  den  Talverkehr  gegeben  worden  sind,  deutlich  das  wie- 
derholt Erwähnte  erkennen,  was  öfters  hervorgehoben  wurde, 
daß  nämlich  der  Talverkehr  stets  das  stärkere  Betätigungsfeld 
für  den  Privatschiffseigner,  das  Bergfrachtgeschäft  aber  dasjenige 
der  Gesellschaften  gewesen  ist.  Ferner  geben  sämtliche  Prozent- 
zahlen, die  in  Tab.  40  für  das  Jahr  1898  berechnet  sind,  ein 
deutliches  Bild  für  die  oben  erwähnte  schwierige  Lage,  in  der 
sich  die  Gesellschaft  in  diesem  Jahre  befand.  Spalte  XII  veran- 
schaulicht, wie  viel  Prozent  des  in  Spalte  I  nachgewiesenen  ge- 
samten Frachtgüterquantums  die  Gesellschaft  auf  eigenen  Käh- 
nen befördert  hat.  Diese  Zahlen  zeigen,  daß  die  Gesellschaft 
in  immer  wachsender  Weise  die  Privatschiffer  zur  Bewältigung 
ihrer  eigenen  Frachtverpflichtungen  herangezogen,  und  dadurch 
ihnen  Verdienstmöglichkeit,  freilich  nur  in  Anteilfrachten,  ge- 
geben hat.  Die  letzte  Spalte  XIII  bringt  schließlich  diejenigen 
Gütermengen  zur  Darstellung,  denen  die  Gesellschaft,  abgesehen 
von  den  durch  ihre  eigenen  Frachtkontore  zur  Versendung  über- 
nommenen, in  der  Bergfahrt  Schleppdienste  geleistet  hat.  Man 
sieht  daraus,  wie  dieser  Geschäftszweig  aus  kleinen  Anfängen 
stetig  an  Bedeutung  für  die  Gesellschaft  zugenommen  hat,  wenn 
er  auch  niemals  das  eigentliche  Frachtschiffahrtsgeschäft  über- 
troffen hat,  was  auch  aus  Tab.  54  über  die  Schlepp-  und  PVacht- 
einnahmen  zu  ersehen  ist. 

g)  Die  Vereinigten  Elbschiffahrts-Gesell Schäften. 

Die  »Dampfschiffahrts-Gesellschaft  Vereinigter  Elbeschiffer <■, 
wie  die  erste  Firma  der  späteren  »Vereinigten  Elbeschiffahrts- 
Gesellschaften,  Aktiengesellschaft«;  (kurz  die  »Vereinigten«  ge- 
nannt) lautete,  stellte  bei  ihrer  Gründung  im  Jahre  1883  eine  Ge- 
sellschaft dar,  die  nur  aus  Kleinschiffern  gebildet  wurde.  Ange- 
geregt durch  den  Druck,  den  die  monopolartige  Stellung  der 
beiden  Großschiffahrtsunternehmungen  »Kette«  und  »Nord-West« 
in  der  Schleppschiffahrt  auf  die  Privatschiffseigner  ausübte,  traten 
1883  kapitalkräftige  Dresdener,  Riesaer,  Magdeburger  und  Schöne- 


—      123 


Tab.  41. 
Geschäftser£;ebnisse  der  »Vereinigten  Elbschif fahrts-Gesellschaften«. 


I. 

2. 

3. 

4. 

5- 

6. 

7- 

8. 

9- 

Aktien- 

Obli- 

Divi- 

Schlepp- 
lohn- 

Gesamt- 

Zahl der 

Zahl  der 

Perso- 

Jahr 

kapital 

gationen 

dende 

einnahmen 

einnahmen 

Dampf- 

Schlepp- 

nal 

schiffe 

kähne 

1000  M. 

1000  M. 

0/ 
/o 

1000  M. 

1000  M. 

1884 

600 

20 

599 

6 

1885 

600 

— 

12 

649 

9 

— 

86 

800 

— 

10 

748 

10 

— 

87 

800 

— 

10 

709 

10 

— 

88 

800 

— 

10 

805 

10 

— 

89 

800 

— 

12 

983 

II 

— 

1890 

800 

— 

12 

I  072 

12 

— 

91 

800 

— 

5 

1959 

12 

— 

92 

800 

— 

10 

I  000 

12 

— 

93 

800 

— 

10 

I  126 

12 

— 

94 

I  000 

— 

12 

I  599 

18 

1895 

I  000 

— 

12 

I  580 

20 

96 

I  000 

— 

7>5 

I  693 

I  754 

20 

97 

2  000 

— 

10 

I  567 

1693 

22 

26 

98 

2750 

I  000 

10 

I  882 

28 

63 

99 

2750 

I  000 

10 

2  268 

28 

69 

1900 

2750 

I  000 

10 

2689 

28 

73 

Ol 

3  000 

I  000 

10 

2527 

28 

82 

02 

3500 

I  500 

5 

I  890 

28 

112 

03 

3500 

I  481 

4 

2  133 

28 

112 

04 

II  100 

2861 

0 

. 

6756 

106 

300 

1905 

II  100 

2776 

9 

10316 

106 

300 

06 

II  100 

4487 

10 

10303 

106 

351 

2739 

07 

II  100 

4  395 

8 

12  922 

126 

I  117 

3504 

08 

II  100 

4300 

0 

10857 

123 

I  105 

3628 

09 

II  100 

4  202 

I 

II  708 

120 

I  070 

3462 

1910 

II  100 

4099 

0 

9654 

119 

I  009 

3278 

II 

II  100 

3  934 

0 

9  181 

121 

I  002 

3331 

12 

II  100 

3763 

0 

II 

II 

121 

I  004 

3028 

becker  Kleinschiffer  zusammen,  um  gemeinsam  eine  Schlepp- 
schiffahrts-Aktiengesellschaft zu  begründen  zum  Schutze  der  Klein- 
schiffseigner vor  Ausnutzung  und  Ausbeutung  durch  die  beiden 
Großschleppschiffahrts  -  Unternehmungen.  Diesem  Ziele  ist  die 
Gesellschaft,  die  sich  in  der  kurzen  Zeit  von  kaum  20  Jahren  zu 
dem  größten  Schiffahrtsunternehmen  auf  der  Elbe,  ja  auf  den 
deutschen  Binnenwasserstraßen  überhaupt  entwickelt  hat,  stets 
treu  geblieben,  und  darin  liegt  wohl  das  Geheimnis  ihrer  großen 
Erfolge.  Nicht  daß  sie  sich  etwa  einseitig  von  den  übrigen 
Schiffahrtsgesellschaften  abgeschlossen  hätte  und  ihre  eigenen 
Wege  gegangen  wäre,  im  Gegenteil,  sie  hat  sich  nicht  nur  an 
den  meisten  im  Laufe  der  Zeit  zur  Hebung  der  Fracht-  und 
Schlepplöhne  eingegangenen  Vereinigungen  und  Kartellen  bereit- 


—       124      — 

willig  beteiligt,  sondern  hat  sie  vielfach  selbst  angeregt.  Aber 
niemals  hat  sie  dabei  das  Interesse  der  Kleinschiffer  und  damit 
der  Gesamtschiftahrt  aus  den  Augen  verloren. 

Bei  ihrer  Gründung  im  Jahre   1883  betrug  das  Aktienkapital 
300000  M.     Es    mußte    aber    bereits    1884    auf   600000  M.  ver- 
doppelt  und    1886   wiederum,    und    zwar    auf   800000  M.  erhöht 
werden.    Dementsprechend  bestand  das  Betriebsmaterial   1884  aus 
6,   1885  aus  9  und   1890  aus   12  Kadschleppdampfern.    Ursprüng- 
lich   war    das  Unternehmen    als    reines  Schleppunternchmen    ge- 
dacht;   es  sollte  die  Privatschiffahrt  auf  diesem  Gebiete  von  der 
Bevormundung    der    beiden    bestehenden  Großgesellschaften    be- 
freien.   Und  dieses  Ziel  wurde  ohne  viel  Mühe  erreicht.    Die  Ge- 
sellschaft besaß  vermöge   der  Kreise,  aus  denen  sich  ihre  Gründer 
und  Aktionäre  zusammensetzten,    und    vermöge    der  Grundsätze, 
die  sie  mit  ihrem  Betriebe  verfolgte,  eine  natürliche  Anziehungs- 
kraft   für    die  Kleinschiffahrtstreibenden,    die    von   jeher    zu  Miß- 
trauen   gegen    die   Großunternehmungen    geneigt    gewesen    sind. 
Während    die  anderen  Gesellschaften   auf   die  Heranziehung  und 
Erhaltung    ihrer  Schleppkundschaft  viel  Mühe   und  Geld  verwen- 
deten und    sich    in    günstigen  Bedingungen  jenen    gegenüber  zu 
unterbieten  suchten,    dadurch    aber   fortgesetzt  ihre  eigenen  Ein- 
nahmen verminderten,  besaßen  die   »Vereinigten«   von  Anfang  an 
einen  so  starken  freiwilligen  Zulauf,  daß  sie  zeitweise  den  an  sie 
gestellten  Anforderungen  und  Ansprüchen  kaum  gerecht  w^erden 
konnten.    So  schlössen  sie  wiederholt  mit  anderen  Gesellschaften 
Verträge  ab  zwecks  Erlangung  von -Aushilfe  durch  Ueberlassung 
ihrer    Schleppkräfte.     Die    beiden    anderen    Gesellschaften  klag- 
ten    zu     solchen     Zeiten    stark    über    Abnahme    ihrer  Schlepp- 
kundschaft    und   sannen    auf    Abwehrmaßregeln.       Solche      gab 
ihnen  die  fast  völlige  Beherrschung  des  Frachtgeschäftes  zu  Berg 
nach    Stationen     oberhalb     der     Havelmündung     in    die     Hand, 
indem  sie  ihre  Frachten    nur  an  Schiffer  abgaben,    die   sich    ver- 
pflichteten,   sich    von    ihren  Dampfern    schleppen   zu  lassen.     So 
mußten  sich    anfangs  die  > Vereinigten«   hauptsächlich    damit  be- 
begnügen, leere  Schiffe  von  Hamburg  oder  Magdeburg  bergwärts 
zu  schleppen,  die  in  Aussig  für  die  Talfahrt  Kohlenfracht  suchten. 
Um  diesen  Zustand  zu  ändern,  entschlossen  sich  die  »Vereinigten« 
im  Jahre   1886,    auch    das  Fracht  v  er  m  i  1 1 1  u  n  g  s-  und    in    ge- 
ringem Umfange  auch  das  Fracht  s  c  h  i  f  f  a  h  r  t  s  geschäft  in  ihren 
Betrieb  aufzunehmen.    Sie  errichteten  zu  diesem  Zwecke  in  Harn- 


—       125      — 

bürg  und  in  einigen  oberelbischen  Häfen  eigene  Frachtkontore 
für  die  Privatschiffahrt.  In  Hamburg  erfolgte  die  Eröffnung  eines 
solchen  am  i.  Juli  1886;  dasselbe  hatte  sehr  zufriedenstellende 
Ergebnisse.  Freilich  erschwerte  die  Unzuverlässigkeit  und  Dis- 
ziplinlosigkeit der  Privatschifferkundschaft  der  Gesellschaft  oft 
nicht  unbeträchtlich  die  Erledigung  ihrer  Verpflichtungen.  Die 
geschäftlichen  P^rfolge  aber  waren  sehr  günstige :  In  den  ersten 
10  Jahren  des  Bestehens  sank  die  Dividende  nur  einmal  auf  5  % 
(1891)  herab,  im  übrigen  bewegte  sie  sich  zwischen  10  und 
20  o/„. 

Am  5.  Dezember  1893  beschloß  eine  außerordentliche  Ge- 
neralversammlung den  Ankauf  der  gleichfalls  aus  Schifferkreisen 
entstandenen  »Saale-  und  Elbe-Schleppschiffahrts-Gesellschaft«  in 
Aisleben  für  610  000  M.  Zu  diesem  Zwecke  erhöhte  man  am 
7.  Februar  1894  das  Aktienkapital  auf  eine  Million  Mark  und 
nahm  die  Firma  »Vereinigte  Elbe-  und  Saale-Schiffer«  an.  Nun- 
mehr wuchs  das  Unternehmen  unaufhaltsam  von  Jahr  zu  Jahr 
und  das  zu  einer  Zeit,  in  der  sich  andere  Gesellschaften  nur 
schwer  auf  ihrer  alten  Höhe  erhalten  konnten.  Im  Jahre  1895 
wurde  das  Unternehmen  von  Karl  Böhmert  in  Magdeburg  mit 
10  Dampfern,  22  Frachtkähnen  und  15  Schuten  für  435000  M. 
angekauft.  Deswegen  sowie  zur  sonstigen  Erweiterung  des 
Betriebsmateriales  wurde  1896  eine  Kapitalserhöhung  auf 
2  Millionen  Mark  vorgenommen.  Das  Jahr  darauf  setzte  die  Ge- 
sellschaft 3  neue  große  Radschleppdampfer  zu  450,  800  und 
1000  PS  in  Betrieb,  kaufte  9  eiserne  Schleppkähne  zu  je  600 
bis  800  t  Tragfähigkeit  aus  Privathand  an,  gab  ebensoviele  liefer- 
bar bis  Ende  1898  an  Privatwerften  in  Auftrag  und  übernahm 
am  I.  September  1898  die  alte  Firma  Gebr.  Tonne  in  Magde- 
burg mit  5  Dampfern  und  11  Schleppkähnen.  Auch  1899  wurden 
5  neue  große  Schleppkähne  in  Bestellung  gegeben  und  10  weitere 
im  Jahre  1900,  sodaß  der  Kahnraum  der  Gesellschaft  1901  auf 
eine  Gesamtti-agfähigkeit  von  65  000  t  anwuchs  und  sich  im  folgenden 
Jahre  durch  Einstellung  von  30  neuen  Schleppkähnen  auf  80000  t 
weiter  erhöhte.  Dem  entsprechen  auch  die  Betriebsleistungen, 
die  z.B.  für  das  Jahr  1902  folgende  Zahlen  aufweisen :  Das  Ham- 
burger Frachtkontor  belud  949  Fahrzeuge  mit  397210  t  (=  12% 
des  Hamburger  Verkehrs  zu  Berg).  Geschleppt  wurden  auf  der 
Strecke 


—       126      — 


Hamburg— Havclort         604  Fahrzeuge  mit   124000  t  Ladung  1  ^47  000  t  Ladung 
^                                 t  b  1  Ol  (=  iqOL  des  Ham- 

Ilamburg— Magdeburg   1460  »  >     523  000  t        >        J  Bürger  Bergverk.) 

Magdeburg  nach  obe- 
ren Stationen  14S1  »  >     393  700  t        » 

1040700  t    (^   34%   des       Gesamt- 
Elbeverkehrs). 

Die   allgemeinen    Betriebsleistungen    für    die    einzelnen  Jahre 
weist  Tab.  42  aus. 

Tab.  42. 

Fracht-  und  Schlepp  leistunge  n    der    »Vereinigten  Elbschif  fahr  ts- 

Gesellschaften<    1884 — 1903. 


I.     < 

2. 

Frachtgeschäft 

3- 

4-              i             5- 
Schleppgeschäft 

6. 

Jahr    ' 

Angenommene 
Verfrachtungs- 
güter 

Zahl  der 

eignen 
Dampfer 

Zurückgelegte 
Entfernung  der 
Schleppdampfer 

Geschleppte 
Kähne 

Ladung  der 

geschleppten 

Kähne 

1000  t 

km 

t 

18S4 

1 

6 

177  162 

2  344 

354  423 

1885   1 

9 

211  000 

4  108 

363  463 

1886 

!       1 

10 

232  000 

5  820 

447  139 

18S7 

10 

226  000 

5451 

463  350 

1888 

81 

10 

252  000 

5723 

396  337 

1889 

233 

II 

277  000 

1719 

500  640 

1890  \ 

263 

12 

292  000 

2798 

571849 

189I 

312 

12 

305  000 

3099 

445  943 

1892 

222 

12 

295  000 

2  711 

497  849 

1893 

231 

12 

259000 

2665 

504  667 

1894  ! 

449     1 

18 

435  000 

3910 

838  849 

1895  i 

450 

20 

384  000 

3  337 

777  807 

1896  ! 

499 

20 

464  000 

3633 

950734 

1897 

503 

22 

480  000 

4983 

I  213  112 

1898 

581 

28 

487  000 

6419 

I  470585 

1899  1 

638 

28 

393  000 

4S13 

I  286  S35 

1900  1 

700 

28 

369  000 

5047 

I  345  309 

1901  i 

28 

. 

3  934 

I  164  217 

1902  1 

28 

. 

3  545 

I  041  103 

1903  i 

28 

3780 

I  137  691 

Somit  waren  in  der  kurzen  Zeit  von  kaum  10  Jahren  die 
»Vereinigten«  zu  der  größten  Schiffahrtsgesellschaft  auf  der  Elbe 
geworden  ui^d  hatten  alle  älteren  Unternehmungen-  überholt.  Das 
ist  umso  bemerkenswerter,  als  jene  von  Anfang  an  rein  kapita- 
listische Unternehmungen,  die  >Vereinigten«  dagegen  aus  Klein- 
schifferkreisen hervorgegangen  waren.  Diese  Entwicklung  der 
»Vereinigten«  ist  wieder  ein  Beweis  dafür,  daß,  wie  wiederholt 
hervorgehoben  wurde,    selbst    von  kapitalkräftigen  Gesellschaften 


—       127      — 

eine  erfolgreiche  Schiffahrtspolitik  nicht  gegen  oder  auch  nur 
ohne,  sondern  zusammen  mit  den  Kleinschiffern  betrieben 
werden  kann,  ein  Grundsatz,  den  die  ältere  Kartellpolitik  der 
Elbschiffahrtsgesellschaft  früher  vermissen  ließ,  seit  1903  aber 
berücksichtigt  hat. 

Die  zu  den  Betriebserweiterungen  nötigen  Gelder  wurden, 
wie  erwähnt,  durch  Erhöhung  des  Aktienkapitals  beschafft,  das 
1894  auf  eine  Million  Mark,  1896  auf  zwei  Millionen  Mark,  1898 
auf  2450000  M.,  1901  auf  drei  Millionen  Mark  und  1902  auf 
3  500000  M.  gebracht  wurde.  Dabei  war  trotz  der  schnellen 
Vermehrung  der  Betriebsmittel  der  gesamte  Schiffspark  dauernd 
gut  beschäftigt,  selbst  in  so  ungünstigen  Schiffahrtsjahren  wie 
1901  und  1902.  Die  Dividende  der  Gesellschaft  betrug  trotz 
reichlicher  Abschreibungen  1887 — 1901  stets  lo  %  und  ging 
auch  in  den  Jahren  1902  und  1903,  in  denen  z.  B.  die  »Kette« 
aus  ihrem  Betriebe  keine  Dividende  herauswirtschaften  konnte, 
nicht  weiter  als  auf  5  bez.  4   %   hinab. 

Da  kam  das  Jahr  1903,  das  ungünstigste  Schiffahrtsjahr,  das 
die  Elbe  bis  dahin  aufzuweisen  hatte.  Die  Zustände,  die  damals 
herrschten,  und  die  Folgen,  zu  denen  sie  führten,  schildert  der 
Jahresbericht    der  Gesellschaft  sehr   anschaulich  folgendermaßen: 

»Das  verflossene  Betriebsjahr  war  für  die  gesamte  Eibschiff- 
fahrt, desgleichen  für  unsere  Gesellschaft  unter  dem  Drucke  des 
heftigen  Konkurrenzkampfes,  trotzdem  im  Berg-  wie  im  Talver- 
kehr eine  Steigerung  der  Transportmengen  eingetreten  war,  in 
seinen  Erträgnissen  ein  sehr  ungünstiges.  Im  Laufe  des  Jahres 
wurden  wiederholt  Verhandlungen  der  Schiffahrtsunternehmungen 
zu  einer  Verständigung  im  Bergverkehr  angeknüpft,  verliefen  aber 
resultatlos  und  verschärften  die  Kämpfe  bis  zur  äußersten  Grenze, 
dessen  Preis  nicht  auf  Aufbesserung  der  Fracht-  und  Schlepp- 
löhne, sondern  nur  darauf  gerichtet  werden  konnte,  sich  die  zur  Auf- 
rechterhaltung eines  regelmäßigen  Verkehres  erforderlichen  Trans- 
porte zu  sichern,  um  dadurch  den  Besitzstand  seiner  alten  ange- 
stammten Kundschaft  zu  erhalten.  Der  Kampf  galt  daher  nicht 
mehr  einer  Erwerbsfrage,  sondern  nahm  den  bedrohlichen  Cha- 
rakter einer  Existenzfrage  an.  Bei  solch  zugespitzten  Verhält- 
nissen traten  daher  auch  eigenartige  und  vernunftswidrige  Er- 
scheinungen zu  Tage :  es  wurden  die  Schlepplöhne  so  herunter- 
gedrückt, daß  sie  jedem  Unternehmer  direkte  Verluste  verursachen 
mußten,  und  in  der  Hoffnung,  daß  das  Fallen  des  Wassers    wie 


—       12S       — 

naturgemäß  eine  Aufbesserung  der  Fracht-  und  Schleppreise  mit 
sich  bringen  müsse,  trat  die  entgegengesetzte  Wirkung  ein,  daß 
tatsächlich  mit  fallendem  Wasser  eine  weitere  Unterbietung  in 
l''racht-  und  Schlepplöhnen  Platz  greifen  konnte.  —  Gegen  Ende 
des  Betriebsjahres  wurde  in  Erkenntnis  aller  am  ICIbverkehr  be- 
teiligter Firmen,  daß  so  nicht  weiter  gewirtschaftet  werden  könnte, 
die  Aufnahme  neuer  Verhandlungen  zu  einer  Verständigung  durch 
die  in  gleiche  Zeit  fallenden  und  durch  die  beiden  Generalver- 
sammlungen unserer  Gesellschaft,  sowie  der  früheren  >Kette« 
vom  12.  Dezember  1903  zum  Beschluß  erhobene  Fusion  beider 
Gesellschaften  überholt ;  es  führten  ferner  die  zwischen  den 
fusionierten  Gesellschaften  und  der  österreichischen  >Nord-West- 
Gesellschaft«  bestandenen  intimen  Beziehungen  zur  Anbahnung 
einer  Betriebsgemeinschaft  mit  ihr.« 

Damit  war  die  mächtigste  deutsche  Binnenschiffahrtsgesell- 
schaft ins  Leben  getreten.  Von  der  »Kette«  übernahm  die  Ge- 
sellschaft allein  31  Kettendampfer,  9  Radeildampfer,  7  Bugsier- 
schraubendampfer, 6  Dampfbarkassen,  6  schwimmende  Dampf- 
und I  elektrischen  Kran,  81  eiserne  Verschlußkähne  und  ein 
Personal  von  1787  Mann.  Die  >  Vereinigten  Elbe-  und  Saale- 
Schiffer«  änderten  ihre  Firma  in  ^  Vereinigte  Elbeschiffahrts- 
Gesellschaften  Aktiengesellschaft  in  Dresden«  um,  und  erhöhten 
ihr  Kapital  von  3  Millionen  Mark  auf  ii,ii  Millionen  Mark.  Mit 
Beginn  des  Schiffahrtsjahres  1904  erschienen  sie  mit  58  Rad- 
schleppdampfern, 3  Heckraddampfern,  19  Eilgutdampfern,  35 
Kettendampfern,  zusammen  also  115  Dampfern  und  300  Schlepp- 
kähnen auf  der  Elbe;  fürwahr  eine  gewaltige  Binnenschitfahrts- 
flotte.  Dazu  kam  noch  eine  umfängliche  Hafenflotte  von  165 
Leichterschiffen,  14  LagerschifTen,  30  Schraubendampfern,  22 
schwimmenden  Krähnen  und  i  Dampfbagger.  Ueberdies  be- 
saßen sie  3  Speicher  in  Hamburg.  Vor  allem  aber  war  nunmehr 
endlich  die  gesamte  in  der  Elbe  und  ihren  Nebenflüssen  verlegte 
Kette  in  einer  Hand  vereinigt  worden. 

Im  Jahre  1904,  dem  ersten  Jahre  des  neuen  Riesenbetriebes, 
wurde  keine  Dividende  verteilt,  jedoch  schon  die  beiden  nächsten 
Jahre  wiesen  so  günstige  Resultate  auf,  und  bewahrheiteten  da- 
mit die  gehegten  Erwartungen  eines  verbilligten  Betriebes,  daß 
im  Jahre  1905  9  %,  1906  10  %  und  1907  8  %  verteilt  wer- 
den konnten.  Auch  ging  man  1905  mit  gutem  Erfolg  dazu 
über,    den  eigenen  Schiffahrtsbetrieb  mit  Vermittlung  der  märki- 


—       129      — 

sehen  Wasserstraßen  auf  die  Oder,  ja  sogar  auf  die  weitentlegene 
Warthe  auszudehnen. 

Ueber  die  Entwicklung  und  den  Umfang  des  Frachtgeschäftes 
während  der  Periode  von  1904 — 1907  gibt  die  folgende  Tab.  43 
Aufschluß. 

Tab.  43. 

Fracht-  und  Schlepp  verkehr  der  »Vereinigten  Eibschiffahrt  s- 

Gesellschaft«    während  der  Jahre    1904  — 1907. 

Güterverkehr  in   looo  t. 


I. 

2. 

1904 

3- 
1905 

4- 
1906 

5- 
1907 

I. 

Gesamtfrachtverkehr  der  Gesellschaft 

I  658 
991 

360 
127 
149 
304 

666 

80 

518 

23% 

75% 
16  0/0 

919 

3oO'o 

2258 

I  321 

511 
190 
218 
399 

937 

150 
672 

22  0/0 

67% 
18% 
I  176 

25% 

2258 

I  228 

474 
179 
200 
373 
I  030 

lOI 

795 
22% 
71% 
21% 
1  105 
26% 

2877 

IL 

Davon  Verkehr  zu  Berg: 

I  829 

III. 

IV. 

V. 

VI. 

Hiervon 

wurde 

ausgeladen 

in 

Magdeburg    .     .     . 

Riesa 

Dresden    .... 
Böhmen   .... 

598 
391 
313 

525 

VII. 

Von  Spalte  I  Verkehr    zu    Tal: 

I  048 

VIII. 
IX. 

Hiervon  aus- 
geladen in 

Magdeburg  . 
Hamburg       .      .      . 

89 
823 

X. 

XI. 
XII. 

Prozentualer 

Anteil  der 

Gesellschaft 

am  gesamten 

Güter  e  m  p  f  ang 

Hamburgs 

deutschen  Güter export 

nach  Böhmen  . 

deutschen  Elbgüter- 

Import  aus  Böhmen 

25% 
83% 
22% 

XIII. 
XIV. 

Seh  lep  p- 

leistung  der 
Ges.  ab  Ham- 
burg 

Gütermenge       .     . 
Anteil  am  Gesamtberg- 
verkehr Hamburgs 

1659 
33% 

Spalte  I  gibt  ein  Bild  des  Gesamtfrachtgeschäftes  der  Ge- 
sellschaft, die  für  die  Jahre  1904 — 1907  einen  Anteil  am  Gesamt- 
eibverkehr von  etwa  62,  54,  52  und  54  %  in  den  entsprechenden 
Jahren  aufweist.  Dieser  Gesamtverkehr  verteilt  sich,  wie  Spalten 
II  und  III  zeigen,  nicht  gleichmäßig  auf  den  Berg-  und  Talver- 
kehr ;  vielmehr  überwiegt,  wie  bei  allen  Gesellschaften,  so  auch 
bei  den  »Vereinigten«  der  Bergverkehr  nicht  unbeträchtlich  den 
Talverkehr.  Ueber  das  Gebiet,  auf  dem  hauptsächlich  das  Fracht- 
geschäft der  Gesellschaft  sich  bewegte,  geben  die  Spalten  III  bis 
V,  VIII  und  IX  Auskunft.  Danach  gewährten  Hamburg,  Magde- 
burg und  Böhmen  der  Gesellschaft  hauptsächlich  Beschäftigung. 
An  den  beiden  wichtigsten  Punkten  der  Eibschiffahrt,  Hamburg 
und  Böhmen,    spielte    die  Gesellschaft   eine  hervorragende  Rolle, 

Zeitschrift  für  die  ges.  Staatswissenscli.    Ergänzungsheft  50.  Q 


—     I30     — 

besonders  im  Verkehr  nach  Böhmen,  den  sie  fast  zu  V*  be- 
herrschte. Schwächer  ist  der  Anteil,  wie  bei  allen  Gesellschaften, 
am  böhmischen  Verkehr  zu  Tal  (böhmischer  Import),  dagej^en  hat 
sie  am  Hamburger  Eibverkehr  sehr  wesentlichen  Anteil.  Sie  be- 
herrscht den  Hamburger  Güterempfang  zu  Tale  fast  zu  '/*  ""d 
vermag  mit  Hilfe  ihres  Schlepi)bctriebes  fast  33%  des  Ham- 
burger Versandes  zu  Berg  zu  kontrollieren. 

Doch  dieser  Entwicklung  der  Großbetriebe  gegenüber  blieb, 
wie  später  gezeigt  werden  wird,  auch  die  Kleinschiffahrt  nicht 
müßig.  Es  verbanden  sich  vielmehr  fast  1000  Klcinschiffer  zu 
der  starken  »Privat-Schiffer-Transport-Genossenschaft«.  Damit 
standen  sich  2  mächtige  Rivalen  gegenüber.  Um  sich  von  dem 
Kahnraum,  wie  dem  Schleppanhang  der  Kleinschiffahrt  frei  zu 
machen,  beschlossen  die  >Vereinigten«  eine  wesentliche  Vermeh- 
rung ihres  Kahnraumes  durch  Neubauten.  Sie  nahmen  zu  diesem 
Zwecke  im  Jahre  1906  eine  472-piozentige  Prioritätsanleihe  in 
Höhe  von  i  800000  M.  auf  und  kauften  mit  diesen  Mitteln  42 
alte  Schleppkähne  und  gaben  9  neue  in  Bestellung.  Zu  einem 
gleichen  Vorgehen  veranlaßten  sie  auch  die  mit  ihr  im  Pacht- 
verhältnis stehende  österreichische  »Nord-West-Gesellschaft«.  Im 
Jahre  1907,  in  dem  sie  übrigens  auch  noch  eine  für  die  Eib- 
schiffahrt nicht  unwesentliche  Neuerung  und  Erweiterung  ihrer 
Frachtmöglichkeiten  durch  Errrichtung  von  Kühlmaschinen  auf 
12  ihrer  größten  Schleppkähne  für  den  deutsch-böhmischen  Bier- 
transport zur  Einführung  brachte,  kam  es  endlich  zu  einem  Be- 
triebsgemeinschaftsvertrag mit  der  --»P.Sch.T.G.«  und  mehreren 
anderen  Schiffahrts-Gesellschaften,  von  dessen  Einzelheiten  aber 
erst  im  folgenden  Kapitel  bei  Besprechung  der  SchifTahrtsver- 
einigung  des  Jahres  1907  die  Rede  sein  wird.  Hier  sei  nur  er- 
wähnt, daß  mit  diesem  Schritte  vorerst  die  »Vereinigten«  keine 
besonders  günstigen  Geschäftsergebnisse  erzielt  haben.  Es  mag 
dies  an  der  Form  der  Organisation  dieses  trustartigen  Gebildes 
gelegen  haben,  für  dessen  Formen  man  bisher  im  deutschen 
Schiffahrtsgewerbe  keine  Vorbilder  besessen  und  keine  Erfah- 
rungen gesammelt  hatte.     So  schlössen  die  Jahre   . 

1909  mit  300000  M. 

1910  ,,  622  000  jM. 

191 1  ,,  S78  776  M. 

zusammen:  1800776  M.  Verlust 


—     131     — 

ab,  einem  recht  ansehnlichen  Lehrgeld,  das  die  »Vereinigten«  für 
den  Versuch  einer  Schiffahrtsvertrustung  bezahlen  mußten.  Der 
Grund  für  diesen  Mißerfolg  war  die  ungleiche  Verteilung  des 
Risicos,  das  neben  aller  Arbeit  die  >  Vereinigten«  allein  zu  tragen 
hatten,  während  alle  übrigen  Beteiligten  eine  feste  von  den  »Ver- 
einigten« zu  zahlende  Rente  bezogen.  Die  »Vereinigten«  hatten 
bei  Abschluß  der  Verträge  ihre  eigene  wirtschaftliche  Kraft  über- 
schätzt, wenigstens  gegenüber  so  ungünstigen  Schiffahrtsverhält- 
nissen, wie  sie  die  Jahre  1909  und  1910,  ganz  besonders  aber 
das  Jahr  191 1  brachten.  Das  letztere  Jahr  ist  das  schlechteste 
und  verhängnisvollste  gewesen,  das  die  Schiffahrt  seit  über  50 
Jahren  gekannt  hat:  über  zwei  Monate  mußte  wegen  zu  geringen 
Wasserstandes  auf  der  ganzen  Elbe  fast  sämtlicher  Verkehr  ein- 
gestellt werden. 

Die  »Vereinigten«  kündigten  deshalb  mit  dem  31.  Dezember 
191 2  sämtliche  Pachtverträge,  deren  Erneuerung  auch  vorerst 
noch  nicht  wieder  gelungen  ist.  Es  ist  wohl  anzunehmen,  daß 
die  »Vereinigten«  sich  vermöge  ihrer  inneren  Gesundheit  und 
mit  Hilfe  ihrer  starken  Rücklagen  und  Abschreibungen  in  frühe- 
ren ertragsreichen  Perioden  von  diesen  bedeutenden  Verlusten 
verhältnismäßig  schnell  erholen  werden. 

Die  Betriebsmittel,  die  sich  durch  jene  Verträge  und  durch 
das  eigene  Material  in  den  Händen  der  Gesellschaft  vereinigt 
hatten,  waren  fast  fabelhaft  zu  nennen.  Sie  betrugen  66  Rad- 
schleppdampfer, 3  Heckraddampfer,  18  Eilfrachtdampfer,  29 
Kettendampfer,  44  Schraubendampfer,  9  Motorboote,  29  schwim- 
mende Krähne,  29  feststehende  Krähne,  i  Dampf bagger,  1063 
Schleppkähne  mit  einer  Gesamttragfähigkeit  von  666350  t,  218 
Leichterschiffe  und  27  Lagerkähne ;  das  Personal  bestand  aus 
3278  Personen.  Das  auf  eigenen  Frachtkähnen  beförderte  Güter- 
quantum betrug  im  Jahre  1909  4357468  t,  w'ozu  noch  auf  frem- 
den Kähnen,  jedoch  mit  Gesellschaftsdampfern  geschleppt,  eine 
Gütermenge  von  2  163  105  t  hinzukommt,  was  insgesamt  6  550  573  t 
für  die  Gesamtbeförderung  ergibt.  Das  sind  schätzungsweise,  da 
Gesamtzahlen  für  den  Eibverkehr  im  Jahre  1909  fehlen,  reichlich 
60%    des  Gesamteibverkehrs. 

Im  einzelnen  veranschaulicht  Tab.  44  die  Betriebsleistungen 
der  Gesellschaft  in  den  letzten   5  Jahren. 


—      132     — 

Tab.  44. 
Fracht-  und  Schleppleistungen    der  »Vereinigten  Elb- 
schiffahrts-Gesellsc  haften«    1908 — 1912. 


I 

2.      : 
190S 

3- 
1000 

4. 
iqio 

5- 

10!  I 

6. 

1013 

Im  Fiaclu- 
geschäft  beför- 

bergwärts 
talwärts 

I  887 
2067 

2  152 
2  204 

2  023 
2  328 

l  037 
1626 

2  072 
3795 

dert  in   1000  t 

Zusammen 

3954 

4  357 

4  351 

3  264 

4868 

Im  Sclileppgeschäft  beför- 
dert in   1000  t             1 

2218 

2  193 

2503 

1295 

1697 

Zusammen  im 
Schleppgeschä 

Fracht-  und 
"t    in    1000  t 

6  172 

6550 

6854 

4  559 

6565 

h)  Die  Deutsch-Oesterreichische  Dampf- 
Schiffahrts-Aktien-Gesellschaft  in  Dresden. 

Tab.  45. 

Geschäftsergebnisse    der  »Deutsch-Oesterreichischen 

Dampfsch.-  Ges.« 


I. 

2. 

3- 

4- 

5- 

6. 

7- 

Divi- 

Gesamt- 

Zahl 

der 

Jahr 

Aktienkapital 

Obligationen 

dende 

einnahmen 

Dampf- 

Schlepp- 

1000 M. 

1000  M. 

"/u 

1000  M. 

schiffe 

kähne 

1896 

650 

4 

347 

7 

9 

97 

800 

— 

7 

570 

7 

9 

98 

I  000 

400 

0 

627 

8 

9 

99 

I  300 

400 

10 

843 

9 

10 

1900 

I  300 

400 

10 

912 

9 

10 

Ol 

I  300 

400 

8   - 

823 

9 

16 

02 

I  300 

400 

0 

501 

9 

16 

03 

975 

530 

0 

599 

9 

16 

04 

975 

880 

0 

I  093 

1905 

2  000 

I  460 

6 

2  123 

06 

2  000 

I  325 

6 

2  223 

07 

2  000 

I  228 

6 

420 

08 

2  000 

I  136 

6 

423 

09 

2  000 

I  048 

6 

42S 

1910 

2  000 

971 

6 

42S 

• 

II 

2  000 

6 

402 

12 

2  000 

610 

6 

402 

Als  im  Jahre  1895  durch  Vereinigung  sämtlicher  Elbschlepp- 
schiffahrtsunternehmungcn  zu  der  » Schleppschiffahrt- Vereiniguncj«^) 
ein  kleiner  wirtschaftlicher  Aufschwung  sich  in  der  Eibschiffahrt 
bemerkbar  machte,  gründete  sich  sofort,  angeregt  durch  Speditions- 
und Frachtspekulantenkreise,    eine   Gesellschaft  in  Hamburg,    die 

i)  Vgl.  S  179. 


1 


—     133     — 

aus  dem  Durchkreuzen  der  Frachtpolitik  des  Kartelies  Vorteil 
zu  ziehen  suchte.  Es  war  dies  die  »Deutsch-Oesterreichische 
Dampfschiffahrts-Gesellschaft«,  die  mit  einem  Kapital  von  650000 
Mark  im  Jahre  1896  ihren  Betrieb  auf  der  Elbe  mit  7  Schlepp- 
dampfern und  9  Frachtkähnen  aufnahm.  Da  die  Hauptbe- 
teiligten als  Gründer  und  Aktionäre  die  drei  bedeutenden  Ham- 
burger Firmen  :  Ludwig  Ascher  &  Co.,  Getreidespeditionsgeschäft, 
Baumer  &  Herling,  Befrachtungs-  und  Schleppgeschäft  und  Gebr. 
Burmester  in  Lauenburg,  Eibreederei,  waren,  so  flössen  von  An- 
fang an  der  Gesellschaft  große  Frachtgütermengen  zu.  Die  Ge- 
sellschaft richtete  in  Hamburg  und  Magdeburg  eigene  Befrach- 
tungskontore ein  und  war  eifrig  bestrebt,  den  Verkehr  von  und 
nach  Böhmen  in  ihre  Hände  zu  bekommen.  Sie  beschränkte 
sich  aber  im  allgemeinen  auf  das  Schleppgeschäft  und  die  Ver- 
mittlung von  Wasserfrachten  an  Privatschiffer,  der  eigene  Fracht- 
schiffpark bestand  bis  1900  nur  aus  10  Schleppkähnen  und  wuchs 
bis  1903  auf  16,  und  erreichte  1906  seine  größte  Ausdehnung 
mit  44  Schleppkähnen  zu  je  400 — 1 100  t.  Dagegen  war  das 
Frachtvermittlungsgeschäft  ein  beträchtliches.  Die  Gesellschaft 
war  z.  B.  an  dem  gesamten  Hamburger  Bergfrachtgeschäft  1898 
mit  12  %,  1899  init  ii\''2  %,  1900  mit  12^/2  %  und  1901  mit 
II  %  desselben  beteiligt.  Die  finanziellen  Ergebnisse  waren 
schwankende,  wie  überhaupt  in  der  gesamten  Leitung  und  Be- 
tätigung der  Gesellschaft  oft  etwas  Stoßweises,  Unruhiges  zu  be- 
merken war.  Im  ersten  Betriebsjahr,  1896,  betrug  die  Dividende 
4  %,  wuchs  im  nächsten  Jahre  auf  7  %,  um  jedoch  im  Jahre 
1898  ganz  auszubleiben;  1899 — 1901  schwankte  sie  zwischen  8 
bis  10  %,  und  blieb  abermals  in  den  3  nächsten  Jahren  ganz  aus. 
Von  1905  — 1912  blieb  sie  gleichmäßig  auf  6  %  bestehen,  was 
auf  das  Pachtverhältnis  mit  den  »Vereinigten«  zurückzuführen  ist, 
das  von  1907 — 19 12  zwischen  den  beiden  Gesellschaften  bestand. 
Wie  von  der  »Nord-West«,  so  hatten  die  »Vereinigten«  seit  1907 
auch  von  der  »Deutsch-Oesterreichischen«  den  gesamten  Schiffs- 
park gepachtet  und  bezahlten  dafür  eine  Rente,  die  jährlich  6  % 
Dividende  für  das  Aktienkapital  der  Pachtgesellschaft  abwerfen 
mußte. 

Seit  dem  i.  Januar  1913,  dem  Ablauftermin  des  Pachtver- 
trages mit  den  »Vereinigten«,  betreibt  die  Gesellschaft  mit  dem 
Sitz  in  Magdeburg  ihr  eigenes  Fracht-  und  Schleppgeschäft  wie- 
der, und  hat  zur  Vergrößerung  ihrer  Betriebsmittel  den  gesamten 


—     134     — 


Schiffspark  der  >EIbe<')  für  eine  Pachtsummc  von  looooo  M.  jähr- 
lich gepachtet.  Die  eii^enen  Betriebsmittel  bestanden  Ende  191 3 
aus  17  großen  Radschleppdampfern,  7  Bui^sierdampfern,  i  Motor- 
barkasse, 35  Schleppschiffen  sowie  12  Lai,'er-  und  Windenkähnen. 
Von  der  »Elbe«  hat  sie  bis  iMide  19 14  gepachtet:  9  große  Rad- 
schleppdampfer, 2  Bugsierdam[)fcr,  i  ]\Iotorbarkassc,  5  Lager- 
und Windenkähne.  Das  Aktienkapital  beträgt  (191 3)  2  Millionen 
Mark,  zu  dem  610  OCX)  M.  Anleihebetrag  als  Betriebskapital  hin- 
zukommen. 

Tab.  46  gibt  zahlenmäßig  die  Verkehrsleistung  der  Gesell- 
schaft von  1896 — 1906  wieder;  man  ersieht  aus  ihr,  daß  die  Ge- 
sellschaft einen  bedeutenden  Schleppbetrieb  unterhielt,  während 
sie  im  Frachtgeschäft  bei  ihrem  geringen  eigenen  Kahnraum  sich 
des  fremden  Kahnraumes  der  Privatschiffer  zumeist  bedienen 
mußte. 

Tab.  46. 

Schlepp-  und  Frachtleis  tungen  der  »Deutsch-Oesterreichischen 

Dampsch  if  f  ah  rt  s- Ges.«    1896 — 1906. 


1 3^ I 4^ I        5. 
Schleppgeschäft 


1         7.^        8. 
Frachtgeschäft 


Jahr 


Eigne 
Schlepp- 
dampfer 
Zahl 


Von  eignen 

Schleppdampfern 

zurückgelegte 

Entfernung 

km 


Ge-      !      Ge- 

schleppte 
schleppte     Güter- 


Kähne 
Zahl 


mengen 
1000  t. 


Eigne 
Schlepp- 
kähne 
Zahl 


Mit  Fracht- 
I      gütern 
beladene 
Kähne 

Zahl 


Ver- 
frachtete 
Güter- 
mengen 

1000  t. 


1896 

97 
98 

99 
1900 

Ol 

02 

03 
04 

1905 
06 


99  000 
159  000 
189  000 
196  000 
173  000 
168  000 


1 235 

687 

9 

I  931 

I  180 

9 

2948 

I  480 

9 

2  516 

I  306 

10 

2536 

1432 

10 

2645 

1489 

16   ' 

16 

16 

3736 

I  256 

4430 

I  353 

970 
338 
138 
185 

078 
845 

945 


474 
948 
852 
762 
848 
772 
506 
716 
340 
705 
757 


i)    Die    >Elbe«    D  a  m  p  f  s  c  h  i  f  f  a  h  r  t  s  -  A  k  t  i  e  n  -  G  e  s  e  1  1- 


schaft  in  Hamburg. 


Aus  einer  Genossenschaft  von  Privatschiffern,  die  wegen 
schlechter  Geschäftsergebnisse  in  Liquidation  treten  mußte,  ging 
1899  die  »Elbe«  mit  einem  Aktienkapital  von  700 000  M.  hervor. 

I)  Vgl.  s.  135. 


135     — 


Ihre  Aktien,  die  auf  Namen  lauten,  befanden  sich  nur  in  den 
Händen  einiger  weniger  Kleinschiffer,  wie  auch  der  Kundenkreis 
der  Gesellschaft  infolgedessen  sich  aus  diesen  Kreisen  zusammen- 
setzte. Ihr  Betriebsmaterial  bestand  aus  4  Radschleppdampfern 
von  je  400 — 900  PS,  und  wuchs  bis  zum  Jahre  1902  nach  Er- 
höhung des  Aktienkapitals  auf  i  Million  auf  8  Dampfer  an. 
Nach  Art  des  Betriebes  und  der  Geschäfte  näherte  sie  sich  mehr 
einem  gutentwickelten  Kleinschiffahrtsbetrieb,  als  einem  Großbe- 
trieb. Sie  unterhielt  nur  Schleppschiffahrt  und  zwar  in  der 
Hauptsache  von  Hamburg  nach  Stationen  oberhalb  Magdeburgs. 

Tab.  47. 
Geschäftsergebnisse    der    »Elbe«,    D  ampf  s  chif  f  ah  rts- Akti  en-Ges. 


I. 

2. 

3- 

4- 

5- 

6. 

7- 

Jahr 

Aktien- 
kapital 

Obli- 
gationen 

Dividende 

Einnahmen 

aus 
Schlepp- 

in 1000  M. 
insgesamt 

Zahl  der 
Dampf- 
schiffe 

1000  M. 

1000  M. 

0/ 

/o 

geschäft 

1899 

700 

149 

4 

437 

440 

4 

1900 

700 

152 

6 

466 

479 

5 

Ol 

700 

161 

8 

587 

595 

6 

02 

I  000 

164 

0 

469 

477 

8 

03 

I  000 

149 

0 

492 

495 

8 

04 

I  000 

131 

4 

591 

596 

8 

1905 

I  000 

121 

6 

804 

818 

8 

06 

I  000 

4 

7 

847 

866 

8 

07 

I  000 

— 

8 

— 

8 

08 

I  000 

— 

8 

— 

8 

09 

I  000 

— 

8 

— 

8 

1910 

I  000 

— 

8 

— 

8 

II 

800 



8 

— 

10 

12 

800 

— 

8 

— 

_ 

8 

Im  Jahre  1905  kam  sie  in  ein  vollständiges  Abhängigkeitsver- 
hältnis zu  der  Privatschiffer-Transport-Genossenschaft  ^)  und  trat 
mit  dieser  zusammen  1907  vertraglich  dem  Kartell  der  »Ver- 
einigten« bei.  Die  letzteren  pachteten  die  Betriebsmittel  der 
»Elbe«  gegen  eine  Verzinsung  des  Anlagekapitals  mit  8  Yo-  Die- 
ser Pachtvertrag  lief  am  31.  Dezember  1912  ab;  vom  i.  Januar 
191 3  ab  trat  die  Gesellschaft  in  ein  anderweitiges  Pachtverhältnis 
und  zwar  mit  der  »Deutsch-Oesterreichischen  Dampfschiffahrts- 
Gesellschaft«,  die  für  100  000  M.  jährliche  Pachtsumme  den  ge- 
samten Betriebsmittelbestand  der  Gesellschaft,  bestehend  aus  9 
großen  Radschleppdampfern,  pachtete.  In  der  Generalversamm- 
lung vom   14.  März   1910    beschloß    die  Gesellschaft,  ihr    Grund- 

i)  Siehe  S.    134. 


-     136     - 

kapital  von  i  Million  Mark  auf  800000  M.  zu  vermindern,  indem 
sie  den  Nennbetrag  der  Aktien  von  500  M.  auf  400  M.  herab- 
setzte und   die  Differenz   zurückzahlte.     (Siehe    Tab.  47,   S.   135.) 


k)      Neue      Deutsch-Böhmische      Elbschiffahrts- 
Aktien-Gesellschaft  in  Dresden. 

Tab.  48. 

Betriebsergebnisse  der    >Neuen    Deutsch-Böhmischen  Dampf- 

schiffahrts-Ges.< 


I. 

2. 

3- 

4. 

5- 

6. 

7- 

8. 

Aktien- 

Obli- 

Divi- 

Schiffs- 

Gesamt- 

Zahl 

der 

Jahr 

Kapital 

gationen 

dende 

hypotheken 

Einnahmen 

Dampf- 

Schlepp- 

in 1000  M. 

in  loooM. 

0/ 

0 

in  1000  M. 

in  1000  M. 

schiffe 

kähne 

1907 

3  000 

172 

0 

.  73 

I 



08 

3000 

I  560 

0 

383 

I  617 

22 

41 

09 

3  000 

2  000 

0 

299 

2  136 

14 

59 

1910 

3  000 

2  000 

0 

272 

2485 

14 

59 

II 

3  000 

2  000 

p 

272 

2003 

14 

59 

12 

3  000 

2  000 

0 

147 

2618 

14 

59 

Das  jüngste  Großunternehmen  auf  der  Elbe  ist  die  >Neue 
Deutsch-Böhmische  Elbschiffahrts- Aktien -Gesellschaft«,  die  am 
26.  September  1907  mit  einem  Aktienkapital  von  3  Millionen 
Mark  in  Dresden  begründet  wurde.  Sie  ist  entstanden  aus  Krei- 
sen von  Spediteuren  und  Frachtinteressenten,  die  das  einigende 
und  zusammenfassende  Vorgehen  der  »Vereinigten«  bekämpften. 
Bei  der  Gründung  der  Gesellschaft  wurde  eine  größere  Zahl  von 
Beamten  angestellt,  die  früher  bei 'der  »Vereinigten«  tätig  ge- 
wesen waren.  Das  Unternehmen  hat  bisher  nicht  günstig  auf 
die  Eibschiffahrt  eingewirkt.  Es  hat  vor  allem  den  überdies  schon 
allzu  umfangreichen  Kahnraum  noch  durch  50  neue  moderne 
große  Schleppkähne  vermehrt.  Trotzdem  bezeichnete  die  Ge- 
sellschaft fast  in  jedem  ihrer  Jahresberichte  als  Ursache  ihrer  un- 
günstigen Jahresabschlüsse  die  Ueberproduktion  an  Kahnraum 
auf  der  Elbe.  Die  Gesellschaft  verstand  es,  bei  ihrer  Gründung 
sich  eine  große  Gütermenge  durch  langandauernde  Frachtver- 
träge zu  sichern,  hatte  aber  durch  diese  Termingeschäfte  be- 
deutende Verluste,  weil  in  den  nächsten  Jahren  durch  Ungunst 
der  Schiffahrtsverhältnisse  die  Betriebskosten  bedeutsam  wuchsen, 
ohne  daß  die  Gesellschaft  auch  an  den  steigenden  Frachtsätzen 
teilnehmen  konnte.  Sie  betreibt  in  überwiegendem  Maße  die 
Frachtschiffahrt  im  Bergverkehr,  wie  Tab.  49  zeigt. 


—     137     — 

Tab  49. 

Frachtleistungen    der   »Neuen   Deutsch-Böhmischen   Dampf- 

schiffahrts-Ges.« 


I. 

2. 

1908 

3- 
1909 

4. 
1910 

5.              6. 
1911           1912 

Ab  Hamburg 
u.  Lauenburg 
zu  Berg 

Frachtschiife 

mit 
Ladung  in  1000 1. 

1790 
460 

I  282 
280 

505 
157 

I  547 
556 

1764 
364 

563 
216 

I  802 
740 

2735 
605 

690 

307 

1407 
491 

2  005 
447 

557 
196 

1759 
715 

Ab  Magdeburg 
zu  Berg 

Frachtschiffe 

mit 
Ladung  in  1000 1. 

2  310 

582 

Zu  Tal 

Frachtschiffe 

mit 
Ladung  in  1000  t. 

628 
283 

Die  Gesellschaft  besitzt  ein  eigenes  Frachtkontor  in  Ham- 
burg und  Magdeburg  und  betreibt  in  gleicher  Weise  den  Betrieb 
der  Schlepp-  und  der  Frachtschiffahrt.  In  den  ersten  2  Jahren 
ihres  Bestehens  arbeitete  sie  meist  mit  fremden,  gemieteten 
Schiffen,  doch  besaß  sie  zu  Beginn  des  Jahres  1909  an  eigenem 
Betriebsmaterial  14  Radschleppdampfer  zu  500 — 1200  PS  (zu- 
sammen 8000  PS),  4  Hafendampfer,  50  eiserne  Frachtkähne  zu 
500 — 850  t  und  70  gemietete  Frachtschiffe  zu  500 — 1200  t  Trag- 
fähigkeit. Trotz  reichlicher  Beschäftigung  seines  Kahnraumes  ist 
es  dem  Unternehmen,  das  freilich  unter  sehr  ungünstigen  wirt- 
schaftlichen Verhältnissen  gegründet  wurde,  noch  nicht  gelungen, 
einen  Gewinn  aus  seinem  Betrieb  herauszuwirtschaften,  vielmehr 
schlössen  die  Jahre  1910  und  191 1  mit  einem  Verlust  von  116  000 
M.  und  209000  M.  ab.  Im  Jahre  191 1  näherte  sich  die  Ge- 
sellschaft den  »Vereinigten«  und  trat  für  gewisse  Teile  des  Eib- 
verkehrs mit  dieser  in  ein  vertragliches  Verhältnis. 


3.    Zusammenfassende     und     vergleichende     Darstellung     der 
Großschiffahrtsbetriebe. 

Stellen  schon,  wie  es  im  vorhergehenden  Abschnitt  darzutun 
versucht  wurde,  die  einzelnen  Elbschiffahrts-Großbetriebe  nicht 
unwesentliche  Faktoren  des  deutschen  Verkehrsgewerbes  dar,  so 
gilt  das  in  erhöhtem  Maße  von  der  als  Einheit  aufgefaßten  Ge- 
samt-Elbgroßschiffahrt. 

Das  zeigt  schon  ein  Blick  auf  die  in  der  Eibschiffahrt  ange- 
legten KapitaUen  in  Tab.   50. 


-     13«     - 


Tab.  50. 

Die  in  der  El  b  sc  h  i  ff  a  hrt  angelegten 

Kapitalien  in    looo  M. 


). 

Sämtliche  Grolobuiiicb 

z   zubaimiicii 

Jahr 

1 

Aktienkapital  und 

Aktienkapital 

Obligationen 

Obligationen  zus. 

1872 

5  012 

5012 

73 

5  «62 

— 

5  162 

74 

5762 

— 

5762 

1875 

5762 

— 

5762 

76 

5762 

— 

5762 

77 

5762 

— 

5762 

78 

6062 

— 

6062 

79 

6  062 

— 

6  062 

1880 

6  062 

— 

6  062 

81 

7942 

— 

.   7942 

82 

I4742 

— 

14742 

83 

15042 

— 

15042 

84 

15742 

300 

16  042 

1885 

15942 

I  000 

16942 

86 

15942 

I  000 

16942 

87 

15942 

I  000 

16  943 

88 

15942 

I  460 

17402 

89 

15942 

I  120 

17  062 

1890 

15942 

I  080 

17  022 

91 

;  15942 

I  040 

16982 

92 

15942 

I  000 

16942 

93 

15942 

I  800 

17742 

94 

14992 

I  800 

16  792 

1895 

15642 

I  800 

17442 

96 

15642 

I  800 

17442 

97 

16  992 

2  200 

19  192 

98 

1  18042 

2875 

20  917 

99 

15  342 

3044 

18386 

1900 

15342 

2965 

18307 

Ol 

15892 

2940 

18832 

02 

16  067 

3411 

19478 

03 

16  067 

3460 

19527 

04 

17217 

3872 

21  089 

1905 

!   18242 

4  353 

22595 

06 

18242 

5816 

24  058 

07 

21  242 

7  495 

28737 

08 

21  342 

9019 

30  261 

09 

21  242 

9249 

30491 

1910 

21  242 

9342 

30584 

II 

21  042 

8906 

29948 

12 

21  042 

8510 

29552- 

1909  waren  mehr  als  30  Millionen  M.  in  Elbschiffahrts- Aktien 
oder  Obligationen  angelegt,  was  umsomehr  zu  bedeuten  hat, 
wenn  man  berücksichtigt,  daß  1870  erst  3800000  M.,  1880 
7,9  Millionen  M.,  1S90  17  Millionen  M.  und  1900  18,8  Millionen  M. 
in    der  Großschiffahrt    angelegt    waren.     Das   Geld   stammte   an- 


—     139 


fangs  fast  ausschließlich  aus  den  Kreisen  der  Privatschiffer.  So 
waren  die  »Kette«,  die  »Vereinigten«,  die  »Elbe«  und  die  »Neue 
Norddeutsche«  Gründungen  aus  diesen  Kreisen,  während  die 
später  gegründete  »Nord-West«  ihre  Entstehung  österreichischen 
Industriellen,  die  >Deutsch-Oesterreichische<  und  die  »Neue  Deutsch- 
Böhmische«  dagegen  ihre  Entstehung  deutschen  Spediteuren  und 
Kaufleuten  verdankten.  Erst  später,  als  sich  bedeutende  Kapitals- 
erhöhungen oder  Anleihen  zur  Erweiterung  der  Betriebe  nötig 
machten,  bediente  man  sich  der  Hilfe  von  Geldinstituten,  unter 
denen  für  die  Eibschiffahrt  besonders  die  Hamburger  Kommerz- 
und  Diskontobank,  die  Dresdner  Filiale  der  Deutschen  Bank,  die 
Kredit-Anstalt  für  Industrie  und  Handel  Abteilung  Dresden, 
sowie  der  Schaaffhausensche  Bankverein  in  Betracht  gekommen 
sind. 

Tab.   51. 

Kursstand  der  an    deutschen  Börsen 

gehandelten  Elbschiffahrtsaktien. 

(Jahresdurchschnitt.) 


I. 

2. 

3- 

4- 

Jahr 

Neue  Nord- 
deutsche Fluß- 

»Kette« 

Vereinigten  Elb- 

Dampfsch.-Ges. 

(Berliner 

schiff.-Gesellsch. 

(Hamburg.  Börse) 

Börse) 

(Dresdner  Börse) 

1887 

150 

68,50 

_ 

88 

76,50 

— 

89 

140 

78,25 

— 

1890 

158 

70,50 

— 

91 

160 

55 

— 

92 

150 

50,75 

— 

93 

— 

52,75 

— 

94 

125 

80 

— 

1895 

82,50 

— 

96 

140 

72,30 

— 

97 

152 

71 

— 

98 

159.50 

73,25 

142 

99 

155 

83,20 

149 

1900 

150 

82 

146 

Ol 

160 

82 

140 

02 

130 

65 

HO 

03 

150 

— 

127,10 

04 

145 

— 

111,75 

1905 

153,50 

— 

139 

06 

160 

— 

139,75 

07 

145 

— 

136,90 

08 

143 

— 

91,50 

09 

145 

— 

90 

1910 

115 

— 

70,50 

II 

"5 

— 

60,50 

12 

— 

55,10 

—     140     — 

Nach  Höhe  des  Betriebskapitales  stand  bis  1902  die  »Kette« 
mit  ihren  7,2  Millionen  M.  Aktienkapital  und  1,3  Millionen  M. 
Obligationen  an  erster  Stelle,  in  diesem  Jahre  mußte  sie  jedoch 
den  Rang  an  die  > Vereinigten«  mit  ihrem  Aktienkapital  von 
ii,i  Millionen  M.  und  2,3  Millionen  M.  Obligationen  abtreten. 
Nicht  alle  Elbschiffahrts-Aktien  sind  an  Börsen  zugelassen.  Die 
Aktien  der  > Kette«  waren  seit  i.SH/  an  der  Berliner,  später  auch 
an  der  Dresdner ,  Hamburger  und  Leipziger  Börse ,  die  der 
»Neuen  Norddeutschen«  seit  1878  an  der  Hamburger,  die  der 
^Vereinigten«  seit  1898  an  der  Dresdner,  später  auch  an  der 
Berliner  und  Hamburger  und  die  der  »Deutsch-Oesterreichischen« 
seit  1907  an  der  Dresdner  Börse  eingeführt;  nicht  an  deutschen 
Börsen  zu  finden  sind  die  Aktien  der  »Nord-West«  und  der  »Elbe«. 
Der  Kursstand  der  einzelnen  Aktien  ist  im  Verhältnis  zuein- 
ander stets  immer  ein  sehr  verschiedener  gewesen,  ohne  daß  er 
jedoch  für  die  einzelnen  Unternehmen  große  Schwankungen  aufzu- 
weisen hat.     (Siehe  Tab.   51,  S.   139.) 

Die  Aktien  der  »Kette«  haben  stets  unter  pari  gestanden. 
Sie  notierten  1892  mit  50,75  ihren  tiefsten  und  1899  "li^  83,2 
Jahresdurchschnitt  ihren  höchsten  Stand.  Die  Aktien  der  »Ver- 
einigten« haben  zwischen  111,75  (1904)  und  149  (1899)  sich  be- 
wegt, während  den  günstigsten  Kurs  von  jeher  die  »Neue  Nord- 
deutsche« aufwies,  indem  sich  ihre  Aktien  zwischen  126  (1894) 
und   160  (1891,   1901   und   1906)  hielten. 

Noch  mehr  als  die  Kurse  weisen  die  Dividendenzahlen  Unter- 
schiede zwischen  den  verschiedener!  Gesellschaften  auf.  (Siehe 
Tab.   52,  S.    141.) 

Im  allgemeinen  kann  man  für  die  Eibschiffahrt  den  Satz 
aufstellen,  daß  je  größer  die  Unternehmungen  sind,  desto  geringer 
die  Dividenden  ausfallen.  Spiegelt  sich  auch  im  allgemeinen  bei 
jedem  Großbetriebe  in  der  Dividendenzahlung  seine  wirtschaft- 
liche Entwicklung  wieder,  so  bewahrheitet  sich  der  Satz  von 
dem  umgekehrten  Verhältnis  des  Betriebskapitals  zu  der 
Höhe  der  Dividenden  fast  mathematisch  genau,  wenn  man  die 
Durchschnittsdividende  für  die  einzelnen  Unternehmungen  von 
1887 — 1909  berechnet;  dabei  findet  man  für  die  »Neue  Deutsch- 
Böhmische«  0%,  für  die  »Kette«  2,2%,  für  die  »Nord-West« 
2,4%,  für  die  »Deutsch-Oesterreichische*  4,8%,  für  die  »Elbe« 
5,7%,  für  die  »Vereinigten«  8%  und  für  die  »Neue  Norddeutsche« 
9,4%.     Dies  zeigt  die  geringe  Rentabilität  der  Eibschiffahrt,  unter 


—     141 


Tab.  52. 
Dividenden  der  Elbschiffahrts-Gesellsch. 


I. 

2. 

3- 

4- 

5- 

6. 
Deutsch- 

7- 

Jahr 

Neue 
Norddeutsche 
Flußdampfer- 

Ges, 

»Kette« 

»Nord- 
West« 

Vereinigte 

Elb- 
schifFahrts- 

Ges. 

Oester- 

reichische 

Dampfsch.- 

Ges. 

»Elbe« 

Dampfsch.- 

A.-G. 

1887 

5>5 

0 

2 

7,5 



88 

8 

I 

2,5 

10 

— 

— 

89 

16 

2 

3,5 

12 

— 

— 

1890 

II.5 

3 

2 

12 

— 

— 

91 

5 

0,5 

2 

5 

— 

— 

92 

4 

I 

2 

10 

— 

— 

93 

5.5 

i>5 

4 

10 

— 

— 

94 

4 

3.5 

4 

12 

— 

— 

1895 

14 

4>5 

4 

12 

4 

— 

96 

9 

I 

0 

7,5 

4 

— 

97 

II 

2 

0 

10 

7 

— 

98 

II 

3 

0 

10 

0 

— 

99 

II 

5.5 

0 

10 

10 

7 

1900 

14 

5.5 

8 

10 

IG 

6 

Ol 

14 

4,5 

7 

10 

8 

8 

02 

6 

0 

5 

5 

0 

0 

03 

10 

0 

5 

4 

0 

0 

04 

6 

— 

4 

0 

0 

4 

1905 

14 

— 

4 

9 

6 

7 

06 

10 

— 

4 

10 

6 

7 

07 

6 

— 

4 

8 

6 

8 

08 

7 

— 

4 

0 

6 

8 

09 

7 

— 

4 

I 

6 

8 

1910 

4 

— 

4 

0 

6 

8 

II 

0 

— 

4 

0 

6 

8 

12 

— 

4 

0 

6 

8 

der,  wie  man  sieht,  nicht  nur  die  Kleinschiffahrt,  sondern  in  eben 
demselben  Maße  auch  die  Großschiffahrt  zu  leiden  hat,  und  die 
eine  Folge  ist  der  ungesunden  gegenseitigen  Konkurrenz. 

Dabei  darf  aber  nicht  übersehen  werden,  daß  es  im  allge- 
meinen den  Großbetrieben  in  immer  wachsendem  Maße  gelungen 
ist,  im  Betrieb  der  Eibschiffahrt  Ersparnisse  zu  machen  und  da- 
durch das  in  ihr  angelegte  Kapital  ausgiebiger  und  nutzbringen- 
der zu  verwerten.  Dies  ergibt  sich  deutlich  aus  der  folgenden 
Tabelle,  in  der  für  3  verschiedene  Jahre  Gesamtkapital,  Gesamt- 
einnahmen und  Durchschnittsdividende  aller  Elbschiffahrtsgroß- 
betriebe  nebeneinander  gestellt  sind.  Die  Jahre  sind  nach  dem 
Gesichtspunkte  ausgewählt,  daß  während  derselben  keine  be- 
sonderen Kartelle  bestanden  haben,  vielmehr  freie  Konkurrenz 
waltete. 


142      — 


Tab.   53. 

Verliältiiis    von  Gesamtaktienkapital    und  Gesamteinnahmen 

der    Groß  Unternehmungen. 


Jahr 


Gesamt- 
betriebs- 
kapital 

I  ooo  M. 


3- 

Gesamt- 
einnahmen 

I  ooo  M. 


Verteilte 

Durch- 

„     .^  ,    schnitts- 
zum  Kapital  ta-   ■  j      j 
^       .Dividende 


Höhe  der 
Einnahmen 


IS97 

19  192 

12325 

1906 

24058 

I45I2 

I90S 

30261 

13500 

63 

58 

43 


6 

7,4 
5-5 


Die  Tabelle  ergibt,  daß  der  Unterschied  zwischen  Gesamt- 
kapital und  Gesamteinnahmen  im  Laufe  der  Jahre  ein  immer 
größerer  wird,  daß  das  Kapital  schneller  wächst,  als  die  aus  ihm 
gezogenen  Einnahmen:  Trotzdem  gelang'  es  in  immer  noch 
wachsendem  oder  doch  gleichbleibendem  Maße  eine  gleich  hohe 
Verzinsung  aus  den  Einnahmen  zu  bewirken,  was  nur  durch 
relative  Verringerung  der  Betriebsausgaben  möglich  wurde. 

Versucht  man  nunmehr  noch  die  besondere  Rolle  festzu- 
stellen, die  jeder  der  einzelnen  Großbetriebe  in  Hinsicht  auf  die 
Art  seines  Geschäftsbetriebes  spielt,  so  kann  dies  am  klarsten 
durch  einen  Vergleich  der  Gesamteinnahmen  der  einzelnen  Be- 
triebe mit  seinen  einzelnen  Einnahmeposten  geschehen.  Denn 
so  wird  sich  ergeben,  aus  welcher  Geschäftsart  der  einzelne  Be- 
trieb seine  Haupteinnahmen  zieht,  und  welche  infolgedessen  für 
ihn  die  wichtigste  und  somit  die  typische  ist.  (Siehe  Tab.  54, 
S.    144  und   145.) 

Aus  dieser  Zusammenstellung  läßt  sich  entnehmen,  daß  man 
als  reine  S  c  h  1  e  p  p  Unternehmungen  die  »Vereinigten«  etwa  bis 
zum  Jahre  1898,  die  »Deutsch-Oesterreichische«  und  die  »Elbe« 
bis  zum  heutigen  Tage  ansprechen  muß.  Diese  Gesellschaften 
zogen  bei  weitem  den  größten  Teil  ihrer  Gesamteinnahmen, 
meistens  über  90  %,  aus  dem  reinen  Schleppgeschäft,  d.  h.  aus 
dem  Vermieten  der  motorischen  Kräfte  ihrer  Schleppdampfer  an 
fremde  Schiffseigner,  deren  Fahrzeuge  keine  eigenen  Antriebs- 
maschinen besitzen.  Auch  die  > Kette«  gehört  in  dem  ersten 
Dezennium  ihres  Bestehens,  bis  zum  Jahre  1880,  zu  diesen  reinen 
Schleppunternehmungen.  Das  mag  auf  den  ersten  Blick  auffällig 
erscheinen,  da  alle  diese  Unternehmungen  eigene,  sehr  beschäftigte 
Frachtbureaux,  teilweise  sogar  eigene  Frachtschiffe  besaßen.    Die 


—     143     — 

Erscheinung  erklärt  sich  jedoch  aus  der  schon  früher  bespro- 
chenen inneren  Organisation  des  Schleppgeschäftes ,  das ,  um 
Schleppkunden  zu  erhalten,  für  die  Bergfahrt  Frachten  vermittelte. 
In  diesen  Frachtbureaux  sammelten  die  Gesellschaften  nur  Fracht- 
güter und  Verfrachtungsaufträge  an,  um  sie  an  die  Privatschiffs- 
eigner zur  Ausführung  weiterzugeben.  Es  waren  also  keine  Ver- 
frachtungskontors im  strengen  Sinne,  sondern  nur  Frachtvermitt- 
lungsagenturen. Ihre  Schleppkähne  aber  vermieteten  die  Schlepp- 
gesellschaften häufig  ohne  Bemannung  an  Frachtgeschäfte,  einzelne 
Großkaufleute  oder  auch  an  Kleinschiffer,  mit  der  Bedingung, 
bei  Benutzung  zu  Bergfahrten  sich  nur  der  Schleppschiffe  der 
Gesellschaft  zu  bedienen. 

Im  Gegensatz  zu  diesen  Schleppgesellschaften  sind  als  reine 
F  r  a  c  h  t  Schiffahrtsgesellschaften  nur  die  »Neue  Norddeutsche« 
und  die  »Nord-West«  etwa  bis  zum  Jahre  1891  anzusehen.  Sie 
besitzen  zwar  auch  eine  eigene  Schleppdampferflotte,  benutzen 
dieselbe  aber  in  der  Hauptsache  nur  dazu,  ihre  eigenen  Fracht- 
kähne bergwärts  zu  befördern.  Ihre  Einnahmen  aus  Schleppent- 
schädigungen für  fremde  Fahrzeuge  treten  weit  zurück  hinter 
ihren  Einnahmen  aus  der  Frachtschiffahrt,  d.  h.  der  Beförderung 
von  Frachtgütern  in  eigenen  Schiffsgefäßen  auf  eigene  Rechnung. 
Es  mag  auffallen,  daß  in  der  Eibschiffahrt  eine  so  geringe  Zahl 
von  reinen  Frachtschiffahrts-Großbetrieben  vorhanden  ist.  Dies 
hat  seinen  Grund  darin,  daß  die  reine  Frachtschiffahrt  in  der 
Hauptsache  in  den  Händen  der  Kleinbetriebe  auch  heute  noch 
ruht,  da  sie  als  Kleinbetrieb  eher  noch  rentabel  zu  gestalten  ist, 
als  die  Schleppschiffahrt,  und  sich  vor  allem  auch  leichter  aus 
kleinen  und  kleinsten  Anfängen  und  geringeren  Betriebsmitteln 
zu  einem  wachsenden  Umfange  ausgestalten  kann. 

Gemischte  Betriebe,  d.  h.  Fracht-  und  Schleppschiffahrt 
nebeneinander  in  gleicher  Weise  betreibende  Unternehmungen 
sind  die  »Kette«  seit  1881,  die  »Nord- West«  etwa  seit  1892  und 
die  5 Vereinigten«  etwa  seit  1899.  Man  sieht  daraus,  daß  sämt- 
liche Elbschiffahrts-Gesellschaften  ursprünglich  als  Spezialunter- 
nehmungen  gegründet  worden  sind  und  erst  später  und  allmählich 
ihre  Tätigkeit  auch  auf  das  andere  Geschäftsgebiet  erweitert 
haben.  Diese  Erscheinung  findet  man  heute  auch  vielfach  in 
anderen  Großgewerben.  Bei  der  > Nord- West«  hat  die  ursprüng- 
lich ganz  nebensächlich  betriebene  Schleppschiffahrt  auch  später- 
hin   immer    etwas    hinter    der    Frachtschiffahrt    zurückgestanden. 


-      144     — 

Ta- 

Die  Einnahmen  der  Elbschiffahrls- 


I. 

2. 

3-  1 

4.   1  5- 

6.   ,  7. 

8. 

9- 

10. 

II. 

»Kette« 

>Nord 

-West« 

>Neue  Nord- 

Jahr 

Fracht- 

Schlepp- 

Fracht- 

Schlepp- 

Fracht- 

einnahmen 

einnahmen 

einnahmen 

einnah 

men 

einnahmen 

ab- 

% 
d.  Ge- 

ab- 

0/ 

/o 
d.  Ge- 

ab- 

% 
d.  Ge- 

ab- 

% 
d  Ge- 

ab- 

% 
d.Ge- 

solut 

samt- 

solut 

samt- 

solut 

samt- 

solut 

samt- 

solut 

samt- 

Einn. 

Einn. 

Einn. 

Einn. 

Einn 

1870 

_ 

, 

129 

92 







, 

. 

71 

— 

— 

245 

IOC 

— 

— 

— 

— 

72 

— 

— 

540 

100 

— 

— 

— 

— 

73 

— 

— 

726 

100 

— 

— 

— 

— 

. 

74 

— 

— 

667 

86 

— 

— 

— 

— 

1875 

— 

— 

796 

98 

— 

- 

— 

— 

7Ö 

— 

— 

874 

99 

— 

— 

— 

— 

. 

. 

77 

II 

I 

938 

97 

— 

— 

— 

— 

78 

365 

28 

936 

.  72 

— 

— 

— 

— 

. 

79 

418 

25 

993 

59 

— 

— 

— 

. 

1880 

451 

21 

1346 

62 

— 



— 

— 

. 

81 

648 

26 

1300 

52 

— 

— 

— 

— 

82 

1615 

44 

2181 

57 

1978 

80 

516 

20 

83 

2000 

42 

2664 

55 

2233 

74 

786 

26 

84 

2350 

47 

2439 

48 

2299 

77 

708 

23 

1885 

2358 

51 

2042 

45 

2137 

76 

693 

24 

86 

2182 

53 

1736 

42 

2046 

80 

500 

20 

87 

2089 

51 

1740 

42 

2104 

78 

615 

22 

88 

2263 

54 

1913 

44 

2338 

79 

645 

21 

645 

93 

89 

2373 

53 

2071 

46 

2534 

75 

854 

25 

1890 

2518 

53 

2127 

45 

2562 

73 

975 

27 

809 

95 

91 

2242 

48 

2318 

50 

2392. 

68 

1088 

32 

92 

1907 

45 

2152 

51 

2044 

65 

1131 

35 

93 

1833 

44 

2323 

56 

1999 

50 

2020 

50 

94 

1647 

42 

2191 

58 

I961 

50 

1952 

50 

1895 

1971 

35 

2270 

64 

2063 

59 

1903 

41 

96 

1914 

. 

1743 

51 

1709 

49 

835 

90 

97 

2139 

1945 

49 

1976 

51 

851 

88 

98 

2282 

2087 

55 

1698 

45 

99 

2451 

2190 

54 

1930 

46 

1900 

2506 

.■ 

Ol 

2256 

. 

935 

78 

02 

1488 

• 

. 

801 

87 

03 

1 

. 

944 

95 

04 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

1905 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

i   — 

-  — 

06 

— 

— 

— 

— 

— 

1 

— 

992 

88 

07 

— 

— 

— 

— 

— 



j   — 

— 

. 

08 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

09 

— 

— 

1 

— 

— 

— 

1 

— 

1045 

78 

1910 

— 

— 

1   

— 

— 

— 

1   — 

— 

12 

- 

- 

- 

1 

- 

— 

— 

— 

— 

145     — 


belle  54. 

Großbetriebe.      1S70 — i  9  i  2. 

1000  M. 


12.  1  13. 

14.    1  15.  II     16. 
»Verein.  Elbsch.- 

17-    1  18.  II     19. 
»Deutsch- 

20. 

21. 

1     22. 

23. 
»Neue 

deutsche« 

Gesellschaft« 

Oesterreichische  < 

>Elbe 

« 

Deutsch- 
Böhm.« 

Schlepp- 

Schlepp- 

Ges.- 

Schlepp- 

Ges.- 

Schlepp- 

Ges.- 

Gesamt- 

einnahmen 

einnahmen 

Einn. 

einnahmen 

Einn. 

einnahmen 

Einn. 

Einnahm. 

ab- 

% 
d  Ge- 

ab- 

% 

d.Ge- 

ab- 

ab- 

% 
d.Ge- 

ab- 

ab- 

% 
d.Ge- 

ab- 

absolut 

solut 

samt- 

solut 

samt- 

solut 

solut 

samt- 

solut 

solut 

samt- 

solut 

Einn. 

Einn. 

lEinn. 

Einn. 

599 
649 
748 
709 
805 
982 
1072 

- 

- 

( 

- 

— 

— 

— 

— 

— 

1 

— 

959 
1000 
1126 

1599 
1580 

1693 



— 



— 

— 

— 

— 

8 

0 

) 

9 

6 

I 

754 

— 

— 

347 

— 

— 

— 

— 

102 

II 

1567 

92 

I  693 

526 

92    1 

570 

— 

— 

— 

— 

1882 

,       . 

627 

— 

— 

— 

— 

2268 

. 

843 

437 

99 

440 

— 

2689 

912 

466 

97 

479 

— 

273 

22 

2527 

710 

86 

823 

587 

98 

595 

— 

120 

13 

1890 

501 

469 

98 

477 

— 

43 

5 

2133 

599 

492 

99 

495 

— 

6756 

•     i   1093 

591 

99 

596 

— 

10  316 

2123 

804 

98 

818 

— 

116 

II 

10303 
12  922 

2223 
420 

847 

97 

866 
200 

73 

10857 

— 

— 

423 

— 

— 

200 

1617 

126 

22 

II  708 

— 

— 

428 

— 

— 

200 

2136 

9654 

— 

— 

420 

— 

— 

200 

2079 

9  181 

— 

— 

402 

— 

— 

200 

2003 

II 

III 

~ 

402 

— 

— 

200 

2618 

Zeitschrift  für  die  ges.  Staatswissensch.     Ergänzungsheft  50. 


10 


—     146    — 

Bei  den  beiden  anderen  gemischten  Unternehmungen  aber  sind 
die  beiden  Spezialgebiete  später  ganz  gleichstark  ausgebildet 
worden  und  je  nach  der  Konjunktur  haben  die  Einnahmen  bald 
aus  der  einen,  bald  aus  der  anderen  Geschäftsart  überwogen. 
Die  gemischten  Betriebe  stellen  ein  fortgeschritteneres  Stadium 
des  Schiffahrtsbetriebes  dar,  weil  sie  zwei  notwendige,  untrennbare 
Bestandteile  des  Binnenschiffahrtstransportes,  nämlich  die  Stellung 
des  Schiffsraumes  und  die  Fortbewegung  desselben  in  einer 
Hand  vereinigen. 

Schließlich  sei  noch  darauf  hingewiesen,  daß  man  bei  den 
Elbschiffahrts-Großbetrieben  eine  Betriebskombination  viel  seltener 
und  in  viel  geringerem  Umfange  antrifft,  als  etwa  bei  der  Rhein- 
schiffahrt. iMan  findet  an  der  Elbe  nur  Werften  und  Maschinen- 
fabriken mit  den  Schiffahrtsunternehmungen  verbunden,  welche 
sie  ursprünglich  als  Reparaturwerkstätten  und  höchstens  für  den 
Neubau  eigener  Fahrzeuge  errichtet  oder  erworben  hatten,  später 
aber  auch  für  fremde  Rechnung  arbeiten  ließen.  Derartige  indu- 
strielle Nebenbetriebe  haben  die  »Kette«  (in  Dresden)  die  >Nord- 
West«  (in  Dresden)  und  die  »Vereinigten«  (in  Dresden  und  Magde- 
burg) besessen  und  teilweise  nicht  unbedeutenden  Gewinn  aus 
ihnen  gezogen.  Doch  erwies  es  sich  bei  den  starken  Konjunktur- 
schwankungen, denen  die  deutsche  Maschinen-  und  Schiffsbau- 
industrie von  jeher  unterworfen  gewesen  ist,  als  nicht  zweck- 
mäßig, die  selbst  mit  großen  wirtschaftlichen  Schwierigkeiten 
kämpfende  Eibschiffahrt  mit  einer  gleichfalls  schweren  Kämpfen 
unterworfenen  Industrie  allzu  eng_^  zu  verbinden.  So  hat  man 
sich  fast  immer,  sobald  die  Werften  und  Maschinenbaubetriebe 
einen  größeren  Umfang  angenommen  hatten,  entschlossen,  die- 
selben zu  veräußern,  zu  verpachten  oder  zu  selbständigen  Aktien- 
unternehmungen umzuwandeln,  deren  Aktien  man  zunächst  in 
eigenem  Besitz  behielt. 


147     — 


3-  Abschnitt. 

Die    wirtschaftlichen   Vereinigungen   und 
Kartelle  in  der  Eibschiffahrt. 

I.  Kapitel. 

Die    wirtschaftlichen    Vereinigungen    in    der    Klein- 
schiffahrt. 

I.  Die  Entwicklung  des  Verband-Gedankens  bis  1903. 

Bei  einem  so  umfassenden  alten  Stande,  wie  es  die  Privat- 
schiffseigner sind,  ist  es  wohl  in  unserer  Zeit  der  Zusammen- 
schlüsse und  Vereine  als  selbstverständlich  anzunehmen,  daß  auch 
er  seme  zahlreichen  Standesvereinigungen  besitzt.  Diese  sind 
denn  auch  in  großer  Zahl  im  Eibgebiet  vorhanden.  So  gibt  es 
fast  in  jedem  größeren  Eibhafen  eine  solche,  in  der  sich  ent- 
weder die  an  diesem  Orte  oder  in  dessen  Nähe  beheimateten 
oder  auch  die  ihn  auf  ihren  Frachtfahrten  regelmäßig  anlaufen- 
den Kiemschiffer  zusammenfinden.  Der  älteste  von  ihnen  ist  der 
»Konzessionierte  Sächsische  Schiffer- Verein«  in  Dresden,  der  1846 
gegründet  wurde  und  1909  232  Mitglieder  besaß.  Von  Bedeu- 
tung sind  außerdem  noch  der  .Elbeverein,  in  Aussig  (gegründet 
1875;  139  Mitglieder  im  Jahre  1909),  der  »Magdeburger  und 
Akener  Schifferverein «,  der  »Verein  zur  Förderung  der  Eibschiff- 
fahrt in  Magdeburg«,  der  »Hamburger  Verein  für  Flußschiffahrt« 
und  der  »Hamburger  Verein  überländischer  Schiffer«.  Insgesamt 
gibt  es  etwa  20-25  solcher  Vereine,  deren  Zweck  die  Förderung 
der  Eibschiffahrt  auf  der  Elbe  und  die  Vertretung  ihrer  Mitglie- 
der ist.  Ihre  weitaus  größte  Mitgliederzahl  setzt  sich  aus  Privat- 
schiftseignern  zusammen,  was  aber  nicht  ausschließt,  daß  in  fast 
jedem    dieser  Vereine    auch  ein  oder  zwei  größere  Schiffahrtsge- 


10 


* 


-     US     - 

Seilschaften  als  Mitglieder  vertreten  sind.  Ihrem  Wesen  nach 
sind  sie  Vereinigungen  zur  Vertretung  von  Berufs-  und  Standes- 
interessen. Sie  suchen  das  Schiffergewerbe  im  allgemeinen  zu 
fördern,  ohne  aber  ihren  Mitgliedern  wirtschaftliche  Vorteile  un- 
mittelbar zu  verschaffen,  oder  unmittelbar  in  das  Gewerbe  mit 
bessernder  Hand  einzugreifen.  Sie  stellen  also  keine  w  i  r  t- 
schaftliche  Vereinigungen  dar,  wie  sie  hier  allein  behandelt 
werden  sollen,  so  daß  auf  sie  nicht  näher  einzugehen  ist.  Es  sei 
nur  bemerkt,  daß  diese  Vereine  besonders  durch  den  »Zentral- 
ausschuß der  PrivatscWffer-Vereine*,  der  15  Vereine  mit  675  Mit- 
gliedern in  sich  zusammenfafk,  wiederholt  die  Anregung  gegeben 
haben  zur  Gründung  von  wirtschaftlichen  Vereinigungen  im  Klein- 
schiffergewerbe. 

Die  wirtschaftlichen  Schiffervereinigungen  stellen 
ausschließlich  Befrachtungsvereine  oder  Betriebsgenossenschaften 
dar,  deren  Zweck  es  ist,  die  immer  unrentabler  werdenden  Fracht- 
vergütungen aufzubessern.  Dabei  ist  auffällig,  daß  bei  der  schlech- 
ten wirtschaftlichen  Lage  des  Schiffergewerbes,  die  dauernd  noch 
im  Wachsen  begriffen  ist,  derartige  Zusammenschlüsse,  wie  wir 
sie  auf  allen  Gebieten  unseres  "Wirtschaftslebens  heutzutage  so 
häufig  in  Gestalt  von  Wirtschaftsgenossenschaften  finden,  in  den 
Kreisen  der  Eibschiffahrt  nur  in  geringer  Zahl  anzutreffen  sind. 
Es  mag  dies  mit  der  Natur  des  Schiffergewerbes  überhaupt  zu- 
sammenhängen. Die  große  örtliche  Zersplitterung  und  die  un- 
ruhige Lebensweise  der  Schiffer,  der  heiße  Konkurrenzkampf  und 
wohl  auch  nicht  zum  geringen  Teile  die  niedere  soziale  und 
kulturelle  Stufe,  auf  der  sie  leben  und  aus  der  es  ihnen  wegen 
ihrer  dürftigen  Lebensverhältnisse  nur  sehr  schwer  fällt,  sich 
emporzuarbeiten ,  bilden  nicht  geringe  Hindernisse  für  einen 
engeren  Zusammenschluß,  eine  Erscheinung,  die  wir  auch  auf 
anderen  deutschen  Flüssen  beobachten  können. 

Innerhalb  der  Befrachtungsvereine  kann  man  w'ieder  zwei 
verschiedene  Arten  unterscheiden.  Entweder  sind  sie  nämlich 
selbständige,  ausschließlich  aus  Schiffern  bestehende  Verbände, 
die  ihre  Mitglieder  durch  Errichtung  eines  eigenen  Frachtkontors 
von  berufsmäßigen  Frachtvermittlern  freimachen  und  verhüten 
wollen ,  daß  der  einzelne  Privatschiffseigner  hilflos  unter  der 
Menge  seiner  Berufsgenossen  und  Mitbietenden  selbst  fracht- 
suchend auftreten  muß ;  oder  sie  sind  solche  Verbände,  die  sich 
im    Anschluß    oder    unter    dem   Schutze    von    großen  Frachtver- 


—     149     — 

mittlem  oder  Großschiffahrtsunternehmungen  gebildet  haben,  um 
durch  letztere  lohnende  Frachten  oder  Beschäftigung  zu  festen 
Sätzen  zu  finden,  so  daß  sie  des  selbständigen  Bietens  auf  dem 
Frachtmarkt  überhoben  sind. 

Diese  Zusammenschlüsse  innerhalb  der  Kleinschiffahrt,  die 
eine  Umwandlung  der  sozialen  Stellung  der  Schiffer  einleiteten, 
sind  eine  natürliche  Folge  der  Entwicklung  des  F"rachtschiffahrts- 
geschäftes.  Schon  in  den  70  er  Jahren  kam  unter  den  Klein- 
schiffern der  Gedanke  auf,  sich  in  den  wichtigsten  Häfen,  vor 
allem  in  Hamburg  eigene  Befrachtungskontore  zu  errichten. 

In  letzterem  Hafen  bestand  zwar  an  sich  schon  der  Beruf 
der  Frachtvermittler ,  der  sogenannten  Schiffsprokureure  oder 
Schiffshaupter.  Diese  aber  waren  bei  dem  Aufschwung,  den  die 
Eibschiffahrt  genommen  hatte,  an  Zahl  sehr  bedeutend  gewach- 
sen, so  daß  unter  ihnen  ein  sehr  starker  Wettbewerb  um  Fracht- 
aufträge entstand,  in  dessen  Folge  bei  ihren  steten  Unterbietungs- 
versuchen  die  Frachtsätze  bedeutend  gedrückt  wurden,  ohne  daß 
sie  selbst  davon  Schaden  gehabt  hätten.  Denn  ihr  Verdienst 
bestand  ja  nicht  in  den  Frachtpreisen  an  sich,  sondern  nur  in 
der  Differenz  zwischen  der  ihnen  bewilligten  und  der  von  ihnen  an 
den  Schiffer  gezahlten  Fracht,  soweit  sie  nicht  feste  Vermittlungs- 
gebühren erhoben.  Sanken  nun  infolge  der  gegenseitigen  Kon- 
kurrenz der  Frachtvermittler  die  von  den  Verfrachtern  bewilligten 
Preise,  so  drückten  jene  wiederum  in  entsprechendem  Maße  die 
von  ihnen  an  die  Schiffer  zu  zahlenden  Vergütungen  herab,  so 
daß,  während  ihr  Verdienst  annähernd  gleich  blieb,  den  Schaden 
die  Schiffseigner  allein  zu  tragen  hatten.  Diesem  Uebelstand  zu 
steuern  und  die  Frachtvermittler  zu  umgehen,  sollten  die  eigenen 
Frachtkontore  der  Privatschiffer  dienen. 

Der  älteste  derartige  wirtschaftliche  Kleinschifferverband 
stammt  aus  dem  Jahre  1871.  Damals  trat  in  Dresden  ein  »Be- 
frachtungsverein der  Elbeschiffer«  zusammen,  der  einmal  eine 
reichliche  Beschaffung  von  Frachtaufträgen  zu  günstigen  Fracht- 
sätzen erstrebte,  und  anderseits  eine  gleichmäßige  Beschäftigung 
seiner  Mitglieder  durch  Verteilung  der  Aufträge  an  sie  in  der 
Reihenfolge  ihrer  Ankunft  oder  Anmeldung  im  Befrachtungshafen 
zu  bewirken  suchte  (System  der  Reihenschiffahrt).  Doch  dieser 
erste  Versuch  mißlang;  nach  kurzem  Bestehen  ging  der  Verein 
wieder  ein. 

Erst  im  Jahre   1876  wurde  dieser  an  sich  gesunde  und  Erfolg 


—     150    — 

versprechende  Gedanke  von  den  KlcinschilVern  wieder  aul'j^^e- 
nommen:  iS  Schitiseigner  mit  22  Kähnen  und  einem  Transport- 
dampfer vereinigten  sich,  um  für  den  Verkehr  zwischen  1  Lim- 
burg und  Dresden  einen  Ladeverband  zu  begründen.  Ihre  Stel- 
kmg  war  anfangs  eine  sehr  schwierige  und  wenig  erfolgreiche, 
da  sie  sehr  stark  gegen  die  Konkurrenz  der  Prager  Dampfschiff- 
fahrtsgesellschaft und  der  Elb-Dampfschiffahrts-Gesellschaft  anzu- 
kämpfen hatten,  die  beide  zu  jener  Zeit  noch  ausschließlich  den 
überdies  noch  ziemlich  schwachen  Verkehr  von  Hamburg  nach 
Sachsen  und  Böhmen  beherrschten.  Doch  fand  er  eine  starke 
Stütze  in  der  Kettenschleppschiffahrts-Gesellschaft,  die  damals 
gerade  bemüht  war,  ihren  Verkehr  über  Magdeburg  hinaus  bis 
Hamburg  auszudehnen.  Diese  trat  denn  auch,  als  sie  im  folgen- 
den Jahre  1877  die  Frachtschiffahrts-Gesellschaft  in  sich  aufge- 
nommen hatte,  dem  Verbände  mit  ihrem  gesamten  eigenen  Fracht- 
schiffpark als  Mitglied  bei  und  stellte  ihr  eigenes  Frachtkontor 
unter  Leitung  des  Prokureurs  Julius  Schott  dem  Verbände  zur 
Verfügung.  Die  Vereinigung  legte  sich  nunmehr  den  Namen 
»Verband  Oberelbischer  Schiffer«  bei  und  nahm  eine  Neuorgani- 
sation im  engsten  Anschluß  an  die  Ketten-Schleppschiffahrts- 
Gesellschaft  vor.  Die  Mitglieder  verpflichteten  sich,  bei  jeder 
Bergreise  ab  Hamburg  Ladung  nur  von  dem  Frachtkontor  der 
Gesellschaft  zu  nehmen  und  als  Schleppkraft  sich  nur  der  Dampfer 
der  verbündeten  Gesellschaft  zu  bedienen :  dafür  gewährte  letztere 
den  Mitgliedern  einen  IMeistbegünstigungstarif  bei  Berechnung 
der  Schlepplöhne,  der  eine  Ermäßigung  von  20 — 25%  des  Normal- 
tarifes  darstellte,  besorgte  unentgeltlich  die  Einkassierung  der 
Frachten  für  die  Schiffer,  berechnete  ihnen  nur  eine  ganz  geringe 
Gebühr  für  die  Zuweisung  der  Ladung  durch  ihr  Frachtkontor 
und  sicherte  ihnen  schließlich  eine  reihenweise,  gleichmäßige, 
schnelle  Beladung  in  Hamburg  zu.  Auch  war  den  Mitgliedern 
die  ^lögiichkeit  gegeben,  besonders  günstige  Versicherungsver- 
träge für  Havarieunfälle  sowie  für  unverschuldeten  Frachtverlust 
abzuschließen.  Die  Leitung  des  Verbandes  lag  in  den  Händen  der 
Ketten-Schleppschiffahrts-Gesellschaft  im  Einvernehmen  mit  einer 
aus  fünf  Privatschiffern  bestehenden  Vertrauenskommission;  alljähr- 
lich mußte  mindestens  eine  Versammlung  der  Mitglieder  stattfinden, 
in  der  die  Vertrauensmänner  gewählt,  Beschwerden  vorgelegt 
und  erledigt  sowie  etwaige  Differenzen  zwischen  Verbandsschiffern 
und  der  Gesellschaft  verhandelt  und  beigelegt  wurden. 


151     — 


So  wurden  durch  diesen  Verband,  der  eine  eigentümliche 
Vereinigung  von  Großschiffahrt  und  Kleinschiffahrt  darstellt,  zwei 
ganz  verschiedene  Interessen  wahrgenommen.  Die  Schleppschiff- 
fahrts-Gesellschaft  sicherte  sich  eine  feste  Schleppkundschaft  für 
ihre  Dampfer,  und  die  Schiffseigner  erhielten  unter  den  günstig- 
sten Bedingungen  ohne  eigenes  Bemühen  Frachten  zugewiesen, 
aus  denen  die  Frachtpreise  ihnen  voll  zuflössen  und  sofort  bar 
ausgezahlt  wurden. 

Dieser  Verband,  der  Ende  der  70  er  Jahre  den  Konkurrenten 
gegenüber  eine  starke  Macht  bildete,  wurde  das  Vorbild  zahl- 
reicher anderer  ähnlicher  Verbände.  Während  der  80er  Jahre 
war  an  jede  der  drei  großen  Schleppschiffahrtsunternehmungen 
ein  solcher  »Verband  Oberelbischer  Schiffer«  angeschlossen  und 
arbeitete  zur  größten  Zufriedenheit  der  Beteiligten.  Das  aus- 
schlaggebende, Forderungen  stellende  Element  in  diesen  Ver- 
einigungen waren  fast  immer  die  Kleinschiffer,  weshalb  man  die 
Verbände  auch  mit  Recht  als  wirtschaftliche  Kleinschifferorgani- 
sationen ansprechen  darf.  Die  Gesellschaften  waren  fast  immer 
bemüht,  ihren  Verbandsschiffern,  wie  die  Mitglieder  dieser  Ver- 
bände genannt  wurden,  jede,  nur  einigermaßen  billige  Konzession 
zu  machen,  um  sie  nicht  an  den  Verband  der  Konkurrenzgesell- 
schaft zu  verlieren.  Die  Entwicklung  des  »Verbandes  Oberelbi- 
scher Schiffer«,  der  der  > Kette«  angeschlossen  war,  zeigt  Tab.  55. 

Tab.  55. 

Entwicklung   des    >Verbandes  Oberelbischer  Schiffer« 

(unter  Leitung  der  »Kette«) 


I. 
Jahr 

2. 

Zahl 

der 

Mitglieder 

3- 

Zahl  der 

Schleppkähne 

(mit  Einschluß 

der  Kähne 

der  »Kette«) 

1S77 

1879 
I88I 
1883 
1885 
1886 
1887 
1888 

1892 


16 


383 

334 
287 
274 
283 
243 


23 

80 

460 

619 

457 
401 

515 
517 
461 


Gegen  Mitte    der  80er  Jahre    trat    insofern    eine  Aenderung 
in  der  Stellung    der  Verbandschiffer    ein,    als    die  Gesellschaften 


—     152     — 

den  Schiffern  nicht  mehr  den  wirklichen  Betrag  der  für  die  be- 
förderten Frachtgüter  vereinnahmten  Frachtpreise  auszahlten, 
sondern  den  Schiffern  je  auf  die  Dauer  eines  Jahres  für  je  loo  kg 
der  von  der  Gesellschaft  zur  Beförderung  erhaltenen  Gütermenge 
eine  bestimmte  feste  Summe,  meist  zwischen  lo  und  15  Pfg. 
garantierten  und  außerdem  ihnen  das  Schleppen  ihrer  mit  Ge- 
sellschaftsfracht beladenen  Fahrzeuge  unentgeltlich  gewährten 
(System  der  Anteilsfrachten).  Es  wurde  den  Kleinschiffern  somit 
jedes  Risiko  abgenommen,  welches  das  Frachtgeschäft  durch  die 
Schwankungen  der  Frachtpreise,  zumal  wenn  es  auf  längere  Zeit 
im  voraus  abgeschlossen  wurde  (sog.  Schlußfrachten),  mit  sich 
brachte,  dafür  aber  ihre  wirtschaftliche  Selbständigkeit  verringert. 
Es  kam  somit  zwischen  Gesellschaft  und  Kleinschiffer  eine  Art 
Mietvertrag  betreffs  des  Schleppkahnraumes  zustande,  dessen 
Wirksamkeit  jedoch  von  der  in  dem  freien  Ermessen  des  Klein- 
schiffers stehenden  Anwesenheit  desselben  in  Hamburg  abhing. 
Stets  galten  diese  Schifferverbände  nur  für  die  Bergschiffahrt. 
Welchen  Umfang  sie  aber  auf  der  Elbe  angenommen  hatte  und 
wie  groß  ihre  Bedeutung  für  die  gesamte  wirtschaftliche  und 
soziale  Stellung  der  Kleinschiffahrttreibenden  gewesen  ist,  kann 
man  aus  der  Mitglieder-  und  Schiff'szahl  der  einzelnen  Ver- 
bände ersehen,  wie  sie  für  das -Jahr  1892  in  Tab.  56  wiederge- 
geben ist. 

Tab.  56. 
Mitgliederstand    der   Schifferverbände,  der   3    großen    Gesellschaften 

imjahrei89  2. 


I. 

Leitende 
Gesellschaft 

2. 

Zahl  der 
{1  Mitglieder 

3- 

Zahl  der 
Fahrzeuge 

»Kette« 
»Nord-West« 
Verein.  Elbsch.  Ges. 

243 
318 
310 

461 
341 
330 

Summe     !|        871         |       l  132 

Neben  diesen  Fracht-  und  Schleppverbänden  schlössen  die 
Gesellschaften  —  ebenfalls  nach  Vorbild  der  > Kette«  —  auch  die- 
jenigen Schiff'seigner  zu  Verbänden  oder  Vereinen  zusammen, 
die  sich  unter  Verzicht  auf  Frachtzuweisung  durch  die  Gesell- 
schaft gleichwohl  zur  ausschließlichen  Benutzung  ihrer  Schlepp- 
kraft für  die  Bergfahrt  verpflichtet  hatten;  doch  kann  man  diese 


—     153     — 

Vereinigungen  kaum  als  wirtschaftliche  Kleinschiffer- Vereine  an- 
sehen, sie  sind  vielmehr  Organisationsteile  der  Großbetriebe. 

War  somit  schon  frühzeitig  und  sachentsprechend  die  Or- 
ganisierung der  kleinbetrieblichen  Bergschiffahrt  in  Verbindung 
mit  den  Großbetrieben  gelungen,  so  fehlte  es  lange  Zeit  voll- 
ständig an  einer  solchen  Einrichtung  in  der  Talschiffahrt.  Frei- 
lich war  hier  bei  der  reichlichen  und  lohnenden  Beschäftigungs- 
möglichkeit, besonders  im  Aussiger  Kohlenfrachtgeschäft,  eine 
Zentralisierung  anfangs  noch  kein  dringendes  Bedürfnis.  Ein 
solches  stellte  sich  jedoch  sofort  ein,  als  infolge  Abnahme  des 
Güterangebotes  und  Zunahme  des  Kahnraumangebotes  Anfang 
der  90  er  Jahre  auch  dieser  Geschäftszweig  der  Eibschiffahrt  zu 
verfallen  drohte. 

Die  erste  Anregung  zu  einer  Organisierung  der  Talschiffahrt 
ging  von  dem  Magdeburger  Schiffer- Verein  Mitte  des  Jahres  1894 
aus,  als  sowohl  das  Berg-  wie  das  Talgeschäft  während  der 
letzten  i  V2  Jahre  eine  sehr  tief  gesunkene  und  unrentable  Kon- 
junktur auszuhalten  hatte.  In  einem  Zirkular,  das  dieser  Verein 
unter  den  Schiffern  verteilen  ließ,  sagte  er :  »Der  Schiffer,  der  nicht 
mehr  selbständig  direkt  mit  dem  Kaufmann  verkehrt,  sondern  in  der 
Erlangung  von  Ladung  von  den  selbständig  frachtabschließenden 
Dampfschiffahrts-Gesellschaften,  Spediteuren  und  sonstigen  Fracht- 
vermittlern abhängig  geworden  ist,  findet  hierbei  nur  so  lange 
sein  Auskommen,  als  die  freie  Konkurrenz  der  Dampfschiffahrts- 
Gesellschaft  und  der  Schiffer  nicht  eine  zu  große  ist.  Die  Schiff- 
fahrts-Gesellschaften  sind  aber  gezwungen,  um  Beschäftigung  für 
ihre  Dampfer  zu  erlangen,  im  Berggeschäft  zu  fabelhaft  billigen 
Frachten  auf  lange  Zeit  hinaus  Abschlüsse  zu  machen,  wodurch 
eine  gesunde  Konjunktur  nur  in  den  seltensten  Fällen  aufzu- 
kommen vermag.  Um  hierin  eine  Besserung  zu  schaffen,  schlägt 
der  Verein  vor:  i.  die  Bildung  eines  allgemeinen  Vereins  der 
an  der  Elbe  und  Saale  ansässigen  Schiffseigner  und  Schiffahrts- 
gesellschaften. 2.  Errichtung  von  Schiffahrtsbezirken  und  Lade- 
bureaux  unter  Oberleitung  von  Privatschiffseignern  längs  der  gan- 
zen Elbe  und  Saale  zum  Zwecke  der  Erlangung  von  Fracht- 
gütern und  Erhaltung  der  Frachtsätze  auf  einem  gesunden  Niveau. 
3.  Errichtung  einer  gemeinsamen  Kasse,  welche  in  erster  Linie 
den  Zweck  haben  soll,  einer  zeitweiligen  Ueberproduktion  an 
Kahnraum  durch  Zahlung  von  Entschädigungen  an  diejenigen 
Kollegen    zu    bewirken,    die   vom  Verein  veranlaßt  werden,    ihre 


—     154     — 

Fahrzeuge  still  zu  legen,  und  ]  Darlehen  an  würdige  Schiffseigner 
abzugeben,  damit  diese  nicht,  wie  es  heute  häufig  vorkommt,  in 
die  Notlage  geraten,  von  einem  Frachtabsender,  um  von  ihm 
einen  Vorschuß  zu  erhalten,  die  erste  beste  ihm  zu  erbärmlichem 
Preise  angebotene  Ladung  anzunehmen.« 

Zur  Beratung  dieses  Vorschlages  berief  der  Magdeburger 
Schiffer- Verein  Anfang  Juli  1894  eine  Versammlung  von  145  Schiffs- 
eignern und  Gesellschaftsdirektoren  ein,  in  der  die  Zustimmung 
aller  Elbschiffahrttreibenden  zu  dem  Projekt  festgestellt  werden 
konnte  und  eine  Kommission  zur  Vorbereitung  und  Gründung 
der  Vereinigung  gewählt  wurde.  Die  Gründung  erfolgte  denn 
auch  in  einer  konstituierenden  Versammlung  am  25.  Januar  1895 
in  Magdeburg.  Der  Verein  legte  sich  den  Namen  »Vereinigung 
zur  Hebung  der  wirtschaftlichen  Lage  der  Eibschiffahrt  <•  zu  und 
wählte  zu  seinem  ersten  Vorsitzenden  den  Schiffseigner  Gustav 
Tonne,  zum  zweiten  Vorsitzenden  den  Direktor  der  »Elbe<  und 
Schiffseigner  Wilhelm  Böhme.  Man  entschloß  sich,  die  Tätigkeit 
der  Vereinigung  mit  der  Regelung  des  Aussiger  Kohlenfracht- 
geschäftes zu  beginnen,  weil  hier  ein  Eingreifen  augenblicklich 
am  notwendigsten  war,  und  für  ein  Kohlenfrachtkartell  schon 
über  lOCXD  Beitrittserklärungen  seit  Mitte  Januar  vorlagen. 

Die  Wirksamkeit  am  Aussiger  Markte  wurde  in  der  Weise  einge- 
leitet, daß  dort  zwei  Schiffseigner  als  Prokureure  angestellt  wurden, 
durch  die  ausschließlich  die  Mitglieder  der  Vereinigung  ihre  Frachten 
vermitteln  lassen  durften.  Als  Vermittlungsgebühr  wurden  ^'2  Vo 
der  Fracht  zu  gunsten  der  Vereinskasse  erhoben ;  für  die  Fracht- 
sätze galten  folgende  Bestimmungen :  Die  Kohlenfrachten  von 
Aussig  nach  sächsischen  Stationen  bleiben  dem  freien  Ermessen 
der  Frachtvermittlungsbeauftragten  überlassen;  für  Kohlenfrachten 
von  Aussig  nach  Magdeburg  sind  30  Pfg.  für  ein  Doppelhekto- 
liter (=  0,56  Pfg.  pro  tkm)  und  nach  Hamburg  40  Pfg.  (28  Pfg. 
für  100  kg  =  0,41  Pfg.  pro  tkm)  bei  vollschiffigem  Wasser  als 
Mindestfracht  zu  zahlen;  bei  Abnahme  des  Wasserstandes  er- 
höhen sich  diese  Sätze  staffeiförmig.  Die  Vereinigung  trat  mit 
Eröff"nung  der  Schiffahrt  1895  i^  Wirksamkeit. 

Dieser  Minimalfrachtsatz  von  30  Pfg.  für  i  Doppelhektoliter 
(=  0,56  Pfg.  pro  tkm)  Aussig — Magdeburg  war  nicht  zu  hoch 
bemessen;  er  war  in  den  letzten  12  Jahren  von  18S1  — 1893  nur 
an  22  Tagen  als  Minimalgrenze  erreicht,  im  letzten  Betriebs- 
jahre   1894   jedoch,    während    der    Sommermonate    infolge    sehr 


—     155     - 

starker  Konkurrenz  des  Kahnraumes  zur  Regel  geworden.  Da 
in  diesen  30  Pfg.  aber  noch  6  Pfg.  Ausladekosten  enthalten 
waren,  die  der  Empfänger  zu  tragen  hatte,  so  beliefen  sich  die 
Transportkosten  für  die  Aussiger  Kohlenproduzenten  in  Wirk- 
lichkeit nur  auf  24  Pfg.  für  i  Doppelhektoliter  oder  16  M.  für 
10  t  Aussig-Magdeburg  zu  Wasser,  während  sie  auf  dem  Land- 
wege mit  der  Eisenbahn  Brüx-Magdeburg  89  M.  für  10  t  be- 
trugen. 

Trotzdem  bei  diesem  Satze  dem  Schiffer  nur  ein  geringer 
Verdienst  übrig  blieb,  erhob  sich,  als  mit  Schiffahrtseröffnung 
1895  die  Schiffer  geschlossen  auf  ihren  Forderungen  bestanden, 
eine  große  Erregung  und  heftiger  Widerstand  unter  den  Aussiger 
Kohlenverfrachtern,  die  gerade  im  Begriff  waren,  mit  Hilfe  der 
Regierung  zu  ihren  Gunsten  eine  amtliche  P>achtbörse  in  Aussig 
zu  errichten.  Der  Magdeburger  Kohlenhändlerverein ,  der  in 
engster  Fühlung  mit  den  Aussiger  Kohleninteressenten  stand, 
drohte  mit  Anschaffung  eigener  Frachtkähne,  worauf  der  Akener 
Schifferverein  in  Verbindung  mit  der  »Vereinigung«  die  Gründung 
einer  Kohlenverkaufsgenossenschaft  längs  der  Elbe  ankündigte; 
doch  blieben  beide  Maßnahmen  unausgeführt. 

Bei  der  Eröffnung  der  Aussiger  Kohlenverfrachtung  weigerten 
sich  fast  1300  Schiffer  geschlossen,  Frachten  unter  dem  Minimal- 
satz anzunehmen;  sie  drangen  auch  schließlich  den  Kohlen- 
interessenten gegenüber  durch,  da  diese  notgedrungen  sich  fügen 
mußten.  Sie  richteten  jedoch  eine  Eingabe  an  die  K.  K.  Bezirks- 
hauptmannschaft, infolge  deren  die  Behörde  das  Frachtvermitt- 
lungsbureau der  Kohlenfrachtkartelle  als  gesetzwidrig  verbot 
und  auflöste  mit  der  Begründung,  daß  es  als  Winkelbörse  anzu- 
sehen sei,  ein  »Eingreifen  in  die  Exekutive«  darstelle,  und  weil 
es  eine  freie  Frachtvereinbarung  zwischen  Ablader  und  Schiffer 
verhindere,  eine  Frachtvereinbarung  zuwider  der  Elbschiff- 
fahrtsakte  bilde.  Gegen  diese  behördliche  Verfügung  legten  die 
Schiffer  Rekurs  bei  der  Statthalterschaft  in  Prag  ein,  derselbe 
wurde  aber  abschläglich  beschieden,  »weil  die  erwähnte  Ver- 
einigung ihren  gesetzlichen  Bestand  in  keiner  Weise  nachgewiesen 
hat,  somit  zur  Entwicklung  einer  Tätigkeit  hierlands  nicht  be- 
rechtigt bzw.  legitimiert  erscheint.« 

Trotz  dieses  behördlichen  Eingreifens  hielten  aber  die  Schiffer 
freiwillig  unter  der  Führung  der  beiden  bestellten  Frachtver- 
mittler des  Kartells  Gruß  und  Bergmann  zusammen,  und  setzten 


-     156    - 

auch  weiterhin  ihre  Forderungen  durch.  Diese  beiden  Fracht- 
vermittler aber  überspannten  gegen  den  Willen  des  Vorstandes 
der  :> Vereinigung«  aus  eigenem  Antrieb  in  Ueberschätzung  ihrer 
eigenen  Macht  den  Bogen,  indem  sie  nunmehr  (Mitte  Mai)  als 
Minimalsatz  40  Pfg.  pro  i  hl  Aussig-Magdeburg  forderten,  wäh- 
rend die  Kohlenproduzenten  gutwillig  35  Pfg.  bewilligen  wollten. 
Am  14.  Mai  setzten  die  Schiffer  auch  diese  erhöhte  Forderung 
durch,  trotzdem  ihnen  aus  Schiffer-  und  wohlwollenden  Interes- 
sentenkreisen geraten  wurde,  von  ihrer  Forderung  um  3 — 4  Pfg. 
zurückzugehen,  um  den  Kohlentransport  auf  der  Elbe  nicht  zu- 
gunsten der  P2isenbahn  zu  schädigen.  Der  Vorsitzende  des  Kohlen- 
frachtkartelles  berief  deshalb  für  den  12.  Juni  eine  Mitglieder- 
versammlung ein  zur  Besprechung  der  Aussiger  Frachtverhält- 
nisse, die  zwar  von  der  :> Vereinigung«  organisiert,  nunmehr  aber 
durch  das  selbsttätige  Vorgehen  ihrer  beiden  beauftragten  P^racht- 
vermittler  ihrem  Einflüsse  entzogen  worden  waren.  Es  wurde 
beschlossen,  eine  Untersuchungskommission  einzusetzen  und  zu- 
gleich mit  den  Aussiger  Kohleninteressenten  in  Einigungsverhand- 
lungen zu  treten.  Denn  die  bestehenden  Verhältnisse  mußten 
die  Eibschiffahrt  schädigen.  Bereits  450  000  t  Kohlen,  die  für 
die  Elbe  bestimmt  gewesen  waren,  hatte  die  Eisenbahn  zum 
Transport  überwiesen  erhalten. 

In  einer  am  6.  Juli  abgehaltenen  Versammlung  von  Schiff- 
fahrts-  und  Kohleninteressenten  kam  dann  auch  eine  Einigung 
zustande:  die  Kohlenhändler  erklärten  sich  bereit,  die  von  der 
»Vereinigung«  aufgestellten  Minimalsätze  bei  vollschiffigem  Wasser 
anzuerkennen,  so  daß  als  Grundlage  für  die  Frachtberechnung 
30  Pfg.  für  einen  dhl  Aussig-Magdeburg  bei  56  Zoll  Wasser- 
stand am  Aussiger  Pegel  gelten  sollten.  Für  Staffelung  bei  nie- 
drigerem Wasserstande  wurde  vereinbart,  daß  die  PYacht  bei 
56 — 46  Zoll  Wasserstand  um  V2  Pfg-,  bei  46 — 36  Zoll  um  ^U  Pfg. 
und  bei  weniger  als  36  Zoll  um  i  Pfg.  pro  hl  und  Zoll  Wasser- 
stand steigen  sollte.  Alles  Uebrige  aber  sollte  in  freier  Kon- 
kurrenz nach  Angebot  und  Nachfrage  auf  dem  Markt  sich  regeln 
und  zwar  direkt  zwischen  Kohlenhändlern  und  Schiffern,  mit  Aus- 
schluß von  Vertretern  der  letzteren. 

Somit  hatten  die  Schiffer  ihre  berechtigten  Forderungen 
nach  hartem  Kampfe  durchgesetzt  und  das  Kartell  seinen  Zweck 
erreicht.  Doch  fiel  es  der  Leitung  der  >  Vereinigung«  nicht  ganz 
leicht,  ihre  Mitglieder  zur  Anerkennung  dieser  Vereinbarungen  zu 


—     157     — 

veranlassen.  Denn  diese  hielten  fester  zu  den  ehemaligen  Fracht- 
vcrmittlern  der  »Vereinigung«  als  zu  ihrem  Vorstand,  und  suchten 
noch  eine  Zeitlang,  zum  Schaden  der  Schiffahrt,  ihre  höheren, 
überspannten  Forderungen  durchzusetzen.  Im  September  erfolgte 
dann  die  behördliche  Genehmigung  der  von  den  Aussiger  Kohlen- 
interessenten geschaffenen  Kohlenfrachtcnbörse,  gegen  die  wegen 
angeblich  zu  geringer  Vertretung  der  Kleinschifferinteressen  sich 
die  schärfste  Opposition  der  Aussiger  Schiffer  unter  Leitung 
ihrer  beiden  Frachtvermittler  Gruß  und  Bergmann  erhob,  während 
die  Magdeburger  Leitung  der  »Vereinigung«  sich  zustimmend 
verhielt.  Die  Schiffer  beschlossen  in  einer  Versammlung,  die  in 
Aussig  stattfand,  selbständig,  die  am  i.  Oktober  1895  eröffnete 
Börse  nicht  zu  besuchen  und  nunmehr  als  Mindestfrachtsatz 
Aussig-Magdeburg  50  Pfg.  für  i  dhl  zu  fordern.  Da  sich  dem- 
gegenüber die  sämtlichen  Aussiger  Kohleninteressenten  durch 
Unterschrift  verpflichtet  hatten,  bei  einer  Vertragsstrafe  von  100  fl. 
innerhalb  zw^ei  Monaten  keinen  Schiffer  anders  als  an  der  Börse 
zu  chartern,  so  ruhte  in  den  ersten  Wochen  des  Oktobers  die 
Kohlcnverfrachtung  in  Aussig  fast  gänzlich ,  bis  endlich  die 
Schiffer  nachgeben  und  ihre  Boykottierung  der  Börse  aufgeben 
mußten. 

Mit  der  Errichtung  und  Inbetriebnahme  der  Aussiger  Frach- 
tenbörse wurde  die  Wirksamkeit  des  Kohlenfrachtkartells  sehr 
erschwert  und  beinahe  unmöglich  gemacht.  So  bröckelte  es 
während  des  Jahres  1896  stark  ab  und  verlief  schließlich  im 
Sande.  Dadurch  aber  ihrer  Haupttätigkeit  beraubt,  löste  sich 
im  Jahre  1897  auch  die  Magdeburger  »Vereinigung  zur  Förde- 
rung der  wirtschaftlichen  Interessen  der  Eibschiffahrt«  auf.  Sie 
war  für  kurze  Zeit  die  stärkste,  machtvollste  und  erfolgreichste 
Kleinschiffer-Vereinigung  gewesen,  die  bisher  auf  der  Elbe  be- 
standen hatte,  war  aber  durch  die  Disziplinlosigkeit  und  die  blinde 
Selbstüberschätzung  ihrer  Mitglieder  ihrer  Stoßkraft  beraubt 
worden. 

Obwohl  die  Verhältnisse  für  die  Kleinschiffahrt  in  den  näch- 
sten Jahren  insbesondere  auch  im  Kohlenverfrachtungsgeschäft 
immer  ungünstiger  wurden,  konnte  man  sich  vorerst  doch 
nicht  nochmals  zu  einer  starken  Vereinigung  aufraffen.  Zwar 
fand  im  Juli  1900  in  Aussig  die  Konstituierung  des  »Befrachtungs- 
Vereins  der  Elbeschiffer«  statt,  dem  sich  Schiffseigner  aus  Aken, 
Aisleben,  Dömitz,  Roßlau  und  Königstein  mit  insgesamt  140  Kähnen 


-     15S     - 

anschlössen,  doch  hat  er  niemals  eine  einflußreichere  Wirksam- 
keit ausj^^eübt.  Seine  Mitglieder  verpflichteten  sich  in  der  Haupt- 
sache dazu,  sich  gegenseitig  an  der  Aussiger  Frachtenbörse  nicht 
zu  unterbieten  und  dadurch  die  Konkurrenz  abzuschwächen.  Er 
hat  bis  zum  9.  Mai  1906  bestanden,  wo  er  aufgelöst  wurde,  da 
seine  Ziele  viel  einfacher  und  zweckentsprechender  von  der  Privat- 
schiffer-Transport-Genossenschaft erfüllt  w'urden. 

Ferner  fand  für  das  Berggeschäft  am  8.  März  1909  in  Ham- 
burg die  Gründung  der  »Binnenschiffahrts-Genossenschaft«  statt, 
die  sich  zum  Ziel  setzte,  Transportverträge  für  die  Genossen  zu 
vermitteln  und  abzuschließen,  sowie  anderweitige  Verträge  einzu- 
gehen, durch  welche  die  Schiffseigner  Verwertung  für  ihren 
Kahnraum  finden.  Die  Haftsumme  jedes  Genossen  beträgt  10  M. 
Ueber  die  Wirksamkeit  der  Genossenschaft,  die  eine  Gründung 
von  Außenseitern  der  Privatschiffer-TranspoVt-Genossenschaft  war, 
ist  nichts  Näheres  bekannt  geworden,  w^oraus  wohl  zu  schließen 
ist,  daß  sie  bisher  keine  hervorragende  Bedeutung  für  das  Klein- 
schifferge werbe  erlangt  hat.  Das  gleiche  gilt  von  der  »Genossen- 
schaft Mecklenburgischer  Kleinschiffer«   in  Dömitz. 

Eine  auch  die  gleichen  Ziele  verfolgende  Genossenschaft 
unter  dem  Namen  »Hamburger  Ladeverband«,  die  1909  gegründet 
worden  war,  löste  sich  191 1  wieder  auf,  nachdem  sie  es  auf 
40  Mitglieder  gebracht  und  das  Jahr  19 10  mit  einem  Kassenfehl- 
betrag abgeschlossen  hatte. 


2.  Die  PrivatschifTer-Transportgenossenschaft. 

Tab.  57. 
Betriebsergebnisse   der   Privatschiffer-Transport-Genossenschaft. 


I, 

2. 

3. 

4- 

5. 

6. 

Zahl  der 

Eingezahlte 
Geschäfts- 

Gewinn- 
verteilung für 

Gesamt- 

Gesamt- 
tragfähigkeit 

Jahr 

Genossen- 
schafter 

anteile 

I   Jahrestonne 

einnahmen 

der 
Gen. -Kähne 

in  I  000  M. 

M. 

in  I  000  M. 

in  I  000  t. 

1904 

81S 

232 

5,56 

4  157 

438 

1905 

890 

246 

4,10 

63S6 

491 

1906 

891 

241 

4,15 

6273- 

443 

1907 

693 

183 

4-50 

966 

413 

1908 

666 

190 

4,55 

— 

1909 

643 

186 

— 

1910 

608 

181 

— 

1911 

605 

179 

— 

— 

1912 

575 

176 

— 

— 

1913 

560 

• 

— 

— 

—     159    — 

Das  Bedürfnis  zu  einer  strafferen  und  mächtigeren  Vereini- 
gung der  gesamten  Privat-Kleinschiffahrt  hatte  längst  vorgelegen 
und  war  allgemein  anerkannt,  bevor  es  gelang,  eine  solche  zu 
schaffen.  Nicht  nur  die  Kleinschiffer  selbst  waren  sich  über  die 
Notwendigkeit  eines  starken  Zusammenschlusses  ihrer  Kräfte  zum 
Schutze  gegen  den  allgemeinen  Verfall  ihres  Standes  einig,  son- 
dern es  lag  auch  im  Interesse  der  Großschiffahrt,  eine  Organi- 
sationsstelle zu  besitzen,  durch  die  sie  mit  der  Kleinschiffahrt 
Verträge  und  Vereinbarungen  zur  Herabminderung  einer  alle 
schädigenden,  niemand  aber  nützenden  Konkurrenz  treffen  konnte. 
So  ist  es  vor  allem  die  »Kette«  gewesen,  die  früher  wiederholt 
im  Einverständnis  mit  den  übrigen  Gesellschaften  sich  be- 
müht hatte,  eine  Einigung  und  Organisierung  der  Kleinschiff- 
fahrt herbeizuführen,  jedoch  lange  Zeit  ohne  Erfolg.  Schon  wäh- 
rend des  ganzen  Jahres  1903  hatte  der  1900  gegründete  »Zentral- 
ausschuß der  Schiffervereine«  Verhandlungen  einerseits  zur  Ver- 
einigung aller  Eibschiffseigner,  andererseits  zum  Anschluß  solcher 
Vereinigungen  an  das  im  Jahre  1903  geplante  Kartell  aller  Elb- 
schiffahrts-Gesellschaften  gepflogen.  Im  April  1903  erschien  in 
allen  Schifferzeitungen  ein  Aufruf  zur  Gründung  einer  Finanzge- 
meinschaft aller  Privatschiffseigner  der  Elbe,  die  ^3  des  Fracht- 
schiffsparkes der  Elbe  besäßen. 

Da  gab  die  plötzliche  Fusionierung  der  3  großen  Elbschiff- 
fahrts-Unternehmungen  im  Jahre  1903^)  das  Signal  zur  Gründung 
eines  einheitlichen,  mächtigen  Unternehmens  der  Privatschiffseigner, 
das  bestimmt  war,  ihre  Interessen  mit  Nachdruck  wahrzunehmen  und 
die  ihnen  vermöge  ihrer  zahlenmäßigen  Uebermacht  zukommende 
Stellung  in  der  Elbschififahrt  durch  ein  geschlossenes  Auftreten 
auch  äußerlich  zum  Ausdruck  und  zur  Anerkennung  zu  bringen. 
Für  den  25.  Januar  1904  rief  der  »Zentralausschuß  der  Schiffer- 
vereine« in  Magdeburg  eine  allgemeine  Versammlung  der  Privat- 
schiffseigner ein,  in  der  man  nach  langer,  heftiger  Debatte  die 
Gründung  einer  Wirtschaftsgenossenschaft  beschloß,  die  nicht  mit 
den  bestehenden  Schleppschiffahrtsunternehmungen  oder  Spedi- 
teuren in  Konkurrenz  treten,  sondern  lediglich  »mit  leerem  Kahn- 
raum handeln«  sollte.  Es  erklärten  sofort  über  500  Schiffseigner 
schriftlich  ihren  Beitritt  zu  der  Genossenschaft,  deren  Satzung 
von  dem  »Zentralausschuß  der  Schiffervereine«  ausgearbeitet  werden 
sollte.     Letzterer   begründete   daraufhin   am    3.  Februar    1904    in 

I)  Vgl.  S.  185  ff. 


—     i6o    — 

Schönebeck  die  beschlossene  Wirtschaftsgenossenschaft  unter  dem 
Namen  der  »P  r  i  v  a  t  s  c  h  i  f  f  e  r- T  r  a  n  s  p  o  r  t  -  G  e  n  o  s  s  e  n- 
schaft«,  der  socjleich  bei  ihrer  Gründung  Soo  Fahrzeuge  von 
Kleinschiffern  zur  Verfügung  standen,  die  ausnahmslos  längs  der 
ganzen  Elbe  bis  nach  Böhmen  hinein,  jedoch  nicht  an  den  mär- 
kischen Wasserstraßen  beheimatet  waren.  Die  Organisation  der 
Genossenschaft  ist  aus  den  folgenden  Bestimmungen  der  Satzung 
zu  ersehen : 

Ȥ  2.      Gegenstand  des  Unternehmens  ist: 

a)  Der  Abschluß  und  die  Durchführung  von  Schiffstransportgeschäften  auf  Binnen- 
gewässern mittelst  gemeinschaftlichen  Geschäftsbetriebes,  sowie  die  Beteiligung 
an  Schiffahrtsunternehmungen  ; 

b)  Besprechung  und  Vertretung  gemeinsamer  Interessen. 

§  4.  Mitglied  der  Genossenschaft  kann  jeder  volljährige  geschäftsfähige 
Schifiseigner  werden  ;  der  : 

a)  die  bürgerlichen  Ehrenrechte  besitzt  und  sich  durch  Verträge  selbständig  ver- 
pflichten kann, 

b)  bedingungslos  bei  dem  Genossenschaftsvorstande  die  Mitgliedschaft  durch 
Unterzeichnung  einer  Beitrittserklärung  beantragt. 

Die  Aufnahme  geschieht  durch  den  Vorstand,  Dem  vom  Vorstand  Abge- 
wiesenen steht  die  Berufung  an  die  Generalversammlung  offen. 

Nach  Ablauf  der  ersten  zwei  Geschäftsjahre  steht  dem  Vorstande  frei,  nur 
solchen  Schiffseignern  die  Mitgliedschaft  zu  gewähren,  welche  mindestens  33  %  des 
Wertes  ihrer  Kähne  als   eignes  Vermögen  nachweisen. 

§  6.  Die  Mitgliedschaft  kann  nur  schriftlich  mit  zweijähriger  Kündigungs- 
frist zum  Schluß  eines  Geschäftsjahres  gekündigt  werden. 

§  9.  Die  Mitglieder  dürfen  ihre  Fahrzeuge  weder  an  Schiffahrtsgesellschaften, 
noch  an  andere  Unternehmer  vermieten  oder  verchartern,  noch  sich  mittelbar  oder 
unmittelbar  an  einem  der  Genossenschaft  gleichen  Unternehmen  ohne  Genehmigung 
der  Generalversammlung  beteiligen. 

Während  der  Mitgliedschaft  dürfen  die  Genossenschafter  ihre  Fahrzeuge  an 
Schiffahrtsgesellschaften  ohne  ausdrückliche  Genehmigung  des  Vorstandes  überhaupt 
nicht,  an  Privatschiffer  oder  andere  Personen  aber  nur  unter  der  Bedingung  ver- 
kaufen, daß  die  Käufer  in  die  Genossenschaft  eintreten. 

§  II.  Der  Geschäftsanteil  beträgt  20  Mark.  Jeder  Genosse  ist  aber  ver- 
pflichtet, soweit  er  einen  Kahnraum  von  mehr  als  Soo  Ztr.  als  Eigentümer  besitzt 
oder  in  seinem  auf  Schiffahrt  gerichteten  Betriebe  benutzt,  für  je  weitere  800  Ztr. 
=  40  Tonnen  Tragfähigkeit  einen  weiteren  Geschäftsanteil  zu  er%verben.  Beim 
Erwerb  des  ersten  Anteils  ist  die  Anzahl  der  vom  Genossen  insgesamt  zu  erwer- 
benden Anteile  festzulegen  und  das  Mitglied  die  hierzu  erforderlichen  Angaben  zu 
machen  verpflichtet.  Die  höchst  zulässige  Zahl  der  Geschäftsanteile  für  den  ein- 
zelnen Genossen  beträgt   120. 

Der  erste  Geschäftsanteil  ist  beim  Eintritt  in  die  Genossenschaft  bar  ein- 
zuzahlen. Von  den  weiteren  durch  die  Genossen  nach  Verhältnis  der  Tragfähigkeit 
ihres  Kahnraumes  zu  erwerbenden  Geschäftsanteilen  sind  zu  erwerben  und  bei  jeder 
einzelnen  Anmeldung  bar  zu  errtrichten  : 


—     i6i     — 

a)  4   Geschäftsanteile  innerhalb  des  ersten  Geschäftsjahres, 

b)  weitere  lo  Geschäftsanteile  im  Laufe  des  zweiten  Geschäftsjahres,  falls  aber 
nach  der  Größe  des  Kahnraumes  weniger  als  insgesamt  15  Geschäftsanteile 
zu  erwerben  sind :  der  geringere  Rest  der  Geschäftsanteile , 

c)  der  etwaige  Rest  der  Geschäftsanteile    im  Laufe    des    dritten    Geschäftsjahres. 

§  12.  Die  Haftsumme  für  jeden  Geschäftsanteil  beträgt  20  Mark  und  er- 
höht sich  auf  das  der  Zahl  der  Geschäftsanteile  entsprechende  Vielfache  der  Haft- 
summe bei  der  Beteiligung  mit  mehreren  Geschäftsanteilen. 

§  41.  Der  Jahresüberschuß  fließt  nach  den  Bestimmungen  des  §  36  zu  ^/a  % 
in  den  Reservefond,  der  verbleibende  Betrag  des  Reingewinnes  wird ,  soweit  nicht 
von  der  Generalversammlung  die  anderweitige  Verwendung  beschlossen  wird,  den 
Mitgliedern  nach  Verhältnis  ihrer  Beteiligung  am  gemeinschaftlichen  Geschäfts- 
betriebe zugeteilt. 

Als  Maßstab  für  die  Gewinnverteilung  dienen : 

a)  die  von  der  Genossenschaft  ermittelte  wirkliche  Tragfähigkeit  der  Fahrzeuge 
bei  einem  Tiefgang  bis  zu   1,80  m; 

b)  derjenige  Zeitraum ,  nach  Tagen  festgestellt ,  in  welchem  die  Genossenschaft 
die  ihr  überwiesenen  Fahrzeuge  im  Betriebsjahre  wirtschaftlich  zu  benutzen 
in  der  Lage  war ,  und  zwar  ohne  Rücksicht  darauf,  ob  die  Benutzung  statt- 
gefunden hat. 

Bei  Feststellung  des  Zeitraumes  der  Beteiligung  eines  Genossenschafters  am 
gemeinschaftlichen  Geschäftsbetriebe  sind  diejenigen  Tage,  an  welchen  das  oder 
die  Fahrzeuge  wegen  Vornahme  von  Reparaturen  vorübergehend  aus  dem  Ge- 
schäftsbetriebe ausscheiden  mußten,  von  der  ermittelten  Tageszahl  in  Abzug  zu 
bringen.  Wegen  derjenigen  Reparaturen,  welche  die  Ladungsfähigkeit  des 
Fahrzeuges  nicht  hindern,  oder  welche  auf  eine  Beschädigung  im  Betriebe  zu- 
rückzuführen sind,  findet  ein  Ausscheiden  aus  dem  Geschäftsbetriebe  nicht  statt. 

Derjenige  Laderaum  eines  Fahrzeuges,  welcher  bei  einem  Tiefgange  von 
1,80  m  noch  vorhanden  ist,  soll  bei  der  Gewinnberechnung  nur  mit  20  O/^j  in 
Ansatz  kommen,  und  zwar  nur  für  die  jetzt  der  Genossenschaft  angehörenden 
Mitglieder. 

Derjenige  Genossenschafter,  welcher  im  Laufe  des  Geschäftsjahres  sein 
Fahrzeug  oder  seine  Fahrzeuge  entgegen  der  Bestimmung  im  §  9  ohne  Ge- 
nehmigung des  Vorstandes  an  Schiffahrtsgesellschaften  oder  an  solche  Per- 
sonen verkauft  hat,  welche  nicht  in  die  Genossenschaft  eintreten,  verliert 
seinen  Anspruch  auf  Gewinnanteil  in  der  Höhe  ,  als  das  oder  die  verkauften 
Fahrzeuge  am  gemeinschaftlichen  Geschäftsbetriebe  des  laufenden  Jahres  be- 
teiligt waren. 

Ebenso  hat  derjenige  Genossenschafter  für  das  laufende  Jahr  keinen  An- 
spruch auf  Gewinnanteil ,  welcher  ohne  Erlaubnis  des  Vorstandes  eine  Reise 
auf  eigene  Rechnung  abmacht. 

Die  Gewinnverteilung  kann  für  die  verschiedenen  Klassen  der  Fahrzeuge  in 
dem  Maße  gesondert  vorgenommen  werden,  wie  dies  die  Geschäftsordnung  ver- 
schreibt.« 

Zur  näheren  Ausführung  dieser  Satzungen  erUeß  die  Genossen- 
schaft eine  Geschäftsanweisung  von  32  §§,  deren  wichtigste  nach- 
stehend mitgeteilt  seien : 

Zeitschrift  für  die  gas.  Staatswissensch.     Ergänzungsheft  50.  I  I 


—       l62      — 

>8   I.     Die  Genossenschafter  sind  verpflichtet,  ihre  Fahrzeuge  ohne  Ausnahme 

sofern  sie  sich  für  den  Geschäftsbetrieb    der  Genossenschaft  eignen  —  ,  in  den 

Dienst  der  Genossenschaft  zu  stellen,  und  zwar  zur  freien  Verfügung  derselben. 
§  2.  Keinem  Genossenschafter  steht  das  Recht  zu,  sein  Fahrzeug  oder 
seine  Fahrzeuge  im  eigenen  Interesse  zu  verwenden,  auch  in  dem  Falle  nicht,  wenn 
Reisen  nach  Wasserstraßen  gemacht  werden  sollen,  welche  zur  Zeit  noch  nicht  zum 
Geschäftsbereich  der  Genossenschaft  gehören. 

§  5.  Ueberschüssiger  leerer  Kahnraum  kann  anderen  Stationen  auf  Kosten 
der  Genossenschaft  zu  beliebiger  Verwendung  überwiesen  werden. 

§  9.  Zu  den  durch  Havereien  entstehenden  Kosten,  und  zu  Hilfslöhnen  usw. 
leistet  die  Genossenschaft  keinen  Beitrag,  auch  in  dem  Falle  nicht,  wenn  ein  Fahr- 
zeug im  regelmäßigen  Verlauf  der  Reise  fest  geworden  und  zur  Flollmachung  des- 
selben Dampferhilfe  angenommen  ist. 

§  IG.  Die  Genossenschafter  haften  auch  für  die  gesetzlich  zu  vergütenden 
Mancos. 

Die  Fracht  für  übergeliefertes  Gut  gebührt  der  Genossenschaft. 
§  14.  Die  Löhne  für  die  Schiffsbesatzung  trägt  die  Genossenschaft.  Der 
Anspruch  der  Genossenschafter  auf  Zahlung  der  Löhne  erstreckt  sich  nur  auf  die- 
jenigen Zeiträume,  in  welchen  die  Fahrzeuge  wirtschaftlich  benützt  werden  konnten. 
Mit  dem  Tage,  an  welchem  ein  Fahrzeug  in  den  Winterstand  überführt  wird,  endet 
der  Lohnanspruch.  Für  die  Zeit  einer  solchen  Außerbetriebstellung  ist  aber  für 
jedes  Fahrzeug  der  120  Mark  betragende  Steuermannslohn  weiter  zu  zahlen. 

§  21.  Für  die  Zeit  der  Reparaturen  haben  die  Genossenschafter  —  soweit 
die  außer  Dienst  gestellten  Fahrzeuge  in  Frage  kommen  und  eine  Beschädigung 
im  Betriebe  nicht  vorliegt  —  keinen  Anspruch  auf  Lohn  und  auf  den  von  der 
Genossenschaft  erzielten  Gewinn. 

§  23.     Die  Kosten    der  Versicherung    der    Fahrzeuge    sowie    die  Kranken-, 
Unfall-,  Invaliditätsversicherungsbeiträge  haben  die  Genossenschafter  selbst  zu  zahlen. 
§  26.     Die  Genossenschafter  dürfen    nach  Einstellung    des  Betriebes  Reisen 
auf  eigene  Kosten  nicht  machen.« 

Aus  der  Satzung  und  der  Geschäftsanweisung  ersieht  man, 
daß  die  Organisation  der  Genossenschaft  eine  sehr  straffe  und 
zentralisierte  war,  und  dem  fünfghedrigen  Vorstand,  der  neben 
Tantieme  ein  festes  Jahresgehalt  bezog,  weitgehende  Machtbefug- 
nisse eingeräumt  waren.  Die  Genossenschaft  trug  anfangs  deut- 
lich den  Stempel  einer  Kampforganisation  (vgl.  §  9  der  Satzung). 

Zur  besseren  Ausnutzung  des  ihr  unterstellten  Kahnraumes  er- 
richtete die  Genossenschaft  längs  der  ganzen  Elbe  Befrachtungskon- 
tore, die  Frachtverträge  abschlössen  und  täglich  die  Zentrale  über 
Angebot  und  Nachfrage  an  den  einzelnen  Schiffahrtsplätzen  unter- 
richteten und  an  deren  Anordnungen  die  Schiffseigner  gebunden 

waren. 

Die  eigentliche  konstituierende  Versammlung  fand  am  11 .  Fe- 
bruar statt,  am  14.  ^^lärz  erfolgte  nochmals  eine  kleine  Statuten- 
änderung und  am   i.  April   1904  wurde  der  Betrieb  eröffnet.    So- 


-     i63     - 


fort  mit  Auftreten  der  Genossenschaft  auf  der  Elbe  stiegen  die 
damals  sehr  geringen  Frachtsätze  an  allen  Elborten  um  8 — 25%, 
was  jedoch  auch  zum  Teil  der  zu  gleicher  Zeit  ihre  Wirksamkeit 
aufnehmenden  neuen  Fusionsgesellschaft  der  3  Schiffahrtsgroß- 
betriebe zugeschrieben  werden  muß.  Die  Organisation  bewährte 
sich  in  jeder  Weise.  Das  zeigte  sich  hauptsächlich  im  Herbst 
1904,  als  eine  so  andauernde  Wasserarmut  der  Elbe  eintrat,  daß 
die  Schiffahrt  fast  2  ]\Ionate  gänzlich  lahm  gelegt  wurde.  Einen 
solchen  Schlag  hätte  die  Privatschiffahrt  ohne  den  genossenschaft- 
lichen Zusammenschluß  kaum  überstehen  können,  viele  Hundert 
von  Existenzen  wären  damals  zugrunde  gegangen.  Diese  Notlage 
wurde  damals  von  der  Genossenschaft  mit  gutem  Erfolg  abge- 
wendet. Es  konnten  sogar  am  Ende  des  Betriebsjahres  an  jeden 
Schiffer  pro  Jahrestonne  seines  Kahnraumes  3.56  M.  zur  Aus- 
zahlung gebracht  werden,  was  z.  B.  für  einen  Schleppkahn  von 
600  t  eine  Jahreseinnahme  von  2186  M.  ausmachte. 

Welchen  bedeutenden  Umfang  der  Geschäftsbetrieb  der 
P.Sch.T.G.  in  diesen  und  dem  folgenden  Jahre  annahm,  ist  aus 
Tab.   58  zu  ersehen. 

Tab.  58. 
Betriebsergebnisse  der  Privatschiffer-Transport- 
Genossenschaft    1904  — 1907. 


I. 

2. 

3- 

4- 

5- 

6. 

7- 

Tragfähigkeit 

Frachtleistung 

Jahr 

der 

Anteil  am 

Fracht- 

Betriebs- 

Betriebs- 

Geno^senschafts- 

Gewicht 

Gesamt-Elb- 
Fracht- 

einnahmen 

ausgaben 

überschuß 

kähne 

verkehr 

t 

1000  t 

% 

1000  M. 

1000  M. 

1000  M. 

1904 

438  769 

4  154 

2574 

I  572 

1905 

491  622 

3  066 

30 

6385 

4250 

2035 

1906 

443  000 

3  146 

31 

6  260 

4423 

I  850 

1907 

413  166 

~ 

107 

1859 

Daß  der  einzelne  Schiffer  aber  durch  die  Genossenschaft 
nicht  vollständig  machtlos  und  entrechtet  wurde,  kann  man  dar- 
aus ersehen,  daß  im  Frühjahr  1905  die  Generalversammlung  der 
Genossen  die  Leitung  gegen  deren  Willen  zwang,  schon  am 
25.  Februar  mit  Zahlung  der  Steuermannslöhne  zu  beginnen  und 
von  Anfang  März  an  den  gesamten  Kahnraum  in  Betrieb  zu 
nehmen,  obwohl  erst  Ende  März  das  eigentliche  Frachtgeschäft 
seinen  Anfang  nahm. 

II* 


—     164     — 

Im  allgemeinen  war  für  die  gesamte  Eibschiffahrt  wie  für  die 
P.Sch.T.G.  das  Jahr  1905  ein  recht  zufriedenstellendes,  da  nach 
längerer  Zeit  der  Not  und  des  heißesten  Konkurrenzkampfes 
zwischen  sämtlichen  Großunternehmern  und  der  Genossenschaft 
ein  h'racht-  und  Schleppkartell  zustande  kam.  Mit  Recht  traute 
jedoch  letztere  dem  augenblicklichen  Frieden  nicht.  Sie  schloß, 
um  sich  für  ihren  bedeutenden  Kahnraum  die  nötige  Schlepp- 
kraft für  alle  Fälle  zu  sichern,  mit  der  »Elbe^  ein  Sonderabkom- 
men für  mehrere  Jahre  ab  und  brachte  überdies  auf  Grund  des 
sehr  günstigen  Angebots  der  Witwe  eines  früheren  Schiffseigners 
1008  Stück  Aktien  der  »Deutsch-Oesterreichischen«:  in  ihren  Be- 
sitz, wodurch  sie  die  Majorität  in  der  Generalversammlung  dieser 
Gesellschaft  erlangte  und  somit  deren  Schleppkraft  sich  sicherte. 

Diese  letztere  Maßnahme  kam  der  Genossenschaft  sehr  zu 
statten,  als  nach  günstigem  Geschäftsabschluß  1905  —  es  ge- 
langten 1,125  Pfg.  pro  Tagestonne  (4.10  M.  pro  Jahrestonne)  zur 
Verteilung  —  im  Frühjahr  1906  das  Kartell  gekündigt  wurde, 
und  noch  einmal  ein  sehr  heißer  Konkurrenzkampf  zwischen  der 
»Vereinigten«:  und  der  P.Sch.T.G.  entbrannte.  Doch  genügte  die 
der  Genossenschaft  vertraglich  zur  Verfügung  stehende  Schlepp- 
kraft nicht  für  ihren  Kahnraum,  sodaß  ihr,  zumal  im  Herbst  wäh- 
rend der  Hauptgeschäftsperiode  die  Bootsleute  in  Ausstand  tra- 
ten, bei  den  tiefgesunkenen  Frachtsätzen  bedeutende  Jahresein- 
nahmen   besonders  im   Berggeschäft  entgingen. 

Um  diesem  Zustand  ein  Ende  zu  machen  trat  man  Anfang  des 
Jahres  1907  mit  den  »Vereinigten«  auf  Grund  sehr  günstiger  Bedin- 
gungen in  Verhandlungen.  Diese  führten  am  7.  Mai  zum  Abschluß 
eines  Vertrages,  durch  den  die  Genossenschaft  und  die  >  Vereinigten  < 
unter  Leitung  der  letzteren  eine  vollständige  Betriebsgemeinschaft 
eingingen.  Auf  die  näheren  Bestimmungen  des  Vertrages  wird  bei 
Besprechung  der  Schiffahrtsvereinigung  von  1907 — 1912  einzu- 
gehen sein  ^).  Hier  sei  nur  erwähnt,  daß  sämtliche  Rechte  und 
F'unktionen  der  Genossenschaft  ihren  Mitgliedern  gegenüber,  auf 
die  »Vereinigten«  übergingen,  in  deren  Aufsichtsrat  ein  Mitglied 
des  Vorstands  der  Genossenschaft  als  Vertrauensmann  eintrat. 
Die  Genossenschaft  stellte  jede  selbständige  Geschäftstätigkeit  ein. 
Der  Vertrag,  der  ursprünglich  bis  1916  gelten  sollte,  wurde  später 
auf  die  Zeit  bis  Ende  191 2  verkürzt.  Die  Betriebsgemeinschaft 
trat  in   ihrem    vollen  Umfange    vertragsweise    am   i.  Januar  190S 

i)  Vgl.  S.   192. 


—     i65     — 

in  Geltung,  doch  war  sie  tatsächlich  schon  während  mehrerer 
Monate  des  Jahres  1907  in  Kraft.  Dieses  Zusammengehen  mit 
der  Großschiffahrt  brachte  der  Genossenschaft,  wohl  infolge  des 
fast  typischen  Mißtrauens  der  KleinschilTer  gegen  die  großen  Ge- 
sellschaften, eine  nicht  unbeträchtliche  Einbuße  an  Mitgliedern, 
deren  Zahl  von  891  im  Jahre  1906  auf  693  im  Jahre  1907,  643 
im  Jahre  1909  und  570  im  Jahre  191 3  sank  (vgl.  Tab.  57).  Je- 
doch ist  dazu  zu  bemerken,  daß  seit  dem  Pachtvertrag  von  1908 
keine  neuen  Mitglieder  mehr  aufgenommen  wurden,  dagegen  auch 
Austritte  von  Genossen,  die  das  Schiffahrtsgewerbe  noch  be- 
trieben, nicht  stattgefunden  haben.  Der  Abgang  ist  somit  durch 
Tod,  Ausschluß  und  Aufgabe  des  Schiffahrtsbetriebes  oder  Ueber- 
nahme  von  Anteilen  durch  Genossenschafter,  die  der  Genossen- 
schaft bereits  angehörten,  zu  erklären.  Immerhin  zählte  die  Ge- 
nossenschaft im  Jahre  191 3  schätzungsweise  noch  die  Hälfte  aller 
an  der  Elbe  beheimateten  Privatschiffer  zu  ihren  Mitgliedern. 
Die  finanziellen  Ergebnisse  waren  nicht  ungünstig:  es  wurden 
1907  4.50  M.,  1908  4.55  M.  und  1909  4.50  M.  pro  Jahrestonne  an 
die  Genossen  zur  Auszahlung  gebracht,  wobei  aber  zu  beachten 
ist,  daß  die  Genossen  nach  den  neuen  Verträgen  die  Löhne  der 
SchilTsmannschaft  selbst  zu  bestreiten  hatten. 

Nach  Ablauf  des  Pachtvertrages  mit  den  »Vereinigten«  am 
31.  Dezember  191 2,  hat  die  Genossenschaft  bisher  einen  selb- 
ständigen eigenen  Betrieb  noch  nicht  wieder  aufgenommen,  ohne 
sich  jedoch  des  satzungsmäßigen  Rechtes,  denselben  später  wie- 
der einzurichten,  begeben  zu  haben.  Es  herrschte  während  des 
Jahres  191 3  eine  sehr  günstige  Geschäftslage,  sodaß  alle  Schiffer 
günstige  Frachten  fanden.  Kommen  jedoch  wieder  ungünstige 
Zeiten,  so  wird  voraussichtlich  die  Genossenschaft  zum  Wohle 
der  Privatschitter  ihren  zentralisierten  Betrieb  wieder  aufnehmen. 
Ueber  die  jetzige  Tätigkeit  der  Genossenschaft  geben  folgende 
Paragraphen  der  neuesten  Geschäftsanweisung  der  Genossen- 
schaft Auskunft : 

§  I.  Der  gemeinschaftliche  Geschäftsbetrieb  soll  —  abgesehen  von  der  Be- 
teiligung an  anderen  Schiffahrtsunternehmungen  —  bis  auf  weiteres  durch  Ver- 
mittlung von  Frachtgeschäften  für  die  einzelnen  für  ihre  eigene  Rechnung  fahrenden 
Mitglieder  ausgeübt  werden. 

§  2.  Die  Vermittlung  der  Frachtgeschäfte  für  die  Mitglieder  erfolgt  durch 
die  Genossenschaft  bez.  deren  Vertreter.  Eine  Verpflichtung,  sich  dieser  Ver- 
mittlung zu  bedienen,  besteht  für  die  Mitglieder  jedoch  nicht. 

§  3.     Auf  den  verschiedenen  Stationen  wird  seitens  der  Genossenschaft  ein 


—     i66     — 

Meldebuch  geführt,  in  welches  die  Mitglieder  in  der  Reihenfolge  ihrer  Ladebereit- 
schaft eingetragen  werden;  die  Abgabe  der  Fahrzeuge  zur  Beladung  erfolgt  tunlichst 
in  der  Reihenfolge  der  Eintragungen. 

Weigert  sich  ein  Mitglied,  an  ilem  die  Reihe  ist,  die  ihm  zur  Verschiffung 
angebotenen  Güter  zur  Tagesfracht  einzuladen,  so  wird  sein  Name  in  der  Melde- 
liste gelöscht,  und  es  steht  ihm  frei,  sich  anderweit  Ladung  zu  suchen. 

Auf  Wunsch  kann  sein  Name  in  der  Meldeliste  an  letzter  Stelle  wieder  vor- 
gemerkt werden. 

Hat  ein  in  der  Meldeliste  vorgemerktes  Mitglied  ohne  Vermittlung  der  Ge- 
nossenschaft eine  Reise  abgemacht,  so  hat  es  dies  an  der  Meldestelle,  bei  der  es 
eingetragen  ist,  unverzüglich  zu  melden ,  damit  sein  Name  in  der  Meldeliste  ge- 
strichen werden  kann. 

§  4.  Zur  Deckung  der  durch  die  Vermittlung  der  Frachtgeschäfte  ent- 
stehenden Unkosten  haben  die  Mitglieder  an  die  Genossenschaft  bez.  für  diese  an 
das  von  der  Genossenschaft  mit  Vermittlung  von  Frachtgeschäften  betraute  Schiff- 
fahrtsunternehmen  eine  Maklergebühr  von    i  %  des   Frachtbetrages    zu    entrichten. 

§  5.  Im  übrigen  sind  die  Mitglieder  in  bezug  auf  die  Ausführung  der  Trans- 
porte als  selbständige  Unternehmer ,  also  als  unabhängig  von  der  Genossenschaft 
zu  betrachten. 

In  der  P.Sch.T.G.  war  endlich  nach  langer  I\Iühe  eine  zweck- 
mäßige Organisation  für  einen  großen  Teil  der  Kleinschiffahrt 
gefunden  worden,  die  zwar  in  ihrem  Gedeihen,  wie  jede  derartige 
Organisation,  gute  und  weniger  günstige  Zeitabschnitte  aufweisen 
wird,  die  aber  in  absehbarer  Zeit  kaum  wieder  einmal  gänzlich 
verschwinden  wird,  weil  sie  eine  wirtschaftliche  Notwendigkeit 
ist.  Auch  für  die  Eibschiffahrt  gilt  die  Erfahrung,  die  man  auf 
vielen  anderen  Gebieten  des  Wirtschaftslebens  gemacht  hat,  daß 
Gewerbe,  die  für  die  Volkswirtschaft  notwendig  sind,  aber  scharf 
um  ihre  Existenz  zu  kämpfen  haben,  nur  durch  genossenschaft- 
lichen Zusammenschluß  sich  lebensfähig  erhalten  und  zu  einem 
Machtfaktor  des  modernen  Wirtschaftslebens  gestalten  können. 
Es  ist  nur  notwendig,  daß  sich  stets  energische  und  weitschauende 
Kräfte  für  die  Leitung  der  Genossenschaft  finden,  um  die  im 
Elbschiffahrtsgewerbe  vorhandenen  Gegensätze  und  Sonderinter- 
essen zu  überwinden  und  zu  unterdrücken. 

II.  Kapitel. 

Die  Kartellbestrebungen  in  der  GroßschifTahrt. 

I.  \Vesen  der  Kartelle. 

Die  Verbindungen  und  Vereinigungen  der  Betriebe  in  der 
Großschiffahrt  sind  nach  Konstruktion  und  Zweck  von  denjenigen 
in  der  Kleinschiffahrt  wesentlich  verschieden.    Die  Organisierung 


-     i6;     - 

der  Beteiligten  ist  hier  bedeutend  leichter  und  infolgedessen  auch 
häufiger  anzutreffen,  weil  in  der  Großschiffahrt  in  einem  Kartell 
viel  weniger  Einzelbetriebe  vorhanden  sind,  mit  denen  zu  ver- 
handeln ist. 

Es  hat  daher  in  der  Eibschiffahrt  eine  große  Anzahl  der 
verschiedensten  Vereinigungen  und  Kartelle  während  der  letzten 
40  Jahre  gegeben,  die  ihr  VVirkungsfeld  bald  auf  ganz  eng  um- 
grenzte Gebiete  eines  Schiffahrtsgeschäftes  beschränkten,  bald  es 
so  erweiterten,  daß  sie  einer  einheitlichen  Betriebsgemeinschaft 
sich  stark  näherten  oder  auch  zu  einer  solchen  wurden. 

Die  natürliche  Voraussetzung  der  Schiffahrt,  der  Wasserweg, 
ist  frei  und  nicht  an  das  monopolverleihende  Recht  des  Eigen- 
tums oder  Besitzes  einzelner  Unternehmer  gebunden.  Daher  liegt 
es  in  der  Natur  der  Schiffahrt,  daß  in  ihr  Kartelle,  die  alle  Be- 
teiligten umfassen,  fast  unmöglich,  jedenfalls  viel  schwerer  durch- 
zuführen sind,  als  in  mancher  anderen  Gewerbeart.  Denn  hier 
ist  die  Aufnahme  eines  Betriebes,  sowie  das  Eingehenlassen  eines 
solchen  ein  viel  einfacheres,  leichteres  Unterfangen  als  auf  vielen 
anderen  Wirtschaftsgebieten,  z.  B.  etwa  in  der  Kohlenproduktion, 
bei  der  die  Anlage  einer  Zeche  ein  kostspieliges  und  langwie- 
riges Unternehmen  ist,  das  zudem  noch  an  einen  festen  bestimm- 
ten Produktionsort  gebunden  ist;  daher  ist  die  Zahl  derartiger 
Betriebe  und  Unternehmer  viel  weniger  schwankend  und  eine 
bedeutend  sicherere  als  in  der  Schiffahrt. 

Hierzu  kommen  noch  bei  letzterer  die  zahlreichen,  unter  sich 
verschiedenen  und  sich  oft  gegenseitig  sich  bekämpfenden  Interessen 
und  Ziele,  die  bei  der  Ausübung  der  Schiffahrt  verfolgt  werden.  Hier 
steht  auf  der  einen  Seite  der  gewerbsmäßige  Klein-  oder  Großschiffer, 
dem  die  Schiffahrt  selbständiger  Endzweck  bei  seinem  Streben  nach 
Unterhalt  und  Gewinn  ist.  Ihm  tritt  der  Kaufmann  und  der  indu- 
strielle Unternehmer  gegenüber,  der  die  Schiffahrt  nur  als  Trans- 
portmittel für  seine  Waren,  Rohprodukte  und  Erzeugnisse  ansieht, 
mit  deren  Hilfe  er  den  Marktwert  zu  erhöhen  sucht.  Und  zwischen 
beiden  steht  als  dritte  Interessentengruppe  der  Spediteur  und  Fracht- 
spekulant, dem  die  Schiffahrt  nur  das  Mittel  zu  dem  Zwecke  ist,  durch 
Vermittlung  des  Verkehrs  zwischen  Schiffer  und  Befrachter  sich 
Verdienst  zu  verschaffen.  Er  ist  der  natürliche  Gegner  des  ge- 
werbsmäßigen Schiffers,  weil  er  diesen  um  einen  Teil  desjenigen 
Preises  und  Wertes  zu  bringen  sucht,  den  seine  Arbeit  auf  dem 
freien  Markte  der  Volkswirtschaft  besitzt,  und  der  als  angemesse- 


—     i68     — 

ner  Lohn  seiner  Arbeit  von  anderen  Gliedern  der  Volkswirtschaft 
ihm  zugebilligt  wird. 

So  lassen  sich  denn  auch  die  Kartelle  in  der  Eibschiffahrt 
von  verschiedenen  Gesichtspunkten  aus  betrachten  und  gruppieren. 
Einmal  haben  sie  sich  unterschieden  nach  den  Gegnern,  gegen 
die  sie  gerichtet  waren.  Im  allgemeinen  kann  man  sagen,  daß 
für  die  Großbetriebe  in  der  Regel  die  Großbetriebe  selbst  mit 
ihrem  dauernden  gegenseitigen  Unterbieten  die  ärgsten  Feinde 
gewesen  sind,  und  daß  sich  hiergegen  die  meisten  Vereinigungen 
richteten,  die  durch  vertragliche  Vereinbarungen  die  sie  alle 
schädigende,  keinem  aber  nützende  Konkurrenz  auszuschalten 
suchten.  Doch  geschah  dies  meist  dadurch,  daß  man  sich  ge- 
schlossen gegen  einen  einzelnen  Dritten  wendete,  der  bisher  aus 
den  ungesunden  Konkurrenzverhältnissen  Nutzen  gezogen  hatte; 
so  z.  B.  gegen  die  Kleinschiffer,  wenn  sich  die  Großbetriebe  über 
gleichmäßige  Berechnungsmethoden  für  Fracht-  und  Schlepplöhne, 
über  gleiche  Schleppbedingungen  usw.  einigten.  Andererseits 
sind  auch  zahlreiche  Kartelle  gegen  die  Frachtkundschaft  ge- 
richtet gewesen,  der  man  seinen  einheitlichen  Willen  z.  B.  über 
Verfrachtungs-,  Lösch-  oder  Lagerbedingungen,  über  Haftung  für 
Naturereignisse  und  ähnliches  aufzwingen  wollte. 

Nach  der  Form  haben  die  Kartelle  die  mannigfaltigsten  Ver- 
schiedenheiten aufgewiesen,  je  nachdem  sie  nur  unverbindliche 
Verabredungen  ohne  Zwang  zur  Durchführung  des  Vereinbarten 
darstellten,  oder  in  vertraglichen  Abmachungen  mit  rechtlichem 
Verwirklichungsanspruch  bestanden.  Bei  letzterer  Form  lag  die 
Ausführung  und  Anwendung  der  Kartellbestimmungen  entweder 
den  einzelnen  Betrieben  oder  Unternehmungen  selbst  jedoch 
unter  Ueberwachung  einer  oberinstanzlichen  Kontrollstelle  ob, 
oder  aber  man  schuf  eine  beschränkte  Betriebsgemeinschaft  der 
Vertragschließenden,  deren  Leitung  in  der  Hand  eines  eigenen 
Organs  ruhte,  dessen  Anordnungen  die  Einzelunternehmungen  sich 
fügen  mußten.  Letztere  stellt  die  straffste  Form  der  Vereini- 
gung verschiedener  Betriebe  dar. 

Nach  ihrem  Geltungsgebiete  lassen  sich  die  Elbschiffahrts- 
kartelle,  entsprechend  dem  Charakter  der  Eibschiffahrt,  in  Fracht- 
oder Schleppkartelle,  erstere  wieder  in  solche  für  den  Berg-  oder 
Talverkehr  oder  in  Kartelle  für  besondere  Güterarten,  z.  B.  böhmi- 
schen Zucker,  Getreide  oder  Petroleum  einteilen.  Diese  Unter- 
scheidung ist  um  so  wichtiger,    als  es  nicht  selten  vorgekommen 


—     169    — 

ist,  daß  die  Gesellschaften  für  einen  Teil  des  Verkehres,  z.  B. 
etwa  für  den  Talverkehr  Verträge  abschlössen,  während  sie  sich 
zu  gleicher  Zeit  auf  anderen  Gebieten,  z.  B.  im  Bergfracht-  und 
Schleppverkehr,  heftig  bekämpften. 

Schließlich  sei  noch  auf  die  Verschiedenheit  der  Zwecke 
hingewiesen,  die  bei  Bildung  von  Kartellen  bestimmend  gewesen 
sind.  Man  hat  vielfach  versucht,  die  Eibschiffahrt  in  ihrer  Ge- 
samtheit durch  Vereinbarungen  und  Verträge  zu  stärken  und  zu 
fördern,  indem  man  ihr  einerseits  neue,  umfangreiche  Güter- 
mengen zuzuführen,  andererseits  durch  zweckmäßige  Organisation 
des  Verkehres  ihre  Leistungen  und  ihre  Konkurrenzfähigkeit  zu 
steigern  suchte.  Indessen  war  der  Hauptzweck  der  meisten 
Vereinbarungen  auf  der  Elbe  die  Aufbesserung  der  Frachtmarkt- 
preise, zu  welchem  Zwecke  man  die  verschiedensten  Mittel  er- 
griffen hat.  Eines  der  häufigsten  bestand  in  der  Beeinflussung 
des  Marktes  durch  Regulierung  des  Kahnraumangebotes,  in  dem 
man  entweder  durch  eine  vertragsmäßige,  gleichmäßige  Vertei- 
lung der  vorhandenen  Gütermengen  jedem  der  Vertragschließen- 
den einen  Anteil  am  Gewinn  zu  verschaffen  suchte,  oder  indem 
man  den  überzähligen  und  deshalb  preisdrückenden  Kahnraum 
vom  Markte  abzog,  ihn  entweder  an  anderem  Orte  zu  beschäftigen 
suchte  oder  ihn  zeitweise  ganz  außer  Betrieb  setzte.  Wunderbar 
ist,  daß  niemals  eine  Bestimmung  in  die  Kartellverträge  aufge- 
nommen worden  oder  wenigstens  eine  solche  nicht  bekannt  ge- 
worden ist,  welche  die  Mitglieder  verpflichtete,  ihren  Kahnraum 
während  eines  bestimmten  Zeitraumes  nicht  zu  vermehren.  Hier- 
durch würde  das  Grundübel  der  Elbschiff"ahrt  an  der  Wurzel  er- 
faßt worden  sein,  wie  früher  ausführlich  dargelegt  worden  ist. 
In  dieser  Beziehung  ist  viel  von  den  Privatschiffern  gesündigt 
worden  und  wird  noch  heute  gesündigt ;  aber  auch  die  Großbe- 
triebe sind  nicht  von  dem  Vorwurf  frei  zu  sprechen,  daß  sie 
ohne  wirtschaftliche  Notwendigkeit,  nur  aus  augenblicklicher  Macht- 
und  Konkurrenzpolitik  heraus,  ihren  Kahnraum  oft  in  übertriebener 
Weise  vermehrt  haben. 

2.  Die  Kartelle  bis  zum  Jahre  1903. 

Die  70  er  Jahre  sind  verhältnismäßig  arm  an  Vereinigungen 
und  Verbindungen  unter  den  Schiffahrts-Großbetrieben.  Der 
Grund  hierfür  liegt  in  erster  Linie  in  der  geringen  Zahl  von  Be- 
trieben, zwischen  denen  Kartelle  hätten  zustande  kommen  können. 


-     170    — 

Bestand  doch  damals  im  strengen  Sinne  nur  ein  einziges  Unter- 
nehmen, das  wir  nach  unserem  heutigen  Maßstab  als  Großbetrieb 
ansprechen  würden:  die  Ketten-Schleppschiffahrts-Gesellschaft  der 
Oberelbe.  Die  anderen  Gesellschaften  wie  die  »Prager  Dampf- 
und Segel-Schiffahrts-Gesellschaft  ,  die  »Vereinigte  Hamburg- 
Magdeburger  Dampfschiffahrts-Koinpagnie«,  und  die  »Elb-Dampf- 
schiffahrts-Gesellschaft«  waren  Unternehmen  zweiter  Größe  und 
von  untergeordneter  Bedeutung.  Aber  es  lag  auch  kein  dringen- 
des Bedürfnis  für  Kartellbildungen  bei  der  Eibschiffahrt  vor.  Die 
Einzelunternehmungen  hatten  ihre  besonderen  Verkehrsgebiete 
und  besondere  Geschäftszweige,  bei  deren  Ausübung  sie  nur 
selten  miteinander  in  Kollision  kamen.  Sie  strebten  selten  mit 
gleichen  Mitteln  nach  gleichen  wirtschaftlichen  Zielen,  weshalb 
ein  friedliches  Nebeneinanderarbeiten  ohne  vertragsmäßige  Be- 
schränkung möglich,  ja  selbstverständlich  war.  Denn  wo  keine 
Kollision  der  jMittel  und  Ziele  vorhanden,  dort  ist  auch  ein 
Kartell  nicht  möglich. 

So  beschränkten  sich  die  Verträge  nur  auf  eine  geringe  Zahl. 
Im  Jahre  1876  trat  zum  erstenmal  die  »Kette«  mit  der  >Elb- 
schiffahrts-Gesellschaft«,  der  »Vereinigten  Hamburg-Magdeburger 
Dampfschiffahrts-Kompagnie«  und  einzelnen  Privatschleppschiff- 
fahrts-Unternehmungcn  zwecks  gemeinsamerVerteilung  der  Schlepp- 
aufträge von  Hamburg  nach  den  Bergstationen  in  Verbindung. 
Es  sollte  eine  gemeinsame  Meldestelle  für  den  abzuschleppenden 
Kahnraum  gebildet  werden,  die  diesen  nach  einem  gewissen 
Schema  an  die  Gesellschaften  verteilen  sollte.  Man  wollte  da- 
durch das  Unterbieten  der  Schleppunternchmer  gegenüber  der 
Schleppkundschaft  vermeiden.  Die  Verhandlungen  scheiterten 
aber  an  der  Weigerung  der  »Vereinigten  Hamburg-Magdeburger- 
Dampfschiffahrts-Kompagnie«,  die  Gleichberechtigung  der  »Kette« 
auch  für  die  Strecke  Hamburg-Magdeburg  anzuerkennen,  auf  der 
die  »Kette«  bisher  noch  nicht  tätig  gewesen  war.  Infolgedessen 
gründete  die  >  Kette«  in  demselben  Jahre  ein  eigenes  Verfrach- 
tungskontor in  Hamburg  und  trat  dem  »Verband  Oberelbischer 
Schiffer«  bei^).  Zugleich  aber  setzte  die  »Kette«  die  Einigungs- 
verhandlungen nunmehr  allein  mit  der  »Frachtschiffahrts-Gesell- 
schaft«  fort  mit  dem  Resultat,  daß  letztere  ihr  Frachtkontor  in 
Hamburg  mit  dem  neuen  der  »Kette«  vereinigte  und  mit  ihrem 
Schiffspark    von    23    Schleppkähnen    und    2    Raddampfern    dem 

I)  Vgl.  S.  105  f. 


—    I/I    — 

»Verbände  Oberelbischer  Schiffer«  beitrat.  Jede  von  beiden 
Parteien  konnte  mit  diesem  Ergebnis  zufrieden  sein.  Die  Fracht- 
schiffahrts-Gesellschaft  behielt  ihre  vollständige  Selbständigkeit 
und  ihre  freie  Erwerbstätigkeit.  Nach  wie  vor  flössen  die  Fracht- 
löhne der  von  ihren  Schleppkähnen  transportierten  Frachtgüter 
in  ihre  Kasse  und  nicht  minder  erhielt  sie  den  vollen  Verdienst 
ihrer  Schleppdampfer.  Sie  verpflichtete  sich  nur,  ihre  Fracht- 
güter im  Hamburger  Bergverkehr  ausschließlich  von  dem  gemein- 
samen Frachtbureau  zu  den  von  diesem  abgeschlossenen  Fracht- 
sätzen sich  überweisen  zu  lassen  und  auch  alle  fremden  Schlepp- 
kähne, die  von  dem  Kontor  beladen  worden  waren,  zu  einem 
bestimmten,  den  Frachtsätzen  angeglichenen  Vorzugsschleppsatz, 
und  zwar  bei  Ueberangebot  unter  Bevorzugung  vor  anderen 
Schleppaufträgen,  abzuschleppen.  Dafür  verpflichtete  sich  die 
»Kette«,  die  Kähne  der  »Frachtschififahrts-Gesellschaft«  von  Magde- 
burg aus  mit  ihren  Kettenschleppschiffen  zu  einem  Vorzugstarif 
weiter  bergwärts  zu  ziehen.  Das  Hamburger  Frachtkontor  wurde 
paritätisch  aus  Angestellten  der  beiden  Vertragschließenden  zu- 
sammengesetzt. Dieses  Vertragsverhältnis  arbeitete  zur  vollsten 
Zufriedenheit  beider  Parteien  und  führte  zu  einer  so  innigen 
gegenseitigen  Annäherung,  daß,  als  im  folgenden  Jahre  1877  die 
V.H.M.D.K.  versuchte,  durch  sehr  günstige  Angebote,  die  »Fracht- 
schiffahrts-Gesellschaft<;  der  »Kette«  abspenstig  zu  machen  und 
vertraglich  sich  selbst  anzugliedern,  die  beiden  bisherigen  Ver- 
trags-Gesellschaften sich  entschlossen,  sich  vollständig  zu  ver- 
einigen, indem  die  > Kette«  im  September  1877  die  »Frachtschiff- 
fahrts-Gesellschaft<-  ankaufte.  Somit  endete  dieses  erste  Fracht- 
schiffahrts-Kartell  mit  einer  Verschmelzung  der  Vertragschlie- 
ßenden. 

Die  günstigen  Erfahrungen,  die  die  »Kette«  mit  diesem 
ersten  Versuche  gemacht  hatte,  veranlaßte  sie,  auf  dem  einge- 
schlagenen Wege  weiter  zu  schreiten  und  neue  Vertragsabschlüsse 
mit  anderen  Gesellschaften  herbeizuführen.  Ihre  Bemühungen 
blieben  jedoch  anfangs  erfolglos,  bis  im  Jahre  1879  zwischen  ihr 
und  der  »Elb-Dampfschiffahrts-Gesellschaft«  ein  Vertrag  zustande 
kam.  Dieser  bezog  sich  jedoch  nur  auf  den  Schleppverkehr  ab 
Hamburg  und  ging  dahin,  daß  man  erstens  sich  zur  Erhebung 
gleicher  Schlepplohnsätze  verpflichtete,  die  stets  durch  gemein- 
samen Beschluß  festgesetzt  werden  sollten,  und  daß  zweitens  die 
Schleppaufträge  nach  einem,  dem  jeweilig  zur  Verfügung  stehen- 


—       172       — 


den  Schleppdampi'crmaterial  entsprechenden  Verhältnis  unterein- 
ander ausgetauscht  werden  sollten.  Hin  gemeinsames  Organ  der 
Vereinigung  bestand  nicht.  Ueber  die  Wirkung  dieser  Vereini- 
gung spricht  sich  der  schon  an  anderer  Stelle  auszugsweise 
mitgeteilte  Jahresbericht  der  »Kette«  vom  Jahre  1880  aus  ^). 
Auch  dieses  Kartell  fand  ein  vorzeitiges  Ende  durch  die  an 
anderem  Ort  -)  geschilderte  Betriebsverschmelzung  der  beiden 
Gesellschaften  im  Jahre   1881. 

Mit  Gründung  der  »Nord-West«:  im  Jahre  1881  und  der 
^Vereinigten«  im  Jahre  1884  standen  sich  plötzHch  drei  neue 
kapitalkräftige  Unternehmungen,  auf  der  Elbe  gegenüber,  deren 
Interessen  aber  nicht  mehr  unberührt  nebeneinander,  sondern 
vielfach  sehr  stark  gegeneinander  liefen.  Es  begann  nunmehr 
die  Periode  heftigster  Konkurrenzkämpfe,  die  aber  zugleich  auch 
wieder  einen  fruchtbaren  Boden  abgaben  für  gegenseitige  Ver- 
einbarungen und  Kartelle. 

Gleich  bei  der  Betriebseröffnung  der  »Nord-West«  hatte  diese 
mit  der  > Kette«  Verhandlungen  zwecks  Anbahnung  einer  freund- 
schaftlichen Verständigung  angeknüpft.  Man  einigte  sich  auch 
vertragsmäßig  auf  einzelne  Abmachungen,  die  bestimmte,  die  Ge- 
samtschiffahrt schädigende,  unwürdige  Konzessionen  an  die  Ver- 
frachter und  Frachtvermittler  aus  dem  im  übrigen  ungehindert 
fortdauernden  Konkurrenzkampf  ausschließen  sollten.  Auch  ver- 
ständigte man  sich  über  Einführung  gleicher  Verkehrsnormen 
und  gleichmäßiger  Vereinfachungen  im  Verkehr,  sowie  über 
Grundsätze  für  gegenseitige  Aushilfe  bei  übermäßiger  Inanspruch- 
nahme eines  der  beiden  Unternehmen.  Diese  Abmachungen 
waren  jedoch,  obwohl  ihre  Wirkungen  von  beiden  Parteien  als 
sehr  vorteilhaft  empfunden  wurden,  nur  von  kurzer  Dauer.  Bei 
Verhandlungen  über  ihre  Verlängerung  und  Erweiterung  kam 
es  zwischen  den  beiden  Gesellschaften  zu  starken  Meinungsver- 
schiedenheiten, so  daß  am  12.  Mai  1882  alle  Vereinbarungen  ge- 
kündigt und  aufgelöst  wurden  und  nunmehr  ein  schrankenloser, 
verlustreicher  Konkurrenzkampf  eintrat. 

Nichts  bringt  aber  im  wirtschaftlichen  Leben  die  Einzel- 
unternehmungen schneller  wieder  zusammen,  als  ein  solcher  über- 
mäßiger Wettkampf  nach  einer  friedlichen ,  gewinnbringenden 
Vertragszeit.  Man  fühlt  zu  deutlich  den  Unterschied  in  der  Ge- 
schäftsentwicklung und  das  Ungesunde  dieses  Kampfverhältnisses 

i)  Siehe  S.   108.  2)  Siehe  S.   109. 


/o 


und  findet  deshalb  meist  schnell  wieder  den  Weg  zu  dem  anderen 
zurück.  So  auch  hier.  Schon  im  Oktober  des  Jahres  1882  trat 
man  wieder  in  neue  Verhandlungen  ein,  die  im  Dezember  zum 
Abschluß  eines  förmlichen  Vertrages  führten.  Beide  Parteien 
einigten  sich  darüber,  ihre  Dienste  den  Verfrachtern,  wie  Schiffern 
nicht  unter  einem  gewissen  Minimalfracht-  bez.  Schlepplohnsatz 
zur  Verfügung  zu  stellen.  Für  Uebertretung  dieser  Vereinbarung 
wurden  Vertragsstrafen  festgesetzt. 

Die  vertragschließenden  Gesellschaften  hatten  jedoch  ihre  Macht 
und  Stellung  in  der  Schiffahrt  überschätzt.  Im  Frachtgeschäft  stand 
ihnen  die  an  Zahl  gewaltig  überlegene,  unorganisierte  Privatschiffahrt 
gegenüber,  deren  niedrigen  Frachtangeboten  gegenüber  die  Ver- 
tragsgesellschaften nur  kurze  Zeit  ihre  Minimalsätze  behaupten  konn- 
ten. Es  zeigte  sich  wieder,  daß  in  der  Eibschiffahrt  Kartellbestim- 
mungen über  Minimalfrachtsätze  niemals  von  langer  Dauer  sind, 
weil  die  Höhe  der  Frachtsätze  zu  schwankend  ist  und  seit  Jahr- 
zehnten schon  eine  dauernd  fallende  Tendenz  besitzt.  Mehr  Er- 
folg hatten  die  beiden  Gesellschaften  mit  ihren  Vereinbarungen 
im  Schleppgeschäft,  weil  sie  hier  vorerst  noch  einer  ganz  geringen, 
kaum  in  Betracht  kommenden  Konkurrenz  gegenüberstanden. 
Doch  scheinen  sie  ihre  Machtstellung  mißbraucht  und  ihre  Mini- 
malsätze zu  hoch  angesetzt,  auch  ihre  Bedingungen  für  die 
Schleppkundschaft  zu  ungünstig  gestellt  zu  haben :  denn  dieses 
Kartell  wurde  die  Veranlassung  der  neuen,  aus  Kleinschiffer- 
kreisen hervorgewachsenen  Schleppschiffahrts-Gesellschaft  der 
»Vereinigten«,  die,  sobald  sie  auf  zwei  Schiffen  ihre  Flagge  auf 
der  Elbe  zeigte,  Mitte  des  Jahres  1883  das  Kartell  zur  Auflösung 
wegen  Unhaltbarkeit  seiner  Minimalsatzbestimmungen  zwang. 
Den  Vertragsgesellschaften  erwuchs  daraus  ein  nicht  unbeträcht- 
licher Einnahmeausfall,  denn  ihnen  hatte  die  Zeit  des  gemein- 
samen Zusammengehens  sehr  gute  Einnahmen  gebracht.  Sie 
schieden  in  völlig  friedlicher  Weise  von  einander. 

Nunmehr  trat  eine  längere  Pause  in  den  Kartellbildungen 
ein.  Es  galt  vorerst,  das  neue  Kraftverhältnis  der  einzelnen 
Konkurrenten  festzustellen  und  die  Anerkennung  ihrer  Gleich- 
berechtigung bei  Vertragsverhandlungen  durch  Bewährung  im 
wirtschaftlichen  Kampfe  zu  erzwingen.  Dies  galt  vor  allem  für 
die  neuen  Aufkömmlinge  gegenüber  den  beiden  älteren  Gesell- 
schaften;  man  schien  dies  im  Jahre   1887  erreicht  zu  haben. 

Dieses    Jahr    war    für    die   Schiffahrt    das    zweite    einer    un- 


—      1 74     — 

günstigen  Konjunkturperiode.  Es  war  allmählich  der  Rück- 
schlag aus  der  unerwartet  vorteilhaften  Entwicklung  der  70er 
und  der  ersten  Hälfte  der  80er  Jahre  eingetreten,  in  welcher 
man  infolge  dauernd  neuen  Zustrümens  von  Frachtgütern  zur 
Elbe  den  Frachtschiffpark  auf  allen  Seiten  der  Schiffahrttreiben- 
den sehr  stark  vermehrt  hatte  und  in  der  Hoffnung  auf  weitere 
gleichgünstige  wirtschaftliche  Entwicklung  auch  noch  fernerhin 
steigerte.  Als  nun  etwa  seit  dem  Jahre  1885  die  Güterzufuhr 
zur  Elbe  etwas  nachließ  oder  vielmehr  ihr  Wachstum  gemäßigtere 
Formen  annahm,  erschien  bald  auf  dem  Frachtmarkt  ein  Ueber- 
angebot  von  Kahnraum,  das  selbstverständlich  die  im  freien  Ver- 
kehr nach  Angebot  und  Nachfrage  sich  bildenden  Frachtsätze 
und  indirekt  auch  die  Schlepplohnsätze  sehr  ungünstig  beein- 
flußte. Am  meisten  litten  unter  diesen  Zuständen  die  Schlepp- 
gesellschaften, die  einmal  ihre  auf  großen  Anhang  berechnete 
Schleppkraft  oft  nicht  voll  auszunutzen  vermochten,  anderseits 
aber  auch,  wenn  sie  Anhang  erhielten,  für  ihre  Tätigkeit  von  den 
Schiffseignern  nur  einen,  den  niedrigen  Frachtsätzen  entsprechend 
geringen  Schlepplohn  verlangen  konnten.  Diesen  durch  die 
niedrigen  Schleppsätze  verursachten  Ausfall  wollte  man  nunmehr 
durch  die  Masse  der  Schlepp-  und  Frachtaufträge  wett  machen 
und  eine  möglichst  große  Schleppkundschaft  durch  äußerst  vor- 
teilhafte Schleppangebote  heranziehen.  Ein  Mittel,  das  zu  diesem 
Ziele  führen  sollte,  war  das  System  der  sogenannten  Hauptfrach- 
ten, durch  das  man  mit  Privatschiffseignern  in  ein  jährliches 
festes  Vertragsverhältnis  trat.  Man*  verpflichtete  sie,  bei  der 
Bergfahrt  sich  nur  durch  Dampfer  der  Vertragsgesellschaft  schlep- 
pen zu  lassen,  und  gewährleistete  ihnen  dafür  für  je  100  kg  von 
ihnen  zu  Berg  verfrachteter  Güter  einen  für  das  ganze  Jahr 
gleichmäßig  hohen  Mindestfrachtsatz.  Außerdem  ließ  man  die 
Frachtgüter  dem  Schiffer  durch  die  eignen  Frachtkontore  der 
Gesellschaft  unentgeltlich  zustellen,  so  daß  sich  dieser  nicht  um 
deren  Beschaffung  bemühen  brauchte.  Er  wußte  also,  daß  er 
jedesmal,  wenn  er  in  einem  Hafen,  besonders  in  Hamburg,  eine 
Bergreise  antrat,  selbst  bei  der  ungünstigsten  Frachtmarktlage 
einen  bestimmten,  vorher  berechenbaren  und  wegen  der  Kon- 
kurrenz der  einzelnen  Schleppgesellschaften  in  der  Erlangung 
von  Schleppkundschaft  nicht  allzu  geringen  Verdienst  haben 
würde.  Somit  war  das  Risiko  der  ^larktpreisschwankungen  auf 
die  Schleppgesellschaften   abgewälzt.     Dieses  an  sich  schon  sehr 


—     175     — 

günstige  Vertragsverhältnis  wußten  die  Schiffer  für  sich  noch 
dadurch  besonders  vorteilhaft  und  für  die  Gesellschaften  verlust- 
bringender zu  gestalten,  daß  sie  bei  günstiger  Marktlage,  wenn 
die  Frachtsätze  höher  als  die  vertragsmäßigen  Hauptfrachten 
standen,  sich  selbständig  um  Frachten  im  Talgeschäft  oder  in 
Häfen,  die  außerhalb  der  Vertragsbestimmungen  lagen,  zur  Berg- 
fracht nach  Gütern  umsahen.  Sanken  aber  die  Marktpreise  der 
Frachten  unter  die  Vertragshauptfrachten,  so  strömten  sie  zu 
den  Vertragshäfen  hin,  vermehrten  dort  noch  das  Kahnangebot, 
drückten  dadurch  die  Marktfrachtpreise  noch  mehr  herunter,  und 
verlangten  nun  von  ihren  Vertragsgesellschaften  Ladung  zu  den 
vereinbarten  höheren  Frachtpreisen.  Hieraus  ergab  sich  für  die 
Gesellschaften  mit  ihren  Frachtbureaux  ein  doppelter  Nachteil. 
Denn  bei  günstiger  Frachtmarktlage,  während  welcher  sie  den 
Ueberschuß  aus  Marktfracht-  und  Hauptfrachtpreisen  für  ihre 
Kassen  hätten  zurückbehalten  können,  fehlte  es  ihnen  an  Kahn- 
raum ihrer  Vertragsschiffer.  Sie  konnten  infolgedessen  durch 
ihre  Frachtkontore  keine  Frachtaufträge  zu  jenen  günstigen 
Frachtpreisen  annehmen  und  außerdem  mangelte  es  ihren  Schlepp- 
dampfern an  Schleppanhang.  Dafür  mußten  sie  dann  bei  un- 
günstiger Marktlage  den  Ausfall  aus  erhaltenen  Marktfrachtpreisen 
und  gezahlten  Hauptfrachtpreisen  aus  ihrer  eigenen  Kasse  an  die 
Vertragsschiffer  zahlen. 

Diese  Einrichtung  der  Hauptfrachten  war  ein  Auswuchs  un- 
gesunder Konkurrenzverhältnisse,  und  so  schlössen  sich'die  »Kette«, 
die  »Nord-West«  und  die  »Vereinigten«  im  Jahre  1887  zu  einem 
Kartell  zusammen,  das  die  Abschaffung  dieses  Hauptfrachtsystems 
bezweckte.  Außerdem  enthielt  der  Vertrag  auch  Bestimmungen 
über  Berechnung  gleicher,  jeweilig  nach  Bedürfnis  zu  verein- 
barender Schleppsätze  und  über  gleiche  Berechnungsmethoden 
derselben.  Die  Schleppsätze  wurden  nämlich  nach  der  Trag- 
fähigkeit der  Schleppkähne  abgestuft  berechnet,  und  für  die  Be- 
stimmung und  Bemessung  dieser  Tragfähigkeit  hatten  sich  infolge 
verschiedener  behördlicher  Bestimmungen  in  den  einzelnen  Staaten 
sowie  in  der  Hitze  des  Konkurrenzkampfes  verschiedene  Ver- 
messungsmethoden herausgebildet.  Jede  Gesellschaft  war,  um 
ihrer  Schleppkundschaft  möglichst  vorteilhafte  Offerten  machen 
zu  können,  bestrebt,  die  Tragfähigkeit  der  Schleppkähne  ihrer 
Kundschaft  möglichst  gering  anzusetzen.  Auch  über  diese  Ver- 
messung   und  Tragfähigkeitsberechnung   enthielt   das  Kartell  von 


-     176     - 

18S7  bindende  Vertragsbestimmungen.  Hierdurch  wurde  der 
Konkurrenzkampf  in  der  Schleppschiffahrt  bedeutend  verringert 
und  die  Schlepplöhne  stiegen,  wodurch  sich  die  Einnahmen  der 
Gesellschaften  nicht  unbeträchtlich  hoben.  Freilich  den  Privat- 
schirtseignern  war  diese  Neuregelung  der  Verhältnisse  nicht  will- 
kommen, weil  sie  nun  nicht  mehr  die  Vielumworbenen  waren, 
denen  man  jeden  Wunsch  erfüllte. 

Zugleich  mit  diesen  Schleppkartellen  wurde  zwischen  der 
»Kette«  und  der  >  Nord-West«  eine  Vereinbarung  über  gleich- 
mäßige Frachtenberechnungen  für  bestimmte  Güter  aus  Sachsen 
und  Böhmen  in  der  Talschiffahrt  getroffen ;  dies  konnte  um  so 
eher  geschehen,  als  außer  für  Kohlen  und  Obst  in  Böhmen  und 
Sachsen  für  die  Frachtgüter  kein  offener  Markt  bestand,  sondern 
vielmehr  die  Frachtsätze  durch  Verträge  mit  den  Fabrikanten, 
Produzenten  oder  Handelsfirmen  festgesetzt  wurden.  Jener  Kar- 
tellvertrag erstreckte  sich  vor  allem  auf  Getreide  und  Zucker. 

Diese  Einträchtigkeit  unter  den  Gesellschaften  war  jedoch 
nur  von  kurzer  Dauer:  im  Juni  1888  konnte  man  sich  nicht 
mehr  über  die  Höhe  der  zu  berechnenden  Schleppsätze  einigen 
und  löste  deshalb,  nach  kaum  ^/4  jähriger  Dauer,  das  Kartell  wie- 
der auf. 

Während  der  80  er  Jahre  hat  die  Kartellbewegung  in  der 
Eibschiffahrt  noch  etwas  Unsicheres,  Tastendes  und  Versuchen- 
des an  sich.  Wie  überhaupt  damals  noch  die  Kartellbildungen 
in  ihren  ersten  Anfangsstadien  waren,  so  fehlte  es  vor  allem  bei 
der  Eibschiffahrt  an  praktischen  Erfahrungen  darüber,  wie  so 
schwierige  Probleme,  wie  sie  die  Beeinflussung  des  freien  Fracht- 
marktes darstellen,  auf  dem  Wege  von  Verträgen  und  Verbin- 
dung einzelner  freier  Unternehmunijen  zu  lösen  seien.  Die  ersten 
Versuche  waren  nunmehr  gemacht  und  ihre  Erfolge  waren  für 
den  Anfang  befriedigend  gewesen,  nur  erwies  sich  ihre  Dauer- 
haftigkeit als  sehr  gering.  In  dieser  Richtung  hat  man  in  den 
90er  Jahren  neue  Lehren  gezogen  und  Erfahrungen  gesammelt, 
die  schließlich  im  ersten  Jahrzehnt  des  20.  Jahrhunderts  zu  einer 
annehmbaren,  wenn  auch  noch  lange  nicht  vollkommenen  Ver- 
wirklichung des  Konzentrationsgedankens  geführt  haben. 

Von  1888 — 1891  fanden  keinerlei  Verbindungen  zwischen  den 
Großbetrieben  statt.  Erst  1891,  als  ein  sehr  ungünstiges  Berg- 
geschäft in  Hamburg  vorlag,  verabredeten  sich  im  Herbst  die 
drei  großen  Gesellschaften  wieder  untereinander,  die  Schleppsätze 


—     I 


// 


für  leere  Fahrzeuge  in  Hamburg,  die  in  der  Regel  50%  des 
Schleppsatzes  für  beladene  Fahrzeuge  betrugen,  gleichmäßig  auf 
30%  herabzusetzen.  Diese  Maßregel,  die  ohne  vertragsmäßige 
Verbindlichkeit  für  die  einzelnen  Gesellschaften  verabredet  und 
allseitig  durchgeführt  wurde,  ergriffen  die  Gesellschaften,  um  das 
starke  Ueberangebot  von  Kahnraum  am  Hamburger  Markt  zu 
verringern  und  dadurch  die  gesunkenen  Frachtsätze  wieder  zu 
heben.     Sie  hatte  aber  nur  wenig  Erfolg. 

Im  Herbst  desselben  Jahres  kam  auch  nach  dreijähriger  Pause 
wieder  ein  Frachtkartell  der  drei  großen  Gesellschaften  zustande, 
und  zwar  für  die  Talschiffahrt.  Die  Veranlassung  dazu  bildete 
die  trostlose  Lage  der  Frachtschiffahrt  auf  der  gesamten  Elbe, 
vor  allem  aber  bei  der  Hamburger  Bergverfrachtung,  die  für  ge- 
wöhnlich der  gesamten  Eibschiffahrt  relativ  und  absolut  die  mei- 
sten Frachtgüter  zuweist  und  deshalb  einen  ausschlaggebenden 
Einfluß  auf  die  wirtschaftliche  Lage  der  Eibschiffer  ausübt.  Im 
August  sanken  die  Frachtsätze  auf  dem  Frachtmarkt  für  Massen- 
güter von  Hamburg  nach  Dresden  (570  km)  auf  25  Pfg.  pro 
100  kg  herab,  also  0,44  Pfg.  für  einen  tkm.  Dieser  P'rachtsatz 
deckte  nicht  einmal  die  Betriebskosten  für  das  Schleppen  der 
Güter  auf  dieser  Strecke,  geschweige  denn,  daß  er  für  den  Schiffer 
einen  Gewinn  abwarf.  Unter  diesen  Verhältnissen  ( —  die  übri- 
gens in  späteren  Jahren  noch  viel  schlimmer  geworden  sind  — ) 
litt  die  Großschiffahrt  in  gleicher  Weise  wie  die  Kleinschiffahrt 
und  eine  Abstellung  dieser  Zustände  war  im  gemeinsamen  In- 
teresse beider.  Deshalb  schlössen  sich  die  »Kette«,  die  »Nord- 
West«  und  die  »Vereinigten«  zu  einem  Kartell  zusammen,  und 
zwar  suchten  sie  den  Mißständen  indirekt  zu  begegnen.  Da  sie 
sich  wegen  der  großen  zahlenmäßigen  Ueberlegenheit  der  zer- 
splitterten Kleinschiffahrt  am  Hamburger  Bergfrachtmarkt  außer 
Stande  fühlten,  auf  diesen  maßgebend  und  bessernd  Einfluß  zu 
gewinnen,  so  suchten  sie  wenigstens  das  auch  stark  in  der  Ren- 
tabilität herabgesunkene  Talgeschäft  von  Sachsen  und  Böhmen 
wieder  gewinnbringender  zu  gestalten  und  dadurch  sich  und 
der  Kleinschiffahrt  Entschädigung  für  die  Verluste  bei  den  Berg- 
frachten zu  verschaffen.  Man  hoffte  auch,  dadurch  die  Klein- 
schiffahrt von  dem  Hamburger  Markte  abzulenken,  auf  diese 
Weise  dort  das  Kahnraumangebot  zu  verringern  und  so  die 
Frachtpreise  wieder  zu  heben.  Einfluß  auf  das  oberländische 
Talgeschäft    zu    gewinnen,    mußte    den  Gesellschaften  bedeutend 

Zeitschrift  für  die  ges.  Staatswissensch.     Ergänzungsheft  50.  I  2 


-     178     - 

leichter  fallen,    als  am  1  lamburj^er  Markte,  denn  in  Böhmen  und 
Sachsen  hatten  die  Gesellschaften  von  jeher,  abgesehen  von  den  böh- 
mischen Kohlenfrachten,  die  sämtlichen  Transporte  fast  vollständig 
in  ihren  Händen.    Die  Gesellschaften  brauchten  also  nur  ihre  gegen- 
seitige Konkurrenz  einzustellen,  um  wieder  Einfluß  auf  die  Frachtbil- 
dung zu  gewinnen.    Dieses  Mittel  ergriff  man  nunmehr  in  dem  neuen 
Frachtkartelle,    welches    das    dauerhafteste    und    vielleicht    auch 
wirkungsvollste    der    rein    vertragsmäßigen,    jederzeit    kündbaren 
Kartelle    in    der  Eibschiffahrt    gewesen    ist.     Im  September   1S91 
kam    ein    sofort    in  Kraft    tretender  Vertrag    für  die  böhmischen 
Zuckertransporte    zustande,    der    im    Dezember    desselben  Jahres 
auch  auf  andere  Güterarten  aus  Sachsen  und  Böhmen  mit  Gültig- 
keit bis  zum  30.  Juni   1893  erweitert    wurde.     In  diesem  Vertrag 
verpflichteten   sich    die  Mitglieder    zur  Berechnung  gleichmäßiger 
Talfrachten  für  bestimmte  Güter.    Die  Verteilung  der  von  den  Ge- 
sellschaften zur  Elbvcrfrachtung  herangezogenen  Güter  aus  Sachsen 
und  Böhmen    sollte    >>nach  Maßgabe    der    jeder  Gesellschaft   zur 
Verfügung  stehenden  Laderäume«   geschehen.    Der  Gesamtfracht- 
güterverkehr   wurde    also    zu    bestimmten  Quoten   an  die  Gesell- 
schaften zum  Transporte  verteilt,  was  dadurch  geschah,  daß  alle 
Frachtaufträge  eine  gemeinsame  Zentralstelle  in  Dresden  passieren 
mußten  und  von  dieser  an  die  einzelnen  Unternehmungen  weiter 
gegeben  wurden.     Da  aber  die  Gesellschaften  mit  ihrem  geringen 
Frachtschift'park    nur    zum    kleinsten  Teile    imstande    waren,    die 
Aufträge  zu  erledigen,  so  wurden  dieselben  zu  gleichhohen  Sätzen 
nach  Abzug  einer  Vermittlungsgebühr  an  Privatschiffseigner  wei- 
tergegeben.    Diese  Neuregelung  fand  den  ungeteilten  Beifall  nicht 
nur  der  beteiligten  Großschiffahrt,  sondern  auch  der  Kleinschiffer. 
Sofort  nach  ihrem  Inkrafttreten  stiegen  die  Frachtsätze  von  Böhmen 
nach  Hamburg  um  4—5  Kreuzer,  d.  i.  etwa  20— 30  o/o-     Obwohl 
die    ersten  Jahre    des  Kartells    in  die  für  die  Schiffahrt  sehr  un- 
günstigen Jahre    1892    und    93  (Cholera-Epidemie    in    Hamburg) 
fielen,    so    war    die  Besserung  der  Verhältnisse  eine  so  deutliche 
und  klar  hervortretende,  daß  das  Kartell  beim  Nahen  seines  End- 
termines  von  allen  Beteiligten  sofort  auf  3  weitere  Jahre  erneuert 
wurde.     Auf  diese  Weise   hat  es  ohne  Unterbrechung  vom  Sep- 
tember   1891    bis  zum   10.  Januar  1896  fortbestanden.     Selbst  in 
Handelskreisen    fand    die  Tätigkeit    des  Karteiles  fast  allgemeine 
Anerkennung,  denn  auch  jetzt  waren  die  Talfrachten  keine  absolut 
festen.     Von  den  drei  Momenten,    die  bei  freier  Konkurrenz  die 


—     1/9     — 

Eibfrachten  bestimmen :  dem  Güterangebot,  dem  Kahnrauman- 
gebot und  dem  Wasserstand  der  Elbe,  war  nur  eines  in  seiner 
preisbestimmenden  Wirkung  ausgeschaltet  worden,  nämlich  das 
freie  unter  sich  konkurrierende  Kahnraumangebot ;  die  beiden 
anderen  Faktoren  blieben  bestehen  und  bewirkten  das  Fallen 
oder  Steigen  der  Frachtsätze. 

Während  also  in  der  Talschiffahrt  von  einer  gewissen  Ge- 
sundung der  Verhältnisse  gesprochen  werden  konnte,  dauerten 
die  ganz  unbefriedigenden  und  gewinnlosen  Zustände  in  der 
Bergfrachtschiffahrt  und  ebenso  in  der  Schleppschiffahrt  fort. 
Ende  August  1892  einigten  sich  die  drei  großen  Gesellschaften 
sogar  dahin,  die  Frachtschiffahrt  zu  Berg  von  Hamburg  wegen 
der  dort  herrschenden  Cholera  und  wegen  des  ungünstigen  Ge- 
schäftes auf  einen  Monat  ganz  einzustellen.  Auch  die  beiden 
folgenden  Jahre  brachten  keine  Besserung.  Im  Gegenteil  sanken 
1894  die  Schififahrts-» Vergütungen«  noch  unter  den  bisher  be- 
kannten niedrigsten  Stand.  Da  entschloß  man  sich  im  Oktober 
1894,  wieder  in  Verhandlungen  einzutreten,  und  zwar  wurden 
diese  diesmal  unter  allen  auf  der  Elbe  Schleppschiffahrt  treiben- 
den Unternehmungen  gepflogen.  Sie  waren  langwierig  und 
schwierig,  aber  schließlich  endeten  sie  am  3.  Januar  1895  mit 
einem  ansehnlichen  Erfolg  des  Kartellgedankens.  Es  gelang 
unter  dem  Namen  »Elb-Schleppschiffahrts- Vereinigung«  das  größte 
und  umfassendste  Kartell  zusammenzubringen,  das  bis  zum  Jahre 
1907  auf  der  Elbe  zustande  gekommen  ist,  und  dem  sich  sämt- 
liche Eibreedereien  anschlössen,  die  auf  der  Elbe  gewerbmäßig 
Schlepp  Schiffahrt  betrieben. 

Die  Vereinigung,  die  auf  drei  Jahre  geschlossen  war,  hatte 
zum  Zweck,  die  Konkurrenz  in  der  Schleppschiffahrt  ab  Hamburg 
bergwärts  auszuschließen  und  dadurch  die  Schlepplöhne  zu  er- 
höhen. Es  hatten  sich,  wie  gesagt,  außer  den  Gesellschaften 
auch  sämtliche  Privatschleppunternehmer  ihr  angeschlossen.  Ihr 
Schiffspark  bestand  aus  106  Schlepp-  und  17  Eilgutdampfern. 
Obwohl  die  IMitglieder  nur  Schleppschiffahrtsunternehmer  waren, 
versuchten  sie  ihre  Wirksamkeit  auch  auf  das  Frachtgeschäft 
auszudehnen ,  indem  die  Vereinigung  zum  ersten  Male  den 
vorteilhaften  Gedanken  zu  verwirklichen  suchte,  auch  die  Klein- 
schiffseigner, die  ausschließlich  Frachtschiffahrt  betrieben  und  nur 
Benutzer  der  Schleppschiffahrt  waren,  für  das  Kartell  der 
Großunternehmungen   zu   interessieren.     Bei   Gründung    der  Ver- 

12* 


—      I  So      — 

einigung  ging  man  von  der  üebcrzcugung  aus,  daß  das  Unter- 
bieten auch  der  einzelnen  Großunternehmungen  auf  dem  Fracht- 
markte und  vor  allem  das  Termingeschäft  bei  Frachtabschlüssen, 
das  dem  Frachtmarkt  ein  so  außerordentlich  unruhiges,  nervöses 
und  unberechenbares  Gepräge  gab  und  den  Gesellschaften  oft 
bedeutende  Verluste  zufügte,  seinen  wichtigsten  (irund  in  dem 
Bestreben  und  Bedürfnis  der  Schleppschiffajirtsunternehmungen 
hat,  möglichst  viel  Schleppanhang  für  ihre  Dampfer  zu  erhalten. 
Nunmehr  suchte  die  Schleppschiffahrts- Vereinigung  das  Uebel  un- 
mittelbar an  der  Wurzel  zu  fassen,  indem  sie  jede  Konkurrenz 
der  Unternehmer  in  der  Bewerbung  um  Schleppanhang  beseitigte. 
Es  wurde  nämlich  von  der  »Vereinigung«  in  Hamburg  eine 
Meldestelle  für  alle  Schiffe  errichtet,  die  von  Hamburg  bergwärts 
abgeschleppt  werden  wollten.  Die  Zentralstelle  gab  die  Schlepp- 
aufträge an  die  einzelnen  Schleppunternehmer  weiter  und  zwar 
nach  Einheitssätzen,  die  den  einzelnen  Unternehmen  als  Betei- 
ligung am  Gesamtverkehr  in  Anlehnung  an  den  Anteil  zuge- 
sprochen wurde,  den  sie  im  Vorjahre  1894  am  Gesamtverkehr 
gehabt  hatten.  Die  Schleppsätze  und  Schleppbedingungen  wur- 
den für  die  ganze  Elbe  einheitlich  festgesetzt,  so  daß  es  also 
den  Schleppkunden  gleichgültig  sein  mußte,  von  welcher  Gesell- 
schaft sie  geschleppt  wurden. 

Außerdem  aber  mußten  auch  alle  Frachtaufträge,  die  den 
einzelnen  Schleppunternehmungen  von  ihren  Verfrachtern  zu- 
gingen, an  die  zentrale  Meldestelle  geleitet  werden,  welche  die 
zu  zahlenden  Frachtsätze  vereinbarte  und  die  Ausführung  des 
Auftrages  weiter  gab.  Zu  diesem  Zwecke  war  die  Einrichtung 
getroffen,  daß  alle  Schleppkähne,  die  von  der  Vereinigung  Berg- 
fracht erhalten  wollten,  sich,  sobald  sie  zur  Neubefrachtung 
bereit  w-aren,  bei  der  Meldestelle  zu  melden  hatten  und  in  eine 
Liste  eingetragen  wurden.  In  der  Reihenfolge  der  Anmeldungen 
erfolgte  dann  auch  die  Befrachtung.  Die  Meldestelle  stand  in 
gleicher  Weise  den  Schleppkähnen  der  Privatschiffseigner,  wie 
denen  der  Gesellschaft  zur  Verfügung,  jedoch  wurde  in  der  Be- 
rechnung der  Frachten  zwischen  ihnen  ein  Unterschied  gemacht. 
Die  Privatschiffseigner  erhielten  nämlich  nach  Zahlung  einer 
geringen  Frachtvermittlungsgebühr  den  vollen  Betrag  des  von  der 
Meldestelle  mit  dem  Verfrachter  vereinbarten  Frachtpreises.  Die 
Vereinigung  stand  dafür  ein,  daß  dieser  Frachtpreis  um  minde- 
stens  10  Pfennige  pro   100  kg,  die  für  dasselbe  Güterquantum  zu 


—     i8i     —  ^ 

zahlenden  Schlepplöhne  überstieg  und  somit  mindestens  dieser 
Betrag  ihnen  zur  Deckung  ihrer  Kosten  verblieb.  Außerdem  er- 
warben sie  mit  der  Benützung  der  Frachtvermittlung  der  Ver- 
einigung das  Recht,  am  Ende  des  Kalenderjahres  von  letzterer 
eine  Rückvergütung  von  5  %  der  im  Laufe  des  Jahres  an  sie 
gezahlten  Schlepplöhne  zu  verlangen.  Auf  diese  Weise  suchte 
man  die  Privatschiffahrt  an  dem  Bestehen  und  der  starken  Be- 
nutzung der  Schleppschiffahrts- Vereinigung  zu  interessieren,  was 
auch  in  vollem  Umfange  gelang.  Die  Schiffahrts-Gesellschaften 
dagegen  erhielten  die  für  ihre  Schleppdienste  gezahlten  Schlepp- 
löhne und  für  durch  ihre  Schleppkähne  bewirkten  Frachttrans- 
porte die  wirklich  gezahlten  Frachten  ohne  Garantierung  einer 
bestimmten  Höhe.  Außerdem  mußten  sie  auch  proportional 
ihre  Anteilsquoten  am  Gesamtverkehr  zu  den  Verwaltungsaus- 
gaben und  den  Unkosten  des  Kartells  beisteuern.  Wurde  nun 
zwar  durch  diese  Bedingung  und  durch  die  Ausschaltung  der 
freien  Konkurrenz  die  Ausnutzung  und  Beschäftigung  ihrer  Schlepp- 
kräfte nicht  unerheblich  eingeschränkt,  so  wurde  dieser  Nachteil 
doch  weit  in  den  Schatten  gestellt  durch  die  Gewinnerhöhung, 
welche  die  Einzelunternehmungen  aus  der  Aufbesserung  und 
Festigung  der  Schlepplöhne  wie  aus  der  Gesundung  der  Fracht- 
preise zogen.  Die  Frachtsätze  ab  Hamburg  betrugen  im  allge- 
meinen bei  voUschiffigem  Wasserstand  während  des  ganzen  Jahres 
nach  den  verschiedenen  Eibstationen  im  Jahresdurchschnitt  0,95 
bis  1,87  Pfg.  für  I  tkm.  So  war  man  in  der  Groß-  wie  in  der 
Kleinschiffahrt  mit  dem  Kartell  sehr  zufrieden,  und  auch  die 
Handelskreise  standen  ihm  sympathisch  gegenüber,  weil  die  fest- 
gesetzten Schlepplöhne  und  vereinbarten  Frachtsätze  sich  in 
mäßiger,  den  Leistungen  entsprechender  Höhe  hielten.  Nur  einem 
Teil  der  Hamburger  Spediteure,  die  aus  den  Schwankungen  der 
Frachten  ihren  Vorteil  zogen,  war  die  Vereinigung  ein  Dorn  im 
Auge  ;  er  suchte  sie  zu  sprengen,  was  ihm  auch  sehr  bald  ge- 
lang. 

Als  sich  nämlich  mit  Hilfe  des  Kartells  die  wirtschaftlichen 
Verhältnisse  während  des  Jahres  1895  bedeutend  gebessert  hatten 
und  geregeltere  geworden  waren,  entstanden  gegen  Ende  des 
Betrieb-sjahres  nicht  weniger  als  drei  neue  Schleppgesellschaften, 
welche  die  günstige  Konjunktur  auszunutzen  und  die  Politik  des 
Karteiles  zu  durchkreuzen  suchten,  indem  sie  dessen  Fracht-  und 
Schleppsätze    stets  um  ein  Geringes  unterboten  und  dadurch  die 


—       IS2      — 

Kundschaft  anlockten.  So  entstand  diesmal  die  neue  Konkurrenz 
nicht  wie  im  Jahre  1883  aus  Kreisen  der  Kleinschififer,  sondern 
aus  Kreisen  der  Spediteure  und  privater  Verfrachtungsgeschäfte 
heraus.  Gegen  das  Gebaren  dieser  neuen  Unternehmungen  be- 
saß das  Kartell  kein  Mittel,  es  löste  sich  daher  schon  nach  ein- 
jährigem, erfolgreichen  Bestehen  am  10.  Januar  1896  freiwillig 
auf.  Zugleich  kündigte  man  auch  das  schon  erwähnte  Talfracht- 
kartell zwischen  der  > Kette«,  der  »Vereinigtenf  und  der  »Nord- 
West«,  um  in  dem  nun  ausbrechenden  heißen  Konkurrenzkampfe 
völlig  freie  Hand  zu  haben. 

Die  Folgen  blieben  nicht  .aus.  Die  nächsten  drei  Jahre 
wurden  sehr  ungünstige  für  die  Eibschiffahrt;  die  Gesellschaften 
arbeiteten  im  Jahre  1896  teilweise  wieder  unter  dem  Selbstkosten- 
preis. Der  Gedanke  an  die  Wiedergewinnung  der  Einigkeit  wurde 
deshalb  nicht  aufgegeben.  Nach  Auflösung  der  Schleppschiffahrts- 
Vereinigung  war  zwischen  einzelnen  Gruppen  der  früher  an  ihr 
Beteiligten  ein  freundschaftliches  Verständigungsverhältnis  be- 
stehen geblieben,  das  ohne  alle  feste  Form  nur  auf  gegenseitigem 
Vertrauen  beruhte  und  jederzeit  kündbar  war,  so  z.  B.  zwi- 
schen der  »Kette«  und  den  »Vereinigten«,  zwischen  der  »Nord- 
West«  und  mehreren  Privatschleppfirmen  usw.  Man  einigte  sich 
über  Einhaltung  gleicher  Geschäftsgrundsätze.  Neben  diesen 
ganz  losen  Verständigungen  aber  wurden  fortgesetzt  insbesondere 
auf  Anregung  der  »Kette«  Verhandlungen  mit  allen  beteiligten 
Kreisen  gepflogen  zwecks  Anbahnung  einer  engen  Betriebsge- 
meinschaft. Die  Verhandlungen  wurden  geheim  geführt ;  zweimal, 
anfangs  des  Jahres  1897  und  anfangs  des  Jahres  1898  stand 
man  unmittelbar  vor  einem  erfolgreichen  Abschluß ;  aber  beide 
Male  scheiterten  schließlich  die  Verhandlungen  noch  im  letzten 
Augenblicke  an  der  Weigerung  oder  allzu  hohen  Forderung  eines 
oder  des  anderen  Unternehmens.  Schon .  damals  stand  man  also 
kurz  vor  der  Verwirklichung  eines  großzügigen  Fusionsgedankens, 
der  sich  aber  erst  in  den  Jahren  1903— 1907  in  die  Tat  um- 
setzen sollte. 

Eine  tatsächliche  Annäherung  der  Gesellschaften  und  Ab- 
schwächung  der  im  Frühjahr  mit  bisher  unbekannter  Schärfe  auf- 
getretenen gegenseitigen  Konkurrenz  gelang  erst  wieder  im  Au- 
gust 1898,  als  zwischen  den  damals  bestehenden  4  großen  Ge- 
sellschaften »Kette«,  »Nord- West«,  »Vereinigte«  und  »Deutsch- 
Oesterreichische«  Verständigungen  über  ein  gemeinsames  Vorgehen 


—     i«3     — 

bei  Festsetzung  von  Fracht-  und  Schleppsätzen  erreicht  wurde. 
Vor  allen  Dingen  verpflichteten  sich  diese  Gesellschaften  gegen 
Zahlung  von  Vertragsstrafe  sowohl  in  der  Berg-  wie  in  der  Tal- 
schiffahrt Leistungen  nicht  unter  dem  Selbskostenpreis  anzubieten 
oder  auszuführen.  Dadurch  war  dem  gegenseitigen  Unterbieten 
der  Gesellschaften  schon  eine  gewisse  Grenze  gesetzt  und  die 
Konkurrenz  vermindert.  Das  machte  sich  auch  sofort  auf  dem 
Frachtmarkt  geltend :  die  Frachten  zogen  an  und  infolgedessen 
konnten  auch  die  Schlepplöhne  aufgebessert  werden.  Neben 
dieser  Vereinbarung  über  die  Höhe  der  Frachtpreise  wurde  aber 
auch  den  Gesellschaften  eine  gewisse  Zurückhaltung  in  der  Schiff- 
fahrt auferlegt,  indem  einem  jeden  Unternehmer  eine  bestimmte 
feste  Quote  am  Gesamtverkehr  zugeteilt  wurde.  Gingen  damit 
die  Gesamtsummen  der  verschifften  Güter  und  der  geschleppten 
Kähne  bei  den  Einzelunternehmungen  etwas  zurück,  so  war  die- 
selbe Bewegung  trotzdem  nicht  bei  den  erzielten  Einnahmen  zu 
finden,  da  diese  vielmehr  durch  die  verbesserte  Bezahlung  der 
Leistungen  und  durch  Betriebsersparungen  nicht  unerheblich  auf- 
gebessert wurden.  Das  Kartell  arbeitete  zur  allgemeinen  Zufrie- 
denheit der  Beteiligten,  so  daß  es  nicht  nur  ohne  Schwierigkeiten 
für  das  Jahr  1900  und  nach  Ablauf  desselben  für  das  Jahr  1901 
auf  der  gleichen  Grundlage  erneuert  wurde,  sondern  auch  für  das 
Jahr  1900  die  beiden  bisher  noch  außerhalb  des  Kartells  geblie- 
benen großen  Gesellschaften,  die  »Neue  Norddeutsche«  und  die 
»Elbe«  ihm  beitraten,  wodurch  eine  neue  Quotenverteilung  unter 
den  Mitgliedern  notwendig  wurde.  Allerdings  trat  die  »Elbe« 
schon  am  Schluß  des  Betriebsjahres  wieder  aus  der  Vereinigung 
aus,  weil  die  durch  den  Betrieb  gewonnenen  Vorteile  ihren  Hoff- 
nungen nicht  entsprochen  hatten. 

Die  Jahre  1901  und  1902  waren  für  die  Schiffahrt  ungünstig, 
was  durch  den  Mangel  an  Transportgütern  und  durch  ungenügen- 
den Wasserstand  der  Elbe  hervorgerufen  wurde.  Wenn  es  trotz- 
dem den  Gesellschaften  gelang,  '  aus  ihren  Betrieben  in  diesen 
Jahren  befriedigende  Gewinne  herauszuarbeiten,  so  war  das  allein 
dem  Bestehen  des  Kartells  zu  verdanken.  Denn  wenn  auch  ein 
weiteres  Sinken  der  Frachten  durch  die  Vereinigung  nicht  auf- 
gehoben werden  konnte,  so  wurde  es  doch  verlangsamt  und  auf 
ihr  geringstes  Maß  beschränkt.  Man  sah  gerade  damals  ein,  daß 
die  Privatschiffseigner  mit  ihrer  zahlenmäßigen  Uebermacht  doch 
ein  zu  wichtiger  Faktor    auf   dem   Frachtmarkte    waren,   als   daß 


—      iS4     - 


man  ihren  fiachtdrückcndcn  Einiluß  selbst  bei  geschlossenem  Vor- 
gehen der  Großunternehmungen  hätte  ausschalten  oder  auch  nur 
wirksam  eindämmen  können.  Das  zeigte  sich  mit  unerbittlicher 
Deutlichkeit  im  Frühjahr  des  Jahres  1902.  Die  Frachten  erreich- 
ten einen  bisher  noch  nie  dagewesenen  Tiefstand.  So  wurden 
während  des  ganzen  Juni  für  Massenfrachten  von  Hamburg  nach 
Dresden  pro  100  kg  21  Pfg.  bezahlt,  also  o,35  l'fg-  für  einen  tkm, 
während  die  Selbstkosten  der  Gesellschaften  für  das  Schleppen 
allein  auf  dieser  Strecke  etwa  25-27  Pfg.  pro  100  kg  Ladung 
betrugen.  Unter  diesen  Umständen  konnte  das  Kartell  seinen 
Zweck  nicht  mehr  erfüllen,  und  so  entschloß  man  sich  im  Juli 
zur  Kündigung  desselben  für  den  Verkehr  zu  Berg  und  im  Au- 
gust auch  für  den  Talverkehr.  Die  Kündigung  ging  von  den 
«Vereinigten«  aus.  Es  wurden  nun  während,  des  ganzen  Jahres 
1902  Verhandlungen  geführt,  die  der  Verwirklichung  eines  groß- 
angelegten Planes  galten  und  die  Vereinigung  sämtlicher  Schiff- 
fahrtstreibenden  auf  der  Elbe  im  Auge  hatten.  Das  treibende 
Element  waren  die  »Vereinigten  . 

Bei  der  neuen  Vereinigung  sollten  alle  Schiffahrtstreibenden 
beteiligt  sein,  vor  allem  auch    die  Privatschiffahrtseigner  als  voll- 
berechtigte Mitglieder,  jedoch  sollten  nicht  wieder  vertragsmäßige 
Vereinbarungen  getroffen  werden,  es  war  vielmehr  eine  allgemeine 
Betriebsgemeinschaft  beabsichtigt.    Aber  gerade  die  Einbeziehung 
der  Privatschiffahrt   in    die  Verträge    stieß    auf  große    Schwierig- 
keiten;   fehlte  es  doch    an    einer    einheitlichen  Organisation    der- 
selben' oder  einer  Instanz,  durch  die  man  hätte    mit   ihr    verhan- 
deln können.     Es  mußte  daher  erst  eine  solche  Organisation  ge- 
schaffen   werden.     Die  Vorarbeiten    dazu   schritten    nur   langsam 
vorwärts.     So  gestalteten  sich  die  Verhandlungen  sehr  schwierig; 
sie  erschienen  oftmals  ganz  hoffnungslos    und  wurden  wiederholt 
abgebrochen,  immer  aber  wieder  aufgenommen.     Am  24.  Februar 
1903  trat    man    abermals    in  Berlin    zur  Verhandlung    über    eine 
Schleppschiffahrtsvereinigung    ähnlich    der     des    Jahres    1895    zu- 
sammen und  einigte  sich  über  mehrere  bisher    noch    streitig   ge- 
wesene Punkte ;    doch  zogen  sich  die  Vorarbeiten  noch   über  den 
ganzen  Sommer  hin.     Als  dann    am  27.  Oktober  abermals  sämt- 
liche Elbschleppunternehmer  in  Berlin  zusammentraten,  war  man 
überzeugt,  daß  für  das  Jahr   1904  ein  auf  weitgehender  Betriebs- 
gemeinschaft beruhendes  Schleppkartell  zustande  kommen  würde. 
Nur  über  einige  nebensächliche  Punkte  war  in  den  letzten  Monaten 


—     i85     — 

des  Jahres  1903  eine  Einigung  noch  herbeizuführen.  Da  trat 
plötzhch  für  alle  Beteiligten  völlig  unerwartet  ein  Ereignis  ein, 
das  die  gesamte  Lage  und  alle  bisherigen  Verhandlungsergebnisse 
umstieß :  die  Fusion  der  drei  größten  Elbschiffahrtsunternehmun- 
gen,  durch  welche  die  Kräfteverhältnisse  auf  der  Elbe  völlig  neu- 
artige wurden. 

III.  Kapitel. 

Die    Betriebskonzentration    der    Klein-    und    Groß- 
schiffahrt seit  1903. 

Niemand  ahnte,  daß  gleichzeitig  mit  den  in  Berlin  gepfloge- 
nen Verhandlungen  zur  Zusammenbringung  eines  Schleppschiffahrts- 
karteiles während  des  Herbstes  1903  auch  in  Dresden  sehr  ernste 
Besprechungen  über  eine  Betriebsvereinigung  der  drei  größten  und 
ältesten  Unternehmungen  auf  der  Elbe,  der  »Kette«,  der  »Nord 
West«  und  der  »Vereinigten«  stattfanden,  als  plötzlich  am  17.  No- 
vember die  Beschlüsse  der  Aufsichtsratsversammlungen  der 
drei  Gesellschaften  bekannt  wurden,  die  am  12.  Dezember  die 
Genehmigung  der  entsprechenden  drei  Generalversammlungen 
fanden. 

Die  Fusionierungsverhandlungen  waren  unter  völliger  Geheim- 
haltung gepflogen  worden.  Die  »Kette«  litt  schon  seit  langer 
Zeit  an  der  Unrentabilität  ihrer  Dampferbetriebsart.  Durch  die 
fortschreitenden  staatlichen  Regulierungsarbeiten  am  Eibfahrwasser 
hatte  dasselbe  im  Laufe  der  Jahre  eine  solche  Sicherheit  und 
hochgradige  Schiffbarkeit  in  seiner  ganzen  Ausdehnung  erhalten, 
daß  die  Kettenschleppschiffahrt,  die  bei  Stromschnellen-  und  un- 
tiefenreichem Fahrwasser  bedeutende  Vorzüge  vor  den  Rad- 
schleppdampfern besaß,  ihre  Rentabilität  verlor,  und  wegen  der 
sehr  hohen  Erhaltungskosten  mit  den  Raddampfern  immer  we- 
niger in  Wettbewerb  treten  konnte.  Die  '> Nord- West«  dagegen 
war  durch  die  österreichische  Gesetzgebung,  vor  allem  durch  die 
sehr  hohen  öffentlichen  Abgaben  gegenüber  den  deutschen  Un- 
ternehmungen im  Nachteil. 

Dem  gegenüber  befanden  sich  die  »Vereinigten«  noch  in 
einer  verhältnismäßig  günstigen  Lage.  Trafen  für  sie  schon  nicht 
die  oben  erwähnten  Nachteile  der  anderen  Unternehmungen  zu, 
so  kam  ihnen  noch  die  ursprüngliche  Zusammensetzung  ihrer 
Aktionäre  besonders  zu  statten,    die   sich  vorwiegend   aus  Klein- 


—      I S6     — 

schififerkreisen  zusammensetzte.  Diese  zogen  natürlich  für  das 
Schleppen  ihrer  Kähne  die  Dampfer  ihres  eigenen  Unternehmens 
denen  anderer  vor,  und  so  hatten  die  >  Vcreinic^tcn'^  einen  ge- 
wissen natürlichen  Zulauf  von  Schlepp-  und  Frachtkundschaft. 
Aber  auch  sie  litten  stark  unter  tlem  unbegründeten  Mißtrauen 
weiter  Kleinschififerkrcise  gegen  jede  größere  Schleppgesellschaft, 
wie  es  sich  am  deutlichsten  in  den  wiederholten  Neugründungen 
von  KleinschifTerschleppgesellschaften  gezeigt  hat.  Deshalb  war 
man  dem  Plan  der  Fusionierung  der  drei  ältesten  Unternehmun- 
gen nähergetreten. 

Während  sich  die  » Kette  c  und  die  » Vereinigten '^  über  die 
Art  ihrer  Vereinigung  bald  verständigten,  verursachte  der  An- 
schluß der  »Nord-West«  als  eines  ausländischen  Unternehmens 
große  Schwierigkeiten.  X'on  einer  vollständigen  Bctriebsver- 
schmelzung  glaubte  man  absehen  zu  müssen,  weil  die  Steuer- 
lasten, die  ein  deutsches  Unternehmen  hätte  tragen  müssen,  das 
in  Oesterreich  mit  österreichischen  Konzessionen  die  Schiffahrt 
ausüben  wollte,  sehr  bedeutende  gewesen  wären,  während  etwa 
das  Aufgehen  der  drei  Gesellschaften  in  eine  österreichische  Ge- 
sellschaft aus  demselben  Grunde  überhaupt  nicht  in  Betracht  ge- 
zogen werden  konnte.  So  kam  man  schließlich  zu  der  Lösung, 
daß  die  Betriebe  der  »Kette«  und  der  »Vereinigten«  vollständig 
miteinander  verschmolzen  werden  sollten,  während  die  » Nord- 
West «  formell  weiter  bestehen  bleiben,  jedoch  mit  der  neuen 
Fusionsgesellschaft  in  eine  sehr  enge  Betriebs-  und  Interessen- 
gemeinschaft treten  sollte,  indem  sie  Biesen  auf  25  Jahre  ihr  ge- 
samtes Betriebsmaterial  pachtweise  überließ.  War  somit  äußer- 
lich der  »Nord-West«,  eine  Vorzugsstellung  eingeräumt,  so  war 
dies  gleichwohl  nur  scheinbar  und  aus  steuerpolitischen  Gründen 
geschehen.  Tatsächlich  ging  auch  sie  in  der  Fusionsgesellschaft 
auf,  indem  letztere  nämlich  mit  der  Dresdener  Filiale  der  Deut- 
schen Bank  einen  Vertrag  abschloß,  nachdem  diese  sich  ver- 
pflichtete, der  neuen  Gesellschaft  von  den  10  000  Stück  Aktien 
der  >Nord-\Vest«  mindestens  5100  Stück  zwecks  Umtausches  zum 
Kurse  von  97  Proz.  gegen  neue  Aktien  der  Fusionsgesellschaft 
zu  liefern.  Dieser  Auftrag  aber  wurde  nicht  nur  voll  ausgeführt, 
sondern  es  gelang  der  Bank,  der  neuen  Gesellschaft  sogar  9977 
Stück  Aktien  der  »Nord-West«  zum  Umtausch  zu  verschaffen,  so 
daß  heute  nur  noch  23  »Nord-West«  Aktien  in  fremden  Händen 
sind,  die  österreichische  Gesellschaft  also   fast  vollständig  in  den 


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Besitz  der  deutschen  übergegangen  ist.  Zwischen  den  beiden 
Gesellschaften  wurde  danach  ein  Pachtvertrag,  bis  zum  Jahre  1930 
unkündbar,  abgeschlossen,  nach  welchem  die  »Nord-West«  außer 
allen  Amortisationskosten  und  Abschreibungen  eine  4prozentige 
Verzinsung  ihres  Aktienkapitales  als  Pachtzins  zu  erhalten  hat. 

Der  Anschluß  der  »Kette«  erfolgte  in  der  Art,  daß  die  neue 
Fusionsgesellschaft,  ebenso  wie  gegenüber  der  »Nord-West«,  in 
alle  Rechte  und  Pflichten  der  alten  Gesellschaft  eintrat  und  deren 
Aktien  bis  zu  einem  bestimmten  Termin  in  Aktien  der  neuen 
Gesellschaft  umtauschte,  und  zwar  alle  Aktien  im  Nennwert 
von  je  1500M.  in  neue  im  Nennwert  von  1000  M.  Die  »Dampf- 
Schlepp-Schififahrts-Gesellschaft  der  Vereinigten  Saale-  und  Elbe- 
Schiffer«  aber  änderte  ihren  Namen  in  »Vereinigte  PHbe-Schif- 
fahrts-Gesellschaften  Aktiengesellschaft«  mit  dem  Sitz  in  Dres- 
den um  und  erhöhte  ihr  Aktienkapital  von  3  500  000  M.  auf 
II  100  000  M.  Von  den  neuen  Aktien  im  Betrage  von  7  600  000  M. 
wurden  4  300 000  M.  zum  Erwerb  der  Aktien  der  »Kette«,  der 
Rest  zum  Ankauf  der  »Nord-West« -Aktien  verwendet.  Die  An- 
leihescheine der  »Kette«,  von  denen  noch  ein  Betrag  von  i  309000M. 
im  Umlauf  war,  wurden  al  pari  zurückgezahlt,  dagegen  für 
I  400  000  M.  neue  Anleihescheine  zu  4  Proz.  verzinslich  und  zu 
102  rückzahlbar  ausgegeben.  Finanziert  wurde  die  Fusion  durch 
ein  Bankkonsortium,  das  es  auch  übernahm,  die  neuen  Aktien  an 
den  Börsen  zu  Berlin,  Hamburg,  Leipzig  und  Dresden  einzufüh- 
ren; es  bestand  aus  der  Dresdener  Filiale  der  Deutschen  Bank, 
der  Kommerz-  und  Diskontobank  in  Hamburg,  dem  Schaaffhausen- 
schen  Bankverein  und  der  Bankfirma  Philipp  Elimeyer  in  Dresden» 
Dasselbe  erhielt  für  seine  Tätigkeit  den  Betrag  von  170  000  M. 
Die  »Vereinigten  Elbe-Schiffahrts-Ges.  A.G.«  eröffnete  den  Be- 
trieb am  I.  Januar  1904  und  verfügten  dabei  über  ein  Betriebs- 
material von  58  Radschleppdampfern  zu  je  250  bis  1200  PS, 
19  Eilgutdampfern  zu  je  170  bis  350  PS,  35  Kettendampfern  von 
je  60  bis  180  PS,  23  Schraubendampfern  zu  je  40  bis  250  PS,  2  Ka- 
naldampfern, einem  Dampfbagger,  7  Dampfbarkassen,  4  Motor- 
booten, I  Werkstattschiff,  5  Dampfwinden,  7  fahrbaren  Dampf- 
kränen, 262  eisernen  Frachtschiffen  mit  Tragfähigkeit  zwischen 
272  bis  1 198  t,  46  hölzernen  Frachtschiffen  mit  Tragfähigkeit  zwi- 
schen 200  und  600  t,  165  Leichterschiffen,  14  Lagerschiffen  und 
565  km  Schiffskette;  das   Personal  betrug  2242  Mann. 

Hiermit  war  ein  entscheidender  Schritt  getan,  und  eine  neue 


—     iSS     - 

Epoche  begann  für  die  Elbschiffahrtsunternehmungcn.  l^'ast  ein 
Jahrzehnt  hatte  man  vergeblich  versucht  dem  Rückgang  der  Ren- 
tabilität der  Eibschiffahrt  und  den  starken  Mißständen  der  rück- 
sichtslosen Konkurrenz  durch  losere  oder  festere  Kartelle  zu  be- 
gegnen. Alle  diese  Kartelle  lösten  sich  nach  kurzer  Zeit  wieder 
auf,  und  die  Einzelunternehmungcn  waren  in  ihrer  Isoliertheit 
wieder  zur  alten  Schwäche  und  zum  Kampf  um  die  Sclbsterhal- 
tung  verurteilt.  Eine  Aenderung  der  unhaltbaren  Zustände,  durch 
welche  die  Eibschiffahrt  völlig  zugrunde  gerichtet  werden  mußte, 
war  auf  dem  bisherigen  alten  Wege  nicht  zu  erwarten.  So  schritt 
man  jetzt  zu  einem  neuen  Mittel,  das  wohl  auch  in  Zukunft  das 
einzige  erfolgreiche  bleiben  und  immer  das  Ziel  aller  weitschauen- 
den Unternehmerpolitik  in  der  ElbschifTahrt  sein  wird :  der  dauern- 
den untrennbaren  Vereinigung  der  selbständigen  Schiffahrtsunter- 
nehmungen zu  einem  einheitlichen  Betriebe.  Auf  diesem  Wege, 
der  die  Richtschnur  aller  Schiffahrtspolitik  auf  Jahrzehnte  hinaus 
bleiben  muß,  hatte  man  nunmehr  den  ersten  Schritt  getan.  Man 
hatte,  wie  es  begreiflich  ist,  die  Fusionsbewegung  bei  den  bedeu- 
tendsten Unternehmungen  begonnen.  Daß  die  Schöpfer  und  Lei- 
ter dieser  Fusionsverhandlungen  sich  ein  festes  weiteres  Programm 
gemacht  hatten  und  dieses  entschlossen  Schritt  vor  Schritt  durch- 
zuführen suchten,  hat  die  weitere  Entwicklung  in  der  Eibschiffahrt 
bewiesen.  Freilich  betrat  man  damit  völliges  Neuland  und  hatte 
viel  teures  Lehrgeld  zu  zahlen.  Mit  Kartellen  als  dauerndem 
Besserungsmittel  hatte  man  nunmehr  .endgültig  gebrochen;  das 
Ziel  aller  Verhandlungen  war  jetzt  die  Betriebskonzentration  eines 
immer  größeren  Teiles  der  Schiffahrtsunternehmer  in  einer  Hand. 
Ein  noch  sehr  schwieriges  Problem  blieb  aber  noch  ungelöst :  die 
Eingliederung  der  Privatschiffer  in  die  Betriebskonzentration ;  aber 
auch  darin  arbeitete  man  schon  jetzt  unermüdlich,  wie  später  ge- 
zeigt werden  wird. 

Das  plötzliche  und  unvermutete  Auftreten  einer  so  gewalti- 
gen zentralisierten  Macht  auf  der  Elbe  erweckte  begreiflicher- 
weise in  allen  Interessentenkreisen  große  Aufregung..  Schon  am 
I.  Dezember  1903  interpellierte  im  österreichischen  Abgeordneten- 
haus der  Abgeordnete  Nowack  die  Regierung  über  die  Maßnah- 
men, welche  sie  gegen  die  Monopolisierung  der  Eibschiffahrt  zu 
ergreifen  gedenke,  und  einige  Tage  später  stellte  der  Vizepräsi- 
dent des  Bundes  österreichischer  Industrieller  den  Dringlichkeits- 
antrag im  österreichischen  Industrierat,  man  solle  Stellung  nehmen 


—     i89     — 

gegen  die  neue  Fusionierung.  Aber  auch  in  Deutschland  war  die 
Erregung  groß.  Es  tauchten  die  verschiedensten  Pläne  auf.  So 
beriet  man  über  die  Fusionierung  sämtlicher  außerhalb  der  »Ver- 
einigten« stehenden  Elbschiffahrtsgesellschaften  unter  Führung  der 
»Deutsch-Oesterreichischen«,  doch  sprach  sich  gegen  dieses  Pro- 
jekt die  Generalversammlung  der  >Elbe«  aus,  indem  sie  vielmehr 
ein  Kampfkartell  zwischen  jenen  außenstehenden  Schiffahrtsge- 
sellschaften und  den  Kleinschiffern  gegen  die  »Vereinigten«  emp- 
fahl. In  Hamburger  und  Berliner  Handels-  und  Spediteur- 
kreisen ging  man  mit  Gedanken  von  Gründungen  neuer  Elb- 
frachtschiffahrtsgesellschaften  ernstlich  um,  und  die  Hamburg- 
Amerika-Linie  trat  mit  dem  Projekt  in  die  Oeffentlichkeit,  die 
Verfrachtung  ihrer  Güter  auf  der  Elbe  bis  nach  Böhmen  selbst 
in  die  Hand  zu  nehmen. 

Alle  dies  Pläne  blieben  jedoch  unausgeführt,  und  bald  trat 
allmählich  wieder  Ruhe  ein,  zumal  man  einsah,  daß  die  neue 
Gesellschaft  auf  der  Elbe  zwar  mächtig  aber  nicht  allmächtig  war. 
Die  einzige  bleibende  und  ersprießliche  Wirkung,  den  der  Schrecken 
hervorgebracht  hatte,  war  die  lang  vergeblich  erstrebte  Zusam- 
menschließung der  Kleinschiffahrt  zu  einer  kraftvollen,  straffen, 
wirtschaftlichen  Vereinigung,  wie  sie  die  »Privat-Schiffer-Trans- 
port-Genossenschaft«  darstellte  ^).  Diese  Organisierung  der  Privat- 
Schiffseigner  geschah  vollständig  im  Sinne  der  » Vereinigten< , 
wenn  sie  auch  anfangs  äußerlich  im  Kampfe  gegen  diese  er- 
folgte. 

So  herrschte  vorläufig  in  der  Eibschiffahrt  Frieden,  und,  was 
man  vorher  getrennt  und  mit  zersplitterten  Kräften  vergeblich 
erstrebt  hatte,  das  wurde  jetzt  nach  Konzentration  der  Kräfte 
zum  Teil  erreicht.  Das  Jahr  1904  war  infolge  eines  ganz  abnorm 
tiefen,  seit  über  200  Jahren  nicht  mehr  beobachteten  Wasser- 
standes, ein  sehr  ungünstiges  für  die  Schiffahrt;  während  des 
ganzen  Sommers,  vom  19.  Juli  bis  22.  September,  ruhte  wegen 
Wassermangel  die  Schiffahrt  fast  vollständig.  Das  war  eine  harte 
Probe  für  die  beiden  jungen  Organisationen,  aber  sie  bewährten 
sich  in  dieser  schweren  Zeit  glänzend.  Obwohl  große  Not  in  den 
Kleinschifferkreisen  eintrat,  und  man  gern  für  jeden  Preis  und  zu 
jeder  Bedingung  die  wenigen  möglichen  Ladungen  an  sich  ge- 
rissen hätte,  hielt  die  P.T.G.  ihre  MitgUeder  straff  zusammen 
und  von  den  Geschäften  zurück,  so  daß   die  Frachten,    die    aus- 

I)  Vgl.   S.   159. 


—       IQO       — 

bedungen  wurden,  einigermaßen  den  Leistungen  entsprachen. 
Die  Frachten  waren  auch  im  Frühjahr  bei  günstigem  Wasserstande 
sogleich  nach  Auftreten  der  beiden  Organisationen  auf  der  Elbe 
um  8  bis  25  Proz.  gestiegen.  Diese  günstige  Wirkung  war  nur 
dadurch  ermöglicht  worden,  daß  unter  den  Gesellschaften  die 
Konkurrenz  bedeutend  herabgemindert  wurde  und  nunmehr  Groß- 
und  Kleinschiffahrt  gemeinsam  zielbewußt  und  mit  dem  nötigen 
Machtaufgebot  auf  Hochhaltung  der  Frachten  und  Schlepplöhne 
hinarbeiteten.  Dieses  Nebeneinanderarbeiten  verdichtete  sich  so- 
gar im  Jahre  1905  zu  einem  Frachtkartell,  anfänglich  nur  zwi- 
schen der  »Elbe«  und  der  »Deutsch-Oesterreichischen«  mit  der 
P.T.G.,  dem  jedoch  später  bald  auch  die  »Vereinigten^  beitraten. 
Man  verpflichtete  sich  zu  gemeinsamer  Frachtenpolitik  und  Be- 
rechnung gleicher  Schlepplöhne ;  für  Frachtpreise  nach  den  ein- 
zelnen Orten  wurden  feste  Tarife  vereinbart,  die  jedoch  nach  dem 
Wasserstand  und  folglich  der  Ladefähigkeit  der  Kähne  abgestuft 
wurden.  Als  maßgebend  wurde  der  Wasserstand  am  Dresdener 
Pegel  festgesetzt.  Diese  Vereinbarung  galt  sowohl  für  die  Berg- 
wie  für  die  Talschiffahrt.  In  der  Beschaffung  von  Frachtgütern 
war  jeder  Partei  freie  Hand  gelassen.  Hier  herrschte  freie  Kon- 
kurrenz. Nur  durfte  keine  Unterbietung  im  P^rachtpreise  statt- 
finden. Auch  für  die  zum  Transport  ihrer  Frachtgüter  von  den 
Gesellschaften  beschäftigten  Privatschiffseigner  wurden  je  nach 
Höhe  der  Frachtpreise  feste  Anteilsfrachten  vereinbart,  um  sie 
vor  Ausbeutung  zu  schützen.  Für  den  Hamburger  Export  nach 
Oesterreich  wurde  ein  besonderer  Vorzugstarif  vereinbart,  bei 
dessen  Anwendung  jedoch  den  Privatscüiffseignern  die  gleichen 
Anteilsfrachten  wie  bei  dem  Normaltarif  gewährt  und  die  dazu 
nötigen  Opfer  von  den  Gesellschaften  aus  ihren  eigenen  Schlepp- 
lohneinnahmen aufgebracht  wurden.  Die  Höhe  der  P'racht-  und 
Schleppsätze  (bei  durchschnittlich  ziemlich  tiefem  meist  nicht  voll- 
schiffigem  Wasserstand  betrugen  im  Jahresdurchschnitt  für  1905 
für  Frachten  von  Hamburg  nach  den  verschiedenen  Eibstationen 
0,02 — 1,09  Pfg.  für  einen  tkm)  war  von  Seiten  der  Schiffahrts- 
treibenden in  mäßigen  Grenzen  gehalten.  Von  allen  Transport- 
interessenten, den  Hamburger  Spediteuren  und  Verladern,  wie 
dem  österreichischen  Bund  der  Industriellen  und  den  Kohlenprodu- 
zenten wurde  ausdrücklich  anerkannt,  daß  kein  Grund  zu  Klagen 
oder  gar  zur  Gründung  von  neuen  Schiffahrtsgesellschaften  vor- 
liegfe. 


—     191     — 

So  wurde  das  Jahr  1905  für  die  Eibschiffahrt  ein  sehr  gün- 
stiges, wie  sie  seit  langem  keines  mehr  genossen  hatte,  und 
schon  träumte  man  sich  an  dem  ersehnten  Ziele  einer  wieder 
rentabel  und  lebensfähig  gewordenen  Eibschiffahrt :  noch  war  es 
aber  nicht  so  weit.  Im  Februar  1906  kam  es  infolge  von  Mei- 
nungsverschiedenheiden und  Interessengegensätzen  zu  der  Auf- 
lösung des  Frachtkartelles  und  es  entbrannte  nunmehr  noch  ein- 
mal mit  aller  Heftigkeit  der  Konkurrenzkampf,  der  auf  allen  Sei- 
ten mit  großer  Erbitterung  und  Machtentfaltung  geführt  wurde. 
Die  P.T.G.  hatte  für  einen  solchen  Fall  Vorsorge  getroffen,  da- 
mit sie  nicht  im  Bergverkehr  für  Benutzung  der  Schleppkraft 
ihrem  stärksten  Gegner,  der  »Vereinigten«  bedingungslos  ausge- 
liefert sei :  sie  hatte  sich  beizeiten  vertragsmäßig  die  Schleppkraft 
der  »Elbe«  und  der  »Deutsch-Oesterreichischen«  zur  Bedienung 
ihrer  Kähne  gesichert;  doch  trotzdem  standen  der  Genossenschaft 
für  ihre  900  Kähne  nur  23  Schleppdampfer  zur  Verfügung,  die 
zwar  verhüteten,  daß  sie  nur  auf  die  Schleppkraft  der  »Vereinig- 
ten« angewiesen  war,  aber  völlig  unzureichend  für  die  Bewälti- 
gung ihres  Schleppkraftbedarfes  waren.  Die  »Vereinigten«  aber 
nahmen,  um  sich  in  Beschaffung  ihres  Schleppanhanges  sowie  des 
für  ihre  Güter  benötigten  Kahnraumes  von  der  P.T.G.  selbstän- 
dig zu  machen,  eine  Anleihe  von  i  800  000  M.  auf,  und  beschaff- 
ten sich  dafür  50  neue  Schleppkähne.  Zu  demselben  Vorgehen 
veranlaßten  sie  auch  die  ihr  angegliederte  »Nord-West«,  die  zu 
diesem  Zwecke  eine  Anleihe  von  2  Millionen  Kronen  aufnahm, 
eine  Maßnahme,  die  im  Augenblick  vielleicht  zweckmäßig,  für  die 
Gesundung  der  Eibschiffahrt  jedoch  wenig  praktisch  und  weit- 
schauend war. 

So  war  es  natürlich,  daß  die  günstigen  Resultate  des  Vor- 
jahres nicht  wieder  erzielt  werden  konnten  ;  es  zeigte  sich  hier 
wieder,  daß  die  Großschiffahrt  oder  Kleinschiffahrt  für  sich  iso- 
liert, wenn  auch  jede  noch  so  stark  organisiert  ist,  zur  Besserung 
der  Verhältnisse  nicht  imstande  sind,  sondern  daß  dieses  Ziel  nur 
vereint  erreicht  werden  kann.  Von  dieser  Ueberzeugung  durch- 
drungen, traten  am  Ende  des  Jahres  1906  die  Gegner  wieder  zur 
gemeinsamen  Verhandlung  zusammen.  Jedoch  erstrebte  man  nun- 
mehr von  Seiten  der  weitblickenderen  Verhandlungsteilnehmer 
keine,  auf  lose,  leicht  kündbare  Kartelle  begründete  Vereinigung, 
sondern  man  hatte  aus  der  Entwicklung  und  Erfahrung  gelernt, 
daß  dauernde  Besserung  in  der  Eibschiffahrt  nur  eine  allgemeine, 


—        IC)2       — 

fester  organisierte  Betriebsgemeinschaft  von  Klcinschiffahrt  und 
Großschiffahrt  des  ganzen  Kibgebietes  bringen  konnte;  so  setzte 
man  die  im  Jahre  1903  mit  Entstehung  der  Fusionsgesellschaft 
der  > Vereinigten f,  und  der  P.G.T.  begonnene  Politik  der  ein- 
heitlichen Betriebsvereinigung  fort.  Zur  Schaffung  eines  solchen 
trustartigen  Gebildes  führten  dann  auch  endlich  am  17.  April  1907 
in  Berlin  die  Verhandlungen,  die  von  den  entsprechenden  Gene- 
ralversammlungen am  23.  Mai  1907  genehmigt  wurden.  Die  Füh- 
rung hierbei  hatten  die  »Vereinigten«  übernommen,  die  aber  nur 
mit  sehr  starken  und  tiefgreifenden  Konzessionen  zugunsten  der 
kleineren  und  kleinsten  Unternehmer  deren  Anschluß  hatte  er- 
reichen können,  und  dadurch  für  das  Wohl  der  Eibschiffahrt 
schwere  Opfer  auf  sich  nahm;  vielleicht  waren  die  Verhältnisse 
doch  noch  nicht  für  eine  so  starke  Betriebskonzentration  reif,  wie 
später  gezeigt  werden  wird. 

Das  Ergebnis  der  Verhandlungen  war  folgendes  :  i.  Die  P.  T.  G. 
gibt  ihren  gesamten  Schiffspark  für  eine  feste  Jahresmiete  zur 
freien  Verfügung  an  die  »Vereinigten«  ab,  verzichtet  auf  jede 
eigene,  äußere  Geschäftstätigkeit  und  tritt  nur  noch  als  Mittel- 
person zwischen  ihren  Genossen  und  den  »Vereinigten«  auf.  Ihre 
sämtlichen  Rechte  und  Pflichten  ihren  Genossenschaftern  gegen- 
über sind  an  die  >^ Vereinigten«  übergegangen,  deren  Anweisun- 
gen sich  erstere  unbedingt  zu  unterwerfen  haben.  Als  Vertrauens- 
mann tritt  ein  Mitglied  des  Vorstandes  der  P.T.G.  in  den  Auf- 
sichtsrat der  »Vereinigten«  ein.  Die  Genossenschaft  zahlt  an  die 
Genossen  während  mindestens  10  Rfonaten  des  Jahres  monatlich 
postnumerando  einen  festen  Mietpreis  für  ihren  Kahnraum  aus, 
der  abgestuft  ist  nach  Tragfähigkeit,  Verwendungsfähigkeit  und 
Güte  des  Fahrzeuges  und  berechnet  wird  nach  einer  festen  Ta- 
belle, die  zwischen  der  P.T.G.  und  den  «Vereinigten«  vereinbart 
worden  ist;  er  beträgt  durchschnittlich  etwa  0,30  M.  pro  Tag 
und  Tonne.  Hierfür  hat  der  Schiffseigner  den  Lohn  für  den 
Schiffsführer  und  die  Schiffsbesatzung  sowie  alle  Reparaturkosten 
zu  bezahlen.  P'ür  diejenigen  Tage  oder  längeren  Zeitabschnitte 
jedoch,  während  deren  ein  Fahrzeug  infolge  von  besonderen  Um- 
ständen wie  Streiks,  Aussperrungen,  Haverien,  Reparaturen  usw. 
nicht  ausgenutzt  werden  kann,  wird  seinem  Eigentümer  keine  Ver- 
gütung gezahlt,  vielmehr  werden  diese  Tage  von  den  Betriebstagen  ab- 
gezogen. Ebenso  ist  den  Genossenschaftern  die  vertragsmäßige  Ver- 
gütung von  den  :» Vereinigten <■  nicht  zu  zahlen,  wenn  Aufruhr,  eine 


—     193     — 

Mobilmachung  oder  ein  Krieg  des  Deutschen  Reiches  oder  Oester- 
reich-Ungarns  in  Europa,  ebenso,  wenn  Epidemien,  Niedrigwasser 
oder  sonstige  Elementarereignisse  den  gesamten  Schiffahrtsbe- 
trieb der  »Vereinigten«  unmöglich  machen.  Die  Mietpreise  müs- 
sen erhöht  werden,  wenn  der  Lohn  für  einen  Steuermann  monat- 
lich 135  M.,  für  einen  Deckmann   116  M.  übersteigt. 

Die  Verwaltungskosten  der  P.T.G.  werden  sämtlich  von  der 
»Vereinigten«  bezahlt.  Diese  ist  zur  Abnahme  von  höchstens 
425000  Tonnen  Kahnraum  von  der  Genossenschaft  verpflichtet, 
während  sie  selber  ihren  Kahnraum  während  der  Vertragszeit 
nicht  um  mehr  als  1 5  Proz.  des  Tonnengehaltes  nach  dem  Stande 
vom  I.  Januar  1908  erhöhen  darf.  Die  »Vereinigte«  übernimmt 
sämtliche  Transportkosten,  wie  Schlepp-,  Bugsierlöhne  usw.,  so- 
wie die  Kosten  des  Ent-  und  Beiadens  der  Schleppkähne.  Für 
den  Lohn  der  Mannschaften  sowie  für  die  Beiträge  zu  sozialen 
Versicherungen  haben  die  Mitglieder  der  Genossenschaft  selbst 
aufzukommen;  jedoch  ersetzt  die  Gesellschaft  ihnen  die  Reiseun- 
kosten der  Schiffsmannschaft  zu  Beginn  und  am  Schluß  der  Schiff- 
fahrtsperiode von  bez.  nach  ihrem  Heimatsorte.  Uebersteigt  die 
Betriebsdauer  innerhalb  eines  Jahres  lo  Monate,  so  zahlt  die  Ge- 
sellschaft den  Mietpreis  für  die  Kähne  nicht  an  die  Genossen- 
schafter selbst,  sondern  an  die  Genossenschaft,  die  den  hieraus 
erzielten  etwaigen  Jahresgewinn  nach  Beschluß  der  Genossen- 
schaftsversammlung verwendet,  ev.  auch  unter  die  Genossen  ver- 
teilt. Der  Genossenschafter  erhält  von  der  Gesellschaft  für  diese 
Zeit  den  Lohn  für  die  Schiffsführer  und  die  Schiffsbesitzer.  Die 
»Vereinigten«  übernehmen  für  die  Dauer  des  Vertrages  die  1008 
Stück  Aktien  der  »Deutsch-Oesterreichischen«  die  sich  im  Besitze 
der  P.T.G.  befinden. 

2.  Die  »Vereinigten«  erhalten  von  der  »Deutsch-Oesterreichi- 
schen«  pachtweise  deren  gesamten  Schiffspark  und  Inventar  über- 
lassen und  verpflichten  sich,  außer  der  vollständigen  Erhaltung 
und  Amortisation  desselben  zur  Tragung  sämtlicher  Geschäfts- 
unkosten der  Gesellschaft  und  zu  einer  öprozentigen  Verzinsung 
des  Nennwertes  ihres  Aktienkapitales.  Die  »Deutsch-Üesterreichi- 
sche«  verzichtet  auf  jede  selbständige  gewerbliche  Tätigkeit  auf 
der  Elbe. 

3.  Die  »Vereinigten«  übernehmen  ferner  den  gesamten  Schiffs- 
park und  das  Inventar  der  „Elbe«  pachtweise  und  verpflichten 
sich   zur  Zahlung    einer  jährlichen   Pachtsumme,    die    außer   den 

Zeitschrift  für  die  ges.  Staatswissensch.     Ergänzungsheft  50,  I  3 


—      I  V'4 


Geschäftskosten  und  der  Amortisation  des  Betriebsmateriales  eine 
jährlich  Sprozentige  Dividende  auf  das  Aktienkapital  der  »Elbe« 
ermöglicht. 

Sämtliche    Verträge    wurden    für    die  Dauer    von    lO  Jahren 
bis  zum  31.  Dezember   19 16  abgeschlossen. 

Damit  war  ein  gewaltiger  Verband  auf  der  Elbe  ins  Leben 
getreten,  wie  er  bisher  noch  auf  keinem  deutschen  Flusse  zu 
finden  gewesen  ist.  Die  > Vereinigten«  faßten  in  ihrem  Betriebe 
allein  123  Dampfer  und  11 17  Schleppkähne  von  zusammen 
605  556  t  Tragfähigkeit.  Das  Personal  betrug  3504  Mann.  Es 
ist  begreiflich,  daß  diesmal  die  Aufregung  noch  eine  viel  größere 
war  als  im  Jahre  1903;  bestand  doch  nunmehr  nur  noch  die 
kleine  *Neue  Norddeutsche«  als  selbständiger  Konkurrent  dem 
Trust  gegenüber,  und  auch  ein  bedeutender  Teil  der  Kleinschiff- 
fahrt war  von  ihm  vollständig  abhängig  geworden.  Von  1782 
Schleppkähnen  mit  einer  Tragfähigkeit  von  i  051  929  t,  die  auf 
der  Elbe  vorhanden  sind,  wurden  von  dem  Trust  11 17  Kähne 
(62%)  mit  605000  t  Tragfähigkeit  (57,5%)  geleitet. 

Tab.  59- 
Frachtsätze  auf  der  Elbe    1897—1907- 


I. 

2.        1          3-1 
Braunkohlen  Aussig-M 
pro  t  in  Pf. 

4- 
agdeburg 

Mittlerer 

Frachtsatz 

(nach     * 

Wochen- 

notierung) 

5-1         6.         1         7. 

Massengut  Hamburg-Magdeburg 

pro  t  in  Pf. 

J  ah  r 

Höchster 
Frachtsatz 

Niedrigster 
Frachtsatz 

Höchster 
Frachtsatz 

Niedrigster 
Frachtsatz 

Mittlerer 
Frachtsatz 
(nach 
Wochen- 
notierung) 

1897 
1898 
1899 
1901 
1902 
1903 

208 
388 

159 
260 
320 

i       300 

91                 12S 
73                166 
82                117 
160                215 
160        1       280 
160        '        iSS 

370 

575 
440 
410 
370 
2S0 

180 

145 

160         1 
220 
100 
H5 

267 
270 
236 
278 
181 
177 

Mittel  aus  den 
6  Jahren    . 

1905 
1906 
1907 

259 

290 
380 
300 

121 

200 
200 

240 

166 

235 
256 
276 

40S 

290 
380 

300 

153 

200 
200 
241 

235 

235 
256 

276 

Mittel  aus  den 
3  Jahren    . 

i       323 

'1 

1         -3 

256 

323 

213 

256 

Wie    dieser    mächtige    Zusammenschluß    auf    dem  Frachten- 
markt   und    somit    auf   die  Verdienstverhältnisse  sämtlicher  auch 


—     195     — 

der  dem  Trust  nicht  angeschlossenen  Schiffahrttreibenden  gewirkt 
hat,  ersieht  man  aus  den  Angaben  der  Tabelle  59,  in  der  die 
Jahresminimal-,  Maximal-  und  Durchschnittsfrachten  der  letzten 
Jahre  von  1897 — ^9^7  angegeben  sind.  Bei  den  Aussiger  Kohlen- 
frachten weist  das  Jahresmittel  von  1895  — 1907  eine  Steigerung 
von  54%  gegenüber  dem  aus  den  Jahren  1897 — 1903  auf,  und 
im  Hamburger  Bergfrachtverkehr  für  dieselben  Zeitperioden  eine 
Steigerung  von  9%.  Diese  Ergebnisse  müssen  als  höchstbe- 
friedigend bezeichnet  werden.  Es  war  nun  endlich  nach  Jahr- 
zehnten gelungen,  den  größten  Teil  der  Eibschiffahrt  zu  einigen 
und  diesen  größten  Teil  unbedingt  nur  von  einem  Willen  ab- 
hängig zu  machen.  Es  war  das  schwierige  Problem  gelöst,  Groß- 
schiffahrt und  Kleinschiffahrt  zu  einem  unterschiedslosen  Ganzen 
zusammenzufügen,  und  zwar  in  einer  Form,  die  unbedingt  aner- 
kannte, daß  das  Kleinschiffergewerbe  auf  der  Elbe  notwendig 
und  existenzberechtigt  ist,  und  daß  es  als  gleichwertiger,  eben- 
bürtiger Partner  den  Großschiffahrtsunternehmungen  gegenüber 
besteht ;  Großschiffahrt  und  Kleinschiffahrt  können  ohne  einander 
nichts  Bedeutsames  und  Entscheidendes  auf  der  Elbe  leisten. 
Auch  hatte  man  endlich  begonnen  durch  die  Vertragsbestim- 
mungen zwischen  den  »Vereinigten«  und  der  P.T.G.  das  unge- 
sunde und  unsinnige  Vermehren  des  schwimmenden  Kahnraumes 
vertraglich  einzudämmen.  Freilich,  um  hier  eine  tiefgreifende 
Besserung  zu  erreichen,  war  der  Konzern  der  »Vereinigten«  noch 
zu  schwach,  und  waren  die  Außenseiter  noch  zu  stark  und  in 
ihrer  Konkurrenz  noch  zu  leidenschaftlich. 

Die  Organisationsformen  des  Konzerns  werden  voraussicht- 
lich in  Zukunft  das,  wenn  auch  verbesserungsfähige  Vorbild  für 
weitere  Konzentrationsbestrebungen  auf  der  Elbe  und  vielleicht 
auch  auf  anderen  Wasserstraßen  bleiben.  Die  »Vereinigten« 
dachten  sich  von  Anfang  an  ihre  Tätigkeit  und  Frachtpolitik  so, 
daß  sie  je  nach  Stand  des  Güterangebotes  und  je  nach  dem 
Wasserstand  ihren  ganzen  Kahnraum  schwimmen  und  direkt  nach 
den  Hafenorten  des  Bedarfes  dirigieren,  oder  ihn  zu  einem  größeren 
oder  geringeren  Teil  außer  Betrieb  setzen  würden,  um  dadurch 
den  Frachtensatz  stets  auf  einer  gleichmäßig  gesunden  Höhe  zu 
erhalten,  die  einerseits  der  Gesellschaft  und  den  außenstehenden 
Kleinschiffern  eine  entsprechende  Verzinsung  ihres  Kapitales  und 
den  landesüblichen  Gewinn  sichern,  andererseits  aber  die  Eib- 
schiffahrt   unbedingt  konkurrenzfähig  mit  der  Eisenbahn  erhalten 


—     196    — 

sollte.     Dieser  Gedanke    war    vernünftig    und   durchführbar,    und 
hätte  der  Eibschiffahrt    wieder  zu  einer  gewissen  Blüte  verhelfen 
können.    Die   »Vereinigten^   gingen  aber,  als  sie  den  gepachteten 
Gesellschaften  so  bedeutsame  Renten  zusicherten,  und  diese  schon 
durch   Verbilligung    der    gesamten    Verwaltungsunkosten    wieder 
hereinzubringen    hofften,    bei  ihren  Kalkulationen  von  einer  Vor- 
aussetzung aus,  die  nicht  eintraf.     Sie  rechneten  nämlich  für  den 
größten  Teil    der   Pachtperiode    mit    gesunden  Normaljahren    im 
Eibverkehr  und  in  den  Eibwasserständen,    wie  sie  in  den  letzten 
Jahren  vor  dem  Kartell  von  1905— 1907  gewesen   waren.     Diese 
Voraussetzung  aber  traf  nicht  ein,  und  das  wurde  den  Konzernen 
verhängnisvoll,  wie  später  gezeigt  werden  wird.     Die  Jahre   1908 
bis    191 2    bilden    eine    recht    ungünstige,    unnormale    Schiffahrts- 
periode,   sowohl    für   die  Elbe  wie  auch  für  die  meisten  anderen 
deutschen  Wasserstraßen    und    zumal    das  Jahr    191 1    mit   seiner 
ganz    ungewöhnlichen  Trockenheit    und    seinem  Wasserstand    im 
Jahresdurchschnitt    von    minus    124  cm    am  Dresdner  Pegel,    der 
die  Schiffahrt  fast  während  3  Monate  und   teilweise  gerade  wäh- 
rend   der    sonst    regsten    und    ertragreichsten    Schiffahrtsperiode 
völlig  lahm  legte,  stellte  einen  Wasserstand  dar,  wie  er  seit  mehr 
als  200  Jahren  auf  der  Elbe  nicht  beobachtet  worden  ist.     Diesen 
Umständen    waren    die   »Vereinigten«    mit    ihrem    vielleicht  allzu 
großen  Optimismus,  den  sie  bei  den  Vertragsabschlüssen  gezeigt 
haben,  nicht  gewachsen. 

Die  Panik  über  das  neue  Riesenunternehmen  führte  im  Sep- 
tember 1907  zur  Gründung  einer  neuen  Elbschiffahrts-Gesellschaft, 
der  »Neuen  Deutsch-Böhmischen«  mit  einem  Aktienkapital  von 
3  Millionen  Mark,  die  aber  dem  Konzern  anfangs  nicht  sehr 
empfindliche  Konkurrenz  machen  konnte,  und  bald  bestrebt  war, 
sich  mit  der  »Vereinigten«  zu  verständigen. 

Ein  viel  gefährlicherer  Feind  erwuchs  den  > Vereinigten*  da- 
gegen in  ihrem  eigenen  Innern.  Sie  hatten  ihre  Macht  allzu 
teuer  erkauft  und  den  Pachtgesellschaften  zu  günstige  Angebote 
machen  müssen.  Das  ist  sofort  zu  erkennen,  wenn  man  die 
Dividenden  in  Betracht  zieht,  die  in  den  Jahren  1908— 19 12  von 
der  Hauptgesellschaft  den  Pachtgesellschaften  gezahlt  worden 
sind.     (Siehe  Tab.  60,  S.    197.) 

Diese  Tabelle  ergibt  einen  schreienden  Gegensatz  zwischen 
denen,  die  nur  verzehren  imd  nicht  das  geringste  Risiko  auf  sich 
genommen   haben    und    denen,    die    arbeiten    und    alles    wagen. 


197 


Tab.   60. 

Dividenden  der  Pachtgesellschaflen  der  >V ereinigten 

Elbschiffahrts-Gesellschaften«. 


I. 

2. 

3- 

4- 

5- 

6. 

Gesellschaft 

1908 

1909 

1910 

1911 

1912 

>Nord-West« 

»Deutsch-Oesterreichische« 

4% 
6% 

4% 
6% 

4% 
6% 

4% 
6% 

4% 
6% 

»Elbe* 

»Vereinigte    Elbschiffahrts- 

8% 

8% 

8% 

10% 

8% 

Gesellschaften«.     .     .     . 

0% 

1% 

0% 

0% 

0% 

Hier  Wandel  zu  schafifen,  bot  sich  den  »Vereinigten«  wider  Er- 
warten sehr  bald  eine  äußerst  günstige  Gelegenheit.  Anfangs 
des  Jahres  1909  stellte  es  sich  nämlich  anläßlich  der  Weigerung 
eines  Privatschiffseigners,  den  Weisungen  der  »Vereinigten«  nach- 
zukommen, heraus,  daß  sich  infolge  einer  Lücke  sowohl  in  dem 
Genossenschaftsvertrag,  wie  in  dem  Pachtvertrag  der  P.T.G.  mit 
den  »Vereinigten«  unter  gewissen  Umständen  sämtliche  Privat- 
schiffer der  Genossenschaft  rechtlich  einwandfrei  weigern  konnten, 
ihren  Vertragspflichten  gegenüber  den  »Vereinigten«  nachzu- 
kommen. Als  dies  durch  ein  Reichsgerichtsurteil  bestätigt  wor- 
den war,  wagten  die  »Vereinigten«  mit  nicht  geringem  Risiko  für 
den  Bestand  des  Trustes  den  Schritt,  sämtliche  im  Jahre  1907 
von  ihr  abgeschlossene  Verträge  für  ungültig  zu  erklären.  Bei 
den  Verhandlungen  über  Abänderung  der  Verträge  setzten  es 
die  »Vereinigten«  durch,  daß  die  von  ihr  der  P.T.G.  zu  zahlen- 
den Pacl-.tsummen  verringert  und  die  Dauer  der  Verträge  mit 
sämtlichen  Kontrahenten  auf  die  Zeit  bis  zum  31.  Dezember  191 2 
abgekürzt  wurde.  Diese  Herabsetzung  der  Pachtsumme,  die  5  % 
der  Gesamtjahres-Bruttoeinnahme  betrug,  und  für  die  »Vereinigten« 
eine  Ausgabenminderung  von  250000  M.  bedeutete,  entsprach 
auch  den  stark  gedrückten  wirtschaftlichen  Verhältnissen  der 
Jahre  1908  und  1909  in  der  Eibschiffahrt,  die  auf  einem  deut- 
lichen, relativen  Rückgang  der  Frachtgüter  besonders  im  Talver- 
kehr von  Böhmen  aus  beruhten,  jedoch  immer  noch  nicht  denen 
der  kommenden  Jahre  gleich  kamen,  die  noch  schlechter  als 
die  Jahre  1908  und  1909  werden  sollten.  Der  Güterrückgang 
infolge  des  Konjunkturtiefstandes  und  seiner  Nachwehen  wurde 
im  Jahresbericht  der  »Vereinigten«  für  das  Jahr  1908  für  den 
Gesamtelbeverkehr  auf  2  Millionen  Tonnen  geschätzt. 

Diesem  Rückgang  suchte  die  Trustgesellschaft  auch  dadurch 


-     I9.S     - 

zu  begejj^nen,  daß  sie  einen  Teil  ihres  Schiffsparkes,  und  zwar 
den  ältesten,  während  eines  Teiles  des  ßetriebsjahres  still  legte 
und  dadurch  die  Betriebskosten  zu  verrinc^ern  suchte.  Die  Ver- 
ringerung konnte  freilich,  wie  schon  gesagt,  nicht  wesentlich  sein, 
wenn  die  Pachtgesellschaft  für  ihr  (still  liegendes)  Kahnmaterial, 
ganz  gleichgültig,  ob  es  beschäftigt  ist  oder  nicht,  einen  so  hohen 
Mietpreis  zahlen  muß,  wie  es  nur  bei  voller  und  lohnender  Be- 
schäftigung desselben  verdient  werden  kann.  Denn  immer  noch 
zahlten  die  »Vereinigten«  an  die  P.T.G.  den  einheitlichen  festen 
und  hohen  Satz  von  1 1  M.  für  je  eine  Jahrestonne  Kahnraum. 
Eine  volle  Ausnutzung  der  neuen  Betriebsstärke  war  der  Gesell- 
schaft nicht  möglich  und  sie  schloß  daher  das  Jahr  einschließ- 
lich 753  ooo  M.  Abschreibungen  mit  einem  Verlust  von  66i  ooo  M. 
ab,  der  aus  dem  Reservefond  gedeckt  wurde.  Das  Jahr  1909 
war  für  die  gesamte  Schiffahrt  an  sich  kein  günstiges  (da  der 
Wasserstand  fast  das  ganze  Jahr  hindurch  Vollschiffigkeit  auf- 
wies, machte  sich  die  Ueberproduktion  des  Kahnraumes  durch 
starke  Konkurrenz  der  Außenseiter  und  folglich  durch  niedrige 
Frachtsätze  sehr  fühlbar),  doch  gelang  es  den  »Vereinigten«  doch 
einen  Reingewinn  von  130000  M.  herauszuwirtschaften  und  ein 
Prozent  Dividende  zu  verteilen.  Das  Jahr  19 10  wies  wirtschaft- 
lich für  die  Eibschiffahrt  die  gleichen  Verhältnisse  auf  wie  das  Jahr 
vorher,  und  schloß  für  die  Gesellschaft  trotz  nicht  unbedeuten- 
der Mehrleistung,  besonders  im  Schleppgeschäft  einschließlich 
748000  M.  Abschreibungen  mit  einem  Verlust  von  923000  M., 
der  bis  zur  Höhe  von  134000  M.  einem  Reservefond  entnommen 
werden  konnte. 

Alle  diese  ungünstigen  wirtschaftlichen  Verhältnisse  wurden 
aber  noch  übertroffen  im  Jahr  191 1,  das  für  die  gesamte  Eib- 
schiffahrt fast  den  Charakter  einer  Katastrophe  annahm.  Hiezu 
kam  noch,  daß  einerseits  infolge  eines  Streikes  die  Löhne  der 
Schiffermannschaften  im  Frühjahr  hatten  erhöht  werden  müssen, 
und  daß  andererseits  im  Herbst,  infolge  der  ermäßigten  agrari- 
schen Notstandstarife  der  preußischen  Eisenbahn  der  Eibschiff- 
fahrt bedeutende  und  sonst  lohnende  Frachten  an  Futter  und 
Düngemitteln  entzogen  wurden.  So  kam  es,  daß  alle  Elbschiff- 
fahrtsgesellschaften  mit  Verlusten  in  diesem  Jahre  abschlössen 
und  für  die  abseits  vom  Konzern  stehenden  Privatschiffer  allent- 
halben behördliche  und  charitative  Hilfsmaßnahmen  eingeleitet 
werden  mußten. 


—     199     — 

Dieses  Jahr  mußte  die  »Vereinigten«  mit  ihrem  großen  Kahn- 
park empfindlich  treffen.  Freilich  gelang  es  ihnen,  wegen  der 
abnormen  Verhältnisse  für  einen  Teil  des  Jahres  das  Pachtver- 
hältnis mit  der  P.T.G.  aufzuheben  und  dadurch  um  ein  Geringes 
ihre  schweren  Pachtverbindlichkeiten  zu  erleichtern.  Trotzdem 
aber  schloß  das  Jahr  einschließlich  757000  M.  Abschreibungen 
mit  einem  Verluste  von  979  000  M.  ab,  der  zusammen  mit  dem 
Verlustsaldo  des  Vorjahres  eine  ungedeckte  Gesamtverlustsumme 
von  1667000  M.  bildete.  Ende  des  Jahres  191 1  kündigten  des- 
halb die  »Vereinigten«  sämtliche  Pachtverträge  des  Jahres  1907 
für  den  31.  Dezember   19 12. 

Das  Jahr  191 2  gestaltete  sich  an  sich  etwas  günstiger,  brachte 
jedoch  durch  den  englischen  Kohlenarbeiterstreik  im  Berggeschäft 
ab  Hamburg  und  später  im  Herbst  durch  die  alten  sowie  neu- 
eingeführten Notstandtarife  der  preußischen  Eisenbahn  zur  Be- 
kämpfung der  Fleischteuerung  bedeutende  Transportausfälle. 
Der  letztere  Umstand  allein  verursachte  den  »Vereinigten«  gegen 
das  Jahr  1910  einen  Ladungsgüterausfall  von  200  000  t.  So 
konnten  auch  in  diesem  Jahre  die  »Vereinigten«  trotz  einer 
Steigerung  der  gefahrenen  Tonnenkilometer  von  2345  Millionen  tkm 
im  Jahre  1910  auf  2420  Millionen  tkm  im  Jahre  1912  ihre  ge- 
samten Betriebsmittel  nicht  voll  ausnutzen.  Sie  schlössen  das 
Jahr  bei  795  000  M.  Abschreibungen  mit  einem  Reingewinn  von 
15638  M.  ab,  der  freilich  als  ein  Nichts  von  dem  Verlustsaldo 
des  Vorjahres  verschlungen  wurde.  Mit  dem  31.  Dezember  19 12 
wurde  die  Gesellschaft  endlich  von  den  ihr  so  lästig  gewordenen 
Pachtverträgen  frei.  Damit  erreichte  der  erste  starke  Versuch, 
den  größten  Teil  der  Eibschiffahrt  in  einer  Hand  zu  vereinigen, 
sein  Ende.  Aber  er  wird  nicht  der  letzte  gewesen  sein,  sondern 
nur  eine  Periode  des  Lernens  und  Vorbereitens  auf  Neues  ein- 
geleitet haben. 

Schon  während  des  Jahres  191 1  hatten  die  »Vereinigten« 
mit  neuen  Vertragsverhandlungen  begonnen,  die  sich  auch  auf 
noch  außerhalb  ihres  Konzernes  stehende  Unternehmungen,  zum 
Beispiel  auf  die  »Neue  Deutsch-Böhmische«  bezogen.  Dieselben 
führten  wenigstens  rücksichtlich  der  bisherigen  Konzerngesell- 
schaften zu  dem  Erfolge,  daß  mit  Auflösung  des  alten  Konzernes 
sofort  neue  Verträge  für  diese  Gesellschaften  in  Kraft  traten,  die 
ein  freundschaftliches  Nebeneinanderarbeiten  für  die  Zukunft 
sicherten. 


—       200       — 

Auf  Grund  hiervon  gestalteten  sich  die  Verhältnisse  am 
I.  Januar  1913  foli,^endermaßen :  Alle  früheren  Kartellverträge 
wurden  aufgehoben,  so  daß  die  bisher  gepachteten  Gesellschaften 
ihren  Geschäftsbetrieb  wieder  aufnehmen  konnten.  Die  »Deutsch- 
Oesterreichische«  und  die  »Elbe«  verlegten  den  Sitz  ihrer  Unter- 
nehmung wieder  nach  Magdeburg,  und  die  » Vereinigten  ^  gaben 
der  P.T.G.  ihre  1008  Stück  Aktien  der  »Deutsch-Oesterreichischen« 
zurück.  Die  »Deutsch-Oesterreichische«  schloß  mit  der  »Elbe« 
einen  bis  Ende  1914  laufenden  Pachtvertrag  ab,  auf  Grund  dessen 
diese  ihren  gesamten  SchitTspark  von  9  großen  Radschlepp- 
dampfern nebst  Hafenflotte  für  eine  jährliche  Pachtsumme  von 
100 000  M.  überließ.  Dadurch  erhielt  die  »Deutsch- Oester- 
reichische«  an  Betriebsmitteln  insgesamt  26  große  Radschlepp- 
dampfer, 9  Bugsierdampfer,  35  Schleppkähne  und  17  Lagerkähne. 
Dieses  Unternehmen,  von  dessen  Aktien  die  Mehrzahl  in  den 
Händen  der  Privatschififergenossenschaft  sich  befindet,  ging  mit 
den  »Vereinigten«,  deren  eigene  Betriebsmittel  aus  41  Rad- 
schleppdampfern, 18  Eilfrachtdampfern,  29  Kettendampfern  und 
354  Schleppkähnen  sowie  einer  reichlichen  Hafenflotte  besteht, 
einen  ebenfalls  bis  P2nde  19 14  laufenden  Vertrag  ein.  Dieser 
lautete  dahin,  daß  in  Beziehung  auf  das  Frachtgeschäft  im  Berg- 
verkehr ab  Hamburg,  Harburg,  Altona  und  Lübeck  gleiche 
Frachtsätze  eingehalten  werden  sollen,  während  für  das  gesamte 
Schleppgeschäft  dergestalt  eine  Betriebsgemeinschaft  vereinbart 
worden  ist,  daß  alle  Schleppeinnahmen  der  beiden  Kontrahenten 
in  eine  gemeinsame  Kasse  fließen,  die  Betriebsausgaben  aus  die- 
ser bestritten  werden,  und  der  Ueberschuß  nach  vereinbarten 
Quoten  an  die  beiden  Gesellschaften  verteilt  wird.  Ferner  hat 
mit  diesen  beiden  Gesellschaften  die  Privatschiffergenossenschaft 
für  das  PVachtgeschäft  einen  Vertrag  abgeschlossen,  durch  den 
ihren  Genossenschaftern  ein  Beladungsvorrecht  durch  die  Fracht- 
kontore der  Gesellschaft  vor  anderen  Privatschiffern  einge- 
räumt ist. 

Hiernach  sind  die  Mitglieder  des  ehemaligen  Konzernes  auch 
nach  dessen  Auflösung  in  enger  gegenseitiger  P^ühlung  geblieben 
und  sehen  den  heutigen  Zustand,  wie  die  einheitliche,  kurze 
Dauer  der  jetzt  bestehenden  Verträge  erkennen  läßt,  nur  als  ein 
Interimistikum  an.  Es  soll  offenbar  in  der  Zwischenzeit  versucht 
werden,  die  beiden  Großunternehmungen  und  die  2 — 3  Privat- 
unternehmungen,   die    an    den  Konzernen    von   1907 — J912  nicht 


—       201       — 

beteiligt  waren,  und  dessen  Politik  durchkreuzt  haben,  für  einen 
neuen  Konzern  zu  gewinnen,  ein  Plan,  dessen  Verwirklichung  für 
absehbare  Zeit  nicht  aussichtslos  sein  dürfte,  und  der  endlich  zu 
einer  Gesundung  im  Elbschiffahrtsgewerbe  führen  könnte,  ohne 
daß  er  für  die  Volkswirtschaft  durch  eine  monopolistische  Ver- 
gewaltigungspolitik gefährlich  werden  könnte.  Denn  die  Eib- 
schiffahrt steht  immer  unter  der  preisbestiramenden  Konkurrenz 
der  Eisenbahn. 


Zeitschrilt  für  die  ges.  Staatswissensch.    Ergänzungsheft  50. 


—      203      — 


Literatur. 

Sympker ,  Der  Verkehr  auf  den  deutschen  Wasserstraßen  im  Jahre  1875 — 1900. 
Zeitschr.  f.  Binnenschiffahrt. 

Heubach,  Verkehrsentwicklung  auf  Wasserstraßen  und  Eisenbahnen  im  Elbe-Oder- 
Gebiet  während  des  Zeitraumes  von   1882 — 1895. 

Wittenberg,  Binnenschiffahrt  und  Konjunktur. 

Seibt,  Die  volkswirtschaftliche  Bedeutung  der  Binnenwasserstraßen. 

Kurt  Fischer ,  Eine  Studie  über  die  Eibschiffahrt  in  den  letzten  hundert  Jahren. 
Jena   1907. 

Karl  Doerschzik,  Genossenschaften  der  Binnenschiffahrt,  Heidelberg   191  o. 

Schiffahrtskalender  für  das  Elbegebiet  Jahrg.    1887 — 191 3. 

Jubiläumsschrift  des  Konzessionierten  Sächsischen  Schiff  er- Vereines.      1895. 

Jahresbericht  der  »Kette«,  Deutsche  Dampfschiffahrts-Ges.  Jahrg.    1870 — 1903. 

Jahresbericht  der  »Oesterreichischen  Nord-West-Dampfschiffahrts-Ges.«  Jahrg.  1881 
bis   1913. 

Jahresbericht  der  »Dampfschiffahrts-Gesellschaft  Vereinigter  Schiffer«  Jahrg.  1884 
bis   1893. 

Jahresbericht  der  »Dampfschiffahrts-Gesellschaft  Vereinigter  Saale-  und  ElbeschifiFer« 
Jahrg.   1894— 1903. 

Jahresbericht  der    »Vereinigten    Elb-Schiffahrts-Gesellschaften«    Jahrg.   1904  — 1913. 

Jahresbericht  der  »Deutsch-Oesterreichischen  Dampfschiffahrts-Ges.«  Jahrg.  1896 
bis   19 12. 

Jahresbericht  der  »Elbe-Dampfschiffahrts-Akt.-Ges.«    Jahrg.    1899 — 1912. 

Jahresbericht  der  »Neuen  Deutsch-böhmischen  Dampfschiffahrts-Ges.«  Jahrg.  1907 
bis   1912. 

Verwaltungsbericht  der  »Privatschiffer-Transport-Genossenschaft«  Jahrg.  1904 — 1913. 

Bericht  über  Geschäftsgang  von  Handel,  Industrie  und  Schiffahrt  der  Handelskam- 
mer zu  Magdeburg  Jahrg.   1865  — 1912. 

Bericht  des  Vorstandes  der  Dresdner  Kaufmannschaft  Jahrg.   1880 — 1912, 

Zeitschrift  für  Binnenschiffahrt  Jahrg.   1893 — 1913. 

Speditions-  und  Schiffahrts-Zeitung  Jahrg.   1892 — 1903, 

»Das  Schiff« ,  Zentralblatt  für  die  gesamten  Interessen  der  deutschen  Schiffahrt, 
Jahrg.    1895—1913. 

Statistik  des  Deutschen  Reiches,  Bd.  22,  35,  39  usw. 

cHamburgs  Handel  und  Schiffahrt«  ,  zusammengestellt  vom  Handelsstatischen  Bu- 
reau Jahrg.  1872 — 191 1. 

Ferner  zahlreiche  Artikel  aus  den  verschiedenen  Tageszeitungen,  vor  allem  aus  der 
»Magdeburger  Zeitung«,  »Dresdner  Anzeiger«,  »Dresdner  Nachrichten«,  »Leip- 
ziger Neueste  Nachrichten«. 


^ 


V 


/^  ZEITSCHRIFT 

FÜR  DIE  GESAMTE 

STAATSWISSENSCHAFT 


In  Verbindung:  mit 


t  Oberbürgermeister  a.  D.  Dr  F.  ADICKES  in  Frankfurt  a.  M.,  Prof.  Dr  G.  COHN  in 
Göttingen,  Ober-Verw.-Ger.-Rat  Prof.  Dr  F.  v.  MARTITZ  in  Berlin,  Kaiserl. 
Unterstaatssekretär  z.  D.  Prof.  Dr  G.  v.  MAYR  in  München,  Prof.  Dr  A.  VOIGT 
in  Frankfurt  a.  M.,  Wirkl.  Geh.  Rat  Prof.  Dr  A.  WAGNER,  Exz.,  in  Berlin, 
Dr  Freiherr  v.  WEICHS  Ministerialrat  am  k.  k.  Handelsministerium  in  Wien 


HERAUSGEGEBEN    ' 

VON 

Dr  K.  BÜCHER, 

o.  Professor  an  der  Universität  Leipzig. 


Ergänzungsheft   LI. 
Oeffentliches  Armenrecht  und   persönliche  Freiheit. 

Von 
Dr  Georg  Wolfgang  Breithaupt. 


TÜBINGEN 

VERLAG  DER  H.  L  A  U  P  P  '  SCHEN  BUCHHANDLUNG 

1915- 


Oeffentliches  Armenrecht 

und  persönliche  Freiheit. 


Von 


Dr.  Georg  Wolfgang  Breithaupt. 


TÜBINGEN 

VERLAG  DER  H.  LAUPP'SCHEN  BUCHHANDLUNG 

1915. 


^/ 


ALLE  RECHTE  VORBEHALTEN. 


DRUCK  VON  H.  L  A  U  P  P  JR  IN  TÜBINGEN. 


—     V    — 


Inhaltsverzeichnis. 

Seite 

Erster  allgemeiner  Teil. 

Begründung  der  Gemeindearmenpflege,   des   dabei   anzu- 
wendenden  Zwanges    und    die    dadurch    beeinflußte   Ge- 
meindeverfassung nach  gemeinem  Recht. 

Erstes  Kapitel.  Die  Stellung  der  Gemeinschafts-  und  Gesell- 
schaftskreise zur  Armenpflege.  Kursorischer  Ueberblick  zum  Zweck 
der  Ausscheidung  der  Materie  und  Feststellung  des  Problems  i  — 18 

1.  Einleitung. 

a)  Massen-  und  Einzelarmut. 

b)  Gemeinschaft  und  Gesellschaft. 

c)  Verhältnis  derselben  zur  Verarmung. 

d)  Die  drei  Wirtschaftssysteme. 

2.  Ausführung. 

a)  Betrachtung  vom  Standpunkt   der   sittlichen  Verpflichtung   aus 

1  a)  Private  Verpflichtung  der  Gemeinschaften. 

aa)  Familie, 
bb)  Herrschaft. 

cc)   Genossenschaft:  Markgenossenschaften,  Zunft, 
dd)  Stiftungen 

2  a)  Oeffentliche  Verpflichtung  der  Gesellschaftskreise. 

aa)  Gemeinde,  halb  Gemeinschaft,  halb  Gesellschaft, 
bb)  Kirche:  Lehre  und  Verwaltung. 

cc)  Staat:    Beruf   und  Gründe;    Polizei    und  Pflege;    Ver- 
waltung. 

b)  Betrachtung  vom  Standpunkte  der  Zweckmäßigkeit  aus.     Vor- 
beugung und  Heilung ;  Polizei  und  Pflege. 

1  a)  Die  privaten  Gemeinschaftskreise:  Familie,   Herrschaft. 

2  b)  Oeffentliche  Gesellschaftskreise. 

aa)  Staat:  Staat  und  Kirche;  Gründe  und  Grenzen, 
bb)  Gemeinden:  Aufsicht  und  Ausübung;  Amts-  und  Selbst- 
verwaltung. 

c)  Zusammenfassung,  strenge  Scheidung  der  Aufgaben  nicht  mög- 


—     VI     — 

Seite 
lieh;    Zusammenarbeiten    aller    Kreise;    Stellung    der    Kirche, 
Kostenfrage  ;' Ausgleich  zwischen  den  Interessen  der  Gemeinden. 

Zweites  Kapitel.  Einzelpersönlichkeit  und  Gesamtpersön- 
lichkeit; Zwang  und  Freiheit.  l8 — 27 

a)  Ausscheiden  der  privatrechtlich  Versorgten  aus  der  Betrach- 
tung der  öffentlichen  Armenpflege:  Besitzlosigkeit  und  Nicht- 
ansässigkeit ;  fluktuierende  Bevölkerung  und  Wanderung;  Ver- 
halten der  Gemeinden  dagegen. 

b)  Allgemeine  Entwicklungsgeschichte  der  Persönlichkeitsrechte 
im  Mittelalter:  Vordringen  der  Amts-  gegenüber  der  Selbst- 
verwaltung zugunsten  der  persönlichen  Freiheit;  Aufhebung 
der  privaten  durch  die  öffentlichen  Beschränkungen. 

1  a)  Deduktion    der  Rechte    und    Pflichten    der    Persönlichkeit 

aus  ihrem  Wesen  und  Wollen,  Dasein  und  Handeln. 

aa)  Verschiedenheit  der  Individuen  nach  Wollen,  Können 

und  Einsicht, 
bb)  Folgen  und  Beziehungen    zu    Familienstand,    örtlicher 

Bewegung,  Meinungsäußerung. 

2  a)  Diesen  Auswirkungen  der  Persönlichkeit  entsprechende  Be- 

schränkungen durch  die  sozialen  Kreise. 

aa)  Stellung  der  Kreise    zur  Eheschließung  des  Einzelnen 

a  I.  Familie,  Genossenschaft,  Herrschaft. 

b  I.  Staat:  Gesundheit;  Rasse;  Zahl. 

c  I.   Kirchliche  Eheverbote. 

dl.  Gemeinde:  Armen-  und  Nahrungsrücksichten, 
bb)  Stellung  der  Kreise  zum  Zugrecht:  Vorübergehende  und 

dauernde  örtliche  Bewegung ;  Aus-  und  Einwanderung  ; 

intra-  und  interterritoriale  Wanderungen  ;  Interesse  der 

öffentlichen  Ordnung  und  der  Gemeinden. 

Drittes  Kapitel.  Gemeindeangehörigkeit  nach  deutschem  und 
gemeinem  Recht:  Wohnsitz;  Ansässigkeit;  Niederlassung;  Auf- 
enthalt. 27—37 

a)  Geschichte  der  genannten  Rechte  in  Deutschland. 

1  a)  Altgermanische  Zeit    und  Mittelalter    bis    zur  Entwicklung 

der  Städte;  Rechtsbücher:  Ansässigkeit. 

2  a)  Einfluß  der  Städteentwicklung:  Aufnahme  und  Geburt. 

3  a)  Gleichzeitige  Entwicklung  auf  dem  Lande :    Abhängigkeit ; 

Unterzugsrecht. 

4a)  Einfluß  des  römischen  Rechts:  Domizil  und  Inkolat. 

5  a)  Einfluß  der  Armenverpflichtung  der  Gemeinden:  Erschwe- 
rung des  Erwerbs  der  Gemeindezugehörigkeit. 

6a)  Ständische  Periode:  Steigende  Macht  des  Landesherm. 

b)  Deduktion  der  Beziehungen  des  Einzelnen  zur  Gesellschaft  auf 
räumlicher  Grundlage :  Wohnsitz. 

1  a)  öffentlich-  und  privatrechtlicher  Wohnsitz. 

2  a)  der  >regelmäßige  Mittelpunkt  des  Daseins<. 


—     VII     — 

Seite 

3  a)  Heimat  und  Ansässigkeit:  Stand  dieser  Rechte  im    19.  Jh. 

in  Deutschland, 

4  a)  Die  Absicht  »dauernd  zu  wohnen«  ;  Ausschließungen. 

5  a)  Exkurs.    Steins  System  der  administrativen  Bevölkerungs- 

ordnung r  gerichtliche,  polizeiliche  und  armenrechtliche  Zu- 
ständigkeit und  Kompetenz  (36 — 37). 

Zweiter,    geschichtlicher   Teil. 
Entstehung    der   kommunalen    Armenpflege;    Entstehung 
des  Heimatrechts  in  Bayern  und  des  Unterstützungswohn- 
sitzes  in  Preußen;   seine  Durchführung    in  Deutschland; 
Aufhebung  der  territorialen  Schranken. 

Viertes  Kapitel.     Das  Armenwesen  im  Mittelalter. 

a)  Armenpflege  der  Kirche  ;  Almosenlehre  und  Bettelwesen.  38 — 46. 

b)  Bekämpfung  des  Bettels  durch  pflegerische  Maßnahmen.  Fran- 
ken;  England;   Frankreich;  Norwegen. 

c)  Armenpflege  der  öffentlichen  Körper  in  Deutschland. 

1  a)  Die  Städte. 

2  a)  Eingreifen  des  Reichs :  Verpflichtung  der  Gemeinden. 

3  a)  Armenwesen  der  Reformation  :  Verbindung  der  kommunalen 

und  kirchlichen  Armenpflege. 

Fünftes    Kapitel.      Geschichte    der    bayrischen    Armen-    und 

Heimatgesetzgebung.  47 — 71 

a)  Allgemeine  kulturelle,  rechtliche  und  wirtschaftliche  Zustände 
Süddeutschlands  bis  zum  Ende  des    15.  Jhds. 

b)  Die  Armen-  und  Bettelpolizeigesetzgebung  bis  in  die  Mitte  des 
18.  Jhds.  Polizeiordnung  1553,  Landrecht  1616,  Mandat  1726. 
Ausbildung  des  gemeinrechtlichen  Heimatrechts  in  dieser  Zeit. 

c)  Die  Maximilianeische  Gesetzgebung  1751/53.  Domiciliura  volun- 
tarium  und  necessarium.  Strenge  der  Kriminalordnung.  Wei- 
tere Beschränkungen  der  Freizügigkeit  durch  die  Bettelord- 
nungen 1770/80.  Extremste  Ausgestaltung  des  Heimatrechts. 
Ehebeschränkungen:  domicilium  justum  und  voluntarium. 

d)  Der  fränkische  Kreisschluß  1791.  Erste  interterritoriale  Rege- 
lung. Verkürzung  und  einheitliche  Regelung  der  Ersitzungsfrist. 
Würzburgische  Verordn.   1791. 

e)  Reformen  am  Beginn  des  19.  Jhds.  Aufhebung  der  Leibeigen- 
schaft. Freiheitlichere  Tendenz  bis  1825.  Erleichterung  der 
Eheschließung.     Zentralisierung  der  Armenpflege. 

f)  Gesetzgebung  des  Jahres  1825.  Inhalt  und  Bedeutung  der 
Heimat.  Ansässigkeit.  Aufhebung  der  Zunftgerechtigkeit. 
Rückschlag  und  Reaktion  1834.  Einfluß  auf  das  wirtschaft- 
liche und    soziale  Leben.     Ueberwiegendes  Gemeindeinteresse. 

g)  Gesetzgebung  des  Jahres  1868.  Heimat  und  Bürgerrecht.  Zen- 
trale   Stellung    der  Heimat    im  Gemeinderecht.     Erleichterung 


—     VIII     — 

Seite 
des  Erwerbs.     Grundsätzliche  Freizügigkeit.     Natürliches  Recht 

auf  Eheschließung.     Ehezeugnis  und  Aufgebot. 

h)  Einfluß  der  deutschen  Reichsgesetzgebung    auf  Bayern.     Erei- 

zügigkeit.    Norddeutsche  gelten  als  Inländer.    Aufrechlerhalten 

der  Heimat-  und  Ehegesetzgebung. 

i)  Weitere  Entwicklung  Bayerns  in  freiheitlichem  Sinne.     Ueber- 

nahme  des  Unterstützungswohnsitzes. 

Sechstes     Kapitel.      Armen-     und     Heimatgesetzgebung     in 

Preußen.  71  —  100 

a)  Allgemeine  kulturelle,  wirtschaftliche  und  rechtliche  Zustände 
der  ostdeutschen  Gebiete.  Besiedelung.  Fehdewesen.  Dreißig- 
jähriger Krieg. 

Art  und  Recht  der  Einwanderung.  Regale  majus  des  Landes- 
herm.  Kolonienrecht  und  Niederlassungsrecht.  Landeskultur- 
politik der  Hohenzollern.  Private  und  öffentliche  Beschrän- 
kungen. 

b)  Bettel-  und  Armenordnungen  bis  1748.  Landfriedensdurch- 
führung. Armenordnungen  1696  ff.  Heimatbemessung  1708  ff. 
Edikt  von  1748.  Verantwortlichkeit  des  Staates.  Anstaltsein- 
richtungen. 

Exkurs  über  Anstalts-  und  Landarmenwesen  (80 — 82). 

1.  Anstaltswesen  in  England,  Frankreich,  Bayern,  Preußen. 
Landarmenreglement  von   1791.     Arbeitsteilung. 

2.  Armenverbände.  Notwendigkeit  größerer  Verbände.  Kirch- 
spiele und  Unionen  in  England.  Allmähliche  Entwicklung 
in  Deutschland. 

c)  Das  allgemeine  Landrecht.  Verpflichtung  des  Staats.  Ueber- 
weisung  an  die  Gemeinden.  Landarmenwesen.  Gemeinderecht 
des  ALRs.  Bürgerrecht  und  Gemeindemitgliedschaft.  Schutz- 
verwandte. Ersitzung  und  Beitrag  zu  den  Kommunallasten. 
Geltung  des  Domizils  RRs.  Oeffentliche  und  private  Beschrän- 
kungen der  Freizügigkeit  und  Verehelichung.  Grundsätzlich 
öffentlich-rechtliche  Freiheit. 

d)  Stein-Hardenbergische  Reform.  Gesetzgebung  des  Jahres  1842 
in  Konsequenz  davon.  Einheitliches  Armenrecht.  Prinzip  des 
Unterstützungswohnsitzes. 

Orts-  und  Landarmenverbände.  Freizügigkeit.  Aufnahmegesetz. 
Erwerb  des  Gesindes.  Wohnung  und  Aufenthalt.  Gleicher  Er- 
werb wie  Verlust.  Besorgnis  vor  künftiger  Verarmung  kein 
Grund  zur  Abweisung. 

Exkurs.  Entstehung  und  Begründung  des  Unterstützungs- 
wohnsitzes.  Entwurf  1825/32  bei  denProvinziallandtagen  (91 — 92). 

e)  Besserer  Schutz  der  Gemeinde  gegen  Ueberbürdung  durch  das 
Gesetz  von   1855.     Karenzfrist  der  Ersitzung. 

Exkurs.  Geschichte  dieses  Gesetzes.  Freizügigkeit  und 
Heimatscheine  (95 — 96). 


—    IX     — 

Seite 
f)  Weitere  Gesetzgebung  Preußens.     Beseitigung    der  Bürgerauf- 
nahme durch    die  Städteordnung.     Eintrittsgelder.     Polizeiauf- 
sicht, Aufnahme  des  französischen  Prinzips. 
Exkurs.     Sonderstellung  Berlins  in  bezug  auf  die  Aufnahme 
und  Niederlassung.     Polizeiliche  Rücksichten. 

Siebentes    Kapitel.      Gesetzgebung    des    Deutschen    Reichs   loi  — 127 

a)  Die  Regelung  der  interterritorialen  Armen-  und  Heimatsgesetz- 
gebung bis  zur  Gründung  des  Deutschen  Reichs. 

1  a)  Einleitung:  Interterritoriale  und  interkommunale  Schranken. 

2  a)  Bis  zum  19.  Jahrhundert:  Auswanderungs-  und  Reiserecht. 

Nachsteuer  und  Paßzwang. 

3  a)  Die  Wiener  Bundesakte.     Aufhebung  der  Nachsteuer;  Er- 

leichterung der  Freizügigkeit  und  des  Gewerbebetriebs. 
Schwierigkeiten  aus  der  Verschiedenheit  der  territorialen 
Gesetzgebungen. 

4  a)  Die    Gothaer    und    Eisenacher    Konvention.      Einheitliche 

Regelung  der  Ausweisung  und  der  Krankenpflege  von 
»Ausländern«.     Vorbereitung  eines  Heimatrechts. 

5  a)  Der  Entwurf    eines  Heimatgesetzes    im  Frankfurter  Parla- 

ment. Sorgfältige  Behandlung  der  Materie.  Forderung 
größerer  Freiheit  und  Einheitlichkeit,  einer  gemeindeut-schen 
Gemeindeangehörigkeit. 

Exkurs.     Text    des    Heimatgesetzentwurfes    (106 — 107). 
b)  Die  Gesetzgebung  des  Norddeutschen  Bundes  und  des  Reiches 

1  a)  Die  Verfassung:  Schaffung  eines  Bundesindigenats  und  Fest- 

stellung der  Kompetenz  des  Bundes. 

2  a)  Das  Freizügigkeitsgesetz :  Anschluß  an  das  preußische  Vor- 

bild; Person,  Grundeigentum,  Gewerbe;  Glaubensbekennt- 
nis ;  polizeiliche  und  armenrechtliche  Beschränkungen  der 
Freizügigkeit. 

Exkurs.  Die  Verhandlungen  über  die  Gewerbefreiheit 
und  Gewerbeordnung  (31), 

3  a)  Das  Gesetz  über  den  Unterstützungswohnsitz. 

aa)  Die    Vorbereitungen :    Schwierigkeiten    und    entgegen- 
stehende Anschauungen.     Eheschließung, 
a  I.  Der  Bundespräsidialentwurf:   Heimatrecht, 
b  I.  Die  Kommission  und  endgültige  Fassung:  Unter- 
stützungswohnsitz und  Aufhebung  aller  partikula- 
ristischen  Heimatrechte, 
bb)  Das  Gesetz  selbst.     Gleichberechtigung  der  deutschen 
Armenverbände.     Kompetenz  der  Landesgesetzgebung. 
Erwerb    und    Verlust    des    Unterstützungswohnsitzes  ; 
gleiche  Frist    für    beide.     Vorwiegen    des   Aufenthalts 
als  Erwerbsgrund.    Selbständigkeit.    Spätere  Verände- 
rungen.      Herabsetzung    der    Ersitzungfrisl    und    des 
Mindestalters   1894  und   1908.     Geltungsbereich. 
Zeitschrift  für  die  ges.  Staatswissensch.    Ergänzungsheft  51. 


—     X     — 

Seite 

Dritter   abschließender   Teil. 

Schlußbetrachtung.     Historische    und  begriffliche  Gegen- 
überstellung der  beiden  Systeme. 
Achtes    Kapitel.     Einziges  Kapitel  des  dritten  Teils  127 — 150 

a)  Historische  Vergleichung    an    der  Hand    der    amtlichen  Denk- 
schriften. 

a  I.  Die  Heimat:   Inhalt;  Erwerb;  Zuweisung;  Wohnsitz;  Auf- 
enthalt und  sonstige  Bedingungen;  Seydels  Definition. 
b  I.  Der    Unterstützungswohnsitz.      Freizügigkeit;    Aufenthalt; 
Verlust;  Landarmenverbände.     Die  Denkschrift. 
aa)  Vorbedingungen  in  Deutschland  u.  Preußen:  Einführung 
durch    Preußen;     Ersitzungsfrist    nicht     maßgebliches 
Kriterium,  ob  Heimat  oder  Unterstützungswohnsitz, 
bb)  Die    Gemeinde-    und    Armengesetzgebung    des    nach- 
revolutionären Frankreichs.    Zentrale  Verwaltung;  Ein- 
fluß in  Deutschland ;  Das  Gesetz  vom  24.  Vendemiere 
II.  Unterstützungswohnsitz.     Geltung  in  Deutschland, 
cc)  Trennung    des    politischen,    bürgerlichen    und  Unter- 
stützungswohnsitzes.   Regelung  der  Zuständigkeit  nicht 
nach    örtlichen ,    sondern    nach    sachlichen    Kriterien. 
Loslösung  der  arinenrechtlichen  von  der  sonstigen  Ge- 
meindeangehörigkeit. 
Exkurs.    Das  Heimatwesen  in  Hannover:  Heimatscheine; 
Oesterreich:    Heimat    privates  Recht;    Württemberg:    Zu- 
sammenhang mit  Staatsangehörigkeit;  Baden  (133  — 135). 

b)  Begriffliche  Gegenüberstellung  der  beiden  Systeme. 
Kriterium  ist  die  Stellung  der  Persönlichkeit  (Zuständigkeit). 

a  I.  Zur    Gemeinde:    Grad    der  Intensität    der  Gemeindeange- 
hörigkeit. 
b  I.  Zum  Staate:  Jeder  Staatsbürger   muß  eine  Heimat  haben. 
Gl.  Zur  Familie:  Geburt  oder  Ersitzung. 
d  I.  Verlust  der  Heimat  und  des  Unterstützungswohnsitzes. 


—     XI     — 


Literatur- Verzeichnis. 

Unter  Hinweis    auf    die    allgemeine    und  besondere    Staats-  und  verwaltungs- 
rechtliche Literatur  seien  hier  nur  die  wichtigsten  Schriften  über  Armenwesen  und 
Komunalpolitik-  und  Recht  angeführt,  sowie  einige  alte  Quellenwerke. 
Aller    des    Römischen    Reiches    Ordnunge,    gehaltener    Reichstage    und    Abschiedt 

usw.  Maintz   1566. 
Neue   und    vollständige   Sammlung  der  Reichstagsabschiede    usw.    Frankfurt  a.   M. 

1747- 

Landrecht,  Polizei,  Gerichts,  Malefiz,  und  anderer  Ordnungen  der  Fürstentumben 
Ober-  und  Niederbayern.     München   1616. 

V.  Freyberg,  Pragmatische  Geschichte  der  bayrischen  Gesetzgebung.  1836  bis 
1838. 

D  ö  1 1  i  n  g  e  r  ,  Sammlung  der  bayrischen  Verordnungen.     München. 

Weber,  Neue  Gesetz-  und  Verordnungssammlungen  für  Bayern. 

Mylius,  Corpus  Constitutionum  Marchicarum  (bis   1810). 

Zell  er.  Systematisches  Lehrbuch  der  Polizeiwissenschaft.  Bd.  14.  Armenpoli- 
zei.     1834. 

Pommersches  Urkundenbuch. 

Landrecht  für  Neu-Vorpommern  und  Rügen.     18^ 

Lorenz  von  Stein,   Verwaltungslehre.     1868. 

Derselbe,  Handbuch  der  Verwaltungslehre.      1888. 

V.  Mohl,  Polizeiwissenschaft.      1866. 

V.  Reitzenstein,    Armengesetzgebung  Frankreichs.      1881. 

Aschrott,  Englisches  Armenwesen.     1886. 

Ratzinger,  Geschichte  der  kirchlichen  Armenpflege.     1884. 

U  h  1  h  o  r  n  ,  Armenpflege.  Artikel  in  Herzogs  Realenzykl.  der  protestantischen 
Theologie  und  Kirche.     Bd.  2.     S.  92. 

V.  Möller,   Landgemeinden  und  Gutsherrschaften.      1865. 

Derselbe,   Preußisches  Stadtrecht.      1864. 

Bistram,  Rechtliche  Natur  der  Stadt-  und  Landgemeinde.      1866. 

V.  G  n  e  i  s  t ,  Verwaltung,  Justiz,  Rechtsweg  nach  englischen  und  deutschen  Ver- 
hältnissen.    1869. 

Derselbe,  Die  heutige  englische  Kommunalverfassung  und  Kommunalverwal- 
tung oder  das  System  des  Selfgovernement.      1863. 

Gierke,  Deutsches  Genossenschaftsrecht.     1869  ff. 

Röscher,  System  der  Volkswirtschaft,  Bd.  5.     Armenwesen.     1906. 

Schö  nberg,  Handbuch,  Bd.  3,  2.     Armenwesen  von  Löning.     1897. 

Johann  Schneider,  Ueber  Armenversorgung,   1836. 


—     XII     — 

E  ra  m  i  n  g  h  a  u  s  ,  Das  Armenwesen  und  die  Armengesetzgebung  in  den  euro- 
päischen Staaten.     1870. 

Oppenheim,   Armenpflege  und  Ileimatreclit.      1870. 

Luthard,  Armenpflege  und  Unterstützungswohnsilz.      1S80. 

Lammers,  Staatsarmenpflege.      1881. 

Derselbe,  Ziele  und  Bahnen  der  deutschen  Armenpflege.      1882. 

Rocholl,  System  des  deutschen  Armenpflegerechts.     1873. 

Derselbe,  Ueber  die  Reform  des  Armenwesens.      1880. 

K.  Braun,  Gewerbefreiheit  und  Freizügigkeit.      1860. 

Arnold,  Freizügigkeit  und  Unterstützungswohnsitz.      1872. 

Bitzer,  Recht  auf  Armenunterstülzung  und  Freizügigkeit.      1863. 

V.  Sicherer,  Personenstand  und  Eheschließung  im  Deutschen  Reich.    1879. 

S  c  h  ü  z  ,  Ueber  das  Verehelichungs-  und  Uebersiedlungsrecht  mit  besonderer  Rück- 
sicht auf  Württemberg.     Zeitschr.  für  die  ges.  Staatswissenschaft.    1848. 

Derselbe,  Ueber  die  sittlichen  Ursachen  der  Armut  und  ihre  Heilmittel. 
Ebenda  1S51. 

Seydel,  Reichsarmenrecht.     Annalen  des  Deutschen  Reichs.      1877. 

Derselbe,  Die  bayrische  Gesetzgebung  über  Gewerbswesen,  Heimat,  Verehe- 
lichung und  Armenwesen.     Ebenda   1871. 

R  e  h  m  ,  Der  Erwerb  der  Staats-  und  Gemeindeangehörigkeit  in  geschichtlicher 
Entwicklung  nach  römischem  und  deutschem  Recht.  Annalen  1892.  S.  137 
bis  282. 

Reger,  Gesetz  betr.  Heimat,  Verehelichung  und  Aufenthalt.      1908. 

Riedel,  Kommentar  zum  bayrischen  Gesetz  über  Heimat,  Verehelichung  und 
Aufenthalt,      1881. 

Blätter  für  die  administrative  Pra.xis.     Bd.  23,  27. 

Riedel,  Die  Reichsverfassungsurkunde  und  die  wichtigsten  Administrativgesetze 
des  Deutschen  Reiches.      187 1. 

Döhl,  Die  Armenpflege  des  preußischen  Staates.      1860. 

V.  Flottwell,  Grundsätze  des  Obertribunals  über  Freizügigkeit.      1861. 

Derselbe,  Das  Freizügigkeitsgesetz,  seine  wahren  Väter  und  Feinde.  Preußi- 
sche Jahrbücher,  Bd.  40.     S.  602. 

Derselbe,  Das  Bundesgesetz  über  den  Unterstützungswohnsitz,  seine  wahren 
Väter  und  Feinde.     Ebenda,  Bd.  43  und  44,  SS.   588  und  8. 

Geschichte  der  sozialen  Politik  und  des  Armenwesens  im  Zeitalter  der  Reforma- 
tion von  F  e  u  c  h  t  w  a  n  g  e  r.      1908. 

Denkschrift  der  bayr.  Regierung  über  die  Abänderung  der  bayrischen  Heimat-  und 
Armengesetzgebung. 

Richtpunkte  für  die  Ausführung  des  Reichsgesetzes  über  den  Unterstützungswohn- 
sitz in  Bayern. 

Verhandlungen  des  besonderen  9.  Ausschusses  über  den  Entwarf  eines  Gesetzes 
zur  Abänderung  der  bayrischen  Heimat-  und  Armengesetzgebung.  Kammer 
der  Abgeordnelen   1912.     Beilagen  Nr.   100,   168,   293. 

Von  den  Schriften  des  Vereins  für  Armenpflege  und  Wohltätigkeil  vornehmlich  die 
Bände  21,  27,  32,  34,  63,  91. 

Das  Heimat-  und  Armenwesen  in  Bayern.  Stat.  Unterlagen  zur  Reform  der  bayr. 
Heimat-    und    Armengesetzgebung,     Heft  83.  Beitr.  Stat.    Landesamt.    1911. 


Erster  allgemeiner  Teil. 

Erstes  Kapitel. 

Die  Stellung  der  Gesellschaftskreise  zur  Armut. 

Armut  ist  der  Zustand,  in  welchem  der,  letzten  Endes,  selbst- 
verantwortliche Mensch  nicht  mehr  imstande  ist,  die  ihm  ob- 
liegende Versorgung  seiner  selbst  und  der  auf  ihn  angewiesenen 
Angehörigen  mit  dem  unumgänglich  notwendigen  Lebensunter- 
halt zu  leisten.  Dieser  Zustand  kann  ein  vereinzelter  oder  ein 
massenhafter  sein  ^).  Als  soziales  Problem  ist  die  Armut  in  früheren 
Perioden  meist  nur  aufgefaßt,  soweit  sie  als  Massenerscheinung 
auftrat.  Dann  galt  die  Beseitigung  dieser  Erscheinung  als  Auf- 
gabe des  Staates,  welcher  sie  als  Teil  seiner  Landeskulturpolitik 
in  Verbindung  mit  politischen  und  etwa  auch  mit  Siedelungs- 
unternehmungen  betrachtete.  Der  Staat  als  solcher  hat  polizei- 
lich bereits  gegen  Ausgang  des  Mittelalters  eingegriffen,  pflege- 
risch jedoch  erst  der  merkantilistische  Staat  im  Zusammenhang 
mit  seiner  Volkswohlfahrts-  und  Bevölkerungspolitik ^). 

Im  Gegensatz  zur  Massenarmut  hat  bei  der  Einzelarmut  von 
Anfang  an,  vornehmlich  unter  dem  Einfluß  der  Kirche  und  der 
Familienzusammenhänge,  die  pflegerische  Behandlung  vorgewogen. 
Die  Ueberlieferung  der  christlichen  Kirche  und  die  Rechtssitte  des 
germanischen  Volkes  trugen  beide  in  gleicher  Weise  dazu  bei, 
daß  die  Armenpflege  so  lange  ausreichend  und  befriedigend  er- 
schien, als  nicht  die  Uebertreibung  derselben  die  Armut  vermehrte. 

Wir  folgen  hier  bei  der  allgemein  gestellten  Frage  nach  der 
Zweckmäßigkeit  und  sittlichen  Begründung  der  Verpflichtung  zur 

i)  Vgl.  Mohl,  Polizeivvissenschaft,  Bd.  I,  S.  307  ff.  Stein,  Hdb.  d.  Verwal- 
tungslehre, 3.  Teil,  S.  4. 

2)  Unter  diesem  Gesichtspunkt  wird  die  Massenarmut  eingehend  noch  von 
Molil  behandelt,  welcher  überhaupt  den  Uebergang  von  der  älteren  polizeilichen 
zu  der  neueren  sozialen  Auffassung  zu  bezeichnen  scheint. 

Zeitschrift  für  die  ges.  Staatswissensch.    Ergänzungsheft  51.  I 


Armenpflege  vorwiegend  dem  System  Lorenz  von  Steins,^  welcher 
mit  anderen  die  sozialen  Verbindun^^en  der  einzelnen  einteilt  in 
»Gemeinschaften«  und  »Gesellschaften«  ').  IJie  »Gemeinschaft« 
ist  bei  Stein  eine  solche  Verbindung  von  Menschen,  welche  auf 
der  Gleichheit  der  Einzelpersönlichkeiten  aufgebaut  ist:  Familie, 
Kirche,  Genossenschaft.  Die  »gesellschaftliche«  Verbindung  aber 
beruht  auf  der  Ungleichheit  der  Individuen  nach  Charakter,  Ein- 
fluß, Besitz :  Gesellschaft  im  gewöhnlichen  Sinne,  soziale  Organi- 
sation. Das  Recht  erfaßt  die  Gemeinschaft  im  allgemeinen  als 
Genossenschaft,  die  Gesellschaft  als  Staat.    Die  Gemeinschaft  liegt 


l)  Bei  der  vorliegenden  Untersuchung  mußte  zunächst  das  Bestreben  obwal- 
ten, ein  System  der  menschlichen  Organisationsforraen  zu  finden,  welches  sowohl 
der  juristischen  wie  der  nationalökonomischen,  sowohl  der  historischen  wie  der 
systematischen  Behandlungsweise  zugrunde  gelegt  werden  konnte.  Und  es  erschien 
angemessen,  hierfür  die  letzten  Endes  entscheidenden  soziologischen  Merkmale 
herauszuschälen,  welche  für  die  Gliederung  und  Gestallung  der  menschlichen  Ge- 
meinschaften überall  und  auf  allen  Gebieten  die  Normen  abgeben.  (Vgl.  Inhalts- 
verzeichnis Kap.  I.)  Nur  auf  diese  Weise  konnten  die  wirtschaftlichen  und  sozialen, 
die  politischen  und  religiösen  Gesichtspunkte  eine  umfassende  ,  wenn  nicht  er- 
schöpfende Berücksichtigung  finden,  welche  alle  in  die  behandelten  Probleme  her- 
einspielen. 

Und  weiter  erschien  mir  hier  das  vorwiegend  von  Lorenz  von  Stein  benutzte 
System  der  menschlichen  Gemeinschaftskreise  im  weiteren  Sinne  und  besonders 
seine  Einteilung  in  die  gesellschaftlichen  und  die  gemeinschaftlichen  Organisationen 
die  zweckmäßigste  zu  sein.  Ich  habe  Lorenz  von  Stein  nicht  als  Quelle  für  die 
geschichtliche  Darstellung  benutzt  —  dafür  erscheint  Steins  Arbeitsweise  nicht  als 
zureichend,  welche  sich  vornehmlich  auf  die  Ilerausarbeitung  der  typischen  und 
systematischen  Gesichtspunkte  beschränkt  ujid  alles  Einzelmaterial  zu  sehr  als 
schmückendes,  im  Grunde  nebensächliches  Beiwerk  betrachtet  — .  Sondern  ich 
habe  nur  Steins  »System  der  administrativen  Bevölkerungsordnung«,  wie  es  sich  in 
seiner  »Inneren  Verwallungslehre«  darstellt,  benutzt.  Gerade  in  seiner  genialen 
Systematisierung  und  Schemalisierung  liegt  die  anerkannte  Bedeutung  Steins.  Eine 
solche  Systembildung  ist  ja  schließlich  immer  willkürlich,  aber  mir  erschien  für  den 
vorliegenden  Versuch  Steins  Schema  das  formell  und  sachlich  geeignetste,  um  daran 
anzuknüpfen,  wenn  auch  dies  natürlich  nicht  ohne  Mängel  ist. 

Tönnies  (Gemeinschaft  und  Gesellschaft)  basiert  den  Unterschied  zwischen 
Gemeinschaft  und  Gesellschaft  auf  den  Willen  und  die  dadurch  bedingten  Be- 
ziehungen der  Individuen.  Seine  Unterscheidung  geht  ebenso  tief  wie  die  Steins, 
von  einem  nur  formell,  nicht  materiell  verschiedenen  Merkmal  aus.  Das  Wesen 
der  Persönlichkeit  ist  ihr  Wille.  »Das  Verhältnis  selber,  und  also  die  Verbindung, 
wird  entweder  als  reales  und  organisches  Leben  begriffen  —  dies  ist  das  Wesen 
der  Gemeinschaft,  oder  als  ideelle  und  mechanische  Bindung  —  dies  ist  der  Be- 
griff der  Gesellschaft  ....  Alles  vertraute,  ausschließliche,  heimliche  Zusammen- 
leben wird  als  Leben  in  Gemeinschaft  verstanden.  Gesellschaft  ist  die  Oeffent- 
lichkeit,  ist  die  Welt«  usw.     2.  A.    S.  4  ff. 


vornehmlich  auf  dem  Gebiete  des  privaten,  die  Gesellschaft  in 
dem  des  öfifentlichen  Rechts.  Doch  decken  sich  diese  Kategorien 
keineswegs  vollständig ;  vor  allem  hat  die  privatrechtlich  auf- 
zufassende Besitzungleichheit  im  Verlauf  der  Geschichte  dadurch 
»korrumpierend«  eingewirkt,  daß  sie  wesentliche  Verschiebungen 
im  Rahmen  des  öffentlichen  Rechts  herbeiführte.  Die  Besitz- 
ungleichheit hat  die  Machtungleichheit  abgelöst. 

Aus  dem  Wesen  von  Gemeinschaft  und  Gesellschaft  selbst 
ergibt  sich  ihre  Stellung  zur  Verarmung  ihrer  Mitglieder.  Die 
Gesellschaft  haftet  zunächst  für  diejenigen  Fälle  der  sozialen  Er- 
krankung, welche  sie  selbst  durch  ihre  Organisation  verschuldet 
hat,  politische  und  wirtschaftliche:  Krieg  und  Besitzlosigkeit,  wirt- 
schaftlicher und  Bildungszustand.  Dies  sind  wesentlich  die  Fälle 
der  Massenarmut.  Auch  auf  die  Einzelarmut  hat  ihre  Tätigkeit 
und  Organisation  insofern  Einfluß,  als  diese  dadurch  befördert 
oder  vermindert  werden  kann.  Die  Einzelarmut  entsteht  und 
wird  bekämpft  zunächst  vornehmlich  im  Rahmen  der  Gemein- 
schaft, doch  auch  hier  bestimmt  die  Gesellschaft  und  ihr  recht- 
licher vornehmster  Ausdruck,  »der  Staat  als  eine  selbstbewußte 
und  selbsttätige  Persönlichkeit  Aller«  •^)  autoritär  darüber,  in  wel- 
chem Maße  sie  selbst  an  dieser  Regelung  Anteil  nehmen  will. 
Die  Frage  ist:  Selbstverwaltung  oder  staatliche  Regelung. 

Der  Zustand  der  Armut  ist  zunächst  ein  rein  wirtschaftlicher, 
welcher  aber  zugleich  bedingend  und  bedingt  im  Verhältnis  der 
Wechselwirkung  mit  der  gesellschaftlichen  Ordnung  steht.  Das 
rein  privatwirtschaftliche  System  der  wirtschaftlichen  und  gesell- 
schaftlichen Ordnung  versagt;  es  wird  durch  das  gemeinwirt- 
schaftliche ergänzt,  welches  somit  direkt  und  unvermittelt  in  den 
Kreis  des  persönlichen  Lebens  hereintritt.  Es  übt  seine  aus- 
gleichende Wirkung  aus  in  der  Gestalt  des  sogenannten  chari- 
tativen-)  Systems  und  wird  dabei  zu  einer  selbständigen,  zwischen 
privater  und  gesellschaftlicher  vermittelnden  Ordnung.  In  diesen 
drei  Systemen  lebt  der  einzelne ;  sie  liegen  um  ihn  herum  wie 
konzentrische  Kreise :  die  Anziehung  bez.  Ausstrahlung  des  In- 
dividuums erstreckt  sich  nacheinander  auf  alle  Kreise,  die  Be- 
wegung wird  weiter  gegeben.  Erst  wenn  die  inneren  Kreise, 
Gemeinschaft    und    Charitas    versagen,    übernimmt    der    äußerste 


1)  Stein,  Handbuch,  S.  5. 

2)  Wagner,  Grundlegung,  Bd.  3.     Organisation  der  Volkswirtschaft. 


—     4     — 

Kreis,  die  Gesellschaft,  die  eigentlich  jenen  zustehende  Aufgabe. 
Der  dritte  Kreis  muß  die  Bcwecjung  aufhalten,  wenn  jene  es  nicht 
können.  Die  teils  natürlich  bestehenden,  teils  zu  sozialen  Zwecken 
errichteten,  auf  der  Grundlage  der  persönlichen  Gleichheit  be- 
ruhenden Gemeinschaften  —  in  diesem  Sinne  Genossenschaften 
—  sind  die  engeren  Kreise ;  und  ihre  Bewegung  und  Störung 
wird  durch  den  charitativen  Kreis  übertragen  auf  den  letzten,  auf 
die  gesellschaftlichen  Vereinigungen ,  deren  weiteste  der  Staat 
ist.  »Der  Staat  und  seine  Organe,  die  Gemeinden  treten  nur 
soweit  ein,  als  die  freie  Tätigkeit  der  gesellschaftlichen  —  in  un- 
serem Sinn :  gemeinschaftlichen  —  Kräfte  nicht  ausreicht,  und 
soweit  es  sich  um  Aufgaben  handelt,  die  überhaupt  nur  durch  die 
staatliche  Zwangsgewalt  gelöst  werden  können<^^). 

Der  engste  Gemeinschaftskreis  ^)  ist  die  Familie,  die  natür- 
liche Blutsgemeinschaft,  welche  in  ihren  Wirkungen  die  ganze 
Persönlichkeit  umfaßt.  Sie  ist  die  intensivste  Gemeinschaft,  die 
ursprüngliche  Grundlage  und  das  Vorbild  aller  anderen.  Dieser 
ihrer  Stellung  entspricht  die  Verpflichtung  der  Geschlechterver- 
bände zur  Hilfeleistung  auf  allen  Gebieten.  Blutrache  und  Unter- 
stützung sind  so  Ausflüsse  desselben  Grundes.  Bei  den  Ger- 
manen beherrschte  der  verwandtschaftliche  Zusammenhang  alles 
und  erstreckte  sich  denkbar  weit.  Die  Hundertschaft  ist  der  wei- 
teste Kreis  der  Verwandtschaft.  Der  Sachsenspiegel  ^)  sagt  hier- 
über :  />Und  gleich  als  die  Heerschild  sich  endigen  in  dem  7.  Schild, 
also  endet  sich  auch  die  Sippe  in  dem  7.  Glied-.  Das  gemeine 
Recht  bringt  Fürsorge  und  Erbfolge  in  Beziehung,  so  setzt  noch 
Preußisches  LR.*)  fest:  »Verwandte  in  auf-  und  absteigender 
Linie  sind  einander  nach  den  wegen  der  Aeliern  und  Kinder 
i.  V.  T.  enthaltenen  Bestimmungen  zu  ernähren  verbunden <-.  »Doch 
richtet  sich  überhaupt  die  Verpflichtung  der  Verw-andten  (sc. 
zur  Unterstützung)  ....  nach  den  Regeln  der  gesetzlichen  Erb- 
folge«. Der  folgende  tritt  an  die  Stelle  des  zunächst  Verpflich- 
teten, doch  können  »andere  Seitenverwandte  außer  den  Ge- 
schwistern zur  Ernährung  .  .  .  nicht  gezwungen  werden <-.  Das 
Bürgerliche  Gesetzbuch  des  Deutschen  Reiches,  in  dessen  Rahmen 
ja  die  Regelung  des  Armenwesens  nicht  fällt,  setzt  hierüber  nur 


i)  Lönitig,  Armenwesen,  Schönberg%  Handbuch,  2.  Halbbd.,  S.  398. 

2)  Vgl.  Stein,  Mohl,  bes.  ßiizer,   S.    166. 

3)  SS.    B.    I.     A.   3. 

4)  ALR.  2,  3,  §§   14  und   i-]. 


—     5     — 

fest^),  daß  Eltern  und  Vormünder  »das  Recht  und  die  Pflicht 
haben,  für  die  Person  und  das  Vermögen  des  Kindes  zu  sorgen«. 
Ferner  enthalten  noch  das  Preußische  Armengesetz  vom  21.  Mai 
1855  sowie  das  StrGB.  vom  14.  April  1855  Strafbestimmungen 
gegen  Eltern,  die  ihrer  Unterhaltspflicht  nicht  nachkommen.  Im  all- 
gemeinen ist  hier  nur  darauf  hinzuweisen,  daß  mit  der  Aufhebung 
der  rechtlichen  Bindung  der  Person  und  der  Ausbildung  der  völ- 
ligen wirtschaftlichen  Freizügigkeit  der  Familienzusammenhang 
schon  im  engsten  Kreise  einen  stark  zersetzenden  Prozeß  durch- 
gemacht hat;  indem  die  Gesetzgebung  den  wirtschaftlichen  Ent- 
wicklungen durch  erleichternde  Bestimmungen  noch  nachgeholfen 
hat,  sind  auch  ihre  nicht  aufgehobenen  Zwangsbestimmungen  zum 
guten  Teil  illusorisch  geworden. 

Nächst  der  P^amilie  ist  in  allen  Fällen  einer  privatrechtlichen 
Unterordnung  (wie  Gesindedienst  und  jeglicher  Verdingung  bei 
vorübergehender  Arbeitsunfähigkeit)  die  Herrschaft  zur  Hilfe  ver- 
pflichtet. Der  sittlichen  Pflicht  entspricht  hierbei  meistens  das 
eigene  Interesse  des  Herrn,  welcher  die  gemietete  Kraft  aus- 
nutzen will  und  sie  entsprechend  auch  erhalten  muß.  In  der 
deutschen  Wirtschaftsgeschichte  verfolgen  wir  bis  zum  18.  Jahr- 
hundert eine  Entwicklung,  welche  dahin  geht,  diese  privatrecht- 
lichen Dienstbeziehungen  lebenslänglich  und  schließlich  vererb- 
lich, somit  öffentlich-rechtlich,  auszugestalten.  Der  Grundherrlich- 
keit entspricht  darum  die  unbedingte  Unterstützungspflicht  gegenüber 
den  Grundholden  und  Hintersassen.  Diese  Entwicklung  geht  wie- 
derum von  der  Kapitulargesetzgebung  Karls  des  Großen  -)  bis  zu 
den  Bestimmungen  des  Allgemeinen  Landrechts  ^).  »Eine  jede 
Gutsherrschaft  ist  schuldig,  sich  ihrer  Untertanen  in  vorkommen- 
den Notfällen  werktätig  anzunehmen«.  Entsprechend  bestimmt 
die  GesO.  vom  8.  November  18 10:  »Zieht  ein  Dienstbote  sich 
durch  den  Dienst  oder  bei  Gelegenheit  desselben  eine  Krankheit 
zu,  so  ist  die  Herrschaft  schuldig,  für  seine  Kur  und  Verpflegung 
zu  sorgen«  *).  Ebenfalls  hierher  zu  rechnen  ist  die  Verpflichtung 
des  Arbeitgebers  zum  Beitrag  zu  den  Zwangsversicherungen  (in 
der  sozialen  Gesetzgebung  des   19.  Jahrhunderts  in  Deutschland), 


i)  BGB.    §    1627.     Vgl.    §    65    Preuß.    Ausführ.-Ges.    zum    Reichsges.    über 
Unterst.-Wohns.  und  Pr.  Min.  Instr.    10/4.      1871. 

2)  Näheres  S.   41. 

3)  ALR.  2.  Teil,  7.  Titel,  §   123. 

4)  Allg.  Gesinde-O.  §  86  flf. 


—     6     — 

wie  überhaupt  der  Versicherung  eine  eingehende  Würdigung  vom 
Standpunkte  der  vorbeugenden  Armenpflege  zukommt. 

Ist  die  Dienstbarkeit  eine  freiwillige  (Kommendationen),  später- 
hin allerdings  meist  erzwungene  unterordnende  Verbindung,  so 
ist  im  Gegensatz  dazu  die  Genossenschaft  auf  der  völligen  Gleich- 
heit der  [Mitglieder  aufgebaut.  Andererseits  überwiegt  bei  dieser 
Art  der  Verbindung  von  Anfang  an  mehr  der  öffentliche  Cha- 
rakter. Die  Markgenossenschaft  steht  auf  der  Grenze  zwischen 
der  rein  familienhaften  und  staatlichen  Gemeinschaft,  ihr  Zwang 
war  gleich  stark  in  Beziehung  auf  die  wirtschaftlichen  wie  auf  die 
persönlichen  Verhältnisse  ihrer  Mitglieder.  Noch  stärker  fast  war 
in  den  Städten^)  der  Zusammenhang  in  den  gewerblichen  Ge- 
meinschaften, den  Zünften,  und  ebenso  griff  auch  hier  schon  in 
den  ersten  Anfängen  ihrer  Bildung  die  Obrigkeit  regelnd  ein. 
Auch  sie  entwickelten  sich  bald  zu  überwiegend  öffentlichen  Ge- 
bilden. Bei  aller  sonstigen  Verschiedenheit  der  Organisation  in 
den  einzelnen  Gewerben  ist  ihnen  allen  doch  die  gegenseitige 
Unterstützung  gemeinsam,  die  Ansammlung  eines  Vermögens,  die 
Bildung  von  Notstandskassen,  Bruderschaftskasten,  Gesellenladcn, 
Gewerkschaftskassen  und  wie  diese  Vorläufer  unseres  heutigen 
Versicherungswesens  sonst  heißen  mögen.  In  den  ländlichen  Ver- 
hältnissen entsprach  dem  der  Gemeindebesitz,  die  Allmende,  welche 
in  Notfällen  für  den  einzelnen  ebenso  wie  für  die  Gesamtheit 
einen  gewissen  Rückhalt  bot. 

Die  in  diesen  Gemeinschaften  angesammelten  oder  von  An- 
fang an  zurückbehaltenen  Vermögen  haben  so  in  mancher  Be- 
ziehung den  Charakter  von  Stiftungen.  Die  Stiftungen  hatten 
während  des  ganzen  Mittelalters  vom  staatlichen  Standpunkt  aus 
rein  privaten  Charakter,  wenngleich  es  durchaus  berechtigt  ist, 
die  kirchlichen  Stiftungen,  welche  ja  den  größten  Teil  derselben 
überhaupt  ausmachten,  als  öffentliche  anzusehen  (entsprechend  den 
pia  Corpora  des  Rom.  Rechts).  Der  Staat  als  solcher  nimmt  zu 
den  spezifischen  Armenstiftungen  erst  Stellung  in  den  Reichs- 
tagsschlüssen des  ausgehenden  15.  Jahrhunderts 2).  Das  ganze 
Mittelalter  hindurch  nahmen  die  Stiftungen  unter  dem  Schutze 
der  Kirche  eine  durchaus  beherrschende  Stellung  in  der  Armen- 
pflege   ein.     Soweit  sie  nicht  aufgehoben   und   anderen  Zwecken 

1)  Vgl.  hierzu  Lamprecht,  Deutsche  Geschichte,  und  Ratzin ger,  Geschichte  d, 
kirchl.  Armenpflege,  S.  541  ff". 

2)  Siehe  unten  S.  43. 


—     7     — 

zugewandt  sind,  bilden  sie  auch  heute  noch  in  vielen  alten  Ge- 
meinden die  Grundlagen  ihres  Armenwesens  (z.  B.  in  den  Hanse- 
städten). Nicht  in  bezug  auf  ihr  juristisches  ^),  wohl  aber  auf  ihr 
tatsächliches  Wesen,  die  Beweggründe  ihrer  Entstehung  und  ihren 
Zweck  entsprechen  ihnen  heute  die  charitativen  Vereine,  welche 
aber  lange  nicht  mehr  in  dem  früheren  Umfange  unter  dem  Ein- 
flüsse der  Kirche  stehen.  Die  Stiftungen  haben  meist  einen  eng 
und  streng  begrenzten  Kreis  von  Berechtigten,  nicht  so  die  mo- 
dernen Wohltätigkeitsvereine,  welche  ihre  Tätigkeit  völlig  ihrem 
Zweck  anzupassen  vermögen.  Mit  dem  kolossalen  Anwachsen 
der  Stiftungen  an  Zahl  und  Reichtum  wuchs  auch  das  Interesse 
des  Staates  an  ihnen,  die  Reformation  verstaatlichte  sie  zum 
großen  Teil,  wenn  auch  unter  Beibehaltung  ihrer  Zweckbestim- 
mung und  stellte  auch  die  anderen  unter  seine  genaue  Aufsicht, 
so  daß  sie  in  den  evangelischen  Ländern  völlig  öffentlichen  Cha- 
rakter annahmen. 

Als  eine  Art  der  privatrechtlichen  Verpflichtung  ist  auch  die 
Bestimmung  der  Bayerischen  Gesetzgebung^)  zu  betrachten,  wo- 
nach die  Gemeinde  ohne  Rücksicht  auf  die  Heimatgehörigkeit 
solche  Leute  zu  unterstützen  hat,  welche  infolge  der  Hilfeleistung 
bei  Unglücksfällen  verunglückt  sind.  Der  privatrechtliche  Cha- 
rakter dieser  Bestimmung  beruht  darin,  daß  die  Verpflichtung  in 
diesem  Falle  nur  nach  dem  Grundsatze  der  Vergeltung  zuge- 
wiesen wird. 

Auf  der  Grenze  zwischen  öffentlicher  und  privatrechtlicher 
Verpflichiung  steht  wiederum  die  Gemeinde  selbst.  Die  deutsche 
Gemeinde  ist  die  Vereinigung  verschiedener  genossenschaftlicher 
Verhältnisse,  daher  privatrechtlich  zu  beurteilen,  andererseits  bildet 
sie  sich  bald,  etwa  im  lo.  Jahrhundert,  zur  untersten  Stufe  des 
staatlichen  Aufbaus  aus,  zunächst  für  die  Wehr-  und  Gerichts- 
verfassung, sodann  für  die  Steuereintreibung  und  Umlagen,  da- 
her öffentlich-rechtlich.  In  bezug  auf  die  Armenpflege  ist  es 
jedenfalls  wohl  richtiger,  die  Gemeinde  als  privatrechtlich  ver- 
pflichtet anzusehen.  Durch  dieselben  Bestimmungen  der  Reichs- 
tage^) wurden  wie  die  Stiftungen  auch  die  Gemeinden  als  solche 
zur  Armenpflege  verpflichtet  und  ihnen  diese  als  öffentliche  Auf- 
gabe zugewiesen.    Die  unmittelbare  Nachbarschaft,  wenn  sie  auch 

1)  Vgl.  Stein,  Handbuch,  Bd.  3,  S.    115  ff. 

2)  Bayr.  Bettelmandat  von   1780,  Ziff.    10. 

3)  Vgl.  unten  S.  44, 


—     8     — 

nicht  den  persönlichen  und  rechtlichen  Verkehr  /.wischen  den 
einzelnen  in  der  Gesamtheit  herbeiführt,  knüpft  dennoch  gewisse 
allgemeine  Beziehungen  an,  welche  auf  dem  Leben  unter  ge- 
meinsamen Bedingungen  beruhen.  Die  private  Wohltätigkeit, 
welche  ohne  jede  rechtliche  Verpflichtung  dennoch  die  mensch- 
liche anerkennt,  äußert  sich  naturgemäß  in  allererster  Linie  im 
Rahmen  der  nächsten  Nachbarschaft.  Es  liegt  nichts  näher,  als 
diese  örtliche  und  Lebensgemeinschaft  auszunutzen  für  die  recht- 
liche Verpflichtung  zur  Hilfeleistung.  Wir  werden  unten  sehen, 
daß  die  gesamte  deutsche  Armengesetzgebung  in  der  Folge  sich 
vornehmlich  auf  diese  grundlegenden  Bestimmungen  stützt,  und 
daß  ihr  eigentlicher  Gegenstand  der  Kampf  zwischen  den  ver- 
schiedenen Gemeinden  ist,  welchen  es  auszugleichen  gilt.  Es 
kommt  hinzu  das  Interesse,  welches  jede  •  Gemeinde  an  guter 
Armenordnung  hat,  insofern  hieraus  sonst  schwere  Schädigungen 
für  die  öffentliche  Ordnung  und  Sicherheit  überhaupt  entstehen 
können.  Ja  dies  ist  in  der  Tat  der  eigentliche  Beweggrund  für 
das  Eintreten  der  Gemeinden  in  die  Reihe  der  Armenpfleger. 

Diejenige  Körperschaft,  welche  zuerst  sich  wirklich  eingehend 
und  hingebend  der  Armenpflege  gewidmet  hat,  ist  die  christliche 
Kirche.  Von  dem  Augenblicke  an,  wo  sie  staatlich  anerkannt 
wird,  muß  sie  als  öffentlich-rechtliche  Körperschaft  angesehen 
werden;  somit  tritt  sie  in  die  deutsche  Geschichte  bereits  als  solche 
ein.  Ihre  Betätigung  auf  dem  Gebiete  der  Armenpflege  insbe- 
sondere hat  bis  zur  Reformation  diesen  Charakter  wenn  nicht  aus- 
schließlich, so  doch  vorwiegend.  Es  wird  dies  im  4.  Kapitel 
näher  dargelegt  werden.  Die  treibende  Kraft  zur  Armenpflege 
ist  die  Vorschrift  Christi,  welche  in  unendlicher  Variation  immer 
wieder  den  Gläubigen  zuruft:  Was  Ihr  einem  dieser  Geringsten 
getan  habt,  das  habt  Ihr  mir  getan  !  Das  aber,  was  je  länger  je 
mehr  in  den  Vordergrund  tritt,  ist  der  Anspruch  der  Kirche  auf 
die  alleinige  Leitung  wenn  nicht  Berechtigung  zur  Armenpflege. 
Ihre  Organisation  war  aber  auf  die  Dauer  nicht  ausreichend,  weil 
sie  den  eigentlichen  Zweck  zu  sehr  in  den  Hintergrund  treten  ließ. 

Die  reformierte  wie  die  lutherische  Kirche  schoben  beide  von 
neuem  das  pflegerische  Interesse  an  der  Armut  in  den  Vorder- 
grund, gaben  aber  zugleich  den  Anspruch  auf,  die  allein  be- 
rechtigten zu  sein,  wollten  vielmehr  durch  Zusammenarbeit  mit 
den  öffentlichen  Gewalten  ihr  Ziel  erreichen.  Da  aber  der  Staat 
zugleich    in  vielen   Fällen  die  gesamten,    bisher  der  Armenpflege 


—     9     — 

gewidmeten  Stiftungen  in  seine  Hand  nahm  oder  doch  seinen 
weltlichen  Organen  überwies,  wurde  die  Kirche  mehr  und  mehr 
aus  der  organisierten  Armenpflege  herausgedrängt  und  blieb  in 
der  Folge  auf  die  Auswirkung  in  der  freien  Liebestätigkeit  be- 
schränkt, soweit  es  ihr  nicht  gelang,  neue  Stiftungen  und  An- 
stalten von  sich  aus  ins  Leben  zu  rufen. 

Zweifellos  steht  der  innere  Beruf  der  Kirche  kraft  ihrer  Lehre 
zur  Aufgabe  als  Armenpflegerin  fest.  Aber  die  Kirche  des  Mit- 
telalters hat  ihre  Unfähigkeit  zu  ihrer  Zeit  dargetan  und  damit 
für  alle  Zeit  in  Deutschland  die  alleinige  Leitung  und  Betätigung 
verwirkt.  Nach  der  Reformation^)  war  es  überhaupt  unmöglich, 
der  Kirche  allein  das  gesamte  Armenwesen  zu  überlassen,  da  die 
katholische  Kirche  alle  Angehörigen  anderer  Gemeinschaften  von 
ihren  geistlichen  wie  leiblichen  Segnungen  grundsätzlich  aus- 
schließt, die  lutherische  Kirche  dagegen  einer  genügend  straffen 
Organisation  ermangelt,  um  die  nötige  Bürgschaft  für  restlose 
Erfüllung  ihrer  Aufgabe  zu  bieten.  Vollends  ergab  sich  diese 
Unmöglichkeit  nach  der  weiteren  Zersplitterung  der  religiösen 
Gemeinschaften,  welche  mit  der  Sektiererei  und  schließlich  der 
Aufhebung  des  Kirchenzwangs  ihren  Abschluß  erreichte. 

Der  Staat  hat  sich  von  Anfang  an  wenig  um  das  Armen- 
wesen als  solches  gekümmert.  Die  Merovinger  überließen  es  völlig 
der  Kirche,  das  englische  mittelalterliche  Königtum  ebenfalls.  Das 
ganze  Mittelalter  hindurch  ließ  man  die  Dinge  ihren  Gang  gehen. 
Erst  die  erstarkenden  Städte  sahen  im  Interesse  der  Handels- 
sicherheit sich  genötigt,  Bettelordnungen  zu  erlassen.  Das  Reich 
folgte  wesentlich  später,  gab  aber  dann  die  Grundlage  für  die 
weitere  Regelung  ab.  Diese  spielte  sich  nunmehr  völlig  im  Rah- 
men der  territorialen  Entwicklung  ab.  Ihr  Ergebnis  ist,  daß  der 
Staat  in  evangelischen  wie  katholischen  Ländern  nach  und  nach 
die  gesamte  Organisation  und  Leitung  in  die  Hand  nahm,  ohne 
sie  doch  selbst  unmittelbar  auszuüben  und  sich  selbst  zu  belasten. 

Wie  steht  es  nun  mit  der  innerlichen,  in  dem  Wesen  der 
Armenpflege  sowohl  wie  des  Staates  liegenden  Berechtigung  dieses 
Prinzips.?  Es  ist  hier  zuerst  zu  beachten  die  Entwicklung,  welche 
der  Staat  auf  germanischem  Boden  durchgemacht  hat:  er  wurde 
immer  mehr  aus  einem  Rechts-  und  Machtstaat  ein  Kulturstaat. 
Diese  Entwicklung  führt  von  den  rein  idealen  Anschauungen  der 
Reformationszeit   über    die  wirtschaftlichen  der  merkantilistischen 

i)  Siehe  unten  S.  44  ff. 


—       lO      — 

Periode  hinüber  zu  dem  alles  in  sich  vereinigenden  Wohlfahrtsstaat 
des  Absolutismus  und  schließlich  zu  der  modernen  Auffassung  von 
der  regelnden  und  pflegenden  Aufgabe  des  Staates  auf  allen  Ge- 
bieten der  Volkswirtschaft,  des  Bildungswesens  und  der  sozialen 
Verhältnisse.  Mit  der  territorialen  Ausweitung  und  der  wirt- 
schaftlichen wie  rechtlichen  Befreiung  der  Bevölkerung  wuchs 
auch  zugleich  der  Ideeninhalt  des  Staates. 

Dieser  Inhalt  des  Staatsbegriffs  als  innerlich  sich  erweiternde 
Gebietskörperschaft  muß  unserer  Fragestellung  zugrunde  liegen. 
Bitaer^)  sagt  :  »Der  Staat  ist  die  Gesamtheit  der  Einrichtungen, 
durch  welche  ein  Volk  seinem  Zusammenleben  in  einem  be- 
stimmten Lande  seine  feste  Gestalt  und  seine  volle  Wirklichkeil 
gibt  und  bewahrt«.  .  .  .  daher  kann  seine  Aufgabe  nur  darin 
bestehen,  »die  Ordnung  dieses  Zusammenlebens  mit  objektiver 
Gültigkeit  rechtsverbindlich  festzustellen,  die  allgemeine  Rechts- 
ordnung innerhalb  seines  Staatsgebiets  zu  gründen,  zu  schützen 
und  mit  Macht  und  Recht  zu  erhalten  ;  sofern  er  aber  anderer- 
seits die  Bestimmung  hat,  die  Erfüllung  der  Lebensaufgaben  seiner 
Angehörigen  durch  die  Gesamtkräfte  des  Volks  zu  fördern  und 
zu  stützen,  muß  er  die  Erfüllung  derjenigen  menschlichen  Lebens- 
zwecke, welche  die  Mitwirkung  der  Gesamtheit  des  Volks  in  An- 
spruch nehmen  und  diesem  als  nationale  Aufgaben  erscheinen, 
in  den  Bereich  seiner  Tätigkeit  ziehen«.  Die  Beziehung  auf  das 
Armenwesen  erscheint  hiermit  gegeben.  In  demselben  Sinne  sei 
auf  Adolph  Wagners  Gesetz  der  \vachsenden  Ausdehnung  der 
öffentlichen  Tätigkeit'-)  hingewiesen,  welches  in  noch  stärkerem 
Maße  nach  der  Seite  der  Kultur-  und  Wohlfahrtspflege  als  des 
Macht-  und  Rechts/.wecks  sich  geltend  macht ;  wenigstens  in  der 
neueren  Entwicklung,  weil  der  erstere  der  jüngere  ist  und  mehr 
des  Ausbaus  bedarf.  Um  diesen  Aufgaben  gerecht  zu  werden, 
muß  der  Staat  ein  dazu  nötiges  Organ  ausbilden  in  Gestalt  der 
gesamten  inneren  Verwaltung.  Nach  Stein^)  ist  es  »Begriff  und 
Idee  aller  Verwaltung  überhaupt,  der  individuellen  Entwicklung 
diejenigen  Bedingungen  durch  die  Arbeit  des  Staats  zu  bieten, 
welche  sich  der  einzelne  nicht  selbst  verschaffen  kann«.  Ueber 
den  Inhalt  der   sozialen  Verwaltung  im  besonderen  sagt  Stein  ^) : 


1)  Bitzer,  Recht  auf  Armenunterst.,   S.  68. 

2)  Wagner,  Grundlegung,  3.  A.,   i.   Abt.,  6.  Buch. 

3)  Slein,  Handbuch,  Hd.  3,  S.  47. 

4)  Ebenda  S.   46. 


—     II     — 

»Das  erste  Element  ist  die  Armut,  in  welcher  die  Erwerbskraft 
überhaupt  fehlt.  Das  zweite  ist  das  Arbeiterwesen,  in  welchem 
die  Arbeit  nicht  die  Kraft  besitzt,  zum  Erwerbe  zu  gelangen. 
Das  dritte  dagegen  enthält  die  Entwicklung  eben  jener  Kraft, 
welche  die  Herstellung  der  Bedingungen  der  Erwerbsfähigkeit  zu 
einer  eigenen  Verwaltungsaufgabe  macht«.  Die  beiden  selbstän- 
digen Elemente  jedes  dieser  drei  Gebiete  der  sozialen  Verwal- 
tung sind  ^)  erstens:  »die  Entwicklung  der  erwerbenden  Kraft  für 
die  nicht  besitzende  Klasse,  das  zweite  ist  die  Sicherung  dessen, 
was  die  damit  erzeugte  erwerbende  Kraft  derselben  nun  wirklich 
erworben  hat.  Aus  dem  ersten  entspringt  die  positive  Seite  des- 
selben, welche  der  werdenden  Arbeitskraft  ihre  allgemeinen  Be- 
dingungen bietet ;  wir  nennen  sie  mit  einem  Worte  die  Sozial- 
politik. Aus  dem  zweiten  ergibt  sich  die  negative  Seite,  die 
den  gemachten  Erwerb  schützende  Aufgabe ;  wir  nennen  sie  die 
Sozialpolizei«. 

Die  einzelnen  Gründe,  welche  den  Staat  antreiben,  die  Ar- 
mut zu  beseitigen,  sind  wiederum  solche  sittlicher  und  zweck- 
mäßiger Art.  Der  Staat  erkennt  das  Eigentum  als  Grundlage  der 
gesellschaftlichen  Ordnung  an,  muß  es  daher  auch  schützen.  Die 
Armut  ist  erstens  eine  Folge  der  Privateigentumsordnung,  zwei- 
tens aber  auch  ihr  Hauptgegner  ^) ;  für  den,  welcher  am  Rande 
des  Verderbens  steht,  gibt  es  schließlich  kein  Gesetz  mehr,  er 
wird  dazu  getrieben,  sich  am  Eigentum  zu  vergreifen,  um  seiner 
Vorteile  dadurch  habhaft  zu  werden.  Die  Armenpflege  wird  so- 
mit zu  einem  Mittel,  die  Geltung  der  staatlichen  Gesetze  zu  er- 
möglichen. 

Ferner  dient  die  Armenpflege  als  Ausgleich 3)  zwischen  Be- 
sitz und  Besitzlosigkeit :  Das  gleiche  sittliche  Verschulden  oder 
das  gleiche  Ereignis  wirkt  auf  den  Besitzlosen  dahin,  ihn  arm 
zu  machen,  während  unter  denselben  Umständen  der  Besitzende 
infolge  des  Rückhalts,  welchen  ihm  sein  Besitz  gewährt,  kaum 
eine  wesentliche  Veränderung  in  seiner  wirtschaftlichen  und  so- 
zialen Lage  zu  verspüren  braucht. 

1)  Ebenda  S.  46.  Stein  bezieht  an  dieser  Stelle  diese  Auseinandersetzung 
nur  auf  die  allgemeine  soziale  Verwaltung.  Jedoch  führt  er  später  dieselbe  Ein- 
teilung auch  für  die  Gebiete  der  speziellen  sozialen  Verwaltung :  Armen-  und  Ar- 
beiterwesen durch.    S.  87  und   116. 

2)  Vgl.  hierzu  die  genauen  Ausführungen    in  Mokh    Pol.Wiss.  Bd.  i,  S.  307. 

3)  Hierauf  weist  bes.  hin  Löning  im  Aufs.  Armenwesen  im  Sckönber gschtn. 
Handb.  Bd.   3,  2,  S.  399. 


Wie  die  {gesamte  Gcsetzgebun«^,  so  eil  ordern  besonders  die 
polizeilichen  Maßnahmen  eine  positive  Ergänzun<[,  ja  diese  gibt 
jenen  erst  ihre  sittliche  Berechtigung  und  Grundlaj^e,  Zwang  und 
Verpflichtung  stehen  in  Wechselwirkung  miteinander.  Wenn  der 
Staat  die  Organisation  der  Gesellschaft  ist,  so  muß  er  den  Pflich- 
ten, welche  er  einzelnen  oder  der  Gesamtheit  auferlegt,  nicht  unbe- 
dingt persönliche  Rechte,  wohl  aber  eine  entsprechende  Ver- 
pflichtung seiner  selbst  entgegensetzen.  Denn  er  ist  nicht  um 
seiner  selbst  willen  da,  sondern  um  der  Angehörigen  willen, 
welche  ihn  bilden. 

Aber  auch  das  Interesse  an  der  öffentlichen  Sicherheit  und 
der  Vermeidung  öffentlichen  Aergernisses,  welches  von  manchen 
sehr  in  den  Vordergrund  gestellt  wird,  erfordert  mehr  als  rein 
repressive  polizeiliche  Maßnahmen.  Ohne  hinzukommende  Hilfe 
ließen  sie  sich  gar  nicht  durchführen.  Noch  deutlicher  als  bei 
der  Armenpflege  tritt  dies  ursächliche  Moment  hervor  bei  dem 
Schul-  und  Erziehungswesen  sowie  bei  der  Gesundheitspflege. 
Neben  dem  chirurgischen  Eingriff  muß  eine  sorgfältige  thera- 
peutische Behandlung  einhergehen  ^). 

Dies  führt  uns  hinüber  zur  Frage  nach  der  Zweckmäßigkeit 
der  Armenpflege,  und  der  Auswahl  ihrer  Träger  hienach.  Hierbei 
muß  der  erste  Gesichtspunkt  sein,  die  Armut  am  Entstehen  zu 
verhindern,  vorzubeugen,  wie  dies  auch  in  verschiedenen  Gesetz- 
gebungen, unter  anderen  in  dem  Bayerischen  Armengesetz  von 
1868  ausgesprochen  wird,  l'^rfolge  können  hier  nur  erzielt  wer- 
den durch  das  Zusammenwirken  aller  Kräfte;  Gemeinschaft  und 
Gesellschaft,  Familie  und  Gemeinde,  Staat  und  Kirche  müssen 
sich  die  Hand  reichen.  Kirche  und  Familie  sind  geeignet,  um 
auf  die  sittlichen  Ursachen  der  Verarmung  einzuwirken.  Gemeinde 
und  Schule  sind  vornehmlich  zur  Verbreitung  nützlicher  Kennt- 
nisse geeignet,  private  Genossenschaften  und  öffentliche  Körper- 
schaften sind  auszunutzen  zur  gegenseitigen  Hilfe  und  Kredit- 
gewährung und  gemeinsamen  wirtschaftlichen  Maßnahmen.  Der 
Staat 2)    endlich    hat  es  in  der  Hand,  durch  seine  wirtschaftliche, 

1)  Röscher,  System  Bd.  5  richtet  hienach  sein  ganzes  System  ein.  Das  sitt- 
liche Motiv  allein  will  Stahl  für  den  Staat  anerkennen,  ßlunlschli-ßraters,  StWB, 
1857.  Luthard,  Armenpflege  und  Unterstützungswohnsitz  dagegen  will  nur  die  aus 
dem  Bettel  entstehende  Gefahr  für  die  öfT.  Sicherheit  und  das  öff.  Aergernis  als 
Motive  für  den  Staat  walten  lassen. 

2)  Ueber  die  einzelnen  Maßnahmen,  vor  allem  der  staatlichen  Verwaltung, 
den  Zusammenhang  der  polizeilichen  und  pflegerischen  Maßnahmen  sehr  eingehend 


—     13     — 

politische  und  soziale  Gesetzgebung  und  Verwaltung  auf  alle  äußeren 
Bedingungen  Einfluß  auszuüben,  welche  der  Verbreitung  der  Ar- 
mut nützlich  oder  hinderlich  sind. 

Ist  die  Armut  einmal  entstanden,  so  kann  es  sich  darum 
handeln,  sie  zu  beseitigen  und  vor  allem  an  weiterer  Verbreitung 
zu  hindern.  Das  erstere  geschieht  am  besten  durch  pflegerische 
Maßnahmen,  das  zweite  kann,  soweit  es  nicht  in  den  Rahmen 
der  Vorbeugung  fällt,  nur  erreicht  werden  mit  Hilfe  von  polizei- 
lichen Maßnahmen.  Auch  die  Art  der  Pflege  ist  hierbei  von 
großem  Gewicht,  insofern  als  der  unterstützte  Arme  nie  besser 
gestellt  sein  darf  als  der  grade  noch  über  Wasser  sich  haltende 
Arbeiter. 

Diese  beiden  Kategorien  sind  es :  Vorbeugung  und  Repres- 
sion, welche  letzten  Endes  für  die  Organisation  des  Armenwesens 
maßgebend  sein  müssen.  Privatrechtliche  und  öffentliche,  er- 
zwungene oder  freiwillige  Armenpflege  werden  darnach  bemessen. 
Größere  und  kleinere  Verbände,  Bürokratie  und  Selbstverwaltung 
sind  vom  Standpunkte  der  Armenpflege  aus  nach  ihrer  Eignung 
für  diese  Zwecke  zu  beurteilen. 

Betrachten  wir  die  einzelnen  Organisationen  mit  Rücksicht 
auf  ihre  Eignung  zur  eigentlichen  Armenpflege,  so  können  wir 
von  den  Gemeinschaften  und  der  P'amilie  absehen.  Denn  erstens 
ist  deren  P'ürsorge  eigentlich  gar  keine  öffentlich-rechtliche  Armen- 
unterstützung, sondern  die  Erfüllung  eines  privatrechtlichen  An- 
spruchs; was  ihre  Fähigkeit  dazu  anlangt,  so  liegt  es  auf  der 
Hand,  daß  sie  wie  die  natürlichste  so  auch  die  beste  ist,  voraus- 
gesetzt daß  und  solange  als  der  Zusammengehörigkeit  auch  der 
notwendige  Gemein-  und  F'amiliensinn  entspricht,  und  daß  die 
notwendigen  Mittel  vorhanden  sind.  Kenntnis  der  Person  und 
ihrer  Verhältnisse,  lange  Verbindung  miteinander  und  persön- 
liche Teilnahme  gewährleisten  unter  diesen  Voraussetzungen  so- 
weit irgend  möglich  eine  gute  ausreichende  individualisierende 
Pflege.  Einer  ähnlichen  Beurteilung  wird  in  vielen  Fällen  die 
herrschaftliche  Versorgung  des  Gesindes  und  der  Untergebenen 
unterliegen.  Doch  wird  der  Kreis  der  von  dieser  Unterstützung 
Betroffenen  mit  der   wachsenden  Beweglichkeit    der  Bevölkerung 


V.  Alohl,  Bd.  I.  Besonders  instruktiv  ist  die  Darlegung  der  Verwaltungstätigkeit 
im  Zusammenhang  mit  den  Verarmungsgründen,  sowie  die  Durchführung  der  Unter- 
scheidung zwischen  Einzel-  und  Massenarmut,  S.  352  ff.  Vgl.  auch  Stein,  Handbuch 
Bd.  3,  S.  45  ff.,  S.  50  ff.   »Elemente  des  Systems. < 


—      14     — 


wie  des  Hodens  und  der  Auflösun^^    alter  Verhältnisse    in  Recht 
und  Wirtschalt  immer  kleiner  und  die  Beanspruchung  öffentlicher 

Organe  größer. 

Als  solche  öffentlichen  Körperschaften  kommen  für  die  Ar- 
menpflege die  Gemeinde  und  der  Staat  in  Betracht,  daneben 
aber  noch  die  freiwillige  Liebestätigkeit  und  die  Kirche,  deren 
Beteiligung  heute,  soweit  sie  nicht  in  der  Verwaltimg  alter  Stif- 
tungen besteht,  allerdings  wesentlich  als  private  anzusprechen  ist. 
Klat-  muß  jedenfalls  daran  festgehalten  werden,  daß  dem  Staat 
ein  unbedingtes  Aufsichtsrecht  ^  über  die  Armenpflege  der  Kirche 
zukommt;  die  Kirche  erscheint  in  diesem  Zusammenhang  als 
Beauftragte  des  Staates  ebenso  wie  die  Gemeinden.  Wenn  der 
Staat  als  letzter  Bürge  der  öff"entlichen  Wohlfahrt  auftritt,  kann 
er  andere  Organisationen  nur  unter  sich  dulden,  zumal  wenn  er 
in  Gestalt  polizeilicher  Maßnahmen  seine  Autorität  als  Macht  in 
Anwendung  bringt. 

Die    Teilnahme    des    modernen  Staates  an  der  Armenpflege 
überhaupt    ist    aus    folgenden  Gründen  im  Interesse  guter  Pflege 
nötig :    Er    allein    hat    die    Macht,    armenpolizeiliche  Maßnahmen 
durchzuführen,  nachdem  er  überhaupt    alle  Polizei   sich  unmittel- 
bar unterstellt  hat;  er  allein  bietet  einen  genügend  großen  Ruck- 
halt   für    alle    andern    an  der  Armenpflege  beteiligten  Verbände, 
für  die  freiwilligen  wie    auch    für  die  Kirche ;    auch    ist    er  kratt 
seiner  inneren  Verwaltung  allein    befähigt,    die  Ueberwachung  in 
nachdrücklicher  Weise  auszuüben.    Er  allein  ist  durch  die  Große 
seines  Territoriums  imstande,  eine  möglichst   große  Freizügigkeit 
seiner    Bewohner    mit    ausreichender    Versorgung    zu    verbmden, 
durch  weithin  geltende  Verordnungen    und    gleichartig    durchge- 
führte Maßnahmen    die    Interessengegensätze    auszugleichen    und 
schließlich  der  wandernden  Armut  entgegenzutreten.     Er  hat  am 
ersten  die  Mittel,  kostspielige  Anstalten    und    Einrichtungen  ent- 
weder   selbst    zu    treffen    oder    anzuordnen    und   zu  unterstützen. 
Ueberhaupt    ist    eine    einheitliche    Leitung    und    ein    Ueberblick 
über    die    gesamten    Armenzustände  von  Staats  wegen    aus  dem 
Grunde  zu  begrüßen,    weil  er    zugleich  über  die  Mittel  zur  Vor- 
beugung verfügt,  und  so  eine  Seite  seiner  Verwaltung  durch  die 
andere  ergänzen  kann. 

Die    Teilnahme    des  Staates    an    der  Armenpflege   erschöpft 

i)T^^/i/,  Bd.   I,  S.  317  ff.     KrUs,  Englische  Armenpflege,  ferner  Luthard, 
Armenpflege  und  Unterstützungswohnsitz. 


\ 


—     15     — 

sich  in  der  Anordnung  der  Verpflichtung  und  ihrer  Durchführung 
sowie  ihrer  Beaufsichtigung,  die  eigentUche  Ausführung  muß  er 
seinen  Organen  überlassen.  Er  muß  die  Armenpflege  in  seine 
gesamte  innere  Staatsverwaltung  eingliedern.  Es  bieten  sich  als 
solche  Organe  neben  der  Kirche  nur  die  Gemeinden  dar,  welche 
auch  sonst  zu  vielen  Staatszwecken  benutzt  werden.  So  wird 
die  Armenpflege  zu  einem  der  vornehmsten  Gebiete  der  Selbst- 
verwaltung. Indem  die  Gemeinde  ihren  familienhaften,  genossen- 
schaftlichen Charakter  mehr  und  mehr  gegen  den  bürokratischen 
einbüßt,  um  ihn  schließlich  im  19.  Jahrhundert  in  Gestalt  der 
Selbstverwaltung  teilweise  wieder  zu  erhalten,  wandelt  sich  ihre 
Unterstützungspflicht  von  der  privaten  zur  öffentlichen  und 
schließlich  zum  staatlich  überwiesenen  Auftrage.  Die  Gemeinde 
verbindet  alle  Vorzüge  der  privaten  Pflege,  Kenntnis  und  per- 
sönliches Interesse,  bei  geeigneter  Organisation  mit  der  Autori- 
tät des  Staates  und  seiner  Hilfe.  In  kleinen  Gemeinden  ^)  macht 
die  Organisation  der  Pflege  keine  Schwierigkeiten,  da  einer  den 
andern  kennt,  aber  es  mangelt  vielfach  an  den  Mitteln ;  umge- 
kehrt macht  für  große  Gemeinden  im  allgemeinen  die  Aufbrin- 
gung der  Mittel  geringe  Schwierigkeiten  im  Verhältnis  zu  den 
Aufgaben,  welche  die  Einrichtung  und  Durchführung  der  Pflege 
sowohl  der  Leitung  als  auch  den  ausführenden  Organen  stellen. 
Dem  Grundsatze  der  Selbstverwaltung  ^)  entspricht  es  auch,  daß 
für  solche  Aufgaben,  zu  deren  Erfüllung  eine  einzelne  Gemeinde 
nicht  imstande  ist,  sei  es  wegen  technischer  Schwierigkeiten,  wie 
bei  allen  Anstalten,  sei  es  um  organisatorische  Lücken  auszu- 
füllen, wie  bei  der  Behandlung  der  Landarmen  nicht  der  Staat 
selbst  eintritt,  sondern,  in  Preußen  wenigstens,  seine  höheren 
Selbstverwaltungskörper,  die  Kommunalverbände,  Kreise  und  Pro- 
vinzen. Entsprechend  sind  auch  in  den  größeren  deutschen  Mit- 
telstaaten wie  Bayern  und  Sachsen  und  anderen  besondere  Land- 
armenverbände eingerichtet  auf  der  Basis  der  Selbstverwaltung. 
Schließlich  hat  auch  das  Deutsche  Reich  diese  Zwischenstufe  in 
der  Armenverwaltung  durch  seine  Gesetzgebung  anerkannt. 

Vielfach  ist  es  versucht  worden,  aus  Zweckmäßigkeitsgründen 


1)  Vgl.  hierzu  die  Verhandlungen  des  Ver.  f.  AW.,  besonders  die  Ausfüh- 
rungen Münsierbergs,   1909. 

2)  Sieitt,  Handbuch,  Bd.  3,  S.  38,  die  Organe  der  sozialen  Verwaltung  und 
die  Schriften  von  Gneist.  Wagner,  Grundlegung,  Abt.  i,  Buch  5  und  Finanzwis- 
senschaft, Bd.   I,  Buch    I. 


—     i6     — 

die  Betätigung  des  Staates  und  der  freien  und  kirchlichen  Lie- 
bestätigkeit nach  festen  Kriterien  streng  zu  sondern.  Der  Kern- 
punkt dieser  zumeist  einigermaßen  künsthchen  Unterscheidungen 
ist  immer  die  absokite  Trennung  der  vorbeugenden  und  der  pfle- 
gerischen Tätigkeit.  Diese  ist  in  der  Praxis  gar  nicht  durchzu- 
führen M;  der  Staat  selbst  hat  allerdings  in  der  Gestaltung  des 
Armenrechts,  seiner  Stellung  zu  dem  Unterstützungsanspruch  und 
seinen  Normativbestimmungen  über  die  Pflege  selbst,  sowie  end- 
lich in  seinen  polizeilichen  und  Strafverordnungen,  außerdem  in 
seiner  gesamten  volkswirtschaftlichen  Betätigung  die  vornehmsten 
Mittel  zur  Vorbeugung  in  der  Hand,  ebenso  aber  die  Kirche 
durch  ihre  sittlichen  Einwirkungen  und  die  Städte  durch  ihre 
sozialen  Einrichtungen  und  die  Schulen.  Und  auch  in  der  Re- 
pression vorhandener  Armut  müssen  staatliche  Anstalten  und 
Renten  in  Wettbewerb  mit  der  Hauspflege  und  den  Anstalten 
der  freien  und  kirchlichen  Organisationen  treten  ^). 

Ein  Hand  in  Hand  Arbeiten  aller  teilnehmenden  Kreise  ist 
bei  w'eitem  wichtiger  als  eine  reinliche  Scheidung,  welche  eben 
unmöglich  ist.  Der  Staat  tritt  mit  seinen  Organen  ein,  sobald 
privatrechtliche  Ansprüche  versagen  oder  nicht  genügen ;  doch 
läßt  er  sich  vernünftigerweise  jederzeit  gern  durch  alle  diese  an- 
deren Organisationen  unterstützen.  Nur  muß  er  sich  die  Ober- 
leitung vorbehalten,  um  eine  zu  ungleiche  Pflege  zu  verhüten, 
vor  allem  um  eine  zu  reichliche  und  planlose  Versorgung  im  In- 
teresse der  Abschreckung  zu  verhüten. 

Eine  besondere  Stellung    in  der*  ganzen  Frage    nehmen    die 

i)  Vgl.  Luthardy  Rocholl  und  Ratziiiger. 

2)  Hartnäckig  ist  der  Widerstand  der  kath.  Kirche  gegen  die  staatliche  Ar- 
menpflege. Besonders  kennzeichnend  ist  Kalzingers  Urteil  über  die  gewiß  mit 
vielen  Mängeln  behaftete  englische  Armengesetzgebung,  welches  er  allerdings  ohne 
weiteres  auf  jede  staatliche  Armenpflege  ausdehnt;  er  schreibt:  »Dieses  Urteil  von 
Chadwick  —  daß  die  englische  Armengesetzgebung  nichts  als  eine  Folge  von  Miß- 
griffen sei  —  ist  nicht  bloß  für  das  englische  Armenwesen,  sondern  für  die  staat- 
liche Armenpflege  aller  Länder  zutreffend.  Nirgends  hat  das  staatliche  Armenwesen 
seinen  Zweck  erreicht,  den  Beitel  zu  verhindern,  überall  hat  es  größere  Uebel  her- 
vorgerufeji,  als  es  verhüten  wollte,  und  hat  es  der  Verarmung  in  die  Hände  gear- 
beitet. Das  staatliche  Armenwesen  ist  überhaupt  keine  Armenpflege,  sondern  eine 
Unterstützung  sich  vordrängender  Elemente  und  wird  dadurch  erst  zur  Quelle  nie 
versiegenden  Elends.  Jede  Staatsarmenpflege  geht  davon  aus,  daß  die  Gemeinde 
jedes  ihrer  Mitglieder,  das  den  formellen  Beweis  der  Dürftigkeit  erbringen  kann, 
unterstützen  muß.«  Vgl.  Kries,  Engl.  Armenwesen.  Ueber  die  andere  Stellung  der 
Evang.  Kirche  vgl.   Uhlhoni,  Realenzykl.  d.  prot.  Theologie.     Aufsatz  Armenwesen. 


—     17     — 

Kosten  ein,  welche  die  Armenpflege  verursacht.  Volkswirtschaft- 
lich ist  hier  das  erstrebenswerte  Ziel,  den  größten  Nutzen  mit 
den  geringsten  Mitteln  zu  erzielen.  Da  ist  zunächst  klar,  daß 
strenge  Ordnung  die  Kosten  am  meisten  vermindert,  ohne  dem 
Erfolge  Eintrag  zu  tun.  Ganz  planlose  freie  Wohltätigkeit  ar- 
beitet am  teuersten.  Von  der  rein  kirchlichen  Pflege  des  Mittel- 
alters ebenso  wie  von  der  reinen  zentralisierten  Staatsarmenpflege 
Englands  wissen  wir,  daß  sie  mit  sehr  großen  Kosten  von  ihrem 
Ziele  eher  ab  als  ihm  näher  kamen.  Strenge  Organisation  ist  mit 
w^eitgehender  Dezentralisation  zu  verbinden.  Art  der  Pflege  und 
Höhe  des  Aufwands  sind  von  den  persönlichen  Verhältnissen  an 
Ort  und  Stelle  abhängig  und  können  zweckmäßig  nur  so  beur- 
teilt werden.  Auch  aus  diesem  Grunde  ist  daher  der  Gemeinde- 
pflege unter  Staatsaufsicht  der  Vorzug  zu  geben. 

Der  Aufwand  für  die  Armenpflege  ist  für  die  Gemeinde  eine 
Last,  welche  diese  von  sich  abzuschütteln  sucht.  Sie  steht  inso- 
fern der  Privatwirtschaft  wesentlich  gleich.  Die  Aufbringung  und 
Verteilung  der  Kosten  ist  bis  zum  19.  Jahrhundert  fast  das  ein- 
zige Problem  der  Gesetzgebung  gewesen.  Die  F'rage  nach  dem 
Träger  der  Kosten  hat  tief  in  die  gesamten  inneren  Rechtsver- 
hältnisse eingegriffen,  es  hat  von  jeher  die  größte  Mühe  gekostet, 
die  Interessen  der  streitenden  Gemeinden  auszugleichen.  Dem 
Verfolg  dieses  Streites  unter  den  Gemeinden  ist  auch  der  größte 
Teil  der  vorliegenden  Arbeit  gewidmet.  Eine  besondere  Armen- 
steuer ^)  hat  die  geschichtliche  Entwicklung  ebenso  beseitigt  wie 
die  Uebernahme  der  ganzen  Kosten  auf  den  Staat.  Die  erstere 
ist  aus  dem  Grunde  zu  verwerfen,  weil  sie  einen  gerichtlich  ver- 
folgbaren Unterstützungsanspruch  seitens  des  Armen  voraussetzt. 
Die  etwas  problematische  Lösung  dieser  Frage  durch  die  deutsche 
Gesetzgebung  besteht  darin,  daß  die  Verpflichtung  der  Gemein- 
den zur  Armenpflege  nur  dem  Staat  gegenüber  besteht,  nicht 
dem  Armen  selbst  gegenüber.  Die  praktische  Folge  davon  ist  die 
Verweisung  der  Verfolgung  dieses  Anspruchs  seitens  des  Armen 
auf  den  Weg  der  Beschwerde  und  der  Verwaltungsgerichtsbar- 
keit. Von  der  Umlage  der  Armenlast  auf  den  ganzen  Staat  sagt 
Schaff le"^)  mit  Recht:  »Die  Armenpflege  durch  das  Reich  oder 
die  Länder  hat  das  entscheidende  Bedenken  gegen  sich,  daß  dann 

1)  Vgl.  Bitzer,  S.    114  ff.     Ratzinger,  S.   541  ff.     Stein,  S.  98. 

2)  Schäfße,    Die  Grundsätze    der    Steuerpolitik;    Lammers,    Staatsarmenpflege, 
Beispiel  Dessaus  von   1770  an. 

Zeitschrift  für  die  ges.  Staatswissensch.     Ergänzungsheft  51.  2 


—      iS     — 

die  Gemeinden,  welchen  dann  die  Aiincnvoi  waltung  doch  über- 
lassen werden  müßte,  auf  den  Landes-  und  Reichssäckel  scho- 
nungslos loshauen  würden.  An  eine  Zentralisation  der  Armen- 
last, geschweige  der  Armenpflege  kann  daher  in  Reichshänden 
praktischerweise  nicht  gedacht  werden.« 

Nach  allem  hat  also  die  Entschließung  des  internationalen 
VVohltätigkeitskongresses  in  Frankfurt  1857  ^"*-'  Gründe  der  Zweck- 
mäßigkeit, Wirtschaftlichkeit  und  sittlichen  Verpflichtung  für  sich, 
wenn  sie  sagt:  >Die  Armen})flege  der  bürgerlichen  Gewalten,  der 
kirchlichen  Aemtcr  und  der  freien  Vereine  sind  jede  in  ihrem 
Maße  berechtigt  und  haben  organisch  zusammenzuwirken«  '). 

Zweites  Kapitel. 

Einzelpersönlichkeit  und  Gesamtpersönlichkeit. 

Im  ersten  Kapitel  wurde  die  Verpflichtung  der  Gemeinde 
zur  Armenunterstützung  begründet  und  ihre  Eignung  dazu  aus 
ihrer  Stellung  im  Staate  sowie  aus  der  Zweckmäßigkeit  der 
gemeindlichen  Armenpflege  abgeleitet.  Sobald  nun  die  Ver- 
pflichtung der  Gemeinde  theoretisch  und  rechtlich  feststeht,  wird 
die  Entscheidung  über  den  Umfang  des  ihrer  Fürsorge  zufallen- 
den Personenkreises  nötig.  Diese  Entscheidung  ist  leicht  über 
diejenigen  zu  fällen,  welche  der  Gemeinde  aus  irgend  einem 
rechtlichen  Titel  bereits  angehören;  sie  wird  zu  einem  Problem 
erst  denen  gegenüber,  welche  keiner  Gemeinde  rechtlich  ange- 
hören oder  nur  in  so  losem  Zusammenhang  mit  ihr  stehen,  daß 
daraus  bislang  keine  derartig  schwerwiegende  Verpflichtung  ab- 
zuleiten war.  Für  die  eigentlichen  Gemeindeangehörigen  war  zu- 
dem durch  die  privaten  Gemeinschaften  gesorgt,  welche  eben  die 
Verbindung  zwischen  diesen  Individuen  und  der  Gemeinde  bil- 
deten. F"ür  die  anderen  standen  nur  die  Stiftungen  zur  Verfü- 
gung, soweit  über  deren  Verwendung  nicht  auch  besonders  be- 
stimmt war,  oder  aber  es  mußten  neue  Mittel  für  diese  neue 
Aufgabe  beschafft  werden.  Eine  direkte  Zugehörigkeit  der  Per- 
sönlichkeit zur  Gemeinde  kannte  das  Mittelalter  kaum,  sondern 
nur  eine  durch  eine  Gemeinschaft  vermittelte.  Die  Gemeinschafts- 
angehörigkeit aber  beruhte  auf  Besitz  oder  Beruf.  Die  Masse 
der  besitzlosen  Ausbürger,  die  zum  Teil  noch  in  den  Vorstädten 
wohnten,  zum  Teil  in  der  Stadt  selbst    angesiedelt  waren,    hatte 

I)   U/ilhorn,  Realenzykl.,  S.    loi. 


—     19     — 

bislang  keinen  Anspruch  auf  öffentliche  Versorgung  gehabt.  Noch 
größer  war  die  Zahl  der  gar  nicht  festansässigen  Leute,  der  flüs- 
sigen Bestandteile  des  Volks,  des  fahrenden  Volks,  der  vagieren- 
den  Elemente,  um  derentwillen  die  Bestimmung  der  Gemeinde 
zur  Fürsorgepflicht  eigentlich  getroffen  war.  Denn  der  Haupt- 
bestandteil dieser  Elemente  waren  ja  die  Bettler  und  Vagabun- 
den, gegen  welche  die  Bestimmungen  der  Reichstage  sich  rich- 
teten, weil  sie  die  Durchführung  des  Landfriedens  unmöglich 
machten.  Alle  diese  wurden  aber  auch  von  den  verheerenden 
Wirkungen  der  Kriege,  Hungersnöte  und  Seuchen  am  ersten  be- 
troffen, und  durch  dieselben  Ursachen  wurde  ihre  Zahl  vermehrt 
aus  den  Reihen  aller  derer,  deren  Besitzlosigkeit  infolge  des  Auf- 
hörens normaler  Erwerbsgelegenheiten  in  Armut  überging. 

Diesen  beiden  Elementen  der  Bevölkerung  gegenüber  bildete 
sich  in  der  Folge  ein  besonderes  Recht  aus,  nach  dem  ihre  Un= 
terbringung  bemessen  wurde.  Das  treibende  Moment  war  jedoch 
nicht  sozialer  Natur,  sondern  vorwiegend  sicherheitspolizeiliche 
Gründe  waren  maßgebend.  Die  Hingehörigkeit  der  Angehörigen 
der  besitz-  und  zunftlosen  Klasse  wurde  zu  einem  Problem  der 
Gesetzgebung.  Sie  hatte  zweierlei  zu  regeln  :  einmal  die  Bezie- 
hungen der  Gemeinden  zu  diesen  ihren  »Außenseitern«;  anderer- 
seits die  Beziehungen  der  Gemeinden  dieserhalb  unter  sich.  Die 
daraus  sich  ergebenden  Streitigkeiten  gaben  bald  der  territorialen 
Regierung,  welche  sich  sonst  um  die  inneren  Angelegenheiten 
der  Städte  wenig  kümmerte,  willkommenen  Anlaß,  sich  in  deren 
Selbstverwaltung  einzumischen.  Die  neue  Verpflichtung  der  Ge- 
meinden gewann  dem  einzelnen  gegenüber  Gestalt  in  Beschrän- 
kungen seiner  Freiheit,  welche  sich  aus  der  Verpflichtung,  für 
ihn  zu  sorgen,  natürlich  ergaben ;  unter  den  Gemeinden  selbst 
wurde  sie  die  Ursache  erheblicher  Streitigkeiten,  welche  ihren 
Austrag  in  der  staatlichen  Verwaltung  fanden. 

Diese  beiden  nebeneinanderhergehenden  Rechtsbeziehungen 
der  persönlichen  Freiheitsbeschränkungen  und  der  Heimatstreite 
können  nur  gemeinsam  verfolgt  werden,  denn  die  eine  bedingt 
die  andere.  Wenn  nämlich  die  Gemeinden  unter  sich  Abma- 
chungen über  einen  besonderen  Fall  treffen  oder  von  der  staat- 
lichen Gewalt  dazu  angehalten  werden,  so  ist  doch  der  Gegen- 
stand dieser  Verhandlungen  immer  das  einzelne  Individuum  selbst, 
und  diese  Abmachungen  wirken    am    stärksten  auf  dasselbe  ein. 

Die  Freiheitsbeschränkungen,    welchen    der  einzelne  von  der 

2  * 


—       20       — 

armenrechtlichen  Fürsorge  Betroftene  unterliegt,  sind  solche  der 
Freizügigkeit  und  der  Ehefreiheit  ^).  Die  ursprüngliche  Veran- 
lassung derselben  ist  aber  nicht  das  Armenrecht,  sondern  sie  ist 
zu  suchen  in  der  gesamten  Verfassung  des  Mittelalters,  welche 
Stei)!  schlechthin  als  die  »ständische*  bezeichnet.  Es  treten  auch 
hier  wieder  dieselben  Gesellschaftskreise  in  Tätigkeit,  welche  wir 
mit  der  Unterstützung  befaßt  sahen.  Das  Armenrecht  fand  so- 
mit, indem  es  in  die  Freiheit  des  einzelnen  eingriff,  schon  ein 
ganzes  System  von  Beschränkungen  vor,  welche  es  seinerseits 
beeinflußte  und  umgestaltete.  Bevor  daher  an  die  Darstellung 
des  Armenrechts  herangetreten  werden  kann,  muß  kurz  die  Ent- 
wicklungsgeschichte dieser  Persönlichkeitsrechte  im  Mittelalter 
skizziert  werden.  Da  von  Anfang  an  diese  Rechte  vorwiegend 
von  der  Gemeinde  bestimmt  wurden,  so  fällt  in  den  Rahmen 
dieser  Skizze  das  gesamte  Recht  der  Gemeinden,  soweit  es  sich 
mit  der  Niederlassung  und  der  Angehörigkeit  befaßt.  Darauf 
muß  daher  hier  kurz  eingegangen  w'erden. 

Hierbei  treten  zwei  sich  kreuzende  Rechtsbeziehungen  in 
den  Vordergrund:  einerseits  das  Verhältnis  privaten  und  öffent- 
lichen Rechts  innerhalb  der  Selbstverwaltung ;  andererseits  das 
Verhältnis  zwischen  Staat  und  Gemeinde,  zwischen  Amts-  und 
Selbstverwaltung.  Dieses  System  von  Rechtsbeziehungen  ist 
maßgebend  für  den  Grad  der  Anerkennung  der  persönlichen 
Freiheit.  Die  Veränderungen  innerhalb  desselben,  das  Vorwiegen 
des  einen  oder  des  anderen  in  demselben  enthaltenen  Katego- 
rienpaars bedingen  die  jeweilige  Abliängigkeit  der  persönlichen 
Freiheit  von  der  Gestalt  der  Gemeindezugehörigkeit. 

Das  Ergebnis  dieser  Entwicklung  ist  einerseits  die  Aus- 
schaltung der  privatrechtlichen  Bestimmgründe  für  die  persön- 
liche Freiheit  zugunsten  der  öffentlichen,  sowie  anderseits  die 
Zurückdrängung  der  selbstverwaltenden  Einschränkungen  durch 
die  staatlichen  und  endlich  deren  Selbstaufhebung. 

Die  Familiengemeinschaft,  welche  im  Anfang  als  Vermitt- 
lerin zwischen  Staat  und  Individuum  allein  über  die  Freiheit  des- 
selben bestimmte,  wurde  infolge  der  oben  geschilderten  Entwick- 
lung durch  die  auf  genossenschaftlichen    Beziehungen  beruhende 

l)  Vgl.  hierzu  und  zu  dem  Folgenden :  Steins  innere  Verwaltungslehre,  Bd.  2, 
Verw.  d.  Pers.  Lebens,  hier  vom  Standp.  d.  Bevölkerungswesens  aus  ;  Wagner, 
Grundlegung,  2.  Teil,  Pers.  Freiheit  in  volksw.  Betrachtung  vom  rein  ökon.  Stand- 
punkt;  ßitzer,  Recht  a.   Armenunterst.,  S.  72 — 179. 


—       21        — 

Gemeinde  abgelöst.  Indem  diese  sich  aus  einem  privaten  ge- 
meinschaftlichen Kreise  zu  einem  öffentlichen  gesellschaftlichen 
entwickelte,  gewannen  auch  öffentliche  Bedingungen  für  die  Frei- 
heit ihrer  Angehörigen  Einfluß,  wenngleich  innerhalb  derselben 
privatrechtliche  Bedingungen  bestehen  blieben,  solange  die  in  ihr 
enthaltenen  genossenschaftlichen  Kreise  öffentliche  Anerkennung 
behielten.  Mit  der  Auflösung  dieser  Kreise  vornehmlich  durch 
die  Gewerbefreiheit  hörte  auch  die  Existenz  privatrechtlicher  Be- 
schränkungen auf. 

Die  Gemeinde  wiederum,  welche  im  Mittelalter,  dem  golde- 
nen Zeitalter  der  »ständischen  Selbstverwaltung«,  souverän  über 
Form  und  Inhalt  ihrer  Angehörigkeit  bestimmt  hatte,  ward  mit 
der  Entstehung  der  Territorialstaaten  unselbständiger.  Die  Ar- 
menbestimmungen der  Reichstage  sind  das  erste  Anzeichen  die- 
ser äußeren  Eingriffe  von  dritter  Seite.  Im  Laufe  des  17.  und 
18.  Jahrhunderts  verstärkt  sich  der  Einfluß  der  staatlichen  amt- 
Hchen  Gewalt  immer  mehr.  Parallel  mit  dem  Vordringen  der 
staatlichen  Gewalt,  welche  der  Kirchtumspolitik  der  Gemeinden 
das  umfassende  Staatsinteresse  entgegensetzte  und  dadurch  be- 
freiend wirkte,  ging  eine  ganz  neue  Entwicklung,  welche  den 
mit  der  territorialen  Ausweitung  entstehenden  Verwaltungsge- 
sichtspunkten entsprang  (vornehmlich  also  der  Sorge  für  die 
Sicherheit  und  den  Reichtum  des  Landes)  und  welche  Entwick- 
lung das  Uebergewicht  des  Staates  den  Gemeinden  gegenüber 
nur  noch  verstärkte.  Es  wird  weiter  unten  davon  noch  die  Rede 
sein.  Stellen  wir  vorher  das  Recht  der  Persönlichkeit  selbst  erst 
einmal  in  den  Vordergrund. 

Das  Recht  der  Persönlichkeit  im  modernen  Staat  ist  abzu- 
leiten aus  dem  sittlichen  Inhalt  ihres  Wesens  sowie  aus  dem 
Zweck  und  den  Folgen  ihres  Handelns.  Dasein  und  Wesen  der 
Persönlichkeit  begründet  die  Rechte,  ihr  Wollen  und  Handeln 
die  Pflichten  derselben.  Diese  beiden  Kategorien  allein  können 
maßgebend  sein  für  die  Stellung  des  Individuums  in  der  Gesell- 
schaft, das  heißt  für  den  Grad  ihrer  Freiheit.  Das  Grundprinzip 
der  Persönlichkeit  ist  ihre  Bestimmung,  sich  selbst  auszubilden 
und  in  der  Gemeinschaft  zu  wirken.  Ein  System  also  von  Pflich- 
ten gegen  sich  selbst  und  gegen  die  Gemeinschaft.  Ihre  Rechte 
sind  zunächst  zu  würdigen  als  die  Bedingungen  und  Folgen  ihrer 
Pflichten.  Die  Persönlichkeit  der  Gemeinschaft  hat  somit  in  wei- 
tem Umfange  über  die  Einzelpersönlichkeit  zu  bestimmen,    d.   h. 


den  Grad  ihrer  Freiheit  festzule^^cn.  l'ersönlichkeit  und  Gemein- 
schaft bedingen  und  ergänzen  sich  gegenseitig,  sie  haben  daher 
einander  zu  dienen  und  sich  Zugeständnisse  zu  machen. 

In  bezug  auf  die  PersönHchkeit  ist  nun  der  gesellschaftliche 
Staat  aufzufassen  als  Gemeinschaft,  aufgebaut  auf  dem  Grund- 
satze der  Gleichheit^).  Diese  Gleichheit  erfährt  aber  sogleich  er- 
hebliche Einschränkungen  durch  die  Individualität,  d.  h.  das  be- 
sondere Wesen  der  Kinzelpersönlichkeit,  welche  eben  eine  allge- 
meine gleiche  Behandlung  der  einzelnen  nicht  zuläßt.  Dies  We- 
sen besteht  in  der  Verschiedenheit  des  sittlichen  Wollens,  des 
wirtschaftlichen  Könnens  und  der  intellektuellen  Einsicht. 

Auf  diesen  drei  Kategorien  darf  allein  jede  Ungleichheit  be- 
ruhen. Entwicklung  und  Zustand  des  öffentlichen  Rechts  der 
Persönlichkeit  sind  allein  danach  zu  beurteilen,  wieweit  sie  auf 
diesen  inneren  Verschiedenheiten  beruhen.  In  keinem  solchen 
Zustande  der  gesellschaftlichen  Ordnung  entsprechen  sich  Wesen 
und  Recht  der  Persönlichkeit  ganz,  in  welchem  für  das  ökono- 
mische Können  der  Begriff  des  Besitzes  eingesetzt  wird  und  das 
Wesen  der  Persönlichkeit  nur  als  Angehörigkeit  zu  einem  Stande 
oder  einer  Klasse  gewürdigt  wurde.  Im  deutschen  Mittelalter 
war  das  Mittel  dieser  Begriffskorruption  die  rechtliche,  in  der 
> staatsbürgerlichen <^  Epoche  des  19.  Jahrhunderts  ist  es  die  öko- 
nomische Bindung. 

Das  System  der  ursprünglich  im  Wesen  der  Persönlichkeit 
liegenden  Freiheitsrechte  ist  aus  jenen  Kategorien  der  Persön- 
lichkeitswerte abzuleiten.  Das  sittliche  Element  erfordert  die 
freie  Auswirkung  der  natürlichen  Bestimmung  des  Menschen,  also 
die  Bestimmung  über  den  P'amilienstand.  Das  technisch-ökono- 
mische Element  findet  seine  Auswirkung  in  der  freien  Bewegung 

—  worin  es    übrigens    auch    noch  mit  dem  sittlichen  konkurriert 

—  und  in  der  freien  Berufswahl.  Das  intellektuelle  Eleinent  be- 
dingt die  freie  Meinungsäußerung  und  Wahl  der  Religionsge- 
meinschaft. 

Auf  diesen  drei  Gebieten  hat  die  Auseinandersetzung  des 
privaten  und  öffentlichen  Rechts  vor  sich  zu  gehen;  denn  indem 
der  einzelne  diese  Rechte  ausübt,  verändert  er  nicht  nur  seinen 
persönlichen,  sondern  auch  den  Zustand  seiner  Gemeinschaft. 
Diese  ist  daher  ebenso  stark  an  der  Regelung  dieser  Rechte  in- 
teressiert wie  jener  selbst  an  ihrer  Freiheit.     Wir   folgen  bei  der 

l)  Vgl.  oben  S.  2  fT.  und  Stein,  Handbuch,  Bd.  3,  S.  4  ff. 


—     23     — 

kurzen  Aufzählung  der  historischen  Beschränkungen  wieder  der 
Suirischen  Einteihing  der  Gesellschaftskreise.  Wir  betrachten 
bei  dieser  gedrängten  Uebersicht  Eherecht  und  Freizügigkeit  ge- 
sondert, um  das  System  dieser  beiden  Rechtsgebiete  klar  her- 
vortreten zu  lassen.  Später,  bei  der  historischen  Behandlung  kann 
dies  nicht  durchgeführt  werden  ohne  zahlreiche  Wiederholungen, 
da  die   beiden  Rechte  sich  vielfach  kreuzen. 

Die  Eheschließung  verändert  den  privatrechtlichen  Stand 
innerhalb  der  Familiengemeinschaft.  Diese  nimmt  ihr  Interesse 
wahr  durch  das  ursprünglich  unbedingte,  später  immer  mehr  ab- 
geschwächte Zustimmungsrecht  des  Familienhaupts,  sowie  in  dem 
frühmittelalterlichen  Hagestolzenrecht,  welches  man,  soviel  davon 
bekannt  ist,  auch  unter  das  öffentliche  Recht  einreihen  könnte. 
Dies  kehrt  auch  in  der  Zunftverfassung  und  in  dem  Besetzungs- 
recht der  Städteämter  häufig  wieder. 

Die  Genossenschaft  wird  ebenfalls  auf  das  innigste  von  jeder 
Veränderung  des  Familienstandes  berührt,  Vermehrung  der  bür- 
gerlichen Nahrungen  in  den  Städten  und  der  Anteilseigner  an 
der  Gemeindefiur  auf  dem  Lande,  die  mit  der  Heirat  verbundene 
Niederlassung  sowie  erhöhte  Konkurrenz  führen  grade  von  die- 
ser Seite  zu  den  drückendsten  Beschränkungen  und  völligen  Ver- 
boten. 

Das  Verhältnis  der  Untertänigkeit  greift  ebenfalls  tief  in  die 
Eheschließungsfreiheit  ein.  Die  Herrschaft  kann  durch  Heirat 
einen  Untertanen  verlieren  oder  gewinnen.  Ebenso  beansprucht 
der  Lehnsherr  ein  Aufsichtsrecht  über  den  Familienstand  seiner 
Vasallen.  Die  Bindung  an  die  Scholle  und  die  Forderung  des 
Gesindedienstes  erhöhen  dies  Herreninteresse  noch. 

Privatrechtlich  ist  endlich  auch  noch  in  seinen  Anfängen  das 
Staatsdienereherecht  zu  beurteilen.  Doch  nimmt  dies  vermöge 
der  Stellung  der  Beamten  selbst  schon  frühe  öffentlichen  Cha- 
rakter an.  Diese  Beschränkungen  haben  sich  am  längsten  ge- 
halten und  werden  dies  ihrem  Wesen  nach  auch  noch  lange 
tun.  Es  liegt  im  Wesen  des  öffentlichrechtlichen  Staatsdiener- 
vertrages, daß  der  Staat  auch  an  den  an  sich  privaten  Ehever- 
hältnissen seiner  Beamten  ein  materielles  Interesse  nimmt.  Dem 
Konsens  der  Obrigkeit  oder  der  vorgesetzten  Behörde  entspricht 
in  seinen  Grundbedingungen  das  unbedingte  Eheverbot  der  ka- 
tholischen Kirche  für  ihre  Geistlichen,  das  Zölibat. 

Die    öffentliche  Gewalt    des  Staates    greift   sodann  auch  un- 


—      24      — 

mittelbar  in  das  Eherecht  der  Staatsbürger  ein.  Er  muß  im  In- 
teresse der  öffentUchen  Ordnung  die  I'^amilienverbindung  als  nor- 
male und  gesetzliche  Form  des  geschlechtlichen  Zusammenlebens 
und  der  Kindererzeue^ung  und  als  normalen  Rahmen  der  Kinder- 
erziehung aufrecht  erhalten.  Der  christlich-germanische  und  ro- 
manische Staat  betrachtet  die  Familie  als  Grundlage  des  gesam- 
ten sozialen  und  vStaatslebens.  Infolgedessen  stellt  der  Staat  ge- 
wisse Normen  und  Vorbedingungen  für  die  Eingehung  der  Ehe 
auf  und  zwar  sowohl  solche  materieller  Art:  Mindestalter;  als 
formelle  Vorschriften;  Aufgebot  usw.  Hierbei  ist  der  Staat  zum 
■großen  Teil  Rechts-  und  Pflichtennachfolger  der  Kirche,  welche 
das  Flheleben  auch  mit  seinen  bürgerlich-rechtlichen  Voraus- 
setzungen und  Folgen  ursprünglich  mit  Erfolg  als  ihr  zuständig 
betrachtet  hatte.  Dahin  gehören  auch  die  Vorschriften  über 
Mischehen  und  Ehen  zwischen  Verwandten  gewisser  Grade.  Das 
von  philosophischen,  nationalen  und  hygienischen  Gesichtspunkten 
aus  häufig  geforderte  zwangsweise  Eingreifen  des  Staates  in  die 
materielle  Eheschließungsfreiheit  zum  Zweck  der  Aufrechterhal- 
tung der  Rassenreinheit  und  Volksgesundheit  hat  nur  sehr  ver- 
einzelt Anerkennung  und  Durchsetzung  im  wirklichen  Recht  ge- 
funden, wenigstens  nicht  in  den  Ländern  der  west-  und  mittel- 
europäischen Kultur.  (Tastenden  Versuchen  begegnen  wir  ge- 
genwärtig in  einigen  nordamerikanischen  Staaten  ^).)  Der  Staat 
ist  ferner  interessiert  an  der  Zahl  der  Bevölkerung,  welche  durch 
die  der  Ehen  bedingt  wird.  Der  Polizeistaat  2)  des  i8.  Jahrhun- 
derts hat  ohne  Erfolg  versucht,  durch  Ehebeförderungen  auf  die 
Volkszahl  Einfluß  zu  gewinnen.  Seitdem  MaltJius  nachgewiesen 
hat,  daß  die  Gesetze  der  Bevölkerungsbewegung  unabhängig  von 
jedem  staatlichen  Eingriff  seien,  hörte  bald  dies  Bestreben  des 
Staates  auf. 

Auch  die  Kirche  hatte  grade  auf  diesem  halb  sittlichen,  halb 
wirtschaftlichen  Gebiet  den  größten  Ansporn,  regulierend  einzu- 
greifen. Sie  verbot  religiöse  Mischehen  und  Verwandtenehen 
und  stellte  die  Forderung  des  Zölibats  auf.  Auf  sie  ist  endlich 
noch  die  Listenführung  über  den  Ehestand  zurückzuführen,  wel- 
che später  den  öffentlichen  Interessen  dienstbar  gemacht  wurden 
und  schließlich  auf  den  Staat  übergingen.     Diese    sind   auch  die 

1)  Aristoteles  hatte  in  seiner  »Politeiac  hohes  Heiratsalter  für  beide  Ge- 
schlechter gefordert  zur  Hebung  der  Rasse.     Vgl.  Mohl,  Bd.    I. 

2)  Stein,  Verwaltungslehre,  Bd.   2,  S.  114  fT.  und  244  ff. 


—      25      — 

Vorläufer  der  Heimatlisten,  welche  in  England  vorwiegend  der 
Armenverwaltung  dienten. 

Die  schärfsten  und  nachhaltigsten  Eheverbote  gingen  von 
den  Gemeinden  aus,  welche  Besitzlosen  überhaupt  die  T^heschlie- 
ßung  verbieten  wollten  und  dies  zeitweise  auch  taten.  Der  Grund 
war  ihre  Verpflichtung  zur  Armenfürsorge.  Es  sollte  die  Ent- 
stehung von  Verhältnissen  von  vornherein  verhütet  werden,  welche 
eine  spätere  Verarmung  der  Beteiligten  auch  nur  entfernt  befürch- 
ten ließen.  Diese  Seite  des  Problems  wird  uns  später  noch  be- 
sonders beschäftigen. 

Wir  wenden  uns  jetzt  zu  einer  ebenso  kurzen  Uebersicht  des 
Zugrechts. 

Das  Interesse  der  gemeinschaftlichen  Kreise,  Familie,  Ge- 
nossenschaften und  Herrschaft  liegt  auf  der  Hand.  Nur  daß 
hierbei  die  ländlichen  Verhältnisse  mehr  in  den  Vordergrund 
treten  :  in  den  freien  Gemeinden  durch  die  strenge  Ordnung  des 
Flurzwanges  und  den  Anteil  an  der  Allmende  ;  in  den  herrschaft- 
lichen Dörfern  durch  die  Bindung  an  die  Scholle  und  die  Grund- 
hörigkeit. Somit  hatten  die  ländlichen  Gemeinschaften  ein  In- 
teresse daran,  ihre  Angehörigen  festzuhalten,  die  städtischen  zur 
Zeit  ihrer  Blüte  und  später  daran,  umgekehrt  alle  Fremden  fern- 
zuhalten, als  welche  sie  den  ohnehin  engen  Nahrungsspielraum 
noch  mehr  beschränkten. 

Die  Folgen  der  Bewegung  von  Teilen  der  Bevölkerung  sind 
ökonomische,  soziale  und  rechtliche,  und  hiernach  muß  sich  das 
Verhalten  der  betroffenen  Gemeinschaften  ebenfalls  einstellen. 
Wir  unterscheiden  eine  vorübergehende  und  eine  dauernde  Nie- 
derlassung als  unmittelbare  Ergebnisse  der  Wanderungen  je  nach 
ihrem  Charakter.  Das  Wanderungsrecht  beruht,  wie  oben  dar- 
gelegt, auf  der  Selbstbestimmung  und  hat  zum  Zweck  die  freie 
Betätigung  der  Persönlichkeit  nach  Art  und  Beruf. 

Die  Gründe  der  reinen  Wanderung  ohne  die  Absicht  dauern- 
den Aufenthalts  sind  teils  wirtschaftlicher  Natur,  wie  die  durch 
die  Zunftordnungen  vorgeschriebenen  Gesellenwanderungen,  teils 
allgemeiner  Natur,  eigentliche  Reisen  wie  die  der  fahrenden 
Schüler  im  Mittelalter,  oder  wie  die  Reisen  zur  Belehrung  und 
zum  Vergnügen  der  jüngeren  Söhne  aus  den  oberen  Klassen  im 
i8.  Jahrhundert.  Darüber  hinaus  waren  immer  Angehörige  ein- 
zelner Stände  unterwegs  zu  den  verschiedensten  Zwecken.  Das 
Interesse    der    öffentlichen    Gewalten    hieran    war    zunächst     das 


—       26       — 

an  der  Ordnung  überhaupt ;  diese  fremden  Elemente  hatten  sich 
in  die  Ordnung  der  Gemeinschaft,  in  der  sie  sich  gerade  auf- 
hielten, zu  fügen.  Es  lag  sodann  in  diesem  fluktuierenden  Ele- 
ment eine  Gefahr  für  die  öffentliche  Sicherheit,  welcher  es  durch 
Aufsicht  und  Erforschung  der  Reiseabsicht  vorzubeugen  galt. 
Eigentliche  Reiseverbote  finden  wir  für  den  freien  Teil  der  Be- 
völkerung kaum,  wohl  aber  ein  genaues  Aufsichtsrecht  in  Be- 
zug auf  Stand,  Absicht,  Herkunft,  Ziel,  Leumund,  und  u.  a.  Ge- 
sundheitszustand. Das  eigentliche  fahrende  Volk  ohne  festen  Be- 
ruf war  jederzeit  den  willkürlichen  Maßnahmen  der  jeweiligen 
Obrigkeit  ausgesetzt.  Das  Mittel  der  Verwaltung,  diese  Auf- 
sicht durchzuführen,  war  seit  dem  17.  Jahrhundert  ein  System 
von  Paßkarten  und  Meldungen,  späterhin  erleichtert  und  verein- 
facht zu  Aufenthaltskarten,  Legitimationskarten,  Gesindemeldungen, 
Wanderbüchern,  Gewerbspässen  und  schließlich  der  einfachen 
Meldung')  2). 

Die  dauernde  Wohnsitzveränderung  hingegen  hatte  ganz  an- 
dere tiefgreifende  Folgen  für  die  bisherige  wie  für  die  neue  Ge- 
meinschaft, sie  unterlag  daher  auch  festen  durchgreifenden  Be- 
schränkungen. Hier  ist  zu  unterscheiden  zwischen  Wanderung 
innerhalb  des  Staatsgebietes  und  der  Aus-  bez.  Einwanderung. 
Diese  letztere  wurde  mit  der  Vergrößerung  der  Territorien  er- 
schwert, zum  Teil  beeinflußt  von  den  Religionsstreitigkeiten, 
welche  aber  gerade  schließlich  der  Anlaß  zu  einer  freieren  Aus- 
gestaltung der  interterritorialen  W^anderungen  wurde.  Die  strenge 
Durchführung  des  Grundsatzes  .•  cujus  regio,  ejus  religio  war  auf 
anderem  Wege  gar  nicht  zu  erreichen.  Ebenso  sehr  wie  der 
Polizeistaat  bemüht  war,  die  inländische  Wanderung  zu  hindern, 
beförderte  er  unter  dem  Einfluß  des  Merkantilismus  die  Einwan- 
derung, aber  darüber  hinaus  nahm  noch  Friedrich  der  Große  um- 
fangreiche »Translozierungen«  zugunsten  seiner  neu  eroberten  Ge- 
biete vor. 

Den  größten  Einfluß  öffentlich-rechtlicher  Art  auf  die  Wan- 
derungsfreiheit hatte  hier  wie  bei  dem  Eherecht  die  Gemeinde, 
welche  sich  teils  im  Interesse  der  einheimischen  Zünfte,  teils  im 
eigenen,  um  die  Armenlast  nicht  zu  vergrößern,  gezwungen  sah, 
die  Niederlassung  zu  verhindern. 


i)  Stein,   Innere  Verw.,  S.  252  und  268  ff. 

2)    >Passagium  innoxiumc  wird  von  den  Juristen    im    18.  Jh.  schon  vertreten. 
Mohl,  Bd.  3,  S.   105. 


Bei  dem  Eherecht  wie  bei  dem  Niederlassungsrecht  schalte- 
ten die  Städte  ursprünglich  ganz  nach  eigener  Willkür,  bis  der 
Staat  im  Interesse  der  ganzen  Volkswirtschaft  auch  hier  regelnd 
eingriff,  und  die  Entscheidung  über  diese  Verbote  seinen  »Aem- 
tern«  vorbehielt,  um  die  kleinlichen  Rücksichten  vieler  Gemein- 
den zu  bekämpfen  ^). 

Drittes  Kapitel. 

Gemeindeangehörigkeit  nach  Deutschem  und 
Gemeinem  Recht  2). 

Von  einer  Staats-  wie  Gemeindeangehörigkeit  kann  erst  im 
Zustande  der  Seßhaftigkeit  die  Rede  sein,  weil  zu  diesen  Be- 
griffen die  Beziehung  auf  ein  bestimmtes  Gebiet  gehört. 

Zu  Cäsars  Zeit  hatten  die  germanischen  Stämme  bereits  den 
Zustand  der  Seßhaftigkeit  erworben  (aber  bis  etwa  100  n.  Chr. 
wechselten  die  Hundertschaften  innerhalb  desselben  ihre  Sitze  und 
erst  gegen  300  wurden  die  Sippen  ganz  seßhaft).  Von  dieser  Zeit 
an  kann  erst  von  einer  Gemeindeangehörigkeit  gesprochen  werden. 
Bis  in  das  5.  Jahrhundert  hinein  deckte  sich  die  Familiengemein- 
schaft völlig  mit  der  Markgenossenschaft.  Erst  jetzt  beginnen 
sich  die  zu  groß  gewordenen  Geschlechterverbände  aufzulösen 
und  eigentlichen  dörflichen  Realgemeinden  Platz  zu  machen.  Die 
Zugehörigkeit  zu  dieser  bemaß  sich  fast  ausschließlich  nach  dem 
Anteil  an  dem  genossenschaftlich  bewirtschafteten  Grund  und 
Boden.  Dies  bleibt  so  unter  den  Merovingern  und  Karolingern, 
nur  daß  diese  den  Gemeinden  ihren  öffentUchen  Charakter  in 
Bezug  auf  die  Gerichtsbarkeit  nehmen  und  sie  einer  zentralisti- 
schen  Tendenz  folgend  in  dieser  Hinsicht  größeren  »bürokra- 
tischen« Verbänden^),  den  Grafschaften  unterordnen.    Die  Zu- 

i)  Zu  diesem  ganzen  theoretischen  Abschnitt  vgl.  außer  den  oben  angeführten 
noch  Mohh  Polizeiwissenschaft,  Bd.  i,  S.  8.  JMohh  Standpunkt  ebenso  wie  Steins 
ist  auf  der  völligen  Freiheit  des  Individuums  begründet.  Die  besondere  Persön- 
lichkeit des  Staats  erkennt  Mohl  kaum  an.  Nur  außerhalb  der  Grenzen  der  Ver- 
nunft und  des  Rechts  darf  das  Individuum  sich  nicht  bewegen.  Auch  Bitzer,  S.  75, 
billigt  dem  Staat  als  solchen  kein  Recht  gegenüber  der  Persönlichkeit  zu,  sondern 
nur  gegen  Gemeinde  und  Familie,  welch  letztere  Mohl  scheinbar  auch  ganz  selb- 
ständig zum  Staat  stellen  will. 

2)  Lamprecht,  Deutsche  Geschichte,  Bd.  i.  Rehm,  Erwerb  der  Staatsangehörig- 
keit in  den  Annalen. 

3)  Rehm  erwähnt  hierbei  die  Dorfgemeinden  gar  nicht,  welche  doch  daneben 
bestehen   blieben  und  ihre   Angehörigkeit  wie  früher  bemaßen. 


—       28       — 

gehörigkeit  zu  diesen  bemißt  sich  nach  der  Tatsache  des  »ma- 
nere,  commoratum  esse«,  was  wohl  mit  »Wohnunj^  haben ^,  nicht 
mit  eigner  Ansässigkeit  übersetzt  werden  muß.  Auch  die  Rechts- 
regeln der  Rechtslnicher  beziehen  sich  nur  auf  die  Gerichtsspren- 
gel, zu  denen  alle  Einwohner  gehören  mußten,  um  überhaupt  die 
gerichtliche^)  Zuständigkeit  zu  finden.  Der  Sachsenspiegel  hat 
für  den  Ausdruck  »manere«  des  Ripuarischen  Rechts  das  Wort 
»Wonunge«,  daneben  kennt  er  aber  auch  schon  die  >herberge«, 
den  nicht  dauernden  Aufenthalt  und  die  eigentliche  Ansässigkeit, 
»gut  binnen  haben«.  Die  Gemeindeangehörigkeit  selbst  wurde 
dadurch  nicht  berührt. 

In  ein  zweites  Stadium  treten  wir  erst  ein  mit  der  Ausbil- 
dung des  Städtewesens  -).  Diese  neuen  Gemeinden  unterschieden 
sich  zuerst  weder  in  ihrem  Verhältnis  zu  der  Obrigkeit  noch  in 
den  Regeln  für  ihre  Angehörigkeit  von  den  alten  Landgemein- 
den. Auch  sie  waren  abhängig.  Nach  und  nach  erwarben  sie 
erst  besondere  Rechte.  Die  Angehörigkeit  wurde  begründet 
durch  die  gemeinschaftliche  Ansässigkeit.  Mit  der  Verleihung 
der  Immunitäten  an  die  sich  bildenden  Grundherrschaften  ent- 
stand erst  ein  Unterschied  zwischen  den  „cives,  incolae«^  in  den 
»gemeinen  der  bürgere«  den  »communitates«.  Diese  traten  den 
»subditi^  in  den  Territorien  gegenüber.  Dadurch  zugleich  wird 
auch  die  Absonderung  der  alten  städtischen  Markgenossen  gegen 
die  neuen  Zuzügler  begründet.  Die  »incolae-^  hatten  minderes 
Recht  als  die  »cives^.  Aber  die  Städte  hatten  zunächst  gar  kein 
Interesse  daran,  sich  abzusondern,  ihre  wirtschaftlichen  und  poli- 
tischen Ziele  drängten  auf  eine  freundliche  Aufnahme  aller  Be- 
gehrenden. Der  Zuzug  war  infolge  der  sich  verschlechternden 
Lage  der  ländlichen  Bevölkerung  sehr  stark.  Die  Zahl  der  Pfahl- 
bürger war  eine  große.  Diese  waren  die  eigentlichen  ^incolae«- 
Daneben  spielte  das  Institut    der  »Ausbürger«    eine  große  Rolle, 

1)  Buch  3,  Art.  8l.  Das  »sitzen  im  Gericlitc  bemaß  sich  darnach,  >war  he 
wonunge  oder  gut  binnen  hat«,  ebenso  Buch  3,  Art.  25.  Buch  2,  Art.  71  >und 
alle,  die  darinnen  wonunge  oder  herberge  haben,  ne  sollen  schwerd  tragen. c  Cod. 
Dipl.  Brandenb.  2,   i,  S.  49  bezeichnet  »homines  comitatus«  als  »manentes<. 

2)  Bitzer,  S.  171  und  andere  sieht  die  Grundlage  der  Deutschen  Städte  in 
dem  freien  Zug  und  dem  Frieden  in  den  Mauern.  Daneben  spielt  vor  allem  der 
Staatsfriede  eine  große  Rolle.  Die  Aufnahme  von  Pfahlbürgern  wurde  seit  iioo 
als  Privileg  anerkannt,  noch  Prag  II 50,  Eisenach  1283;  aber  von  den  Grund-  und 
Territorialherrn  und  schließlich  auch  dem  Reiche  bald  bekämpft.  Vgl.  Rehm,  Art. 
Freizügigkeit  HWSt.     Sugenheim    in  den  Abschn.  über  Deutschland  u.  Frankreich. 


—      29      — 

welche  auf  dem  Lande  sitzen  blieben,  aber  durch  dieses  rein 
rechtliche  Verhältnis  zur  Stadt  ihre  Lage  zu  verbessern  suchten. 
Doch  auch  Freie,  ja  Edle  sahen  ihren  Vorteil  in  der  Uebersied- 
lung  oder  doch  der  Verleihung  des  Bürgerrechts.  Dies  wirkte 
auf  das  Städterecht  dahin  zurück,  daß  die  Begründung  des  Bür- 
gerrechts eine  andere  wurde  :  an  die  Stelle  von  Wohnsitz  und 
Ansässigkeit  traten  Geburt  und  Aufnahme. 

Anders  gestaltete  sich  die  rechtliche  Lage  auf  dem  Lande. 
Die  alte  Markgenossenschaft  bestand  zwar  noch,  aber  sie  hatte 
tiefgreifende  Veränderungen  durchgemacht.  Sie  war  keine  freie 
Höfergenossenschaft  mehr,  sondern  in  den  meisten  Gegenden  in 
Abhängigkeit  von  den  Grundherren  geraten,  und  während  die 
Städte  sich  davon  befreiten,  sanken  die  Dorfgemeinden  nur  im- 
mer tiefer.  Trotzdem  blieb  die  Dorfgemeinde  aber  meistens  Ge- 
nossenschaft mit  eigenem  Höferrecht  und  hatte  über  ihre  Ange- 
hörigkeit wohl  nach  denselben  Grundsätzen  zu  bestimmen  wie 
früher,  nur  daß  dem  Grundherren  ein  gewisser  Einfluß  auch  in 
dieser  Beziehung  zustand.  Die  Grundherren  suchten  jedenfalls 
dem  Entweichen  ihrer  Untertanen  durch  Beschränkungen  der 
Freizügigkeit  ebenso  wie  durch  Verbesserung  ihrer  Lage  zu 
steuern.  So  finden  sich  denn  die  ersten  und  nachhaltigsten  Zug- 
beschränkungen auf  dem  Lande,  im  Zusammenhang  mit  der 
Schollenbindung.  Strenge  Abzugsverbote  schließlich  seitens  des 
Reichs^),  1220  und  1232  hatten  aber  gegenüber  den  Verlockungen 
der  städtischen  und  kolonisatorischen  Werbungen  wenig  Erfolg. 
Der  innige  Zusammenhang  von  Zug-  und  Eherecht  tritt  in  dieser 
Zeit  besonders  deutlich  hervor  :  dem  Grundherrn  unterstand  der 
Hintersasse  auch  in  bezug  auf  seine  Verheiratung  '^) ;  konnte  der 
Herr  doch  durch  die  Verheiratung  einen  Untertanen  gewinnen 
oder  verlieren.  Das  Bestreben,  nur  Heiraten  von  unfreien  Leuten 
desselben  Herren  zuzulassen,  ging  bald  in  das  andere  über,  Ver- 
träge mit  Nachbarn  abzuschließen,  wodurch  im  Wege  der  Gegen- 
seitigkeit den  Leuten  das  »Unterzugsrecht«  gewährt  werden 
konnte,  ohne  den  Herrn  zu  schädigen.  Dieses  Unterzugsrecht 
wurde  im  Einklang  mit  der  gesamten  Gerichtsverfassung  dann 
auf  große  Gebiete  erstreckt.  Aber  das  Ehebewilligungsrecht 
selbst  ward    hierdurch    nicht    berührt.      Diese    Freiheitsbeschrän- 


i)  HeAm,   HWSt. 

2)  Hierüber  genauer  Laviprecht,  DWG.,  S.   1203  ff.  und  Sugoiheim. 


—     30     — 

kungen  sind  ihrer  ursprünglichen  Entstehung  nach  immer  noch 
als  privatrechtliche  anzusehen. 

Die  dritte  Periode  in  der  Geschichte  der  Gemcindezugehörig- 
keit  wird  durch  das  Eindringen  des  römischen  Rechts  eingeleitet. 
Dies  erstreckte  seinen  Einfluß  bald  von  dem  eigentlichen  Prozeß- 
recht auch  auf  die  anderen  Gebiete  des  öffentlichen  Kechts.  Im 
Gemeinderecht  drang  es  fast  völlig  durch.  Die  Tatsache  der  An- 
sässigkeit ward  nun  mehr  und  mehr  beseitigt  aus  den  begründe- 
ten Ursachen  des  vollen  Bürgerrechts,  dafür  trat  der 
-animus  perpetuo  habitandi«  ein.  Sodann  wurde  die  Schranke 
zwischen  Bürgern  und  Beisassen  erhöht.  Der  römische  Rechts- 
grundsatz :  jCives  quidem  origo,  manumissio,  allectio  vel  adoptio, 
incolas  vero  domicilium  facit;  uxor  mariti  condicionem  sequitur' 
fand  seine  volle  Anwendung  auf  deutschem  Gebiet.  Die  Geburt 
begründete  das  Bürgerrecht  nur  indirekt  als  Ursache  des  Wohn- 
sitzes. Entsprechend  der  Verfassung  der  römischen  Munizipal- 
städte war  ein  gleichzeitiges  Bürgerrecht  in  verschiedenen  Städten 
möglich.  Die  Juristen  des  17.  Jahrhunderts  schildern  diesen  Zu- 
stand des  Rechts:  Mevius,   Gail,  LanterbacJi'^). 

In  eine  neue  Plntwicklung  trat  die  Gemeindeverfassung  mit 
dem  16.  Jahrhundert  infolge  der  Reichstagsbeschlüsse,  welche  die 
Gemeinden  zur  Armenfürsorge  verpflichteten.  Das  bisher  jeder- 
zeit leicht  zu  erwerbende  Inkolat  wurde  nun,  wo  es  der  Stadt 
Verpflichtungen  auferlegte,  ebenfalls  von  Bedingungen  abhängig. 
Zunächst  konnte  es  nur  erworben  werden  durch  die  Genehmi- 
gung der  Obrigkeit,  außerdem  war  nur  stillschweigende  Ersitzung 
möglich.  Die  Entwicklung  im  einzelnen  ist  in  den  verschiedenen 
Gebieten  ungleich.  Hier  kommt  es  nur  auf  die  Grundzüge  der 
gemeinrechtlichen  Entwicklung  an.  Das  Lübische  Recht  machte 
den  Erwerb  des  armenrechtlich  gültigen  Inkolats  von  dem  Er- 
werb des  Bürgerrechts  abhängig,  dieses  selbst  dagegen  verlor 
seine  Wirkung  ohne  tatsächlichen  Aufenthalt  in  Beziehung  auf 
die  Armenpflege.  Meviiis'^)  schreibt:  > Welcher  Mann  mit  seinem 
Weib  und  Kindern  in  die  Stadt  kömmt  oder  sich  allda  befreyet, 

1)  Rennt,  Annalen,    WinJscheid,  Pandekten. 

2)  Ad  ius  Lubecense.  lib.  i,  tit.  2,  art.  6.  Vgl.  auch  Gail,  observ.  2,  36, 
nr.  7.  »in  civitatibus  passim  incolatus  ex  consueludine  vel  statuto  post  annum 
acquiritur  et  non  patiuntur  advenae  diutius  ibi  cominorari,  si  lapso  anno  iura  civium 
redimere  nolit.«  1578.  Ebenso:  A'nipschildt,  Lauterhach  (nach  Rehni).  Es  heißt 
nun:  incolas  faciunt  naiivitas,  adoptio,  nuptiae,  domicilium  iustum,  d.  h.  qualifi- 
zierter Wohnsitz. 


—     31     — 

so  wohl  auch  ein  ledig  Gesell  oder  andere  Person,  was  Stands 
die  sein  möge,  so  Rauch  und  Feuer  halten  will,  der  oder  die 
müssen  wohl  drei  Monate  darin  wohnen,  nach  der  Zeit,  wollen 
sie  länger  wohnen,  so  sollen  sie  die  Bürgerschaft  gewinnen  ;  doch 
stehet  es  bei  dem  Rate,  ob  sie  ihm  die  Bürgerschaft  gönnen 
wollen  oder  nicht,  t  Also  hier  ist  die  Möglichkeit  der  absoluten 
Ausschließung  gegeben.  Diese  gewinnt  immer  mehr  an  Bedeu- 
tung, wie  bei  der  Betrachtung  der  einzelnen  Territorien  hervor- 
treten wird.  Diese  aufgenommenen  Beisassen  haben  ein  min- 
ders  Recht  »cives  minores«,  sind  aber  zur  Entrichtung  von 
Eintrittsgeldern  und  Bürgerschaftsbeiträgen  verpflichtet.  Das  Bei- 
sassenrecht erweitert  sich  endlich  zum  Heimatrecht.  Dafür  kann 
es  aber  ferner  nur  in  einer  Gemeinde  besessen  werden. 

»Nonnullis  in  locis  singulari  statuto  cavetur,  ut  si  quispiam 
alibi  domicilium  constituerit  et  ibidem  per  annum  et  diem  habi- 
taverit,  ipso  iure  prius  domicilium  amittat«  {Knipschildt  lib.  2 
Kap.  29  Nr.  167).  Auf  die  Landgemeinden  hatte  die  reichstäg- 
liche Armenordnung  noch  die  Folge,  daß  auch  sie  in  dieser  Be- 
ziehung wenigstens  als  öffentliche  Korporationen  anerkannt  wur- 
den. Die  Ausbildung  des  verwilligten  Wohnsitzes  als  Hauptmittel 
der  Repression  werden  wir  in  der  bayrischen  Geschichte  sehen. 
Hier  sei  nur  noch  darauf  hingewiesen,  daß  künftig  die  Festsetzung 
der  Fristen  für  die  Ersitzung  des  Inkolats  im  einzelnen  sehr  verschie- 
den normiert  wird,  im  Süden  im  allgemeinen  länger  als  im  Norden. 

In  die  letzte  Periode  der  Gemeindeentwicklung  treten  wir  ein 
mit  dem  18.  Jahrhundert.  Ursache  der  Veränderung  ist  der  Mer- 
kantilismus, welcher  im  Interesse  der  »Peuplierung«  des  Landes 
ein  tieferes  Eingreifen  in  die  Selbständigkeit  der  Städte  seitens 
der  Landesherren  notwendig  macht  ^).  Auch  entstand  im  Gegen- 
satz gegen  früher  die  Auffassung,  daß  die  Ortsangehörigkeit  die 
Staatsangehörigkeit  begründe  und  auch  aus  diesem  Titel  dem 
Landesherrn  die  Aufsicht  über  die  Aufnahme  von  Ausländern 
gebühre -j.     Die   Juristen^)    des    18.   Jahrhunderts   sprechen   dem 

i)  Als  Beispiel  sei  die  rev.  Gen.  Steuer-  u.  Konsumtions-O.  d.  M. -Branden- 
burg angeführt.  Kap.  8,  §  11.  »Um  die  Stadt  desto  eher  popiilös  zu  machen«, 
soll  das  Bürgergeld  ermäßigt  werden.     Ausführlich  auch  Stein,  VerwL.,  Bd.    2. 

2)  Entstanden  ist  die  obrigkeitliche  Niederlassungserlaubnis  aus  dem  Kgl. 
Judenregal  nach  den  Kreuzzügen,  wonach  für  die  Niederlassung  der  Juden  obrig- 
keitliche Erlaubnis  einzuholen  war.  Nächstdem  waren  nur  die  Reichsgeächteten 
und  Häretiker  von  der  Niederlassung  generell  ausgeschlossen. 

3)  Gegensatz  KnipschilJts  im   16.    und  Einininghaus,    v.   Cra/ner    im   18.  Jhd, 


—     32     — 

Landesheirn  unbedenklich  das  >regale  majus«  in  dieser  Hinsicht 
zu.  Die  Rücksichten  auf  die  öffentliche  Ordnung,'  und  das  liettel- 
uesen  nach  dem  30jährigen  Kriege  wirken  in  derselben  Richtung. 
Dann  i,'e\vinnen  die  Armengesetze  völlig  die  Oberhand. 

Betrachten  wir  so  das  Recht  des  Wohnsitzes  im  Zusammen- 
hang, so  stellt  es  sich  dar  als  der  Niederschlag  der  Beziehungen 
des  einzelnen  zur  Gesellschaft  auf  räumlicher  Grundlage  und  der 
Beziehungen  zum  Räume  selbst,  welche  sich  ursprünglich  decken 
und  deren  Deckung  späterhin  mit  der  Erweiterung  der  territoria- 
len Gesellschaftsform  mehr  oder  weniger  verloren  geht.  Die  Be- 
ziehung zum  einzelnen  Ort  ist  der  Wohnsitz,  zum  Staat  als  Land 
und  Volk  Staatszugehörigkeit.  Das  Gegenseitigkeitsverhältnis 
zwischen  Gemeinde-  und  Staatszugehörigkeit  ist  schwankend.  Ur- 
sprünglich begründete  die  erstere  die  letztere,  im  Polizeistaat 
wird  es  teilweise  umgekehrt,  wie  im  Bayrischen  Recht  des  18. 
Jahrhunderts.  Böhlau ')  leugnet  für  die  erste  Zeit  der  ostdeut- 
schen Kolonisation  jeden  Zusammenhang  zwischen  Individuum 
und  Staat  auf  räumlicher  Grundlage  ;  dieser  werde  nur  durch  die 
rein  persönliche  Lehensverfassung  begründet. 

Wichtig  ist  die  Auffassung  des  Wohnsitzes  für  die  Unter- 
scheidung des  öffentlichen  und  privaten  Rechts.  Das  deutsche 
Mittelalter  leitete  beide  aus  dem  Familienzusammenhang  ab,  ohne 
sie  irgendwie  zu  unterscheiden.  Der  Ort  der  Ansässigkeit  ist 
maßgebend  für  alle  Rechtsbeziehungen  zwischen  den  einzelnen 
unter  sich  wie  zwischen  dem  einzelnen  und  der  Gemeinschaft. 
Dieselbe  Stellung  nahm  zunächst  das  römische  Recht  auf  deut- 
schem Boden  ein,  so  lange  im  ständischen  Staat  die  privatrecht- 
lichen Beziehungen  unmittelbar  die  öffentlichen  begründeten. 
Erst  der  Polizeistaat  des  17.  und  18.  Jahrhunderts  mit  seinen  er- 
weiterten Verwaltungsaufgaben  führte  mit  Notwendigkeit  zu  einer 
besonderen  Erfassung  des  öffentlichen  Rechts  der  Person  und  der 
örtlichen  Gemeinschaft. 

In  den  Städten  des  Mittelalters  begründete  der  Aufenthalt 
»incolatus«^  den  Wohnsitz  »domicilium«  ;  dieser  war  also  nur  die 
P"olge  jenes.  Das  Domizil  wurde  in  der  Rechtssprache  selbst 
einerseits  zum  Ort,  andererseits  zum  Recht  des  Wohnsitzes,  ja 
zum  Ausdruck  für  das    darin    liegende  Statusrecht    der  Person-). 

1)  Die  Wandlungen  des  Heimatrechts  in  Mecklenburg.  Uildebr.  Jb.,  Bd.  iq, 
S.  321. 

2)  V.  Sicherer,  Recht  der  Eheschließung. 


—     33     — 

Und  sein  Inhalt  wurde  definiert  als  der  Ort,  wo  jemand  den  regel- 
mäßigen Mittelpunkt  seines  häuslichen  und  bürgerlichen  Daseins 
habe.  »Et  in  eodem  loco  singulos  habere  domicilium  non  am- 
bigitur,  ubi  quis  larem  rerumque  ac  fortunarum  summam  con- 
stituit,  unde  rursus  non  sit  decessurus,  si  nihil  avocet,  unde  cum 
profectus  est  perigrinari  videtur,  quo  si  rediit,  perigrinari  iam 
destitit«  ^).  Zu  seiner  Begründung  genügt  nicht  mehr  wie  bisher 
in  den  Städten  der  bloße  Inkolat ;  sondern  —  wie  in  den  Land- 
gemeinden von  jeher  —  die  Absicht  zu  bleiben  muß  hinzutreten, 
der  »animus  perpetuo  habitandi«.  Seitdem  zum  Teil  infolge  der 
Armenverpfiichtung  der  Gemeinde  nicht  mehr  der  einfache  In- 
kolat, sondern  nur  noch  das  obrigkeitlich  verwilligte  »domicilium 
justum«  zur  Erwerbung  des  Domizils  ausreicht  und  dadurch  in 
Verbindung  mit  dem  Einfluß  des  Landesherrn  auf  die  Aufnahme 
neuer  Gemeindemitglieder  auch  auf  diesem  Gebiete  die  Scheidung 
zwischen  öffentlichem  und  privatem  Wohnsitz  eintritt  —  seitdem 
war  auch  eine  Unterscheidung  in  der  Sprache  notwendig.  Diese 
trat  denn  auch  im  1 8.  Jahrhundert  ein:  das  privatrechtliche  Ver- 
hältnis zur  Gemeinde  hieß  nun  eigentliches  Domizil,  prozeßrech- 
liches,  auch  Domizil  oder  Wohnsitz  schlechtweg.  Für  den  öffent- 
lichen Wohnsitz  fand  man  je  nach  seiner  speziellen  Bedeutung 
den  Ausdruck:  polizeiliches,  armenrechtliches,  publizistisches  Do- 
mizil, oder  einfach  im  Gegensatz  zu  dem  mehr  Rechte  in  sich 
schließenden  »Domizil«  :  »Inkolat«  schlechthin.  In  armenrecht- 
licher Beziehung  bildete  sich  die  Bezeichnung  »Heimat«  heraus. 
Diese  unklare  Bezeichnung  erschwert  im  i8.  und  noch  im  19. 
Jahrhundert  die  Unterscheidung  der  gemeinten  Rechtsverhältnisse 
außerordentlich.  In  Mecklenburg  ist  die  Trennung  von  öffent- 
lichem und  privatem  Recht  noch  im  19.  Jahrhundert  nicht  klar 
durchgeführt  in  der  Bezeichnung :  wesentlicher  Wohnsitz,  in  Bayern 
auch :  Wohnung,  in  Preußen  :  Hingehörigkeit,  zu  Hause.  Bei  der 
Mannigfaltigkeit  der  Rechtsverhältnisse  und  der  Bezeichnungen 
ist  man  genötigt,  von  dem  Worte  ganz  abzusehen  und  in  jedem 
einzelnen  Falle  erst  zu  prüfen,  welches  Recht  mit  dem  jeweiligen 
Ausdruck  gemeint  ist.  Auch  die  besonderen  erforderten  Be- 
dingungen des  Wohnsitzes  gelten  vielfach  in  der  Gesetzessache 
einfach  für  das  Recht  selbst.  In  Bayern:  Ansässigkeit^),  »die  An- 
sässigkeit  ist    das    politische  Domizil,    die  Ansässigmachung    die 

i)  Const.  7,  cod.   de  incolis   lo,   39. 

2)  Vgl.  Rehm,  S.  228  und  247,  Riedel-Müller,  S.  31,  Seydel,  Bd.  3,  S.  97. 
Zeitschrift  für  die  ges.  Staatswissenscli.     Ergänzungsheft  51.  "X 


—     34     — 

Begründung  dieses  Domizils  durch  wirkliche  rechtmäßige  Nieder- 
lassung, die  Ansässigmachungserlaubnis  die  obrigkeitliche  Domi- 
zilsbewilligung —  die  Heimat  ist  der  Inkolat.«  Und  trotz  der 
Ausschließung  des  einfachen  wie  des  qualifizierten  Wohnsitzes 
als  Erwerbsgrund  der  Gemeindemitglicdschaft  hält  die  deutsche 
Gesetzgebung  weiter  in  Sprache  und  Konstruktion  an  dem  Wohn- 
sitzbegriff fest.  Die  prozeßrcchtlichc  Zuständigkeit  verliert  jeden 
Einfluß  auf  die  politische,  polizeiliche  und  armenrechtliche  Hin- 
gehörigkeit; die  Begriffe  Wohnsitz  und  Heimat  aber  werden 
weiter  für  beide  angewandt.  Auch  das  rein  gerichtliche  > forum 
domicilii  et  habitationis«  wird  in  der  Maximi/ianeischen  Gesetz- 
gebung auf  das  Arm.endomizil  übertragen.  Für  Bayern  bringt 
erst  das  Jahr  1825,  für  Preußen  das  Jahr  1842  die  reinliche  Schei- 
dung der  Begriffe  und  der  in  ihnen  enthaltenen  Rechte,  welche 
Scheidung  durch  den  dauernden  Wechsel  der  Rechte  selbst  und 
die  unklare  Beziehung  zwischen  ihnen  inbezug  auf  Ort  und  Staat 
noch  mehr  erschwert  war.  Der  Stand  der  Rechte  und  ihrer  Be- 
zeichnungen um  die  Mitte  des  19.  Jahrhunderts  war  folgender: 
Die  Staatsangehörigkeit  begründet  erst  die  Gemeindeangehörig- 
keit. Beide  haben  verschiedene  Grade :  das  Indigenat  ist  ein 
Rechtsverhältnis  zwischen  dem  Staate  und  der  Person  und  be- 
gründet für  diese  alle  Rechte  und  Pflichten,  welche  die  allge- 
meine Gesetzgebung  den  Inländern  einräumt.  Der  Wohnsitz  in 
polizeilicher  Hinsicht,  Heimat,  auch  gewöhnlicher  Aufenthalt  ge- 
nannt, begreift  die  entsprechende  Stellung  der  Person  zur  Ge- 
meinde in  sich.  Die  Verpflichtung  äes  Staates,  für  seine  Ein- 
wohner im  Notfalle  zu  sorgen,  beruht  auf  gleichen  Voraussetzun- 
gen für  alle ;  verschieden  ist  nur  dem  Grade  nach  der  Inhalt, 
aber  dem  Wesen  nach  die  Form  der  gleichen  Verpflichtung  sei- 
tens der  Gemeinde,  welcher  der  Staat  diese  seine  Verpflichtung 
übertragen  hat.  Das  Staats-  und  Gemeindebürgerrecht  stellen 
beide  einen  höheren  Grad  der  Angehörigkeit  der  Person  zu  seiner 
Gemeinschaft  dar,  welcher  größere  Rechte  verleiht,  dafür  aber 
auch  bedeutendere  Voraussetzungen  für  den  Erwerb  dieses  hö- 
heren Grades  erfordert.  Die  Ansässigkeit  ist  kein  für  sich  be- 
stehendes besonderes  Rechtsverhältnis  mehr,  doch  ist  ein  Teil 
ihres  Inhalts  in  das  Bürger-  oder  Heimatsrecht  übergegangen. 
Unter  Wohnsitz  endlich  wird  der  mit  der  Absicht  dauernder 
Niederlassung  gewählte  Aufenthalt  verstanden,  dessen  rechtliche 
Wirkungen  sich  hauptsächlich  in  bezug  auf  die  Zuständigkeit  der 


—     35     — 

Zivilgerichte  äußern,  dessen  Voraussetzungen  sich  wesentlich  mit 
dem  für  die  polizei-  und  armenrechtliche  Zuständigkeit  maßgeben- 
den Wohnsitz  decken. 

Für  die  Absicht  der  dauernden  Niederlassung  als  Grundlage 
für  die  rechtliche  Gültigkeit  des  Wohnsitzes  haben  sich  im  Laufe 
des  Mittelalters  bestimmte  Merkmale  herausgebildet,  an  welchen 
sie  erkannt  wurde.  Das  Recht  des  Aufenthalts  über  »Jahr  und 
Tag«  ist  die  erste  Stufe,  welches  durch  die  notwendige  Unter- 
scheidung der  rechtlich-städtischen  und  rechtlich-ländlichen  Be- 
völkerungsteile hervorgerufen  war.  Infolge  der  Armenvorschriften 
und  der  Abschließung  der  Zünfte  wurde  diese  Frist  nach  und 
nach  verlängert  und  außerdem  teils  daneben,  teils  in  Verbindung 
mit  ihrer  Ansässigkeit  in  verschiedenen  Formen  verlangt.  Ge- 
wissen Personenkreisen  aber  wurde  von  vornherein  die  Fähigkeit 
der  Absicht  zu  dauerndem  Aufenthalt  abgesprochen.  Im  Zu- 
sammenhang hiermit  steht  die  Unfähigkeit  aller  unselbständigen 
Personen,  den  Wohnsitz  zu  erwerben,  wobei  wiederum  die  Tren- 
nung des  öffentlichen  und  privaten  Rechts  zu  verfolgen  ist.  Die 
durch  privatrechtliche  Verträge  freiwillig  Unselbständigen  (Dienst- 
boten) werden  in  Ansehung  ihrer  öffentlichen  Rechte  erst  kurz 
vor  oder  mit  dem  19.  Jahrhundert  als  selbständig  anerkannt.  Der 
Familienstand  und  das  Alter  bleiben  allein  als  Gründe  der  Un- 
selbständigkeit bestehen.  Dagegen  fehlt  den  Beamten  und  dem 
Gesinde  nach  der  Rechtsauffassung  des  17.  und  18.  Jahrhunderts 
die  Selbständigkeit  des  Aufenthalts.  Beamte,  Pächter,  Gesinde 
und  Taglöhner,  auch  Studenten  ^)  haben  wenigstens  nicht  die  Ab- 
sicht des  dauernden  Wohnens.  Beamte,  welche  in  auswärtigen 
Staaten  dienen,  werden  von  der  Verpflichtung  zur  Entrichtung 
der  Nachsteuer  von  den  Juristen  des  18.  Jahrhunderts  aus  diesem 
Grunde  freigesprochen.  Die  bayrischen  Gesetze  des  18.  Jahr- 
hunderts, auch  die  würzburgischen  Erlasse  nehmen  Tagelöhner, 
Schäfer  und  Gemeindebeamte  von  der  Wohnsitzerwerbung  aus- 
drücklich aus.  Doch  die  Gesetze  des  19.  Jahrhunderts  in  Bayern, 
Preußen,  Hannover  2),  Sachsen  u.  a.  m,  billigen  die  Absicht  dauern- 
den Aufenthalts    bereits    allen    Beamten    und    dem    Gesinde    zu; 


1)  Vgl.  Mevius,  Kreitlmayr,  Knipschildt,  cap.  29,  Nr.  105  »illi,  qui  studiorum 
causa  in  Academiis  aliis  quam  in  quibus  originem  suam  ex  nativitate  habent,  do- 
micilium  sibi  habere  non  censentur,  licet  per  mille  annos  ibidem  studiorum  causa 
commorentur,  quia  animum  redeundi  habent.«     Vgl.  Rehm,  Annalen,  S.  211. 

2)  Hann.  Domizilordn.   1827,  Bad.  Ges.   16/2.    1838. 

3* 


-     36     - 

dem  Gesinde  nach  längerer  Frist,    den  Beamten    mit  der  Anstel- 
lung selbst  ^). 

l)  Diese  begrifTlichen  Unterscheidungen  können  kaum  erschöpfend  behandelt 
werden,  ohne  die  überaus  scliarfsinnigen  Unterscheidungen  Steine  zu  erwähnen, 
die  er  aus  seinem  System  der  administrativen  Bevölkerungsordnung  ableitet.  Inn. 
VerwLehre,  Bd.  2.  S.  273 — 352. 

Der  Verwaltungsorganismus  des  Staates  in  bezug  auf  die  Organe  des  Staates 
selbst  ist  die  administrative  Organisation  der  vollziehenden  Gewalt,  welche  die 
Grundsätze  aufstellt,  nach  denen  die  Angehörigkeit  des  einzelnen  an  das  Verwal- 
tungssystem sich  regelt. 

Die  allgemeine  Grundlage  aller  Beziehungen  der  Verwaltung  und  der  hinter 
dieser  stehenden  Staatsgewalt  ist  zum  einzelnen  die  Angehörigkeit  an  den  Staat 
und  an  die  in  ihm  enthaltenen  Selbstverwaltungskörper.  Die  Funktionen  des 
Staates  werden  ausgeübt  durch  die  direkte  amtliche  Staatsgewalt  und  durch  die 
Selbstverwaltungskörper.  Zu  unterscheiden  ist  hierbei  zunächst  die  Beziehung  des 
einzelnen  zum  Willen  und  zu  der  Tätigkeit  jener  beiden  Organismen.  Diese  heißt 
gegenüber  dem  Willen  des  Staats  je  nach  dem  Maß  der  politischen  Rechte :  Staats- 
bürgertum oder  Untertanschaft;  gegenüber  der  Selbstverwaltung:  Gemeindebürger- 
tum (früher  Landsassiatus)  und  Heimat.  Das  Verhältnis  des  einzelnen  zur  voll- 
ziehenden Gewalt  überhaupt  ist  das  Indigenat ;  zur  eigentlichen  Verwaltung  hat  der 
einzelne  ein  doppeltes  Verhältnis  :  einmal  zum  amtlichen  Staatsorganismus,  sodann 
zur  Selbstverwaltung.  Die  Erstreckung  der  staatlichen  Verwaltungstätigkeit  auf 
Personen  und  Sachenkreise  wird  begrenzt  und  bestimmt  durch  die  Kompetenz ;  die 
Unterwerfung  der  Persönlichkeit  unter  die  Verwaltung  ist  ihre  Zuständigkeit. 

Soweit  die  Angehörigkeit  des  einzelnen  zu  einem  Selbstver\valtungskörper 
nur  auf  der  räumlichen  Anwesenheit  beruht,  wird  sie  gleichfalls  von  dem  System: 
Kompetenz,  Zuständigkeit  umfaßt.  Sobald  aber  diese  Beziehungen  auf  der  Ange- 
hörigkeit der  ganzen  Person  unabhängig  von  der  räumlichen  Kompetenz  beruhen, 
tritt  ein  anderer  Begriff,  der  der  Heimat  ein. 

Ursprünglich  regelte  sich  die  Zuständigkeit  nach  der  Geschlechtsangehörig- 
keit; die  Kompetenz  lag  bei  dem  Geschlechtsverbande.  Später  traten  an  dessen 
Stelle  die  ständischen  Korporationen:  Adel,  Kirche,  Städte.  Gerichts-  und  Ver- 
waltungszuständigkeit fallen  unter  beiden  Verbindungsarten  zusammen. 

Bei  beiden  gibt  die  Abstammung  die  Zuständigkeit,  u.  U.  auch  noch  beson- 
dere Aufnahme  in  den  Sippen-  oder  Standesverband.  Hiernach  bemißt  sich  unter 
der  reinen  Selbstverwaltung  die  Heimat,  das  »forum<  im  öffentlichen  Sinne.  Die 
Kompetenz  der  Verwaltungskörper  folgt  dagegen  ausschließlich  aus  der  Ansässig- 
keit. Ihr  entspricht  die  Angehörigkeit,  das  »domicilium«  im  öffentlichen  und  pri- 
vaten Sinne. 

In  den  Städten  ist  die  Angehörigkeil  entweder  durch  Grundbesitz  oder  später 
durch  zünftigen  Gewerbebetrieb  begründet.  Die  geschichtliche  Entwicklung  läuft 
auf  die  Herstellung  der  Gleichberechtigung  der  Grund-  und  der  Gewerbe-Ansässig- 
keit hinaus.  Diese  Ansässigkeit,  wie  auch  die  auf  bloßem  Aufenthalt  beruhende 
verleiht  der  Gemeinde  die  Kompetenz.  Die  nicht  ansässigen  Scliutzbürger  und 
Ausbürger  erwerben  durch  dieses  rechtliche  Verhältnis  die  Zuständigkeit  in  der  Stadt. 

Im  Mittelalter  war  die  Bemessung  der  Zuständigkeit  zu  einem  Selbstverwal- 
tungskörper völlig  in  die  Hand  dieser  freien  Körper  gelegt.     Es  konnte  also  wohl 


-     37     — 

vorkommen,  daß  ein  Individuum,  welchem  die  Aufnahme  oder  Niederlassung  ver- 
wehrt war,  überhaupt  keine  Zuständigkeit  im  Sinne  der  Selbstverwaltung  besaß. 
Es  war  dies  eine  Abschwächung  der  alten  in  der  Geschlechterverfassung  bestehen- 
den >Friedlosigkeit<.  Der  Polizeistaat  schuf  hierin  Wandel:  jedermann  mußte  eine 
lokale  Zuständigkeit  haben ,  eine  gerichtliche ,  polizeiliche  und  armenrechtliche. 
Diese  letztere  insbesondere  gewann  neben  der  polizeilichen  bald  eine  ausschlag- 
gebende Bedeutung,  was  mit  der  Ueberweisung  der  staatlich  garantierten  Armen- 
pflege an  die  Gemeinden  zusammenhing.  Das  Mittel  der  generellen  Einrichtung 
der  Zuständigkeit  in  diesem  Sinne  war  die  Amtsverfassung,  da  die  Selbstverwaltung 
hierin  naturgemäß  Lücken  gelassen  hätte.  Denn  sie  bemißt  stets  von  sich  aus  ihre 
Kompetenz  nur  nach  ihrem  besonderen  Gemeinschaftsvorteil. 

Die  Folge  der  generellen  staatlichen  Zuständigkeitsanweisung  war  zum  Aus- 
gleich der  damit  für  die  Selbstverwaltungskörper  verbundenen  Lasten  eine  allge- 
meine Beschränkung  der  freien  persönlichen  Bewegung.  Diese  hätte  vermieden 
werden  können,  wenn  die  Trennung  zwischen  Zuständigkeit  und  Kompetenz  be- 
grifflich und  tatsächlich  durchgeführt  worden  wäre.  Auf  dem  Gebiete  des  privat- 
rechtlichen Prozesses  war  dies  der  Fall. 

Auf  die  Bedeutung  der  beiden  Kategorien  im  19.  Jhd.  werden  wir  im  letzten 
Kapitel  zurückkommen. 


-     38 


Zweiter  historischer  Teil. 

Viertes    Kapitel. 

Deutsches  Armenwesen  im  Mittelalter. 

Im  frühen  ^)  Mittelalter  lag  die  Armenpflege  (wie  schon  oben 
ausgeführt)  in  den  Händen  der  Kirche.  Zwar  das  kommunistische 
Prinzip  hatten  schon  die  ersten  Christengemeinden  gleichzeitig  mit 
ihrer  Vergrößerung  und  ihrer  Ausbreitung  und  staatlichen  Aner- 
kennung fallen  gelassen  ;  aber  den  Grundsatz  der  Unterstützung 
der  armen  Gemeindemitglieder  als  praktische  Betätigung  der  durch 
Christus  verordneten  Nächstenliebe  hatte  die  Kirche  als  solche 
beibehalten  und  dafür  auch  die  staatliche  Anerkennung  gefunden. 
In  den  einfacheren  Verhältnissen  der  Merovinger-  und  Karolinger- 
zeit war  für  eigentliche  Armenpflege  nur  wenig  Platz,  denn  der 
verwandtschaftliche  Zusammenhang  blieb  noch  die  Grundlage  der 
politischen  Verbände.  Der  Sippe  und  der  Markgenossenschaft 
lag  zunächst  die  Regelung  der  privaten  wie  der  öftentlichen  Ver- 
hältnisse ihrer  Mitglieder  ob.  Die  öffentlichen  Beziehungen  des 
einzelnen  wie  der  Gesamtheit  beruhten  vornehmlich  auf  dem  pri- 
vaten und  damit  dem  verwandtschaftlichen  Status.  Verwundung, 
Siechtum,  Alter  und  Verwaisung  waren  in  den  Zeiten  einer  sich 
entwickelnden  Wirtschaft,  in  welcher  von  Arbeitlosigkeit  als  so- 
zialer Erscheinung  keine  Rede  sein  konnte,  diejenigen  Ursachen, 
welche  ein  Mitglied  der  Sippe,  Markgenossenschaft  oder  Gefolg- 
schaft auf  die  Hilfe  anderer  hinwies.  Und  Sitte  wie  Satzung  sorg- 
ten dafür,  daß  dem  unverschuldet  in  Not  Geratenen  die  not- 
wendige Unterstützung  wurde. 

Als  die  Kirche  mit  dem  Germanentum  in  Berührung  trat,  war 
sie  in  sich  selbst  fertig  und  hatte  grade  auf  dem  Gebiet  der 
Liebestätigkeit  eine  reiche  Entwicklung  hinter  sich.     Die  großen 

l)  Vgl.  hierzu  Emmitighaus,  S.  II ;  Kehtn  in  Annalen  ;  Lamprecht,  Deutsche 
Geschichte,  Bd.   i. 


Vermögen,  welche  ihr  nach  ihrer  staatlichen  Anerkennung  bald 
zufielen,  machten  sie  von  den  Oblationen  unabhängig  und,  indem 
sie  eine  umfassende  Anstalts-  und  Almosenpflege  ermöglichten, 
verführten  sie  schon  in  der  alten  Welt  zur  Uebertrcibung  ^) ;  Kaiser 
Valentinian  II.  hat  als  erster  um  370  Bettel  verböte  erlassen.  Auf 
germanischem  Boden,  wo  die  staatlichen  Vereinigungen  eben  erst 
unter  starken  Zuckungen  entstanden,  fiel  der  Kirche  vollends  alle 
kulturelle  Betätigung  zu  :  Bildung,  Gesundheit  und  Armenwesen. 
Der  Staat  hatte  Mühe,  seine  Machtzwecke  durchzusetzen,  und  die 
Gemeinde  war  ein  vorwiegend  wirtschaftliches  Organ.  Im  frän- 
kischen Reiche  wie  auf  englischem  Boden  bestimmten  schon  frühe 
königliche  Verordnungen,  daß  die  Kirche  ein  Drittel  bis  ein  Viertel 
des  Zehnten  für  die  Armen  zu  verwenden  habe^). 

Die  Bedeutung  der  Kirche  für  die  Armenpflege  darf  in  keiner 
Weise  unterschätzt  werden.  Ihre  Anstalten  und  Stiftungen  halfen 
jederzeit  der  vorübergehenden  Armut.  Jedes  Kloster  und  Spital 
hatte  besondere  Einrichtungen  hierfür.  Aber  dauernde  Unter- 
stützung gewährten  diese  Anstalten  doch  meistens  auch  nur  einem 
beschränkten  Kreis  von  Berechtigten,  der  teils  durch  den  Stifter, 
teils  durch  die  Kirche  bestimmt  war.  Auch  bildeten  hier  die 
Berechtigten  eine  Art  von  Genossenschaften,  welche  sich  nach 
außen  ängstlich  abschlössen.  Sie  standen  als  solche  neben  den 
privatrechtlichen  Gemeinschaften  der  Städte.  Die  Zahl  derer  da- 
gegen, welche  an  keine  Genossenschaft  Anschluß  hatten,  war  auf 
den  freien  Bettel  angewiesen.  Die  kirchlichen  Anstalten  reichten 
zu  ihrer  Versorgung  bei  weitem  nicht  aus.  Um  so  mehr  tat  diese, 
um  die  Privatwohltätigkeit  zu  steigern.  Auch  das  Almosenwesen 
des  Mittelalters  muß  als  Teil  der  kirchlichen  Tätigkeit  angesehen 
werden.  Denn  die  Kirche  veranlaßte  die  Gläubigen  zum  reich- 
lichen Geben  und  beaufsichtigte  sie  dabei  wenigstens  indirekt. 
Das  Mittel  hierzu  war  die  Ausbildung  der  Lehre  von  den  guten 
Werken,  wodurch  sie  sich  allerdings  der  Lehre  des  Islam  nähert. 
Das  Almosen  ist  ein  gottgefälliges  Werk,  das  vor  allem  dem 
Geber  nützt.  Die  Kirche  war  die  »lukrative  Vermittlerin  zwischen 
Geber  und  Empfänger*  ^).  Neigt  schon  an  sich  die  Privatwohl- 
tätigkeit dazu,  unregelmäßig  und  planlos,  auch  ohne  Ueberlegung 


1)  Vgl.  Ratzivger,    Gesch.    d,    kirchl.    Armenwesens    vom    katholischen    und 
Uhlhorn  in  Realenz.  vom  evangel.  Standpunkt. 

2)  Eniminghaus ,  S.  4 — 5:  Ges.  6.  Kg.  Aethelred   1014. 

3)  Eniminghaus,  S.  4. 


—     40     — 

und  Berücksichtigung  des  einzelnen  Falles  zu  j^a^ben,  so  wurden 
alle  diese  Mängel  noch  über  jedes  Maß  hinaus  gesteigert  durch 
die  unaufhörliche  »Aufhetzung«  zum  »Almußen^  durch  die  Kirche. 
Die  schrankenlose  Freigebigkeit  der  Bevölkerung  züchtete  gradezu 
die  Bettler,  welche  sie  zu  ihrem  Seelenheil  brauchte  und  die  sie 
als  Boten  Gottes  willkommen  hieß.  Der  Bettel  ward  zu  einem 
eignen  Beruf  mit  zünftischer  Ordnung^).  Ein  unglaublich  großer, 
in  Zahlen  für  jene  Zeit  natürlich  nicht  auszudrückender  Teil  der 
Bevölkerung  lag  so  auf  der  Straße,  ohne  festen  Unterhalt.  Ja 
das  Bedürfnis  der  Kirche  und  der  Bevölkerung  ging  soweit,  daß 
besondere  Bettelorden  gegründet  wurden  und  eine  Macht  im 
im  Volke  wurden,  die  das  Bettelwesen  organisieren  wollten,  es 
aber  nur  noch  mehr  verschlimmerten.  Die  allgemeinen  poli- 
tischen und  gesundheitlichen  Zustände  taten  das  ihre,  um  die 
Masse  des  »fahrenden  Volks«  noch  zu  vergrößern.  Scharenweise 
zogen  die  Bettler  durch  das  Land;  ein  Eingreifen  von  weltlicher 
Seite  war  nicht  mehr  zu  umgehen.  Bettel-  und  Almosenverbote 
waren  die  Mittel,  welche  angewandt  wurden,  um  des  Uebels  Herr 
zu  werden.  Mit  welchem  Erfolg,  erhellt  am  besten  aus  der  Tat- 
sache, daß  bis  ins  i6.  Jahrhundert  hinein  die  Durchführung  des 
gemeinen  Landfriedens  überhaupt  nicht  zu  erreichen  war.  So- 
lange die  ergriffenen  Maßnahmen  sich  nur  gegen  die  Symptome 
der  Krankheit  wandten,  ohne  auf  die  treibenden  Ursachen  zu 
sehen,  solange  die  Armut  nicht  als  soziales  Problem  gewürdigt 
und  behandelt  wurde  und  den  Verboten  und  Strafen  nicht  die 
notwendige  positive  ergänzende  Hilfe  hinzugefügt  wurde,  war  an 
eine  eigentliche  Beseitigung  und  Ueberwindung  dieser  sozialen 
Frage  des  Mittelalters  nicht  zu  denken.  Eine  organische  Ord- 
nung über  das  ganze  Reich  hin  war  außerdem  für  die  Wirksam- 
keit der  ergriffenen  Maßnahmen  unbedingt  nötig,  im  Hinblick  auf 
die  Zersplitterung  der  Territorien  ebensosehr  wie  mit  Rücksicht 
auf  die  leichte  Beweglichkeit  der  vagierenden  Bevölkerungsschich- 
ten, die  es  zu  beseitigen  galt. 

Wir  verfolgen  die  Bestrebungen,  dem  Bettelwesen  zu  steuern, 
bis  in  das  frühe  Mittelalter  hinunter  und  bemerken  vor  der  Zeit 
der  Alleinherrschaft  der  Kirche  im  Armenwesen  recht  kräftige 
Ansätze  zu  einer  regen  Beteiligung  der  weltlichen  Gewalten  hier- 
bei, die  aber  später  durch  die  Wirksamkeit  der  Kirche  über- 
wuchert wurden    oder  in  das  Dunkel  des  Privatrechts  versanken. 


l)  Löning  im  Schönberg^c!tvtrv  Handb.,  Bd.  3,  Röscher,  Armenwesen, 


—     41     — 

Das  Konzil  zu  Tours  im  Jahre  567  beschloß,  außer  der  Wid- 
mung des  dritten  Teils  des  Zehnten  an  die  Armen,  auch  die 
weltliche  Armenpflege    anzuregen^). 

In  demselben  Sinne  verordnen  die  wiederholten  Vorschriften 
in  den  Kapitularen  Karls  des  Großen  ^),  dem  Bettel  und  der  Ar- 
mut zu  steuern,  und  weisen  auf  die  Pflicht  der  Herren  hin,  für 
ihre  Untertanen  zu  sorgen.  Kap.  ad.  Nimaguam  806.  Die  von 
Amts  wegen  bestehende  Armenpflege  der  Comites  und  Mini- 
sterialen sowie  die  mehr  vertragsmäßige  Verpflichtung  der  Se- 
nioren, für  ihre  Gefolgsmannen  einzustehen  wurde  auf  das  ganze 
Reich  ausgedehnt.  Auch  für  die  Grundherren  ward  dieser  Grund- 
satz ausdrücklich  festgelegt.  Die  Armenfürsorge  Karls  des  Großen 
hatte  keinen  langen  Bestand  :  in  den  dauernden  äußeren  und 
inneren  politischen  Kämpfen,  den  Einfällen  der  Hunnen,  Nor- 
mannen usw.  und  den  tiefgreifenden  sozialen  Umwälzungen,  welche 
vor  allem  die  Wehrverfassung  im  Gefolge  hatte,  gingen  die  letzten 
Reste  dieser  Fürsorge  unter.  Besseren  Bestand  hatten  die  Ver- 
ordnungen König  Egberts  für  England  aus  derselben  Zeit,  ihr  Er- 
folg war  gleichwohl  gering.  In  Deutschland  finden  wir  seitdem 
keine  Spur  von  einem  Eingreifen  der  Reichsleitung  in  ein  Gebiet, 
welches  als  zum  Privatrecht  gehörig  völlig  der  Kompetenz  der 
Stände  zugewiesen  galt. 

Nur  in  Frankreich  greift  im  Laufe  der  Jahrhunderte  häufiger 
die  königliche  Gewalt  ein.  Im  13.  Jahrhundert  ließ  Ludwig  der 
Heilige  ein  Verzeichnis  der  arbeitsunfähigen  Armen  aufnehmen 
und  errichtete  zu  diesem  Zweck  eine  besondere  Kommission. 
Ueberhaupt  zeichnet  sich  Frankreich  außer  durch  Bettelverbote 
im  Mittelalter  durch  den  Versuch  wenigstens  staatlicher  Pflege 
auch  sonst  aus. 

In  eigentümlicher  Ausprägung  hat  sich  in  Skandinavien  den 
alten  Rechtsbüchern,  »den  Grougans«,  zufolge  auch  über  das 
Christentum  hinaus  die  germanische  genossenschaftliche  Fürsorge 
in  das  öffentliche  Recht  hinübergerettet.  Emminghau^  berichtet 
darüber:  »Hiernach  ist  jede  kirchliche  Mitwirkung  ausgeschlossen 
bei  der  Armenpflege.  Der  Bettelei  und  dem  Almosengeben  an 
Bettler  und  Landstreicher  folgt  die  Strafe  der  Friedlosigkeit.    Die 


i)  >Ut  unaquaeque  civitas  pauperes  et  egenos  alimentis  congruentibus  pascat 
secundum  vires,  et  tarn  vicini  presbyteri,  quam    cives    unusquisque    suum    nutriat.< 

2)  Capitulare  de  anno  850,  5.  unusquisque  honoratus  noster  se  suosque  ex 
suo  pascat.     n.  Emniinghaus,    S.  5. 


—     42     — 

Unterstützungspflicht  liet^ft  zunächst  den  Verwandten  ob.  Zu- 
gunsten der  so  hilflos  bleibenden  Armen  steuern  die  Freien  einen 
Armenzchnt.  Ueber  die  Dürftigkeit  der  zu  Unterstützenden  ent- 
scheidet die  Versammlung  der  Freien.  Wer  auch  aus  dem  Armen- 
zehnt, weil  dieser  nicht  ausreicht,  nicht  unterhalten  werden  kann, 
wird  in  der  Gemeinde  von  Hof  zu  Hof  unterstützt,  aber  nach 
strenger  Vorschrift  und  unter  Gewähr  dafür,  daß  er  nicht  zum 
Bettler  werde  oder  nicht  Not  leide.«  In  ähnlicher  Weise  haben 
wir  uns  auch  die  Armenpflege  der  deutschen  Dörfergenossen  vor- 
zustellen, wenn  auch  nur  privatrechtlich  und  unter  Aufsicht  des 
Grundherrn,  und  mit  Hilfe  der  Kirche. 

Mit  armenpolizeilichen  Maßnahmen  gingen  in  Deutschland 
die  Städte  voran,  deren  Lebenselement,  der  Handel  und  Ver- 
kehr, durch  die  öffentliche  Unsicherheit  in-  und  außerhalb  der 
Stadt  am  meisten  gefährdet  wurde.  Darum  handelten  die  Städte 
in  wohlverstandenem  eigenen  Interesse,  wenn  sie  energisch  gegen 
die  Auswüchse  der  ungeregelten  Armenpflege  vorgingen.  Anders 
konnte  der  Marktfriede  nicht  durchgeführt  werden. 

Schon  im  Jahre  1256  hatte  der  rheinische  Städtebund')  ein 
Abkommen  wegen  gemeinschaftlicher  Regelung  der  vagierenden 
armen  Bevölkerung  getroffen  und  sogar  eine  Armensteuer  von 
einem  Pfennig  und  fünf  Mark  ausgeschrieben.  Dieser  Schritt  zeugt 
von  dem  politischen  Weitblick  und  sozialen  Sinne  dieser  kul- 
turell vorangehenden  Gemeinwesen. 

Die  reichen  in  den  Städten  angelegten  Stiftungen  halfen 
ebenso,  wie  sie  auf  der  anderen  Seite  die  Scharen  des  fahrenden 
Volkes  grade  anlockten. 

Wirkliche  Bettlerordnungen  begegnen  uns  zuerst  in  Braun- 
schweig 1400,  in  Eßlingen  1384,  in  Wien  1453,  in  Köln  1446 
und  vielen  anderen  Städten,  auch  Nürnberg  und  Straßburg  dar- 
unter (1478).  1437  richtet  Frankfurt  am  Main  eine  städtische 
Armenpflege  ein  mit  der  Maßgabe,  daß  nur  an  solche  Bettler, 
die  seit  acht  Jahren  in  der  Stadt  ansässig  seien,  Almosen  ge- 
geben werden  sollen.  Diese  werden  durch  ein  Blechschild  kennt- 
lich gemacht. 

Unter  den  Territorien  erließ  die  kurpfälzische  Regierung  1574 
die  erste  spezifische  Armenordnung. 

Das  Vorgehen  der  Städte  ist  ein  Beweis  für  den  kolossalen 
Umfang,   welchen   das  Bettel wesen  im   15.  Jahrhundert  angenom- 

l)  Löning  in  HWSt.  und  Bluntschit-Brater. 


—     43     -- 

men  hatte.  So  wird  endlich  auch  der  Reichstag  damit  befaßt. 
Die  reichsgesetzliche  Regelung  reiht  sich  in  die  Reformen  Maxi- 
milians ein;  sie  soll  an  ihrem  Teil  zu  der  Durchführung  des  Land- 
friedens beitragen.  Der  Abschied  des  königlichen  Tages  zu  Lindau 
1497  setzt  im  §  20  fest:  »Item:  soll  ayn  yede  Oberkait  der  Bett- 
ler halb  ernstlich  Einsehen  tun,  damit  niemands  zu  betteln  ge- 
stattet werd,  der  nit  mit  Schwachheit  oder  Gebrechen  seins  Leibs 
beladen,  und  des  nit  notdürfftig  sey.  Daß  auch  der  Bettler 
Kinder  zeitlich,  so  sie  ihr  Brot  zu  verdienen  geschickt  seien  von 
Inen  genommen,  und  zu  Handwerkern  oder  sunst  zu  Diensten 
geweist  werden,  damit  sie  nit  also  für  und  für  dem  Bettel  an- 
hangen, das  ayn  yede  Oberkait  fürnemmen  und  auf  die  nechste 
Versammlung  fürbringen  soll,  davon  weiter  zu  handeln,  doch  sollen 
die  armen  Schüler,  so  der  Lere  nachziehen,  hierinnen  nit  begriffen 
sein.«     §  21   befiehlt  dann  ferner,  die  Zigeuner  zu  beobachten. 

Von  nun  an  kehren  dieselben  Vorschriften  in  mehreren 
Reichstagsabschieden  wieder,  teils  in  der  Form  von  Verweisungen 
auf  die  früheren  Beschlüsse,  teils  Wiederholungen  des  Wortlauts, 
hier  und  da  durch  neue  Bestimmungen  ergänzt.  So  werden  zu 
Augsburg  1500  die  »Artikel  des  Kammergerichts  zu  Lindau  und 
Freyburg  hiermit  ratifizieret«,  ebenso   1530,    1548  und   1576^). 

In  der  »Kaiserlichen  reformation  guter  polizey«  von  1530 
bestimmt  die  Ziffer  34:  »daß  auch  die  Oberkait  Vorsehung  tue, 
daß  ein  jede  Stadt  und  Commune  ihre  Armen  selbst  ernähren 
und  unterhalten,  und  Frembden  nit  gestattet,  an  einem  jeglichen 
Ort  zu  betteln  im  Reich.  Und  so  darüber  starke  Bettler  befun- 
den, sollen  dieselbigen  vermöge  der  Recht  oder  sonst  gebührlich 
gestrafft  werden  andern  zu  Abscheu  und  Exempel.  Es  wäre  dann 
Sach,  daß  eine  Stadt  oder  Ambt  mit  also  vielen  Armen  beladen, 
daß  sie  der  Ort  nit  möchten  ernähret  werden,  so  soll  die  Obrig- 
keit dieselben  Armen  mit  einem  briefflichen  Schein  und  Urkund  in 
ein  ander  Ambt  zu  befördern  Macht  haben.  Item  ein  yede  Oberkait 
soll  auch  an  Stellen,  da  Spital  seyn,  daran  und  darob  sehn,  daß 
solche  Spital  auffs  wenigst  im  Jahr  einmal  von  der  Obrigkeit  visi- 
tieret und  ihre  Nutzung  und  Gefälle  zu  keinen  andern  Sachen  denn 
allein  zu  Unterhaltung  der  nothdürfftigen  Armen  und  zu  gütigen 
und  barmherzigen  Sachen    gekehrt   und  gebraucht  werden.« 

In  der  Kammergerichtsordnung    von    1495    findet    sich  auch 


i)  Neue  und    vollständige  Sammlung    der  Reichsabschiede.     Frankfurt   1747, 
Theil  2,  S.  32. 


—     44     — 

ein  ausgebildetes  Armenrecht,  der  Arme  ist  in  Verfolg  seines 
Rechts  grundsätzlich  geschützt.  Jiedingung  für  den  Eintritt  in 
den  Genuß  dieses  Vorzuges  ist  die  Ableistung  eines  Eides,  wel- 
cher mit  unserem  Offenbarungseid  nach  Form  und  Inhalt  große 
Aehnlichkeit  hat.  Es  ist  das  >juramentum  paupertatis«.  Hier- 
nach ist  er  von  Sportein  und  Gebühren  befreit.  Die  mißbräuch- 
liche Ausnutzung  dieses  Privilegs  durch  mutwillige  Arme  wird 
mit  schweren  Ordnungsstrafen  bedroht. 

In  diesen  Verordnungen  erschöpft  sich  die  Tätigkeit  des 
Reichs  auf  dem  Gebiete  des  eigentlichen  Armenwesens.  Bei  dem 
weiteren  Verfolg  des  öffentlichen  Rechts  in  dieser  Hinsicht  sind 
wir  darauf  angewiesen,  die  Gesetzgebung  in  einzelnen  Territorien 
zu  beachten.  Die  nächste  Folge  dieser  neuen  Ordnung  ist  eine 
Umgestaltung  des  Gemeinderechts,  welche  im  vorigen  Kapitel  in 
großen  Zügen  vorgeführt  w^urde.  Das  Verhältnis  von  Bürgern 
und  Beisassen  wird  geändert,  die  Freizügigkeit  und  Ehefreiheit 
außer  durch  Zunftordnungen  nun  auch  noch  durch  armenrecht- 
liche Rücksichten  eingeengt.     Das  Heimatrecht  entsteht. 

Die  entscheidende  Neuerung  besteht  in  der  öftentlich-recht- 
lichen  Verpflichtung  der  politischen  Gemeinde 
als  solcher,  Land-  wie  Stadtgemeinde.  Sie  rückt  somit  recht 
eigentlich  in  den  Mittelpunkt  der  gesamten  Armenpflege,  und 
innerhalb  ihrer  Aufgaben  wird  diese  bald  die  wichtigste  und  be- 
stimmt fast  ausschließlich  über  die  Gemeindeangchorigkeit.  Die 
privatrechtlichen  Titel  der  Armenfürsorge  treten  mit  dem  Nieder- 
gang der  deutschen  Städte  und  der  Zünfte  zurück.  Der  Staat 
als  solcher  übernimmt  die  Aufsicht  über  das  Armenwesen  und 
delegiert  es  auf  seine  Selbstverwaltungskörper,  die  allerdings 
grade  infolgedessen  einen  großen  Teil  ihrer  Selbständigkeit  ver- 
lieren. Von  den  Gemeinden  noch  lange  nur  als  Last  empfun- 
den, wird  die  Armenpflege  im  Laufe  des  17.  und  18.  Jahrhunderts 
allmählich  zum  Gegenstand  bewußter  wirtschaftlicher  und  dann 
sozialer  Fürsorge  der  Staaten. 

Vorderhand  war  das  praktisch  in  Anwendung  kommende 
Mittel  zur  Armenversorgung  die  Ausstellung  von  Bettelbriefen, 
welche  noch  bis  ins  19.  Jahrhundert  hinein  benutzt  werden.  Vor- 
nehmlich Religionsflüchtlinge  und  Abgebrannte,  auch  entlassene 
Kriegsleute  wurden  damit  ausgestattet  und  versorgt. 

Die  Reformation  schien  zuerst  einen  bedeutenden  Einfluß 
auf  die  Armenpflege  auszuüben.    Die  evangelische  Kirche  machte 


—    45     — 

gute  Ansätze,  verfiel  aber  bald  wieder  in  die  alte  Wirtschaft. 
Bemerkenswert  sind  hier  besonders  die  von  Luther  selbst  aus- 
gehenden Anregungen.  In  der  Schrift  »an  den  christlichen  Adel 
deutscher  Nation«  heißt  es  im  Artikel  21:  »Es  ist  wohl  der 
größten  Noth  eine,  daß  alle  Bettelei  abgetan  würde  in  der  Chri- 
stenheit ...  Es  wäre  auch  eine  leichte  Ordnung  darob  zu  ma- 
chen, .  .  .  nemlich  daß  eine  jegHche  Stadt  ihre  Armen  Leute  ver- 
sorge und  keine  fremden  Bettler  zuließe  ...  So  müßte  da  sein 
ein  Verweser  oder  Vormund,  der  alle  die  Armen  kennt  und  was 
ihnen  not  wäre,  dem  Pfarrer  oder  Rat  ansagt  .  .  .  Ich  hab's  über- 
legt, die  fünf  oder  sechs  Bettelorden  kommen  des  Jahrs  an  einen 
Ort,  ein  jeglicher  mehr  denn  sechs  oder  sieben  Mal,  dazu  die 
gemeinen  Bettler,  Botschafter  oder  Wallbrüder,  so  daß  sich  die 
Rechnung  gefunden  hat,  wie  eine  Stadt  bei  50  Mal  im  Jahre 
geschatzete  wird,  außer  was  der  weltlichen  Obrigkeit  an  Gebühr, 
Steuern  und  Schätzung  gegeben  wird  .  .  .,  daß  mir's  der  größten 
Gotteswunder  eins  ist,  wie  wir  doch  bleiben  mögen  und  ernährt 
werden.«  Und  diese  Grundsätze  suchte  er  auch  in  die  Tat  um- 
zusetzen in  Gestalt  der  gemeinen  Kasten  in  verschiedenen  Städten 
seiner  Umgebung.  Am  besten  durchgeführt  ist  die  »Ordnung 
eines  gemeinen  Kastens.  Ratschlag,  wie  die  geistlichen  Güter 
zu  handeln  sind«-').  1523  in  Leisnig,  ähnlich  in  Wittenberg 
selbst  und  in  Nürnberg  u.  a.  Alle  Stiftungen  und  kirchlichen  und 
zünftischen  Vermögen  werden  zusammengeschlagen  und  daraus 
alle  gemeinschaftlichen  Bedürfnisse  des  Kirchspiels  befriedigt, 
Pfarrer,  Küster  und  Schullehrer  besoldet,  Gebäude  unterhalten, 
Darlehen  gegeben  und  die  Armen  versorgt,  auch  »Getraide  ge- 
kauft in  gemeinen  Vorrat«.  Kurz  eine  großzügige  kommunale 
Finanzordnung  mit  starker  Betonung  der  sozialen  Bedürfnisse. 
Diese  Kastenordnungen  hatten  jedoch  nur  kurze  Zeit  Bestand, 
die  Begeisterung  ließ  nach  und  die  Zeitläufe  waren  wenig  gün- 
stig. Auch  mischte  sich  bald  die  weltliche  Obrigkeit  herein. 
Luthers  Ziel  war  die  Durchdringung  der  weltlichen  Gewalt  mit 
der  geistlichen  und  gemeinsame  Arbeit.  Mehr  Erfolg  und  Be- 
stand hatten  diese  Ordnungen  in  den  reformierten  Landesteilen, 
so  in  den    niederrheinischen    Städten    und    in    Holland  '^).     Auch 

1)  Vgl.  Luthers  Vorrede  hierzu  sowie  zu  dem  Büchlein:     »Von    der  falschen 
Bettler  Büberei«,    1528.     Sämtliche  Werke  Bd.  22  und  63.     Frankfurt   1854. 

2)  Auch  Augsburg  21/3,   1522,   Antwerpen   1448,    infolge  humanistischer  An- 
regungen.    Vgl.   Uhlhorn^  Realenzyklopädie. 


-     46     - 

Straßburg  hatte  eine  vorzügliche  Armenordnung.  Lchrmeisterin  war 
hier  die  Stadt  Ypern.  Das  in  unserer  Zeit  bevorzugte  Elberfelder 
System  reicht  in  seinen  letzten  Wurzeln  bis  in  die  Zeit  der  Refor- 
mation zurück.  Die  katholische  Kirche  gesteht  diese  Wirkungen 
der  Reformation  nur  widerwillig  zu  oder  leugnet  sie  wie  Ratzinger. 
Sie  selbst  aber  ließ  sich  unter  äußerlichem  Protest  selbst  innerlich 
gern  beeinflussen.  Die  religiösen  Pflegegenossenschaften  des  hl. 
Vinzent  u.  a.  leiten  hinüber  zur  heutigen  katholischen  Charitas. 
Das  Tridentiner  Konzil  erklärte  nach  wie  vor  die  Armenpflege 
als  eine    kirchliche  Angelegenheit,    die  dem  Bischof  unterstünde. 

Vorbemerkung  zu  Kapitel   5  und  6. 
Preußen  und  Bayern. 

Die  Uebernahme  der  Armenversorgung  auf  die  öffentlichen 
Verbände  hatte  wie  gesagt  die  Ausbildung  eines  Heimatrechts 
und  Beschränkungen  der  persönlichen  PVeiheit  zur  Folge.  Im 
dritten  Kapitel  ist  der  Versuch  gemacht  worden,  einen  kurzen 
Ueberblick  über  die  Gestaltung  des  gemeinen  Rechts  zu  geben. 
Wenn  jetzt  nun  daran  gegangen  wird,  diese  Entwicklungen  im 
einzelnen  zu  verfolgen,  so  muß  von  den  Freiheitsbeschränkungen 
die  interterritoriale  Bindung  abgetrennt  werden,  da  diese  natur- 
gemäß nur  in  allgemeinerem  Rahmen  zur  Darstellung  gebracht 
werden  kann.  Sie  wird  im  7.  Kapitel  zusammen  mit  der  Ent- 
wicklung des  Deutschen  Heimatrechts  behandelt  werden. 

Es  kann  nicht  Aufgabe  dieser  Arbeit  sein,  die  Geschichte 
des  Armenrechts  aller,  nicht  einmal  der  größeren  Territorien  zu 
geben.  Dies  erübrigt  sich  auch  dadurch,  daß  sich  in  der  Viel- 
heit der  einzelnen  Gesetzgebungen  nur  wenige  grundsätzliche 
tiefgreifende  Unterschiede  linden.  Es  kann  und  soll  nur  eine 
Gegenüberstellung    der    typischen  Unterschiede    versucht  werden. 

Wenn  zur  Darstellung  dieser  Typen  auf  Preußen  und  Bayern 
zurückgegriffen  wird,  so  sind  dafür  folgende  Gründe  maßgebend: 
Einmal  verkörpern  diese  beiden  Staaten  die  größten  wirtschaft- 
lichen, politischen,  sozialen  und  überhaupt  kulturellen  Gegensätze 
innerhalb  des  Deutschen  Reichs ;  sodann  zeigt  ihr  Wesen  und 
ihre  Geschichte  ebenso  einschneidende  Verschiedenheiten  :  Bayern, 
ein  altes  deutsches  Kulturland  im  Mittelpunkt  der  mittelalter- 
lichen Geschichte  stehend,  trägt  bis  in  die  neuere  Zeit  hinein 
alle  Merkmale  seiner  Schicksale  und  seiner  Ueberlieferung  an 
sich,  ist  erst  spät  zu    einer    territorialen  Einheit    gekommen    und 


—     47     — 

hat  bis  in  die  neuere  Zeit  unter  starkem  katholisch-kirchlichen  Ein- 
fluß gestanden;  Preußen,  auf  mittelalterlichem  Kolonialboden  er- 
wachsen, führt  ein  staatliches  wie  kulturelles  Sonderleben,  hat 
früh  einen  größeren  Umfang  und  territoriale  Geschlossenheit  er- 
langt und  ist  die  Vormacht  der  evangelischen  Kirche  geworden; 
Bayern  ist  mit  seiner  wirtschaftlichen  Entwicklung,  der  Lebens- 
und Sinnesart  seiner  Bewohner  und  der  Ausgestaltung  seiner 
Verkehrsverhältnisse  wesentlich  heute  noch  Agrarstaat  geblieben, 
Preußen  vereinigt  extrem  agrarische  und  extrem  industrielle  Ge- 
bietsteile miteinander  und  ist  im  ganzen  auch  auf  dem  Gebiet 
der  Industrie  und  des  Verkehrswesens  vorangegangen ;  Bayern 
hat  fast  bis  heute  an  dem  alten  Heimatrecht  festgehalten,  Preu- 
ßen ist  als  erster  Staat  davon  abgewichen  und  hat  das  Recht 
des  Unterstützungswohnsitzes  in  Deutschland  eingeführt  und  zur 
allgemeinen  Geltung  gebracht  ;  schließlich  sind  diese  beiden  Staa- 
ten die  größten  Territorien,  was  gerade  für  die  Freizügigkeit  von 
Wichtigkeit  ist,  und  überhaupt  die  Repräsentanten  der  verschie- 
denen Kulturgebiete,  in  welche  heut  wie  von  jeher  der  Main  das 
gesamte  deutsche  Kulturgebiet  scheidet. 

Bayern  (Altbayern)  und  Preußen  (hier  vorwiegend  das  ost- 
elbische)  werden  gerade  in  letzterer  Beziehung  gewürdigt  werden, 
und  ihre  Nachbarn  w^erden,  sobald  dies  im  Interesse  der  Dar- 
stellung nötig  wird,  ergänzungsweise  herzugezogen  werden. 

FünftesKapitel. 

Bayern  ^). 

Wir  dürfen  Bayern  um  das  Jahr  700  als  ein  im  wesentlichen 
deutsches  Land  ansehen.  Die  deutsche  und  bayrische  Stammes- 
art hat  bereits  in  den  Jahren  628 — 638  ihren  Niederschlag  in  den 
dann  um  750  neu  verkündeten  »leges  Bajovariorum«  des  Herzogs 
Dagobert  gefunden  ^).     Die  alte  Agrarverfassung  ist  im  allgemei- 

i)  Nach  Buchtier,  Geschichte  von  Bayern,   1820  fF.     Eiezler ,    I,    S.  391 — 97. 

2)  Riezler,  Bd.  I,  S.  113  ff.  Leyer,  Baj.  sind  gleichzeitig  mit  den  Ripuaria 
entstanden,  ohne  von  ihnen  beeinflußt  zu  sein.  Der  älteste  Teil  (Tit.  IV,  V,  VI) 
rührt  vielleicht  von  Dagobert  in  letzter  Fassung  her,  Tit.  VIII — XXII  sind  beein- 
flußt von  der  lex  antiqua  des  i.  westgot.  Königs  christlichen  Glaubens  Rekared, 
der  3.  Teil  rührt  zum  Teil  von  Piphi  her,  der  Bayern  um  750  unterwarf.  Gleich- 
wohl haben  die  ersten  Aufzeichnungen  bereits  unter  Theoderich  {^w  —  ^^iä,),  spätere 
Zusätze  unter  Childebert  (575 — 596)  und  Chlothar  2.  (613 — 622)  stattgefunden.  In 
letzter  Fassung,  wie  oben  gesagt,  rühren  die  ältesten  Teile  von  Dagobert  her. 


-     48     - 

nen  dieselbe  wie  bei  den  Franken,  nur  weichen  die  Ausdrücke 
vielfach  für  die  gleichen  Rechtsbegriffe  voneinander  ab.  Die 
Wirkungen  der  Karolingischen  Verfassung  erstrecken  sich  in  der- 
selben Weise  auf  Bayern.  Die  Lehensverfassung  tritt  hier  zu 
derselben  Zeit  und  mit  denselben  Folgen  ein  wie  im  übrigen 
Deutschland.  Wie  die  nördlichen  deutschen  Gebiete  von  den 
Normannen,  so  wird  Bayern  bis  vor  das  Jahr  looo  von  den  Hun- 
nen- und  Ungarnschwärmen  regelmäßig  und  häufig  heimgesucht 
und  verheert^).  Nach  der  Besiegung  der  Ungarn  im  Jahre  985 
wird  dem  Bischof  Pilgrim  von  Passau  freie  Besiedelung  und  Ko- 
lonisation der  Länder  bis  zur  Leitha  zugebilligt,  welche  in  der 
Folge  auch  sogleich  in  Angriff  genommen  ward  und  neben  dem 
Erzbistum  Salzburg  den  Grundstock  des  heutigen  (Jesterreich  ab- 
gab. Dem  üppig  wuchernden  Raubritter-  und  Fehdevvesen  suchte 
Herzog  Ludwig  im  Jahre  1340  durch  Erlaß  des  ersten  Landfrie- 
dens zu  steuern.  Die  von  ihm  zwei  Jahre  später  erlassenen 
Rechtsbücher  bleiben  in  Geltung  bis  zu  ihrer  Ablösung  durch 
das  Römische  Recht  im  16.  Jahrhundert.  Dieses  seit  1487 
durch  Herzog  Georg  und  seinenKanzlerKolber- 
ger  bevorzugt,  brauchte  bei  dem  erheblichen  Widerstände 
eine  geraume  Zeit,  um  sich  allseitige  Durchsetzung  und  Gel- 
tung zu  verschaffen.  Natürlich  ward  das  R.  R.  nicht  formell 
eingeführt,  aber  seit  dieser  Zeit  ward  es  offensichtlich  von  dem 
Herzog  bevorzugt.  Hier  wie  überall  drang  das  R.  R.  nur  all- 
mählich durch  die  Gerichtspraxis  ein.  In  München  waren  die 
Stadtschreiber  seit  1459  graduierte  Personen.  Von  großer  Be- 
deutung hierfür  war  auch  die  Errichtung  der  Universität  Ingol- 
stadt 1472.     {Ringler,  Bd.  3,  S.  706  ff.) 

Die  wirtschaftliche  Entwicklung  Bayerns  ist  am  Anfang  des 
13.  Jahrhunderts  abgeschlossen.  Lavip7'echt  rnxnmX.  um  diese  Zeit, 
ausgehend  von  den  Verhältnissen  des  Mosellandes,  für  das  ganze 
altdeutsche  Kulturgebiet  eine  Sättigung  des  Landes  an  2).  Die 
Möglichkeit  der  Rodung  war  bis  zur  Grenze  ausgenutzt  und  die 
Städte  waren  überfüllt.  Eine  w-eitere  Bevölkerungsvermehrung 
war  unter  der  herrschenden  Agrarverfassung  und  Wirtschaftsweise 


i)  Seit  995  wurden  die  Ungarn  tatsächlich  zurückgedrängt.  973  schickt  Her- 
zog Geisa  bereits  Gesandte  an  den  König  nach  Quedlinburg.  Pilgrims  Absichten 
auf  ein  Erzbistum  mißlangen,  aber  seine  Ansprüche  auf  Oesterreich  wurden  mit 
Salzburg  geteilt  anerkannt.     Riezler,  I,  S,  971—91. 

2)  Lamprec/it,  Deutsche  Wirtschaftsgesch.  im  MA.,  S.    129  (f. 


—     49     — 

nicht  möglich.  Soweit  nicht  Fehden,  Hungerjahre  und  Seuchen 
Raum  schafften,  war  der  Geburtenüberschuß  auf  die  Auswande- 
rung angewiesen.  Die  Kreuzzüge  und  die  auch  als  Kreuzzüge 
gepredigten  Kolonisationen  im  Osten  und  Südosten  wiesen  den 
Weg  der  Wanderung.  Dies  war  auch  die  einzige  rechtlich  ge- 
stattete Art  der  Lösung  von  der  Scholle  für  das  untertänige  Volk. 
Trotz  der  Bindung  des  einzelnen  warf  doch  die  mit  den  oben 
erwähnten  Aderlässen  zusammenhängende  wirtschaftliche  und  poli- 
tische Unsicherheit  einen  großen  Teil  der  Bevölkerung  auf  die 
Straße,  welche  nun  der  ansässigen  Masse  zur  Last  fiel.  Die  voll- 
ständige erbliche  Bindung  der  Bauern  an  die  Scholle  ward  im 
Laufe  der  Zeit  durch  die  oben  dargelegten  Ursachen  bis  zur  Ein- 
führung des  römischen  Rechts  erleichtert  und  ward  auch  dann 
nicht  in  derselben  Weise  erschwert  wie  in  Norddeutschland  ^). 
Der  Durchführung  der  Zugbeschränkungen  bot  auch  die  terri- 
toriale Zersplitterung  unüberwindliche  Schwierigkeiten  über  einen 
gewissen  Grad  hinaus.  Sobald  sich  Grundherrschaft  und  Terri- 
torium nahezu  deckten,  wie  es  im  schwäbischen  Kreise  oft  ge- 
nug vorkam,  konnte  eine  nachdrückliche  Verfolgung  entlaufener 
Bauern  nicht  durchgesetzt  werden.  Verträge  überSukzeß  (Unter- 
zug) und  gegenseitige  Auslieferung  waren  nur  ein  sehr  proble- 
matisches Hilfsmittel.  Zudem  hinderten  auch  daran  die  zahlreich 
eingestreuten  Reichsstädte,  welche  die  Flüchtlinge  gern  aufnahmen, 
bis  auch  sie  keinen  Platz  mehr  hatten.  Doch  war  unter  Bei- 
bringung des  »Laudemium«  ein  Abziehen  der  zu  Erbpächter- 
Recht  sitzenden  Bauern  rechtlich  erlaubt.  Und  das  Hufengericht 
»Judicium  hubaticum«  gab  dem  Recht  der  Bauern  den  Grund- 
herren gegenüber  doch  einen  gewissen  Nachdruck^). 

Das  einzige  eingesprengte  größere  Territorium  Bayern  hatte 
unter  dem  über  die  Grenze  dringenden  fremden  herrenlosen  Volk 
besonders  zu  leiden^).  1483  und  1489  ergehen  die  ersten  Bett- 
ler- und  Vagantenordnungen  unter  Albrecht  IV.,  1497  Ehehalten- 
und  Tagwerkerordnungen,  1498/1500  ein  Landgebot  gegen  die 
herumziehenden  Landsknechte  und  im  Jahre  150 1  eine  neue  große 
Landesordnung  Herzog  Georgs  in  Anlehnung  an  die  von  1474. 
Auch  die  Landesordnung  Georgs  von  1507  hatte  hierfür  viele 
besondere  Bestimmungen. 

i)  Knapp,  Grundherrschaft  im  südw.  Deutschland,  in  Ztschr.  f.  Rechtsgesch. 
Bd.  22.  2)  Vgl.  Knapp  in  Ztschr,  f.  Rechtsgesch, 

3)  Vgl.  Buchner,  Freyberg,  Riezler. 
Zeitschrift  für  die  ges.  Staatswissensch.     Ergänzungsheft  51.  A 


—     50    — 

Die  Polizeiordnung  des  Jahres  1553  übernimmt  zum  ersten 
Male  die  Bestimmungen  der  Reichstage  über  die  Armenpflege, 
Inländischen  Bettlern  sollen  von  der  Obrigkeit  des  Orts  wo  sie 
geboren  sind,  schriftlich  jährlich  zu  erneuernde  Urkunden  ausge- 
stellt werden  zum  Betteln,  die  nur  für  diesen  Ileimatsbczirk  gel- 
ten. Diese  Vorschrift  wird  1599  von  Maximilian  I.  und  wieder 
1610  durch  die  l^ettelordnung  vom  10.  Dezember  erneuert  und 
verschärft.  ^In  Städten  und  Märkten  sind  sämtliche  Armen  ge- 
nau mit  ihren  Umständen  in  einem  Buch  zu  beschreiben.«  Hier 
ist  eine  Wirkung  der  Reformationsbestrebungen  zu  verzeichnen. 
Leute  ohne  Bürgerrecht  sind  auszuweisen.  Tagwerkern  soll  kein 
Bürgerrecht  mehr  erteilt  werden.  Auf  die  Ehen  soll  Acht  gege- 
ben werden.  1  lierdurch  soll  sichtlich  den  Grundsätzen  des  Rö- 
mischen Rechts  Geltung  verschafft  werden;  zugleich  kündigen 
sich  die  ersten  Wirkungen  der  Armenverordnungen  auf  die  per- 
sönliche Freiheit  an.  Das  Landrecht  von  161 6  bestimmt  das- 
selbe, bemüht  sich  aber  auch,  der  Verarmung  vorzubeugen  durch 
Verbot  der  Parzellierung  und  durch  Heiratsbeschränkungen '). 

Das  gleichzeitige  Landrecht ^)  Tit.  4  Art.  6  und  Tit.  40  Art.  9 
sowie  die  »erklärte  Landesfreiheit«  Tit.  3  Art.  10  und  li  besei- 
tigen die  privatrechtlichen  Heiratsverbote  der  Grundherrn,  die 
Hintersassen  können  heiraten  zwar  mit  Wissen  der  Herrn,  aber 
sonst  frei  und  »sollen  die  Herren  die  aignen  Leute  wegen  sol- 
cher Heuraten  nit  beschweren«.  Nach  der  Landes-  und  Polizei- 
ordnung Buch  4  Tit.  10 — 12  dürfen  Dienstboten,  solange  sie  im 
Dienste  sind,  nicht  heiraten  oder  anläßlich  der  Heirat  nicht  früher 
aus  dem  Dienst  treten.  Das  Heiraten  »junger  Ehehalten,  die 
nachmalen  in  die  Winklherberg  ziehen«,  soll  nicht  geduldet  wer- 
den. Auch  sollen  sie,  »wo  dieselben  jungen  winkl  Eheleut  er- 
funden, außgetrieben,  w'eiter  nit  geduldet  noch  zugelassen  wer- 
den <'.  Geistliche  dürfen  Trauungen  nur  vornehmen,  wenn  diese 
Leute  »einen  Schein  fürweisen,  daß  die  Obrigkeit  ihnen  dieses 
bewilliget,  bei  welcher  Bewilligung  die  Obrigkeiten  den  gemeinen 
Nutzen,  Pflantzung,  Zucht,  Ehr  und  Ehrbarkeit  wol  in  obacht 
nemmen  sollen«.     Endlich  sollen  die   »Bürgerliche  Obrigkeiten  in 


i)  1610  wird  den  Abbrändlern  und  Türkengefangenen  das  Betteln  mit  obrig- 
keitlichen Urkunden  gestattet,  1655  ebenso  den  armen  Landsknechten  und  alten 
Soldaten  der  kurbayrischen  oder  der  Reichsarmee.  Freyberg,  Gesch.  d.  pragmati- 
schen Gesetzgebung  und  Staatsverwaltung,  Bd.  2,  S.   41  —  59,    1836. 

2)  Vgl.  Riedel,  Einleitung  zum  Kommentar   z.  Ges.  von   1868. 


—     51     —      . 

Stätten  und  Märckten,  die  leichtfertige  Heurat  nit  gestatten,  auch 
solche  unvermögliche  Leut,  die  ihr  Nahrung  one  Beschwer  der 
andern  Burger  nit  haben  künden,  zu  Bürgern  nit  aufnemmen, 
noch  sie  in  Stätten  und  Märckten  unterkommen  lassen«  ^). 

Buch  5  behandelt  die  Bettler  selbst  und  unterscheidet  zwi- 
schen in-  und  ausländischen.  Den  inländischen,  »den  recht  wis- 
sentlich armen  nothdürfftigen  Personen,  die  sich  Alters,  Krankheit 
und  anderer  Gebrechen  halb  one  das  Almosen  nit  erneren  kön- 
den  allein  an  den  Orten,  da  sie  geboren  seynd  oder  bisher  lang 
ire  Wonung  gehabt«  ist  das  Betteln  gestattet.  Alle  Leute,  >die 
nicht  Haimat  haben  noch  sich  sonst  von  den  ihrigen  zu  unter- 
halten« sind  den  Ausländern  gleich  zu  achten.  Diese  Bestim- 
mung ist  eine  vorweggenommene  Umkehrung  des  späteren  hei- 
matrechtlichen Satzes  :  jeder  Bayer  muß  eine  Heimat  haben  — 
wer  keine  Heimat  hat  ist  eben  kein  Bayer  —  und  nur  aufzu- 
fassen als  Vermutung  des  Mangels  der  Staatszugehörigkeit.  Im 
übrigen  liegt  der  RR.  Grundsatz  vor :  Inkolat  begründet  durch 
Geburt  und  Aufenthalt,  und  zugleich  die  erste  Beschränkung  der 
Aufenthaltsfreiheit.  Diese  aus  armenrechtlichen  und  sicherheits- 
polizeilichen Bedenken  gemischte  Maßnahme  ist  aber  noch  nicht 
zum  eigentlichen  obrigkeitlich  verwilligten  Aufenthalt  ausgebildet. 

Einen  Schritt  weiter  geht  die  Gesetzgebung  des  Jahres  1726. 
Die  Landgebote  von  1627  und  1629  bleiben  auf  dem  Stand- 
punkt von  1616  stehen.     Ihr  unbedingtes  Bettelverbot  ward  zwei 

i)  Vorbeugend  wird  bestimmt:  3.  Art.  i~3,  Tit.  10.  »Der  gemaine  Mann 
soll  seine  Kinder  nicht  in  Müßiggang  aufwachsen  lassen,  sondern  in  Lernung, 
Dienst  und  Arbeit  unterbringen«  und  im  Unvermögensfall  der  Obrigkeit  dies  mitteilen. 
Zugunsten  der  Bauernkinder  wird  sogar  der  Zunftzwang  gelockert.  Vor  allem  aber 
wird  der  Parzellierung  entgegengewirkt.  Bd.  4,  Tit.  12,  Art.  8.  Söldenhäusl,  dabei 
weder  Wiesen  noch  Wasser  sein  und  welche  »nit  durch  richtige  Bauersleut,  sondern 
allein  durch  dergleichen  aus  Leichtfertigkeit  zusammenheuratende  heillose,  unver- 
mögliche und  den  benachbarten  ganz  beschwerliche  und  schädliche  Personen  be- 
wohnt werden«  sollen  nicht  mehr  aufgerichtet  werden,  »es  künden  denn  zu  den- 
selben soviel  Wiesen  und  Acker  füglich  gelegt  werden,  dabei  sich  ein  Söldner 
ziemlich  erhalten  und  sein  Nahrung  one  Beschwer  und  Schaden  finden  möcht«. 
Auch  soll  »kein  Hof  oder  ein  gantzes  Gut  in  Sölden  zerrissen,  sondern  allein  ein- 
schichtige, keinem  Hof  oder  gantzen  Guet  einverleibte,  Stuck  zu  den  neu  erbauten 
Sölden  gelegt  werden«,  lieber  die  bäuerliche  Besitzzersplitterung  im  Erbgang  in 
Schwaben  vgl.  Knapp  in  Zeitschr.  f.  Rechtsgesch.  Die  »gemähneten,  Bauern,  Hüb- 
ner, Lehenbauern  oder  Lehner«  stehen  gegenüber  den  »Söldnern,  Häuslern,  Köh- 
lern« (fränk.).  Die  Bauern  sind  spannfähig,  diese  haben  nur  ein  Hausanwesen  und 
wenig  Land  »Seide.  KobeU,  entsprechen  also  den  ostdeutschen  Katenleuten,  in 
abhängigem  und  Taglöhnern  in  freiem  Recht. 

4* 


—     52     — 

Jahre  später  als  undurchführbar  wieder  aufgehoben.  1699  be- 
müht man  sich  vergeblich,  nach  englischem  ^)  Muster  durch  Ar- 
beitshäuser und  Errichtung  staatlicher  Wollhäuser  den  Bettel  zu 
bekämpfen.  Das  Mandat  vom  13.  September  1726^)  bestimmt 
nun:  »i.  Wenn  ein  Armer  sich  extra  locum  nativitatis  10  bis 
12  Jahre  aufgehalten  hat  und  hierauf  wieder  eben  solange  va- 
giert  hat,  so  ist  er  nicht  an  seinen  Geburtsort  zu  verweisen,  son- 
dern an  den  Ort,  wo  er  das  decennium  ersessen  hat.  2.  Wenn 
die  Kinder  eines  ad  locum  nativitatis  verwiesenen  Armen  an  ver- 
schiedenen Orten  geboren  sind,  so  sollen  sie  gleichwohl  der  Ge- 
meinde des  Geburtsorts  ihres  Vaters  eingeschafft  werden,  wenn 
ihrer  aber  viel  sind,  verteilt  werden.  6.  Ledige  Menscher,  welche 
Kinder  haben,  sind  in  Dienst  zu  schaffen,  und  die  Kinder  an  den 
Ort  ihrer  —  der  Mutter.?  —  Geburt  einzuweisen.  3.  Tagwerker 
soll  man  dort,  wo  sie  sich  mit  Arbeit  fortbringen,  nicht  etwa 
ausweisen  dürfen  aus  Furcht,  daß  sie  das  decennium  ersitzen 
möchten.  4.  Solche,  deren  Geburtort  nicht  zu  ermitteln  ist,  sind 
dort,  wo  sie  sich  zuletzt  aufgehalten  haben,  durch  Concurrenz 
verschiedener  Orte  zu  unterhalten.  5.  Die  Armen,  welche  mit 
Konsens  geheiratet  haben,  gehören  ad  locum  nativitatis  oder  dort- 
hin, wo  sie  das  domicilium  ersessen  haben.«  Hieraus  geht  her- 
vor, daß  die  Geburt  im  Gegensatz  zum  gemeinen  Recht  als  Er- 
werbstitel des  Inkolats  in  Bayern  nicht  anerkannt  wird.  Maß- 
gebend bleibt  der  väterliche  Wohnsitz.  Für  diesen  aber  ist  noch 
nicht  die  obrigkeitliche  Erlaubnis  der  Niederlassung,  sondern  nur 
die  Ersitzung  durch  das  Dezennium  bedingend.  Der  Einfluß  des  lan- 
desherrlichen »regale  majus«  zeigt  sich  in  der  Vorschrift  Nr.  3. 
Auch  die  Ehebewilligung  tritt  als  Erwerb  der  Heimat  zurück 
gegen  das  Dezennium.  Endlich  wird  die  erste  Andeutung  spä- 
terer Armenverbände  in  der  Konkurrenzpflicht  deutlich^). 

Voll  ausgebildetes  neues  Recht  tritt  uns  entgegen  in  der  Ge- 
setzgebung Maximilians  des  Dritten  vom  Jahre  1751/53*).    Die  Ge- 

i)  Vgl.  Aschroit,  Englisches  Armenwesen.  Das  Bettelmandat  von  17 13  wie- 
derholt dies  nur.  Außerdem  geht  aus  ihm  hervor,  daß  durch"  gegenseitige  Zu- 
schiebung  von  Bettlern  zwischen  Oesterreich  und  Bayern  ein  unhaltbarer  Zustand 
eingerissen  war.     Vgl.   Freyberg.  2)  Wörtlich  nach  Freyberg  Bd.  2,  S.   55. 

3)  Freyberg  führt  für  die  Zwischenzeit  nur  noch  die  Errichtung  einer  Armen- 
deputation und  einer  Lotterie  aus  dem  Jahre  1745  an.  Das  Urkundenmaterial  selbst 
für  diese  ältere  Zeit  war  mir  in  der  Berliner  Bibliothek  nicht  zugänglich. 

4)  Sie  besteht  in  dem  Cod.  Maxim,  criminal.  175 1,  Cod.  M.  juris  Bav.  judi- 
ciarii   1753  und  dem  Landrecht,  C.  M.  civilis    1756. 


-     53     — 

richtsordnung  über  die  gerichtliche  Zuständigkeit  sagt  in  den  ein- 
leitenden §§  :  »Wo  der  Vater  seinen  beständigen  Wohnsitz  hat, 
da  seynd  auch  seine  rechtmäßigen  Kinder  domiciliert,  und  dieses 
heißt  zu  Latein:  forum  originis«,  das  forum  domicilii  aber  wird 
von  dem  »häuslichen  Anwesen«  hergeleitet.  »Hat  der  Vater 
selbst  keinen  rechtmäßigen  Wohnsitz,  so  ist  bei  Kindern  mit  dem 
domicilio  auf  den  Ort  der  Geburt  zu  sehen.  Dasselbe  bleibt  auch 
einem  jeden  bevor,  so  lange  er  sich  nicht  selbst  freiwillig  oder 
aus  Noth  anderwärts,  in  der  Absicht  allda  zu  wohnen,  wirklich 
niederläßt«.  Die  Angehörigen  folgen  dem  Familienvater.  Nur 
Bevormundete  und  Leibeigene  sind  in  der  Freizügigkeit  beschränkt. 
Das  Bürgerrecht  berechtigt  allein  zum  Zunft-  und  Meisterrecht, 
wird  seinerseits  bedingt  durch  »soviel  an  Gut,  Geld,  Kunst  und 
Profession,  daß  er  sich  mit  Weib  und  Kind  ehrlich  zu  ernähren 
vermöge«.  Der  Kommentator  und  Bearbeiter  dieser  Gesetze, 
Kreittmayr,  bemerkt  zu  dem  Domizil,  daß  man  nicht  auf  das 
Domizil  des  Ahnherrn  zurückgehen  solle,  »damit  nicht  ein  pro- 
gressus  in  infinitum  daraus  entstehe,  und  man  endlich  gar  ad 
originem  Adami  zurückzugehen  bemüßigt  sei«,  man  soll  daher, 
wenn  der  Vater  kein  Domicilium  fixum  hat,  bei  dem  Domizil  der 
Kinder  sofort  auf  den  Geburtsort  sehen.  Eine  Veränderung  des 
domicilium  originarium  muß  in  jedem  Falle  erst  bewiesen  werden. 
Hier  wird  also  die  Geburt  (domicilium  necessarium)  dem  erwor- 
benen Domizil  (dom,  voluntarium)  schon  fast  gleichgeachtet. 
Der  Inhalt  des  Domizils  ist  die  armenrechtliche  Heimat ;  die  Bet- 
telverbote haben  lediglich  sicherheitspolizeilichen  Charakter,  die 
Heimat  selbst  ist  nicht  mehr  frei  zu  wählen.  »Was  die  jura  des 
verbotenen  Betteins  halber  determinieren  oder  sonst  specialiter, 
diene  noch  zu  keiner  Generalregul  und  sei  mithin  in  denen  an- 
deren unbenannten  Fällen  —  Gemeindeangehörigkeit  überhaupt, 
Rehni  —  nicht  auf  die  Zeit  allein,  sondern  auf  den  Ort,  die  Per- 
son, deren  Kondition  und  andre  Umstände  das  Augenmerk  zu 
richten«  ^).  Da  die  Heimat  ersessen  werden  kann,  so  ist  hier- 
durch das  freie  Aufenthaltsrecht  nach  Kreittmayrs  maßgeblicher 
Auffassung    doch    beschränkt,    d.  h.  da    die  Obrigkeit   auf  diese 


i)  Vgl.  Riedel,  Einl.  S.  7  fF.  Wir  können  mit  Riedel  das  Domizil  als  Heimat 
auffassen,  denn  da  nur  in  Gerichts-Ordnungen  hierüber  Bestimmungen  getroffen 
werden  und  die  Bettel-Ordnungen  nach  Kreittmayr  nicht  maßgebend  sind,  so  hat, 
übrigens  auch  nach  RR.  Observanz,  diese  Bestimmung  auch  für  das  öffentliche 
Recht  zu  gelten. 


-     54     — 

Umstände  sehen  soll,  von  deren  Erlaubnis  abhän^M^f.  Uebcr  die 
Folijen  der  Verheiratung  spricht  sich  keins  der  Maximilianschen 
Gesetze  eingehender  aus. 

Die  Kriminalgesetzgebung  enthielt  auch  eine  neue  Bettler- 
ordnung mit  drakonischen  Vorschriften.  Ohne  auf  die  Einzel- 
heiten einzugehen,  sei  hier  nur  Buc/uiers  Urteil  in  seiner  Baye- 
rischen Geschichte  zitiert:  »Dieses  Gesetzbuch  ist  nicht  mit  Dinte, 
sondern  mit  Blut  geschrieben  gleich  den  Drakonischen.  AIso- 
bald  nach  dem  Erscheinen  dieses  Gesetzbuches  wurde  das  von 
Spitzbuben  so  ziemlich  leere  Land  Bayern  auf  einmal  voll  Gau- 
ner, Schelmen,  Diebe,  Mörder  und  Verbrecher  aller  Art.  Schergen, 
Schinder  und  Scharfrichter  hatten  jahraus  jahrein  in  allen  Städten, 
IMärkten,  Gerichten  mit  Torquieren,  Henken,  Köpfen,  Rädern,  Ver- 
brennen und  Vierteilen  zu  tun.  Nie  sind  in  einem  Lande  mehr 
Menschen  hingerichtet  worden  als  in  den  20  Jahren,  in  welchen 
dieses  Gesetzbuch  galt  ....  Und  doch  wurde  die  Zahl  der  Ver- 
brecher nicht  minder,  sondern  immer  mehr,  denn  das  Volk  ver- 
wilderte, und  verboste  und  achtete  am  Ende  das  Leben  für  nichts 
mehr  ....  Nach  langem  Würgen  fühlte  man  endlich,  daß  dies 
der  wahre  Weg  zur  Reinigung  des  Landes  von  Missetätern  nicht 
sei  und  ließ  nach  von  der  übertriebenen  Härte,  obgleich  das 
Gesetz  nicht  abgeändert  wurde,  sondern  bis  gegen  Ende  des 
vorigen  Jahrhunderts  in  Geltung  blieb.«  Es  ist  nicht  etwa  Vor- 
eingenommenheit des  aufgeklärten  Historikers  gegen  Maximilian, 
welche  ihn  zu  diesem  Urteil  verleitejt;  im  Gegenteil  wird  er  ihm 
vollkommen  gerecht  und  rühmt  die  Gerichtsordnung  ganz  be- 
sonders, sie  bringe  die  Vorschriften  des  RR.  in  klarer  und  ver- 
ständlicher Form  zum  Ausdruck.  Allerdings  hat  er  auch  diesem 
gegenüber  seine  Bedenken  ^).  Wir  müssen  also  seiner  Schilde- 
rung wohl  Glauben  schenken. 

Das  Interesse,  welches  die  Regierung  an  der  Landeskultur 
nimmt,  ist  in  Bayern  nicht  geringer  als  in  den  anderen  Geltungs- 
gebieten des  gemeinen  Rechts ;  davon  zeugen  allein  schon  die 
vielen   Verordnungen,    welche    hierüber    ergehen;    zu    ihnen   sind 


I)  Bd.  9,  S.  243  und  247.  »Eine  schwere  Beschuldigung  ist  die,  daß  die 
nur  auf  Herkommen  bisher  beruhenden  drückenden  Rechte  der  privilegierten  Stände 
durch  Einrücken  in  CC.  M.  eine  bleibende  gesetzliche  Kraft  erst  erhalten  haben. 
Verhältnisse  des  Standes  und  der  Geburt  beschränken  die  Freiheit  der  ehelichen 
Verbindungen,  Gesamtgut  eines  Geschlechtes  die  Erbfolge,  Jagdrechl  und  Ober- 
eigentum den  freien  Gebrauch  des  Landeigentums.  Selbst  vom  Erwerb  der  Zivil- 
eigenschaft spricht  das  Gesetzbuch.« 


—     55     — 

auch  die  Bettelordnungen  von  1770  und  1780  zu  zählen.  Diese 
weichen  von  der  gemein-deutschen  Entwicklung  ab,  indem  sie  die 
Freizügigkeit  mit  Rücksicht  auf  die  Armenlast  noch  mehr  be- 
schränken. Auch  das  19.  Jahrhundert  hält  in  Bayern  hieran  noch 
fest').  Den  Bettlern  wird  »weiters  aufgetragen,  sich  sogleich  und 
längstens  in  dem  oben  bestimmten  I4tägigen  Termin  an  ihr  Geburts- 
ort oder  rechtmäßigen  Wohnsitz  zu  begeben  <■.  Die  über  den  ur- 
sprünglichen Aufenthaltsort  vielfach  entstandenen  Zweifel  werden 
dahin  erläutert,  »daß  unter  dem  domicilio  originario  nicht  sowohl 
der  Ort,  wo  man  geboren  ist,  als  vorzüglich  der  Ort,  wo  der  Vater 
domiziliert  war,  verstanden  ist,  und  sich  dieses  domicilii  jeder- 
mann zu  erfreuen  hat,  bis  er  gleichwohl  in  einem  andern  Ort  ein 
Domizil  gemäß  der  Rechten  und  Landesgesetzen  erlangte.  Es 
hat  also  keine  Gemeinde  —  noch  minder  eine  Obrigkeit  jemandem 
das  domicilium  originarium  zu  verweigern,  der  nicht  rechtmäßiger- 
weise anderer  Orten  eins  erhalten,  wenn  er  schon  10,  20  Jahre 
von  seinem  ursprüngUchen  Aufenthaltsort  abwesend  gewesen«.  Das 
Heimatrecht  erlischt  also  nicht,  bevor  ein  neues  erworben  ist. 
Eine  Ersitzung  findet  nicht  mehr  statt,  sondern  nur  noch  das 
domicilium  justum,  d.  i.  mit  polizeilicher  Erlaubnis.  Dies  erhellt  aus 
dem  Privilegium  favorabile  der  Dienstboten.  Diese  erwerben  die 
Heimat  durch  15jährigen  Dienst  an  einem  Ort,  Personen,  welche 
bei  öffentlicher  Hilfeleistung  verunglücken,  sofort.  Jeder  Zweifel 
wird  behoben  durch  den  von  Weber  mitgeteilten  Abs.  9  der  BO. 
»Die  bloße  Vorschützung,  an  einem  Ort  längere  Jahre  gedient 
oder  gearbeitet  zu  haben,  soll  niemand  das  jus  domicilii  ein- 
räumen; sohin  sind  jene,  welche  nach  verlorenen  Kräften  sich 
nicht  mehr  mit  Dienen  ernähren  können,  an  ihr  durch  Geburt 
erlangtes  Aufenthaltsort  zu  verweisen.«  Vorzüglich  aber  an  das 
Domizil  des  Vaters  nach  Ziffer  7. 

Wichtiger  für  die  Rechtsbildung  noch  sind  die  Bestimmungen 
derselben  BOO.  über  die  Ehen.  Ziff.  11:  »Unansässige  Leute 
haben  sich  an  das  Ort  zu  begeben,  wo  sie  mit  ordentlicher 
weltlicher  Erlaubniß  kopuliert  worden«.  Personen,  die  ohne 
solche  Erlaubnis  geheiratet  haben,  sowie  die  sich  unter  Um- 
gehung der  heimischen  Verbote  im  Auslande  verheiratet  haben, 
sind  aus  dem  Lande  zu  weisen.  Geistliche,  welche  eine  Trau- 
ung ohne  Erweis  der  obrigkeitlichen  Erlaubnis  vorgenommen  haben, 
müssen  diese  Leute  im  Falle  der  Verarmung:  bis  zur  Grenze  von 


I)   Weber,  Neue  Gesctzs.,   S.    191  IT.     Riedel  S.   10  ff. 


-     56     - 

loo  Rthl.  alimenticron.  Den  Beamten,  sowie  den  Stadt-  und 
Marktobrigkeiten  wird  befohlen,  »keine  sich  zu  ernähren  unver- 
mögende Leute  zusammenheuraten  zu  lassen,  auch  den  Leer- 
häuslern, Innleuten  und  Tagwerken,  Handlangern  und  andern  der- 
gleichen ohne  Einstimmung  der  Gemeinde,  welche  alsdann  im 
Falle  des  Bedürfnisses  zur  Verpflegung  verbunden  wäre  —  der 
Gemeinde  also  des  lleiratsorts  für  Unansässige,  sonst  des  ordent- 
lichen Domizils,  Ziff.  1 1  —  keine  I  leurats-  oder  Aufenthaltsbe- 
willigungen zu  geben«  —  gegen  die  fehlig  erfundenen  Obrig- 
keiten soll  auf  die  nämliche  Art  wie  gegen  die  Pfarrer  verfahren 
werden.« 

Die  Rechtslage  ist  also  die,  daß  in  erster  Linie  domicilium 
justum,  sodann  voluntarium  justum  durch  Aufnahme  und  Erlaubnis, 
unter  Fortfall  der  Ersitzung  (Verheiratung  nur  als  besondere  Form 
der  Erlaubnis)  und  in  letzter  Linie  Geburt  die  Heimat  begründen. 
Die  Heiratsbewilligung  ist  völlig  in  die  Macht  der  interessierten 
Gemeinde  gelegt.  F'ür  die  Erteilung  der  Heiratslizenz  hatte  jede 
Person  den  Brautgulden  (2  Fl.)  ad  fundum  pauperum  zu  ent- 
richten, der  aus  den  quarta  pauperum,  gewissen  Lustbarkeits- 
steuern, Strafgeldern  vom  Staat  für  seine  Hilfe  gesammelt  wurde. 

Die  Entwicklung  in  den  übrigen  Staaten  Süddeutschlands  ^)  war 
in  bezug  auf  das  Armenrecht  und  die  Gemeindeangehörigkeit  von 
der  bayerischen  nicht  wesentlich  verschieden,  in  einigen  etwas 
strenger,  in  anderen  etwas  milder.  Ansbach  und  Bayreuth  wurden 
nach  dem  Preußischen  Allg.  Landrecht  regiert.  Schwierigkeiten 
machte  hier  nur  die  interterritoriale  Regelung  betreffs  der  Aus- 
länder. Von  dem  Verhältnis  zwischen  Bayern  und  Oesterreich 
war  schon  oben  die  Rede.  Seit  dem  17.  Jahrhundert  bildete  sich 
in  Oesterreich  eine  eigentümliche  Methode  heraus,  der  Bettler 
sich  zu  entledigen,  der  Wiener  Schub.  In  jedem  Jahr  wurden 
an  einem  Tage  alle  ausländischen  Bettler  in  Wien  gesammelt  und 
an  die  bayerische  Grenze  geschafft,  dort  von  der  bayerischen  Re- 
gierung übernommen  und  in  den  fränkischen  Kreis  abgesetzt.   In 


l)  Als  Beispiel  sei  hier  noch  die  Württembergische  Landesordnung  von  1552, 
wiederholt  1567  und  162 1  erwähnt.  Dort  hieß  es  Tit.  2  §  6:  >Es  soll  auch  fürder 
keiner,  was  Stands  oder  Wesens  der  sey,  weder  in  Städten,  noch  Flecken  Unseres 
Herzogtumbs  ohne  Unsere  Vorwissen  und  Beweiche  zu  wohnen  eingelassen  oder 
geduldet  werden,  er  sey  dann  als  zu  Burger  angenommen.«  §  i  :  >Es  soll  auch 
.  .  .  keiner  angenommen  werden,  er  bring  zuvor  sein  Mannrecht,  gebe  das  Bürger- 
recht und  thue  auch  die  Erbhuldigung«. 


—     57     — 

dem  Gewirr  von  kleinen  und  kleinsten  Staaten  verlief  sich  dann 
der  Schwann. 

Diesem  auf  die  Dauer  unerträglich  werdenden  Zustande 
wurde  endlich  abgeholfen  durch  den  fränkischen  Kreisschluß  ^) 
vom  24.  März  1791  zu  Nürnberg:  Die  höchst  und  hohen  Herren, 
Fürsten  und  Stände  des  löblichen  fränkischen  Kreises  kommen 
»in  nachfolgenden  allgemeinen  Grundsätzen  überein,  daß  jedes 
Land  und  jeder  Ort  in  demselben  seine  Armen  zu  versorgen  habe, 
durchaus  kein  Bettel  geduldet  werden  dürfe  und  jeder  Arbeits- 
fähige, der  um  sich  zu  ernähren  kein  eigenes  Vermögen  hat,  zur 
Arbeit  anzustellen  sei.«  »2.  Erklären  sie  für  einen  einheimischen 
Armen,  der  auf  Versorgung  Ansprüche  zu  machen  hat,  und  von 
seiner  Ortsherrschaft  zur  Arbeit  anzuhalten  ist,  den  Gemeinde- 
genossen und  Schutzverwandten  des  Orts,  auch  denjenigen,  wel- 
cher in  einem  der  nämlichen  Herrschaft  gehörigen  Dorfe  oder 
Amte  6  Jahre  lang  geduldet  worden  ist  (insbesondere  Dienst- 
boten, Hirten  usw.).  Wessen  Aufenthalt  kürzer  war,  soll  zunächst 
an  seinen  vorigen  Aufenthaltsort  und  wenn  er  dort  nicht  durch 
6  Jahre  aufgenommen  war,  an  seinen  Geburtsort  verwiesen  wer- 
den.« Die  übrigen  Bestimmungen  decken  sich  mit  den  baye- 
rischen. Alle  anderen  Bestimmgründe  der  Heimat  fallen  künftig 
fort.  Die  Frage  nach  der  Geltung  dieser  Bestimmungen  beant- 
wortet Riedel^)  nach  der  Praxis  dahin,  daß  sie  nicht  etwa  nur 
für  den  Ueberweisungsverkehr  heimatloser  Subjekte,  sondern  auch 
für  alle  internen  bayerischen  Streitigkeiten  entscheidend  waren, 
mithin  das  ganze  bisherige  Armenrecht  aufhoben. 

Den  Erfolg  dieser  Maßnahmen  ersehen  wir  am  besten  aus 
einer  Würzburgischen  ^)  Verordnung  vom  8.  Juni  179I,  worin  es 
heißt:  »Nachdem  jetzt  alle  jene  Fremde  für  Einheimische  gehal- 
ten werden  sollen,  welche  6  Jahre  lang  in  einem  Land,  Dorf  oder 
Amt  geduldet  worden  sind,  dergleichen  Leute  vordersamst  den 
Beweis  ihres  angeblichen  Staatenaufenthalts  zwar  immer  erst  bringen 
müssen ;  um  so  mehr  aber  verbieten  wir  ein  für  alle  Mal,  einem 
Fremden    auf   längere    Zeit    und    ohne    obrigkeitliche    Erlaubnis 

1)  Löning  in  Bluntschlis  StWB.  erwähnt  ein  ähnliches  Abkommen  des  Kon- 
stanzer Viertels  im  Schwäbischen  Kreise  vom  Jahre  1783  (welches  diesem  darnach 
wahrscheinlich  als  Vorbild  gedient  hat),  wonach  als  Kriterium  der  Heimat  der  zwei- 
jährige Aufenthalt  diente. 

2)  Riedel,  S.  22.      Weber,  S.   192. 

3)  Patent  des  Bischofs  von  Augsburg  14.  5.  1737  und  andere  schon  früher 
ebenso.      Weber,  ebenda  S.    192  ff. 


-     58     - 

irgendwo  in  unserem  Lande  einen  Aufenthalt  oder  eine  Unter- 
kunft zu  geben,  als  nach  Verlauf  dieser  6  Jahre  zuletzt  der- 
gleichen Aufgenommene  dem  Ort  und  Lande  zu  Unterhalt  und 
Last  fallen.  Wir  wollen  deswegen  unsere  sämtlichen  Obrigkeiten, 
Gemeinden  und  guten  Untertanen  hierüber  um  so  aufmerksamer 
machen,  als  ihr  eigenes  Interesse  am  meisten  hierunter  befangen 
ist.«  Aehnlich  werden  auch  die  anderen  betroffenen  Stände  ihre 
Maßnahmen  eingerichtet  haben,  so  daß  die  in  diesem  Gebiet  un- 
umgängliche interterritoriale  Freizügigkeit  noch  mehr  als  zuvor 
beschränkt  gewesen  sein  dürfte.  Diese  Wirkung  trat  um  so  sicherer 
ein,  als  es  für  »Beständner,  Knechte,  Mägde,  Dienstboten,  Ge- 
meindediener, Schäfer«  usw.  beim  alten  blieb.  Nur  für  die  Pächter 
wurde  eine  Ersitzung  in   lo  Jahren  zugebilligt. 

Dieses  ist  der  Abschluß  des  i8.  Jahrhunderts  und  zugleich 
ein  bezeichnender  Uebergang  in  das  19.,  dessen  Anfang  wie  überall 
so  auch  in  Bayern  eine  Reihe  von  wirtschaftlichen  sozialen  Re- 
formen sah,  welche  tief  in  das  private  wie  öffentliche  Recht  ein- 
schnitten. Die  Reform  der  inneren  Verwaltung  in  Bayern  ging 
von  der  Absicht  aus:  »das  Grundeigentum  und  die  Gewerbe  mehr 
und  mehr  zu  entfesseln  und  die  Herstellung  eines  ordentlichen 
Nahrungsstandes  zu  erleichtern  ....  die  Hindernisse  des  Kunst- 
fleißes zu  beseitigen  und  die  Ausbildung  in  den  Gewerben  zu 
befördern«^).  Die  Zünfte  wurden  ebenso  wie  in  derGewO.  1867 
ihrer  verwaltungsrechtlichen  Bedeutung  entkleidet,  der  Zunftzwang 
aufgehoben,  Maßnahmen  zur  Hebung  der  gesamten  Landeskultur 
und  inneren  Kolonisation,  welche  übrigens  auch  schon  in  den 
BOO.  von  1770/80  befohlen  worden  war,  aufs  neue  getroffen,  und 
wesentliche  öffentliche  und  private  Beschränkungen  der  persön- 
lichen Freiheit  aufgehoben.  Die  Regierung  des  Kurfürsten  und 
späteren  Königs  Max  Joseph  I.  ging  mit  einer  bemerkenswerten 
Entschiedenheit  vor,  und  bis  zum  Jahre  1825  ist  die  liberale  Rich- 
tung im  Vordringen,  von  wo  an  sie  allerdings  wieder  bis  in  die 
50er  Jahre  zurückgedrängt  wird. 

Die  Konstitution  vom  i.  Mai  1808  hebt  im  Artikel  3  die 
Leibeigenschaft  auf  und  verheißt  weitere  Freiheiten.  Der  Ein- 
fluß der  französischen  Gesetzgebung  auf  das  zum  Rheinbund  ge- 
hörige Bayern  ist  nicht  zu  verkennen.  Ganz  klar  weist  darauf 
hin    die   VerO.    vom    22.    Februar    1808,     die    Armenpflege    be- 

i)  Vgl.  Vortrag  z.  Ges. -Entw.  Verh.  d.  2.  Ständekamm.,  1825,  Beilagebd.  4, 
S.   21  ff.,  nach  Riedel  S.   32. 


—     59     - 

treffend^),  welche  die  Armenpflege  völlig  in  der  Hand  des  Staates 
zentralisieren  will,  hauptsächlich  wohl  um  den  Einfluß  der  Kirche 
zu  beseitigen.  »Der  Anspruch  auf  Armenpflege  setzt  im  allge- 
meinen voraus,  für  ein  jedes  Individuum,  daß  es  entweder  durch 
Geburt  oder  durch  das  Domizil  oder  durch  die  Verehelichung 
dem  Reiche  angehört.  Die  wirkliche  Gewährung  der  Armenpflege 
fällt  sodann  auf  jenen  Kommunaldistrikt  im  Reiche,  mit  welchem 
das  Individuum  aus  einem  jener  vorstehenden  3  Titel  in  beson- 
derem Verbände  steht.«  Der  praktische  Erfolg  dieser  VerO.  ist 
eigentlich  nur  der,  daß  die  Armenpflege  als  besondere  Aufgabe 
des  Staates  anerkannt  wird,  was  sie  ja  im  letzten  Grunde  vorher 
in  eminentem  Maße  gewesen  war.  Uebrigens  wurde  sie  durch 
VerO.  vom  17.  November  18 16  wieder  aufgehoben.  Wichtiger 
ist  die  VerO.  vom  8.  Juli  1808,  die  Beförderung  der  Heiraten  auf 
dem  Lande  betreffend  2).  Die  Einwilligung  oder  auch  nur  An- 
hörung der  Gemeinden  bei  der  Verehelichung  unangesessener 
Leute  fällt  fort.  Dagegen  fällt  der  Konsens  jetzt  der  Polizei- 
obrigkeit zu,  in  deren  Bezirk  die  Heiratenden  mit  hinreichender 
Aussicht  auf  Nahrung  ihren  Wohnsitz  nehmen.  Die  Obrigkeit 
bleibt  im  Falle  der  Verarmung  infolge  einer  von  ihr  bewilligten 
Ehe  haftbar  wie  früher.  Die  Heiraten  der  Untertanen,  welche 
»sich  über  Sittlichkeit  und  Arbeitsamkeit  ausweisen,  sollen  nicht 
erschwert  und  nur  dann  untersagt  werden,  wenn  körperliche  Un- 
fähigkeit zur  Ehe  oder  zur  Arbeit  vorhanden,  oder  mit  Rück- 
sicht auf  den  früheren  Lebenswandel  der  Verlobten  Gefahr  für 
den  Familienstand  oder  die  bürgerliche  Gesellschaft  vorliegt. 
Zifif.  4.«  Gebühren  und  Bedingungen  fallen  fort.  »Diejenigen, 
welche  im  Bettel  herumziehen  oder  zur  Arbeit  unfähig  geworden 
sind,  sollen  ohne  Rücksicht  darauf,  wo  sie  geheiratet  haben,  an 
den  Ort  ihrer  Ansässigkeit  oder  ihres  Wohnsitzes  oder  in  deren 
Ermangelung  an  ihren  Geburtsort  gebracht  werden.  Ziff.  13.« 
Für  den  Aufenthalt  in  den  Städten  bleibt  es  bei  den  alten  engen 
Bestimmungen. 

Das  Gemeindeedikt  ^)  vom  14.  September  1808  erklärt  im 
§  3  alle  Einwohner  der  Gemeinde,    welche    in  der   Markung  be- 

1)  Weber  S.    192. 

2)  Weber  Bd.   i,  S.   196  und  Riedel  S.   24. 

3)  Vgl.  Weber  Bd.  i  und  Riedel.  Zu  erwähnen  ist  in  diesem  Zusammenhang 
noch  die  VerO.  28.  11.  1816  die  Bettler  und  Landstreicher  und  die  Errichtung  von 
Zwangsarbeitshäusern  betr.,  in  welcher  besonders  eingehende  Bestimmungen  über 
das  Schubwesen  enthalten  sind. 


—     6o     — 

steuerte  Gründe  oder  Wohnhäuser  besitzen  oder  besteuerte  Ge- 
werbe ausüben,  für  GemeindemitgHeder.  Der  Inhalt  dieses  neuen 
Begriffs  aber  wird  nicht  näher  präzisiert,  wahrscheinlich  deckt  er 
sich  mit  dem  Bürgerrecht  und  nicht  mit  der  Heimat.  Schon  am 
17.  Mai  181 8  wurde  ein  neues  Gemeindeedikt')  erlassen,  in  wel- 
chem die  Aufnahme  der  Bürger  und  Schutzverwandten  wieder 
völlig  in  das  Belieben  der  Gemeindebehörden,  ebenso  wie  die 
Erteilung  der  Ileiratslizenz  gelegt  wurde. 

Das  Jahr  1825  brachte  wiederum  eine  Neuordnung  dieser 
Materien  durch  die  getrennten  Gesetze  über  die  Heimat,  die 
Ansässigmachung  und  Verehelichung  und  die  Grundbestimmun- 
gen betr.  das  Gewerbswesen.  Alle  vom  11.  September.  Die 
Trennung  der  beiden  ersten  bisher  gemeinsam  behandelten  Stoffe 
scheint  später  vorbildlich  auf  die  preußische  Gesetzgebung  ge- 
wirkt zu  haben. 

In  diesem  Heimatsgesetz  wird  zum  erstenmal  vom  Gesetz- 
geber über  den  Inhalt  des  Heimatrechts  ausführlich  gesprochen 
(in  dem  Ministerialvortrag  zu  dem  Gesetzentwurf)  ^).  Dieser  In- 
halt ist  nicht  wesentlich  neu,  schon  die  Bettelordnungen  des  18. 
Jahrhunderts  ließen  ihn  erkennen,  aber  hier  wird  seine  Bedeu- 
tung eigentlich  erst  gewürdigt.  Die  Heimat  ist  darnach :  »die 
Wiege  mannigfaltiger  schöner  Beziehungen  und  Gefühle,  aus  wel- 
cher der  Sinn  für  die  Mitwirkung  für  gemeinsame  Zwecke  sich 
entwickelt,  und  die  Pflanzschule  bürgerlicher  Tugend  und  Ord- 
nung, deren  Gewährleistung  und  Pflege  durch  das  Gesetz  ver- 
mittelt werden  soll.«  Die  Begriffe  werden  genauer  gefaßt  und 
unterscheiden  die  erworbene,  die  ursprüngliche  und  die  ange- 
wiesene Heimat.  Diese  Fassung  bleibt  auch  in  der  späteren  Er- 
neuerung erhalten.  Die  Erwerbung  deckt  sich  im  wesentlichen 
mit  der  RR.  allectio  und  tritt  an  die  Stelle  des  domicilium  ju- 
stum.  Die  ursprüngliche  ist  das  Domizil  des  Vaters  und  u.  U. 
dessen  Vorfahren.  Die  angewiesene  tritt  ein,  im  Falle  keine  der 
beiden  anderen  Heimaten  zutrifft,  wenn  entweder  nachweislich 
keine  Heimat  oder  keine  nachweisliche  Heimat  vorliegt.  Er- 
werbsgründe sind  Vertrag  mit  der  Gemeinde  (adoptio,  allectio), 
Ansässigmachung  (domicilium)  und  Heiratskonsens  (nuptiae)  nicht 

i)  Vgl.  Weber  Bd.  I  und  Riedel.  Zu  erwähnen  ist  in  diesem  Zusammenhang 
noch  die  VerO.  28.  II.  1816  die  Bettler  und  Landstreicher  und  die  Errichtung  von 
Zwangsarbeitshäuser  betr.,  in  welcher  besonders  eingehende  Bestimmungen  über 
das  Schulwesen   enthalten  sind. 


—     6i     — 

in  dem  Sinne,  daß  die  Frau  die  Heimat  des  Mannes,  sondern 
daß  das  Ehepaar  durch  die  Verehelichung  als  solche  die  Hei- 
mat erwirbt.  Der  Geburtsort  (nativitas)  ist  völlig  ausgeschaltet. 
Für  Ausländer  bestehen  besondere  Bestimmungen,  die  an  an- 
derer Stelle  angeführt  werden.  Jeder  Bayer  muß  eine  Heimat 
haben,  zwei  Heimaten  sind  nur  unter  besonderen  Bedingungen 
möglich. 

Ueber  die  Ansässigmachung  erging  ein  besonderes  Gesetz. 
Dieses^)  soll  an  die  Stelle  des  älteren  vielfach  bestrittenen  Hei- 
materwerbs durch  Domizil  einen  unbestreitbaren  und  von  den 
Bestimmungen  des  Zivilrechts  unabhängigen  Titel  setzen  und  für 
die  Erteilung  der  Heimatsbewilligungen  allgemeine  oder  feste 
Normen  geben.  Die  Dehnbarkeit  des  alten  Domizilbegriffs  wird 
beseitigt  durch  die  genauen  Kriterien  der  an  seine  Stelle  treten- 
den Ansässigmachung,  und  zugleich  ihre  Erwerbung  wesentlich 
erleichtert,  Sie  geschieht  durch  eine  Nachweisung  geringen  Ver- 
mögens, den  Besitz  eines  realen,  radizierten  (oder  konzessions- 
pflichtigen)  Gewerbes,  durch  einen  auf  andere  Weise  gesicherten 
Nahrungszustand.  Die  Parzellierung  und  Erbteilung  ist  bis  zum 
Betrage  der  geringsten  Steuerfähigkeit  gestattet.  Bezüglich  der 
Sicherung  des  Nahrungsstandes  wird  eine  besondere  Prüfung  er- 
fordert, wobei  auch  das  Vorhandensein  des  einfachen  Lohner- 
werbs genügen  soll  ^).  In  den  übrigen  Fällen  tritt  der  Erwerb 
der  Ansässigkeit  kraft  Gesetzes  ein.  Die  Uebersiedelung  soll 
möglichst  erleichtert  werden  nach  Maßgabe  vorstehender  Bestim- 
mungen, die  Gebühren  sollen  ermäßigt  werden.  Allgemeine  Vor- 
aussetzung der  Ansässigmachung  ist  das  Fehlen  zivilrechtlicher 
Hindernisse  und  solcher  aus  dem  Militärkonskriptionsgesetz  sich 
ergebenden,  guter  Leumund  und  vorschriftsmäßiger  Religions-  und 
Schulunterricht.  Die  Verehelichung  unterliegt  nur  noch  zivil-  und 
kirchenrechtlichen  Hindernissen.  Die  wichtigste  Neuerung  ist  die, 
daß  die  Bewilligung  in  allen  Fällen  der  Gemeinde  entzogen  ist 
und  ihr  auch  kein  Veto  zusteht.  Die  staatliche  Obrigkeit  hat 
allein  zu  bestimmen. 

Die  Gewerbeordnung  ist  insofern  heranzuziehen,    als   sie   auf 


i)  Wörtlich  nach  Riedel  S.  31.  Die  Bemerkung,  daß  der  Heimaterwerb  vom 
Zivilrecht  unabhängig  gemacht  werden  soll,  ist  ein  indirekter  Beweis  für  die  S.  54 
angeführte  Behauptung,  daß  die  Gesetzgebung  Maximilians  diesen  Zusammenhang 
enthielt. 

2)  Vgl.  Riedel  S.  32  und  34. 


—       62       — 

die  Ansässigmachung  sich  erstreckt.  Die  Zunftgerechtigkeit 
bleibt  aufgehoben,  die  Konzession  tritt  an  die  Stelle  der  Zünftig- 
keit, Entscheidend  bei  dieser  obrigkeitlichen  Konzession  sind 
nur  die  Fähigkeit  und  Einrichtung  des  Handwerkers;  allerdings 
soll  auf  den  Nahrungsstand  des  Neulings  geachtet  werden,  die 
»Uebersetzung«  aber  ist  nur  in  wenigen  Gewerben  ein  absoluter 
Hinderungsj'rund. 

Das  Jahr  1825  war  der  Höhepunkt  der  freiheitsfreundlichen 
Maßnahmen.  In  dem  Kampf  der  entgegenstehenden  Interessen 
von  Staat,  Gemeinde  und  Individuum  siegten  wieder  die  Ge- 
meinden, und  die  Kirchturmspolitik  der  Zünfte  drang  durch.  Am 
I.  Juli  1834  ward  das  Gesetz  betr.  die  Ansässigmachung  und 
Verehelichung  einer  eingehenden  Revision  unterzogen,  welche 
fast  den  Zustand  der  Gesetzgebung  vor  dem  Jahre  1800  her- 
stellte ^). 

Erstens  wird  das  Steuerminimum  des  für  die  Ansässigkeit 
maßgebenden  Vermögens  auf  das  Dreifache  des  bisher  erforder- 
lichen Betrages  heraufgesetzt.  Dieses  Minimum  beträgt  jetzt 
I  fl.  30  kr.  Die  Erwerbung  eines  realen  und  radizierten  Ge- 
werbes bleibt.  Sodann  darf  die  Erteilung  der  persönlichen  Ge- 
werbskonzession nur  ;^nach  sorgfältiger  Würdigung  des  Nahrungs- 
standes des  Bewerbers  und  der  übrigen  Gewerbsmeisterc  erteilt 
werden,  die  Uebersetzung  ist  also  für  alle  Gewerbe  ein  gesetz- 
licher Hinderungsgrund  geworden  und  der  Willkür  Tor  und  Tür 
geöffnet.  Schließlich  wird  der  auf  »sonstige  Weise  vollständig 
gesicherte  Nahrungsstand«  bedingt:'  i.  durch  ein  das  Steuer- 
minimum nicht  erreichendes,  aber  in  Verbindung  mit  sonstigen 
Umständen  das  Fortkommen  der  Familie  noch  sicherndes  Grund- 
vermögen, 2.  durch  eine  ausreichende  Rente,  3.  durch  eine  den 
Gewerben  nicht  zuzählende  Erwerbsart,  wenn  ihr  Ertrag  aus- 
reicht, 4.  aus  dem  Lohnerwerb,  sofern  dieser  vermöge  des  ört- 
lichen Bedarfs  und  im  Gegenhalte  zu  den  bereits  vorhandenen 
Lohnarbeitern  als  nachhaltige  Nahrungsquelle  betrachtet  werden 
kann.  Bei  Bewerbungen  auf  Grund  dieses  letzteren  Titels  ist  in 
Konkurrenzfällen  ausgedienten  Soldaten  und  Dienstboten,  welche 
15  Jahre  treu  gedient  haben,  der  Vorzug  zu  geben  ^). 

Die  Zerschlagung    gebundener    Güter    in    kleinere    Parzellen 


i)  Riedel  S.  37. 

2)  Der  Heimaterwerb  der  Dienstboten    durch    15  jährige  Dienstzeit    war   1815 
fortgefallen. 


-     63     - 

als  solche,  auf  welchen  das  oben  erwähnte  —  erhöhte  —  Steuer- 
minimum ruht,  ist  von  der  Zustimmung  der  Grund- 
herren abhängig.  Alle  nicht  kraft  Gesetzes  eintretenden  An- 
sässigmachungen  sind  durch  einen  rechtskräftigen  Beschluß  aller 
Beteiligten  bedingt,  und  die  Gemeinde  hat  unter  Zuziehung  des 
Armenpflegschaftsrates  das  Recht  des  absolut  hindernden  Wider- 
spruchs.    Die  Aufnahmegebühren  wurden  wieder  erhöht. 

Das  Ergebnis  dieses  Gesetzes  ist  mithin  eine  neue  Abschlie- 
ßung  der  Gemeinden  gegen  alle  nicht  Besitzenden,  vor  allem  die 
Lohnarbeiter,  und  eine  nahezu  vollständige  Aufhebung  der  Frei- 
zügigkeit und  der  mit  der  Ansässigmachung  in  enger  Verbindung 
stehenden  Ehefreiheit. 

Die  Folgen  für  das  wirtschaftliche  und  soziale  Leben  konn- 
ten nicht  ausbleiben.  Die  Zunahme  der  Bevölkerung  war  unbe- 
deutend, die  Auswanderung  sehr  groß,  die  Zahl  der  Ehen  ging 
zurück,  die  der  unehelichen  Kinder  stieg  auf  33  vom  Hundert, 
während  sie  in  der  Pfalz,  wo  eine  freiere  Gesetzgebung  in  An- 
lehnung an  die  französische  eingeführt  und  abweichend  von  der 
allgemeinen  beibehalten  wurde,  nur  10  Proz.  betrug.  Die  Zahl 
der  Gewerbetreibenden  nahm  ab  und  die  der  Armen  in  den 
öffentlichen  Listen  stieg  von  80000  auf  123000^).  Der  Land- 
tagsabschied vom  I.  JuU  1856  verordnete  noch  einmal,  daß  der 
Ansässigmachung  auf  reale  und  radizierte  Gewerbe  eine  Prüfung 
des  erforderlichen  Nahrungsstandes  voranzugehen  habe,  und  daß 
die  Männer  verwitweter  Meisterfrauen  den  Vorzug  erhalten 
sollen. 

Der  Widerstand  gegen  die  geltende  Gesetzgebung  des  Jahres 
1825/34  stieg  von  Jahr  zu  Jahr,  die  Einsicht,  daß  das  Interesse 
der  Gemeinden  nicht  allein  maßgebend  sein  könne  für  die  »staats- 
bürgerlichen« Rechte  der  Persönlichkeit  und  ihre  schlechte  Be- 
währung in  der  Verwaltung  führte  im  Jahre  1861  zu  einem  Land- 
tagsabschied, worin  die  Regierung  aufgefordert  wurde,  künftighin 
milder  in  der  Handhabung  der  Gesetze  über  Heimat,  Ansässig- 
machung und  Verehelichung  zu  verfahren  und  baldmöglichst 
Abänderungsvorschläge  einzubringen  ^j.  Die  Milderung  in  der 
Verwaltung  trat  sofort  ein  durch  die  Vollzugsinstruktion  vom 
21.  März   1862,  und  die  Gesetzesnovellen  wurden   im   Jahre   1867 


i)  Die  von  Riedel  S.  36  Anm.  gegebene  hier  benutzte  Statistik  entspricht  der 
von  Aschrott  für  England  aufgestellten.  —    Gleiche  Ursachen,    gleiche  Wirkungen. 
2)  Die  historischen  Einzelheiten  nach  Riedel  S.  48,  auch   S.  64  f. 


-     64     - 

eingebracht.  Fünf  Entwürfe  bildeten  zusammen  die  »soziale  Ge- 
setzgebung^ ^  ;  sie  waren  verteilt  in  zwei  Abteilun<^en,  deren  eine 
die  Ansässigmaclumg  und  Vcrchelichung,  deren  andere  die  Hei- 
mat und  den  Aufenthalt  behandelte.  Nachdem  die  Landtags- 
mehrheit sich  für  die  Beseitigung  des  »formalen  Rechtsinstituts c 
der  Ansässigkeit  ausgesprochen  hatte,  schlug  die  Regierung  die 
übrigen  Materien  in  ein  Gesetz  zusammen,  welches  in  der  Folge 
mit  geringen  Veränderungen  endgültig  zum  Gesetz  erhoben 
wurde.  Dieses  umfassende  Gesetz  war  formell  ein  völlig  neues, 
inhaltlich  aber  sollte  es  nur  eine  Revision  darstellen,  ist  aber 
auch  materiell  wesentlich  ein  neues.  Im  einzelnen  sind  die  Ver- 
änderungen folgende  : 

Die  Heimat  hat  ihre  zentrale  Stellung  in  der  Gemeindever- 
fassung Bayerns  behalten,  jeder  Bayer  muß  eine  Heimat  haben, 
die  Bestimmungen  über  die  angewiesene  Heimat  beziehen  sich 
eigentlich  nur  auf  solche,  die  die  bayrische  Staatsangehörigkeit 
erst  erworben  haben,  und  auf  solche,  deren  Heimat  nicht  ermit- 
telt werden  kann,  also  Findelkinder  und  Vagabunden.  Die  Hei- 
mat wird  nunmehr  mit  dem  Bürgerrecht  erworben.  Dieses  kann 
in  mehreren,  die  Heimat  unter  allen  Umständen  nur  in  einer  Ge- 
meinde besessen  werden  ^). 


i)  Das  Bürgerrecht  wird  bemessen  nach  dem  Gemeindeedikt  von  1818.  Dar- 
nach ist  die  räumliche  Grundlage  die  Gemeinde,  unterschieden  in  Städte,  Märkte 
und  Ruralgemeinden.  Diese  letzteren  bestehen  in  Ortschaften,  Dörfern,  Weilern, 
einzelnen  Höfen,  Mühlen,  Einöden  usw.,  welche  entweder  einem  anderen  Armen- 
verband angehören  müssen  oder  einen  eigenen  bilden,  doch  soll  die  Bildung  grö- 
ßerer Verbände  begünstigt  werden.  Folgen  des  Bürgerrechts  sind  die  staatsbürger- 
lichen, Teilnahme  an  Beratungen  und  Wahlen.  Die  Novelle  von  1834  teilt  die 
einem  Gemeindebezirk  Angehörigen,  aber  mit  dem  Gemeinderecht  nicht  begabten 
Personen  ein  in  i.  Schutzverwandte  oder  Passivbürger,  in  Städten  und  Märkten 
Insassen,  in  Landgemeinden  Beisassen  genannt;  Grundlage  ihrer  Ansässigkeit  ist 
z.  B.  Lohnerwerb  oder  Staatsdienst.  Diese  haben  Teil  an  den  Gemeindeanstalten, 
nicht  an  der  Verwaltung.  2.  Die  ohne  Ansässigkeit  Heimatberechtigten.  3.  Miet- 
oder Inleute,  d.  h.  solche,  die  ohne  Ansässigkeit  in  der  Gemeinde  wohnen.  4.  Ge- 
meinde-Forensen  oder  Ausmärker,  die  nur  in  dinglicher  Beziehung  zur  Gemeinde 
stehen.  Das  Gemeindebürgerrecht  ist  seiner  Natur  nach  ein  öffentlich-rechtlicher 
Status  innerhalb  der  Gemeinde,  der  bei  gegebener  Befähigung'  durch  Verleihung 
oder  kraft  Gesetzes  erworben  wird.  Das  Bürgerrecht  als  solches  ist  ebensowenig 
wie  Staatszugehörigkeit  oder  Heimat  ein  Recht  mit  bestimmt  zu  umschreibendem 
Inhalt,  sondern  eine  rechtliche  Eigenschaft  der  Person,  welche  die  eine  oder  andere 
Voraussetzung  für  den  Bestand  gewisser  Rechte  oder  Pflichten  bildet.  Das  Bürger- 
recht wird  nur  durch  ausdrückliche  Verleihung  seitens  der  Gemeindebehörde  er- 
worben, seine  Voraussetzungen  sind   l.  Bayrische  Staatsangehörigkeit,  2,  männliches 


-    65     - 

Sie  wird  nur  verloren  durch  Erwerb  einer  neuen  Heimat  oder 
Ausscheidung  aus  dem  Staatszusammenhang.  Die  Ehefrau  und 
Kinder  haben  die  unselbständige  Heimat  an  dem  Orte  des  selbstän- 
digen Heimatrechts  ihres  Familienhauptes.  Der  Haussohn  erwirbt 
mit  der  Verheiratung  oder  Gründung  eines  selbständigen  Haus- 
halts die  selbständige  Heimat  in  derselben  Gemeinde.  Ebenso 
die  Kinder  oder  Gattin  mit  dem  Tode  des  Vaters,  seinem  Aus- 
scheiden aus  dem  Staate  oder  der  Scheidung.  Staatsdiener  er- 
werben die  Heimat  mit  der  Anstellung.  Die  Verleihung  der  Hei- 
mat seitens  der  Gemeinde  beruht  entweder  auf  der  Erfüllung 
eines  gesetzlichen  Anspruchs  oder  einem  nur  durch  die  Grenzen 
der  guten  Sitten  beschränkten  freien  Vertrage.  Dieser  gesetz- 
liche Anspruch  ist  gegeben  mit  dem  ZusammentreiTen  folgender 
Bedingungen :  Staatsangehörigkeit,  Selbständigkeit,  Volljährigkeit, 
freiwilliger,  ununterbrochener  fünfjähriger  Aufenthalt  in  der  Ge- 
meinde unter  Veranlagung  zu  direkten  Steuern,  Erfüllung  der  ge- 
meindlichen Verpflichtungen.  Armenunterstützung  darf  während 
dieser  Zeit  nicht  empfangen  sein.  Diejenigen,  welche  keine 
Steuern  bezahlt  und  keine  gemeindlichen  Verpflichtungen  zu  er- 
füllen haben,  erwerben  die  Heimat,  wenn  sie  nicht  unterstützungs- 
bedürftig werden,  in  zehn  Jahren.  Die  sonstigen  Voraussetzun- 
gen vorwiegend  privatrechtlicher  Natur  bleiben  bestehen.  Diese 
Bestimmungen  gelten  sowohl  für  bisher  Heimatlose  wie  auch  für 
den  Erwerb  einer  neuen  Heimat  für  eine  alte.  Gebühren  für  den 
Erwerb  der  Heim.at  dürfen  gefordert  werden  in  allen  Fällen  mit 
Ausnahme  der  Staatsdiener  und  der  Erwerber  durch  zehnjährigen 
Aufenthalt,  wenn  dieser  in  der  Eigenschaft  als  Dienstbote,  Ge- 
werbsgehilfe, Fabrikarbeiter  oder  Lohnarbeiter  ohne  gerichtliche 
Bestrafung  zugebracht  ist.  Es  wird  in  allen  gesetzlich  eintreten- 
den Fällen  nicht  die  Heimat  selbst,  sondern  nur  der  Anspruch 
auf  Verleihung  erworben,  welchen  seit  1896  jeder  Interessierte, 
also    sowohl    die    bisherige    Heimatsfemeinde    wie    der    Erwerber 


Geschlecht,  3.  Volljährigkeit,  4.  Selbständigkeit,  5.  ständiger  Aufenthalt  und  Ver- 
anlagung zu  den  Staatssteuern.  Anspruch  auf  Verleihung  haben  alle,  welche  unter 
diesen  Bedingungen  seit  2  Jahren  in  der  Gemeinde  beheimatet  oder  wohnhaft  sind. 
Verpflichtet  sind  diese  zu  seinem  Erwerb  nach  5  Jahren  Es  kann  versagt  werden 
nur  nach  erfolgter  Armenunterstützung  und  bei  polizeilicher  und  gerichtlicher  An- 
rüchigkeit (im  einzelnen  genau  normiert).  Auch  juristische  Personen  können  das 
Bürgerrecht  erwerben.  Es  wird  verloren  mit  dem  Fortfall  einer  seiner  Vorbe- 
dingungen. Eintrittsgeld  ist  gestattet.  Nach  Seydel,  Bayr.  Staatsrecht,  Bd.  3,  Teil  2, 
Das  Meimatrecht,  ebenso  wie  auch  die  Ausführungen  im  Text  teilweise. 
Zeitschrift  für  die  ges.  Staatswissensch.     Ergänzungsheft  51.  C 


—     66     — 

selbst  geltend  machen  kann.  Die  Heimat  gewährt  das  Recht,  in 
der  Gemeinde  sich  aufzuhalten,  und  für  den  Fall  eintfetender 
Hilfsbedürftigkeit  Anspruch  auf  Unterstützung  durch  die  Gemeinde 
nach  Maßgabe  des  Gesetzes  über  die  Armenpflege.  Die  Anwei- 
sung einer  vorläufigen  Heimat  mit  denselben  Wirkungen  wie  die 
wirkliche  Heimat  geschieht  bei  Findelkindern  in  der  Fundgemeinde, 
bei  anderen  heimatlosen  Personen  in  der  Gemeinde,  in  welcher 
sie  sich  während  der  letzten  5  Jahre  zuletzt  mindestens  6  Monate 
freiwillig  und  ununterbrochen  aufgehalten  haben.  Diese  vorläufige 
Heimat  ist  auch  neu  aufgenommenen  Staatsangehörigen  in  der 
Gemeinde  ihres  Aufenthalts  zuzuweisen  Die  Unterstützung  sol- 
cher Zugewiesener  allerdings  fällt,  bis  sie  die  wirkliche  Heimat 
nicht  erworben  haben,  dem  Staate  ^j  und  nicht  der  Gemeinde  zu. 
Jede  Gemeinde  hat  dem  Erwerber  der  Heimat  eine  Heimatbe- 
scheinigung auszustellen.  In  Streitigkeiten  hat  jeder  Beteiligte 
das  Beschwerderecht. 

Der  dritte  Teil  des  Gesetzes  behandelt  das  Recht  des  Aufent- 
halts. Die  Ansässigkeit  ist  als  Erwerbstitel  der  Heimat  fortge- 
fallen und  begründet  jetzt  nur  noch  neben  anderen  Titeln  das 
Bürgerrecht,  welches  seinerseits  wieder  die  Heimat  begründet. 
Für  den  Aufenthalt  sind  alle  privatrechtlichen  »Angehörigkeits- 
titel«  beseitigt,  nur  das  Fehlen  einer  Heimat,  welches  aber  jetzt 
jederzeit  leicht  beseitigt  werden  kann,  und  außerdem  gesetzlich 
normierte  Gründe  der  Sicherheit  und  Sittlichkeit  können  zur  Aus- 
weisung führen.  Diese  sind  Unterlassung  der  vorgeschriebenen 
polizeilichen  Meldung,  Fehlen  einer  nachweislichen  Heimat, 
Armenunterstützung  bei  bloßem  Aufenthalt,  Rückstand  mit  den 
Gemeindeabgaben,  Fehlen  einer  ständigen  Wohnung  oder  Be- 
schäftigung während  ausgesetzter  Frist,  gewerbliche  Unzucht,  Ge- 
fährdung der  öffentlichen  Sicherheit.  Ferner  sind  ausgeschlossen 
Studierende  und  Lehrlinge,  welche  zur  Strafe  entlassen  sind, 
schließlich  minderjährige  Personen  ohne  Bewilligung  der  Eltern 
zum  Aufenthalt.  Außerdem  findet  die  Ausweisung  als  Neben- 
strafe nach  Vorschrift  des  Polizeistrafgesetzbuches  1861  statt. 
Alle  diese  Beschränkungen  sind  aber  nicht  mehr  absolut,  son- 
dern auf  im  einzelnen  P"all  verschieden  normierte  Zeit  be- 
schränkt. Ueber  Ausländer  sind  besondere  Bestimmungen  ge- 
troffen. 


1)  Ges.    1825  schrieb  deren  Unterstützung    dem  Kreise,   erst  Ges.    1846   über 
die  Verteilung  der  Kreislasten   dem  Staate  zu. 


-    67     - 

Ueber  die  Verehelichung  bestimmt  der  zweite  Teil  des  Ge- 
setzes von  1868  in  folgender  Weise.  Das  Gesetz  erkennt  das 
Recht  der  Verehelichung  als  ein  natürliches  und  allen  Staatsan- 
gehörigen unbedingt  zustehendes  an.  Die  Verweigerung  der 
obrigkeitlichen  Heiratserlaubnis  fällt  fort  und  wird  durch  ein  Zeug- 
nis ersetzt,  daß  keine  gesetzlichen  Hindernisse  entgegenstehen. 
Insbesondere  können  keine  »außerordentlichen  Polizeirücksichten« 
wie  nach  dem  Gesetze  von  1834  mehr  die  Verehelichung  hin- 
dern. Die  Ansässigkeit  hat  keinen  Einfluß  auf  die  Verehelichung. 
Wird  eine  Ehe  vor  Einlauf  des  obrigkeitlichen  Verehelichungs- 
zeugnisses  geschlossen,  so  ist  sie  bürgerlich  ungiltig.  Dieses 
Zeugnis  ist  bedingt  durch  den  Nachweis,  daß  keine  militärischen 
und  zivilrechtlichen,  strafrechtlichen,  beamtenrechdichen  Rück- 
sichten entgegenstehen.  Die  Gemeinde  der  Heimat  des  Mannes 
ist  zum  Einspruch  berechtigt,  wenn  er  eine  gerichtliche  Strafe 
noch  nicht  abgebüßt  hat  oder  in  Untersuchung  befindlich  ist, 
Armenunterstützung  innerhalb  3  Jahren  empfangen  oder  bean- 
sprucht hat  und  mit  Leistungen  gegen  die  Gemeinde  im  Rück- 
stand oder  unter  Kuratel  befindlich  ist.  Die  zur  Ausstellung-  des 
Zeugnisses  befugte  und  verpflichtete  Distriktspolizeibehörde  muß 
vor  der  Ausstellung  desselben  ein  öffentUches  Aufgebot  am  Rat- 
hause der  Heimatgemeinde  des  Mannes  während  10  Tagen  an- 
schlagen und  sich  vergewissern,  daß  seitens  dieser  Gemeinde 
kein  Einspruch  erhoben  wird.  Die  Verheiratung  begründet  nicht 
mehr  wie  früher  das  Recht  auf  Niederlassung  am  Orte  der  Ehe- 
schließung, überhaupt  kein  öffentliches  Recht  mehr;  nur  erwirbt 
der  Ehemann,  der  bisher  als  Familienangehöriger  die  Heimat 
besessen  hatte,  die  selbständige  Heimat  durch  die  infolge  der 
Eheschließung  getätigte  Ansässigmachung  und  Begründung  eines 
eigenen  Haushalts.  Ausländer  unterliegen  besonderen  Bestim- 
mungen, müssen  vor  allem  ein  Zeugnis  der  heimatlichen  Staats- 
behörde darüber  beibringen,  daß  keine  Ehehindernisse  nach  dor- 
tigem Rechte  vorliegen. 

Dies  war  der  Rechtszustand  Bayerns  zur  Zeit  seines  Beitritts 
zum  Deutschen  Reich.  Während  aber  in  den  anderen  süddeut- 
schen Staaten,  Baden,  Württemberg  und  Hessen  trotz  anfäng- 
licher Schwierigkeiten  seit  1873  schließlich  doch  alle  norddeut- 
schen Gesetze  öffentlich-rechtlichen  Charakters  zur  Einführung 
gelangten,  ließ  sich  Bayern  durch  Reservatrechte  volle  Selbstän- 
digkeit in  der  Gesetzgebung  über  die  Armen-,  Heimats-,  Ehe-  und 

5* 


—     68     — 

Niedcrlassun<;svcrhältnissc  garantieren.  In  dem  SchlußprotokolP) 
der  Verhandlungen  zwischen  Preußen  und  Bayern  über  ein  Ver- 
fassungsbündnis zu  Versailles  vom  28.  November  iX;o  wurde  von 
den  preußischen  Beauftragten  anerkannt,  nachdem  sich  das  Ge- 
setzgebungsrecht des  Bundes  bezüglich  der  Hcimats-  und  Nieder- 
lassungsverhältnisse auf  das  Königreich  Bayern  nicht  erstreckt, 
die  Bundeslegislativc  auch  nicht  zuständig  sei,  das  Verehelichungs- 
wesen  mit  verbindlicher  Kraft  für  Bayern  zu  regeln,  und  daß  also 
das  für  den  Norddeutschen  Bund  erlassene  Gesetz  vom  4.  Mai 
1868,  die  Aufhebung  der  polizeilichen  Beschränkungen  der  Ehe- 
schließung betreffend,  jedenfalls  nicht  zu  denjenigen  gehört,  deren 
Wirkung  auf  Bayern  ausgedehnt  werden  könnte  .  .  .  Die  unter- 
zeichneten Bevollmächtigten  kamen  dahin  überein,  daß  in  Anbe- 
tracht der  unter  Ziffer  i  statuierten  Ausnahmen  von  der  Bundes- 
legislative der  Gothaer  Vertrag  .  .  .,  dann  die  Eisenacher  Kon- 
vention .  .  .  für  das  Verhältnis  Bayerns  zu  den  übrigen  Staaten 
fortdauernde  Geltung  haben  sollen.« 

Die  Reservatrechte  selbst  enthält  dann  der  Vertrag  über  den 
Beitritt  Bayerns  zum  Deutschen  Bunde  vom  selben  Tage  im 
3.  Abschnitt,  §  l  :  »Das  Recht  der  Handhabung  der  Aufsicht 
seitens  des  Bundes  über  die  Heimats-  und  Niederlassungsverhält- 
nisse und  dessen  Recht  und  Gesetzgebung  über  diesen  Gegen- 
stand erstreckt  sich  nicht  auf  das  Königreich  Bayern.« 

Alle  anderen  bezüglichen  Gesetze  mit  Ausnahme  des  Unter- 
stützungswohnsitzgesetzes und  des  .über  die  Beschränkungen 
der  Eheschließung  fanden  daher  ihre  Geltung  in  Bayern.  Der 
Einfluß  der  Reichsgesetzgebung  auf  die  bayrische  Sozialgesetz- 
gebung war  daher  gleichwohl  ein  bedeutender:  Norddeutsche 
gelten  von  nun  an  als  Inländer;  die  bayrische  Staatsangehörig- 
keit wird  nicht  mehr  durch  Erwerb  der  Heimatangehörigkeit  oder 
der  Gemeindeangehörigkeit  erworben.  Norddeutsche,  welche  als 
bayrische  Staatsbürger  aufgenommen  sind,  stehen  nunmehr  besser 
da  als  Altbayern,  da  ihnen  nicht  erst  eine  Heimat  angewiesen 
wird,  sondern  sie  eine  solche  kraft  Gesetzes  besitzen-).  Bayrische 


1)  Vgl.  Riedel,  Die  Reichsverfassungsurkunde  usw. 

2)  Heimatges.  Art.  15,  Abs.  3,  in  neuer  Fassung  1872.  >Bundcsangehörige, 
welche  in  den  Bayrischen  Staatsverband  aufgenommen  sind,  besitzen,  solange  sie 
nicht  eine  wirkliche  Heimath  nach  Maßgabe  des  Gesetzes  erworben  haben,  die 
vorläufige  Heimalh  in  jener  Gemeinde,  in  welcher  sie  sich  zur  Zeit  ihrer  Aufnahme 
niedergelassen  hatten. < 


-     69     - 

Staatsangehörige,  welche  zugleich  eine  andere  Staatsangehörig- 
keit besitzen,  können  zugleich  in  Bayern  die  Heimat  und  in  Nord- 
deutschland den  Unterstützungswohnsitz  haben,  brauchen  aber 
letzteren  nicht  zu  erwerben,  so  daß  Bayern  in  diesem  Punkte  im 
Falle  der  Verarmung  benachteiligt  und  zur  Uebernahme  allein 
verpflichtet  ist^). 

Bayern  sah  sich  zur  Aufrechterhaltung  seiner  Gesetzgebung 
dadurch  veranlaßt,  daß  es  seine  eben  fertig  gewordenen  sozialen 
Gesetze  nicht  sofort  wieder  umstoßen  wollte.  Wären  nicht  diese 
mehr  formalen  Schwierigkeiten  gewesen,  so  hätte  vielleicht  schon 
damals  die  Einführung  des  Unterstützungswohnsitzes  in  Bayern 
erfolgen  können  und  wäre  damit  von  vornherein  in  ganz  Deutsch- 
land die  so  wünschenswerte  Rechtseinheit  herbeigeführt  worden. 
Aber  die  materiellen  Widerstände,  das  Festhalten  an  dem  alten 
Heimatwesen  selbst  kamen  hinzu,  um  diese  Entwicklung  hintan- 
zuhalten. Die  enge  Verquickung  des  Heimatwesens  mit  der  Ehe, 
ja  ursprünglich  mit  der  kirchlichen  Schulverfassung  bewirkten  es 
vor  allem,  daß  Bayern  seine  Sonderstellung  beibehielt-).  In  Ba- 
den und  Württemberg  lagen  die  Dinge  doch  wesentlich  anders, 
das  erstere  war  schon  1870  in  hohem  Maße  industrialisiert,  die 
Bevölkerung  daher  stark  fluktuierend,  das  andere  war  von  der 
Kirche  unabhängiger,  beide  Länder  aber  mit  dem  unitarischen 
Reichsgedanken  durch  Volksstimmung  oder  Fürstenverbindung 
weit  mehr  durchdrungen.  Die  späteren  Aeußerungen  der  bay- 
rischen Regierung  weisen  vornehmlich  auf  die  verhältnismäßig 
größere  Seßhaftigkeit  der  Bevölkerung  hin,  die  inzwischen  auch 
stark  abgenommen  habe. 

Bayern  hat  so  bis  in  die  neueste  Zeit  an  seinem  Heimat- 
grundsatz festgehalten,  im  übrigen  aber  durch  mehrere  Ergänzungs- 
gesetze Aenderungen  getroffen. 

Was  zunächst  die  Heimat  selbst  betrifft,  so  wurde  die  Er- 
sitzungsfrist des  Heimatrechts  durch  Gesetz  von  1896  von  5  Jah- 
ren für  den  höher  qualifizierten  Aufenthalt   auf  4  Jahre  und  von 


1)  Vgl.  Brater  in  Bl.  f.  d.  administrative  Praxis,  Bd.  27. 

2)  Ebenso  lagen  die  Verhältnisse  in  Oesterreich.  In  Salzburg  war  die  Auf- 
rechterhaltung des  rechtlich  bestrittenen  politischen  Ehekonsenses  ein  wichtiger 
Bestandteil  des  Programms  der  klerikalen  Partei.  Dieser  war  noch  181 1  durch 
AB.  GB.  dem  Belieben  der  einzelnen  Länder  anheimgestellt,  seitdem  überall,  vor 
allem  1866/68  aufgehoben  mit  Ausnahme  von  Salzburg,  Vorarlberg  und  Tirol,  wo 
er  noch  heute  besteht.     Vgl.  Art.  Eheschließung  HWSt.  von  Rehm. 


—     70     — 

lo  Jahren  auf  7  Jahre  für  eUejenigen,  welche  ohne  Steuerzahlung 
in  der  Gemeinde  gewohnt  hatten,  herabgesetzt.  Außerdem  wurde 
in  demselben  Gesetz  auch  der  bisherigen  Heimatgemeinde,  im 
Falle  jene  Vorbedingungen  erfüllt  waren,  der  Anspruch  aufllei- 
matverleihung  an  ihren  bisherigen  Ilcimathörigen  seitens  der  Er- 
sitzungsgemeinde  gegeben,  wodurch  die  Heimatverleihungen  we- 
sentlich erleichtert  und  über  das  Maß  der  Bevölkerungszunahme 
hinaus  vermehrt  wurden ').  Das  Ziel,  die  Heimatgemeinde  in 
höherem  Grade  mit  dem  tatsächlichen  Aufenthalt  zusammenzu- 
bringen, wurde  jedoch  in  dem  wünschenswerten  Umfange  nicht 
erreicht,  wenn  es  auch  auf  Grund  des  Anspruchs  der  alten  Hei- 
matgemeinde in  den  meisten  Fällen  gelang,  die  ganz  antiquier- 
ten, auf  Generationen  zurückgehenden  Heimatsbeziehungen  zu 
lösen. 

In  entsprechender  Weise  wurde  auch  das  Recht  der  Ehe- 
beschränkungen modernisiert  durch  die  Novelle  vom  17.  Februar 
1892.  Bis  dahin  entbehrte  eine  ohne  das  obrigkeitliche  Verehe- 
lichungszeugnis  geschlossene  Ehe  in  der  Regel  nach  außen  so 
lange  jeder  bürgerlich-  und  öffentlichrechtlichen  Gültigkeit,  als 
die  Ausstellung  des  Zeugnisses  nicht  nachträglich  erwirkt  wurde. 
Durch  die  Novelle  von  1892  wurde  der  ohne  Verehelichungs- 
zeugnis  abgeschlossenen  Ehe  die  Wirkung  einer  gültigen  Ehe  nur 
mehr  in  bezug  auf  den  Heimaterwerb  und  nur  für  die  Ehefrau 
und  die  aus  der  Ehe  hervorgehenden  Kinder  abgesprochen. 
Diese  starke  Entwertung  des  Zeugnisses  wurde  noch  vergrößert, 
als  durch  das  Ausführungsgesetz  des  bürgerlichen  Gesetzbuches 
die  bisher  einen  Bestandteil  des  Zeugnisses  bildende  Beurkun- 
dung^), daß  der  Verehelichung  Militärdienstpflicht  oder  berufs- 
mäßiger öffentlicher  Dienst  und  zivilrechtliche  Ehehindernisse  nicht 
entgegenstehen,  und  damit  im  Zusammenhang  das  gemeindliche 
Aufgebotsverfahren  beseitigt  wurden.  Seit  1900  also  ist  das 
Verehelichungszeugnis  auf  die  Feststellung  zusammengeschrumpft, 

1)  Vgl.  Denkschrift  über  die  Abänderung  der  B. -Heimat-  und  Armengesetz- 
gebung,  1912,  Beil.    100,  Kammer  d.  Abgeordn. 

2)  Das  Gesetz  betr.  Eheschließung  und  Beurkundung  des  Personenstandes 
von  Bundesangehörigen  im  Auslande  vom  4.  5.  1870  war  in  Bayern  unter  dem 
22.4.  187 1  eingeführt  worden,  da  sein  §  3  Abs.  2:  >die  zustimmende  Erklärung 
derjenigen  Personen,  deren  Einwilligung  nach  den  Gesetzen  der  Heimath  der  Ver- 
lobten erforderlich  ist«  forderte.  Das  Ges.  6.  2.  1875  betr.  Beurkundung  des  Per- 
sonenstandes und  die  Eheschließung  hatte  für  Bayern  keinerlei  Aenderungen  im 
Gefolge. 


—     71     — 

daß  von  der  Heimatgemeinde  des  Mannes  gegen  die  Verehelichung 
kein  Einspruch  erhoben  wird. 

Diese  Sonderstellung  Bayerns  blieb  bestehen,  bis  im  Jahre 
191 2  vielfachem  Drängen  vor  allem  der  Städte  zufolge  Regierung 
und  Landtag  sich  in  dem  Wunsche  begegneten,  das  Unterstütz- 
ungswohnsitzprinzip zu  adoptieren  und  dem  Geltungsgebiet  des- 
selben in  vollem  Umfang  beizutreten,  somit  allen  Reservatrechten 
hierüber  zu  entsagen.  Nach  umfangreichen  statistischen  Erhe- 
bungen, welche  vom  Landtag  veranlaßt  wurden,  legte  die  Regierung 
am  14.  März  191 2  dem  Landtag  einen  entsprechenden  Gesetzent- 
wurf vor.  der  am  23.  Oktober   191 2  zum  Gesetz  erhoben  wurde. 

Seit  diesem  Jahre  also  ist  das  Prinzip  des  Unterstützungs- 
wohnsitzes in  ganz  Deutschland  durchgeführt,  nachdem  es  im  Jahre 
1908  auch  durch  Reichsgesetz  in  Elsaß-Lothringen  Eingang  ge- 
funden hatte  und  die  Rechtseinheit  im  ganzen  Reichsgebiete  her- 
gestellt war.  Der  Streit  um  Unterstützungswohnsitz  und  Heimat- 
recht ist  also  aus  der  politischen  Diskussion  ausgeschieden  und 
nur  mehr  eine  wissenschaftliche,  wesentlich  historische  Streitfrage; 
wenngleich  die  Möglichkeit  nicht  von  der  Hand  zu  weisen  ist, 
daß  es  den  starken  überall  vorhandenen  Minoritäten  noch  einmal 
gelingen  möchte,  das  bestehende  Prinzip  zugunsten  des  Heimat- 
wesens umzustoßen,  oder  doch  wenigstens  ihm  graduell  wieder 
näher  zu  kommen. 

Sechstes  Kapitel. 

Preußen  1). 

Die  Gebiete  östlich  der  Elbe  sind  Kolonisationsboden.  Bis 
ums  Jahr  lOüO  ein  völlig  slavisches  Land  wurde  es  erst  seit  die- 
ser Zeit  nicht  nur  mit  den  Waffen,  sondern  auch  durch  kulturelle 
Bearbeitung  nach  und  nach  eingedeutscht.  Das  12.  Jahrhundert 
ist  im  wesentlichen  erfüllt  von  kriegerischen  Kämpfen  der  deut- 
schen Markgrafen  gegen  die  slavischen  Stämme,  welche  mit  der 
Eroberung  dieser  Länder  gegen  das  Ende  des  Jahrhunderts  ab- 
schlössen. Das  13.  Jahrhundert  bringt  dann  die  eigentliche  Ko- 
lonisation und  Besiedelung  des  Landes  mit  deutschen  Bauern  und 
Gründung  deutscher  Städte.  Am  Ende  dieses  Jahrhunderts  dürfen 
die  Lande  zwischen  Elbe  und  Oder  im  wesentlichen  als  deutsche 


l)  Vgl.  Lamprecht,  Deutsche  Geschichte,  Bd.   3,  S.  330  ff.  und  weitere  histo- 
rische Literatur. 


—     72     — 

angeschen  werden.  Etwas  später  vollzog  sich  die  Germanisie- 
rung der  entfernten  Gebiete  des  heuti-^en  Ostj)reußens  und  der 
dazwischen  liegenden  westpreußischen  und  Pomerellens,  welche 
letztere  niemals  gelanjj.  Fürsten,  Ritter,  Bauern  und  Mönche 
arbeiteten  hier  in  überaus  fruchtbarer  Weise  Hand  in  Hand. 

In  der  Folge  galt  es  zunächst,  die  sozialen  Verhältnisse  die- 
ses Neulandes  zu  ordnen:  im  14.  und  noch  mehr  im  15.  Jahr- 
hundert spielt  sich  der  Kampf  zwischen  den  zu  besserem  Rechte 
angesetzten  Bauern  und  den  auf  Erweiterung  ihrer  Macht  und 
ihres  Gebietes  erpichten  Rittern  und  Klöstern  ab,  in  dem  die 
Bauern  immerhin  sich  leidlich  behaupteten.  Schlimmer  war  der 
Einfluß  der  äußeren  Kriege,  der  slavischen  Einfälle  in  der  ersten, 
der  Hussitenzüge  in  der  späteren  Zeit  und  das  unausrottbare 
Raubritter-  und  Fehdewesen,  welches  sich  hier  länger  und  in 
größerer  Unbekümmertheit  erhielt  als  in  den  alten  deutschen  Lan- 
den ^).  Erst  das  Eingreifen  der  Hohenzollern  schuf  hierin  durch- 
greifenden Wandel.  Seit  dieser  Zeit  machen  sich  hier  alle  Vor- 
züge einer  größeren  territorialen  Macht  geltend,  welche  sich  aus- 
schliefilich  mehr  und  mehr  der  Ordnung  der  inneren  Verhältnisse 
widmet,  unbekümmert  um  außen  liegende  politische  Rücksichten. 
Die  Durchführung  des  Landfriedens  war  die  erste  große  Auf- 
gabe, welche  die  Hohenzollern  unternahmen  und  mit  Erfolg  er- 
ledigten. Aber  alle  Erfolge  machte  der  dreißigjährige  Krieg 
wieder  zunichte,  welcher  das  an  sich  nicht  dichtbevölkerte  Land 
völlig  blutleer  machte  und  die  sozialen  Verhältnisse  im  Zusam- 
menhang damit  zu  Ungunsten  der  bäuerlichen  Bevölkerung  ver- 
änderte. Die  wüstgewordenen  Hufen  und  Dörfer  wurden  großen- 
teils von  der  Ritterschaft  eingezogen  oder  zur  Verminderung  des 
Rechts  der  alten  und  neuen  Besitzer  ausgenutzt.  Doch  sogleich 
setzte  auch  die  Reaktion  hiergegen  seitens  der  Landesherren  ein, 
welche  in  dem  Bauernschutz  Friedrich  Wilhelms  I.  und  Fried- 
richs des  Großen  und  schließlich  in  der  Bauernbefreiung  ihren 
Abschluß  fand. 

Von  entscheidendem  Einfluß  auf  die  Zusammensetzung  der 
Bevölkerung,  ihr  Recht  und  die  gesamte  soziale  Struktur  der 
östlichen  Länder  ist  der  Umstand  gewesen,  daß  sie  nicht  nur  in 
der    Zeit    der    eigentlichen  Kolonisation   selbst,    sondern   darüber 


I)  Nach  dem  Landbuch  des  Amtes  Wittenberg  (sächsisches  Gebiet)  lagen 
auf  dem  hohen  Fläming  bereits  um  das  Jahr  1500  15  Dörfer  wüst,  welche  von 
Flamen  angelegt  waren. 


—     73     — 

hinaus  weit  hinein  ins  i8.  Jahrhundert  auf  den  dauernden  Zu- 
strom neuer  Wanderer  aus  dem  Westen  angewiesen  waren  ^). 
Bestand  die  ursprüngliche  Einwanderung  aus  Mitgliedern  fast 
aller  deutschen  Stämme,  welche  sich  teils  in  wirrem  Durch- 
einander, teils  in  gesonderten  Bezirken  nach  Stämmen  und  Art 
der  agrarischen  Kultur  getrennt  auf  dem  wilden  Boden  oder  in 
alten  verlassenen  Slavendörfern  niederließen,  so  zeigte  die  neue 
Wanderungswelle,  welche  sich  nach  langer  Ruhepause  im  17.  und 
18.  Jahrhundert  in  die  Wüsten  des  dreißigjährigen  Krieges  ergoß, 
einen  ganz  anderen  Charakter :  Ihre  Ursache  war  nicht  mehr  der 
Tatendrang  des  Ueberschusses  der  überfüllten  Länder  wie  im 
Mittelalter,  sondern  die  Vertreibung  einer  hochgebildeten  Bevölke- 
rung aus  religiösen  und  politischen  Gründen  von  Haus  und  Hof. 
Diese  siedelten  sich  meist  in  geschlossenen  Gebieten  an.  Nur  so- 
weit sie  städtisch  waren,  wurden  diese  Zuzügler  in  einzelne  Städte 
nach  dem  Bedarf  und  Raum  verteilt.  Die  sonst  durch  Werbung 
herbeigerufenen  Einwanderer  waren  vorwiegend  ebenfalls  städti- 
sche Gewerbetreibende.  Nur  in  den  durch  Friedrich  den  Gro- 
ßen neu  eroberten  polnischen  Gebietsteilen  wiederholten  sich 
fast  genau  die  Vorgänge  des  Mittelalters.  Hierher  wurden  auch 
umfangreiche  Translozierungen  aus  westlichen  Gebieten  der  Mon- 
archie vorgenommen. 

In  der  Zeit  von  dem  Ende  des  dreißigjährigen  Krieges  zum 
Jahre  1800  findet  so  eine  massenhafte  Einwanderung  aus  dem 
Westen  statt,  welche  von  der  Regierung  mit  allen  Mitteln  der 
Begünstigung  gefördert  wurde.  Zugleich  wurde  auch  ein  starker 
Zwang  auf  die  Städte  ausgeübt,  welche  geneigt  waren,  in  der 
Zeit  stillstehenden  Wirtschaftslebens  sich  nach  außen  abzuschlie- 
ßen ^j.  Das  »regale  majus«  des  Landesherrn  kommt  zur  mäch- 
tigen Geltung.  Rußland,  Oesterreich  und  Preußen  wetteifern  im 
18.  Jahrhundert  in  der  Heranziehung  von  Einwanderern.  »In  den 
preußischen  Staaten  wurde  so  das  vollständigste  und  zusammen- 
hängendste System  zur  Beförderung  und  Erleichterung  nützlicher 
Einwanderung  befolgt.«  Man  muß  hier  unterscheiden  zwischen 
dem  eigentlichen  Kolonialrecht  und  dem  allgemeinen  Einwande- 
rungsrecht. Das  Kolonialrecht  ist  auf  der  Einrichtung  besonderer 
Gemeinwesen    begründet    und    beginnt    mit    der  Aufhebung    des 

i)  Vgl.  Schäfer  S.  336  und  Lamprecht,  Deutsches  Wirtschaftsleben,  Bd.   i. 
2)  Vgl.  Stein,  Verwaltungslehre,    S.   180,    und    Berg,    Teutsches  Polizeirecht, 
Bd.  2,  S.  38  und  S.  40. 


—     74     — 

Edikts  von  Nantes  1685.  Der  Einladung'  Kurfürst  I'riedrich  Wil- 
helms folgten  gegen  14000  Reformierte  und  erhielten  an  ver- 
schiedenen Orten  eine  besondere  Gemeindeverfassung.  Ebenso 
die  pfälzischen  Auswanderer  1688  und  die  salzburgischen  und 
böhmischen  Auswandere  1721,  1726  und  1736.  Die  allgemeine 
Grundlage  der  diesen  erteilten  Privilegien  ist  stets  neben  freier 
Religionsausübung  und  direkter  Unterstützung  das  Zugeständnis, 
als  Selbstverwaltungskörper  sich  in  bürgerlichen  Rechtsstreitig- 
keiten nach  eigenem  Recht  zu  richten.  Neben  diesem  eigent- 
lichen Kolonialrecht  bestand  das  Einwanderungsrecht  für  einzelne, 
das  in  Preußen  ebenso  wie  übrigens  in  Braunschweig  sehr  frei- 
sinnig war.  Unterstützungen  öffentlicher  und  privater  Art  wur- 
den reichlich  verliehen.  Die  Einwanderer  erhielten  Ersatz  der 
Transport-  und  Beihilfe  zu  den  Baukosten,  Befreiung  von  öffent- 
lichen Lasten  und  10  oder  15  Freijahre,  innerhalb  welcher  sie 
auch  noch  nicht  als  Untertanen  galten,  sondern  ohne  Nachsteuer 
wieder  abziehen  konnten.  Das  preußische  Patent  über  die  Neu- 
anziehenden vom  27.  November  17 12  befiehlt:  »Es  sollen  keine 
anderen  als  des  Ackerbaus  und  der  Viehzucht  kundige  Bauers- 
leute, auch  der  übrigen  Landnahrung  erfahrene  hiezu  angenom- 
men w'erden«-,  und  ein  Jeder,  der  sich  auf  diese  Weise  nieder- 
lassen wolle,  müsse  einen  Schein  von  seiner  Obrigkeit  unter  wel- 
cher er  gewohnt  mitbringen,  daß  er  sich  bishero  redlich  genährt 
und  geführet,  auch  mit  derselben  Vorwissen  abgereist  sei  ^).  Die 
rev.  Gen.  Steuerordnung  1684  ermäßigt  auch  das  Bürgergeld.  Es 
erhellt  hieraus,  mit  welcher  Sorgfalt  das  Interesse  der  Landeskul- 
tur gewahrt  wurde  Die  Betteledikte  nehmen  von  dem  generellen 
Bettelverbot  regelmäßig  die  Religionsflüchtlinge  aus,  solange  sie 
sich  bestreben,  sich  ansässig  zu  machen.     Zuletzt   1748. 

Bei  den  Bestimmungen  über  den  Heimats-  oder  Bürgerrechts- 
erwerb der  Neuziehenden  wird  überall  ein  großer  Unterschied 
zwischen  In-  und    Ausländern   gemacht  ^).     »Im    allgemeinen  hat 

1)  In  Vorpommern  besagt  die  Kgl.  Verordnung  wegen  der  Freyheiten  derer, 
die  sich  in  den  Pommernschen  Landen  zu  wohnen  begeben  wollen,  10.4.  1669  und 
7.  3.  1681:  >0b  sie  auch  wohl  bei  ihrem  Antritt  den  Bürgereid  abzustatten,  und 
dagegen  des  Bürgerrechts  zu  genießen  haben,  sollen  sie  doch  weder  wegen  der 
gewöhnlichen  Recognition,  noch  des  Bürgerschosses  oder  Grundgeldes,  vor  oder  in 
den  10  Jahren,  nicht  molestiert  werden,  nach  Ablauf  solcher  Zeit  aber  allein  für 
das  Bürgergeld  ein  Leidliches,  und  wie  sie  sich  mit  dem  Magistrat  am  besten  ver- 
tragen können,  zu  geben  schuldig  sein.«      Pommersches  Urkundenbuch,  Cap.  6. 

2)  Das  Braunschw.    Patent    12.  7.    17 18    bestimmt:     >daß  alle,    welche    über 


•—     75     — 

die  Verwaltung  der  großen  deutschen  Staaten  den  Grundsatz  zur 
Durchführung  gebracht,  daß  die  Einwanderung  von  Ausländern 
mit  allen  Mitteln  zu  befördern  sei,  während  sie  der  inneren  Be- 
wegung der  Einwanderung,  der  Wanderung  von  Provinz  zu  Pro- 
vinz und  von  Stadt  zu  Stadt  große  Hemmnisse  entgegensetzte.« 
.  .  .  »Bei  der  Strenge  des  meistens  auf  Zunftinteressen  oder  auf 
der  Gutshörigkeit  beruhenden  Heimatsrechts  war  es  von  vorn- 
herein wahrscheinlich,  daß  ein  wandernder  Inländer  besitz-  und 
erwerblos  sein  werde  .  .  .«  dies  trifft  auf  Preußen  in  besonderem 
Maße  zu.  Bei  der  dünnen  Bevölkerung  in  alten  und  neuen  Sie- 
delungsgebieten  mußte  auch  auf  die  Seßhaftigkeit  der  Einwohner 
Wert  gelegt  werden,  denn  auf  dem  Lande  wenigstens  ist  erst  die 
Folge  von  Generationen  imstande,  wirklich  durchgreifende  Kultur- 
leistungen zu  vollbringen ;  der  einzelne  ist  hier  heut  wie  im  Mittel- 
alter nicht  nur  als  Persönlichkeit,  sondern  grade  als  Mitglied  sei- 
ner Familie,  als  ein  Glied  in  der  Generationenkette  wertvoll. 
Hierin  hat  vielleicht  auch  die  Schollenbindung  nicht  ihre  schlech- 
teste Rechtfertigung.  Der  Staat  als  Förderer  der  Landeskultur 
und  zugleich  im  Interesse  der  öffentlichen  Sicherheit  sowie  der 
wohlerworbenen  Rechte  der  Zünfte  und  Gutsherrschaften  hatte 
somit  gar  kein  Interesse  an  der  Freizügigkeit  innerhalb  seines 
Gebiets  zu  einer  Zeit,  wo  die  landwirtschaftliche  Kultur  und 
Technik  fast  allein  auf  die  Handkräfte  angewiesen  war.  Gegen- 
über den  Uebertreibungen  der  Ausschließungsberechtigten,  Städ- 
ten sowohl  wie  Herrschaften  aber  machte  das  preußische  König- 
tum die  Interessen  des  Landes  sowohl  wie  des  Individuums  nach 
Möglichkeit  geltend.  Doch  war  dies  schwieriger  gegen  das  pri- 
vate Recht  der  Gutsherrschaften  als  das  öffentliche  der  Städte. 
Wenn  es  auch  der  altpreußischen  Verwaltung  somit  völlig  fern- 
gelegen hat,  die  Freizügigkeit  zu  begünstigen,  so  hat  sie  doch 
von  sich  aus  die  persönliche  Freiheit  der  Bewegung  nur  in  dem 
von  ihr  verstandenen  Landesinteresse  beschränkt. 

Was  dagegen  die  Verehelichungsfreiheit  anlangt,  so  wissen 
wir,  entgegengesetzt  der  sonstigen  deutschen  Gesetzgebung,  von 
keinen  öffentlichen  oder  polizeilichen  Beschränkungen,  wenngleich 
auch  hier  sich  solche  in  dem  Dunkel  mancher  Stadtverfassung 
lange  erhalten  haben  mögen.     Der  größte  Teil  der  ländlichen  Be- 

2000  Rthl.  in's  Land  bringen  und  keine  bürgerliche  Nahrung  treiben,  nicht  schuldig 
sind,  die  Bürgerschaft  zu  gewinnen,  auch  unter  keiner  Stadtobrigkeit  stehen.«  Vgl. 
Rehm.     Stein,  Verwaltungslehre,  Teil   i,   S.   177. 


-     70     — 

vülkcrung  unterlag  allcl■dinl,^s  den  örtlich  verschiedenen,  teilweise 
jedenfalls  recht  harten  Beschränkungen,  welche  eine  Folge  der 
Gutsuntertänigkeit,  somit  aber  privatrechtlichcr  Natur  waren.  Je- 
doch hebt  schon  ein  Mdikt  vom  i8.  März  1/37 'j  einen  Teil  der- 
selben auf,  indem  es  jegliches  Loskaufgcld  von  sich  verheiraten- 
den L'ntertanentöchtern  verbietet. 

Das  ALR.,  um  dies  hier  gleich  im  Zusammenhang  vorweg- 
zunehmen, erhält  diese  Beschränkungen  der  Eheschließungsfrei- 
heit in  dem  Sinne  aufrecht,  daß  die  polizeilichen  Interessen  der 
öffentlichen  Ordnung  und  die  privatrechtlichen  der  Gutsherrn 
gleichermaßen  gewahrt  bleiben.  Aber  das  Maß  dieser  Beschrän- 
kungen ist  doch  so  gemindert,  daß  von  einem  absoluten  Ehe- 
verbot füglich  nicht  mehr  die  Rede  sein  kann.  —  Der  große  und 
grundsätzliche  Unterschied  der  preußischen  landrechtlichen  Ver- 
bote gegenüber  den  bayrischen  besteht  darin,  daß  dort  die  ein- 
mal geschlossene  Ehe  unbedingt  gültig  bleibt,  ihren  bürgerlichen 
wie  ihren  öffentlich-rechtlichen  Folgen  nach  (Armenpolizei),  wäh- 
rend sie  hier  einfach  als  nicht  geschlossen  gilt.  Auch  die  Be- 
amten und  Geistlichen,  welche  bei  der  Eheschließung  ohne  herr- 
schaftlichen Konsens  mitgewirkt  haben,  bleiben  in  Preußen  frei 
von  jeder  Haftung.  Die  geringfügige  Strafe  der  Eheschließenden 
scheint  sich  in  Preußen  mehr  auf  die  Uebertretung  eines  poli- 
zeilichen Verbots  zu  beziehen,  als  daß  sie  als  Mittel  gegen  die 
Verarmung  wirksam  werden  könnte.  Der  Herrschaft  blieb  nach 
ALR.  nur  die  Entsetzung  der  Untertanen  übrig  ^),  zum  mindesten 

1)  Mylius,  C.   C.  M.    1737,    15. 

2)  §  161.  Unterthanen  sind  bei  beabsichtigter  Heirat  die  Genehmigung  der 
Herrschaft  nachzusuchen  verbunden. 

§  162.  Die  Herrschaft  aber  kann  ihnen  die  Erlaubniß  ohne  gesetzmäßigen 
Grund  nicht  versagen. 

§  163.  Gesetzmäßige  Weigerungsursachen  sind,  wenn  die  Person,  welche  der 
Unterthan  heiraten  will,  sich  groben  Verbrechens  schuldig  gemacht  hat. 

§  164.  Ferner  wenn  diese  Person  wegen  Liderlichkeit,  Faulheit  oder  Wider- 
spenstigkeit bekannt  ist  und  dessen  durch  glaubwürdige  Zeugnisse  überführt  wer- 
den kann. 

§  165.  Im  gleichen,  wenn  dieselbe  wegen  körperlicher  Gebrechen  unfähig 
ist,  den  wirtschaftlichen  Arbeiten,  deren  Verrichtung  ihr  obliegt,  gehörig  vorzustehen. 

§  166.  Auch  Leuten,  welche  selbst  körperlicher  Gebrechen  wegen  sich  und 
ihre  Familie  zu  ernähren  außer  Stande  sind,  kann  die  Herrschaft  die  Erlaubniß 
zu  einer  Heirat,  durch  welche  ihre  Umstände  nicht  verbessert  werden,  versagen. 

§  167.  Der  Unterthan  männlichen  Geschlechts,  welcher  die  Erlaubniß  zur 
Heirat  nachsucht,  muß  in  der  Regel,  wenn  es  die  Herrschaft  verlangt,  an  dem  Ort, 
wo  er  unterthänig  ist,  sich  häuslich  niederlassen.     (§§   114,    115,   517.) 


—    17    — 

ein  zweischneidiges  Schwert,  um  sich  der  Fürsorgepflicht  zu  ent- 
ziehen. 

Einen  wichtigen  Bestandteil  der  allgemeinen  Landeskultur- 
pflege, wie  wir  sie  bisher  verfolgt  haben,  bilden  die  Bettelord- 
nungen, welche  wir  nun  bis  zu  ihrer  Aufhebung  durch  das  ALR. 
zu  betrachten  haben.  1 549  schließen  die  Herren  von  Branden- 
burg, Pommern  und  IMecklenburg  einen  Vertrag  zur  gemeinsamen 
Durchführung  des  von  Karl  V.  erlassenen  Landfriedens,  welcher 
alle  4  Wochen  in  den  Kirchen  verlesen  werden  soll.  Jegliche 
Fehde  und  »Austreten«  zum  Zwecke  eigenmächtiger  Rechtsver- 
folgung werden  streng  bedroht.  Der  Erfolg  war  allerdings  zu- 
nächst nicht  bedeutend.  Von  hier  an  bis  zum  Ende  des  17.  Jahr- 
hunderts ergehen  fast  alljährlich  neue  Edikte  und  Wiederholungen 
der  alten  mit  immer  schärferen  Bestimmungen  wider  die  »Bettler, 
Landstreicher,  Zigeuner,  Betteljuden,  Müßiggänger,  gardende 
Knechte  und  abgedankte  Soldaten«  und  wie  dies  lose  Gesindel 
sonst  noch  bezeichnet  wird. 

Das  Brandenb.  Ed.  Montags  vor  Margarethen  1565  »wieder 
die  frembde  Bettler  und  Landstreicher,  wie  wieder  dieselben  zu 
verfahren,  und  daß  die  einheimische  und  einländische  Armen  zu 
versorgen«  bestimmt:  »Mit  anderen  Bettlern  aber,  so  in  unsern 
Landen  gesessen,  und  allda  verarmt  sein,  soll  es  allso  gehalten 
werden,  Daß  ein  jede  gemeine  in  Stedten  und  Flecken  und  Dörf- 
fern ihre  Armen,  die  wegen  ihrer  Gebrechlichkeit  oder  Leibes 
Schwachheit  und  aus  Noth,  Ihren  unterhalt  zu  suchen  gedrungen, 
bey  sich  behalten  und  sie  aus  den  Gefeilen  der  Gotteskasten  und 
sonst  durch  tegliche  Allmosen  der  Einwohner,  erneren  lassen, 
auf  daß  die  Leute  an  anderen  Oertern,  fortan,  diesfalls  unbe- 
schwert bleiben  mögen«.  Und  weiter  ergehen  in  der  Folge  bis 
zum  Jahre  1624  allein  15  weitere  Bettelordnungen  in  der  Kur- 
mark. Das  Edikt  von  1 565  führt  also  die  Vorschrift  des  Reichs- 
tagsschlusses von  Lindau  u.  a.  m.  für  Brandenburg  durch,  wonach 

§  168.  Ehen,  die  ohne  herrschaftliche  Erlaubniß  abgeschlossen  sind,  sind 
zwar  gültig,  die  Uebertreter  aber  mögen  mit  verhältnißmäßiger  Gefängnißstrafe  oder 
Strafarbeit  von  3  Tagen  bis  zu  4  Wochen  belegt  werden. 

§  169.  Hat  ein  angesessener  Unterthan  eine  Person,  welcher  die  163,  164 
erwähnten  Ausstellungen  entgegenstehen,  ohne  Consens  der  Herrschaft  geheiratet, 
so  ist  die    Herrschaft  auf  seine  Entsetzung  aus  der  Stelle  anzutragen  berechtigt. 

§  170.  Wenn  die  Herrschaft  nach  erfolgter  gehöriger  Prüfung  ihren  Consens 
in  die  Heirat  eines  Unterthanen  ohne  rechtlichen  Grund  versagt,  so  muß  derselbe 
auf  Anrufen  des  Unterthanen  durch  das  Obergericht  der  Provinz    ergänzt    werden. 


-     78     - 

die  Armenpflege  den  politischen  Gemeinden  in  Stadt  und  Land 
überwiesen  wird,  ohne  genaue  Kriterien  über  die  Ilingchörigkeit 
derselben  anzugeben.  Erst  im  17.  Jahrhundert,  nach  dem  dreißig- 
jährigen Kriege  bildet  sich  ein  neues  und  eignes  Recht  über  die 
Bemessung  des  Inkolats  für  die  Armenversorgung  entsprechend 
der  Entwicklung  des  römischen  Rechts  heraus.    Gegen  Ende  des 

17.  Jahrhunderts  finden  wir  denn  in  den  Bettelordnungen  auch 
zuerst  nähere  Bestimmungen  über  die  Heimatgehörigkeit  der 
Armen  ^).  Zwar  wiegen  auch  in  der  P'olge  immer  noch  die  poli- 
zeilichen strafenden  Vorschriften  allgemeiner  Art  vor,  aber  da- 
neben werden  jetzt  doch  schon  allmählich  die  Grundsätze  heraus- 
gebildet, nach  welchen  die  Hingehörigkeit  der  Armen  zu  be- 
messen ist.  Dem  Begriff:  >ihre  Armen«  wird  ein  genauer  begrenzter 
Inhalt  gegeben.  Die  bis  dahin  nur  in  den  Stadtrechten  und  den 
Schriften  der  Juristen  aufgestellten  Grundsätze  werden  in  die 
territoriale  Gesetzgebung  übernommen  :  neben  die  Verweisung  an 
den  Geburtsort  tritt  je  mehr  und  mehr  die  später  erlangte  Wohn- 
sitzgemeinde. Das  Interesse  der  allgemeinen  Landeskultur  macht 
sich  gegenüber  den  einzelnen  Stadtrechten  geltend.  Das  >Regale 
majus«;  des  Landesherren  wird  wirksam  sowohl  in  bezug  auf  die 
Aufnahme  der  Bürger  wie  auf  die  Verpflegung  der  Armen.  Das 
Edikt  wider  die  Zigeuner  und  fremden  Bettler,  auch  über  die 
Versorgung    der    Armen   im  Lande    vom   10.  April   1696   befiehlt 

l)  Entsprechend  bestimmt  die  Polizeiordnung  im  Herzogthum  Pommern  vom 

18.  12.  1672,  revid.  1681  im  Kap.  6  von  Zigejunern  und  Bettlern:  »Es  sollen  keine 
gardende  Knechte,  starcke  Bettler  und  Landstreicher  tolerieret ,  noch  jemand  zu 
bettlen  und  um  Almosen  zu  bitten  gestattet  werden,  der  nicht  mit  kundbarer  Ge- 
brechlichkeit, Unvermögen  und  Preßhaftigkeit  belegt,  und  sich  durch  seine  Hand- 
arbeit seinen  Unterhalt  nicht  suchen  noch  acquirieren  kann  ....  Eine  jede  Stadt 
und  Commune  ihre  Armen  Selbsten  ernähre,  zu  solchem  Ende  arme  Häuser  auf- 
richte und  dazu  eine  Collekte  oder  Beysteuer,  nach  Gutbefindung  von  den  Ein- 
wohnern erfordere,  und  also  dieselben  erhalte und    den    Fremden    zu    betteln 

gar  nicht  nachgelassen,  noch  daß  sie  über  eine  Nacht  in  der  Stadt  verbleiben 
mögen,  permittieret  werde,  sondern,  daß  sie,  so  bald  sie  angetroffen  werden,  selbige 
entweder  ad  prästandas  operas  geadieret  oder  durch  die  Wacht  Knechte  in  Städten 
und  durch  die  Schulzen  mit  Hülfe  der  Bauersleute  auf  dem  Lande  weggenommen 
und  in  die  nechste  Vestung  gebracht  und  zu  obgedachter  Arbeit  gebracht  werden. 
Würde  es  sich  aber  begeben,  daß  entweder  einheimische  oder  fremde  Bettler  Kinder 
mit  sich  führen,  so  ir  Brod  verdienen  könnten,  alsdann  sollen  solche  auf  dem 
Lande  oder  in  den  Städten  von  ihnen  genommen  und  zu  Handwerckern  oder  zu 
Dienst  geadhibieret  werden. €  Diese  Polizeiordnung  wurde  1702  noch  einmal  in 
kürzerer  Form  erlassen,  um  sie  an  den  Wegen  in  effigie  anzuschlagen  und  all- 
monatlich in  den  Kirchen  zu  verkündigen. 


—     79    — 

jeder  Gerichtsobrigkeit  auf  dem  Lande  und  in  den  Städten  die 
Versorgung  derjenigen  Bettler,  so  in  ihrem  Gerichtssprengel  ge- 
boren oder  daselbst  zuletzt  gedient  haben,  dergestalt,  daß  sel- 
bige zu  betteln  außerhalb  nicht  Ursache  haben.  Die  Edikte  vom 
19.  November  1698  und  die  Armen-  und  Bettlerordnung  vom 
18.  März  1701  verpflichten  die  Städte  und  die  Ritterschaft,  den 
Arbeitsfähigen  Beschäftigung  zu  verschaffen,  den  weniger  Ar- 
beitsfähigen Almosenunterstützung  zu  geben  und  den  Arbeits- 
unfähigen Unterhalt  in  Kranken-,  Waisen-  und  Armenhäusern  zu 
gewähren,  auch  hierzu  die  Vereinigung  mehrerer  Orte  zu  bewirken. 
Morose  Kontribuenten  sollen  zwangsweise  zum  Armenbeitrag  ge- 
zwungen werden  und  die  Ortsgeistlichen  sollen  die  Gesamtauf- 
sicht über  die  Armenanstalten  der  Gemeinde  haben.  Zur  Vor- 
beugung sollen  unordentliche  Wirte  in  Aufsicht  genommen  und 
die  Gesellen  von  den  Gewerken  beaufsichtigt  werden. 

Die  hierauf  unter  dem  19.  September  1708  ergangene  Armen- 
und  Bettlerordnung  erweitert  die  früheren  Vorschriften  in  An- 
sehung der  Städte  dahin,  daß  sie  denjenigen  Ort  zum  Unterhalt 
verpflichtet,  worin  der  betreffende  Arme  das  Bürgerrecht  gewon- 
nen, in  eine  Innung  aufgenommen,  oder  10  Jahre  wohnhaft  ge- 
wesen ist,  und  die  Magisträte  und  Geistlichen  zur  Einsammlung 
freiwilliger  und  in  deren  Ermangelung  auferlegter  Beiträge  er- 
mächtigt. Das  Edikt  Friedrich  Wilhelms  I.  vom  10.  Februar 
171 5  stimmt  hiermit  wörtlich  überein,  das  Edikt  vom  10.  De- 
zember 1720  erwähnt  wieder  nur  den  Geburtsort  als  verpflichtet. 
Das  »erneuerte  und  verschärffte  Edikt«  vom  25.  Februar  1731 
dagegen  setzt  abermals  fest,  daß  sich  die  einheimischen  Bettler 
»nach  den  Orten,  wo  sie  geboren,  oder  wo  sie  sich  sonst  ge- 
nährt oder  aufgehalten  haben,  begeben  sollen.«  Wir  haben  diese 
Edikte  wohl  im  wesentlichen  als  inhaltlich  übereinstimmend  an- 
zusehen, wenn  auch  der  Wortlaut  oder  die  Vorschriften  nicht 
immer  genau  dasselbe  besagen.  Denn  die  Verweisungen  in  einem 
jeden  auf  die  vorangegangenen  Edikte  überhoben  in  einzelnen 
Fällen  wohl  der  Aufzählung  aller  in  Betracht  kommenden  Merk- 
male. 

Eine  vollständige  Zusammenfassung  der  bisherigen  Vorschriften 
bringt  dann  wieder  das  Edikt  ^)  Friedrichs  des  Großen  vom  28.  April 
1748  »Wie  die  wirklichen  Armen  versorgt  und  verpflegt,  die  muth- 
willigen  Bettler   bestraft   und    zur  Arbeit  angehalten,    auch  über- 

i)  Vgl.  Mylius,  C.  C.  M.  Teil  5,  Art.  5    und  Teil   i,    Art.  2.     Dökl    S.  6  ff. 


—     8o     — 

haupt  keine  Bettler  mehr  geduldet  werden  sollen,  c  Die  Landes- 
regierungen, Kriegs-  und  Domänenkammern  und  Obrigkeiten  sind 
für  gute  Armenpflege  verantwortlich.  Dies  ist  der  Grundsatz, 
daß  der  Staat  als  solcher  für  die  Wohlfahrt  seiner  Mitglieder  ver- 
antwortlich ist,  welcher  nachher  auch  in  das  ALR.  übergegangen 
ist,  wie  überhaupt  dies  Edikt  den  Ucbergang  zum  ALR.  be- 
deutet. Errichtung  von  Armenkassen,  Hospitälern  und  Waisen- 
häusern wird  vorgeschrieben,  Unterstützung  von  Eltern  bei  der 
Erziehung  ihrer  Kinder  und  Ausübung  einer  strengen  Bettelpolizei 
durch  > Bettelvögte«.  §  15  lautet:  »Es  sollen  demnach  alle  fremde 
und  ausländische  Bettler  von  Zeit  dieses  Ediktes  Publikation  an 
längstens  innerhalb  14  Tagen  Unsere  Lande  räumen,  die  ein- 
heimischen oder  einländischen  wahren  Bettler  aber  binnen  gleicher 
Zeit  sich  an  den  Ort  ihrer  Heimat,  allwo  sie  gebürtig,  oder  wo 
sie  die  letzten  drei  Jahre  gewohnt,  oder  sich  sonst  genährt  ge- 
habt, zurückbegeben.«  Diese  Voranstellung  der  Fürsorge  für  die 
Armen  selbst  und  die  Normierung  einer  bestimmten  Zeit  als 
alleiniger  Maßstab  neben  der  Geburt  ist  das  charakteristische  Neue 
an  diesem  Friederizianischen  Edikt.  Die  formelle  Aufnahme  ist 
abgeschafft  und  nur  die  Geburt  und  Aufenthalt  als  heimatbe- 
gründend geblieben  '). 


l)  Es  mag  sich  hier  ein  kurzer  Ueberblick  über  die  Entwicklung  des  Anstalts- 
wesens anschließen,  welches  überhaupt  in  inniger  Verbindung  mit  dem  Armenwesen 
steht,  in  Preußen  aber  ganz  besonders  berücksichtigt  werden  muß.  In  Verbindung 
damit  steht  die  Bildung  von  Armenverbänden.  Die  kirchlichen  Hospitäler  und 
städtischen  Siechenhäuser  fallen  nicht  unter  den  Begriff  der  Anstalten  in  diesem 
Sinne;  das  eigentümliche  der  staatlichen  Anstalten  ist  ihr  öffentlicher  Charakter  und 
ihre  Ausnutzung  für  polizeiliche  Zwecke.  In  dieser  Hinsicht  ging  England  allen 
voran.  Das  Elisabetlianische  Gesetz  von  l6oi  ordnete  die  Unierbringung  der  ar- 
beitsfähigen Armen  in  »houses  of  correction<  an,  welche  seitdem  eine  Eigentüm- 
lichkeit des  englischen  Armenwesens  geblieben  sind.  1723  in  die  »workhouses< 
umgewandelt,  erfüllten  sie  ihren  Zweck  doch  nicht..  Trotz  der  größten  Aufwen- 
dungen der  zu  diesem  Zweck  gebildeten  parish-Verbände  gelang  es  nicht,  die 
Bettler  darin  tmterzubringen.  Durch  die  Gilbert-Acte  17S2  abgeschafft,  wurden  sie 
im  Jahre  1824  wieder  eingeführt.  Ihr  strenger  Strafanbtaltscharakter  sollte  die  nur 
Arbeitsscheuen  abschrecken  und  so  eine  leichtere  Ausscheidung  .der  wirklich  Be- 
dürftigen herbeiführen.  Doch  machte  sie  eben  dieser  Strafcharakter  und  die  Tren- 
nung der  Familienglieder  darin  zu  einer  ordentlichen  Pflege,  geschweige  zur  Vor- 
beugung völlig  ungeeignet.  Im  Jahr  1867  trat  die  notwendige  Reform  ein,  welche 
die  Strafanstalten  von  den  Pflegeanstalten  trennte,  besondere  Häuser  für  Kranke, 
alte  Leute  und  Kinder  einrichtete.     (Vgl.  Aschrott,  Engl.  Armenwesen.) 

Frankreich  kennt  an  staatlichen  Armenanstalten  nur  die  Irren-  und  Waisen- 
häuser, welche  von  den  Departements  eingerichtet  werden.     Alle  übrigen  Anstalten 


—     8i     — 

Die  Bestimmungen  des  Allgemeinen  Landrechts  gehen  in 
ihren  Grundzügen  auf  das  Friderizianische  Edikt  von  1748  zurück, 

werden  unter  Aufsicht  der  Kirche  von  den  »bureaux  de  bienfaisance«  unterhalten 
und  entbehren  des  eigentlich  öffentlichen  Charakters.  Jene  datieren  auch  erst  von 
der  Neuordnung  nach  der  durch  die  Revolution  verursachten  Einziehung  der  Kir- 
chengüter her. 

In  Deutschland  gehen  mit  der  Anstaltseinrichtung  Preußen  und  Bayern  voran. 
In  Bayern  werden  um  1700  Staatsfabriken  zur  Unterbringung  der  Bettler  nach  eng- 
lischem Muster  vorgesehen.  Der  Fränkische  Kreisschluß  von  1791  und  der 
Schwäbische  von  1783  sehen  die  Einrichtung  eines  gemeinsamen  Arbeits-  und 
Zuchthauses  vor,  zu  deren  Ausführung  es  aber  in  der  Folge  nicht  kam.  Die 
bayrische  Gesetzgebung  ließ  der  Kirche  unter  staatlicher  Aufsicht  die  Verwaltung 
der  Anstalten  für  größere  Bezirke;  die  kleinen  Gemeindearmenhäuser  sind  keine 
Anstalten,  sondern  nur  Unterkunftshäuser  in  Konkurrenz  mit  der  reihenweisen  Ver- 
pflegung. Erst  1825  wurden  die  Kreise  und  Distrikte  'mit  der  Verwaltung  der 
Armenanstalten  beauftragt.  Doch  bestand  für  diese  keine  Verpflichtung  zur  Errich- 
tung neuer  Anstalten,  sondern  nur  zur  Erhaltung  der  bereits  bestehenden.  Den 
polizeilichen  Zwecken  dienten  hier  die  ordentlichen  Strafanstalten, 

In  Preußen  ist  man  schon  wesentlich  früher  auf  die  Unterbringung  der  Va- 
gabunden bedacht.  In  Brandenburg  und  in  Pommern  befehlen  die  Bettelordnungen 
des  16.  und  17.  Jahrhunderts  die  Einlieferung  derselben  in  die  Festungen  zur 
Fronarbeit.  Die  Armenordnungen  vom  Jahre  1701  und  1708  sehen  die  Unterbringung 
der  wirklich  Armen  zur  Verpflegung  in  Armen-,  Waisen-  und  Krankenhäusern  vor. 
Diese  Edikte  ebenso  wie  das  Friederizianische  von  1748  verfügen  die  Einlieferung 
der  einheimischen  und  nicht  auszuliefernden  Vagabunden  aus  dem  Auslande  in  die 
staatlichen  Spinn-  und  Arbeitshäuser.  Eine  genaue  Trennung  dieser  verschiedenen 
Anstalten  wird  aber  noch  nicht  vorgenommen.  Einen  größeren  Fortschritt  in  dieser 
Richtung  machen  erst  die  Landarmenreglements  der  90  er  Jahre  des  18.  Jahrhunderts. 

Das  Landarmen-  und  Invaliden-Reglement  für  die  Churmark  vom  16.  6.  1791 
befiehlt  die  Errichtung  von  fünf  solchen  Häusern  in  Tangermünde,  Wittstock, 
Straußberg,  Brandenburg  und  Prenzlau,  Die  Invaliden-  und  Armenhäuser  sollen 
getrennt  gebaut  und  verwaltet  werden,  nur  eine  gemeinsame  Oekonomie  zur  billi- 
geren Unterhaltung  erhalten.  Die  Invaliden  sollen  besser  behandelt  werden  als  die 
Armen.  Die  Kosten  tragen  die  Landstände,  und  zwar  nach  Maßgabe  der  bisheri- 
gen Belästigung  durch  die  Bettler.  Bei  der  Aufsicht  ist  einem  Kgl.  Kommissar 
bedeutende  Mitwirkung  gesichert.  §  108  lautet :  »So  gemeinnützig  auch  diese 
Anstalt  für  das  Beste  unserer  Untertanen  ist,  so  kann  doch  dadurch  die  Verbindlich- 
keit einer  jeden  Commune  und  Obrigkeit,  für  die  Versorgung  der  Armen  ihres  Orts 
Sorge  zu  tragen,  so  wenig  in  den  Städten  als  auf  dem  Lande  für  aufgehoben  be- 
trachtet werden.  Diese  gehört  zu  den  ersten  Grundsätzen  der  gesellschaftlichen 
Verbindung ;  sie  ist  eine  der  ersten  Pflichten  der  Mildtätigkeit,  deren  Ausübung,  da 
sie  auf  den  sittlichen  Charakter  der  Nation  einen  so  großen  Einfluß  hat,  wir  nicht 
nur  von  neuem  bestätigen,  sondern  auch  darauf  um  so  mehr  gehalten  wissen  wollen, 
da  bei  deren  Vernachlässigung  zugleich  die  Erreichung  des  durch  diese  Anstalt 
beabsichtigten  Zwecks  in  Gefahr  gesetzt  wird,«  Vgl,  Mylius,  C.  C.  M.  Contin. 
Bd.  9,  S.  123,  Außerdem  werden  die  oben  erwähnten  diesbezüglichen  Edikte  er- 
Zeitschjift  für  die  ges.  Staatswissensch.     Ergänzungsheft  51.  O 


—       82       — 

welches  im  übrigen    daneben    ebenso    wie    die    einzelnen    provin- 
ziellen Landarmenrejrlements    in  Geltung    bleibt.     Das  Edikt  von 


neuert.  Im  Anschluß  daran  wird  iSoi  die  erste  selbständige  Irrenanstalt  in  Neu- 
ruppin  errichtet.  Unter  dem  31.  10.  1793  erging  ein  entsprechendes  Reglement  für 
die  Provinz  Preußen,  am  6.4.  1799  für  Pomnii,rn  und  am  12.5.  1800  für  die  Neu- 
mark.    Für  Schlesien  blieb  das  Alte  Reglement  von    1749  in  Geltung. 

Die  weitere  Entwicklung  des  Anstaltswescns  ist  gekennzeichnet  durch  die 
immer  mehr  im  19.  Jahrhundert  einsetzende  Arbeitsteilung.  Irren-,  Waisen-, 
Kranken-,  Invaliden-,  Strafanstalten  werden  gesondert,  das  Gefängniswesen  ausge- 
bildet und  schließlich  als  vorläufig  letztes  Glied  die  Fürsorgeerziehung  als  geson- 
derte  Aufgabe  der  staatlichen  und    kommunalen  Wohlfahrtspflege  eingerichtet. 

Mit  der  Erweiterung  der  Aufgaben  der  Armenpflege  geht  Hand  in  Hand  die 
Erweiterung  der  zu  ihrer  Durchführung  über  den  Rahmen  der  einzelnen  Gemeinde 
hinaus  errichteten  Verbände,  ja  überhaupt  erst  deren  Piegründung.  Zwei  Ursachen 
sind  für  die  Verbandsbildung  maßgebend:  die  Ordnung  des  Heimalwesens  (im 
weiteren  Sinne  als  der  Zuständigkeit)  und  die  Errichtung  von  Anstalten.  Durchweg 
ist  jene  öffentliche  polizeiliche  Ordnung  früher  in  diesem  Sinne  wirksam  als  diese 
pflegerische,  weil  diese  eben  viel  später  von  der  öffentlichen  Gewalt  übernom- 
men wurde. 

Die  englische  Armengesetzgebung  ging  von  vornherein  nicht  von  der  Ge- 
meinde, sondern  von  dem  größeren  Kirchspielverband  aus.  Die  Gemeinden  waren 
den  ihnen  gestellten  Aufgaben :  Verbindung  der  Polizei  mit  der  Anstaltsunter- 
bringung nicht  allein  gewachsen.  Die  »parishes«  waren  die  Träger  der  Fürsorge- 
pflicht und  begrenzten  daher  zugleich  völlig  die  Bewegungsfreiheit  der  Bevölkerung. 
Die  rigorose  Bestimmung,  daß  40tägiger  Aufenthalt  schon  die  Fürsorgepflicht  be- 
dinge, war  wegen  der  damit  verbundenen  kurzfristigen  Ausweisungsbefugnis  die 
Ursache  der  Unmöglichkeit,  die  Bevölkerung  des  Bezirks  ausreichend  zu  beschäfti- 
gen, des  Zwanges,  die  Arbeitshäuser  einzurichten  und  somit  der  ungeheuren 
Armenlasten.  Erst  das  19.  Jahrhundert  brachte  von  1847  an  schrittweise  eine 
Verlängerung  der  Aufenthaltsfrist,  damit  der  Freizügigkeit  und  zugleich  die  Erwei- 
terung und  teilweise  Ersetzung  der  »parishes«  zu  den  >unions«.  Die  Grafschaften 
mußten  die  Kirchspiele  ergänzen. 

In  Deutschland  war  die  Unfähigkeit  einzelner  Gemeinden,  die  staatlich  über- 
wiesene Verpflichtung  zur  Armenpflege  zu  erfüllen,  die  Ursache,  daß  schon  im 
16.  Jahrhundert  die  bayrischen  Bettelordnungen  die  Obrigkeiten  in  solchen  Fällen 
ermächtigten,  für  einen  größeren  Bezirk  gültige  Bettelbriefe  auszustellen.  Entspre- 
chend verordneten  die  preußischen  Edikte,  die  Armen  verschiedener  Gemeinden 
»conjunktim«  zu  verpflegen.  Das  schlesische  Edikt  von  1749  befahl  zuerst  den 
förmlichen  Zusammenschluß  von  Domanien,  Gütern  und  Dorfschaften  zu  diesem 
Zwecke.  Und  generell  wurden  durch  die  Landarmenreglements  in  Preußen  größere 
Verbände  errichtet.  Zu  gleicher  Zeit  findet  der  Zusammenschluß  der  süddeutschen 
Territorien  zu  gemeinsamen  Armenverbänden  statt.  Im  19.  Jahrhundert  organisiert 
Bayern  seine  inneren  Verwaltungsdistrikte  und  Kreise  als  Armenverbände,  und  läßt 
Preußen  nach  dem  Muster  jener  schlesischen  Verordnung  die  Bildung  von  Samt- 
gemeinden im  Westen  (auch  in  Verfolg  der  französischen  Einrichtungen)  imd  von 
Gesamtarmenverbänden  im  Osten,  neuerdings  die   Bildung  von   Zweckverbänden  in 


-     83     - 

1748  wird  in  vollem  Umfange    erst   durch  die  Gesetzgebung  von 
1842   abgelöst^). 

Der  19.  Titel  des  2.  Teils  ALR.  handelt  von  Armenanstalten 
und  anderen  milden  Stiftungen.  Doch  sind  den  sehr  ins  einzelne  ge- 
henden Anstaltsbestimmungen  sehr  eingehende  Vorschriften  all- 
gemeiner Natur  vorangestellt.  §  i.  »Dem  Staate  kommt  es  zu, 
für  die  Ernährung  und  Verpflegung  derjenigen  Bürger  zu  sorgen, 
die  sich  ihren  Unterhalt  nicht  selbst  verschaffen,  und  denselben 
auch  nicht  von  anderen  Privatpersonen,  welche  nach  besonderen 
Gesetzen  dazu  verpflichtet  sind,  erhalten  können.«  §4:  »Fremde 
Bettler  sollen  in  das  Land  nicht  gelassen  oder  darin  geduldet 
werden,  und  wenn  sie  sich  gleichwohl  einschleichen,  sofort  über 
die  Grenze  geschafft  werden«.  §  5.  »Auch  einheimischen  Armen 
soll  das  Betteln  nicht  gestattet,  sondern  dieselben  an  den  Ort 
wohin  sie  gehören,  und  wo  für  sie  nach  den  Vorschriften  des 
gegenwärtigen  Titels  gesorgt  werden  muß,  zurückgeschafft  wer- 
den.« Die  nächsten  Paragraphen  handeln  von  den  vorbeugenden 
staatlichen  Maßregeln.  §  9  handelt  von  den  privilegierten  Kor- 
porationen überhaupt,  nach  §  10  müssen  insbesondere  »auch 
Stadt-  und  Dorfgemeinden  für  die  P2rnährung  ihrer  verarmten 
Mitglieder  und  Einwohner  sorgen.«  §  11.  »In  Ansehung  aus- 
drücklich aufgenommener  Mitglieder  entsteht  die  Verbindlichkeit, 
sobald  die  Aufnahme  wirklich  geschehen  ist.«  §  12.  *In  An- 
sehung anderer  Einwohner  hingegen  ist  nur  diejenige  Stadt-  oder 
Dorfgemeinde  zur  Ernährung  eines  Verarmten  verpflichtet,  bey 
welcher  derselbe  zu  den  gemeinen  Lasten  zuletzt  beigetragen 
hat.«  §  15-  »Aller  Armen  und  Unvermögenden,  denen  ihr  Unter- 
halt auf  andere  Weise  nicht  verschafft  werden  kann,  muß  die 
Polizeiobrigkeit  eines  jeden  Ortes  ohne  Unterschied  des  Standes 
und  sonstigen  Gerichtsstandes  derselben  sich  annehmen.«  §  16. 
»Arme,    deren  Versorgung    nach    obigen    Grundsätzen    einzelnen 


der  ganzen  Monarchie  zu,  zur  besseren  Durchführung  der  allgemeinen  Kommunal- 
aufgaben. 

Somit  ist  die  Wirkung  der  Armenverbände  eine  zweifache  :  einmal  erleichtern 
die  Ortsarmenverbände  den  Pflichtigen  Gemeinden  die  Durchführung  einer  guten 
Armenpflege ;  andererseits  ermöglichen  die  Landarmenverbände  der  gesamten  Be- 
völkerung eine  größere  Bewegungsfreiheit.  Sie  sind  das  Korrelat  der  Freizügigkeit. 
Auf  diesen  Boden  hat  sich  auch  die  neue  deutsche   Armengesetzgebung  gestellt. 

i)  Vgl.  unten  Kap.  6. 

6* 


-     84     - 

Privatpersonen,  Corporationen,  oder  Communcn  nicht  obliegt, 
oder  von  denselben  nicht  bestritten  werden  kann,  sollen  durch 
Vermittclung  des  Staates  in  öffentlichen  Landarmenhäusern  un- 
tergebracht werden.*  Des  weiteren  wird  Bettel  und  Almosen 
überhaui)t  verboten  M-  Ferner  wird  über  die  Art  der  Aufbringung 
der  Mittel  zur  Armenpflege  und  die  Unterhaltuncj;,  Hausordnung 
der  Armenanstalten  und  Befugnisse  der  Obrigkeiten  gehandelt. 
Eine  Armensteuer  soll  nicht  stattfinden.  Die  Armenanstalten 
haben  das  Recht  der  Erbfolge  gegen  ihre  Insassen  und  des  Er- 
satzes ihrer  Aufwendungen,  sowie  der  Flntgegennahme  von  Schenk- 
ungen 2).  An  die  Stelle  der  Generaldirektionen  der  Landarmen- 
häuser treten  später  die  Regierungen,  welche  überhaupt  das  Ar- 
menwesen verwalten.  Die  oberste  Gewalt  hierüber  hat  das  Mi- 
nisterium des  Innern.  Die  Sorge  des  Staates  besteht  in  Preußen 
nicht  in  der  Pflege  selbst,  sondern  in  der  Einrichtung  vorbeugen- 
der Anstalten  und  Beseitigung  von  Anstalten,  welche  die  Armut 
befördern ^J.  »Die  Sorge  des  Staates  besteht  ferner  darin,  daß 
er  die  Verpflichteten  zur  Leistung  der  Armenpflege  anhält,  nicht 
aber,  daß  er  die  Fonds  dazu  hergebe.«  Die  Armenpflege  ist  also 
durchaus  Sache  der  Selbstverwaltung,  wenn  auch  die  staatliche 
Aufsicht  besonders  aus  Gründen  der  Sicherheit  sehr  scharf  ist. 
Fremde  Bettler  und  Betteljuden  sind  unter  allen  Umständen  zu 
beseitigen  oder  fest  unterzubringen.  Sehr  eingehend  wird  das 
Transportwesen  geregelt  in  Fortbildung  älterer  provinzieller  Be- 
stimmungen *). 

Was  nun  den  Kreis  der  zu  unterstützenden  Armen  einer  Ge- 
meinde betrifft,  so  unterscheidet  das  Landrecht  ^Mitglieder  und 
Einwohner.  Ueber  die  Mitglieder  wird  das  nähere  im  7.  und  8. 
Titel  ALR.  Teil  2  bestimmt.  »Die  Besitzer  der  in  einem  Dorfe 
oder  in  dessen  Feldmark  gelegenen  bäuerlichen  Grundstücke 
machen  zusammen  die  Dorfgemeine  aus.«  »Nur  die  angesessenen 
Wirthe  nehmen,  als  Mitglieder  der  Gemeinen,  an  den  Berathschla- 
gungen  derselben  Teil.«     In  den  Gutsherrschaften  findet  nur  das 


i)  Mutwillige  Belik-r  müssen  zur  Arbeit  angehalten,  sonst  bestraft  werden. 
ALR.  2,  20,  §  4.  Zur  Durchführung  dieser  Ordnungen  werden  Bettelvügte  an- 
gestellt.    Edikt   1748,  §   13      Zelter,  Armenpolizei  S.  7  und   15. 

2)  Verordn.  27.  Okt.    iSio  und    16.  Juni    1830.     Zeller,  S.    I   und  2. 

3)  Min.-Reskr.  8.  Jan.   1830.     Zeller,  S.  90. 

4)  Generaltransportinstruktion  16.  Sept.  1816.  Zeller,  S.  24.  ALR.  2,  7, 
§§   18,   20,    113. 


-     85     - 

Verhältnis  der  Untertänigkeit  statt,  welches  durch  die  Ansässig- 
keit begründet  wird.  Doch  können  auch  Personen  des  »gemeinen 
Bürger-  und  Bauernstandes  ohne  Uebernahme  eines  unterthänigen 
Grundstückes  in  einem  Dorfe  sich  niederlassen.  Derartige  Ein- 
lieger  werden  Schutzunterthanen  genannt.«  In  den  Städten  werden 
die  Mitglieder  Bürger  und  die  sonstigen  Einwohner  Schutzver- 
wandte genannt.  Bürger,  welche  aus  irgend  einem  Grunde  von 
der  Gerichtsbarkeit  ihres  Wohnortes  befreit  sind,  heißen  Exi- 
mierte.  Doch  ist  dies  nur  in  privatrechtlicher  Hinsicht  erheblich. 
Das  Bürgerrecht  ist  in  der  Regel  die  Vorbedingung  des  Gewerbe- 
betriebes und  an  folgende  Voraussetzungen  gebunden :  privat- 
rechtliche Freiheit  (für  Gutsuntertanen),  Freiheit  in  militärischer 
Hinsicht,  Majorennität,  unbescholtener  Wandel  und  Fähigkeit  zum 
Gewerbebetriebe.  Treffen  diese  Bedingungen  zu,  so  darf  das 
Bürgerrecht  nicht  verweigert  werden ;  allerdings  können  durch 
Ortsstatut  Beschränkungen  darüber  hinaus  eingeführt  werden. 
Jeder  Bürger  muß  den  Bürgereid  leisten.  Auch  Bürgerkinder 
müssen  das  Bürgerrecht  für  ihre  Person  erwerben.  Das  Bürger- 
recht wird  durch  Verlegung  des  Wohnsitzes  verloren ;  wird  wo 
anders  kein  neuer  Wohnsitz  begründet,  so  findet  die  gewöhnliche 
Verjährung  statt  ^).  »Schutzverwandte  sind,  auch  für  ihre  Perso- 
nen, der  Jurisdiction  der  städtischen  Obrigkeiten  der  Regel  nach 
unterworfen.«  »Solange  sie  das  Bürgerrecht  nicht  erworben  ha- 
ben, dürfen  sie  weder  bürgerliche  Gewerbe  treiben,  noch  andere 
Rechte  wirklicher  Bürger  ausüben.«  »Inwiefern  sie  zu  den  bür- 
gerlichen Lasten  mit  beitragen,  und  Abgaben  an  die  gemeine 
Stadt  zu  entrichten  schuldig  sind,  hängt  von  der  besonderen  Ver- 
fassung eines  jeden  Ortes  ab  '^). « 

Nach  dem  Wortlaut  des  Gesetzes  könnte  zunächst  die  Mei- 
nung entstehen,  als  ob  nur  der  tatsächliche  Beitrag  zu  den  Ge- 
meindelasten diese  zur  Unterstützung  verpflichtete,  in  allen  an- 
deren Fällen  hingegen  der  Staat  —  oder  vielmehr  die  Provinz  ■ — 
die  Verpflegung  in  den  Landarmenhäusern  zu  übernehmen  habe. 
Die  Praxis  ist  dieser  Auslegung  jedenfalls  nicht  gefolgt,  sondern 
der  älteren  Observanz  des  Ediktes  von  1748.  Ein  Ministerial- 
reskript  vom  28.  November  1825  verpflichtet  die  Schutzverwandten 


i)  Buch  2,  8,  §§   14  ff. 

2)  Ebenda  §§  72  ff.    Ferner  Min.-Reskr.  2.  Juli  1801  stellt  allgemein  3  jährigen 
Aufenthalt  als  Bedingung  auf. 


—     86     — 

auch  zu  ]>eiträgcn  zur  Armenpflege  und  sichert  ihnen  dafür  An- 
spruch auf  Verpflegung  zu.  Ein  anderes  vom  26.  Januar  1S22 
führt  ausM:  »Da  ein  Jeder,  der  in  der  Stadt  ein  Domizil  genom- 
men hat,  verhältnismäßig  zu  den  Lasten  herangezogen  werd(-n 
kann ;  so  ist  es  Schuld  der  Communen,  wenn  dies  nicht  geschehen 
ist.  An  manchen  Orten  wird  gar  keine  Abgabe  zu  den  Commu- 
nallasten  erhoben,  sondern  alle  Lasten  werden  aus  der  Kämmerei 
bestritten.  Wollte  man  es  schlechterdings  zum  Grundsatze  an- 
nehmen, daß  nur  Derjenige,  welcher  zu  den  Communallasten  bei- 
getragen hat,  Ansprüche  auf  Armenverpflegung  zu  machen  habe; 
so  würde  solche  Commune  zur  A.rmenpflege  gar  nicht  verpflichtet 
sein.«  »Für  einen  lünwohner  des  Orts  ist  jede  selbständige  Per- 
son zu  betrachten,  welche  daselbst  ihren  festen  Wohnsitz  (Domi- 
zil) im  rechtlichen  Sinne  genommen  hat.f  »Vm  Ortsarme  sind 
nur  die  wirklichen  Einwohner  eines  jeden  Orts  und  deren  hilfs- 
bedürftige Kinder  zu  achten.«  Für  den  armenrechtlichen  Wohn- 
sitz ist  also  der  zivilrechtliche  maßgebend.  Ein  Min.-Reskr.  vom 
Jahre  1799  geht  noch  durchweg  auf  den  Geburtsort  zurück,  doch 
schon  1824  bestimmt  ein  Reskript  vom  9.  April"),  daß  »auf  den 
Geburtsort  bei  einem  Menschen,  der  sein  in  demselben  früher  ge- 
habtes Domizil  aufgegeben  hat,  nicht  zurückgegangen  werden« 
kann.  Zunächst  weicht  der  Geburtsort  dem  veränderten  Wohn- 
sitz der  Eltern,  denn  der  unselbständige  Mensch  kann  keinen  eig- 
nen Wohnsitz  erwerben.  Dies  geht  aus  dem  Min.-Reskr.  vom 
4.  September  1829  indirekt  hervor:  »Wenn  aber  ein  Vater  keinen 
Domizil  gehabt  hat,  so  ermangeln  auch  seine  ehelichen  Kinder 
eines  Domizils,  und  es  ist  daher  kein  Ort  vorhanden,  dem  sie  zu- 
geschoben werden  können.«  Ganz  allgemein  bestimmt  ALR. 
Einl.  §  15:  »So  lange  jemand  noch  keinen  bestimmten  Wohnsitz 
hat,  werden  seine  persönlichen  Rechte  und  Verbindlichkeiten  nach 
dem  Orte  seiner  Herkunft  beurthcilt.«:  Obwohl  hierunter  zunächst 
nur  die  zivilrechtlichen  Folgen  gemeint  sind,  so  leitet  doch  das 
oben  erwähnte  Patent  von  1804  den  armenrechtlichen  Status  von 
dem  bürgerlichen  ab.  Es  ist  also  das  eigentliche  RR.  domicilium 
vorliegend,  welches  auch  die  Grundlage  der  bayrischen  Heimat 
ist.  Ein  Domizil  aber  entsteht  durch  dreijährigen  Aufenthalt.  Das 
Reskript  von   1799  sagt:    »Wenn  ein  Mensch  drei  Jahre  lang  an 


i)  Patent  vom  8.  Sept.   1804.     N.  Ediktensammlung.     ZelUr,  S.    102. 
2)  Vgl.  ZelUr,  S.    102  ff. 


-     87     - 

einem  Ort  sich  aufgehalten  hat,  so  liegt  dem  Orte  die  Verbind- 
lichkeit ob,  ihn,  wenn  er  verarmt,  zu  verpflegen.«  Entsprechend 
das  Patent  1804:  -Die  Verpflichtung  zur  Verpflegung  der  Armen 
liegt  den  Landarmenanstalten  ob,  wenn  ein  Armer  noch  nie  einen 
eignen  Wohnsitz  gehabt  hat,  seine  Eltern  gestorben  sind,  und  der 
Arme  länger  als  drei  Jahre  von  dem  Orte  des  letzten  Wohnsitzes 
der  Eltern  abwesend  gewesen  ist.  Der  Wohnsitz  wird  also  in 
drei  Jahren  ebenso  erworben  wie  verloren^).  Ebenso  die  Allg. 
GerichtsO.  i,  2,  §23:  »Derjenige  welcher,  ohne  irgendwo  einen 
Wohnsitz  genommen  zu  haben,  den  Gerichtsstand  seiner  Herkunft 
schon  seit  länger  als  drei  Jahren  verlassen  hat,  oder  dessen  Ge- 
burtsort unbekannt  oder  außerhalb  der  Königlichen  Lande  ge- 
legen ist,  ist  als  ein  Vagabunde  im  rechtlichen  Sinne  zu  betrach- 
ten« 2).  Zum  Domizil  gehört  neben  der  bloßen  Befugnis  und  Ge- 
legenheit zu  wohnen  auch  die  persönliche  Anwesenheit  (Pat.  1804). 
Mithin  wird  »die  Domizilierung  hauptsächlich  dadurch  bestimmt, 
wenn  Jemand  sich  an  einem  Orte  persönlich  und  in  der  Absicht 
zu  bleiben,  aufgehalten  hat.«  Es  ist  nicht  zulässig,  diesen  Begriff" 
noch  anderweitig  zu  verengen.  »Die  Absicht,  seinen  beständigen 
Wohnsitz  an  einem  Orte  nehmen  zu  wollen,  kann  sowohl  aus- 
drücklich, als  durch  Handlungen  oder  Tatsachen  geäußert  wer- 
den« (Allg.  GerO.  i,  2,  §  10).  Ein  Amt  oder  jede  Art  der  Ansäs- 
sigmachung  und  dauernder  Beschäftigung  lassen  diese  Absicht,  den 
Wohnsitz  zu  begründen,  vermuten.  Es  gibt  also  für  das  Domizil 
keine  besondere  Aufnahme  und  Bedingungen,  sondern  nur  Er- 
sitzung mit  der  bez.  Absicht  oder  Geburt.  Wieweit  kommt  nun 
noch  die  obrigkeitliche  Erlaubnis  in  Betracht  >  Diese  Frage  muß 
gestellt  werden,  da  sie  vor  allem  den  Maßstab  der  bestehenden 
Zugbeschränkungen  bildet. 

Die  Einschränkungen  in  der  freien  örtlichen  Bewegung  sind 
hauptsächlich  privatrechtlich  begründet^).  Die  Untertänigkeit  er- 
streckt sich  zuvörderst  auf  diese  Seite  der  menschlichen  Rechte. 
Die  ländliche  Bevölkerung  war   zum  größten  Teil  untertänig,   für 


i)  »Nach  ost-  und  westpreußischen  Provinzialgesetzen  ist  eine  i  jährige  Ab- 
wesenheit nach  erlangter  Majorennität  hinreichend,  den  Ort  von  der  Verbindlich- 
keit der  Armenpflege  zu  befreien.«     Min.-Reskr.   13.  Dez.    1829. 

2)  »Es  ist  mithin  ein  Vagabunde  ein  Mensch,  der  keine  Heimath  hat«  im 
Min.-Reskr.  7.  Mai  1818  aus  der  Definition  der  GerO.  unter  direkter  Uebertragung 
aus  dem  privaten  in  das  öfFenthche  Recht  hergeleitet. 

3)  Vgl.  hierzu  Ze/Zer  S.   104  fF. 


—     88     — 

diese  kamen  also  öffentliche  Zuf^beschränkungcn  in  letzter  Linie 
in  Betracht ').  Die  öffentlichen  Hintlcrnisse  waren  vornehmlich 
solche  militärischer  und  sicherheitspolizeilicher  Art.  Dagej^^en 
treten  die  armenrechtlichen  gegenüber  den  bayrischen  sehr  stark 
zurück.  Das  Patent  von  1S04  bestimmt  in  i^  18:  »Einer  Person, 
welche  nicht  zur  Klasse  der  Armen  gehört  und  in  einer  Commune 
Wohnung  und  Unterhalt  finden  kann,  darf  die  Aufnahme  in  einer 
anderen  Commune  nicht  verweigert  werden.*  Die  bloße  Besorg- 
nis, daß  jemand  künftig  verarmen  und  auf  Almosen  Anspruch 
machen  könne,  reicht  nicht  hin,  um  ihm  den  Aufenthalt  an  einem 
Orte  zu  verweigern.  Die  Wohnurig  muß  er  sich  selbst  verschaffen ; 
verliert  er  die  eingerichtete  Wohnung  durch  Kündigung  oder  sonst 
und  kann  keine  andere  bekommen,  so  kann  er  deswegen  nicht 
ausgewiesen  werden,  sondern  muß  reihenweise  beherbergt  werden. 
Doch  soll  diese  gewährte  Wohnung  möglichst  den  Charakter  der 
Armenpflege  haben,  um  den  Betreffenden  anzutreiben,  sich  eine 
Wohnung  recht  schnell  zu  verschaffen.  Die  Aufnahme  kann  auch 
keiner  Person  versagt  werden,  deren  Aufführung  keinen  rechtlichen 
Grund  zu  ihrer  Entfernung  an  die  Hand  gibt-).  Hierzu  bemerkt 
Merket'^):  »Wenn  das  Patent  sich  nicht  ausspricht,  welches  Ver- 
schulden in  der  Aufführung  einer  Person  einen  rechtlichen  Grund 
zu  ihrer  Fortweisung  an  die  Hand  gibt;  so  muß  vorausgesetzt 
werden,  der  Gesetzgeber  habe  bei  der  Fassung  des  Patents  die 
Ueberzeugung  gehabt:  es  sei  der  von  ihm  in  das  Patent  auf- 
genommene Satz  durch  frühere  Gesetze,  durch  Verordnungen 
oder' Observanz  bereits  allgemein  verständlich  und  so  bekannt, 
daß  solcher  keines  Kommentars  bedürfe.  Halten  wir  uns  bei 
der  Auslegung  des  Satzes  lediglich  an  die  bis  auf  die  neuere 
Zeit  übergegangene  Observanz;  so  waren  Trunksucht,  der  Hang 
zu  Widersetzlichkeit  gegen  obrigkeitliche  Anordnungen  und  die 
Verübung  gemeiner  Verbrechen  die  vorzüglichsten  Thatsachen, 
welche  als  Verschuldungen  gegen  die  gute  Aufführung  ange- 
sehen worden  sind.«  Nur  für  Berlin  bestehen  besondere  Be- 
stimmungen. Die  Haupt-  und  Residenzstadt  soll  möglichst  rein 
gehalten  werden,  indem  sich  dort  schon  ohnedies  genug  licht- 
scheues Gesindel  aufhält.     Entlassene  Sträflinge  dürfen  nicht  des- 


i)  Für  diese  bestand  FZ.  nach  abgeleisteter  Kantonalpflicht. 
3)  ALR,  2,  7,  §§   163,    164.     Allg.  GerO.   i,  2,  §    13  und  24. 
3)  Erwerb    der  Heimath    und  die  solidarische  Verpflichtung  zur  Armenpflege. 
Zitiert  bei  ZelUr  Bd.    14. 


\ 


-     89     - 

halb  an  der  Niederlassung  gehindert  werden,  sie  dürfen  sich  in 
einer  Gemeinde  aufhalten,  erwerben  aber  dort  das  Heimatrecht 
nur  bei  guter  Führung.  Widrigenfalls  sie  auch  gleich  ausgewiesen 
werden.  Der  Gesindedienst  allein  begründet  keinen  Wohnsitz. 
Die  Dienstboten  sind  zwar  keine  Vagabunden,  erwerben  aber 
keinen  Wohnsitz  durch  den  Dienst  allein,  weil  sie  den  Personen, 
die  unter  einem  Vormund  stehen,  rechtlich  gleichgeachtet  werden. 
Begründen  sie  neben  ihrem  Dienst  eine  eigene  Niederlassung,  so 
erwerben  sie  auch  den  Wohnsitz.  Natürlich  wird  durch  diese 
Freiheiten  die  Verpflichtung  einer  zuziehenden  Person,  sich  bei 
der  Obrigkeit  zu  melden,  in  keiner  Weise  berührt,  ja  diese  ist 
sogar  die  notwendige  Voraussetzung  für  die  Durchführung  der 
polizeilichen  Ortsaufsicht.  Pässe  werden  nur  den  eigentlichen 
Bettlern  zu  Transportzwecken  und  den  untertänigen  Personen  in 
Gestalt  von  Erlaubnisscheinen  zum  Wegzug  ausgestellt  und  be- 
gründen für  diese  Personen  erst  das  Aufenthaltsrecht  ^).  Hierbei 
soll  die  Herrschaft  »keinem  Unterthan  die  Entlassung  bewilligen, 
der  nicht  vorher  auf  eine  glaubhafte  Weise  angezeigt  hat,  womit 
er  sich  künftig  im  Lande  nähren  wolle«.  Widrigenfalls  die  Herr- 
schaft zur  Uebernahme  im  Falle  der  Verarmung  verpflichtet  ist. 
Dies  aber  fällt  nur  mit  dem  allgemein  statuierten  Verlust  des 
Domizils  zusammen.  Ueberhaupt  sind  die  Untertanen  eben  an 
die  Scholle  gebunden,  doch  nur  auf  Grund  privatrechtlicher  Titel, 
welche  durch  Vertrag  geändert  werden  können. 

Die  Verehelichung  unterliegt  von  vornherein  nur  der  Ein- 
willigung der  Eltern  oder  des  Vormundes,  wenn  die  allgemeinen 
Bedingungen  erfüllt  sind  ^).  Ehehindernisse  sind  nur:  nahe  Ver- 
wandtschaft, Polygamie,  Ehebruch,  Trauerjahr,  Ungleichheit  des 
Standes  zwischen  Adeligen  und  Bauern.  Die  Eltern  sollen  die 
Eheschließung  verhindern,  wenn  erhebliche  Gründe  vorliegen  ^) ; 
dies  sind  Besorgnis,  »daß  den  künftigen  F^heleuten  das  nöthige 
Auskommen  fehlen  würde,«  Verurteilung  zu  einer  infamierenden 
Strafe,  Trunkenheit,  Liederlichkeit,  gewisse  Krankheiten.  Gegen 
die  Entscheidung  der  Eltern  findet  die  richterliche  Entscheidung 
statt.  Die  eigentliche  Verwaltung  hat  also  mit  der  Eheschließung 
als  solche  nichts  zu  tun,  diese  bleibt  vielmehr  völlig  im  Rahmen 
des  privaten  Familienrechts.     Zwischen  Christen  und  Juden  findet 


1)  ALR.  2,  7,  §  498. 

2)  Ueber  Untertanen  vgl.  ALR.  II,  7,  §   161  — 170. 

3)  ALR.  2,    I,  §§   59-65. 


—    90    — 

keine  Ehe  statt.  Der  Trauuni,^  muß  ein  kirchliches  Aufj^ebot  in 
den  Wohnsitzen  beider  Verlobter  vorangehen,  für  das  Gesinde 
auch  in  der  Aufenthaltsgemeinde').  Nur  »Untertlianen  sind  bey 
ihrer  vorhabenden  Heirath  die  herrschaftliche  Genehmigung  nach- 
zusuchen verbunden«.  »Die  Herrschaft  aber  kann  ihnen  die  Er- 
laubnis ohne  gesetzlichen  Grund  nicht  versagen«,  sie  hat  also 
etwa  die  Stellung  der  Eltern.  Ehen  ohne  diese  Erlaubnis  sind 
zudem  gültig,  werden  aber  polizeilich  geahndet.  Aus  Armen- 
rücksichten kann  nur  die  l'2he  unter  Verarmten  zwar  nicht  ge- 
hindert, aber  doch  bedingt  werden^).  Die  Gemeinde  des  armen 
Mannes  kann  zwar  >> diese  Ehe  nicht  hindern,  indessen  kann  der 
Magistrat  des  Wohnorts  demselben  aufgeben,  vor  Vollziehung 
der  Ehe  die  Zustimmung  der  Gemeinde,  wo  die  Braut  desselben 
ihren  Wohnsitz  hat  oder  gehabt  hat,  beizubringen,  weil  die  Ge- 
meinde des  Wohnsitzes  des  Bräutigams  auch  nach  eingegangener 
und  durch  den  Tod  getrennter  Ehe  von  der  Gemeinde  des  ge- 
wesenen Wohnorts  der  Braut  die  Rücknahme  derselben  zur  Ver- 
pflegung nach  §  1 1  des  Patents  vom  8.  September  1804,  verlangen 
kann«.  Diese  Bestimmung  ist  nur  die  Folge  des  anderen  Grund- 
satzes in  demselben  Patent,  wonach  nur  der  Beweis  der  früheren 
Verarmung  die  neue  Gemeinde  zur  Abweisung  des  Verarmten 
berechtigt. 

Ebenso  wie  Bayern  erlebt  Preußen  im  ersten  Jahrzehnt  des 
19.  Jahrhunderts  eine  große  Umwälzung  seiner  innerpolitischen 
und  sozialen  Zustände,  die  Stein-Hardenbergsche.  Reform.  Diese 
hat  zwar  unmittelbar  mit  der  Armenpflege  nichts  zu  tun,  aber 
ihre  Wirkungen  erstrecken  sich  mittelbar  doch  auf  sie.  Durch 
die  Verordnung  vom  9.  Oktober  1807  und  28.  September  wird 
die  Leibeigenschaft,  Erbuntertänigkeit  und  überhaupt  das  Unter- 
tänigkeitsverhältnis gänzlich  aufgehoben  und  dadurch  eine  Un- 
masse bisher  privatrechtlicher  Bindungen  beseitigt,  die  Masse  der 
ländlichen  Bevölkerung  kommt  für  den  Verkehr  jetzt  erst  in  Be- 
tracht und  gegen  die  Mitte  des  Jahrhunderts  tatsächlich  in  Be- 
wegung. Der  Güterverkehr  und  die  Berufswahl  werden  völlig 
freigestellt.  Die  Verehelichung  ist  künftig  privatrechtlich  nur  noch 
durch  Familienrücksichten  beschränkt.  Das  Edikt  über  die  Ein- 
führung einer  allgemeinen  Gewerbesteuer  vom  2.  November  18 10 


i)  ALR.  2,  7,  §  161  ff. 

2)  Min.-Reskr.  28,  Sept.   1829  nach  Zeller,  S.   106. 


—     91     — 

gestattet  die  Verlegung  des  Wohnsitzes  ohne  alle  Einschränkung, 
stabiliert  hierdurch  also  den  Grundsatz  der  Freizügigkeit.  Es  war 
hier  bei  weitem  nicht  derselbe  klaffende  Unterschied  zwischen 
dem  i8.  und  19.  Jahrhundert  wie  in  Bayern,  aber  die  einsetzende 
Verschiebung  in  der  Bevölkerung  machte  doch  aus  Gründen  der 
Sicherheit  und  öffentlichen  Ordnung  wie  der  Armenfürsorgepflicht 
eine  umfassende  Neuregelung  notwendig.  Diese  wurde  verwirk- 
licht durch  die  Gesetzgebung  des  Jahres  1842^).    Am  31.  Dezember 


l)  Ges. -Samml.  S.  5  ff.,  Bd.  1843.  Dohl,  Armenpflege.  Bilzer,  Recht  auf 
Armenunterstützung.  Flottwell,  Obertrib.  Von  höchstem  Interesse  für  die  Be- 
urteilung der  gesetzgeberischen  Arbeit  sowohl  wie  der  Tendenzen  dieser  Gesetz- 
gebung ist  ihre  Geschichte,  welche  Flottwell  in  den  Aufsätzen:  »Das  Bundesgesetz 
über  den  Unterstützungswohnsitz,  seine  Väter  und  seine  Feinde«  und  »Das  Bundes- 
gesetz über  die  Freizügigkeit«  in  den  Preußischen  Jahrbüchern,  Bd.  43,  S.  588, 
Bd.  44,  S.  8  und  Bd.  45  S.  602  nach  den  Akten  des  Staatsarchivs  schildert. 

Die  ersten  Schritte  der  Regierung  in  dieser  Sache  fallen  in  die  Jahre  1825 
und  183 1.  In  diesem  letzteren  Jahr  ging  den  Provinziallandtagen  ein  diesbezüg- 
licher Gesetzentwurf  zu,  welcher  von  ihnen  einer  eingehenden  Kritik  unterzogen 
wurde.  Der  Hauptgrundsatz  des  Entwurfs  lautete:  »daß  vor  allen  Dingen  die 
Heimath  oder  das  Domizil  über  die  Verpflichtung  zur  Armenpflege  zu  entscheiden 
habe,  in  den  Fällen  aber,  wo  der  Begriff  der  Heimath  oder  des  Domizils  nicht  aus- 
lange, suppletorisch  der  eine  gewisse  Zeit  hindurch  fortgesetzte  Aufenthalt  am  Orte 
maßgebend  sein  solle.«  Der  Aufenthalt  sollte  also  die  alten  Prinzipien  nicht  so- 
wohl verdrängen  als  vielmehr  ergänzen.  Es  wird  weiter  ausführlich  der  verbreiteten 
Ansicht  entgegengetreten,  als  ob  unter  der  Heimat  der  Geburtsort  zu  verstehen  sei. 
Dies  ist  nicht  der  Fall,  vielmehr  kommt  nur  die  Heimat  oder  der  Wohnsitz  der 
Eltern  in  Betracht.  Es  soll  nun  künftig  mehr  als  bisher  auf  die  Wohnsitzabsicht 
und  auf  den  moralischen  Anspruch  des  mehrjährigen  bloßen  Einwohners  gesehen 
werden.  »Um  die  Lücke  auszufüllen,  welche  der  Begriff  des  Wohnsitzes  im  recht- 
lichen Sinne  des  Wortes  gelassen«,  ....  »ist  die  Gesetzgebung  offenbar  die 
beste,  welche  das  generellste  Prinzip  und  das  erkennbarste  Merkmal  aufstellt,  und 
dieses  ist  in  Beziehung  auf  Niederlassung  und  Erwerbung  der  Armenrechte,  in  Er- 
mangelung ausdrücklicher  Aufnahme  und  sonst  unzweifelhafter  Begründung  des 
Wohnsitzes,  die  an  den  Aufenthalt  in  einem  bestimmten  Lebensberuf  geknüpfte 
Folge  der  Erwerbung  des  Heimathrechts,  an  einen  Aufenthalt,  dessen  Dauer  nicht 
zu  kurz  bestimmt  ist,  um  den  Schluß  auf  die  Absicht  der  Erwählung  des  — 
dauernden  —  Wohnsitzes  daraus  zu  ziehen,  und  nicht  so  lange,  daß  durch  den 
Ablauf  der  Zeit  die  Ermittlung  und  Erkenntnis  der  Verhältnisse  des  zu  Unter- 
stützenden schwer  geworden,  und  bei  der  Gemeinde,  welche  er  verlassen,  das  Inter- 
esse an  seiner  Person  für  erloschen  erachtet  werden  muß «  Der  Aufent- 
halt als  Kriterium,  einen  Wohnsitz  zu  begründen,  darf  seiner  Dauer  nach  nicht  zu 
kurz  sein.  Der  Grund  davon  leuchtet  ein,  er  liegt  in  den  Worten;  aber  die  Frist, 
an  welche  die  rechtliche  Präsumtion  der  von  Anfang  an  vorhandenen  Absicht  der 
Niederlassung  mit  ihren  Folgen  zu  knüpfen  ist,  darf  auch  nicht  zu  geräumig  fest- 
gesetzt werden,    sonst    verwickelt    sich    die  Administration    in    nicht    minder    große 


—     92     — 

ergingen  die  Gesetze  über  die  Aufnahme  neu  anziehender  Per- 
sonen, über  die  Verpflichtung  zur  Armenpflege,  über  die  Erwer- 
bung und  den  Verlust  der  Eigenschaft  als  preußischer  Staats- 
angehöriger, sowie  über  die  Bestrafung  der  Landstreicher,  Bettler 
und  Arbeitsscheuen.  Dieses  letztere  erst  am  6.  Januar  1843.  l^ie 
Verwaltung  hatte  vorher  schon  nach  und  nach  einzelne  Folge- 
rungen der  veränderten  rechtlichen  und  wirtschaftlichen  Verhält- 
nisse gezogen,  wovon  die  oben  mehrfach  angeführten  Ministerial- 
reskripte  zeugen ;  aber  grade  dadurch  war  ein  unsicherer  Rechts- 
zustand erzeugt  worden,  welcher  eine  Kodifizierung  des  allmählich 
sich  herausbildenden  Rechts  ebenso  wie  die  Aenderung  und  Neu- 
aufnahme einzelner  Bestimmungen  notwendig  machte.  Schließlich 
sollte  das  Gesetz  ein  einheitliches  Armenrecht  für  die  gesamte 
Monarchie  schaffen.  §  36  des  Armengesetzes  hebt  denn  auch 
alle  bisherigen  sowohl  allgemeinen  wie  besonderen  Bestimmungen 
über  die  hier  behandelten  Gegenstände  auf. 

Die  öffentliche  Armenpflege  tritt  nur  subsidiär  ein,  wenn 
privatrechtliche  Ansprüche  nicht  vorhanden  oder  nicht  durchzu- 
setzen sind.  Es  werden  Orts-  und  Landarmenverbände  unter- 
schieden. Die  Landarmenverbände  treten  ein,  im  Falle  kein  ver- 
Schwierigkeiten, als  jene  sind,  davon  sie  enthoben  werden  soll.  Wer  in  einem 
bestimmten  Lebensberuf  sich  ein  Jahr  lang  in  einer  Gemeinde  aufgehalten,  von 
dem  ist  anzunehmen,  daß  er  die  Zwecke  des  Zusammenlebens  gefördert,  der  Ge- 
meinde  genützt,  Bekannte  und  Freunde  erworben  hat.c 

Von  den  Landtagen  sprach  sich  der  rheinische  gegen  das  Prinzip  der  obli- 
gatorischen Armenpflege  überhaupt  und  zugunsten  der  französischen  hier  in 
Geltung  gewesenen  Einrichtungen  aus ;  der  westfälische  wollte  an  dem  alten 
deutschen  Heimatprinzip  festhalten  ;  aber  alle  anderen  (östlichen)  Provinzen  erklärten 
sich  einhellig  einverstanden  mit  den  Grundsätzen  des  Gesetzes.  Nur  wurde  auf 
Verlangen  des  schlesischen  und  brandenburgischen  Landtags  die  Ersitzungsfrist 
auf  drei  Jahre  für  diejenigen,  bei  welchen  nicht  von  vornherein  die  Absicht  des 
dauernden  Wohnsitzes  gemutmaßt  werden  kann,  also,  vornehmlich  Arbeiter,  Dienst- 
boten und  Einlieger,  festgesetzt. 

Es  ist  hier  bemerkenswert,  daß  gerade  die  konservativen,  östlichen  agrarischen 
Teile  der  Monarchie  es  in  ihrem  Interesse  gelegen  fanden,  dem  Grundsatz  mög- 
lichster Freizügigkeit  zuzustimmen  —  —  bei  der  Beratung  des  Ergänzungsgesetzes 
1855  allerdings  trat  bereits  die  Erste  Kammer  für  den  stärkeren  Schutz  der  An- 
zugsgemeinde ein .  Es  entspricht  dies  der  parallelen  Haltung  in  rein  wirt- 
schaftlichen Dingen,  der  freihändlerischen  Richtung  der  konservativen  Agrarier  und 
Kornproduzenten,  solange  eine  überseeische  Konkurrenz  nicht  zu  befürchten  war. 
Dieselbe  Schwenkung  jener  Kreise  in  beiden  Materien  trat  erst  ein  mit  der  kolos- 
salen Steigerung  der  Bahnbauten  und  der  damit  zusammenhängenden  Landflucht 
und  mit  der  Ausbildung  der  überseeischen  Verkehrstechnik  auch  für  landwirtschaft- 
liche Produkte. 


—    93     — 

pflichteter  Ortsarmenverband  vorhanden  ist.  Die  Gemeinde  hat 
die  Armenpflege  zu  übernehmen,  wenn  der  Verarmte  als  Mitglied 
ausdrücklich  aufgenommen  ist,  oder  nach  Maßgabe  des  Gesetzes 
einen  Wohnsitz  erworben  hat,  oder  endlich  nach  erlangter  Groß- 
jährigkeit drei  Jahre  lang  vor  dem  Zeitpunkt,  in  welchem  seine 
Hilfsbedürftigkeit  hervortritt,  seinen  gewöhnlichen  Aufenthalt  ge- 
habt hat.  Gutsherrschaften,  Land-  und  Stadtgemeinden  stehen 
sich  in  dieser  Beziehung  gleich.  Verschiedene  selbständige  Ge- 
meinden können  zu  Ortsarmenverbänden  ^)  zusammengeschlagen 
werden.  Wo  noch  keine  Landarmenverbände  bestehen,  sollen 
sie  schleunigst  eingerichtet  werden.  Was  nun  die  Aufnahme 
selbst  betrifft,  so  bemißt  sie  sich  nach  den  Bestimmungen  des 
ALR.  über  Erwerb  des  Bürgerrechts  und  der  Mitgliedschaft  in 
den  Stadt-  bez.  Landgemeinden  wie  bisher.  Die  Erwerbung 
des  Wohnsitzes  wird  in  dem  Gesetze  über  die  Aufnahme  neu 
zuziehender  Mitglieder  eingehend  geregelt.  Darnach  kann  keinem 
»selbständigen  Preußischen  Unterthan  an  dem  Orte,  wo  er  eine 
eigne  Wohnung  oder  ein  Unterkommen  sich  selbst  verschaffen 
kann,  der  Aufenthalt  verweigert  oder  durch  lästige  Bedingungen 
erschwert  werden«. 

Es  wird  also  die  Freizügigkeit  in  vollem  Umfange  sta- 
tuiert. Ausnahmen  finden  nur  statt  durch  Strafurteil  oder  als 
Nebenstrafe  im  Interesse  der  öffentlichen  Sicherheit  in  der 
Form  der  Polizeiaufsicht,  gegen  Ausländer  und .  Juden.  Hin- 
sichtlich des  Aufenthaltsrechts  wird  kein  Unterschied  gemacht 
zwischen  Bürgern  und  Schutzverwandten,  Gemeindemitgliedern 
und  Beisassen  oder  Einliegern.  Die  Selbständigkeit,  welche  hier 
verlangt  wird,  ist  nur  die  öffentliche,  nicht  die  durch  private 
Verträge,  Dienst  usw.  einzuschränkende  ^).  Ihre  Vorbedingung 
sind  nach  der  Gerichtsordnung  Geschäftsfähigkeit  und  Großjährig- 
keit. Infolgedessen  kann  nunmehr  abweichend  von  der  bisherigen 
Praxis  auch  Gesinde  den  Armenwohnsitz  erwerben,  wenn  auch 
nicht  der  Dienst  selbst,  sondern  nur  der  damit  verbundene  drei 
Jahre  lang  fortgesetzte  Aufenthalt  in  der  Dienstgemeinde  den 
Wohnsitz    begründete^).     Das   Patent   von   1804   sah    die  Dienst- 

1)  Derartige  Ortsverbände  sind  zuerst  in  Preußen  begründet  durch  die  Vor- 
schrift des  Edikts  vom  14.  Dez.  1747  wegen  Ausrottung  der  Bettler  in  Schlesien 
und  über  die  Konkurrenz  der  Guts-  und  Dorfgemeinden  bei  der  Verpflegung. 

2)  Vgl.  Döhl  S.  84,   Flotiwell,  Grundsätze  des  Obertribunals. 

3)  Flottwell  führt  einen  hierauf  bezüglichen  Streit  zwischen  Obertribunal  und 
Ministerium  an.    ObTr.  hielt  in  Entsch.  24.  Juni  1857  an  der  alten  Auffassung  fest, 


—     94     — 

boten  noch  als  Unselbständige  an,  welche  also  überhaupt  auch 
durch  noch  so  langen  Dienstaufenthalt  den  Wohnsitz  nicht  er- 
werben können.  Der  armenrechtlich  die  Gemeinde  verpflichtende 
Wohnsitz  beginnt  erst  mit  der  Meldung  des  Anziehenden  bei  der 
Ortsobrigkeit,  welche  im  Gesetz  vorgeschrieben  ist.  Jedoch  kann 
die  Unterlassung  dieser  Meldung  den  Erwerb  des  Wohnsitzes 
durch  dreijährigen  Aufenthalt  nicht  hindern  ^). 

Der  Unterschied  des  Wohnsitzerwerbs  kraft  Wohnung  und 
Aufenthalt  besteht  einmal  darin,  daß  mit  der  Einrichtung  einer 
eigenen  Wohnung  die  Absicht,  den  Wohnsitz  zu  ergreifen,  ebenso 
deutlich  zum  Ausdruck  kommt  wie  durch  eine  Erklärung ;  daß  da- 
gegen der  bloße  Aufenthalt  ohne  Begründung  eines  eignen  Haus- 
halts, welcher  in  einer  Schlafstelle,  auch  im  Gasthof  genommen 
werden  kann,  die  Absicht  zu  bleiben  erst  aus  seiner  längeren  Fort- 
setzung —  drei  Jahre  lang  —  ex  post  erkennen  läßt.  Dieser  Auf- 
enthalt braucht  aber  nur  der  gewöhnliche  zu  sein,  nicht  ununter- 
brochen, doch  muß  eben  die  Absicht  zu  erkennen  sein.  Es  liegt 
also  hier  die  RR.  Bedingung  des  »animus  permanendi«  vor,  ferner 
»domicilium«  und  »adoptio«.  »Nativitas«  ist  ausgeschaltet.  Der 
Erwerb  durch  Aufenthalt  ^)  hat  alle  Merkmale  der  Ersitzung,  indem 

indem  es  aus  der  GerO.  die  Bestimmungen  über  den  Gerichtsstand  auf  den  Wohn- 
sitz übertrug.  Das  Ministerium  hielt  an  der  Unterscheidung  fest  und  wies  vor  allem 
nach,  daß  den  Dienstboten  durch  das  Armengesetz  mit  der  Gleichstellung  mit  den 
Fabrikarbeitern,  deren  Wohnsitzerwerb  nicht  bestritten  wurde,  auch  Selbständigkeit 
im  Sinne  des  Gesetzes  verliehen  sei.  Min.R.  30.  April  1860.  Uebrigens  mußte  die 
Aufenthaltsgemeinde  nach  ArmGes.  auch  vor  Wohnsitzervverb  erkrankte  Dienstboten 
verpflegen. 

1)  Auch  hierüber  bestand  Verschiedenheit  in  der  Auffassung  zwischen  dem 
Obertribunal  und  dem  Ministerium.  Jenes  hatte  in  der  Entsch.  24,  Okt.  1854  die 
Ausstellung  des  Meldescheins,  welcher  im  Gesetz  vorgeschrieben  war,  als  wesentliche 
Bedingung  des  Wohnsitzervverbs  hingestellt,  so  daß  also  durch  Unterlassung  der 
Ausstellung  der  Wohnsitzervverb  verhindert  würde.  Der  Meldeschein  wurde  gleich- 
gestellt der  Naturalisationsurkunde  nach  Ges.  vom  31.  Dez.  1842,  welche  zugleich 
die  Niederlassungserlaubnis  in  sich  enthält.  Diese  hat  aber  eine  andere  Bedeutung: 
für  Ausländer  besteht  ein  allgemeines  Niederlassungsrecht  nicht,  dieses  muß  ihnen 
also  durch  eine  Urkunde  erst  verliehen  werden.  Entsprechend  würde  in  gleichem 
Falle  die  Freizügigkeit  aufgehoben  sein,  wenn  jede  Niederlassung  an  eine  besondere 
Erlaubnis  gebunden  wäre.  Für  Inländer  ist  die  Niederlassung  generell  erlaubt,  und 
ihre  nach  Gesetz  erfolgende  Versagung  ist  eine  Ausnahme.  Die  Meldung  hat  so- 
wohl sicherheits-  wie  armenrechtliche  Bedeutung.  Sie  soll  der  Gemeinde  die  Mög- 
lichkeit geben,  sich  nach  einer  zuziehenden  Person  zu  erkundigen,  ob  ein  Grund 
zu  ihrer  Ausschließung  vorliegt. 

2)  Der  so  freigestellte  Aufenthalt  hat  natürlich  auf  andere  Rechtsverhältnisse 


i 


-     95     — 

er  auch  ohne  Kenntnis  der  Obrigkeit  bei  Unterlassung  der  Meldung 
erworben  wird.  Das  Moment  der  Absicht  tritt  so  beherrschend  in 
den  Vordergrund,  daß  die  tatsächliche  Ansässigmachung  in  Be- 
ziehung auf  Gemeindebeiträge  und  Armendomizil  durch  Erklärung, 
den  Wohnsitz  nicht  ergreifen  zu  wollen,  unwirksam  wird  ^). 

Verloren  wird  der  Wohnsitz  im  öffentlich-rechtlichen  Sinn 
nur  durch  dreijährige  fortgesetzte  Abwesenheit,  gleichgültig,  ob 
in  dieser  Zeit  nach  obigen  Bestimmungen  ein  anderer  Wohnsitz 
erworben  wird  oder  nicht.  Doch  ist  diesem  Mangel  eines  Wohn- 
sitzes der  Charakter  als  Vagabundentum  genommen,  in  Verfolg 
des  Grundsatzes  der  Freizügigkeit;  Aufenthalt  ohne  Wohnsitz- 
begründung führt  die  Eigenschaft  als  Landarmer  herbei,  welcher 
von  der  Provinz  zu  verpflegen  ist. 

Die  Besorgnis  vor  künftiger  Verarmung  gibt  der  Gemeinde 
kein  Recht,  einen  Zuziehenden  abzuweisen^).     In  dieser   Hinsicht 


namentlich  Bürgerrecht,  Steuerpflicht,  Teilnahme  an  Gemeindenutzungen  usw.  keinen 
Einfluß.     §   12. 

1)  Auch  das  andere  im  §  14  gegebene  Mittel,  unvermögende  Gemeinden  durch 
Zuschüsse  aus  dem  Landarmenfonds  zu  unterstützen,  hat  verhältnismäßig  wenig 
Erfolg,  weil  Anwendung  gefunden.  Die  Schwierigkeiten  eines  Maßstabs  für  die 
Bemessung  der  Gemeindelasten  sind  zu  groß  gewesen, 

2)  Interessant  und  wichtig  ist  die  Geschichte  dieser  Bestimmungen,  auf  welche 
hier  kurz  eingegangen  werden  mag.     Nach  Flottivell  und  Arnold. 

§  14  des  Entwurfs  eines  Armengesetzes  von  1825  lautete:  »Keine  Behörde 
darf  Jemand  aus  dem  Grunde,  weil  dessen  Verarmung  künftig  zu  besorgen  sein 
möchte,  in  der  Freiheit  beschränken,  seinen  Aufenthalt  beliebig  zu  wählen;  Per- 
sonen aber,  bei  denen  die  Armuth  schon  eingetreten  ist,  soll  die  Gemeinde  des 
anderweit  von  ihnen  gewählten  Aufenthaltsorts  nur  dann  bei  sich  aufzunehmen  ver- 
pflichtet sein,  wenn  dieselben  nachweisen  können,  daß  die  von  ihnen  gewünschte 
Ortsveränderung  das  Mittel  sei,  ohne  Almosen  leben  zu  können.« 

§  9  des  Entwurfs  von  1831,  welcher  nachher  endgültig  den  Provinzialland- 
tagen  zur  Beurteilung  vorgelegt  wurde,  wollte  zur  Erleichterung  der  Freizügigkeit 
auch  in  diesem  Falle  den  anderwärts  vielfach  gebräuchlichen  Heimatschein  ein- 
führen. Er  lautete:  »Armen,  d.h.  solchen  Personen,  welche  weder  hinreichendes 
Vermögen  noch  die  Kräfte  besitzen,  sich  und  den  nicht  arbeitsfähigen  Ihrigen  die 
zur  Lebensnothdurft  erforderlichen  Mittel  zu  beschaffen  und  folglich  der  öffentlichen 
Unterstützung  bedürftig  sind,  kann  die  Niederlassung  an  einem  anderen  Orte  als 
dem  bisherigen  Wohnorte  versagt  werden;  es  wäre  denn,  daß  ....  wie  1825 
oben  .  .  .  und  zugleich  letzterenfalls  die  Gemeinde,  zu  welcher  sie  bisher  gehörten, 
sich  anheischig  machte,  die  noch  ferner  nötige  Unterstützung  ihrerseits  zu  gewähren.« 
§  IG  desselben  Entwurfs  enthält  schon  die  später  in  das  Gesetz  von  1842  über- 
gegangenen Bestimmungen. 

Der  nach  Anhörung  der  Landtage  vom  preußischen  Staatsministerium  fest- 
gestellte Entwurf  nimmt  von  den  beiden  vorgeschlagenen  Bestimmungen  Abstand 


-    96     - 

kann  nur  denjenigen,  »welche  weder  hinreichendes  Vermögen 
noch  Kräfte  besitzen,  sich  und  ihren  nicht  arbeitsfähii^^en  An- 
gehörigen den  nothdürftigen  Lebensunterhalt  zu  verschaffen, 
solchen  auch  nicht  von  einem  zu  ihrer  Ernährung  verpflichteten 
Verwandten  zu  erwarten  haben,  der  Aufenthalt  an  einem  an- 
deren Orte,  als  dem  ihres  bisherigen  Aufenthalts  verweigert 
werden«.  »Die  Besorgnis  künftiger  Verarmung  eines  Neuan- 
ziehenden genügt  nicht  zu  dessen  Abweisung;  offenbart  sich  aber 
binnen  Jahresfrist,  nach  dem  Anzüge  die  Nothwendigkeit  einer 
öffentlichen  Unterstützung  und  weiset  die  Gemeinde  nach,  daß  die 
Verarmung  schon  vor  dem  Anzüge  vorhanden  war,  so  kann  der 
Verarmte  an  die  Gemeinde  seines  früheren  Aufenthaltsortes  zu- 
rückgewiesen werden.«  Also  nur  solche,  welche  im  Augenblicke 
ihres  Anzuges  bereits  verarmt  sind,  kann  die  Gemeinde  später 
zurückweisen.  Dabei  ist  es  jedoch  gleichgültig,  ob  dieser  Zu- 
stand des  Zuziehenden  sofort  oder  erst  im  Laufe  des  ersten 
Jahres  der  Gemeinde  erkennbar  wird.  In  der  Praxis  hat  dieser 
Paragraph  den  auf  ihn  gesetzten  Erwartungen  nicht  entsprochen. 
Die  Schwierigkeit,  nach  Jahresfrist  nachzuweisen,  ob  ein  Ver- 
armter bereits  im  Augenblick  seines  Anzuges  in  diesem  Zustand 
sich  befunden  habe,  hat  den  hierdurch  gegebenen  Schutz  der 
Gemeinden  illusorisch  gemacht. 

Des  weiteren  wird  in  dem  Gesetz  noch  die  Unterstützung 
der  Angehörigen  behandelt,  worin  es  jedoch  mit  dem  ALR.  völlig 
übereinstimmt.     Die  Ehefrau  folgt  dem  Manne,    die  Kinder    dem 

und  erschwert  die  Feststellung  der  bestehenden  Verarmung  im  Augenblick  des  An- 
zugs für  die  Anzugsgemeinde  noch  dadurch,  daß  dieser  Armutszustand  nur  dann 
gemutmaßt  wird,  wenn  nachgewiesen  wird,  daß  die  betr.  Person  vorher  in  der 
alten  Gemeinde  Unterstützung  empfangen  habe.  Das  Gesetz  von  1842  ist  also  in 
dieser  Beziehung  schon  ein  Fortschritt  gegen  die  Vorlagen  im  Sinne  der  zu 
schützenden  An  zu  gs  gemeinde,  wurde  aber  dennoch  1855  noch  mehr  erleichtert, 
bis  es  in  derselben  Form  in  das  Freizügigkeitsgesetz  überging. 

Der  endgültigen  Fassung  lag  die  Erwägung  zugrunde :  Genügt  zur  Nieder- 
lassung an  einem  Orte  das  Dasein  oder  der  Nachweis  der  nötigen  Fähigkeiten,  um 
durch  Arbeit  irgendwelcher  Art  den  Unterhalt  zu  gewinnen  ?  Oder  soll  außerdem 
noch  der  spezielle  Nachweis  der  an  diesem  Ort  vorhandenen  Gdegenheil  zu  der 
qualifizierten  Arbeit  gefordert  werden?  »Diese  Frage  der  Berücksichtigung  der  Ueber- 
setzung  wurde  ebenfalls  in  denkbar  freiheitlichem  Geiste  abgelehnt,  da  dadurch 
gerade  den  Staatsbürgern,  welche  ihre  Lage  verbessern  wollten,  die  Möglichkeit 
hierzu  durch  fragliche  Gemeindeinteressen  beschnitten  würde.« 

Das  Institut  der  Heimatscheine  aber  wurde  abgelehnt,  um  die  Ansammlung 
von  förmlichen  Bettlerkolonien  an  bestimmten  für  die  Armen  günstig  gelegenen 
Orten  zu  verhindern. 


—    97     — 

Vater,  uneheliche  der  Mutter.  Scheidung  und  Tod  des  Mannes 
verschaffen  der  Witwe  den  bisher  unselbständigen  Wohnsitz  des 
Mannes  als  selbständigen. 

Die  Mängel,  welche  sich  im  Laufe  der  Zeit  in  der  Verwal- 
tung nach  Maßgabe  dieses  Gesetzes  herausgestellt  hatten,  besei- 
tigte das  Gesetz  »zur  Ergänzung  der  Gesetze  vom  31.  Dezember 
1842  über  die  Verpflichtung  zur  Armenpflege  und  die  Aufnahme 
neu  anziehender  Personen«  vom  21.  Mai  1855.  Der  Artikel  i 
führt  nun  wirklich  einen  besseren  Schutz  der  Gemeinde  gegen 
die  Neuanziehenden  herbei.  Die  Verpflichtung  zur  Armenfürsorge 
entsteht  in  denjenigen  Fällen,  »in  welchen  sie  nach  §  i  Nr.  2 
des  Gesetzes  .  .  .  vom  31.  Dezember  1842  durch  Erwerbung  des 
Wohnsitzes  begründet  werden  soll ,  fortan  nicht  mehr  gleich  mit 
der  Erwerbung,  sondern  erst  dann,  wenn  der  Neuanziehende  diesen 
Wohnsitz  ein  Jahr  lang  fortgesetzt  hat«. 

»Ergibt  sich  vor  Ablauf  dieses  Jahres,  daß  der  Neuanziehende 
sich  in  einem  solchen  Zustande  der  Verarmung  befindet,  welcher 
die  öffentliche  Unterstützung  notwendig  macht,  so  muß  der  zur 
Zeit  dieses  Ergebnisses  zur  Fürsorge  für  ihn  verpflichtete  Verband 
denselben  übernehmen.«  Es  wird  also  im  Interesse  der  Armen- 
gemeinschaft eine  Karenzzeit  für  die  Erwerbung  des  Wohnsitzes 
geschaffen,  wodurch  jedoch  die  Freizügigkeit  im  bisherigen  Um- 
fange nicht  berührt  wird.  Denn  die  Besorgnis  der  Verarmung 
gibt  keinesfalls  eine  Handhabe  zur  Ausweisung.  In  beiden  Ge- 
setzen befinden  sich  keine  Vorschriften  irgendwelcher  Art  über 
Beschränkungen  der  Verehelichung.  Es  bleiben  also  diesbezüglich 
die  Bestimmungen  des  ALR.  in  Kraft,  welche  auch  die  Wahr- 
nehmung des  öffentlichen  Interesses  hierbei  wesentlich  in  die 
Hände  der  Eltern  legen. 

Die  unmittelbare  Gesetzgebung  Preußens  in  bezug  auf  die 
Armenpflege  hatte  mit  dem  Gesetz  von  1855  ^^r  Ende  erreicht, 
aber  mittelbar  hat  die  Gesetzgebung  auf  anderen  Gebieten,  vor 
allem  die  kommunale  auf  dieselbe  auch  später  eingewirkt.  Schon 
1853  hatte  die  Städteordnung  vom  30.  Mai  die  besondere  Auf- 
nahme als  Bürger  beseitigt,  welche  nach  dem  Gesetz  von  1842 
sofort  den  Erwerb  des  Armendomizils  in  sich  schloß.  Das  Bür- 
gerrecht trat  nunmehr  kraft  Gesetzes  ein,  unabhängig  von  Statuten 
und  Verträgen  bei  Erfüllung  folgender  Bedingungen:  Einwohner- 
schaft während  eines  Jahres  ohne  Inanspruchnahme  von  Armen- 
unterstützung,   Zahlung    der  Gemeindeabgaben   und   Ansässigkeit 

Zeitschrift  für  die  ges.  Staatswissensch.     Ergänzungsheft  51.  7 


-     98     - 

oder  Gewerbebetrieb  oder  Steuerminimum  von  4  Talern.  In  den 
Landgemeinden  trat  der  Erwerb  des  Bürgerrechts,  hier  Gemcinde- 
mitgliedschaft  genannt ,  weiterhin  unverändert  auch  nach  den 
neuen  Landgemeindeordnungen  mit  der  Ansässigkeit  durch  ein 
Wohnhaus  ein. 

Weiterhin  wurden  neue  Bestimmungen  über  die  Eintritts- 
gelder getroffen:  Das  alte  seit  1809  für  ganz  Preußen  zugelassene 
Bürgerrechtsgeld  wurde  durch  die  Gemeindeordnung  von  1850 
generell  verboten.  Die  späteren  Gemeinde-  und  Städteordnungen 
führten  statt  seiner  dann  Abgaben  für  den  Anzug  und  die  Be- 
gründung eines  eigenen  Hausstandes  ein.  Das  Gesetz  über  das 
städtische  Einzugs-,  Bürgerrechts-  und  Einkaufsgeld  vom  14.  Mai 
1860  schaffte  die  in  den  alten  Provinzen  bestehenden  Eintritts- 
und Hausstandsgelder  wieder  ab  und  führte  statt  ihrer  wieder 
Bürgerrechtsgelder  ein,  w'elche  durch  Gemeindestatut  beschlossen 
werden  konnten,  in  der  ganzen  Monarchie.  Die  endgültige  Rege- 
lung dieser  Materie  brachte  das  Gesetz  vom  2.  März  1867  über 
die  Aufhebung  der  Einzugsgelder,  welches  für  die  alten  Provinzen 
durch  den  §  i  alle  etwa  noch  bestehenden  Einzugsgelder  aufhob  ^). 
»Vom  I.  Juli  1867  ab  darf  in  den  Provinzen  Preußen,  Branden- 
burg, Pommern,  Schlesien,  Sachsen,  Westfalen  und  in  der  Rhein- 
provinz von  Neuanziehenden  ein  Einzugs-  oder  Eintrittsgeld  oder 
eine  sonstige  besondere  Kommunalabgabe  wegen  des  Erwerbes 
der  Gemeindeangehörigkeit  —  der  Niederlassung  am  Ort  —  nicht 
mehr  erhoben,  auch  kein  Rückstand  an  solchen  Abgaben  mehr 
eingefordert  werden.« 

Damit  ist  diese  Möglichkeit,  die  Freizügigkeit  durch  Ver- 
mögensrücksichten zu  beschränken,  völlig  beseitigt.  Weiter  be- 
stehen also  nur  mehr  Bürgerrechtsgelder  infolge  Gemeindestatut, 
Einkaufsgelder  als  spezieller  Entgelt  für  Gemeindenutzungen  und 
Ablösungen  durch  eine  jährliche  Abgabe  hierfür.  Damit  ist  die 
Unterscheidung  zwischen  Bürger-  und  Einwohnergemeinde  auch 
finanziell  streng  durchgeführt. 

Schließlich  ist  hier  noch  die  Gesetzgebung  über  die  Beschrän- 
kungen des  bloßen  Aufenthalts  zu  erwähnen^).  Diese  hatte  jedoch 
keine  armen-  sondern  nur  sicherheitspolizeiliche  Bedeutung  und  liegt 
dem  Institut  der  Polizeiaufsicht  zugrunde.  Schon  die  Kriminal- 
ordnung von  1805  hatte  in  den  §§  410  und  569  polizeiliche  Auf- 

i)  Vgl.  Schoen,  Recht  d.  Komm.-Verb.  S.  252  ff.     Arnold  S.  66. 
2)  Vgl.  Stengels  WB.  Art.  Polizeiaufsicht  von  Meyer. 


—    99     — 

sieht  über  vorläufig  freigesprochene  und  wegen  Wohlverhaltens 
Entlassene  gesetzlich  eingeführt  neben  dem  freien  Ermessen  der 
Polizei,  den  Aufenthalt  verdächtiger  Personen  zu  beschränken.  Das 
Strafgesetzbuch  von  185 1  stellte  nun  nach  dem  Vorgange  der 
in  Rheinpreußen  bestehenden  französischen  Gesetzgebung  ganz 
bestimmte  gesetzliche  Normen  in  Verbindung  mit  dem  Gesetz 
über  die  Polizeiaufsicht  von  1850  auf  ^).  Die  Polizeiaufsicht  war 
darnach  als  Nebenstrafe  neben  Freiheitsstrafen  vom  Richter  zu 
verhängen.  Dies  System  ist  im  wesentlichen  vom  Deutschen 
Reiche  adoptiert  worden.  In  Geltung  blieb  auch  §  2  Abs.  2  Ges. 
betr.  Aufnahme  neuanziehender  Personen  von  1842:  Ausnahmen 
von  der  Freizügigkeit  finden  statt  durch  Strafurteil  und  »wenn 
die  Landespolizeibehörde  nötig  findet,  einen  entlassenen  Sträf- 
ling von  dem  Aufenthalt  an  gewissen  Orten  auszuschließen  ^). 
Hierzu  ist  die  Landespolizeibehörde  jedoch  nur  in  Ansehung  sol- 
cher Sträflinge  befugt,  welche  zu  Zuchthaus  oder  wegen  eines 
Verbrechens,  wodurch  der  Täter  sich  als  ein  für  die  öffentliche 
Sicherheit  oder  Moralität  gefährlicher  Mensch  darstellt,  zu  irgend 
einer  andern  Strafe  verurteilt  worden  oder  in  einer  Korrektions- 
anstalt eingesperrt  gewesen  ist  ^)«.   Diese  Bestimmungen  sind  durch 


1)  In  Fortführung  des  Art.  131  Sen.-Cons.,  28  Floreal,  a.  12  hatte  der  Code 
Penal  lebenslängliche  und  zeitliche  Stellung  unter  Polizeiaufsicht  bei  denjenigen 
eingeführt,  »qui  auraient  ete  condamne  pour  crimes  ou  delits  interessant  la  surete 
Interieure  ou  exterieure  de  l'etat.«     Meyer  in  Stengels  WB. 

2)  Anerkannt    durch   Entsch.    Oberverwaltungsger.    24.    Febr.    1883,     Bd.    9, 

s.  41S  ff. 

3)  Eine  exzeptionelle  Stellung  hatte  nur  die  Stadt  Berlin.  Reskripte  an  den 
Min.  d.  Innern  und  d.  Polizei  20.  Juli  1822,  erneuert  1824  und  1832,  ließen  die 
Möglichkeit  zu,  dort  die  Aufnahme  Neuanziehender  von  der  Bedingung  der  Un- 
bescholtenheit und  Erwerbsfähigkeit  abhängig  zu  machen.  Bei  der  Beratung  des 
Aufnahmegesetzes  1841  aber  ließ  der  Staatsrat  absichtlich  diese  Bestimmung  still- 
schweigend fallen. 

Eine  allerhöchste  Kabinettsorder  vom  2.  Febr.  1S44  aber  führte  diese  Aus- 
nahmebestimmung wieder  ein.  »Auf  den  Bericht  des  Staatsministeriums  vom  20. 
V.  M.  bin  ich  damit  einverstanden,  daß  neben  dem  allgemeinen  Gesetz  .  .  .  1842  .  . 
die  besonderen  wegen  dieses  Gegenstandes  für  die  Stadt  Berlin  ergangenen  .  .  . 
Bestimmungen  dahin  fortbestehen,  daß  ein  Jeder,  welcher  sich  in  Berlin  nieder- 
lassen will  und  nicht  schon  der  dortigen  Gemeinde  angehört,  über  die  Mittel  zu 
seinem  Unterhalt  und  über  seine  untadelhafte  Führung  sich  auszuweisen  hat,  und 
die  Erlaubnis  zur  Niederlassung  zu  versagen  ist,  wenn  gegründete  Besorgnis  vor- 
handen ist,  daß  derjenige,  welcher  jene  Erlaubnis  nachsucht,  wegen  Mangels  an 
Mitteln  dem  gemeinen  Wesen  zur  Last  fallen  werde,  oder  durch  seinen  Aufenthalt 
die   öffentliche    Sicherheit    und    Ordnung    gefährden   könne.«     Sehr  charakteristisch 

7* 


—       lOO      — 

die  Anerkennung  der  landesgesetzlichen  Ordnung  auf  diesem  Ge- 
biet in  §  3   Freizügigkeitsgesetzes  bestehen  geblieben. 

Hiermit  ist  die  preußische  Armengesetzgebung  beendigt,  soweit 
sie  öffentliche  Rechte  der  Person  berührt.  Sie  geht  nunmehr 
restlos  auf  in  der  gesamtdeutschen,  auf  welche  sie  den  nachhaltig- 
sten lünfluß  ausübte,  ja  deren  Bestimmungen  meistens  dem  Sinne 
nacli,  viefach  sogar  dem  Wortlaut  nach  den  altpreußischen  Ge- 
setzen entsprachen.  Der  preußische  Unterstützungswohnsitz  be- 
seitigte den  altdeutschen  Heimatsbegriff,  und  bei  der  Verfechtung 
des  Prinzips  der  Freizügigkeit  fand  Preußen  die  nachhaltigste 
Unterstützung  Sachsens.  Preußen  ging  im  Deutschen  Reiche 
mit  vielen  seiner  Rechte  auf  und  drückte  jenem  dabei  meistens 
seinen  Stempel  auf.  Dies  lag  in  der  Natur  der  Sache,  weniger 
wegen  des  Stimmenverhältnisses  im  Norddeutschen  Bund  als 
wegen  der  Größe  seines  Territoriums,  in  welchem  es  eben  allein 
Gelegenheit  gehabt  hatte,  die  für  das  weite  Gebiet  des  Deut- 
schen Reiches  passenden  Grundsätze  zu  erproben. 

betonte  der  Minister  in  einem  Reskript  an  das  Berliner  Polizeipräsidium  vom  8.  März 
1844:  >Bei  der  Anwendung  der  AHC.  ist  der  Grundsatz  festzuhalten,  daß  die  darin 
erteilten  Vorschriften  auf  polizeilichen  Rücksichten  —  beruhen,  nicht  aber  das 
Kommunalinteresse  der  Stadt  Berlin  bezwecken.  Letztere  kann  daher  ein  Wider- 
spruchsrecht gegen  die  Niederlassung  neuanziehender  Personen  in  weiterem  Um- 
fange, als  es  das  Gesetz  von   1842  gestattet,  nicht  hieraus  ableiten.« 

Hier  ist  mit  aller  wünschenswerten  Deutlichkeit  der  fundamentale  Unterschied 
zwischen  allgemeinen  staatlichen  Polizeirücksichten  und  Armeninteressen  der  Ge- 
meinde festgehalten,  wie  er  sich  im  Laufe  der  Zeit  herausgebildet  hat. 

Uebrigens  ist  das  Privileg  der  Stadt  Berlin  bei  der  Beratung  des  Freizügig- 
keitsgesetzes fallen  gelassen.  Ebenso  hörte  stillschweigend  durch  die  Nichtaus- 
übung in  der  Verwaltungspraxis  die  Vorschrift  des  Paßediktes  vom  22.  Juni  18 17 
auf,  wonach  in  gewissen  großen  Städten  und  vor  allem  in  Festungen  auch  der 
bloße  Aufenthalt  an  das  Erfordernis  von  Platzkarten  geknüpft  war. 

Die  obigen  Ausführungen  nach  Arnold,  S.  36.  Vgl.  auch  Entscheidung 
OB.  VerwGer. ;  ferner  Möller,  Stadtrecht  S.  276. 


—       lOI       — 


Siebentes  Kapitel. 

Gesetzgebung  des  neuen  Deutschen  Reiches. 

Der  Grundsatz,  daß  der  Einzelne  mit  dem  Staate  erst  durch  seine 
engere  Gemeinschaft,  Familie,  später  durch  Gemeinde  und  Lehens- 
verband verbunden  ist,  hat  jene  frühzeitige  Beschränkung  der  Frei- 
zügigkeit und  die  Schollenbindung  verursacht,  welche  im  ii.  Jahr- 
hundert bereits  Schranken  zwischen  den  Kommunen  aufrichteten. 
Die  Schranken  zwischen  den  Gemeinden  beruhen  wesentlich  auf 
privatrechtlichen  Titeln,  erst  die  Fürsorgeverpflichtung  der  Ge- 
meinden macht  sie  zu  öffentlichen.  Anders  verhielt  es  sich  mit 
der  Freizügigkeit  von  Territorium  zu  Territorium.  Die  Territo- 
rien sonderten  sich  wesentlich  später  streng  von  einander  ab  als 
die  Gemeinden,  sie  sind  ein  viel  höherer  Grad  der  staatlichen 
Entwicklung  und  setzen  schon  eine  durchgebildete  innere  Ver- 
waltung voraus,  welche  sich  erst  in  den  Städten  ausbildete  und 
dann  das  Vorbild  für  die  Territorien  abgab.  Die  Unsicherheit 
des  mittelalterlichen  Lebens  war  noch  merklicher  auf  dem  Gebiete 
des  öffentlichen  als  des  privaten  Rechts.  Das  römische  Recht 
griff  auch  zuerst  in  das  Privatrecht  ordnend  ein,  und  hat  über- 
haupt das  öffentliche  Recht  niemals  in  so  intensiver  Weise  um- 
gestaltet wie  jenes. 

Es  konnte  sich  im  Mittelalter  nur  eine  Auswanderung  aus 
den  übervollen  altdeutschen  Gebieten  in  die  östlichen  entwickeln, 
welche  dauernd  auf  Nachfüllung  angewiesen  waren.  Und  die- 
ser Austausch  wurde  auch  wenig  behindert,  er  diente  beider 
Parteien  Interesse.  Erst  im  15.  Jahrhundert  und  mehr  noch  im 
16.  fanden  generelle  Verbote  der  Auswanderung  vom  platten 
Lande  in  die  Städte  statt,  welche  jetzt  schon  als  besondere  Staats- 
gebiete anzusehen  sind.  Der  Landfrieden  von  1530  fordert  für 
diesen  Fall  die  Vorweisung  von  Abzugsbriefen.  Diese  aber  wer- 
den vom  Territorialherren  nur  ausgestellt  nach  Entrichtung  von  Ge- 


—       I02       — 

bührcn,  der  Nachsteuer  >gabella  cmigrationis,  dctractus  pcrsona- 
lis«.  1594  führt  der  ReichstaL,f.sabschicd  diese  i^cnercll  ein  (i^  8iS). 
Und  schon  im  Reichstagsabschied  von  1555  wird  den  Rehgions- 
flüchtHngen  die  Auswanderung  »unter  ziemHcher  Entrichtung  Nach- 
steuer« gestattet.  Das  war  das  Ende  des  im  eigentUchen  Mittel- 
alter ideell  und  praktisch  geltenden  allgemeinen  Reichsindigenats'). 
Jetzt  erst  wird  die  trennende  Schranke  zwischen  den  Deutschen 
aufgerichtet.  Die  Auflösung  des  Reichs  in  Territorien  ist  in  ihrem 
wesentlichsten  Punkte  durchgeführt.  Durch  dieselben  Reichstags- 
schlüsse wird  das  Recht  der  Nachsteuer  den  Grundherren  ab-  und 
den  Landesherren  zugesprochen.  Doch  konnte  diese  Bestimmung 
wohl  erst  später  im  absolutistischen  Staat  durchgeführt  werden. 
Berg,  Teutsches  Polizeirecht,  §  55,  stellt  für  das  18.  Jahrhundert 
demgegenüber  fest,  daß  die  gemeinschädliche  Auswanderung  über- 
haupt verboten  werden  konnte.  Wo  aber  war  da  die  feste  Grenze.? 
Die  Auslegung  der  reichsrechtlichen  Bestimmungen  blieb  in  der 
Praxis  doch  im  wesentlichen  der  einzelstaatlichen  Gesetzgebung 
überlassen.  Auch  die  freie  Bewegung  im  ganzen  Reich  ohne  Ab- 
sicht dauernder  Niederlassung  wurde,  wie  innerhalb  der  Staaten 
für  die  Einheimischen,  so  noch  mehr  für  die  Ausländer  durch 
die  polizeiliche  Beaufsichtigung  und  den  Paßzwang  erschwert. 
Die  Territorien  schlössen  sich  immer  mehr  von  einander  ab.  Eine 
gute  Illustration  zu  diesem  Zustande  bilden  ja  die  Bettelordnun- 
gen, w'elche  die  Ausländer  mit  den  schwersten  Strafen,  immer 
aber  rücksichtslos  mit  der  Ausweisung,  bedrohen.  Vielfach  muß- 
ten sie  hierbei  Urfehde  schwören  und  wurden  gebrandmarkt. 
Traten  sie  dann  wieder  über  die  Grenze,  so  galt  dies  als  Bre- 
chung geschworenen  Eides.  Mindestens  lebenslängliche  Einsper- 
rung und  Festungsarbeit,  in  vielen  Staaten  (bayrische  Gesetze  von 
1753)  Todesstrafe  stand  darauf.  Die  Husarenkorps  in  Mecklen- 
burg, Hartschiere  in  Oesterreich,  Bettelvögte  in  Preußen  sollten 
in  regelmäßigen  oder  außerordentlichen  Streifen  oder  Landes- 
visitationen vor  allem  die  ausländischen  Bettler  und  Vagabunden 
aufgreifen. 

Privatrechtlich    genossen    die  Ausländer    zwar    Schutz,    aber 
vom  Erwerb  irgend  welcher  öffentlichen   Rechte    waren   sie    aus- 


i)  Rechtlich  stand  die  Auswanderung  zwar  immer  frei,  auch  im  l8.  Jahrh. 
So  bestimmt  noch  das  Reichshofratskonklusum  vom  S.März  1723.  Aber  tatsächlich 
wurde  es  durch  die  Höhe  der  zu  Recht  bestehenden  Nachsteuer  wieder  aufgehoben. 
Vgl.  Meyer,  Staatsrecht. 


—     I03     — 

geschlossen.  Bürgerrecht  und  irgend  welche  Grade  der  Gemeinde- 
angehörigkeit waren  ihnen  verschlossen.  Die  Aufsicht  über  die 
Ausländer  wurde  den  Selbstverwaltungskörpern  gänzlich  genom- 
men und  den  staatlichen  Behörden  überwiesen.  Der  Erwerb  der 
Staatsangehörigkeit  war  denkbar  erschwert,  selbst  Beamte  er- 
warben erst  durch  die  Observanz  des  i8.  Jahrhunderts  die  Staats- 
angehörigkeit in  dem  Staate  ihrer  Anstellung.  Nur  die  auf  Ein- 
wanderung angewiesenen  östlichen  Gebiete  machten  hiervon  eine 
Ausnahme  und  begünstigten  dieselbe  in  besonderer  Weise. 

Eine  Aenderung  trat  hierin  erst  im  19.  Jahrhundert  ein.  Die 
Einheitsbestrebungen  der  auf  die  Freiheitskriege  folgenden  Zeit 
führten  zwar  nicht  zu  einem  Bundesindigenat,  erleichterten  aber 
doch  den  gewerblichen  und  persönlichen  Verkehr  zwischen  den 
Einzelstaaten  erheblich.  Schon  vorher  hatten  diese  Bestrebun- 
gen ihren  Niederschlag  in  einzelnen  Verträgen  gefunden,  wodurch 
die  Nachsteuer  wenigstens  aufgehoben  wurde.  Besonders  Preu- 
ßen ^)  traf  im  ersten  Jahrzehnt  derartige  Abmachungen  in  großer 
Zahl  mit  deutschen  und  ausländischen  Staaten. 

Mit  der  Frage  des  Bundesindigenats  beschäftigen  sich  die 
Artikel  14  bis  18  der  Wiener  Bundesakte  vom  9.  Juni  181 5-  §  14 
billigt  nur  den  Fürsten  und  gräflichen  Häusern  Deutschlands  zu, 
»die  unbeschränkte  Freiheit,  ihren  Aufenthalt  in  jedem  zu  dem 
Bunde  gehörigen  und  mit  ihm  im  Frieden  lebenden  Staate  zu 
nehmen.«  Dieses  »Privilegium  favorabile«  schließt  also  um  so  deut- 
licher alle  andern  Staatsbürger  aus.  §  16  schafft  wenigstens  Gleich- 
stellung der  Bekenntnisse :  »Die  Verschiedenheit  der  christlichen  Re- 
ligionsparteien kann  in  den  Ländern  und  Gebieten  des  Deutschen 
Bundes  keinen  Unterschied  in  dem  Genuß  der  bürgerlichen  und 
politischen  Rechte  begründen.«  Art.  18  sichert  den  Untertanen  fol- 
gende Rechte  zu:  a)  »Grundeigentum  außerhalb  des  Staats,  den 
sie  bewohnen,  zu  erwerben  und  zu  besitzen,  ohne  in  dem  fremden 
Staate  deshalb  mehreren  Abgaben  und  Lasten  unterworfen  zu 
sein  als  dessen  eigne  Untertanen.«  Unter  b)  erhalten  sie  »die 
Befugnis  i.  des  freien  Weggehens  aus  einem  deutschen  Staat  in 
einen  anderen,  der  sie  erweislich   zu  Untertanen  aufnehmen  will, 


i)  Hier  hatten  Ausländer  schon  nach  dem  Recht  ALR.s  die  gleichen  Rechte 
wie  Inländer.  Einl,  §  34  und  31.  AGO.  §§  26  und  28,  Teil  i,  Tit.  2.  Doch 
hatten  sie  kein  Recht,  wohl  aber  die  Möglichkeit  der  Wohnsitzerwerbung. 

In  Bayern  wurden  Ausländer  nach  lojährigem  Aufenthalt  im  Inlande  wie  In- 
länder behandelt.     BO.    1726. 


—     104     — 

auch  2.  in  Zivil-  und  Militärdienste  desselben  zu  treten ;  c)  die 
Freiheit  von  aller  Nachsteuer  (jus  detractus,  <:,rabclla  emii^rationis), 
insofern  das  Vermögen  in  einen  andern  deutschen  Staat  über- 
geht und  mit  diesem  nicht  besondere  Verhältnisse  durch  Frei- 
zügigkeitsverträge bestehen.«  Artikel  20  der  Schlußakte  bestimmt 
ganz  allgemein  die  »Freiheit  der  Auswanderung  und  Ausführung 
des  Vermögens«.  Schwierigkeiten  ergaben  sich  des  weiteren  vor- 
nehmlich aus  dem  verschiedenen  Alter  der  Militärpflichtigkeit  in 
den  einzelnen  Staaten,  durch  welches  die  Auswanderungsfreiheit 
fortan  weiter  behindert  wurde.  Dem  wurde  durch  einzelne  Staats- 
verträge abgeholfen.  So  zwischen  Bayern  und  Preußen  am  1 5.  Sept. 
1818,    welcher  Vertrag    das    25.  Lebensjahr   als   Norm    festsetzte. 

Die  weitere  Regelung  der  Behandlung  der  Ausländer  über 
die  ihnen  durch  die  Bundesakte  verliehenen  Freiheiten  hinaus  war 
lediglich  Sache  der  einzelstaatlichen  Gesetzgebung.  Bayern  und 
Preußen  waren  hierin  recht  freisinnig.  P2in  Pr.  Min.-Reskr.  vom 
5.  Juli  1826  befiehlt  zur  Durchführung  der  Bundesbestimmungen, 
daß  die  Gemeinden  jeden  Ausländer,  der  nicht  arm  ist,  aufzu- 
nehmen haben.  Ein  Ausländer,  der  sich  im  Inlande  niederlasse 
und  ein  Domizil  konstituiere,  werde  dadurch  von  selbst  ein  In- 
länder. Und  die  bayrische  Gesetzgebung  des  Jahres  1825  läßt 
den  bedingten  Heimatserwerb  der  »Landfremden«  bis  zum  end- 
gültigen Erwerb  der  Staatsangehörigkeit  zu. 

Große  Schwierigkeiten  ergaben  sich  aus  der  interterritorialen 
Freizügigkeit  namentlich  hinsichtlich  dßv  Armenverpflegung.  Hier- 
bei waren  die  Staaten,  welche  den  Ausländern  den  Erwerb  der 
Gemeindeangehörigkeit  erlaubten  und  den  Erwerb  des  armen- 
rechtlichen Domizils  erleichterten,  also  vornehmlich  Preußen,  de- 
nen gegenüber  stark  benachteiligt,  welche  starr  an  dem  alten 
deutschen  Heimatrecht  mit  gar  keiner  oder  doch  sehr  lange- 
dauernder Ersitzung  festhielten  —  und  das  waren  alle  übrigen. 
In  Preußen  trat  die  Notwendigkeit  einer  Vereinbarung  hierüber 
vor  allem  nach  der  Einführung  des  Gesetzes  von  1842  hervor,  in 
welchem  reisenden  Ausländern  die  gleiche  Unterstützung  zuge- 
sichert wurde  wie  den  Inländern.  P^rner  ergaben  sich  Schwie- 
rigkeiten aus  der  verschiedenen  Behandlung  der  lästigen  Ausländer, 
als  welche  auch  Bundesangehörige  immer  noch  galten.  Hierbei 
waren  wiederum  diejenigen  im  Vorteil,  welche  leichter  mit  der 
Ausweisung  umgingen  als  die  anderen.  Gut  waren  hierin  aber- 
mals die  kleineren  Staaten  daran. 


—     I05     — 

Die  Beseitigung  dieser  Mängel  der  Bundesverfassung  ließ  sich 
schließlich  nicht  länger  umgehen  und  führte  im  Jahre  1851 
zunächst  zur  Gothaer  Konvention  vom  15.  Juli  1851,  welcher 
sich  die  meisten  kleineren  und  die  größeren  Staaten  mit  Aus- 
nahme von  Württemberg,  Baden,  Hannover,  Oesterreich,  Mecklen- 
burg und  den  freien  Städten  anschlössen i).  Die  Einleitung 
dieses  Vertrages,  welcher  abgeschlossen  wurde  »in  der  Absicht, 
das  in  bezug  auf  die  Uebernahme  von  Auszuweisenden  oder 
Heimatlosen  zwischen  ihnen  bestehende  Verhältnis  auf  möglichst 
einfache  und  leicht  zu  handhabende  Grundsätze  zurückzuführen«, 
weist  bereits  auf  die  Notwendigkeit  einer  gesamtdeutschen  Rege- 
lung hin.  Die  Staaten  beabsichtigen,  »soviel  an  ihnen  ist,  ein  all- 
gemeines deutsches  Heimatrecht  vorzubereiten«.  Der  Inhalt  der 
Konvention  ist  der,  daß  jede  Regierung  sich  verpflichtet,  frühere 
Staatsangehörige,  welche  zwar  schon  ihre  frühere  Staatsangehörig- 
keit verloren  aber  noch  keine  neue  erworben  haben,  falls  sie  in 
einem  anderen  Staate  lästig  fallen  sollten,  wieder  aufzunehmen. 
Hat  eine  Person  überhaupt  keine  Staatsangehörigkeit  in  einem 
der  vertragschließenden  Staaten  ^j  gehabt,  so  ist  für  die  Ueber- 
nahme maßgebend  etwaiger  fünfjähriger  Aufenthalt^),  Eheschlie- 
ßungsort und  in  letzter  Linie  Geburtsort.  Bei  der  Ausweisung 
sollen  die  Familien  nicht  getrennt  werden.  Die  Ausweisung  darf 
nicht  erfolgen,  bevor  der  verpflichtete  Staat  sich  zur  Uebernahme 
bereit  erklärt  hat.  Das  Transportwesen  und  die  Entscheidung  der 
Streitigkeiten  werden  eingehend  geordnet. 

»Ueber  die  Grundsätze,  welche  gegenseitig  in  bezug  auf  die 
Verpflegung  erkrankter  und  Beerdigung  verstorbener  Angehörigen 
des  anderen  Staates  Anwendung  finden«  sollten,  wurde  eine  Ver- 
einbarung de  dato  Eisenach*)  den  11.  Juli  1853  geschlossen,  wel- 
cher Oesterreich  beitrat,  die  süddeutschen  Staaten  aber  fernblieben. 
Es  wird  hierin  der  Grundsatz  der  gleichen  Behandlung  der  In- 
länder und  Ausländer  festgestellt,  wie  er  bisher  bereits  in  einigen 
Staaten,  vor  allem  in  Preußen  bestanden  hatte.  Ersatzansprüche 
an  irgendwelche  öffentlichen  Kassen,  also  auch  an  Armenverbände 

i)  Zwischen  Mecklenburg  und  Preußen  bestand  bereits  seit  14,  Nov.  181 1 
eine  »Konvention  wegen  wechselseitiger  Anhaltung  und  Auslieferung  der  Vaga- 
bunden«. 

2)  Also  Fall  der  Herkunft  aus  einem  unbeteiligten  Staate. 

3)  Vgl.  die  Bestimmungen  des  Fränkischen  Kreisschlusses.      1791. 

4)  Die  beiden  Konventionen  häufig  abgedruckt.  GesS.  Preußens,  Rocholl, 
System  d.   D.  Armenpflegerechts.     S.  I,  Anh. 


—     io6     — 

oder  Heimatgemeinden  des  anderen  Staates  hat  die  verpflegende 
Gemeinde  nicht.  Diese  Kosten  werden  nach  Maßt^abe  der  Lan- 
desgesetze entweder  von  dem  Verpflegungsstaate  oder  von  dem 
zuständigen  Landarmenverbande  getragen.  Die  verpflegende  Ge- 
meinde hat  dagegen  einen  Erstattungsanspruch  gegen  die  privat- 
rechtüch  zur  Alimentation  verpflichteten  Angehörigen  des  anderen 
Staates '). 

Der  nächste  Schritt  der  geschichtlichen  Entwicklung  ist  dann 
die  gemeinsame  Regelung  durch  den  Norddeutschen  Bund  und 
in  der  Folge  das  Reich,  auf  welche  nunmehr  eingegangen  wer- 
den muß.  Zuvor  aber  muß  rückwärtsschauend  noch  auf  die 
beachtenswerten  Grundsätze,  welche  das  Parlament  der  Pauls- 
kirche hinsichtlich  eines  »Deutschen  Heimatgesetzes«  aufgestellt 
hat,  welche  aber  im  Entwurf  stecken  geblieben  und  nicht  einmal 
zur  Beratung  in  der  Plenarversammlung  gekommen  sind,  einge- 
gangen werden  -). 

Das  Heimatgesetz,  ^)  welches  die  Kommission  der  Paulskirche 

i)  Zur  Wahrung  der  internationalen  Rechtsordnung  wurde  unter  den  Bundes- 
staaten, welche  den  Gothaer  Vertrag  schlössen,  zugleich  ausgemacht,  >daß  von  jeder 
Regierung,  soweit  dies  nicht  bereits  geschehen,  Anordnung  getroffen  werde,  da- 
mit in  ihrem  Gebiet  keine  Verheiratung  eines  Angehörigen  der  anderen  kontrahie- 
renden Staaten,  sei  es  mit  einer  Inländerin  oder  einer  Ausländerin,  ohne  Konsens 
der  Heimatbehörde  gestattet  werde«. 

Vgl.  hierüber  v.  Sicherer,  Personenstand  und  Eheschließung,  und  Döllinger, 
Verordnungen-Sammlung  26. 

2)  Verhandl.  d.  Frankfurter  Parlam.  Beilagen  Bd.  2  S.  695. 

3)  Da  der  historisch  wie  allgemein  so  wertvolle  Entwurf  der  Kommission  von 
1848  m.  W.  außer  in  den  schwer  zugänglichen  Parlamentsakten  selbst  nirgends 
abgedruckt  ist,  mag  dieses  kulturhistorisch  wichtige  Dokument  aus  einer  Zeit, 
welche  die  Grundlagen  der  Gesetzgebung  unserer  staatsbürgerlichen  Zeit  gelegt  hat, 
hier  im  Wortlaut  folgen  : 

Entwurf  eines  Heimatgesetzes.  Beilage  zum  Protokoll  der  127.  Sitzung  vom 
2.  Dez.   1848.     Beilagen  S.   693  ff. 

>§  I,  Das  Gebiet  eines  jeden  Deutschen  Staates  zerfällt  in  bestimmt  ab- 
gegrenzte Gemeindebezirke;  diese  bilden  zugleich  Heimatsbezirke. 

Den  einzelnen  Staaten  bleibt  es  überlassen,  mehrere  Gemeindebezirke  zu 
einem  Heimatbezirk  zu  vereinigen. 

§  2.  Der  Aufenthalt  und  Wohnsitz  in  einem  Heimatbezirke,  sowie  das  Recht 
zum  Gewerbebetrieb,  soweit  dies  nicht  durch  die  Deutsche  Gewerbeordnung  be- 
schränkt wird,  darf  keinem  Deutschen  verweigert  werden,  solange  er  nicht  daselbst 
der  öffentlichen  Armenunterstützung  anheimfällt  oder  wegen  eines  gemeinen  Ver- 
brechens verurteilt  wird. 

§  3.     Das  Heimatrecht  wird  erworben 

a)  durch  Geburt.     Eheliche  Kinder  folgen  der  Heimat  des  Vaters,  uneheliche 


—    loy    — 

im  Jahre   1848  entwarf,  ist  bemerkenswert    einmal    dadurch,    daß 
es  in  seinen  Motiven  sich  sehr  genau  mit  den  bestehenden  Lan- 


der Heimat  der  Mutter,  Findlinge  erlangen  das  Heimatrecht  in  dem  Heimatbezirkei 
in  welchem  sie  gefunden  werden,   fallen  aber  der  Fürsorge  des  Staates  anheim. 

b)  durch  Verheiratung.  Ehefrauen  erwerben  die  Heimat  in  dem  Heimatbe- 
zirke  des  Mannes. 

c)  durch  ausdrückliche  Aufnahme.  Diese  darf  keinem  Deutschen  verweigert 
werden,  welcher  erwerbsfähig  ist  und  zur  Zeit  seiner  Aufnahme  weder  öffentliche 
Armenunterstützung  genießt,    noch  wegen  eines  gemeinen  Verbrechens    bestraft  ist. 

d)  durch  mehrjährigen  Aufenthalt.  Wer  sich  5  Jahre  ununterbrochen  durch 
sein  Vermögen  oder  seine  Tätigkeit  in  einem  Gemeindebezirk  redlich  ernährt  hat, 
erwirbt  daselbst  das  Heimatrecht,  wenn  er  nicht  sein  früheres  Heimatrecht  sich 
erhalten  hat. 

e)  durch  Erwerbung  des  Gemeindebürgerrechts.  Dasselbe  schließt  das  Heimat- 
recht stets  in  sich  ein. 

§  4.  Wer  in  einer  Gemeinde  Heimatsrecht  erwirbt,  verliert  dasselbe  in  seiner 
Heimatsgemeinde,  wenn  er  nicht  daselbst  Gemeindebürger  ist. 

§  5.  Das  Heimatrecht  kann  ohne  Besitz  des  Gemeindebürgerrechts  bestehen 
und  begründet  noch  kein  Recht  auf  die  Nutzungen  des  Gemeindevermögens. 

§  6.  Das  Heimatsrecht  gewährt  den  Anspruch,  im  Falle  der  Arbeitsunfähig- 
keit und  Verarmung,  von  dem  Heimatsbezirke  notdürftig  unterhalten  zu  werden. 
Liegt  in  diesem  Falle  Dritten  die  Verpflichtung  ob,  für  den  Unterhalt  des  Heimat- 
berechtigten zu  sorgen,  so  kann  die  Gemeindebehörde  diese  zur  Erfüllung  ihrer 
Verpflichtung  anhalten. 

§  7.  Die  weiteren  Rechte  der  Heimatsberechtigten  und  derer,  welche,  ohne 
Heimatsberechtigte  zu  sein,  in  einem  Heimatsbezirke  Wohnsitz  haben,  gegen  die 
Gemeinde,  werden  durch  die  Gemeindeverfassung  bestimmt. 

§  8.  Hilfsbedürftige  haben  in  jeder  Gemeinde,  in  welcher  sie  sich  zur  Zeit 
ihrer  Hilfsbedürftigkeit  befinden,  Anspruch  auf  notdürftige  Unterstützung. 

Die  betreffende  Gemeinde  hat  dieselbe  vorschußweise  für  Rechnung  des  ver- 
pflichteten Heimatbezirks  zu  leisten.  Der  Anspruch  auf  Wiedererstattung  des  ge- 
leisteten Vorschusses  verjährt  drei  Monate  nach  eingetretenem  Verpflegungsfall, 
beziehungsweise  nach  Ermittlung  des  verpflichteten  Bezirks. 

§  9.  Wer  15  Jahre  von  seinem  Heimatbezirk  freiwillig  abwesend  w-ar  und 
an  keinem  anderen  Ort  Heimatrecht  erworben  hat,  behält  zwar  daselbst  sein  Heimat- 
recht, fällt  aber  im  Verarmungsfall  der  Versorgung  desjenigen  Staates  anheim,  zu 
welchem  der  Heimatbezirk  gehört.« 

Die  nachher  in  die  Verfassung  übernommenen  Grundrechte  des  deutschen 
Volkes  wiederholen  im  §  3  den  §  2  des  obigen  Entwurfes,  und  fügen  dem  noch 
die  Freiheit  hinzu,  an  jedem  Ort  das  Gemeindebürgerrecht  zu  gewinnen,  §  6  hebt 
alle  Beschränkungen  der  Auswanderung  auf,  welche  bisher  noch  den  außerdeutschen 
Staaten  gegenüber  galten.  §  16  stellt  die  staatsbürgerlichen  Rechte  und  Pflichten 
noch  einmal  unabhängig  vom  religiösen  Bekenntnis  fest,  hier  mit  Einschluß  des  Juden- 
tums. §  20  lautet:  »Die  bürgerliche  Gültigkeit  der  Ehe  ist  nur  von  der  Vollziehung 
des  Zivilaktes  abhängig;  die  kirchliche  Trauung  kann  nur  nach  Vollziehung  des 
Zivilaktes  stattfinden.     Die  Religionsverschiedenheit    ist    kein    bürgerliches    Ehehin- 


—     loS     — 

desgesetzen  auseinandersetzt  und  deren  Bestimmungen  eingehend 
würdigt,  und  sodann  aus  dem  Grunde,  weil  es  auf  die  spätere 
Bundesgesetzgebung  Einfluß  gehabt  hat.  Die  Motive  zu  dem 
Entwurf  wie  dieser  selbst  zeigen  alle  Vorzüge  der  Behandlung 
in  diesem  philosophischen  Parlament;  jeder  Radikalismus  wird 
vermieden  und  nur  das  mögliche,  aber  auch  das  nötige  verlangt. 
Die  Rechte  der  Gemeinden  und  des  Individuums  sind  sorgfältig 
gegeneinander  abgewogen,  die  bisherige  gemeinrechtliche  Rege- 
lung wird  im  wesentlichen  verworfen,  es  wird  neues  geschaffen. 
Unverkennbar  ist  dabei  der  Einfluß  der  preußischen  Gesetz- 
gebung. Die  Abhängigkeit  von  der  Staatsbehörde  und  der  Ge- 
meinde wird  auf  das  unumgänglich  notwendige  beschränkt,  die 
bisher  meist  üblichen  Heimatscheine  werden  beseitigt,  ebenso 
alle  Anforderungen  persönlicher  Art,  wie  Vermögen,  Arbeits- 
kraft, Nahrung  und  Unbescholtenheit.  Es  heißt  in  den  Motiven: 
»In  dem  vorliegenden  Gesetz  war  die  Aufgabe  zu  lösen,  jedem 
Deutschen  die  möglichst  große  Freiheit  des  Aufenthalts,  der 
Niederlassung  und  der  Verwertung  seiner  Arbeitskraft  innerhalb 
des  ganzen  Reichsgebiets  zu  garantieren,  ohne  dadurch  die  Selb- 
ständigkeit und  das  Wohl  der  Gemeinden  zu  gefährden.«  Diese 
klare  Forderung  einer  allgemeinen  deutschen  Ordnung  auf  diesen 
Gebieten  ist  sicherlich  eins  der  größten  Verdienste  des  1848er 
Parlaments. 

Die  bisherigen  Beschränkungen  des  Polizeistaats  werden  mit 
folgenden  Worten  abgetan:  »Man  .sieht,  alle  jene  präventiven 
Schutzmaßregeln  gegen  die  Gefahren  der  Freizügigkeit,  wie  wir 
sie  aus  dem  alten  Polizeistaate  überkommen  haben,  sind  trüge- 
risch, verfehlen  ihren  Zweck  und  heben  den  größten  Teil  der 
Segnungen  auf,  welche  aus  der  P^reizügigkeit  der  Nation  er- 
wachsen sollen,  sie  hemmen  die  frische,  gesunde  Saftströmung 
in  den  Adern  des  Volkes  und  müssen  deshalb  dem  freieren 
System,  welches  nur  repressive  Mittel  zuläßt,  weichen.«  >Es 
mußte  daher  i.  den  Gemeinden  die  Pflicht  auferlegt  werden, 
jedem  P'remden  Aufenthalt  und  Wohnsitz  zu  gestatten ;  es  mußten 

dernis.«  §  27  stellt  die  Berufswahl  und  Ausbildung  frei  und  §  32  hebt  jeden 
Untertänigkeits-  und  Herrschaftsverband  auf. 

Alle  diese  Bestimmungen  sind  nachher  in  die  deutsche  Reichsverfassung  und 
die  ausführenden  Gesetze  über  Unterstützungswohnsitz,  Freizügigkeit  und  Aufhebung 
der  Ehebeschränkungen  übergegangen,  und  haben  darum  ein  nicht  nur  historisches, 
sondern  ein  eminent  politisches  Interesse  auch  vom  Standpunkte  der  Armenver- 
waltung aus. 


—     I09     — 

ferner  2.  die  Fälle  bestimmt  werden,  in  welchen  die  Schutzbe- 
dürftigkeit der  Gemeinden  ein  Recht  für  sie  begründet,  dem  bei 
ihr  wohnenden  Fremden,  der  ihr  wirkliche  Nachteile  bringt,  sei 
es  weil  er  verarmt,  sei  es  weil  er  durch  Verbrechen  ihre  Sicher- 
heit bedroht,  wegzuweisen.  Und  um  den  Weggewiesenen  nicht 
hilf-  und  heimatlos  zu  lassen,  mußte  3.  für  jeden  Deutschen  eine 
Heimat  festgesetzt  werden,  in  der  er  nicht  nur  das  Recht  unge- 
hindert zu  verbleiben,  sondern  in  der  er  auch  im  Verarmungs- 
falle Anspruch  auf  Unterstützung  hat.  Die  Bestimmungen  über 
Erwerbung  und  Verlust  der  Heimat  waren  notwendige  Konse- 
quenzen des  obersten  Zwecks  des  Gesetzes.« 

Das  Streben  nach  einem  allgemein-deutschen  Recht  kommt 
noch  einmal  in  den  Worten  zur  Geltung:  »Vielmehr  kam  es  hier 
darauf  an,  neben  dem  Gemeindebürgertum,  dessen  Regelung  den 
einzelnen  Staaten  und  Kommunen  verbleibt,  und  welches  überall 
lokal  und  staatlich  verschieden  sein  kann,  auch  eine  Gemeinde- 
angehörigkeit zu  schaffen,  welche  in  ganz  Deutschland  dieselbe 
ist,  und  deren  Gewinn  und  Verlust  lediglich  vom  Reiche  aus 
normiert  wird.« 

Von  der  Auffassung,  welche  bei  der  Abfassung  des  Ent- 
wurfes leitend  war,  und  welche  zugleich  zeigt,  daß  der  Kom- 
mission nichts  ferner  lag,  als  eine  radikale  Aufhebung  aller  Be- 
schränkungen ohne  Rücksicht  auf  die  Nützlichkeit,  ihrer  sach- 
lichen Arbeit  also,  zeugt  die  Art  der  Abweisung  eines  Minori- 
tätserachtens,  welches  der  Gemeinde  die  Wegweisung  gestatten 
will  bei  der  Verletzung  der  öffentlichen  Sicherheit,  bei  Bettel 
und  »wenn  derselbe  sich  sonst  nicht  auf  redliche  Weise  ernährt« 
mit  den  Worten:  »die  Kommission  hat  diese  Punkte  abgelehnt, 
da  sie  alle  in  die  beiden  vorgeschlagenen  Rubriken :  Armen- 
unterstützung und  Verbrechen  entfallen«. 

Die  Regelung  öffentlicher  Rechtsverhältnisse  auf  interterri- 
torialer Grundlage  ist  wegen  der  Gemeinsamkeit  der  Interessen 
stets  der  erste  Schritt  bei  der  Schaffung  internationalen  Rechts 
überhaupt.  Das  Privatrecht  folgt  immer  wesentlich  später;  dies 
war  auch  der  Weg,  welchen  der  Deutsche  Bund  ging.  Es  war 
aber  auch  die  allererste  Aufgabe,  der  er  sich  nach  Ueberwin- 
dung  der  politischen  Hindernisse  unterzog,  und  hierbei  wiederum 
der  öffentliche  Status  der  Person,  soweit  seine  Wirkungen  sich 
über  die  einzelstaatlichen  Grenzen  hinaus  erstreckten. 

Der  Norddeutsche   Bund    ging    demgemäß    sofort   ans  Werk, 


—       HO      — 

um  ein  einheitliches  Personenrecht  zu  schaffen  und  somit  den 
oben  geschilderten  Bestrebungen  gerecht  zu  werden,  lüleichternd 
wirkte  es  hierbei,  daß  der  Norddeutsche  Bund  völlii,'  staatlichen 
Charakter  hatte,  während  der  Deutsche  Bund  mehr  völkerrecht- 
licher Art,  international  gewesen  war.  Erst  jetzt  war  ein  gemein- 
sames Indigenat  überhaupt  praktisch  möglich.  Dies  fand  seinen 
Ausdruck  im  §  3  der  Verfassung:  »Für  den  ganzen  Bund  be- 
steht ein  gemeinsames  Indigenat  mit  der  Wirkung,  daß  der  An- 
gehörige (Untertan,  Staatsbürger)  eines  jeden  Bundesstaates  in 
jedem  anderen  Bundesstaate  als  Inländer  zu  behandeln  und  dem- 
gemäß zum  festen  Wohnsitz,  zum  Gewerbebetriebe,  zu  öffent- 
lichen Aemtern,  zur  Erwerbung  von  Grundstücken,  zur  Erlan- 
gung des  Staatsbürgerrechtes  und  zum  Genüsse  aller  sonstigen 
bürgerlichen  Rechte  unter  denselben  Voraussetzungen  wie  der 
Einheimische  zuzulassen,  auch  in  betreff  der  Rcchtsverfolgung 
und  des  Rechtsschutzes  demselben  gleich  zu  behandeln  ist. 

Kein  Deutscher  darf  in  der  Ausübung  dieser  Befugnisse  durch 
die  Obrigkeit  seiner  Heimat  oder  durch  die  Obrigkeit  eines 
anderen  Bundesstaates  beschränkt  werden. 

Diejenigen  Bestimmungen,  welche  die  Armenversorgung  und 
die  Aufnahme  in  den  lokalen  Gemeindeverband  betreffen,  werden 
durch  den  im  ersten  Absatz  ausgesprochenen  Grundsatz  nicht 
berührt. 

Ebenso  bleiben  bis  auf  weiteres  die  Verträge  in  Kraft,  wel- 
che zwischen  den  einzelnen  Bundesstaaten  in  Beziehung  auf  die 
Uebernahme  von  Auszuweisenden  *  und  die  Verpflegung  er- 
krankter und  die  Beerdigung  verstorbener  Staatsangehörigen  be- 
stehen. 

Hinsichtlich  der  Erfüllung  der  Militärpflicht  im  Verhältnis 
zu  dem  Heimatslande  wird  im  Wege  der  Bundesgesetzgebung 
das  nötige  verordnet  werden. 

Dem  Auslande  gegenüber  haben  alle  Deutschen  gleichmäßig 
Anspruch  auf  den  Schutz  des  Reiches.« 

Was  hier  vor  allem  in  die  Augen  fällt,  ist  die  organische 
Entwicklung,  Ausweitung  und  Vertiefung  des  Begriff"s:  deutscher 
Bundesangehöriger  und  der  in  ihm  enthaltenen  Rechte.  Wir 
glauben  dem  am  besten  Ausdruck  zu  geben  dadurch,  daß  dieser 
Begriff  allmählich  im  Eaufe  des  19.  Jahrhunderts  von  der  Bundes- 
akte über  die  1848er  Bewegung  und  die  Gothaer  und  Eisenacher 
Verträge,    sowie   die  Militärpflichtigkeitskonventionen  hinweg  aus 


—     III     — 

dem  Bereich  der  bundesstaatlichen  Verträge  heraus  und  in  den 
Bereich  der  einheitlichen  Bundesgesetzgebung  übernommen  wor- 
den ist.  Grade  jene  erwähnten  Bestrebungen  und  Verträge  haben 
der  Begründung  enger  staatsrechtlicher  Bindung  in  hervorragen- 
dem Maße  vorgearbeitet.  Für  die  einzelnen  Rechtsgebiete,  wel- 
che bisher  bereits  Gegenstand  von  Verträgen  gewesen  waren, 
wurden  nicht  gleich  in  der  Verfassung  selbst  neue  Normen  auf- 
gestellt, aber  ihre  Regelung  auf  der  neuen  einheitlichen  Grund- 
lage sofort  in  Aussicht  genommen. 

Artikel  4  unterstellt  der  bundesgesetzlichen  Aufsicht  vor 
allem  in  Nr.  i  unter  16  Nummern  »die  Bestimmungen  über  Frei- 
zügigkeit, Heimats-  und  Niederlassungsverhältnisse,  Staatsbürger- 
recht, Paßwesen  und  Fremdenpolizei  und  über  den  Gewerbebe- 
trieb, einschließlich  des  Versicherungswesens,  soweit  diese  Gegen- 
stände nicht  schon  durch  den  Artikel  5  dieser  Verfassung  er- 
ledigt sind.« 

Diese  einleitenden  Bestimmungen  der  Bundes-  und  nach- 
herigen Reichsverfassung  sind  eine  verkürzte  Wiedergabe  des 
Hauptinhalts  der  Grundrechte  des  deutschen  Volkes  aus  der 
Verfassung  von  1848,  soweit  sie  sich  auf  die  Staatsbürgerrechte 
beziehen. 

Den  allgemeinen  in  der  Verfassung  ausgesprochenen  Grund- 
sätzen folgte  die  nähere  Ausführung  auf  dem  Fuße.  Außerdem 
mußten  vor  allen  Dingen  die  bisherigen  interterritorialen  Ver- 
träge über  Armenversorgung  und  Ausweisung  ein  integrierender 
Bestandteil  der  Bundesgesetzgebung  werden.  Das  war  die  erste 
Folgerung  aus  dem  aufgestellten  Grundsatz  des  Unitarismus : 
alles  was  irgend  einheitlich  geregelt  werden  kann,  muß  in  be- 
zug  auf  seine  Erstreckung  über  die  Grenzen  des  Einzelstaates 
hinaus  durch  den  Bund  selbst  in  die  Hand  genommen  werden. 
So  folgt  denn  in  den  ersten  Jahren  bis  1870  eine  umfassende 
bundesgesetzliche  Arbeit,  welche  vor  allem  die  persönlichen 
Statusrechte  umfaßt,  so  daß  dem  endgültig  gegründeten  Deut- 
schen Reich  diese  Materie  im  wesentlichen  fertig  vorgelegt  wer- 
den kann. 

So  wird  bereits  am  12.  Oktober  1867  jeder  Paßzwang  für  die 
Bundesangehörigen  beseitigt  und  somit  das  erste  Erfordernis  für 
die  freie  Bewegung  innerhalb  des  gesamten  Bundesgebietes  erfüllt. 

Am  I.  November  folgt  dann  das  Gesetz  über  die  Freizügig- 
keit.    Die  Schwierigkeiten,   welche    der  Regelung   dieser  Materie 


—       112       — 

entcjcgenstanden,  waren  aus  dem  Grunde  sehr  j^noße,  weil  die 
Bestiinnuin^en  hierüber  in  allen  Bundesstaaten  die  verschieden- 
sten waren.  Die  Einigung  war  aber  andererseits  dadurch  er- 
leichtert, daß  die  beiden  größten  Staaten :  Preußen  und  Sachsen 
in  ihrer  bisherigen  Ordnung  ziemlich  üjjereinstimmten  und  nicht 
überstimmt  werden  konnten,  und  daß  ferner  diese  beiden  Staaten 
diejenige  Ordnung  bei  sich  bereits  eingeführt  hatten,  welche  den 
Bedürfnissen  des  Bundes  und  den  Wünschen  seiner  Bewohner 
denkbar  weit  entgegenkamen :  sie  waren  die  freiheitlichsten.  Preu- 
ßen hatte  seit  1804,  iSio,  bez.  1842,  Sachsen  seit  1834  das 
Prinzip  der  Freizügigkeit  befolgt.  Preußen  stand  außerdem 
vor  der  Notwendigkeit,  innerhalb  seines  eigenen  Staatsgebietes 
zwischen  seinen  alten  und  neuen  Provinzen,  welche  letzteren 
durchweg  dem  alten  Heimatsprinzip  folgten,  einen  Ausgleich  zu 
schaffen.  Was  lag  also  näher  als  diese  beiden  Neuregelungen 
miteinander  zu  verbinden  und  dem  Beispiele  der  Großen,  wel- 
ches zudem  sichtlich  die  wirtschaftlichen  Kräfte  der  Länder  ent- 
fesselt hatte,  zu  folgen.^  Es  war  die  einzige  Möglichkeit,  um  zu 
einer  Einigung  zu  gelangen. 

Die  Frage  war  nun  nur  noch,  wieweit  man  das  Prinzip  der 
Freizügigkeit  erstrecken  sollte.  Ein  Antrag  der  Kgl.  Sächsischen 
Regierung  bezweckte,  die  gewerbliche  Freizügigkeit  in  vollem 
Umfange  in  dies  Gesetz  hereinzuziehen.  Diese  Anregung  hatte 
einen  Beschluß  des  Bundesrates  zur  F'"olge,  der  Regelung  der 
Gewerbefreiheit  in  einem  besonderen  Gesetz  näher  zu  treten, 
nicht  aber  in  diesem  Gesetz.  Der  »gegenwärtige  Gesetzentwurf 
sei  bestimmt^):  »auf  Grundlage  des  gemeinsamen  Bundesindigenats 
nach  Maßgabe  der  durch  Artikel  4  geregelten  Kompetenz  die  in 
einzelnen  Bundesstaaten  noch  bestehenden  Beschränkungen  des 
Niederlassungsrechts  aufzuheben  und  in  sämtlichen  Bundesterri- 
torien die  Freizügigkeit  in  gleichem  Umfange  einzuführen«.  Der 
Entwurf  erstreckte  sich  ebenfalls  nicht  »auf  Regelung  des  Staats- 
bürgerrechts, des  Gemeindebürgerrechts  und  der  Heimatsberech- 
tigung; ebenso  werden  die  Armenunterstützungsvorschriften  nur 
wenig  berührt ;  diejenigen  Beschränkungen  der  wirtschaftlichen 
Freizügigkeit,  welche  ihren  Grund  in  der  Gewerbegesetzgebung "^) 
haben,  bleiben  vorerst  bestehen^. 


i)  Vgl.  Motive  zum  Präsidialgesetzentw.  Arnold,  S.  10. 

2)  Ein  Amendement:     >Das    den    Zünften    oder    sonstigen    Korporationen    zu- 
stehende Recht,  andere  von  dem  Betrieb  eines  Gewerbes  auszuschließen,  desgleichen 


—     113     —    . 

§  I  des  Gesetzes  lautet:  »Jeder  Bundesangehörige  hat  das 
Recht,  innerhalb  des  Bundesgebietes : 

I.  an  jedem  Orte  sich  aufzuhalten  oder  niederzulassen,  wo 
er  eine  eigne  Wohnung  oder  ein  Unterkommen  sich  zu  verschaffen 
imstande  ist; 


das  Verbot,  Gewerbe  und  Handel  auf  dem  Lande  zu  treiben,  wird  aufgehoben* 
wurde  von  dem  Vertreter  des  Bundeskanzleramts  Delbrück  bekämpft,  .  .  .  >Indessen 
sei  man  zu  der  Ueberzeugung  gekommen,  daß  das  vorliegende  Gesetz  nicht  der 
Ort  noch  die  Zeit  ist,  um  so  einschneidende  Bestimmungen  zu  treflfen,  wie  sie  in 
dem  vorliegenden  Amendement  vorgeschlagen  seien.  In  Beziehung  auf  die  Frage 
auf  welchem  Wege  am  zweckmäßigsten  die  gewerbliche  Freizügigkeit  herzustellen  sei, 
hätten  sich  die  Ansichten  dahin  gestellt,  daß,  gegenüber  dem  unzweifelhaft  vorhandenen 
Bedürfnis  und  gegenüber  namentlich  dem  großen  Werte,  welcher  von  dem  Reichstag 
selbst  auf  die  baldige  übereinstimmende  Regelung  dieser  Frage  gelegt  werde,  die  Be- 
schreitung des  Weges  der  Bundesgesetzgebung  derjenigen  des  Weges  der  Landesgesetz- 
gebung vorzuziehen  sei.  Es  sei  dabei  zweierlei  zu  unterscheiden.  In  einem  Teile  der 
Bundesstaaten  bestehen  Beschränkungen  des  Gewerbebetriebes,  die  auf  Privatrechts- 
titeln beruhen  und  unter  dem  Namen  der  ausschließenden  Gewerbeberechtigungen, 
Zwangs-  und  Bannrechte,  Rechte  zur  Erteilung  gewerblicher  Konzessionen  und  Rechte 
zur  Erhebung  gewerblicher  Abgaben  bekannt  sind.  Die  Regulierung  dieser  auf  Privat- 
rechtstiteln beruhenden  Verhältnisse  könne  schon  aus  dem  Grunde  nicht  zum  Gegen- 
stande der  Bundesgesetzgebung  gemacht  werden,  weil  es  sich  hier  überall  um  Entschä- 
digungen der  Berechtigten  handeln  werde,  und  um  eine  Entschädigung,  die  der  Natur  der 
Sache  nach  nicht  aus  Bundesfonds  gewährt  werden  könne,  sondern  nur  aus  Landes- 
fonds zu  gewähren  sei.  Dieser  Teil  der  Gewerbegesetzgebung,  welcher  wesentlich 
das  Terrain  für  eine  gemeinschaftliche  Bundesgesetzgebung  zu  präparieren  habe, 
werde  unzweifelhaft  den  Territorialgesetzgebungen  überlassen  bleiben  müssen.  Da- 
gegen erscheine  es  wohl  zulässig,  den  anderen  Teil  der  Gewerbegesetzgebung,  und 
zwar  denjenigen,  auf  welchen  es  im  großen  und  ganzen  hauptsächlich  und  nach 
den  im  Reichstage  gefallenen  Aeußerungen  und  gestellten  Anträgen  wesentlich  auch 
hier  ankomme,  nämlich  den  Teil  der  Gewerbegesetzgebung,  der  sich  mit  den  im 
Staatsinteresse  für  nötig  befundenen  Beschränkungen  des  Gewerbebetriebes  beschäf- 
tige, füglich  im  Wege  der  Bundesgesetzgebung  und  zwar  hoffentlich  bald  zu  er- 
ledigen.« 

Nach  der  Ueberzeugung  des  Abg.  Miquel  gab  das  Gesetz  »nicht  bloß  eine 
persönliche,  sondern  auch  eine  volle  gewerbliche  Freizügigkeit.  Das  Gesetz  gebe 
keine  Gewerbefreiheit,  aber  es  stelle  in  betreff  der  Wahl  des  Wohnorts,  des  Ge- 
werbebetriebes und  der  Erwerbung  des  Grundeigentums  den  Auswärtigen,  den  Nicht- 
Einheimischen  dem  Einheimischen  völlig  gleich  und  darin  allein  beruhe  der  Begriff 
der  Freizügigkeit«. 

Diese  Trennung  der  Begriffe  drang  vernünftigerweise  durch.  Die  Gewerbe- 
beschränkungen beider  Art  wurden  jedoch  entgegen  den  Ausführungen  Delbrücks 
später  gleichermaßen  durch  die  Bundesgesetzgebung  aufgehoben,  bez.  festgestellt, 
was  durch  die  Bundes-,  dann  Reichsgewerbeordnung  vom  2i.  Juni  1869  geschah. 
Vgl.  §§   I,   2,  4,  7,  8,   10. 

Zeitschrift  für  die  gas.  Staatswissensch.    Ergänzungsheft  51.  8 


—     114     — 

2.  an  jedem  Orte  Grundci.i,rentum  aller  Art  zu  erwerben; 

3.  umherziehend  oder  an  dem  Ort  seines  Aufenthalts,  be- 
ziehungsweise der  Niederlassung  Gewerbe  aller  Art  zu  betreiben, 
unter  den  für  die  l'2inhciniischcn  geltenden  gesetzlichen  J5estim- 
mungcn. 

In  der  Ausübung  dieser  Befugnisse  darf  der  Bundesange- 
hörige, soweit  nicht  das  gegenwärtige  Gesetz  Ausnahmen  zu- 
läßt, weder  durch  die  Obrigkeit  seiner  Heimat,  noch  durch  die 
Obrigkeit  des  Orts,  in  welchem  er  sich  aufhalten  oder  nieder- 
lassen will,  gehindert  werden  oder  durch  lästige  Bedingungen  be- 
schränkt werden. 

Keinem  Bundesangehörigen  darf  um  des  Glaubensbekennt- 
nisses willen  oder  wegen  fehlender  Landes-  oder  Gemeindean- 
gehörigkeit der  Aufenthalt,  die  Niederlassung,  der  Gewerbebetrieb 
oder  der  Erwerb  von  Grundeigentum  verweigert  werden^).« 

Die  Motive  bemerken  dazu:  Ȥ  l  stellt  den  Grundsatz  der 
Freizügigkeit  im  wesentlichen  so  auf,  wie  derselbe  in  Preußen 
besteht«. 

In  der  Kommission  ebenso  wie  in  der  Plenarversammlung 
fanden  sodann  noch  Erörterungen  über  die  Begriffe  :  Wohnung, 
Niederlassung,  Aufenthalt  usw.  statt,  aus  welchen  nur  hervorgeht, 
daß  die  Absicht  bestand,  jede  Art  von  Aufenthalt,  vorübergehend 
oder  dauernd,  mit  oder  ohne  Ansässigkeit  völlig  sicher  und  un- 
abhängig von  der  Willkür  der  Gemeinden  zu  stellen  ^). 

§  3  des  Gesetzes  behandelt  die  polizeiliche  Ausweisungs- 
befugnis von  bestraften  Personen.  Diese  regelt  sich  nach  den 
Landesgesetzen.  Von  Reichs  wegen  hat  das  Strafgesetzbuch  für 
den  Deutschen  Bund  eigene  Grundsätze  darüber  aufgestellt,  neben 
welchen  die  landesgesetzlichen  Bestimmungen  bestehen  bleiben. 
Hier    ist    von    Wichtigkeit   Abs.  2  des  §  3 :    »Solchen    Personen, 


1)  Alle  auf  der  Verschiedenheit  des  religiösen  Bekenntnisses  beruhenden  Be- 
schränkungen der  Niederlassungsfreiheit  und  der  staatsbürgerlichen  Rechte  wurden 
generell  aufgehoben  durch  das  Gesetz  betr.  die  Gleichberechtigung  der  Konfessionen 
in  bürgerlicher  und  staatsbürgerlicher  Beziehung  vom  3.  Sept.  1869,  welches  vom 
ganzen  Deutschen  Reich  einscliließlich  Bayerns  übernommen  wurde. 

2)  Maßgebend  für  Aufenthaltsbeschränkungen  ist  nur  das  Sicherheitsinter- 
esse. Jede  Ausweisung  muß  beruhen  auf  Landes-  oder  Reichsgesetz,  auf  richter- 
licher nach  Gesetz  auferlegter  Nebenstrafe,  durch  die  Polizeibehörde  bei  vorläufig 
entlassenen  Gefangenen  und  infolge  Verhängung  der  Polizeiaufsicht  durch  den 
Richter.  Das  Reichsgesetzbuch  normiert  dann  noch  einige  besondere  Verbrechen 
und  Vergehen,  welchen  die  Polizeiaufsicht  folgt. 


—     115     — 

welche  derartigen  Aufenthaltsbeschränkungen  in  einem  Bundes- 
staate unterliegen,  oder  welche  in  einem  Bundesstaate  innerhalb 
der  letzten  zwölf  Monate  wegen  wiederholten  Betteins  oder  wegen 
wiederholter  Landstreicherei  bestraft  worden  sind,  kann  der  Auf- 
enthalt in  jedem  anderen  Bundesstaate  von  der  Landespolizei- 
behördc  verweigert  werden. 

Die  eigentlichen  armenrechtlichen  Freizügigkeitsbeschrän- 
kungen behandeln  sodann  die  §§  4  und  5.  Diese  §§  stellen  sich 
vollkommen  auf  den  Standpunkt  der  preußischen  Gesetzgebung 
des  Jahres  1842,  wie  das  abermals  die  Motive  des  Bundespräsi- 
diums ausdrücklich  feststellen.  §  4  lautet:  »Die  Gemeinde  ist 
zur  Abweisung  eines  Neuanziehenden  nur  dann  befugt,  wenn  sie 
nachweisen  kann,  daß  derselbe  keine  hinreichenden  Kräfte  be- 
sitzt, um  sich  und  seinen  nicht  arbeitsfähigen  Angehörigen  den 
notdürftigen  Lebensunterhalt  zu  verschaffen,  und  wenn  er  solchen 
weder  aus  eigenem  Vermögen  bestreiten  kann,  noch  von  einem 
dazu  verpflichteten  Verwandten  erhält.  Den  Landesgesetzen 
bleibt  vorbehalten,  diese  Befugnis  der  Gemeinden  zu  beschränken. 

Die  Besorgnis  vor  künftiger  Verarmung  berechtigt  den  Ge- 
meindevorstand nicht  zur  Zurückweisung.« 

Es  wird  hierdurch  die  Beweislast  hinsichtlich  der  Arbeitsun- 
fähigkeit der  ausweisenden  Gemeinde  zugeschoben.  Der  zweite 
Absatz  ist  dem  preußischen  Gesetz  betr.  Aufnahme  usw.  §  5 
wörtlich  entnommen,    aber  erst  durch  die  Kommission  eingefügt. 

§  5  bezieht  sich  auf  die  Fortsetzung  des  Aufenthalts,  nach- 
dem der  Anzug  einer  Person  gemäß  §  4  durch  die  Gemeinde 
nicht  verhindert  worden  ist,  verlangt  also  die  Nachweisung  der 
bei  dem  Anzug  vorhanden  gewesenen  Verarmung  ex  post  ebenso 
wie  das  preußische  Aufnahmegesetz.  Als  Kriterium  ist  hier 
ebenso  wie  bisher  in  Preußen  nach  1855  die  völlige  Verarmung 
innerhalb  einer  bestimmten  —  bis  zum  Erlaß  des  Unter- 
stützungswohnsitzgesetzes der  Landesgesetzgebung  überlassenen 
—  Frist  festgesetzt,  welche  dann  die  Vermutung  begründet,  daß 
dieselbe  schon  vor  dem  Anzüge  vorgelegen  hat  und  somit  der 
Gemeinde  die  Beweislast  erleichtert.  Andererseits  enthält  der  § 
auch  die  notwendigen  Kautelen  gegen  den  Mißbrauch  der  Ge- 
meinden, indem  in  den  Verhandlungen  die  Begriff"e  der  »öftent- 
lichen  Armenunterstützung«  und  der  ^vorübergehenden  Arbeits- 
unfähigkeit« eingehend  behandelt  werden.  §  5  lautet:  »Offenbart 
sich    nach     dem    Anzüge     die    Notwendigkeit    einer    öffentlichen 


—     ii6     — 

Armenunterstützung,  bevor  der  Anziehende  an  dem  Aufenthalts- 
orte einen  Unterstützungswohnsitz  (Ileimatrccht)  erworljen  hat, 
und  weist  die  Gemeinde  nach,  daß  die  Unterstützung  aus  anderen 
Gründen  als  wegen  einer  nur  vorübergehenden  Arbeitsunfähigkeit 
notwendig  geworden  ist,  so  kann  sie  die  Fortsetzung  des  Auf- 
enthalts versagen.* 

§  8  hebt  alle  Einzugs-  und  Einkaufsgelder  auf,  §  9  stellt  die 
Ortsarmenverbände  und  Gesamtarmenverbände  den  Gemeinden 
gleich,  §  10  überläßt  die  Meldevorschriften  weiter  der  Landes- 
gesetzgebung, §  II  lautet:  »Durch  den  bloßen  Aufenthalt  oder 
die  bloße  Niederlassung,  wie  sie  das  gegenwärtige  Gesetz  ge- 
stattet, werden  andere  Rechtsverhältnisse,  namentlich  die  Ge- 
meindeangehörigkeit, das  ürtsbürgerrecht,  die  Teilnahme  an  den 
Gemeindenutzungen  und  der  Armenpflege  nicht  begründet. 

Wenn  jedoch  nach  den  Landesgesetzen  durch  den  Aufent- 
halt oder  die  Niederlassung,  wenn  solche  eine  bestimmte  Zeit 
hindurch  ununterbrochen  fortgesetzt  werden,  das  Heimatsrecht 
(Gemeindeangehörigkeit,  Unterstützungswohnsitz)  erworben  wird, 
behält  es  dabei  sein  Bewenden.«  §  6,  welcher  die  Ausweisung 
tatsächlich  erst  nach  Einwilligung  der  Heimatsgemeinde  zur  Auf- 
nahme gestattet,  ist  hernach  in  die  Ausführungsgesetze  der  Bun- 
desstaaten übergegangen.  §  7  endlich,  welcher  das  Verfahren  in 
Streitfällen  bei  der  Ausweisung  behandelt  und  auf  die  Gothaer 
Konvention  verweist,  ist  durch  §  i  Abs.  2  des  Ges.  ü.  d.  Unter- 
stützun^swohnsitz  formell  und  durch  die  in  demselben  Gesetze 
bestimmte  Einrichtung  des  Bundesamts  für  das  Heimatswesen 
materiell  aufgehoben.  Nur  Bayern  gegenüber  bestand  er  noch 
weiter,  bis  auch  dieses  im  Jahre  191 2  unter  Aufgabe  seines 
Reservatrechtes  dem  reichsgesetzlichen  Unterstützungswohnsitz- 
prinzip beitrat. 

Das  Gesetz  über  den  Unterstützungswohnsitz  selbst  stieß  nun 
bei  seiner  Vorbereitung  auf  weit  größere  Schwierigkeiten  als  das 
Freizügigkeitsgesetz,  obwohl  der  Reichstag  von  Anfang  an  die 
Forderung  auf  Einbringung  eines  bezügl.  Entwurfes  wiederholt 
aufstellte.  Die  Ansichten  der  im  Bundesrat  vertretenen  Regie- 
rungen gingen  hier  viel  mehr  auseinander  als  dort.  Der  von  der 
preußischen  Regierung  am  19.  Februar  1869  vorgelegte,  von 
Flottivell  ausgearbeitete  Entwurf,  welcher  sich  im  wesentlichen 
an  die  preußische  Gesetzgebung  anschloß,  fand  nicht  die  Mehr- 
heit des  Bundesrats,    indem  hier  auch  Sachsen  auf  die  Seite  der 


—     117     — 

Anhänger  des  Heimatgrundsatzes  trat.  Somit  hielt  auch  der  am 
14.  Februar  1870  dem  Bundestag  vorgelegte  Entwurf  i)  an  dem 
Heimatsprinzip  fest  und  statuierte  den  Unterstützungswohnsitz 
nur  in  den  Fällen,  wo  von  dem  Hilfsbedürftigen  die  Grenze  des 
Heimatstaates  überschritten  wird,  aber  »Ein  Unterstützungswohn- 
sitz kann  im  Heimatsstaate  auf  Grund  dieses  Gesetzes  nicht  er- 
worben werden«.  Innerhalb  des  Heimatstaates  behielt  also  die 
Heimatgesetzgebung  ihre  volle  Geltung.  Der  Rechtszustand  auf 
Grund  der  Gothaer  und  Eisenacher  Konvention  sollte  auf  alle 
Fälle  der  Unterstützungsbedürftigkeit  ausgedehnt  und  so  ver- 
längert werden. 

Die  Kommission  des  Reichstages  aber  und  dieser  selbst 
stellten  im  Gegensatz  dazu  den  alten  preußischen  Entwurf  im 
wesentlichen  wieder  her,  um  die  Reichseinheit  zu  wahren  und 
die  interterritoriale  Freizügigkeit  und  damit  das  alldeutsche  Bun- 
desindigenat  in  jeder  Beziehung  voll  durchzuführen ;  und  somit 
wurde  durch  das  endgültige  Gesetz  das  preußische  Prinzip  in 
vollem  Umfange  adoptiert.  Nur  Bayern  stand  auf  Grund  seiner 
Reservatrechte  abseits  und  galt  auch  fernerhin  als  Ausland,  und 
für  die  Beziehungen  mit  ihm  blieben  die  Verträge  von  Gotha 
und  Eisenach  weiter  in  Geltung. 

Vorher  waren  durch  das  Gesetz  betreffend  die  Aufhebung 
der  polizeilichen  Beschränkungen  der  Eheschließung 2)  vom  4.  Mai 
1868  noch  die  vielartigen  in  außerpreußischen  Bundesstaaten  be- 
stehenden Ehehindernisse  abgeschafft.  Nur  die  landesgesetzlichen 
Bestimmungen  über  Eheschließungen  der  Beamten  und  Militär- 
personen sowie  der  Ausländer  blieben  auch  fernerhin  in  Geltung. 
(§  2  Abs.  2  und  4.) 

§  I  dieses  Gesetzes  besagt:  ^ Bundesangehörige  bedürfen  zur 
Eingehung  einer  Ehe  oder  zu  der  damit  verbundenen  Gründung 
eines  eigenen  Haushalts  weder  des  Besitzes  noch  des  Erwerbes 
einer  Gemeindeangehörigkeit  (Gemeindemitgliedschaft)  oder  des 
Einwohnerrechts,  noch  der  Genehmigung  der  Gemeinde  (Guts- 
herrschaft) oder  des  Armenverbandes,  noch  einer  obrigkeitlichen 
Erlaubnis. 

Insbesondere  darf  die  Befugnis  zur  Verehelichung  nicht  be- 
schränkt   werden    wegen    Mangels    eines    bestimmten    die    Groß- 

1)  Vorlage  des  Bundespräsidiums  §  2,  Abs.  2. 

2)  Auch  diesem  Gesetz  trat  Bayern  dann  auf  Grund  seiner  Reservatrechte 
nicht  bei. 


—      ii8     — 

jährii^keit  überstci^^enden  Alters  oder  des  Nachweises  einer  Woh- 
nunü^,  eines  hinreichenden  Vermöf^ens  oder  Erwerbes,  wegen  er- 
littener Bestrafung,  bösen  Rufes,  vorhandener  oder  zu  befürchten- 
der Verarmunf^,  bezogener  Unterstützung  oder  aus  andern  polizei- 
lichen Gründen.  Auch  darf  von  der  ortsfremden  Braut  ein  Zu- 
zugsgeld oder  eine  sonstige  Abgabe  nicht  erhoben  werden.« 

Ferner  wurde  durch  Gesetz  vom  3.  Juli  i<S69  die  völlige 
»Gleichberechtigung  der  Konfessionen  in  bürgerlicher  und  staats- 
bürgerlicher Hinsicht';  [)roklamiert,  welches  seine  Wirkung  vor- 
nehmlich auf  die  Rechtsstellung  der  Juden  erstreckte^). 

Endlich  ist  für  die  hier  behandelten  Rechtsverhältnisse  das 
Gesetz  vom  i.  Juni  1870  über  die  Erwerbung  und  den  Verlust 
der  Bundes-  und  Staatsangehörigkeit  von  Bedeutung,  auf  welches 
am  geeigneten  Orte  zurückzukommen  sein  wird. 

Am  6.  Juni  1870  endlich  wurde  das  die  ganze  Entwicklung 
abschließende  Gesetz  über  den  Unterstützungswohnsitz  erlassen. 
Hierüber  sagen  die  dem  bundespräsidialen  Entwurf  beigefügten 
Motive-):  »Mit  diesen  Gesetzen  —  über  Freizügigkeit,  Eheschlie- 
ßung usw.  —  einen  so  großen  Fortschritt  auf  der  Bahn  der  wirt- 
schaftlichen und  sozialen  Entfesselung  der  nationalen  Kraft  sie 
auch  enthalten,  ist  indessen  die  Bundesgesetzgebung  auf  diesem 
Gebiete  keineswegs  als  abgeschlossen  zu  betrachten.  Es  läßt 
sich  nicht  verkennen,  daß  die  volle  und  gleichmäßige  Freizügig- 
keit und  die  unbeschränkte  Befugnis  zur  Verehelichung  und  zur 
gewerblichen  Niederlassung  so  lange  höchst  ungleichmäßig  wirken 
müssen,  als  nicht  die  sehr  verschieden'artigen  Bestimmungen  der 
Territorialgesetzgebungen  über  den  Erwerb  und  Verlust  des 
Heimatrechts  und  die  Verpflichtung  zur  Armenpflege  im  Wege 
der  Bundesgesetzgebung  ebenfalls  ihren  Ausgleich  gefunden 
haben 

»Die  für  das  Gesetz  gewählte  Bezeichnung  deutet  von  vorn- 
herein auf  einen  fest  begrenzten  Rahmen  für  dessen  Inhalt  hin. 
Nach  dem  Entwicklungsgange,  welchen  die  Bundesgesetzgebung 
auf  diesem  Gebiete  genommen,  kann  überhaupt  von  einem  das 
gesamte  unter  dem  gemeinrechtlichen  Begriff  der  »Heimat«  fallende 
Rechtsgebiet  einheitlich  zusammenfassenden  Gesetze  nicht  die 
Rede  sein.  Denn  durch  die  vorerwähnten  Gesetze  ist  bereits 
ein  wesentlicher  Teil  der  in  der  Mehrzahl  der  Bundesstaaten  bis- 


i)  Vgl.  Anm.   I,  S.  32. 

2)  Vgl.  sten.  Ber.  Bd.  3  S.  163  ff.     Arnold,  S.  140  ff. 


—     119     — 

her  ausschließlich  an  das  Heimatsrecht  geknüpften  bürgerlichen 
Rechte,  nämlich :  das  Recht  des  Aufenthalts  und  der  Nieder- 
lassung, das  Recht  zum  Gewerbebetriebe  und  zur  Erwerbung  von 
Grundeigentum ,  sowie  zur  Verehelichung ,  Begründung  eines 
eigenen  Hausstandes  von  diesem  Zusammenhange  losgelöst  und 
zu  selbständigen  und  jedem  Bundesangehörigen  im  ganzen  Bun- 
desgebiete zustehenden  Befugnissen  geworden.  Von  dem  ganzen 
Inhalt  des  Heimatrechts  ist  demnach,  abgesehen  von  der  hier 
überhaupt  nicht  in  Betracht  kommenden  Gemeindeangehörigkeit, 
nur  noch  der   Unterstützungswohnsitz  geblieben 

»Der  traditionelle  Zug  der  deutschen  Rechtsentwicklung  ist 
kaum  auf  irgend  einem  Gebiete  zu  so  systematischer  Ausbildung 
bei  Schaffung  partikulärer  Rechtsnormen  gelangt,  als  auf  dem 
Gebiete  des  Heimatrechts,  so  daß  die  Herstellung  völliger  Rechts- 
gleichheit auf  demselben  nicht  ohne  tief  eingreifende  Verände- 
rungen nach  einer  oder  der  anderen  Richtung  hin  möglich  sein 
würde.  .  .  . 

»Die  Frage,  welchen  Weg  die  Bundesgesetzgebung  einzuschla- 
gen habe,  um  zu  einer  befriedigenden  Ausgleichung  der  aus  der 
oben  dargestellten  Verschiedenheit  der  Heimatsgesetzgebungen 
für  die  volle  Entfaltung  der  Freizügigkeit  entspringenden  Hinder- 
nisse zu  gelangen,  ist  nicht  leicht  zu  entscheiden.  Der  einfachste, 
direkt  zum  Ziel  führende  und  am  meisten  in  der  Konsequenz  des 
im  Schöße  des  Reichstags  angeregten  Gedankens  liegende  Weg 
würde  unzweifelhaft  darin  bestehen,  unter  Aufhebung  aller  parti- 
kulären Gesetzgebungen,  für  das  ganze  Bundesgebiet  ein  einheit- 
liches Recht  auf  der  Grundlage  zu  schaffen,  daß  für  jeden  Nord- 
deutschen in  jeder  Gemeinde  des  Bundesgebiets  der  Erwerb  be- 
ziehentlich der  Verlust  des  Unterstützungswohnsitzes  nach  gleich- 
mäßigen Normen  geregelt  würde.  Es  ist  indessen  Bedenken 
getragen,  diesen  Weg  zu  betreten.  Die  Heimatsgesetzgebung 
bildet,  namentlich  in  ihrem  engen  Zusammenhang  mit  dem  Ge- 
meindewesen, in  den  meisten  Bundesstaaten  einen  so  wichtigen 
Bestandteil  des  gesamten  öffentlichen  Rechtszustandes,  daß  ihre 
gänzliche  Aufhebung,  beziehentlich  Umgestaltung  nicht  ohne  tief 
einschneidende,  in  ihrer  Tragweite  kaum  zu  übersehende  Rück- 
wirkungen auf  die  mannigfachsten,  in  das  soziale  Leben  seit  lange 
eingebürgerten  und  eben  darum  lieb  gewordenen  Verhältnisse 
würde  vor  sich  gehen  können.  Eine  derartige  bundesgesetzliche 
Maßregel  würde  von  einem  Teile  der  Bevölkerung  wahrscheinlich 


—        120       — 

nur  mit  Widerstreben  aufi^cnommen  werden.  Es  ist  daher  in  Er- 
wägung, daß  die  Bundesgesetzgebung  nicht  wohl  daran  tun  würde, 
gerade  auf  dem  vorliegenden  Gebiete  über  das  allseitig  anerkannte 
notwendigste  Bedürfnis  hinaus,  mit  Aenderungen  des  bestehenden 
Rechtszustandes  vorzugehen,  vorgezogen  worden,  nach  einer  Lö- 
sung der  Frage  zu  suchen,  welche  geeignet  schien,  unter  mög- 
lichster Schonung  wertgehaltener  Eigentümlichkeiten  wenigstens 
den  erheblichsten  im  Gefolge  der  Freizügigkeit  auf  dem  Gebiete 
des  I  Icimatwesens  und  der  Armenpflege  hervorgetretenen  Miß- 
ständen im  gegenseitigen  Verhältnisse  der  verschiedenen  Bundes- 
staaten zueinander  Abhilfe  und  damit  dem  für  den  Augenblick 
dringendsten  Bedürfnisse  Befriedigung  zu  verschaffen.  Eine  solche 
Lösung  ist  darin  gefunden  worden,  daß  die  Bundesgesetzgebung 
sich  des  Eingreifens  in  die  innere  Armengesetzgebung  der  ein- 
zelnen Bundesstaaten  enthält,  also  die  einzelnen  Heimatsgesetze 
im  wesentlichen  unberührt  läßt,  daß  sie  dagegen  für  jeden  Nord- 
deutschen die  Möglichkeit  eines  im  ganzen  Bundesgebiete  wirk- 
samen, nach  gleichmäßigen  Normen  entstehenden  und  erlö- 
schenden Unterstützungswohnsitzes  außerhalb  des  Heimatsstaates 
schafft.« 

Die  Kommission  des  Reichstags  war  hiermit  nicht  einver- 
standen, sie  zog  die  Geltungsgrenzen  des  zu  erlassenden  Gesetzes 
viel  weiter.  »Die  Bundesverfassung  schuf  in  Artikel  3  das  Bun- 
desindigenat  und  bezeichnete  als  dessen  rechtliche  Wirkung  die 
Gleichstellung  aller  Bundesangehörigen  innerhalb  des  Einzelstaats  : 
bezüglich  der  Zulassung  zum  Gewerbebetrieb,  zur  Erwerbung 
von  Grundstücken  und  zu  öffentlichen  Aemtern,  zur  Erlangung 
des  Staatsbürgerrechts  und  zum  Genuß  aller  sonstigen  bürger- 
lichen Rechte,  sowie  bezüglich  der  Rechtsverfolgung  und  des 
Rechtsschutzes. « 

»Diese  verfassungsmäßige  Gleichstellung  hatte  zunächst  nur 
die  negative  Konsequenz,  die  Schranken  hinwegzuräumen,  welche 
innerhalb  jeden  Einzelstaats  die  eigenen  Angehörigen  von  den 
Angehörigen  anderer  Einzelstaaten  trennten.  Sie  konnte  nicht 
bewirken,  daß  für  alle  Bundesangehörigen  ein  gleiches  selbstän- 
diges und  von  den  Landesgesetzen  unabhängiges  Recht  auf  Nie- 
derlassung mit  den  sich  hieran  knüpfenden  Folgen  erwachse. 
Fehlte  es  zunächst  an  einem  solchen  Recht,  so  mußte  für  die 
Zeit  des  Mangels  Fürsorge  getroffen  werden.  Es  mußte  vorläufig 
bestimmt  werden,    was   gelten    sollte,    wenn   ein    dem  Einzelstaat 


—       121       — 

nicht  angehöriger  Norddeutscher  nach  den  Landesgesetzen  dieses 
Einzelstaats  des  Rechts  zum  Aufenthalt  entbehre  und  folgeweise 
der  Ausweisung  verfalle.  Diese  Fürsorge  traf  die  Verfassung, 
indem  sie  Art.  3  Abs.  4  die  Verträge  weiterbestehen  ließ  .  .« 
(sc.  Eisenach  und  Gotha). 

»Das  Bundesindigenat  an  sich,  gemäß  seinem  wesentlich  ne- 
gativen Charakter,  konnte  ferner  nicht  bewirken,  daß  die  Be- 
stimmungen des  Gemeinderechts,  welches  innerhalb  jedes  Einzel- 
staats für  die  Mitgliedschaft  in  der  Gemeinde,  für  die  Teilnahme 
an  hieraus  folgenden  Benefizien  besondere  Voraussetzungen  auf- 
stellte, ohne  weiteres  zugunsten  jener  Gleichberechtigung  außer 
Kraft  traten.  Es  konnte  dies  nicht,  weil  die  Ungleichheit,  um 
deren  Aufhebung  es  sich  handelte,  nicht  eine  Folge  der  beson- 
deren Landesangehörigkeit  war,  sondern  vielmehr  eine  F'olge  der 
besonderen  Gemeindeangehörigkeit  und  des  besonderen  Gemeinde- 
rechts.« Darum  wurden  die  Armenbestimmungen  von  der  Ver- 
fassung ausgenommen. 

»Der  Unvollkommenheit  des  Bundesindigenats  nach  der  Rich- 
tung seiner  sofortigen,  in  unmittelbarer  Konsequenz  eintretenden 
Wirksamkeit  hin,  war  man  sich,  als  die  Verfassung  gegeben 
wurde,  wohl  bewußt,  und  wenn  dem  ohnerachtet  man  sich  erst 
dabei  beschied,  den  Begriff  »bundesangehörige  Ausländer  innerhalb 
des  Einzelstaats«  zu  beseitigen,  so  geschah  dies  nicht,  um  hier- 
mit abzuschließen,  um  die  negative,  unvollständige  Form  für  alle 
Zeit  beizubehalten,  sondern  in  der  Absicht,  im  Wege  der  Bun- 
desgesetzgebung alle  diejenigen  Institutionen  einzeln  aufzurichten, 
welche  in  ihrer  Totalität  und  in  ihrer  lebendigen  Wechselwir- 
kung das  Bundesindigenat  zu  einem  selbständigen  und  vollen 
Rechte  norddeutscher  Bundeszugehörigkeit  erweitern,  verstärken 
und  ein  wahres  Bundesbürgerrecht  herstellen  müssen.«  Diese 
Absicht  manifestierte  A.  4  der  Verfassung,  welcher  die  Beauf- 
sichtigung seitens  des  Bundes  auf  jene  Gebiete  erstreckte. 

Artikel  3  der  Verfassung  stellte  also  die  Beschränkungen  der 
vollen  Wirksamkeit  des  Bundesindigenats  fest,  und  Artikel  4  be- 
hielt der  Bui\desgesetzgebung  die  weitere  Regelung  gerade  dieser 
Materien  vor. 

»Abgesehen  von  den  anderen  im  Text  angeführten  Gesetzen 
war  es  vor  allem  das  Freizügigkeitsgesetz,  welches  die  Nieder- 
lassungsverhältnisse bundesrechtlich  ordnete  und  den  norddeut- 
schen Bundesangehörigen    ein  von  den  Landesgesetzen  unabhän- 


—       122       — 

giges  Recht  auf  Niederlassung  j^ab.  Legislatorisch  korrekt  wäre 
es  gewesen,  gleichzeitig  mit  der  Freizügigkeit  und  der  Nieder- 
lassung diejenigen  Verhältnisse  zu  regeln,  welche  sich  in  untrenn- 
barem Zusammenhange  mit  dem  Niederlassungsrechte  bewegen, 
und  welche  man  mit  einem  allgemeinen  Ausdruck  als  Heimats- 
verhältnisse zu  bezeichnen  pflegt.« 

Daß  dies  unterblieb,  lag  nur  an  Umständen  äußerlicher  Art, 
vor  allem  der  Ueberbürdung  des  Reichstages  mit  noch  dring- 
licheren Gesetzgebungsarbeiten. 

>Indem  das  Freizügigkeitsgesetz  neben  anderen  Gründen  im 
§  5  in  der  Negative  feststellt,  unter  welchen  Voraussetzungen  ein 
Norddeutscher  wegen  Hilfsbedürftigkeit  von  dem  freigewählten 
Aufenthaltsorte  hinweggewiesen  werden  kann,  so  läßt  es  ungelöst  die 
korrelaten  Fragen : 

1.  Welches  ist  derjenige  Ort,  an  den  der  nach  Freizügig- 
keitsgesetz Auszuweisende  hinzuweisen  ist,  und  welches  ist  der 
Ort,  von  dem,  welches  sind  die  Voraussetzungen,  unter  denen  auch 
der  Hilfsbedürftige  nicht  ausgewiesen  werden  darf.^ 

2.  Wie  regelt  sich  unter  den  möglicherweise  konkurrierenden 
Orten  die  öffentliche  Pflicht,  diejenigen  Leistungen  zu  gewähren, 
welche  kraft  staatlichen  Zwangs  als  Folge  der  Hilfsbedürftigkeit 
eintreten  ? 

Die  positive  Lösung  dieser  Fragen  in  ihrem  prinzipiellen  und 
systematischen  Zusammenhang  untereinander  und  mit  den  an- 
grenzenden Rechtsgebieten,  wairde  als  die  Aufgabe  des  vorliegen- 
den Gesetzes  anerkannt«  ^). 

Der  Entwurf  des  Bundespräsidiums  beruhte  auf  der  Grund- 
anschauung, daß  die  von  dem  Gesetz  zu  lösenden  Fragen  eine 
verschiedenartige  Behandlung  zu  erfahren  hätten,  je  nachdem  der 
Bezirk,  welcher  in  Anspruch  genommen  werden  sollte,  dem  Hei- 
matsstaate angehörte  oder  nicht.  »Nicht  nach  der  im  Gegen- 
stande selbst  liegenden  Ungleichartigkeit,  sondern  nur  nach  der 
Abstammung  des  Hilfsbedürftigen  sollte  verschiedenes  Recht  gel- 
ten.« Die  Kommission  ging  von  dem  entgegengesetzten  Stand- 
punkt aus,  daß  diese  Ordnung  eine  gleichartige  für  das  gesamte 
Bundesgebiet  sein  müsse.  »Dem  Geiste  der  Bundesverfassung 
und  ihrer  ausdrücklichen  Disposition  im  §  4  entspreche  es  allein, 

l)  Wir  führten  die  Motive  des  Präsidiums  und  der  Kommission  so  genau  und 
vielfach  im  Wortlaut  an,  weil  sie  die  Rechtslage  sowohl  wie  auch  die  entgegen- 
stehenden Interessen  und  den  Zweck  des  Gesetzes  genau  und  klar  formulieren. 


—       123      — 

ein  einheitliches  Heimats-  und  Niederlassungsrecht  zu  gründen, 
nicht  aber  ein  Heimatsrecht  einzuführen,  welches  erst  lebendig 
wird,  wenn  der  Norddeutsche  die  Grenze  des  Staats  seiner  spe- 
ziellen Angehörigkeit  überschreite.« 

In  den  parlamentarischen  Kämpfen,  welche  sich  über  dies 
Gesetz  entspannen,  drang  die  Meinung  der  Kommission  und  des 
mit  großer  Mehrheit  hinter  ihr  stehenden  Reichstags  um  so  leichter 
durch,  als  im  Bundesrat  selbst  Preußen  und  der  an  diesem  Ge- 
setz persönlich  anteilnehmende  Reichskanzler  nur  notgedrungen 
der  Mehrheit  der  kleinen  Bundesstaaten  unter  der  Führung 
Sachsens  nachgegeben  hatte.  Wäre  doch  bei  Annahme  des 
Heimatsprinzips  unter  gleichzeitiger  Geltung  der  Freizügigkeit 
Preußen,  weil  es  die  leichteste  Ersitzung  des  Armendomizils 
eingeführt  hatte,  leicht  zum  »Landarmenverband«  und  Abschie- 
bungsgebiet für  die  kleinen  Staaten  geworden,  welche  an  ihrer 
Heimatsgesetzgebung   in    weniger   weitherziger  Weise   festhielten. 

Von  dem  Gesetz  selbst  kommen  hier  nur  die  Abschnitte  in 
Betracht,  welche  sich  mit  dem  Bundesindigenat,  den  Armenver- 
bänden und  dem  Erwerb  und  Verlust  des  Unterstützungswohn- 
sitzes befassen. 

§  I  stellt  die  allgemeine  Grundlage  her :  »Jeder  Norddeutsche 
ist  a)  in  Bezug  auf  die  Art  und  das  Maß  der  im  Falle  der  Hilfsbe- 
dürftigkeit zu  gewährenden  öffentlichen  Unterstützung,  b)  auf  den 
Erwerb  und  Verlust  des  Unterstützungswohnsitzes  als  Inländer  zu 
behandeln.«  Absatz  2  hebt  in  Konsequenz  die  alten  Verträge  und 
§  7  des  Freizügigkeitsgesetzes  auf.  Die  Bundesangehörigkeit  be- 
mißt sich  nach  dem  Gesetz  vom  i.  Juni  1870  über  Erwerb  und  Ver- 
lust der  Bundes-  und  Staatsangehörigkeit.  »Nativitas,  allectio, 
nuptiae«  begründen  die  Staatsangehörigkeit,  diese  hinwiederum 
die  Bundesangehörigkeit.  Jene  kann  in  mehreren  Staaten  be- 
sessen werden.  Der  Wohnsitz,  »domicilium«  also  allein  begründet 
die  Staatsangehörigkeit  nicht  mehr.  Die  Aufgabe  der  Staatsan- 
gehörigkeit steht  wie  die  Auswanderung  frei,  wenn  nicht  staats- 
rechtliche Gründe  oder  solche  der  Wehrpflicht  entgegenstehen. 
Sie  tritt  kraft  Gesetzes  durch  Ersitzung  ein  in   10  Jahren. 

Die  weiteren  Paragraphen  des  Gesetzes  sind  eigentlich  nur 
Ausführungsbestimmungen  des  §  i,  von  denen  uns  nur  die  auf 
Absatz  b  bezüglichen  interessieren. 

Die  §§  2 — 7  regeln  die  Verhältnisse  der  Armenverbände 
untereinander  und  zu  den  Armen  und  zu  der  staatlichen  Gewalt. 


—      1^4     — 

Armenverbände  auf  konfessioneller  Grundlage  gelten  nicht  als 
öffentliche  Verbände.    (§  6.) 

§  8  weist  den  Landesgesetzen  ihren  Geltungsbereich  zu : 
>Die  Landesgesetze  bestimmen  über  die  Zusammensetzung  und 
Einrichtung  der  Ortsarmenverbände  und  Landarmenverbände,  über 
die  Art  und  das  Maß  der  im  Falle  der  Hilfsbedürftigkeit  zu  ge- 
währenden öffentlichen  Unterstützung,  über  die  Beschaffung  der 
erforderlichen  Mittel,  darüber,  in  welchen  Fällen  und  in  welcher 
Weise  den  Ortsarmenverbänden  von  den  Landarmenverbänden 
oder  von  anderen  Stellen  eine  Beihilfe  zu  gewähren  ist,  und  end- 
lich darüber,  ob  und  inwiefern  sich  die  Landarmenverbände  der 
Ortsarmenverbände  als  Organe  der  öffentlichen  Unterstützung 
Hilfsbedürftiger  bedienen  dürfen.«  Also  der  ganze  materielle  In- 
halt des  §  I  Abs.  a,  nichts  dagegen  von-  dem  Abs.  b  ist  der 
Landesgesetzgebung  zur  Ausführung  überwiesen.  Abs.  b  ist  die 
Ursache,  der  Zweck  und  der  Mittelpunkt  des  ganzen  Gesetzes,  er 
ermöglicht  erst  das  Durchdringen  des  preußischen  Systems  im 
ganzen  Reiche.  Er  ist  an  die  Stelle  des  Abs.  2  §  2  des  Präsid.- 
Entwurfs  getreten,  welcher  die  Heimatsbestimmungen  ebenfalls 
der  Landesgesetzgebung  überweisen  wollte.  Mit  diesem  Absatz 
sind  auch  die  §§  29  und  49  jenes  Entwurfes  gefallen,  von  denen 
der  erstere  das  Nebeneinander  des  bundesgesetzlichen  L'nter- 
stützungswohnsitzes  und  des  landesgesetzlichen  Heimatsrechts  ord- 
nete, während  dieser  eine  Art  von  nur  armenrechtlicher  Staats- 
angehörigkeit schuf,  welche  in  dem  endgültigen  Gesetz  aber  dem 
Institut  der  Landarmen  gewichen  ist.    (§  5-) 

Die  §§  9  ff.  handeln  von  dem  Erwerb  und  Verlust  des  Unter- 
stützungswohnsitzes. Dieser  wird  erworben  durch  Aufenthalt, 
Verehelichung,  Abstammung.  Maßgebend  ist  in  erster  Linie  der 
Aufenthalt,  der  gewöhnliche,  nicht  qualifizierte  Wohnsitz,  »domi- 
cilium  oder  incolatus«.  Verehelichung  und  Abstammung  sind  un- 
selbständige Erwerbsgründe  und  stehen  jenem  immer  nach.  Als 
Frist  der  Ersitzung  durch  einfachen  Aufenthalt  hatte  der  präsi- 
diale Entwurf  entsprechend  seiner  dem  Heimatprinzip  näher- 
stehenden Tendenz  5  Jahre  vorgeschlagen,  die  Kommission  sich 
für  3  Jahre  entschieden,  der  Reichstag  selbst  aber  nur  2  Jahre 
beschlossen.  Diese  Ersitzungsfrist  ruht  während  der  Dauer  der 
von  einem  öffentlichen  Armenverband  gewährten  Unterstützung, 
er  wird  unterbrochen  durch  den  Antrag  seitens  des  unterstützen- 
den Verbandes    an    einen    andern   auf   Uebernahme    des  Hilfsbe- 


—     125     — 

dürftigen.  Die  im  §  5  Freizügigkeitsgesetzes  gegebene  Beschrän- 
kung der  Freizügigkeit  wird  hierdurch  wieder  wesentUch  einge- 
engt.    (§   14.) 

Es  bestehen  also  als  Erwerbsgründe  für  den  Unterstützungs- 
wohnsitz noch  »domicilium,  nativitas,  nuptiae«.  §  13  stellt  als 
Erfordernis,  allerdings  nur  auf  die  Ersitzungsfrist  beschränkt,  den 
»animus  perpetuo  habitandi«  auf.  §  12  fügt  als  weiteres  Er- 
fordernis die  freie  Selbstbestimmung  bei  der  Wahl  des  Wohn- 
sitzes hinzu,  deren  zeitweises  Fehlen  die  Ruhe  der  Ersitzungsfrist 
herbeiführt.  Erstes  Erfordernis  für  den  Erwerb  ist  die  Groß- 
jährigkeit als  Selbständigkeit.  Als  Termin  der  Großjährigkeit 
wurde  noch  nicht  das  in  Preußen  seit  dem  Gesetz  vom  9.  De- 
zember 1869  maßgebende  Alter  von  21  Jahren  für  das  Bundes- 
gebiet adoptiert,  wie  dies  von  vielen  Seiten  gewünscht  und  er- 
wartet wurde,  sondern  das  24.  Lebensjahr,  welches  unter  Ueber- 
springung  des  seit  1875  im  ganzen  Reich  gültigen  Großjährigkeits- 
termins  von  21  Jahren  gleich  auf  18  Jahre  1894  und  auf  16  Jahre 
1909  herabgesetzt  wurde.  Gesetz  vom  17.  Februar  1875  hatte 
die  preußische  Großjährigkeit  im  Reiche  eingeführt. 

Im  übrigen  war  als  freie  Selbstbestimmung  nicht  die  tat- 
sächliche, privatrechtliche  Selbständigkeit,  welche  durch  Dienst- 
und andere  Verträge  eingeschränkt  werden  konnte,  angesehen, 
sondern  nur  die  öffentlichrechtliche  Geschäftsfähigkeit,  die  freie 
Entschlußfähigkeit  nach  Maßgabe  der  Gesetze  ^).  Auch  Gesinde 
und  Beamte  sind  in  bezug  auf  den  Unterstützungswohnsitz  selb- 
ständig. Dagegen  schließt  Mangel  der  Willensfähigkeit  und 
dadurch  herbeigeführte  Geschäftsunfähigkeit  oder  Geschäftsbe- 
schränktheit ^)  die  Erwerbsfähigkeit  auch  in  dieser  Beziehung  aus. 
Ausgeschlossen  vom  Erwerb  sind  also  die  Personen,  welche  unter 
Vormundschaft  stehen,  in  Haft  befindliche  und  Militärpersonen, 
sowie   endlich    Ehefrauen  ^),    solange    sie    nicht  aus    rechtlich  zu- 

i)  Entsprechend  der  Rechtsentwicklung  in  Preußen.  Vgl.  oben  Kap.  6  und 
Entsch.  Obertrib.  2g.  Nov.  1861.  »Die  Bestimmungen  der  Gesetze  von  1842  können 
nur  auf  Personen  Anwendung  finden,  welche  aus  freier  Wahl  und  Selbstbestimmung 
sich  an  einem  Ort  niederlassen  oder  ihren  Wohnsitz  wählen.  Arnold^  S.  195  und 
Eget\  S.  99,  der  verschiedene  spätere  Entscheidungen  der  Gerichte  anführt,  Reichs- 
gericht für  die  privaten  und  BAH.  sowie  OVG.  für  die  öffentlichen  Momente. 

2)  Mangel  der  Willensfähigkeit  entweder  »im  Zustande  der  Bewußtlosigkeit 
oder  krankhafter  Störung  der  Geistestätigkeit,  durch  welche  seine  freie  Willens- 
bestimmung ausgeschlossen  war«.     BGB.  §   104,  StGB.  §   51. 

3)  Ueber  die  Unselbständigkeit  der  Ehefrauen,  vgl.  hierzu  ALR.  2,  i,  §  175, 
sowie  Code  Napoleon   i,   5,  6,  §  214. 


—       126      — 

lässigem  Grunde  von  ihrem  Manne  getrennt  leben,  und  Mino- 
renne im  Sinne  dieses  Gesetzes.  Zeitweise  Beschränkuni;  der 
Willensfähigkeit  wird  schließlich  noch  herbeigeführt  durch  Gewalt, 
Drohung  und  Zwang  ^). 

Der  Verlust  des  Unterstützungswohnsitzes  findet  unter  genau 
den  entsprechenden  Bedingungen  statt  wie  der  Erwerb,  mit  den- 
selben Kautelen  und  Vorbehalten,  vor  allem  hinsichtlich  der 
Unterbrechung  und  Ruhe  der  Verlustfrist.     (§  22  ff.  -).) 

Weiterhin  behandeln  die  §i>  28  ff.  die  Abgrenzung  der  Auf- 
gaben und  Verteilung  der  Kosten  unter  den  einzelnen  Armenver- 
bänden, §s;  37  ff.  das  Streitverfahren,  für  welches  als  letzte  Instanz 
in  allen  Fällen  und  als  einzige  Instanz  in  Streitfällen  zwischen 
Armen  verbänden  verschiedener  Staaten  das  Bundesamt  für  das 
Heimatwesen  eingerichtet  wurde.  §§  42  ft.  endlich  werden  in 
§  60  die  Ortsarmenverbände  zur  Fürsorge  auch  für  die  Aus- 
länder verpflichtet,  wofür  die  Kosten  durch  den  Bundesstaat  zu 
ersetzen  sind,  welcher  sie  im  Wege  der  Landesgesetzgebung 
allerdings  auf  seine  Landarmenverbände  abwälzen  kann.  §  61 
erhält  die  privatrechtlichen  Verpflichtungen  zur  Armenpflege  auf- 
recht und  §  62  gibt  den  Armenverbänden  Alimentationsansprüche 
gegen  die  privatrechtlich  Verpflichteten. 

Die  spätere  Gesetzgebung  hat  dieses  Gesetz  mehrere  Male 
wesentlich  verändert.  Die  Novelle  vom  12.  März  1894  setzte 
das  zum  Erwerb  des  Unterstützungswohnsitzes  befähigende  Alter 
von  21  auf  18  Jahre  herunter,  um  so  der  immer  mehr  in  Be- 
wegung geratenden  Bevölkerung  zu  'folgen,  deren  ökonomische 
Gesamtentwicklung  auf  eine  immer  frühere  Selbständigmachung 
der  heranwachsenden  Jugend  der  arbeitenden  Klassen  hinwirkte. 
Die  Novelle  vom  i.  April  1909  setzte  das  Mindestalter  noch  mehr 
herab  und  zwar  auf  16  Jahre  und  beförderte  dadurch  die  Locke- 
rung der  Familienbande  nur  noch  mehr.  Ferner  verminderte 
diese  Novelle  auch  die  Erwerbs-  und  Verlustfrist  des  Unter- 
stützungswohnsitzes von  2  auf  I  Jahr,  demselben  Zuge  der  fluk- 
tuierenden Arbeitermassen  folgend. 

Die  hier  besprochenen  norddeutschen  Bundesgesetze  wurden 
in  Baden  ^)  und  den  südlich  des  Mains  belegenen  Teilen  des  Groß- 

1)  Vgl.  hierzu  die  Bestimmungen  ALR.    i,   3,    §§  31  —  44,    sowie   SGB.  §  52. 

2)  Ueberflüssig  ist  eigentlich  §  28,  Abs.  2,  welcher  den  Verlust  UWS.  ein- 
treten läßt  mit  dem  Erwerb  eines  andern.  Hierfür  kommen  nur  sich  verheiratende 
Ehefrauen  in  Betracht,  diese  werden  aber  dadurch  unselbständig. 

3)  Vgl.  Etiwünghaus.     In  Baden  hatte  die  seit    dem  Ges.  4.  Okt.    1862  betr. 


—      127      — 

herzogtums  Hessen  durch  die  Verfassung  des  Norddeutschen  Bun- 
des laut  Protokoll  vom  15.  November  1870,  im  Königreich  Bayern 
(jedoch  mit  Ausnahme  der  Gesetze  über  den  Unterstützungs- 
M^ohnsitz  und  betreffend  die  polizeilichen  Beschränkungen  der 
Eheschließung)  durch  Vertrag  vom  23.  November  1870,  bezüglich 
des  Gesetzes  vom  22.  April  1871  betreffend  die  Einführung  nord- 
deutscher Gesetze  in  Bayern;  im  Königreich  Württemberg  laut 
Protokoll  vom  25.  November  1870  eingeführt.  In  Elsaß-Loth- 
ringen war  das  Unterstützungswohnsitzgesetz  ebenfalls  nicht  einge- 
führt, diese  selbständige  Stellung  ist  jedoch  durch  die  Novelle 
des  Jahres  1909  beseitigt,  indem  das  Gesetz  von  Reichs  wegen 
die  bis  dahin  bestehende  französische  Gesetzgebung  ablöste. 

Seitdem  unter  dem  23.  Oktober  191 3  nunmehr  auch  Bayern 
sich  dem  Prinzip  und  Geltungsbereich  des  Unterstützungswohn- 
sitzes angeschlossen  hat,  herrscht  auch  auf  diesem  Gebiete  in 
ganz  Deutschland  Rechtseinheit. 

Niederlassung  bestehende  völlige  gewerbliche  Freizügigkeit  eine  Klasse  von  Men- 
schen geschaffen,  für  welche  armenrechtlich  nicht  gesorgt  war.  Bereits  1869  lag 
ein  Ges. -Entw.  vor,  welcher  den    norddeutschen  Unterstützungswohnsitz   adoptierte, 


—       128       — 


Dritter  abschließender  Teil. 

Achtes   Kapitel. 
Unterstützungswohnsitz  und  Heimatrecht. 

Aufgabe  der  bisherigen  Darstellung  war  es,  die  Entwick- 
lung des  öffentlichen  Armenrechts  geschichtlich  zu  verfolgen. 
Es  bleibt  nun  noch  übrig,  die  wirtschaftlichen  und  rechtlichen 
Folgen  der  beiden  bestehenden  Grundsätze,  nach  welchen  die 
Zuweisung  der  Verpflichtung  zur  Armenpflege  erfolgt,  festzu- 
stellen, soweit  dies  nicht  schon  im  Rahmen  der  historischen 
Darstellung  geschehen  ist.  Dabei  ergibt  sich  die  Notwendig- 
keit einer  nochmaligen  strengen,  systematischen  Gegen- 
überstellung der  Prinzipien,  welche  am  besten  an  der  Hand  des 
Materials  der  Gesetzgebung  selbst  erfolgt.  Heimatwesen  und 
Unterstützungswohnsitz  sind  in  ihrem  begrifflichen  Inhalt  zu  er- 
fassen und  die  spezifischen  Unterschiede  noch  einmal  zusammen- 
zufassen. 

Die  vom  Bundespräsidium  dem  norddeutschen  Reichstag 
vorgelegten  Motive  ^)  zum  Gesetz  über  den  Unterstützungswohnsitz 
schildern  das  Heimatrecht  in  folgender  Weise:  »Die  Armen- 
gesetzgebungen der  übrigen  Bundesstaaten  —  außer  Preußen  — 
einschließlich  der  neu  erworbenen  preußischen  Landesteile, 
tragen,  so  wesentlich  sie  sich  auch  in  vielen  Beziehungen  von 
einander  unterscheiden,  doch  insofern  ein  und  dasselbe  Gepräge, 
als  sie  ohne  Ausnahme  in  dem  alten  deutschen  Heimatbegriffe 
wurzeln,  wenngleich  der  Inhalt  desselben  in  manchen  Staaten 
z.  B.  im  Königreich  Sachsen,  bereits  vor  dem  Eingreifen  der 
Bundesgesetzgebung  auf  den  bloßen  Unterstützungswohnsitz  be- 
schränkt worden  ist.« 

Es  ergibt  sich  hieraus  die  Folgerung,  daß  der  Unterschied 
zwischen  den  beiden  Prinzipien  nicht  nur  ein    materieller  des  In- 

l)  Vgl.  Arnold,  S.  143  ff. 


—      129      — 

halts,  sondern  auch  ein  solcher  der  Form  und  des  Erwerbs  ist. 
Die  Denkschrift  fährt  fort : 

»In  den  meisten  anderen  deutschen  Bundesstaaten  bildet  da- 
gegen das  Recht  auf  Armenversorgung  nur  einen  der  mannig- 
fachen Ausflüsse  des  Heimatrechts,  welches  in  seiner  Totalität 
die  dem  Individuum  angeborene  volle  Angehörigkeit  an  einen 
bestimmten  Ort  bedeutet,  und  neben  dem  Unterstützungswohn- 
sitze die  durch  die  Bundesgesetzgebung  inzwischen  selbständig 
geregelten  bürgerlichen  Rechte  des  Aufenthalts,  der  Niederlas- 
sung, des  Gewerbebetriebs,  der  Verehelichung  und  Gründung 
einer  Familie  in  sich  schließt.« 

Hierzu  bemerkt  die  bayrische  Denkschrift  von  191 2  ^)  noch 
sehr  instruktiv:  »Da  die  Heimat  sich  nicht  auf  die  ihr  durch 
das  Heimatgesetz  selbst  verliehenen  Wirkungen  beschränkt,  son- 
dern mit  ihren  Beziehungen  in  eine  Reihe  anderer  Gesetze  und 
verbindlicher  Vorschriften  eingreift,  indem  sie  teils  als  Grundlage 
für  die  Zuständigkeit  der  Behörden  gilt  (z.  B.  Artikel  12  des 
Zwangserziehungsgesetzes,  §§  i,  7,  23  der  Zuständigkeitsverord- 
nung vom  4.  Januar  1872,  §  2  der  Verordnung  vom  24.  Dezem- 
ber 1899  [Vornamensänderung]),  teils  die  sachliche  Voraussetzung 
für  den  Erwerb  von  Rechten  oder  Rechtsansprüchen  bildet  (vgl. 
namentlich  die  Vorschriften  der  Gemeindeordnungen  über  die 
Teilnahme  an  den  Gemeindenutzungen  und  das  Bürgerrecht),  so 
müßte,  soweit  nötig,  für  den  Ersatz  der  wegfallenden  Heimat 
durch  einen  anderen  Rechtsbegriff  Sorge  getragen  werden.  Wo 
es  sich  hierbei  um  Verhältnisse  mehr  formeller  Art  handelt,  wird 
an  die  Stelle  der  Heimat  je  nach  der  Sachlage  der  Wohnsitz, 
der  Aufenthalt  oder  auch  der  Unterstützungswohnsitz  zu  treten 
haben.  In  anderen  Fällen  wird  möglicherweise  die  Heimat 
durch  einen  qualifizierten  Wohnsitz  zu  ersetzen  sein.  Insbeson- 
dere wird  hiebei  die  Rückwirkung  der  Heimat  auf  das  Gemeinde- 
recht in  Betracht  zu  ziehen  sein.«  Ueber  diese  Beziehung  sagt 
die    1870er  Denkschrift: 

»Mit  der  Gemeindeangehörigkeit  steht  das  Heimatrecht  ^)  in 
der  Mehrzahl    der  Bundesstaaten    dergestalt   in    organischer  Ver- 


1)  K.  d.  Abg.  Beil.  loo  Entw.  e.  Ges.  betr.  Abänderung  d.  bayr.  Heimat-  u, 
Armengesetzgebung  S.  49. 

2)  Daraus,  daß  die  Ausführungen  der  1870er  Denkschrift,  welche  ganz  ohne 
Berücksichtigung  Bayerns  abgefaßt  ist,  und  die  bayrische  von  19 12  sich  ohne  wei- 
teres ergänzen,  erhellt  das  Typische  des  Begriffs. 

Zeitschrift  für  die  ges.  Staatswissensch.     Ergänzungsheft  51.  9 


—     I30    — 

bindung,  daß  beide  zusammenfallen,  sei  es,  daß  erstcre  durch 
das  letztere,  wie  z.  B.  in  Anhalt,  Koburg,  Braunschweig,  Olden- 
burg, oder  sei  es,  daß  das  letztere  durch  die  erstere,  wie  z.  B. 
in  Bremen,  Sachsen-Meiningen,  Hessen  formell  bedingt  ist. 

])ie  Heimat  ist  ein  Grundrecht  auch  in  dem  Sinne,  daß  die 
Gesetzgebung  fast  aller  Staaten  Vorsorge  dafür  getroffen  hat,  in 
der  Regel  jedem  Inländer  einen  bestimmten  Heimatort  im  In- 
lande  anzuweisen ;  in  manchen  Heimatgesetzgebungen  ist  sogar 
die  gesetzliche  Notwendigkeit  des  Besitzes  einer  Hcimatbercchti- 
gung  in  einer  inländischen  Gemeinde  für  jeden  Untertan  aus- 
drücklich ausgesprochen.  (Anhalt,  Koburg-Gotha,  Sachsen-Wei- 
mar, Lippe.) 

»Die  hauptsächlichste  Art  des  Erwerbes  der  Heimat,  oder 
wie  es  in  Hannover  und  Braunschweig  genannt  wird,  des  VVohn- 
rechts,  ist  der  Erwerb  durch  die  Geburt,  welcher  subsidiarisch 
überall  da  eintritt,  wo  das  Heimatrecht  nicht  auf  eine  andere 
Weise  erworben  ist.  In  der  Regel  hat  jeder  Inländer  die  Hei- 
mat an  dem  Orte,  wo  zur  Zeit  seiner  Geburt  sein  Vater  das 
Heimatrecht  besessen  hat.  Partikulär  ist  die  Vorschrift,  wonach 
in  Sachsen  und  Schleswig-Holstein  die  Heimat  am  Geburtsort 
stattfindet,  eine  Vorschrift,  welche  in  beiden  Gesetzgebungen 
besondre  Bestimmungen  über  die  Heimat  der  im  Auslande  von  in- 
ländischen Eltern  geborenen  Individuen  erforderlich  machte^)  .  .  . 

»Eine  fernere  Art  des  Heimaterwerbs  ist  diejenige  durch  aus- 
drückliche Aufnahme  in  den  Gemeindeverband.  Die  Aufnahme 
kann  erfolgen  durch  einen  spontane'n  Akt  der  Gemeinde.  Die 
Einwilligung  kann  aber  nach  den  meisten  Gesetzgebungen  im 
Weigerungsfalle  durch  die  Obrigkeit  suppliert  werden,  wenn  der 
die  Aufnahme  Nachsuchende  die  Erfüllung  gewisser,  die  Ge- 
meinde sicher  stellender  Bedingungen  —  Besitz  einer  Wohnung, 
eines  hinreichenden  Vermögens,  der  erforderlichen  Arbeitskraft 
und  Arbeitsgelegenheit,  Unbescholtenheit  —  nachweist. 

»Kurhessen  macht  in  dieser  Beziehung  eine  Ausnahme,  indem 
hier  die  Gemeinde  niemals  zur  Aufnahme  eines  Fremden  ge- 
zwungen werden  kann,  und  in  Sachsen,  wo  an  Stelle  der  Auf- 
nahme in  den  Gemeindeverband  die  Erteilung  der  Heimat  durch 


l)  Einzigartig  ist  die  hierdurch  notwendig  werdende  Bestimmung,  daß  diese 
Geburtsheimat  im  eigentlichen  Sinne  erst  in  Geltung  tritt  mit  dem  Augenblick  der 
Großjährigkeit,  bis  dahin  jedoch  die  jeweilige  Heimat  der  Eltern  auch  die  des 
Kindes  ist.     Flotlwell,  in  Pr.  Jb, 


—     131     — 

die  Obrigkeit  tritt,  darf  die  Erteilung  nicht  ohne  die  verfassungs- 
mäßige Zustimmung  der  Gemeinde  erfolgen. 

»Die  Anstellung  im  Staatsdienst  vertritt  in  den  meisten  Staaten 
die  Aufnahme  in  den  Gemeindeverband. 

»Der  Erwerb  des  Heimatsrechts  durch  Zeitablauf  kommt  zwar 
in  einzelnen  Staaten  vor,  aber  er  ist  meistens  dadurch  erschwert, 
ja  in  einzelnen  Gesetzgebungen  so  gut  wie  illusorisch  gemacht, 
daß  der  Aufenthalt  ein  besonders  qualifizierter  sein  muß. 

»In  Anhalt  durch  3jährigen  Aufenthalt,  während  dessen  der 
Aufzunehmende  sich  und  den  Seinigen  den  notdürftigen  Lebens- 
unterhalt auf  ehrliche  Weise  verschafft,  keiner  öffentlichen  Unter- 
stützung bedurft  und  nicht  gebettelt  hat.  Handlungsdiener, 
Handw^erksgesellen,  Dienstboten,  Schäfer  und  Gärtner  müssen,  um 
auf  diese  Weise  die  Heimat  an  einem  Ort  zu  erwerben,  eine 
eigne  Wohnung  und  Wirtschaft  gehabt  und  sich  polizeilich  ge- 
meldet haben  ^). 

»Nach  lojährigem  ununterbrochenen  Aufenthalt  ist  die  Hei- 
mat auch  ohne  Erfüllung  obiger  Bedingungen  erworben.  In  Braun- 
schweig erwirbt  der  Ortsfremde  durch  6jährigen  ununterbrochenen 
und  in  selbständigen  Verhältnissen  zugebrachten  Aufenthalt  einen 
gerichtlich  verfolgbaren  Anspruch  auf  Verleihung  des  Wohnrechts, 
vorausgesetzt,  daß  er  seine  Abgaben  entrichtet,  nicht  wegen 
mangelnder  Unterhaltsmittel  der  Gemeinde  zur  Last  fällt,  und 
nicht  wegen  bestimmter  gemeingefährlicher  Vergehen  oder  Ver- 
brechen bestraft  ist  oder  in  Konkurs  gerät. 

»In  Lippe  durch  selbständigen,  fünf  Jahre  hindurch  fortge- 
setzten Wohnsitz,  für  Zeitpächter  und  Gesinde  durch  lojährigen 
Aufenthalt. 

»In  Lübeck  durch  3  jährigen,  unter  Beobachtung  der  polizei- 
lichen Meldevorschriften  gegründeten  Wohnsitz. 

»Im  Herzogtum  Oldenburg  und  im  Fürstentum  Lübeck  durch 
3  jähriges  ununterbrochenes  Wohnen  ohne  Bestrafung  wegen  ent- 
ehrender Verbrechen,    wegen  Betteins    oder    Trunkenheit.      Ver- 


i)  Nach  Gesetz  vom  24.  Mai  1844  betr.  die  Untertanen-  und  Heimatsverhält- 
nisse. Die  Heimat  schließt  in  sich  die  Befugnis  zur  Verehelichung,  zum  Wohnen 
und  »nach  Maßgabe  der  darüber  bestehenden  besonderen  Vorschriften  sich  zu 
nähren«  und  zur  Armenunterstützung.  Die  Heimat  wird  namentlich  nicht  verloren 
durch  einseitigen  Verzicht  des  Berechtigten,  durch  die  bloße  Veräußerung  der 
Grundbesitzungen,  womit  der  Heimatberechtigte  ansässig  ist,  auch  nicht  durch  Ver- 
lust des  Bürger-  oder  Gemeinderechts.     Vgl.  Bitzer,   S.   260. 


—       132       — 

armung,  Konkurs  und  bei  Frauenzimmern  außereheliche  Schwanger- 
schaft unterbrechen  ebenfalls  den  Erwerb   der  Heimat '). 

In  Sachsen  durch  5  jähriges  Wohnen  am  Orte  bei  Ansässig- 
keit mit  einem  Wohnhause  ^). 

In  Schwarzburg-Rudolstadt  durch   lojährigen  Aufenthalt. 

In  Schwarzburg-Sondershausen  desgleichen. 

In  Waldeck  durch  fortgesetzten  5jährigen  Aufenthalt. 

In  Mecklenburg-Schwerin  durch  2 jähriges  Wohnen  am  Orte 
mit  eigenem  Herde  oder  Gewerbebetrieb  oder  Lebensunterhalt 
durch  W^rmögen. 

In  Sachsen- Weimar  durch  lOJährigen,  selbständigen,  ununter- 
brochenen Aufenthalt. 

Im  vormaligen  Königreich  Hannover  durch  den  in  einer  Ge- 
meinde 5  Jahre  hindurch  mit  der  Absicht,  sich  dauernd  nieder- 
zulassen, und  unter  Führung  eines  eignen  Haushalts  ununter- 
brochen fortgesetzten  Aufenthalt. 

In  Schleswig-Holstein  durch  5jährigen  Aufenthalt. 

Die  Zuweisung  einer  Heimat  ist  das  subsidiarische  Aushilfs- 
mittel durch  die  Obrigkeit  für  diejenigen  vereinzelten  Fälle,  wo 
eine  Heimat  weder  durch  Aufnahme,  noch  durch  Geburt,  noch 
auf  eine  andere  gesetzliche  Weise  begründet  wird. 

Zu    dieser    Kategorie    gehören    besonders    solche    Personen, 

1)  Ges.  betr.  Gemeindeordnung  vom  i.  Juli  1855,  Gemeindebürger  sind  alle 
diejenigen,  welche  Heimatrechte  in  der  Gemeinde  haben.  Es  wird  erworben  durch 
Geburt,  Legitimation,  Verheiratung,  Anstellung  im  öffentlichen  Dienst,  Aufnahme 
und  selbständige  Niederlassung.  Die  Aufnahme  geschieht  durch  Beschluß  des  Ge- 
meinderats und  darf  keinem  Staatsangehörigen,  welcher  seine  Uebescholtenheit  nach- 
weist, und  den  Besitz  der  Mittel,  für  sich  und  die  Seinigen  den  nötigen  Lebens- 
unterhalt auf  die  Dauer  zu  finden,  wahrscheinlich  macht,  versagt  werden.  Vgl. 
Biizer,  S.  253. 

2)  In  Sachsen  hat  sich  ganz  ähnlich  wie  in  Bayern  seit  der  ersten  Armen- 
ordnung 1555  das  Heimatrecht  streng  entwickelt.  Früh,  schon  1729  wird  jedoch 
der  Obrigkeit  maßgeblicher  Einfluß  eingeräumt  bei  der  Bemessung  der  Heimat- 
gehörigkeit.  Die  letzte  gesetzliche  Regelung  brachte  das  Heimatgesetz  vom  26.  Nov. 
1834  in  Verbindung  mit  der  Armenordnung  vom  22.  Okt.  1840.  Erwerbsgründe 
sind :  Erteilung,  Ersitzung,  Geburt.  Selbst  Ansässigkeit  und  Bürgerrecht  begründen 
die  Heimat  erst  nach  5  jähriger  Karenzzeit,  ebenso  wie  die  preußische  Novelle 
von  1855.  »Jeder  Heimatsbezirk  hat  die  Verbindlichkeit,  seine  Heimatgehörigen  .  . 
bei  sich  aufzunehmen  und  .  .  .  ihnen  Unterhalt  und  Unterkommen  zu  verschaffen.« 
§  4.  >Die  Ortspolizeibehörde  hat  auf  Verlangen  desjenigen,  der  ein  Interesse  daran 
hat,  über  die  nach  den  Bestimmungen  des  Gesetzes  begründete  Heimatsangehörig- 
keit einen  Schein  auszustellen.  Dieser  Schein  (der  Heimatschein)  begründet  die 
Verbindlichkeit  des  Heimatbezirks.  €     §   15.     Bitzer,  S.  200. 


—     133     — 

deren  Heimat  auf  keine  Weise  zu  ermitteln  ist,  oder  welche 
wegen  bestehender  Staatsverträge,  namentlich  mit  Rücksicht  auf 
die  Gothaer  Konvention,  nicht  ausgewiesen  werden  können,  neu- 
aufgenommene Untertanen,  Findlinge  usw.  Die  Zuweisung  er- 
folgt zu  dem  Orte,  dessen  Verpflichtung  nach  den  obwaltenden 
Verhältnissen  relativ  am  nächsten  liegt. 

Der  Verlust  der  Heimat  durch  fortgesetzte  Abwesenheit 
kommt  gemeinrechtlich  nur  ganz  vereinzelt  vor,  z.  B.  in  Waldeck 
durch  fünfjährige  Abwesenheit  aus  der  Gemeinde.  In  den  beiden 
Mecklenburg  ging  bis  in  die  neueste  Zeit  die  Ortsangehörigkeit 
durch  zweijährige  Abwesenheit  und  (einziger  Fall)  durch  ein- 
seitige Erklärung  des  Berechtigten  verloren.  Gegenwärtig  hat 
indessen  ausdrücklich  der  Grundsatz  Geltung  erlangt,  daß  das 
einmal  erworbene  Anrecht  an  einen  Ort  nur  mit  dem  Erwerbe 
einer  anderweiten  Heimat  erlischt. 

Da  die  Heimatlosigkeit  ein  nahezu  unbekannter  Begriff  ist, 
so  hat  sich  ein  Bedürfnis  zur  Bildung  von  Landarmenverbänden 
im  preußischen  Sinne  nicht  herausgestellt.  Den  Landarmenver- 
bänden ähnliche  Anstalten  bestehen  dessenungeachtet  in  mehreren 
Bundesstaaten,  teils  zur  Unterstützung  solcher  Gemeinden,  denen 
die  Tragung  der  ihnen  gesetzlich  obliegenden  Armenlast  zu  schwer 
fällt,  teils  unmittelbar  zur  Uebernahme  der  Kosten  der  Armen- 
pflege in  besonderen  Fällen,  z.  B.  bei  Unterbringung  Geistes- 
kranker in  Heilanstalten,  bei  Epidemien,  oder  zur  Uebernahme 
der  durch  die  Verpflegung  solcher  Armen  entstandenen  Kosten, 
denen  eine  Heimat  durch  eine  Obrigkeit  angewiesen  ist  (Waldeck, 
Weimar,  Reuß,  Birkenfeld  ^).)« 

i)  Das  Heimat wesen  in  Hannover.  Das  hannoversche  Heimatrecht 
ist  geordnet  gewesen  durch  die  Domizilsordnung  vom  6.  Juli  1827,  später  ergänzt 
durch  Ausschreiben  der  Landdrostei  Lüneburg  vom  6.  Okt.  1840.  Die  Heimat 
heißt  hier  Wohnrecht.  Das  Recht,  an  einem  Orte  zu  wohnen,  wird  erworben  durch 
Geburt,  Verheiratung,  Anstellung  im  Staatsdienst  und  durch  bloßen  Aufenthalt.  (§  i.) 
§  3.  »Die  Aufnahme  in  die  Reihe  der  Gemeindeglieder  geschieht  i.  durch  Er- 
langung des  Bürgerrechts  und  durch  obrigkeitliche  Erlaubnis  zum  Aufenthalt  in  den 
Städten  und  Flecken.  2.  auf  dem  Lande  a.  durch  öffentlichen  eigentümlichen  Er- 
werb und  Besitz  eines  Wohnhauses,  b.  durch  die  Zustimmung  der  Gemeinde  und 
hinzukommende  Genehmigung  der  Obrigkeit,  c.  durch  Bestimmung  der  Obrigkeit 
wider  den  Willen  der  Gemeinde  nach  folgenden  Grundsätzen:  i.  Wenn  ein  Ge- 
werbetreibender nachweist,  daß  er  soviel  Vermögen  besitzt,  um  sein  Gewerbe  an- 
fangen zu  können,  eine  Konzession  der  Regiminalbehörde  oder  die  Aufnahme  in 
eine  Gilde  für  einen  bestimmten  Ort  erhalten  hat,  und  eine  Wohnung  daselbst 
findet.     2.    Wenn  ein  zu  der  Klasse  der  Handarbeiter  oder  Taglöhner  Gehörender 


—     134     — 

Soweit  die  Denkschrift  des  Bundespräsidiiims  1870.  Ueber 
das  bayrische  Ileimatrccht  insbesondere  sagt  noch  die  bayrische 

die  Wahrscheinlichkeit,  seinen  Unterhalt  auf  längere  Zeit  zu  finden,  nachweiset. 
Dahin  gehört  besonders,  a)  daß  er  arbeitsfähig  ist,  b)  daß  ei  Arbeit  gefunden  hat. 
Außerdem  muß  derselbe  c)  eine  Wohnung  gefunden  haben,  d)  Wenn  Jemand  ein 
sonstiges  hinreichendes  Vermögen,  um  sich  und  seine  Familie  zu  ernähren,  nach- 
weiset und  Wohnung  findet. c  §  5.  >Wenn  Jemand,  ohne  die  Befugnis  zum  dauern- 
den Aufenthalte  auf  die  oben  unter  i  bis  3  bestimmte  Weise  erhalten  zu  haben, 
sich  mit  der  Absicht,  sich  dauernd  niederzulassen,  fünf  Jahre  hindurch  in  einer 
Gemeinde  ununterbrochen  aufhält,  und  seinen  eigenen  Haushalt  führt,  so  daß  die 
Gemeinde  oder  in  Städten  die  Obrigkeit  eine  Kenntnis  davon  hat  erlangen  können, 
und  seine  Absicht,  einen  dauernden  Wohnsitz  zu  nehmen,  deutlich  gewesen  ist,  so 
hat  derselbe  das  Recht  zum  ferneren  Aufenthalte  an  diesem  Orte  erworben. c 

In  Hannover  halte  die  Einrichtung  der  Heimatscheine  eine  besonders  häufige 
Anwendung  gefunden.  Diese  Scheine,  anderswo  wie  in  Sachsen  u.  a.  Rückkehrscheine, 
Rückatteste,  Heimholungsscheine,  Ausweisscheine  genannt,  fanden  in  allen  deutschen 
Staaten  mit  dem  Prinzip  der  Heimat  Anwendung,  um  dadurch  die  Wirkung  der 
Freizügigkeitsbeschränkungen  in  etwas  zu  paralysieren.  In  Preußen  stand  ihre  Ein- 
führung 1842  in  Erwägung,  wurde  aber  in  richtiger  Erkenntnis,  daß  sie  bei  der 
Regelung  durch  den  Unterstützungswohnsilz  überflüssig  tei ,  nicht  ver^virklicht. 
Diese  Scheine  wurden  von  der  Heimatgemeinde  ausgestellt ,  mußten  ausgestellt 
werden  gesetzlich  teils  ipso  jure,  teils  nur  auf  Wunsch  und  enthielten  die  Ver- 
pflichtungsanerkennung seitens  der  Gemeinde  zur  Uebernahme.  Keinem,  der  hier- 
mit ausgestattet  war,  durfte  der  Aufenthalt  in  einer  anderen  Gemeinde  verweigert 
werden,  da  ja  der  Aufenthaltsgemeinde  keine  Lasten  mehr  erwachsen  konnten.  In 
Hannover  jedoch  wurde  ihre  Wirksamkeit  anders  als  in  mehreren  anderen  Staaten 
bereits  1840  durch  ein  Ausschreiben  der  Landdrosteien  eingeschränkt:  waren  sie 
bisher  imstande  gewesen,  die  Ersitzung  der  Heimat  nicht  nur  hinauszuschieben, 
sondern  auch  überhaupt  zu  vereiteln,  also  die  gesetzliche  Bestimmung  aufzuheben, 
so  hörte  diese  Wirkung  jetzt  auf  :  die  Ersitzung  ^rat  trotz  der  Heimatscheine  ein. 
Zum  bloßen  Aufenthalte  ist  fürder  die  Beibringung  eines  Wiederaufnahme- 
scheins nicht  mehr  notwendig,  sondern  nur  polizeiliche  Erlaubnis.  Doch  bleibt 
es  in  jedem  Falle  der  Gemeinde  überlassen,  die  nicht  heimathörige  Person 
vor  Ablauf  der  5  Jahre  der  Ersitzungsfrist  zum  Verlassen  des  Ortes  zu  veranlassen. 
Ob  sie  dieselbe  dazu  polizeilich  zwingen  kann,  bleibt  nach  den  Vorschriften  unklar. 
Vgl.  Bitzer,  S.  216.     Emminghaus,  S.  98. 

Für  Oesterreich  ist  maßgebend  das  Gemeindegesetz  vom  17.  März  1849 
in  Verbindung  mit  dem  Staatsgrundgesetz  vom  21.  Dez.  1867,  später  durch  Gesetz 
vom  5.  März  1862  abgeändert.  Darnach  werden  innerhalb  der  Gemeinde  unter- 
schieden :  Personen,  welche  a)  sich  vorübergehend  in  der  Gemeinde  aufhalten,  die 
Auswärtigen,  b)  Gemeindeangehörige,  die  das  Heimatrecht  darin  haben,  c)  Ge- 
meindebürger, d)  Gemeindegenossen,  welche  zwar  kein  Heimairecht  haben,  aber 
mit  Grundeigentum  oder  Gewerben  ansässig  sind,  welche  also  die  Heimat  noch 
nicht  ersessen  haben.  Ferner  werden  innerhalb  der  Gemeinde  noch  besondere 
engere  Verbände  unterschieden  und  zwar:  l.  die  Ortschaften  mit  Sondervermögen, 
2.  Kultusgemeinden,  3.  Konkurrenzverbände  zur  Aufteilung  öffentlicher  Lasten,  im 
Interesse  Einzelner,   4.  eine  engere  Realgemeinde  mit  Sondervermögen,  an  welcher 


—     135     — 

Denkschrift  191 2  historisch,  was  wir  an  seinem  Ort  bereits  aus- 
geführt haben:  »Die  derzeitige  Heimat-  und  Armengesetzgebung 
in  Bayern  beruht  auf  dem  Heimatprinzip.  UrsprüngUch  ein  Be- 
griff des  Armen-  oder  Bettel-PoHzcirechts,  wandelte  sich  die 
Heimat  schon  durch  die  Gesetzgebung  von  1825  zur  Grundlage 
des  Gemeindeverbandes  um.  Die  Heimat  ist  die  Zugehörigkeit 
zu  einer  bestimmten  Gemeinde.  Die  Unterstützungspflicht  ist  nur 
eine  Seite  der  Wirkungen  der  Heimat.« 

Seydel^)  definiert  den   Heimatsbegriff  dahin:    »Man  versteht 


die  Teilnahme  erworben  wird  durch  Bürgerrecht  und  Liegenschaften  innerhalb  der 
Realgemeinde.  Die  Heimat  wird  erworben  durch  Geburt,  nachfolgende  Legitimation, 
Verehelichung  für  die  Frauen,  Anstellung  als  Staats-,  Hof-,  Landes-Beamter  öffent- 
licher Fonds,  durch  Vertrag  mit  der  Gemeinde  und  stillschweigende  Duldung,  bez. 
Ersitzung. 

Das  Staatsgrundgesetz  stellt  fest,  daß  jeder  Staatsangehörige  eine  Heimat 
haben  muß,  daß  aber  jede  Gemeinde  über  die  Aufnahme  neuer  Mitglieder  selbst 
entscheidet.  Die  Heimat  begründet  die  Zuständigkeit  einer  Person,  ferner  Anspruch 
auf  polizeilichen  Schutz  und  Benutzung  der  Anstalten,  ungestörten  Aufenthalt  und 
Versorgung  nach  Maßgabe  der  Bedürftigkeit. 

Die  Heimat  ist  kein  politisches  Recht,  weil  sie  keinen  Einfluß  auf  die  Willens- 
bildung der  Gemeinde  verschafft  —  dies  tut  erst  das  Bürgerrecht  — ,  sondern  bür- 
gerliches Recht,  mit  privatrechtlichen  Folgen.  Die  Gemeinde  wird  hier  also  noch 
ganz  als  Genossenschaft  mit  Untergenossenschaften  aufgefaßt.  Vgl.  Bitzer,  S.  i8o, 
sowie  Ulbrich,  Oesterreichisches  Staatsrecht,  §§  97  bis  103  von  den  Gemeinden. 
Emminghaus,  S.  420. 

In  derselben  Auffassung  von  der  Gemeinde  als  Genossenschaft  wurzelt  die 
württembergische  Regelung  der  Heimatsverhältnisse.  Zunächst  wurde  in 
den  Gene-alverordnungen  und  Edikten  betr.  die  Polizeianstalten  und  die  Gemeinde- 
verfassung vom  II.  Sept.  1807  und  31.  Dez.  1818  die  Verpflichtung  der  Gemeinden 
zur  Armenpflege  festgestellt  gegen  die  Bürger,  Beisitzer  und  Schutzverwandten. 
Diese  letztere  Klasse  wird  in  dem  Bürgerrechtsgesetz  vom  15.  April  1828  durch 
die  der  Heimatberechtigten  ersetzt.  Diese  drei  Beziehungen  gewähren  den  Anspruch 
auf  häusliche  Niederlassung,  Gewerbebetrieb  und  Unterstützung.  Erwerbsgründe 
sind  Geburt  und  Aufnahme  durch  die  Gemeinde  unter  gesetzlicher  Garantie  und 
Aufsicht    der    Obrigkeit    und    Zuteilung    durch    die    Obrigkeit.     Die    Novellen  vom 

4.  Dez.  1833  und  5.  Mai  1852  änderten  die  Aufenthaltsbestimmungen  nur  graduell, 
aber  nichts  an  ihren  wesentlichen  Grundsätzen.  Bitzer,  S.  226  und  Emming- 
haus, S.  358. 

In  Baden  gelten  fast  genau  dieselben  Bestimmungen  wie  in  Württemberg 
durch  das  Gesetz  über  die  Rechte  der  Gemeindebürger  und  die  Erwerbung  des 
Bürgerrechts  vom  15.  Febr.  1851.  —  Ersitzung  findet  durch  5jährigen  Aufenthalt 
statt.  Heimatlosen  wird  eine  Gemeinde  zugewiesen.  Die  Bedingungen  sind  wesent- 
lich   dieselben   wie    dort.     Die  Heimatberechtigten    heißen    hier  Einsassen.     Bitzer, 

5.  241  und  Emminghaus,  S.  3S0. 

i)  Seydel,  Bayrisches  Staatsrecht,  Bd.  2,  S.  57  ff. 


-     136     - 

unter  Heimat  die  Zugehörigkeit  zu  einer  bestimmten  Gemeinde. 
Die  rechtlichen  Wirkungen  lassen  sich  ebensowenig  durch  eine 
bestimmte  Formel  ausdrücken  wie  die  rechtlichen  Wirkungen  der 
Staatszugehörigkeit.  Diese  Wirkungen  können  nur  im  Zusammen- 
hang mit  der  Erörterung  jener  Rechtsgchicte  behandelt  werden, 
in  welchen  sie  zu  Tage  tritt.«  (liier  cjjen  im  Zusammenhang 
mit  dem  Gebiete  des  Armenwesens.) 

»Als  eine  allgemeine  und  begriftlich-notwendige  Folge  der 
Heimat  erscheint  nur  die,  daß  den  Gemeindeangehörigen  der 
Aufenthalt  in  der  Gemeinde  aus  polizeilichen  Gründen  nicht  ver- 
sagt werden  darf Durch  diesen  letzteren  Umstand  unter- 
scheidet   sich  der  Aufenthalt    kraft  Heimat    von    dem  Aufenthalt 

kraft  Freizügigkeit Als  leitender  Gedanke  des  bayrischen 

Heimatrechts  wird  häufig  der  Satz  hingestellt,  daß  jeder  Bayer 
eine  Heimat  haben  muß.  Der  Satz  lautet  in  richtiger  Fassung 
so,  daß  jeder  Bayer,  der  keine  eigentliche  Heimat  hat,  eine  vor- 
läufige Heimat  besitzen  muß.  Im  übrigen  sind  allerdings  die 
Bestimmungen  der  bayrischen  Gesetzgebung  so  bemessen,  daß 
der  Zustand  der  Heimatlosigkeit  möglichst  vermieden  wird  und 
als  Ausnahmezustand  erscheint.  Man  kann  es  also  als  die  ge- 
setzgeberische Absicht  der  Gestaltung  unseres  Heimatrechts  be- 
zeichnen, daß  jeder  Bayer  eine  Heimat  haben  muß.  Diese  Ab- 
sicht kommt  in  der  Bestimmung  zum  Ausdruck,  daß  kein  Bayer 
die  Heimat,  welche  er  besitzt,  anders  verlieren  kann  als  durch 
Erwerb  einer  neuen«  ^). 


l)  Es  sei  hier  noch  einmal  auf  die  Gesetzgebung  Württembergs  über  das  Recht 
der  Wohnsitznahme  zurückgekommen,  welches  von  der  Gemeindegenossenschaft 
ausgeht  und  dasselbe  in  erster  Linie  an  den  Besitz  des  Ileimatrechts  knüpft.  »Das 
Heimatrecht,  welches  sowohl  das  Bürgerrecht,  die  Grundlage  der  politischen  Rechte 
in  der  Gemeinde,  als  das  ßeisitzrecht,  die  mehr  beschränkte  Form  der  Ge- 
meindemitgliedschaft umfaßt,  und  das,  wenn  einmal  erworben,  als  erbliches 
Recht  den  Gemeindegenossen  und  deren  Nachkommen  erhalten  bleibt,  solange 
nicht  ein  ausdrückliches  Aufgeben  desselben  eintritt,  dieses  Heimatrecht,  das  aber 
gleichwohl  nicht  an  den  Wohnsitz  in  der  Heimat  gebunden  ist,  ist  die  rechtliche 
Grundlage  des  Wohnsitzes  im  Staatsgebiete,  es  gewährt  die  durch  keine  Klausel, 
keine  Verwaltungsmaßregel  und  keinen  Richterspruch  antastbare  Befugnis,  in  der 
Gemeinde  des  Heimatorts  sich  häuslich  niederzulassen  und  unter  den  gesetzlichen 
Bedingungen  sein  Gewerbe  auszuüben.  Im  Heimatort  und  hier  allein  hat  der 
Staatsbürger  die  feste  Stätte  seines  Wohnsitzrechtes,  in  allen  anderen  Gemeinden 
genießt  er  zwar  ein  gesetzlich  geregeltes,  aber  immerhin  beschränktes  Gastrecht, 
denn  es  kann  ihm  der  schon  gegründete  Wohnsitz,  auf  Einsprache  des  Gemeinde- 
rats des  Wohnorts  aus  gesetzlich  bestimmten  Gründen,  ohne  eine  solche  aber  wegen 


—     137     — 

lieber  den  Unterstützungswohnsitz  bringt  die  amtliche  Denk- 
schrift von  1870,  welche  wir  bei  der  Erörterung  des  Heimatbe- 
grifTs  mit  Erfolg  heranziehen  konnten,  sehr  wenig:  >Die  preußische 
Armengesetzgebung  beruht  wesentlich  auf  dem  Prinzip  der  Frei- 
zügigkeit. Diesem  Prinzip  widerspricht  es,  das  Individuum  für 
immer  an  einen  und  denselben  Heimatsort  zu  binden.  An  die 
Stelle  der  mit  der  Geburt  erworbenen  und  den  Besitzer  in  der 
Regel  durch  sein  ganzes  Leben  begleitenden  Heimat  ist  daher  in 
Preußen    der  Erwerb    und    Verlust    des  Unterstützungswohnsitzes 

durch  Zeitablauf  getreten Eine  Geburtsheimat  findet  nur 

in  dem  Sinne  statt,  daß  die  Kinder  den  Unterstützungswohnsitz 
des  Vaters  so  lange  behalten,  bis  nach  erlangter  Großjährigkeit 
durch     ihre     eigenen    Aufenthaltsverhältnisse    eine    Veränderung 

hierin  entsteht Der  Verlust  des  Unterstützungswohnsitzes 

tritt  ein  durch  dreijährige  Abwesenheit  aus  der  Gemeinde  nach 
erlangter  Großjährigkeit,  die  Fälle  ausgenommen,  in  welchen  die 
Abwesenheit  aus  bloß  vorübergehenden  Verhältnissen  hervor- 
geht .  .  .  Die  Verpflichtung  zur  Armenpflege  ruht  auf  den  Ürts- 
armenverbänden,  worunter  die  Gemeinden,  beziehentlich  diejenigen 
Gutsherrschaften  verstanden  werden,  deren  Besitzungen  sich  nicht 
im  Gemeindeverbande  befinden  ....  Die  Fürsorge  für  die  Ver- 
armten, welche  keinen  Unterstützungswohnsitz  haben,  liegt  den 
Landarmenverbänden  ob,  und  zwar  demjenigen  Landarmenver- 
band, in  dessen  Bezirk  das  Bedürfnis  dazu  hervortritt.« 

Es  ist  nun  in  Kürze  erst  die  geschichtliche  Entstehung  und 
das  V/esen  des  Unterstützungswohnsitzes  als  eigenartiger  ge- 
meinde- und  armenrechtlicher  Institution  darzulegen  und  zu  be- 
weisen. 

Von  einer  selbständigen  Entwicklung  dieses  Begriffs  kann 
erst  die  Rede  sein  nach  Einführung  der  allgemeinen  staatsbürger- 
lichen Freiheit  und  Gleichheit  als  Prinzip  und  Institution,  sowie 
nach  ihrer  Anerkennung  als  Grundlage  des  Staats.  Der  Unter- 
stützungswohnsitz ist  vor  allem  bedingt  durch  die  Beseitigung 
aller  privatrechtlichen  Schranken  der  Bewegungsfreiheit  des  Staats- 
bürgers als  solchen.  Der  Unterstützungswohnsitz  geht  davon  aus, 
daß  der  einzelne  Staatsbürger  in  erster  Linie  direkt  mit  dem 
Staate  in  Verbindung  steht,  daß  er  nicht  zuerst  Gemeindebürger 

schlechten  Prädikats  oder  aus  anderen  gesetzlich  nicht  näher  bestimmten  Gründen 
polizeilicher  Art  durch  die  zuständige  Regierungsbehörde  entzogen  werden.«  Vgl. 
Bitzer,  S.  231. 


-     13«     - 

ist.  Kr  zerstört  das  genossenschaftliche  privatrechtüche  Prinzip 
zugunsten  des  c)ffentHchen  einzelpers(")nHchcn.  Kr  basiert  auf 
der  Gesellschaft,    nicht  auf  der  Gemeinschaft.     (Vgl.  o.  S.  84  fif.) 

Der  Unterstützungswohnsitz  ist  erst  durch  die  preußische 
Verwaltungspraxis  und  Gesetzgebung  in  die  deutsche  Kommunal- 
und  Armengesetzgebung  eingeführt  und  weiter  ausgebildet.  Das 
entscheidende  Merkmal  ist  die  Behandlung  der  Heimatlosen. 
Noch  das  ALR.  sieht  denjenigen,  welcher  keinen  festen  Wohn- 
sitz ersessen  oder  ererbt  hat,  als  »Vagabonden  im  rechtlichen 
Sinne«  an,  nimmt  ihm  durch  diese  Feststellung  allerdings  zum 
Teil  schon  den  sittlichen  Makel  und  die  rechtliche  Anrüchigkeit. 
Die  polizeiliche  Behandlung  desselben  beruht  jedoch  noch  auf 
dem  gemeinrechtlichen  Heimatsbegriff.  Der  Zustand  der  Heimat- 
losigkeit ist  ein  unerwünschter  und  wird  mit  polizeilichen  Maß- 
nahmen bekämpft.  Die  freiere  Gestaltung  der  Krsitzung  in  Preu- 
ßen ist  somit  nicht  als  Aufhebung  des  alten  gemeindeutschen 
Heimatbegriffes  anzusehen,  sondern  grade  als  seine  Anerkennung, 
indem  sie  dessen  allgemeine  Gültigkeit  durchsetzen  will.  Die 
anderen  deutschen  Staaten  gehen  prinzipiell  bis  1842  denselben 
Weg  wie  Preußen,  auch  sie  erkennen  notgedrungen  eine  Ersitzung 
an,  nur  mit  wesentlich  längeren  Fristen.  Dies  ist  also  nur  ein 
gradueller  Unterschied,  kein  wesentlicher,  wenn  er  auch  viele 
Beobachter  durch  die  starke  Steigerung  dieser  graduellen  Ver- 
schiedenheit getäuscht  und  zu  dem  falschen  Urteil  geführt  hat, 
als  sei  es  ein  wesentlicher  Unterschied  ^).  Ohne  Zweifel  ist  der 
Heimatsgrundsatz  durch  die  P^infügunrg  einer  Krsitzung  durch- 
brochen, aber  darum  doch  nicht  aufgehoben. 

Das  preußische  Armengesetz  und  Aufnahmegesetz  vom  Jahre 
1842/ 185 5  hat  zuerst  die  grundsätzlichen  Bedingungen  des  Unter- 
stützungswohnsitzes abweichend  von  der  Heimat  festgestellt,  in- 
dem es  eine  nur  allein  armenrechtliche  Gemeindezugehörigkeit 
schuf.  Und  diese  neue  preußische  Institution  ist  sicherlich  durch 
die  französische  revolutionäre  Gesetzgebung  auf  das  innigste  be- 
einflußt worden,  wenn  sich  auch  der  Grad  dieser  Beeinflussung 
nicht  genau  feststellen  läßt.  Tatsache  ist,  daß,  wie  allgemein  an- 
erkannt, die  französische  Gesetzgebung  den  Unterstützungswohn- 
sitz als  solchen  geschaffen  hat,  ferner  daß  Preußen  in  seiner 
Verwaltungsgesetzgebung  auf  das  tiefste  durch  diese  französische 
Gesetzgebung  beeinflußt  worden  ist,  wie  dies  ja  in  der  Natur  der 

l)  So  Riedel,  Biizer,  Mohl,  nicht  Seydel  und  Stein. 


—     139     — 

Sache  lag  durch  seine  Verbindung  mit  den  rheinischen  und 
westfäHschen  Gebieten  französischen  Rechts,  und  wie  dies  auch 
auf  anderen  Gebieten  voll  anerkannt  wird  in  bezug  auf  die  Ueber- 
nahme  der  französischen  Gemeindegesetzgebung  und  des  Prinzips 
der  gesetzlich  und  richterlich  genau  festgelegten  Grenzen  der 
Polizeiaufsicht. 

Es  wird  hier  nötig,  in  Kürze  diese  französische  Gemeindege- 
setzgebung zu  schildern.  Die  Revolution  hat  die  französische 
Selbstverwaltung  in  Gemeinden  und  Landschaften  von  Grund  aus 
zerstört.  Schon  das  Dekret  vom  22.  Dezember  1789  sagt: 
»L'Etat  est  un;  les  departements  ne  sont  que  des  sections  du 
meme  tout ;  une  administration  uniforme  doit  les  embarrasser 
tous  dans  un  regime  commun.«  »Et  le  principe  d'unite  et  d'in- 
visibilite  se  formulait  en  cette  maniere  par  ces  mots :  Un  Etat, 
un  Budget«  ^).  Doch  blieb  vorläufig  die  Gemeindeverfassung 
selbst  noch  ziemlich  freiheitlich.  Erst  die  Gemeindeordnung  von 
1795  schlägt  tatsächlich  Bresche  in  die  Selbstverwaltung  durch 
Anerkennung  des  Maire  als  staatlichen  Aufsichtsbeamten  in  erster 
Linie.  Der  Gemeinderat  ist  in  seinen  Befugnissen  zu  sehr  be- 
schränkt, um  hiergegen  ein  wirkliches  Gegengewicht  bilden  zu 
können.  Die  in  der  Natur  der  Revolution  liegende  zentralistische 
Tendenz  wurde  aber  in  viel  höherem  Maße  gefördert  durch  das 
napoleonische  Kaisertum,  welches  keine  Selbständigkeit  dulden 
konnte.  Das  Gemeindegesetz  vom  Februar  icSoo  scheidet  das 
staatliche  und  das  bürgerliche  Element  ganz  klar.  Der  Magistrat 
verschwindet  als  Organ  der  Selbstverwaltung  vollständig,  die 
Staatsaufsicht  wird  in  strengster  Konsequenz  durchgeführt.  Die 
Gemeinde  ist  nur  ein  Abschnitt  des  Staates  zur  Durchführung 
solcher  staatlicher  Zwecke,  welche  nicht  zentralisiert  werden 
können,  wie  Kirche  und  Schule  und  Kommunikationswesen.  Die 
französische  Verwaltung  »läßt  den  Anteil  des  Volkes  an  der 
Verwaltung  nur  als  Konsequenz  eines  Prinzips,  nicht  als  Aus- 
übung eines  Rechtes  zu,  und  daher  ist  die  folgende  Form  des 
Gemeindewesens  kurz  gesagt  das,  was  wir  als  die  romanische 
Form  der  Selbstverwaltung  gegenüber  der  germanischen  be- 
zeichnen« ^). 

»Zuerst  hat  Frankreich  den  Gedanken  durchgeführt,  die 
Selbstverwaltungskörper  in  bestimmter  Hierarchie  unter  einander 

i)  Vgl.  SUin,  Selbstverwaltung,  S,  261,  203  und   165. 
2)  SUin,  Selbstverw.,  S.  205. 


—     I40     — 

zu  stellen.  Diese  Grundvorstellun<^  hatte  die  deutsche  Selbst- 
verwahung  in  sich  aufL^enommen  ....  Allein  die  Hierarchie 
Frankreichs  ist  nicht  etwa  eine  Unter-  und  Ueberordnung  der 
SelbstverwaltuuL;',  sondern  eine  amtliche  Hierarchie.  Die  Hierarchie 
jener  Körper  drückt  daher  in  der  Tat  kein  System  der  Selbst- 
verwaltung, sondern  ein  S>steni  der  amtlichen  Kompetenz  aus. 
Und  die  deutsche  Entwicklung,  namentlich  die  preußische  hat 
dieses  durchsichtige,  aber  keineswegs  freie  System  bei  sich  auf- 
genommen, und  die  Ueber-  und  Unterordnung  der  freien  Ver- 
waltungskörper zu  einer  Hierarchie  der  an  ihrer  Spitze  stehenden 
Regierungsorgane  gemacht.«  »Das  zweite  Moment  der  französi- 
schen Verwaltung  besteht  nun  in  jedem  dieser  Körper,  und 
speziell  in  der  Gemeinde  darin,  daß  prinzipiell  die  vollziehende 
Gewalt  überhaupt  nicht  der  Gemeinde,  sondern  nach  wie  vor 
der  Regierung  angehört. «^^  Diese  Sätze  Stei?is'^)  sind  auf  die  deutsche 
Gemeindeverwaltung  nur  für  die  erste  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts 
anwendbar,  aber  sie  zeigen  in  vorzüglicher  Schärfe  und  Klarheit, 
daß  und  wieweit  der  ICinfluß  der  französischen  Verwaltung  in 
Deutschland  vorhanden  war.  Hierbei  war  die  allgemeine  zentra- 
listische  Tendenz  stärker  und  dauernder  im  Gebiete  des  Rhein- 
bundes, besonders  in  Bayern  wirksamer  als  im  alten  Preußen.  Nur 
in  einem  Punkte  ist  sie  in  Preußen  stärker  und  dauernd  durch- 
gedrungen, in  der  Armenordnung.  Die  zentralistische  Tendenz 
des  Grafen  Montgelas  fand  in  Bayern  auf  diesem  Gebiete  wie 
auf  vielen  anderen  bereits  im  Jahre  1818  ihr  Ende,  in  Preußen 
drang  sie  später,  langsamer  aber  fester  durch  in  Gestalt  der 
einheitlichen  Regelung  auf  der  Grundlage  des  Unterstützungs- 
wohnsitzes. Preußen  hat  sonst  dem  französischen  Einfluß  besser 
widerstanden  als  Bayern,  aber  dadurch  daß  es  die  Armenver- 
sorgung aus  dem  Rahmen  der  Gemeindeverwaltung  selbständig 
herauslöste,  mußte  hierfür  ein  neues  Prinzip  gesucht  werden  und 
wurde  tatsächlich  in  dem  französischen  Unterstützungswohnsitz 
gefunden. 

Das  Gesetz  vom  24.  Vendemiaire  des  2.  Jahres  regelt  die 
offene  Armenpflege  durch  die  Gemeinden  und  die  Zuständigkeit 
hierin.  Artikel  i  bestimmte:  »Le  domicile  de  secours  est  le  lieu 
oü  l'homme  necessiteux  a  droit  aux  secours  publics.«  »Le  lieu 
de  la  naissance  est  le  lieu  naturel  du  domicile  de  secours.« 
Der  gewöhnliche  Wohnort  der  Mutter  zurzeit  der  Geburt  ist  maß- 

i)  Ebenda  S.  266. 


—     141     — 

gebend.  Diesen  natürlichen,  dem  deutschen  Heimatrecht  ver- 
wandten Wohnsitz  behält  der  P>anzose  bis  zum  21.  Jahre  bei, 
darnach  ist  durch  einjährigen  Aufenthalt  entweder  der  alte  Wohn- 
sitz zu  behalten  oder  ein  neuer  zu  erwerben.  Diese  12  Monate 
werden  von  der  Verwaltungspraxis  gefordert,  trotzdem  das  Gesetz 
selbst  nur  6  Monate  zur  Ersitzung  vorschreibt.  Das  Gesetz  stellt 
die  Vermutung  auf,  daß  der  einmal  erworbene  W^ohnsitz  bewahrt 
bleibe,  bis  die  Frist  zur  Erlangung  eines  neuen  abgelaufen  sei. 
Für  Dienstboten  wird  übrigens  auch  hier  eine  zweijährige  Er- 
sitzung vorgeschrieben.  Arbeitsfähige  Bettler,  die  außerhalb 
ihrer  Geburtsgemeinde  keinen  Unterstützungswohnsitz  hatten, 
sollten  zwangsweise  durch  die  Polizei  an  ihre  Geburtsgemeinde 
zurückbefördert  werden.  Die  später  von  Napoleon  durch  Dekret 
vom  5.  Juli  1808  verordnete  Einrichtung  der  Bettlerdepots,  in 
welchen  alle  Bettler  gesammelt  werden  sollten,  ermangelte,  nach- 
dem 37  derartige  Anstalten  eingerichtet  worden  waren,  der  wei- 
teren Durchführung  und  verfiel  in  der  Folge  völlig. 

Die  französische  Armengesetzgebung  fand  durch  die  Revo- 
lution eine  den  oben  dargelegten  Grundsätzen  streng  folgende 
Regelung.  Vollständige  Zentralisation  war  Trumpf!  Die  Stif- 
tungen und  Kirchengüter,  welche  bisher  der  Armenversorgung 
gedient  hatten,  wurden  eingezogen  und  die  Armenpflege  als  eine 
Pflicht  des  Staates  proklamiert.  Die  Verfassung  vom  3.  Septem- 
ber 1791  bestimmte,  daß  eine  »allgemeine  Verwaltung  der  öffent- 
lichen Unterstützungen«  eingerichtet  werde.  Die  Erklärung  der 
Menschenrechte  stellte  den  Satz  auf:  »Die  öffentliche  Armen- 
pflege ist  eine  geheiligte  Schuld,«  28.  Mai  1793.  Die  Konstitution 
vom  24.  Juni  1793  bestimmte:  »Die  Gesellschaft  schuldet  ihren 
unglücklichen  Bürgern  den  Unterhalt,  sei  es,  indem  sie  ihnen 
Arbeit  verschafft,  sei  es,  indem  sie  denen,  welche  außer  Stande 
sind  zu  arbeiten,  die  Existenzmittel  sichert.«  Ein  ferneres  Dekret 
vom  II.  Mai  1794  verordnete  die  Errichtung  eines  »Buches  der 
öffentlichen  Wohltätigkeit«. 

Diese  Einrichtungen  sind  jedoch  niemals  Wirklichkeit  ge- 
worden. Das  Direktorium  kehrte  von  diesem  Wege  wieder  um, 
gab  die  eingezogenen  Güter  für  die  Zwecke  der  Armenpflege 
wieder  heraus,  behielt  sie  aber  weiter  unter  der  staatlichen  Auf- 
sicht in  Gestalt  der  »Bureaux  de  bienfaisance«,  während  die  offene, 
Armenpflege  den  Gemeinden  überlassen  blieb  mit  der  Maßgabe, 
daß  die  Armenpflege  durch  die  vorhandenen  Mittel  begrenzt  sei. 


—       142       — 

Hier  trat  dann  die  ])rivate  Hilfe  ein.  Hier  lief^jt  der  Ursprung 
des  UnterstützunL,fs\volinsitze.s. 

Diese  französische  üesetzgebun^')  war  nun  in  iJeutschland  in 
den  rheinischen  Gebieten,  in  der  Pfalz,  Rheinpreußen,  Westfalen 
und  vielen  anderen  Gebieten  direkt  oder  indirekt  in  Geltung,  sie 
behielt  diese  Geltung  zum  Teil  auch  nach  der  Befreiung  von  der 
französischen  Herrschaft,  wie  ja  Preußen  im  Westen  überhaupt 
die  französische^)  Gemeindeverwaltung  weiter  in  wichtigen  Punk- 
ten beibehalten  hat.  Von  hier  geht  daher  auch  die  Uebernahme 
des  Unterstützungswohnsilzprinzips  auf  den  ganzen  Staat  aus. 
Schon  1832  bei  der  Beratung  des  Regierungsentwurfs  betr.  ein 
Aufnahmegesetz  stand  der  rheinische  Landtag  wie  auch  in  an- 
deren Dingen  völlig  auf  diesem  Standpunkte,  und  das  Armen- 
bez.  Aufnahmegesetz  von  1842  adoptierte  ■  darnach  das  Prinzip 
für  den  ganzen  Staat. 

Noch  klarer  wird  diese  Scheidung  der  armenrechtlichen  von 
der  allgemeinen  Zuständigkeit  durch  die  strikte  Gegenüberstellung 
des  Code  civil:  öffentlicher,  bürgerlicher  und  Unterstützungswohn- 
sitz. Domicile  politique,  civile  et  domicile  de  secours.  Ueber 
den  Wohnsitz  im  allgemeinen  setzen  die  Artikel  102 — 105  folgen- 
des fest.  »Le  domicile  de  tout  Franq-ais,  quant  ä  l'exercice  de 
ses  droits  civils,  est  au  Heu  oü  il  a  son  principal  etablissement. 
A.  103.  Le  changement  de  domicile  s'operera  par  le  fait  d'une 
habilitation  reelle  dans  un  autre  lieu,  Joint  ä  l'intention  d'y  fixer 
son  principal  etablissement.  A.  104.  La  preuve  d'intention 
resultera  d'une  declaration  expresse  tant  ä  la  municipalite  du 
lieu  qu'on  quittera  qu'ä  celle  oü  on  aura  transfere  son  domicile. 
A.  105.  A  defaut  de  declaration  expresse,  la  preuve  de  l'inten- 
tion dependra  des  circonstances.«  Es  ist  also  fast  genau  die 
Regelung  des  römischen  Rechts,  wonach  für  die  Bemessung  des 


1)  Nach  Riedel,  S.  41  flf.,  Ruland  in  SVAW.,  Bd.  27,  S.  12  ff. 

2)  Das  aus  den  verschiedensten  Gebieten  zusammengesetzte  Kgr.  Westfalen 
erhielt  durch  Dekret  vom  II.  Jan.  1808,  das  Großherzogtum  Berg  am  18.  Dez.  1808 
das  Herzogtum  Warschau  1809,  das  Großherzogtum  Frankfurt  am  27.  Okt.  1810 
Gemeindeverfassungen  nach  französischem  Muster.  Auch  Nassau,  Großherzogtum 
Hessen  und  Bayern  blieben  nicht  unberührt  von  diesem  Einfluß. 

Ihr  Ende  fand  diese  Gesetzgebung  in  Hannover  und  Kurhessen  mit  der  Be- 
freiung selbst,  in  Nassau  erst  1848,  in  den  westlichen  Gebieten  Preußens  1815. 
'Im  Rheinland  wurde  das  französische  Recht  jedoch  nur  teilweise  verdrängt,  ja  es 
erhielt  auf  Verlangen  der  Bevölkerung  noch  1843  eine  besondere  Kodifikation  in 
der  Gemeindeordnung.     Vgl.  Könne-Schön,  S.  33  ff. 


—     143     — 

Wohnsitzes  die  Absicht  zu  wohnen  maßgebend  bleibt  in  Ver- 
bindung mit  dem  »Mittelpunkt  seines  Lebens«.  Nur  die  Erwer- 
bung des  Unterstützungswohnsitzes  erfährt  gewisse  Abänderungen, 
wenn  sie  auch  (in  entgegengesetzter  Richtung)  lange  nicht  so 
tiefgreifend  sind  wie  die  des  Heimatrechts.  Die  Trennung  des 
öffentlichen  und  bürgerlichen  Wohnsitzes  nach  Form  des  Erwerbes 
wird  verwischt,  nach  seinem  Inhalt  womöglich  noch  verschärft, 
indem  dieser  auf  überhaupt  nur  eine  einzige  Funktion,  eben  die 
Armenversorgung  beschränkt  wurde. 

Was  nun  die  Freizügigkeit  anlangt,  so  geht  aus  den  ange- 
führten Bestimmungen  bereits  hervor,  daß  diese  durchaus  nicht 
erundsätzlich  beschützt  ist.  Ferner  kann  aber  die  Gemeindebe- 
hörde  dem  Erwerbe  eines  Unterstützungswohnsitzes  entgegen- 
treten, wenn  der  Bewerber  nicht  mit  einem  Passe  oder  mit  Zeug- 
nissen versehen  ist,  welche  dartun,  daß  derselbe  kein  bestim- 
mungsloser Mensch  sei,  das  heißt  weder  Subsistenzmittel  noch 
Gewerbe,  noch  Gewährsmänner  für  sich  hat.  Der  Unterstüt- 
zungswohnsitz kann  nicht  in  zwei  Gemeinden  zugleich  besessen 
werden. 

Es  ist  klar,  daß  diese  Bestimmung  durch  das  Festhalten 
an  der  Geburt  als  Erwerbsgrund  und  dem  Einspruchsrecht  der 
Gemeinde  gewisse  Aehnlichkeit  mit  dem  deutschen  Heimatrechte 
immerhin  bewahrt,  aber  der  springende  Punkt  ist  der,  daß  die 
französische  Gesetzgebung,  den  Gemeinden  jede  Selbständigkeit 
raubend,  die  örtliche  Zuständigkeit  nicht  generell  regelte,  sondern 
sie  in  aen  einzelnen  Verwaltungszweigen  einzeln  und  verschieden 
von  einander  bemaß.  Das  ist  das  Wesen  des  Unterstützungs- 
wohnsitzes :  die  Trennung  aus  der  allgemeinen  öffentlichen  und 
zivilen  Zuständigkeit  und  die  Bemessung  der  armenrechtlichen 
Zuständigkeit  nach  besonderen  Kriterien.  Daß  diese  Kriterien 
späterhin  immer  mehr  in  dem  einen  des  zeitlichen  Aufenthalts 
aufgingen,  ist  zunächst  nur  ein  gradueller  Unterschied;  doch  ist 
man  zweifelhaft,  ob  wegen  des  tiefgreifenden  Unterschiedes  der 
Fristen  dies  nicht  auch  ein  wesentlicher  Unterschied  wird.  Er 
wird  es  in  dem  Augenblick,  wo  die  Erwerbung  durch  Aufenthalt 
die  einzige  Erwerbsart  wird. 

Arnold  sagt  über  die  Geschichte  des  Unterstützungswohn- 
sitzes (S.  65  Anm.).  »Der  Ausdruck  »Unterstützungswohnsitz« 
ist  der  altpreußischen  Gesetzgebung  entlehnt,  welche  denselben 
augenscheinlich  der  französischen  Gesetzgebung  entnommen   hat, 


—     144     — 

in    welcher    schon    das    Dekret    vom    24.  Vendemiairc  II.  beginnt 

mit  dem   Art.   i.  Le  dom.  de  secours In  der  preußischen 

Gesetzgebung  kommt  der  Ausdruck  »Unterstützungswohnsitz«  zum 
ersten  Male  im  Gesetze  zur  Ergänzung  der  Gesetze  vom  31.  De- 
zember 1842  über  die  Verpflichtung  zur  Armenpflege  und  die 
Aufnahme  neuanziehender  Personen  (vom  21.  Mai  1855)  und  zwar 
im  Art.  i  in  Parenthese,  im  Art.  2  schon  unparcnthesiert  vor 
und  ist,  nach  Art.  i  gleichbedeutend  mit  der  ^  Verpflichtung  eines 
Ortsarmenverbandes  zur  Armenpflege  <;.  In  der  späteren  alt- 
preußischen Gesetzgebung  findet  sich  der  Ausdruck  nur  noch 
einmal,  nämlich  in  dem  inzwischen  wieder  aufgehobenen  Gesetz 
vom  14.  Mai  1860  betr.  das  städtische  Einzugsgcld.  Die  deut- 
sche Bundesgesetzgebung  identifiziert,  nur  in  äußerer  Zusammen- 
stellung, im  Gesetz  über  die  Freizügigkeit  vom  i.  November  1867 
den  altpreußischen  Unterstützungswohnsitz  mit  dem  neupreußi- 
schen und  sonst  bundesstaatlichen  »Heimatsrecht«  und  der  »Ge- 
meindeangehörigkeit « . 

Ist  nun  allerdings  auch  der  Ausdruck  »Unterstützungs Wohn- 
sitz« erst  seit  1855  anzutreffen,  so  hat  doch  sein  begrifflicher  In- 
halt bereits  im  Gesetz  von  1842  und  vorher  bei  den  Verhand- 
lungen Anerkennung  gefunden.  Damals  entsprach  dem  das  Wort 
»Armendomizil«,  welches  auch  das  Wesen  sehr  gut  wiedergibt, 
indem  es  eben  die  Beschränkung  seines  Rechtseinflusses  auf  das 
armenrechtliche  Gebiet  zum  klaren  Ausdruck  bringt,  gerade  im 
Gegensatz  zu  der  Gesetzessprache  d?r  am  I  leimatrecht  festhalten- 
den Staaten. 

Hat  nun  auch  Preußen  Wort  und  Wesen  des  Unterstützungs- 
wohnsitzes von  der  französischen  Revolution  übernommen,  so  ist 
es  darin  doch  vollkommen  folgerichtig  vorgegangen:  Preußen 
war  derjenige  Staat,  welcher  sein  Heimatrecht  am  meisten  diesem 
Prinzip  schon  lange  vorher  angenähert  hatte.  Die  straffe  Zen- 
tralisation der  staatlichen  Aufsicht  und  Verwaltung  war  im  alten 
Preußen  kaum  geringer  als  im  neuen  Frankreich.  Die  in  Preußen 
zur  Anerkennung  gekommene  Ersitzungsfrist  und  das  Ersitzungs- 
prinzip  lagen  zwar  noch  im  Rahmen  der  Heimatordnung,  stellten 
aber  doch  das  äußerste  Zugeständnis  dar,  welches  in  seinem  Rah- 
men gemacht  werden  konnte.  Preußen  war  eben  der  einzige 
deutsche  Staat  gewesen,  dessen  Territorium  groß  und  geschlossen 
genug  war,  um  eine  eigene  abweichende  Politik  in  bezug  auf  die 
Zugfreiheit  zu  ermöglichen:  das  Mittel  dazu  war  eben  straffe  Zentra- 


—     145     — 

lisation  und  strenge  Staatsaufsicht,  sowie  Abkürzung  der  Ersitzungs- 
frist zuletzt  auf  3  Jahre.  Die  Trennung  des  Armenwesens  von 
der  übrigen  Verwaltung  und  der  Erlaß  besonderer  Bestimmungen 
hierüber  war  ein  folgerichtiges  Weiterschreiten  auf  dem  einmal 
eingeschlagenen  Wege. 

W^enn  wir  nunmehr  versuchen,  am  Schluß  die  Begriffe  Hei- 
mat und  Unterstützungswohnsitz  gegenüberzustellen,  so  ergibt  sich 
folgendes :  Beide  Institutionen  bestimmen  über  die  Zugehörigkeit 
und  Zuständigkeit  eines  Staatsbürgers  in  bezug  auf  die  Gemeinde : 
die  Heimat  umfaßt  und  regelt  einheitlich  hierbei  die  Rechtsbe- 
ziehungen der  gesamten  Persönlichkeit  deren  ganzes  Leben  lang 
und  schafft  eine  enge,  letzten  Endes  im  Gemütsleben  wurzelnde 
Verbindung  zwischen  Gemeinde  und  Persönlichkeit,  sie  faßt  die 
Gemeinde  im  altdeutschen  Sinne  wesentlich  als  Genossenschaft 
auf  und  als  Gemeinschaft;  der  Unterstützungswohnsitz  umfaßt 
nur  ein  eng  begrenztes  Gebiet  des  persönlichen  Lebens,  die 
Armenpflege,  wird  wirksam  nur  im  Ealle  der  Verarmung,  steht 
in  keiner  inneren  Verbindung  mit  den  sonstigen  Rechtsbeziehungen 
der  Persönlichkeit,  erlischt  und  wird  erworben  in  verhältnismäßig 
kurzer  Zeit  und  appelliert  an  die  Seite  des  Gefühls  gar  nicht. 

Der  andere  begriffliche  Unterschied  beruht  auf  der  Stellung 
der  Persönlichkeit  und  der  Gemeinden  im  Staate*).  Nach  alt- 
deutscher Auffassung  ist  der  Einzelne  Mitglied  zunächst  seines 
engeren  Gemeinschaftskreises,  der  Familie,  der  Gemeinde.  Da- 
durch erst  tritt  er  in  Verbindung  mit  dem  Staate.  Die  notwen- 
dige P'olge  auf  die  Gemeindeverfassung  ist  die,  daß  infolgedessen 
jeder  Staatsbürger  in  engerer  persönlicher  Beziehung  zu  einer 
derartigen  Gemeinschaft  stehen  muß,  und  das  ist  eben  die  Hei- 
mat, auch  als  Grundlage  des  Bürger-Beisassen-  usw.  Rechts.  Der 
Unterstützungswohnsitz  hingegen,  da  er  sich  in  seiner  Wirksam- 
keit nur  auf  die  Armenversorgung  beschränkt,  hat  gar  keine  Be- 
ziehungen zu  den  sonstigen  Staats-  und  gemeindebürgerlichen 
Rechten,  nur  daß  er   natürlich   die  Staats-  bez.  Reichsangehörig- 

1)  Besonders  klar  bringt  dies  die  württembergische  Verfassungsurkunde  zum 
Ausdruck  (vom  25.  Sept.  1819).  §§  62 — 63.  »Die  Gemeinden  sind  die  Grundlagen 
des  Staatsvereins.  Jeder  Staatsbürger  muß  daher,  soferne  nicht  gesetzlich  eine 
Ausnahme  besteht,  einer  Gemeinde  als  Bürger  oder  als  Beisitzer  angehören.  Die 
Aufnahme  der  Gemeindebürger  hängt  von  der  Gemeinde  ab,  unter  Vorbehalt  der 
gesetzlichen  Entscheidung  der  Staatsbehörden  in  streitigen  Fällen.  Indessen  setzt 
die  Erteilung  des  Bürger-  und  Beisitzerrechts  die  vorgängige  Erwerbung  der  Staats- 
angehörigkeit voraus.     Nach  Bitzer,  8.  229. 

Zeitschrift  für  die  ges.  Staatswissensch.     Ergänzungsheft   51.  lO 


—     146    — 

keit  zur  Voraussetzung^  hat,  während  die  1  leimat  vielfach  erst  die 
Staatsani^ehörii^keit  bedingte,  was  allerdings  seit  Minführung  des 
Bundesindigenats  abgeschafft  worden  ist. 

Eine  praktische  Folge  hiervon  ist  die,  daß  bei  der  Regelung 
auf  Grund  des  Unterstützungswohnsitzes  eine  Ergänzung  der  Orts- 
durch  Landarmenverbände  erfolgen  muß,  welche  zu  diesem  Zwecke 
unter  der  Herrschaft  des  Heimatprinzips  überflüssig  ist.  Das 
Heimatrecht  kennt  keine  Landarmen. 

Aus  der  familienhaften  Auffassung  der  Heimat  heraus  ergibt 
sich  die  Art  ihres  Erwerbs.  Die  ganze  Persönlichkeit  umfassend, 
begleitet  sie  auch  die  Persönlichkeit  auf  ihrem  ganzen  Lebens- 
wege, entsteht  mit  der  Geburt,  vererbt  sich  aut  die  Nachkommen 
und  geht  erst  mit  dem  Tode  unter.  Wie  schon  oben  ausgeführt, 
kann  die  Einführung  eines  Heimaterwerbs  durch  Aufenthalt  und 
Ersitzung  unabhängig  vom  Geburtsort  niemals  das  Wesen  der 
Heimat  selbst  berühren;  es  ist  eine  Modifizierung,  ein  Durch- 
brechen des  Prinzips,  aber  dennoch  bleibt  dieses  selbst  unver- 
kürzt, denn  die  Reihenfolge  der  Erwerbsarten  ist  letzten  Endes 
maßgebend.  Bei  dem  Unterstützungswohnsitz  ist  die  Ersitzung 
die  Regel,  soll  es  auch  sein,  bei  der  Heimat  wiegt  tatsächlich 
und  beabsichtigt  die  Geburt  weit  vor.  So  ist  die  Heimat  das 
Ordnungsprinzip  der  ruhenden,  der  Unterstützungswohnsitz  das 
Prinzip  der  beweglichen  Bevölkerung. 

Eine  Folge  zugleich  der  Auffassung  vom  Staate  und  zugleich 
von  der  Gemeinde  als  P'amilie  ist  die  Bestimmung,  daß,  weil 
eben  ein  jeder  eine  Heimat  haben  muß,  die  einmal  besessene 
Heimat  nur  durch  den  Erwerb  einer  anderen  verloren  gehen 
kann.  Dies  bezeichnet  die  bayrische  Denkschrift  als  den  tief- 
greifendsten Unterschied  zwischen  den  beiden  Prinzipien.  Sicher- 
lich ist  er  der  für  die  Verwaltungspraxis  wichtigste,  aber  begriff- 
lich ist  dieser  Unterschied  aus  jenen  beiden  Grundsätzen  abgeleitet. 

Um  schließlich  zu  einer  genauen  systematischen  und  begriff- 
lichen ^)  Gegenüberstellung  und  Unterscheidung  der  beiden  in  die 
geschichtliche  Erscheinung  getretenen  Institute  Heimat  und  Unter- 
stützungswohnsitz und  zu  klarer  Erkenntnis  ihrer  Wirkungen  auf 
den  Einzelnen  wie  auf  die  Gesamtheit  zu  gelangen,  ist  es  unbedingt 

l)  Diese  Gegenüberstellung  nach  systematischen  Gesichtspunkten  ist  ein  wich- 
tiges Ziel  der  Untersuchung  gewesen,  ihr  dient  hier  die  ganze  geschichtliche  Dar- 
stellung, und  um  ihretwillen  müssen  auch  die  hier  unumgänglichen  Wiederholungen 
in  den  Kauf  genommen  werden. 


—     147     — 

nötig,  auf  ihr  Prinzip  selbst  zurückzugehen  und  von  der  zufäl- 
ligen historischen  Form  abzusehen ;  man  kommt  sonst  leicht  in 
die  Versuchung,  wesentliche,  ökonomische  und  z  u- 
fällige,  historische  Form  miteinander  zu  verwechseln. 
Zur  Erkenntnis  des  Prinzips  gelangt  man  am  leichtesten,  wenn 
man  die  extremste  mögliche,  durchaus  nicht  notwendig  immer 
tatsächliche  Ausgestaltung  annimmt.  Diese  zeigt  uns  die  größte 
Entfernung  zwischen  den  beiden  zu  vergleichenden  Größen,  zeigt 
uns  jede  für  sich  und  verhindert  absolut  jedes  Ineinanderfließen; 
ein  jeweiliger  historischer  Zustand  aber  zeigt  immer  Abweichun- 
gen von  dem  Prinzip,  zeigt  dieses  niemals  in  seiner  Reinheit, 
sondern  durch  irgendwelche  beliebigen  äußeren,  nicht  im  Wesen 
des  Prinzips  begründeten  Veränderungen  »korrumpiert«.  Da- 
gegen kann  diese  gewissermaßen  »isolierende«,  somit  exakte 
Methode  allein  zum  Ziele  führen. 

Hierbei  ergibt  sich  nun  die  Heimat  als  das  administrative 
Prinzip  der  ruhenden  Bevölkerung,  welche  ihre  Mitglieder  auf 
Generationen  hinaus  an  einen  Ort  bindet,  daher  auch  den  recht- 
lichen Status,  öffentlichen  wie  privaten,  des  Einzelnen  von  seinem 
Geburtsort,  mehr  noch  von  dem  Geburtsort  seiner  Eltern,  von 
dem  Mittelpunkt  seiner  Familie  wie  seiner  selbst  abhängig  machen, 
ihn  danach  bemessen  kann.  Und  selbst  wenn  die  Ruhe  der  Be- 
völkerung keine  absolute,  sondern  über  den  einen  Ort  hinaus- 
gehende ist,  so  bleibt  doch  immer  die  Nachbarschaft  der  Orte 
maßgebend  für  die  Bewegung  des  Einzelnen.  Die  deutsche  Ge- 
schichte zeigt  uns  diesen  Zustand  deutlich  an  der  Kleinheit  der 
Territorien,  durch  welche  in  dem  normalen,  hier  hauptsächlich  in 
Betracht  kommenden  Falle  die  räumliche  Bewegung  begrenzt 
war.  Die  Auswanderung  aus  dem  Territorium  war  Fernwande- 
rung, welche  alle  Beziehungen  auflöste ;  sie  scheidet  aus  der  Be- 
trachtung aus.  In  diesem  Zustande  der  Ruhe  konnte  und  mußte 
die  Umgebung  auch  die  ganze  Persönlichkeit  in  ihren  wirtschaft- 
lichen und  rechtlichen,  und  zwar  öffentlich-  wie  privatrechtlichen 
Beziehungen  umfassen  und  bestimmen.  Die  Heimat  ist  somit 
das  administrative  Bevölkerungsprinzip  der  ruhenden  Gemein- 
schaft, der  familienhaft,  genossenschaftlich  festgefügten  Ge- 
meinde, welche  bis  zu  einem  gewissen  Grade  ein  abgeschlosse- 
nes kommunistisches  Sonderleben  führt,  ohne  wesentliche  Ein- 
mischung äußerer  Gewalten,  welche  als  Störung  der  genossen- 
schaftlichen Selbstverwaltung  gilt.     Einzelleben  und  Gemeinschaft 


-      14«     - 

unter  sich,  Verharren  darin  durch  Generationen,  Beständigkeit  der 
Bewohnerschaft  und  damit  zusammenhängend  hochentwickelte 
Selbstverwaltung  sind  somit  die  idealen  Vorbedingungen  des  ex- 
tremen Heimatrechts. 

Ein  ganz  anderes  Ordnungsprinzip  erfordert  der  entgegen- 
gesetzte Zustand  der  Bevölkerung :  rechtliche  und  wirtschaftliche 
Freiheit  jedes  Einzelnen,  tatsächliche  Bewegung  durcheinander, 
Aufgehen  der  einzelwirtschaftlichen  Gemeinschaft  in  dem  großen 
Getriebe  der  gesellschaftlichen  Volkswirtschaft,  unmittelbare  Ver- 
bindung des  Einzelnen  mit  der  Gesellschaft  ohne  Vermittlung 
einer  Gesellschaft  und  Auflösung  dieser  bis  auf  den  Rest  der 
Familie,  schließlich  infolge  davon  unmittelbares  Eingreifen  des 
gesellschaftlichen  Staates  in  die  Verwaltung  der  Gemeinschaften, 
Amtsverwaltung  an  Stelle  der  Selbstverwaltung.  Was  noch  an 
Selbstverwaltung  bleibt,  ist  nur  abgeleitetes  Recht,  Ausführung 
vom  Staat  überlassener  Aufgaben.  Dieser  Zustand  ist  nur  mög- 
lich auf  größerem  Räume,  in  der  entwickelten  Volkswirtschaft 
und  in  dem  entwickelten  Staate  der  »staatsbürgerlichen«  Zeit 
vornehmlich  des  19.  Jahrhunderts.  Der  Zustand  der  Bewegung 
setzt  Freiheit  in  Raum  und  Zeit  und  Recht  voraus.  Die  Normen 
dieser  Freiheit  kann  nur  der  große  Staat  aufstellen,  und  die  Auf- 
sicht desselben  erfordert  eine  ausgiebige  Teilung  seiner  Ver- 
waltung, nicht  mehr  nach  räumlichem,  sondern  nach  sachlichen, 
systematischen  Grundsätzen.  Die  Provinzialministerien  werden 
durch  Fachministerien  ersetzt;  der  E^inzelne  untersteht  nun  nicht 
mehr  in  seiner  Totalität  einer  obersten  Behörde  (gesellschaftlichen 
des  Staats  oder  gemeinschaftlichen  der  Familien-  und  Gemeinde- 
körperschaft), sondern  seine  Person  wird  verwaltungsrechtlich  ge- 
trennt und  aufgeteilt.  In  gerichtlicher,  gewerblicher,  militärischer, 
steuerlicher  und  schließlich  auch  armenrechtlicher  Beziehung  unter- 
steht er  gesonderten  Aufsichtsbehörden.  Entsprechend  wird  auch 
das  früher  zusammengefaßte,  kodifizierte,  einheitliche  System  des 
gesamten  Rechts  in  seine  einzelnen  Bestandteile  aufgelöst  und  in 
einzelne  Rechtsgebiete  getrennt.  Der  Einzelne  hat  Jetzt  eine  be- 
sondere armenrechtliche  Persönlichkeit  neben  anderen  »sachlichen 
Persönlichkeiten«,  welche  nach  besonderen  Kriterien  bemessen  wird, 
er  hat  nicht  mehr  eine  für  sein  ganzes  Leben  in  allen  seinen 
möglichen  und  tatsächlichen  Beziehungen  maßgebende  »Heimat«, 
sondern  einen  besonderen  armenrechtlichen  Wohnsitz,  das  Armen- 
domizil, den   »ünterstützungs Wohnsitz«   neben  anderen. 


—     149     — 

Sowohl  in  dem  Rechtszustande  der  Heimat  wie  in  dem  des 
Unterstützungswohnsitzes  ist  das  Bestreben  maßgebend,  den  recht- 
Hchen  dem  tatsächlichen  Zustande  anzupassen,  also  in  diesem  be- 
sonderen Falle :  Aufenthaltsort  und  Unterstützungsgemeinde  zu- 
sammenfallen zu  lassen;  im  Zustand  der  einzelwirtschaltlichen  Ge- 
meinschaft ist  dies  leicht  geordnet,  schwer  aber  im  ewig  bewegten 
gesellschaftlichen  Zustande :  In  jenem  Zustande  ist  die  Geburt, 
die  Heimat  das  Kriterium  der  Zuständigkeit  für  die  gesamte 
Person  in  allen  ihren  Auswirkungen,  in  diesem  muß  die  Zustän- 
digkeit für  alle  Seiten  des  persönlichen  Lebens  einzeln  bemessen 
werden,  das  Idealkriterium  bleibt  hier  nur  mehr  der  gegenwärtige, 
der  augenblickliche  Aufenthalt. 

Ferner,  indem  die  Gemeinschaft  in  den  meisten  Beziehungen 
als  Vermittlerin  zwischen  dem  Einzelnen  und  der  Gesamtheit  aus- 
geschaltet wird,  übernimmt  die  Gesellschaft  und  somit  der  Staat  auch 
einen  großen  Teil  der  Funktionen  der  Gemeinschaft,  der  Genossen- 
schaft, selbst  der  Familie.  Die  Gesellschaft  übernimmt  die  Ver- 
antwortung für  die  Erfüllung  vieler  Aufgaben,  welche  früher  jener 
oblagen :  Erziehung,  Unterricht,  Ordnung  des  gewerblichen  Lebens 
und  auch  der  F'ürsorge,  der  Staat  w^andelt  sich  somit  in  vielen  Be- 
ziehungen selbst  zur  Gemeinschaft  um  und  nimmt  viele  charakte- 
ristische Züge  derselben  an.  Der  dabei  notwendig  auszuübende 
Zwang  der  Gemeinschaft  und  der  Gesellschaft  ist  in  beiden  Fällen 
stark,  stärker  aber  sicherlich  seitens  der  Gemeinschaft,  weil  sie 
die  ganze  Persönlichkeit  einheitlich  umfaßt  und  reglementiert, 
als  seitens  der  Gesellschaft,  welche  nach  Anerkennung  gewisser 
Statusrechte  die  Persönlichkeit  zwar  auch  in  den  verschiedensten 
Beziehungen,  aber  immer  mit  besonderer  Berücksichtigung  des 
gegenwärtigen  Zwecks  erfaßt.  Dem  entspricht  auch  die  Auf- 
fassung, wonach  ursprünglich  die  Gemeinschaft  dem  Einzelnen 
unbedingt  vorgeht,  der  Einzelne  seine  Berechtigung  wie  auch 
seinen  Schutz  erst  als  Mitglied  der  Gemeinschaft  findet,  während 
dem  gesellschaftlichen  Zustande  die  Anerkennung  des  Indivi- 
duums als  Selbstzweck,  und  der  gesellschaftlichen  Einrichtungen 
und  Zwangsrechte  nur  als  Mittel  zum  Zweck  zugrunde  liegt. 
Dort  ist  die  Gemeinschaft  der  Zweck  des  Zusammenlebens  aller 
Mitglieder,  hier  ist  das  Wohl  des  Einzelnen  der  Zweck  der  ge- 
sellschaftlichen Ordnung. 

Die  Armenunterstützung  und  das  gesamte  mit  ihr  verfloch- 
tene Rechtsgebiet    ist   gewiß   nur  ein  Teil,    und  zwar  ein  kleiner 


—     150    — 

Teil  der  gesamten  Rechtsordnung,  seine  Bedeutung  nimmt  über- 
dies mit  Ausbildung  größerer  persönlicher  Freiheit  ab;  aber 
grade  dieses  Spezialgebiet  zeigt  die  Entwicklung  der  gesamten 
Rechtsauffassung  von  der  ständischen  gemeinschaftlichen  zu  der 
staatsbürgerlichen  gesellschaftlichen  besonders  deutlich,  und  es 
war  die  Absicht  dieser  Arbeit,  diese  Entwicklung  historisch  zu 
schildern  und  systematisch  zu  begründen:  die  Verdrängung  der 
gemeinschaftlichen  Gemeinde  durch  den  gesellschaftlichen  Staat, 
im  Rechtsgebiete  der  Armenversorgung  und  die  Wirkung  dieser 
Entwicklung  auf  das  Recht  und  die  Freiheit  des  Einzelnen. 


^ 


ZEITSCHRIFT 

FÜR  DIE  GESAMTE 

STAATSWISSENSCHAFT 

In  Verbindung  mit 

Oberbürgermeister  a.  D.  Dr  F.  ADICKES  in  Krankfurt  a.  M.,  Prof.  Dr  G.  COHN  in 
Göttingen,  Ober-Verw.-Ger.-Rat  Prof.  Dr  F.  v.  MARTITZ  in  Berlin,  Kaiserl. 
Unterstaatssekretär  z.  D.  Prof.  Dr  G.  v.  MAYR  in  München,  Prof.  Dr  A.  VOIGT 
in  Frankfurt  a.  M.,  VVirkl.  Geh.  Rat  Prof.  Dr  A.  WAGNER,  Exz.,  in  Kerlin, 
Dr  Freiherr  v.  WEICHS  Ministerialrat  am  k.  k.  Handelsministerium  in  Wien 

HERAUSGEGEBEN 

VON 

Dr  K.  BÜCHER, 

o.  Professor  an  der  Universität  licipzig. 


Ergänzungsheft   LH. 

Die   Organisation   und  Zentralisation  des  badischen 

Arbeitsmarktes. 

Von 

Dr  Helmuth  Barck. 


TÜBINGEN 
VERLAG  DER  H.  LAUPP'SCHEN  BUCHHANDLUNG 

1914. 


Die  Organisation 
und  Zentralisation  des 

badischen  Arbeitsmarktes. 


Von 


Dr.  Helmuth  Barck. 


TUBINGEN 
VERLAG  DER  H.  LAUPP'SCHEN  BUCHHANDLUNG 

1914. 


^ 


Alle  Rechte,  insbesondere  das  der  Uebersetzung,  behält  sich  die 
Verlagsbuchhandlung  vor. 


Druck  von  H.  L  a  u  p  p  jr  in  Tübingen. 


I     — 


E  i  n  1  e  i  t  u  n  e 


t>' 


Der  Begriff  des  Arbeitsmarktes. 

Der  Gebrauch  des  Begriffes  Arbeitsmarkt  ist  heute  noch 
kein  fester.  Während  z.  B.  Silbergleit  ^)  unter  Arbeitsmarkt  die 
Gesamtheit  der  arbeitsuchenden  menschHchen  Arbeitskräfte  ver- 
steht, die  sich  —  wenigstens  theoretisch  —  auch  örthch  begrenzen 
lassen,  und  für  diesen  im  Angebot  sich  restlos  erschöpfenden  Be- 
griff des  Arbeitsmarktes  immer  erneut  eingetreten  ist,  sieht  ge- 
rade umgekehrt  Schiiller  ^)  das  Wesentliche  des  Arbeitsmarktes 
in  der  an  einem  —  enger  oder  weiter  begrenzten  —  Ort  be- 
stehenden Nachfrage  nach  Arbeitskräften ;  er  läßt  also  den  Be- 
griff des  Arbeitsmarktes  in  dem  der  Nachfrage  sich  erschöpfen. 
Im  Gegensatz  hierzu  unterscheidet  Meerivarth  ^)  den  Arbeitsmarkt 
in  engerem  Sinne,  als  eine  Veranstaltung,  welche  dem  Zweck 
dient,  Angebot  und  Nachfrage  an  einem  Ort  zu  konzentrieren, 
von  dem  in  weiterem  Sinne  als  der  Gesamtheit  der  Austausch- 
bedingungen der  Ware  Arbeit  überhaupt.  Letztere  Begriffsbestim- 
mung scheint  mir  nun  mit  der  von  Silbergleit  und  Schiiller  aufge- 
stellten am  Ende  zusammenzufallen,  sodaß  wir  also  zu  einem  Begriff 
des  Arbeitsmarktes    im    engeren   und  im    weiteren  Sinne   kämen. 

Unter  Markt  an  sich  versteht  man  nun  in  der  Volkswirtschaft 
Veranstaltungen,  mittels  welcher  Angebot  und  Nachfrage,  Ver- 
käufer und  Käufer,  zusammengebracht  werden  ^).  Für  diesen  Be- 
griff Markt  ist  daher  eine  bestimmte  Organisation,  ein  Vermittler, 
wesentlich.  Und  an  diesem  Begriffsmerkmal  der  Organisation,  des 
Vermittlers,    möchte  ich   auch  für   den  »Arbeitsmarkt«  festhalten 


1)  Silbergleit,  Beschäftigungsgrad  und  Arbeitsmarkt,  Berlin   1908,  S.   5  ff. 

2)  Schiiller,    Die  Nachfrage    auf  dem  Arbeitsmarkt,    Archiv    für  Sozialwissen- 
schaft und  Sozialpolitik   1911,  S.  715  ff. 

3)  Meerivarth,    Betrachtungen    über  Methoden  und  Ergebnisse    der  deutschen 
Arbeitsmarktstatistik   191 1,  ebenda  S.  744  ff. 

4)  Vgl.  Rathgen,  Artikel  Markt  im  Handwörterbuch  der  Staatswissensch.   1910. 
Zeitschrift  für  die  gcs.  Staatswissensch.    Ergänzungsheft  52.  I 


und  darnach  unter  einem  Arbeitsmarkt  niu'  einen  organisierten 
Arbeitsmarkt  verstehen.  Diesem  durch  das  lüfordernis  einer  be- 
stimmten Organisation  enger  gefaßten  Begriff  des  Arbeitsmarktes 
würde  dann  ein  Arbeitsmarkt  im  übertragenen  Sinne  nach  Meer- 
icarths  weiterem  Begriff  sowie  nach  Silbergleit  und  ScJiüller  gegen- 
überstehen. 

Für  den  von  mir  gewählten  Begriff  des  Arbeitsmarktes  scheint 
mir  dabei  weiter  zu  sprechen,  daß  allein  dem  organisierten  Ar- 
beitsmarkt zunächst  praktische  Bedeutung  zukommt  ;  denn  nur 
durch  einen  solchen  kann  ja  Angebot  und  Nachfrage  in  markt- 
mäßiger Weise  wirklich  Befriedigung  finden.  Was  nützt  es  dem 
Arbeitnehmer  oder  Arbeitgeber,  unter  dem  Gesichtspunkt  der 
Ware  Arbeit,  wenn  er  weiß,  daß  ihm  gegenüber  Nachfrage  und 
Angebot  in  bestimmter  Intensität  vorhanden-  ist,  es  ihm  aber  selbst 
überlassen  bleibt,  den  Gegenpart  herauszufinden.  Damit  wäre 
gewissermaßen  die  individuelle  Arbeitssuche  durch  Umschau  und 
Inserat  für  den  Arbeitsmarkt  als  eine  Besonderheit  freigegeben, 
was  mir  doch  auch  von  den  Vertretern  des  Begriffes  Arbeits- 
markt im  übertragenen  Sinne  als  kaum  gewollt  erscheinen  möchte. 
Ich  glaube  deshalb  von  dem  Begriff  Arbeitsmarkt  im  Sinne  des 
organisierten  Arbeitsmarktes  weiterhin  ausgehen  zu  sollen. 

Damit  ist  aber  zugleich  auch  die  theoretische  Möglichkeit 
gegeben,  den  Arbeitsmarkt  eines  bestimmten  staatlichen  Gebildes 
im  Rahmen  einer  größeren  Volkswirtschaft  gesondert  zu  betrachten, 
sobald  nur  dieses  staatliche  Gebilde  besondere  Organisationsträger 
des  Arbeitsmarktes,  d.  h.  also  besondere  Arbeitsnachweise,  be- 
sitzt. Dabei  wäre  es  natürlich  angebracht,  für  diese  Arbeitsnach- 
weise im  ganzen  wie  im  einzelnen  und  für  einzelne  Berufszweige 
auch  Angebot  und  Nachfrage  namentlich  unter  dem  Gesichts- 
punkte zu  behandeln,  wie  weit  die  bestehenden  Organisationen 
dem  Bedürfnis  nach  Nachweiseinrichtungen  entsprechen  und  wie 
weit  sie  etwa  eine  Förderung  der  wirtschaftlichen  Produktivität 
bewirkt  haben.  Indessen  wird  sich  zeigen,  daß  bei  dem  gegen- 
wärtigen Stand  der  Entwicklung  der  Nachweiseinrichtungen  diesen 
Fragen  mit  Erfolg  nur  in  einzelnen  Fällen  nachgegangen  werden 
kann,  w'eil  die  gegenwärtige  Dezentralisation  der  Nachweisein- 
richtungen dem  entgegensteht.  Daher  muß  für  den  heutigen  Ent- 
wicklungsstand das  Hauptgewicht  der  Darstellung  auf  die  Art  der 
Betätigung  der  verschiedenen  Nachweiseinrichtungen  gelegt  wer- 
den, um  hieraus  Schlüsse  zu  ziehen  auf  ihre    volkswirtschaftliche 


—     3     — 

Bedeutung  wie  auf  die  Frage  der  Verbesserung  der  Organisation 
im  ganzen. 

Auch  in  meiner  Arbeit,  die  die  im  Großherzogtum  Baden 
bestehenden  Vermittlungseinrichtungen  behandeln  soll,  und  die 
sich  die  Aufgabe  einer  Erörterung  der  Zentralisation  des  badi- 
schen Arbeitsmarktes  stellt,  habe  ich  deshalb  im  ersten  Teile  zu- 
nächst hauptsächlich  die  gegenwärtige  Art  der  Organisation  der 
Arbeitsvermittlung  darzulegen  versucht,  um  dann  in  einem  zweiten 
Teil  die  Frage  der  Verbesserung  der  bestehenden  Einrichtungen, 
d.  h.  insbesondere  die  Frage  der  Zentralisation,  zu  erörtern.  Der 
Frage,  inwieweit  die  verschiedenen  badischen  Erwerbszweige  durch 
die  fortschreitende  Ausbildung  der  Vermittlungseinrichtungen  ge- 
fördert worden  sind,  habe  ich  nur  in  einzelnen  Phallen  nachgehen 
können.  Zu  einer  weitergehenden  Erörterung  dieser  Frage  habe 
ich,  abgesehen  von  fehlender  Literatur,  auch  in  dem  von  mir  be- 
nützten Aktenmaterial,  das  mir  seitens  des  Großherzogl.  Statisti- 
schen Landesamts,  sowie  seitens  des  Verbandes  badischer  Arbeits- 
nachweise und  der  städtischen  Arbeitsämter  in  Karlsruhe  und  Frei- 
burg in  entgegenkommender  Weise  zur  Verfügung  gestellt  worden 
ist,  näheres  nicht  finden  können.  Ich  bin  darnach  sogar  der  An- 
sicht, daß,  so  wertvoll  ein  gutorganisierter  Arbeitsnachweis  für 
die  verschiedenen  Erwerbszweige  auch  sein  mag,  man  seine  un- 
mittelbar fördernde  Kraft  für  die  einzelnen  Produktionszweige 
neben  andern  ausschlaggebenden  Momenten,  die  das  Auf  und 
Ab  der  Konjunktur  in  erster  Linie  bedingen,  nicht  überschätzen 
darf,  und  daß  die  Vorteile  einer  Verbesserung  der  Organisation 
der  Arbeitsvermittlung  in  anderem  zu  sehen  sind,  als  in  der  un- 
mittelbaren Produktionsförderune- 


Die  Träger  der  Organisation  des  badischen 
Arbeitsmarktes. 

Betrachtet  man  als  wesentlich  für  den  Arbeitsmarkt  eine  be- 
sondere Veranstaltung  zur  Vermittlung  von  Angebot  und  Nach- 
frage, einen  Organisationsträger,  so  liegt  es  nahe,  von  dem  Cha- 
rakter desselben  auch  auszugehen  bei  Erörterung  der  vielfältigen 
Erscheinungen  der  Arbeitsvermittlung,  ihn  gewissermaßen  als  Ein- 
teilungsprinzip zu  benützen.  Gegenüber  der  großen  Zersplitterung 
der  Nachweiseinrichtungen,  die  wir  gegenwärtig  vorfinden,  kann 
indessen  m.  E.  diese  mehr  oder  weniger  äußerliche  Einteilung 
nach  dem  Organisationsträger  höher  gestellten  Ansprüchen  nicht 
genügen,  obwohl  sie  zurzeit  noch  die  allgemein  übliche  ist  ^),  es 
muß  vielmehr  versucht  werden,  die  Darstellung  der  Arbeitsver- 
mittlung zugleich  nach  Begriffsmerkmalen  zu  gliedern,  die  den 
funktionellen  Bereich  und  die  Entwickelungstendenz  der  verschie- 
denen Vermittlungseinrichtungcn  zum  Ausdruck  bringen.  Ist  dann 
aber  bei  dieser,  in  erster  Linie  das  innere  Wesen  der  Nachweis- 
einrichtungen ins  Auge  fassenden  Einteilungsmethode,  ein  teilweises 
Zusammenfallen  der  Gruppierung  mit  der  nach  dem  Organisations- 
träger zu  beobachten,  so  ist  das  m.  E.  im  Interesse  der  Vereinfachung 
der  Darstellung  nur  zu  begrüßen,  darf  aber  nicht  wohl  zugunsten 
der  ersteren  Einteilung  als  entscheidend  angesehen  werden. 

Sucht  man  nun  nach  einem  Prinzip  für  die  Einteilung  der 
verschiedenen  Nachweiseinrichtungen  nach  ihrem  Wesen,  so  er- 
weist sich  der  Gegensatz  von  gemeinnützig  und  eigennützig  allein 

l)  Vgl.  Conrad,  Die  Organisation  des  Arbeitsnachweises  in  Deutschland, 
Leipzig  1904,  S.  23  ff.  Denkschrift  des  Kaiser),  staust.  Amtes  über  die  bestehen- 
den Einrichtungen  zur  Versicherung  gegen  die  Folgen  der  Arbeitslosigkeit,  Teil  II  : 
Der  Stand  der  gemeinnützigen  Arbeitsvermittlung  öffentlicher  und  privater  Ver- 
bände im  Deutschen  Reich,  Berlin  1906,  S.  5;  siehe  aber  auch  S.  133.  (Die 
Denkschrift  ist  im  folgenden  kurz  als  amtliche  Denkschrift  zitiert.) 


—     5     — 

als  unbrauchbar.  Ganz  abgesehen  davon,  daß  jeder  Träger  einer 
Nachweiseinrichtung  subjektiv  diese  als  der  Allgemeinheit  dienlich 
anzusprechen  pflegt,  würde  auch  bei  objektiver  Betrachtung  der 
Begriff  gemeinnützig  die  Nachweiseinrichtungen  der  Gemeinden 
und  die  von  Wohltätigkeitsvereinen  zusammenführen,  während 
doch  auf  der  Hand  liegt,  daß  beide  mehr  trennende  als  einigende 
Momente  aufzuweisen  haben.  Auch  hat  das  Wort  gemeinnützig 
heute,  in  der  Zeit  ausgeprägten  Persönlichkeitsbewußtseins,  einen 
Klang,  mit  dem  man  wohl  rechnen  muß,  und  der  manchen  von 
der  Benützung  eines  solchen  gemeinnützigen  Arbeitsnachweises 
abzuhalten  geeignet  ist  ^).  Ich  kann  mich  deshalb  auch  nicht  da- 
mit einverstanden  erklären,  wenn  das  neue  Stellenvermittlergesetz 
vom  2.  Juli  1910  in  §  2  von  »öffentlichen  gemeinnützigen«  Ar- 
beitsnachweisen spricht  und  hierunter  die  von  Gemeinden  usw. 
unterhaltenen  Nachweiseinrichtungen  versteht,  ich  trete  vielmehr 
dafür  ein,  daß  das  Wort  »gemeinnützig«  allein  in  Beziehung  auf 
die  sogenannte  charitative  Vermittlungstätigkeit  Verwendung  findet. 
Die  charitative  Arbeitsvermittlung  aber,  deren 
Träger  auch  in  Baden  mannigfaltiger  Art  sind,  möchte  ich  als 
eine  ihrem  Wesen  nach  zusammengehörende  und  eigene  Art  der 
Vermittlungseinrichtungen  hier  ansprechen. 

Auch  der  Begriff  »eigennützig«  scheint  mir  bei  objektiver 
Betrachtung  auf  die  verschiedensten  Nachweiseinrichtungen  zuzu- 
treffen, und  nicht  etwa  auf  die  gewerbsmäßigen  Stellenvermittler 
beschränkt  zu  sein.  Denn  es  kann  wohl  nicht  in  Abrede  gestellt 
werden,  daß  die  Arbeitgeber-  und  Arbeitnehmerverbände,  die 
die  von  ihnen  eingerichteten  Nachweisstellen  heute  noch  vielfach 
zu  Kampfzwecken  gebrauchen,  diese  in  ihrem  höchst  eigenen 
Interesse  nutzbar  machen.  Trotzdem  kann  nicht  zweifelhaft  sein, 
daß  die  gewerbsmäßigen  Stellenvermittler  eine 
besondere  Gruppe  der  Vermittlungseinrichtungen  bilden,  denn 
niemand  anders  macht  heute  aus  der  Arbeitsvermittlung  noch 
einen  Erwerb  wie  sie. 

Stellt  man  aber  die  charitative  Arbeitsvermittlung  und  die 
gewerbsmäßigen  Stellenvermittler  gesondert  heraus,  so  kann  man 
m.  E.  alle  übrigen  Nachweiseinrichtungen  nach  einem  andern  Ge- 
sichtspunkt restlos  aufteilen,  nämlich  darnach,  ob  ihr  Vermittlungs- 
bereich   ein    allgemeiner    oder    ein    fachlich  begrenzter  ist.     Legt 

l)  Vgl.  Jastrow,  Sozialpolitik  und  Verwaltungswissenschaf t,  Band  i,  Berlin 
1902,  S.   182/83. 


—     6     — 

man  diese  EinteilunQ  im  weiteren  zu<,'runde,  so  zcit^^t  sich  zugleich, 
daß  die  Träger  allgemeiner  Vermittluni^stätigkeit  grundsätzlich 
die  von  Gemeinden  und  bestimmten,  aus  öffentlichen  Mitteln 
unterstützten  Vereinen  unterhaltenen  Nachweiseinrichtungen  sind, 
während  sich  die  fachliche  Vermittlung  grundsätzlich  bei  den  von 
Arbeitgeber-  und  Arbeitnehmerseite  errichteten  Vermittlungsstellen 
findet.  So  komme  ich  zu  zwei  weiteren  Gruppen  von  Nachweis- 
einrichtungen, den  allgemeinen  öffentlichen  Arbeits- 
nachweisen und  den  Arbeitsnachweisen  der 
Arbeitgeber  und  der  Arbeitnehmer.  Wenn  es  dabei 
in  letzter  Zeit  bezüglich  der  allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnach- 
weise üblich  geworden  ist,  diese  auch  dann,  wenn  sie  nicht  eigent- 
lich in  gemeindlicher  Regie  stehen,  als  Arbeitsämter  zu  bezeich- 
nen, so  möchte  ich  mich  mit  diesem  das  Wesen  und  die  Ent- 
wickelungstendenz  der  allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnachweise 
gut  treffenden  Ausdruck  hier  durchaus  einverstanden  erklären, 
und  ich  bitte  in  meiner  folgenden  Darstellung  diesen  Ausdruck 
selbst  auch  dann  benützen  zu  dürfen,  wenn  es  sich  nicht,  bez. 
noch  nicht,  um  eigentliche  gemeindliche  Betriebe  handelt. 

Mit  dieser  Scheidung  der  Vermittlungseinrichtungen  des 
organisierten  Arbeitsmarktes  aber  in  4  Gruppen  ist  die  Frage 
noch  vollkommen  offen  gelassen,  in  welcher  Reihenfolge  am  zweck- 
mäßigsten die  Erörterung  der  verschiedenen  Nachweisarten  zu 
erfolgen  hat.  Da  ich  mir  in  meiner  Arbeit,  wie  gesagt,  nicht  nur 
die  Aufgabe  gestellt  habe,  die  gegenwärtige  Organisation  auf 
dem  badischen  Arbeitsmarkte  zur  Darstellung  zu  bringen,  son- 
dern insbesondere  auch  die  Frage  seiner  Zentralisation  zu  erörtern, 
so  kann  m.  E.  für  die  Reihenfolge  meiner  Ausführungen  das  ge- 
schichtliche Werden  der  einzelnen  Vermittlungsarten  an  sich  nicht 
maßgebend  sein,  vielmehr  muß  an  erster  Stelle  als  ausschlag- 
gebend erscheinen  die  organisatorische  und  sozialpolitische  Be- 
deutung der  Vermittlungsgruppe.  Darnach  komme  ich  dahin,  die 
badischen  Vermittlungseinrichtungen  in  folgender  Reihenfolge  zu 
besprechen :  Allgemeine  öffentliche  Arbeitsnachweise,  Arbeits- 
nachweise der  Arbeitgeber  und  der  Arbeitnehmer,  charitative 
Arbeitsfürsorge  und  gewerbsmäßige  Stellenvermittlung.  Bezüglich 
des  geschichtlichen  Entstehens  der  einzelnen  Vermittlungsarten 
aber  muß  auf  das  in  den  betr.  Abschnitten  selbst  hierüber  Ge- 
sagte Bezug  genommen  werden. 


A.   Die   allgemeinen    öffentlichen    Arbeitsnachweise. 

I.  Die  Entstehung  und  der  äußere  Aufbau. 

Zu  Beginn  der  90er  Jahre  des  vorigen  Jahrhunderts,  da  die 
ersten  allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnachweise  im  Großherzog- 
tum entstanden,  herrschte  auf  dem  badischen  Arbeitsmarkte  noch 
weitgehende  Zersplitterung  in  der  Organisation  der  Arbeitsver- 
mittlung vor.  Inserat  und  Umschau  mit  all  ihren  verderblichen 
Folgen  stehen  neben  den  Bestrebungen  zur  weiteren  Organisation 
des  Arbeitsmarktes,  die  auf  charitativer  Grundlage  von  gemein- 
nützigen Vereinen  usw.  unternommen  werden,  und  neben  den 
wenig  bedeutsamen  Einrichtungen,  die  von  den  Innungen  usw. 
nach  alter  Tradition  weiter  geführt  wurden.  Und  doch  war  auf 
dem  badischen  Arbeitsmarkte  aus  Mangel  einer  Großindustrie 
von  scharfen  Kämpfen  um  eine  organisierte  Arbeitsvermittlung 
zu  jener  Zeit  noch  nichts  zu  spüren.  Die  Form  der  individuellen 
Arbeitssuche  schien  für  Baden  bleibende  Bedeutung  anzunehmen, 
soweit  nicht  die  gewerbsmäßige  Stellenvermittlung  das  Feld  be- 
herrschte. 

Es  ist  nun  von  Bedeutung  festzustellen,  daß  die  ersten  all- 
gemeinen öffentlichen  Arbeitsnachweise  im  Großherzogtum  Baden, 
Karlsruhe  (1891)  und  Freiburg  (1892),  als  Vereinsnachweise  ge- 
gründet wurden.  Als  Beispiel  dafür,  welche  Vereine  sich  zur 
Gründung  eines  allgemeinen  Arbeitsnachweises  in  jener  Zeit  zu- 
sammentaten, möchte  ich  hier  die  Mitglieder  des  Freiburger  Ar- 
beitsnachweises anführen  :  es  waren  dies  der  Arbeiterbildungs- 
verein, der  katholische  Arbeiterverein,  der  Luisen-Frauenverein, 
der  evangelische  Frauenunterstützungsverein,  der  Verein  gegen 
Haus-  und  Straßenbettel,  die  Herberge  zur  Heimat,  der  Bezirks- 
schutzverein für  entlassene  Strafgefangene,  der  Kaufmännische 
Verein,  der  Landwirtschaftliche  Verein,  die  vereinigten  Handwerks- 
innungen (Küfer-,  Schlosser-,  Schneider-,  Schuhmacher-,  Schreiner-, 
Bäcker-,  Glaser-Innung),  die  Handelskammer  und  der  Gewerbever- 
ein. Schon  aus  dieser  Mitgliederaufzählung  kann  man  ersehen,  wel- 
ches Interesse  im  einzelnen  die  Vereine  usw.  an  der  Gründung  all- 
gemeiner öffentlicher  Arbeitsnachweise  gehabt  haben  mögen.  Es 
war  entweder  ein  unmittelbares  Interesse  an  der  Vermittlungstätig- 
keit des  Arbeitsnachweises  oder  ein  mittelbares  an  der  Verbesse- 


rung  der  Organisation  des  Arbeitsmarktes.  Dabei  mag  das  mittel- 
bare Interesse  an  Verbesserung  der  Arbeitsvermittlung  sogar  über- 
wogen haben.  Aus  der  Interessentenaufzählung  ergibt  sich  weiter 
aber  auch  zugleich,  daß  in  Baden  von  Anfang  an  Arbeitgeber 
wie  Arbeitnehmer  den  Vereinsarbeitsnachweisen  angehörten,  wo- 
durch in  bedeutsamer  Weise  der  Parität  der  Verwaltung  Vor- 
schub geleistet  wurde. 

Mit  der  Gründung  der  ersten  allgemeinen  öffentlichen  Ar- 
beitsnachweise als  Vereinsarbeitsnachweise  hängt  es  auch  zu- 
sammen, daß  sowohl  beim  Publikum  wie  auch  bei  den  gründen- 
den Vereinen  selbst  sich  zunächst  die  Anschauung  bemerkbar 
machte,  diese  Vereinsnachweise  müßten  in  erster  Linie  zugunsten 
der  Vereinsmitglieder  Arbeit  vermitteln.  Es  ist  indessen  diese 
Anschauung  in  der  Praxis  keineswegs  eingehalten  und  bald  auch 
grundsätzlich  aufgegeben  worden. 

Was  nun  die  Vermittlungsergebnisse  dieser  Vereinsarbeits- 
nachweise anfangs  der  90er  Jahre  des  vorigen  Jahrhunderts  be- 
trifft, so  konnten  sie  naturgemäß  nur  geringe  sein.  Wird  dies 
gemeinhin  insbesondere  auf  die  Beschaffenheit  der  Arbeiterkund- 
schaft, d.  h.  auf  den  Mangel  an  gelernten  tüchtigen  Arbeitern, 
die  den  Vereinsarbeitsnachweis  nicht  in  Anspruch  nahmen,  zu- 
rückgeführt, so  glaube  ich  weiterhin  als  Ursache  der  ersten  Minder- 
erfolge neben  der  noch  in  der  Entwicklung  befindlichen  Organi- 
sation auch  einmal  die  mangelhafte  Beschaffenheit  der  Vermitt- 
lungsräume, sowie  zweitens  vornehmlich  die  damalige  allgemeine 
Uebung,  den  Arbeitsnachweis  im  Nebenamt  leiten  zu  lassen,  an- 
sprechen zu  sollen. 

Einen  Wendepunkt  in  der  Entwickelung  der  allgemeinen 
öffentlichen  Arbeitsnachweise  bedeutet  ihre  Uebernahme  in  städtische 
Regie.  Vorbereitet  war  dieser  Schritt  meist  schon  dadurch,  daß 
die  Städte  allmählich  beträchtliche  Zuschüsse  bar  oder  in  miet- 
freier Ueberlassung  von  Räumlichkeiten  den  Vereinsnachweisen 
in  Anbetracht  des  Nutzens  gewährt  hatten,  den  die  Gemeinde 
selbst  durch  die  geregelte  Arbeitsvermittlung  der  Anstalten  hatte. 
Ich  denke  hier  vor  allem  an  die  Entlastung  der  Armenkasse  und 
die  Sicherung  des  wirtschaftlichen  Lebens  in  der  Stadt.  Es  kann 
jedoch  für  diesen  so  überaus  wichtigen  Vorgang  kein  allgemein 
bestimmter  Zeitpunkt  in  Baden  angegeben  werden  ;  so  wurde  der 
Vereinsnachweis  in  Freiburg  bereits  1897,  der  in  Karlsruhe  erst 
1905  und  der  in  Mannheim  gar  erst  1906  in  städtische  Regie  über- 


—     9     — 

nommen.  Dann  wurden,  nachdem  die  Erkenntnis  von  den  kommu- 
nalen Vorteilen  allgemeiner  öffentlicher  Arbeitsnachweise  einmal 
weiteren  Fuß  gefaßt  hatte,  eine  größere  Anzahl  von  Arbeitsnach- 
weisen von  vornherein  als  städtische  Anstalten  gegründet,  so  als 
erste  die  Lahrer  Anstalt  im  Jahre   1895. 

Die  Uebernahme  in  städtische  Regie  brachte  den  Arbeits- 
nachweisen zunächst  eine  wesentliche  finanzielle  Stärkung,  indem 
nunmehr  die  Gemeinde  in  erster  Linie  für  die  Kosten  aufzukommen 
hat.  Sie  brachte  ferner  eine  weitere  Ausbildung  und  Befestigung 
der  Parität  der  Verwaltung,  indem  die  Leitung  der  Geschäfte  in 
die  Hand  eines  städtischen  Beamten  gelegt  wurde,  der  zudem 
regelmäßig  einer  besonderen  Verwaltungskommission  unterstellt 
ist,  die  unter  Vorsitz  eines  Bürgermeisters  aus  Vertretern  der 
Arbeitgeber  und  Arbeiter,  meist  in  gleicher  Anzahl,  gebildet  wird. 
Dadurch  wurde  aber  der  städtische  Arbeitsnachweis  zugleich  den 
Parteikämpfen  und  Einflüssen  im  Stadtregiment  entzogen  und  die 
Herausbildung  von  Zuständen  unmöglich,  wie  sie  sich  bei  den 
französischen,  unter  dem  Einfluß  der  Arbeitersyndikate  stehenden 
»Bourses  du  travail«  gezeigt  haben  ^);  endlich  hat  die  Uebernahme 
in  städtische  Regie  die  Weiterentwicklung  der  Arbeitsnachweise 
zu  besonderen  kommunalen  Arbeitsämtern  möglich  gemacht,  denen 
noch  weitergehende  Aufgaben,  wie  Wohnungsnachweis,  Rechts- 
auskunftstelle und  Arbeitslosenfürsorge,  angegliedert  wurden. 

Wenn  gleichwohl  in  Baden  zurzeit  noch  drei  Vereinsarbeits- 
nachweise (Schopfheim,  Konstanz  und  Waldshut)  fortbestehen,  so 
ist  das  einmal  aus  Gründen  der  historischen  Entwickelung  zu  er- 
klären, die  noch  nicht  abgeschlossen  ist ;  weiter  ist  wohl  zu  be- 
achten, daß  dem  Vereinsnachweise  Konstanz  (und  ähnlich  Walds- 
hut) als  Filialen  die  (1888/89  gegründeten)  oberbadischen  Naturai- 
verpflegungsstationen  angegliedert  worden  sind,  und  daß  deshalb 
einer  Kommunalisierung  hier  besondere  Schwierigkeiten  entgegen- 
stehen mögen.  Es  scheint  mir  aber  trotzdem  die  Frage  nach  der 
zweckmäßigsten  Organisation  der  allgemeinen  öff"entlichen  Arbeits- 
nachweise in  Baden  durch  die  eingetretene  Kommunalisierung  ge- 
lö.st  zu  sein,  abgesehen  von  allem  bereits  Vorgetragenen  auch  aus 
dem  Grunde,  weil  bei  weiterer  Ausbreitung  der  öffentlichen  all- 
gemeinen Arbeitsnachweise  sich  in  andern  Städten  kaum  mehr 
Vereine    usw.    finden    würden,    die    als   Träger    des    allgemeinen 


i)  Vgl.  E.  H.  Meyer,    Entwicklung    und  gegenwärtiger  Stand  der  Arbeitsver- 
mittlung, Hannover   1912,  S.  205. 


—      lo      

öffentlichen  Arbeitsnachweises  einzutreten  gewillt  wären.  Der 
allgemeine  öfifentliche  Arbeitsnachweis  ist  für  Baden  zur  aner- 
kannten Gemeindeaufgabe  geworden. 

Zur  Förderung  ihrer  gemeinsamen  Interessen  hat  sich  die 
überwiegende  Mehrzahl  der  badischen  allgemeinen  öffentlichen 
Arbeitsnachweise  bereits  im  Jahre  1896  zu  einem  Landesverbände 
zusammengeschlossen  :  dem  Verband  badischer  Arbeitsnachweise'). 
Die  konstituierende  Versammlung  fand  am  4.  Mai  1896  zu  Karls- 
ruhe statt.  Dabei  verdient  besonders  hervorgehoben  zu  werden, 
daß  den  Verband  badischer  Arbeitsnachweise  die  Arbeitsnach- 
weise selbst  ins  Leben  gerufen  haben,  während  bekanntlich  Nord- 
deutschland vielfach  das  umgekehrte  Verfahren  einschlug,  zuerst 
den  Verband  und  dann  die  Arbeitsnachweise.  Auch  der  Cha- 
rakter des  badischen  Verbandes  als  freier,  die  Selbständigkeit 
der  ]\Iitglieder  unberührt  lassender  Vereinigung,  bedarf  im  Ge- 
gensatz zu  andern  Verbänden  hier  besonderer  Erwähnung.  Bei 
der  tatsächlichen  Einwirkung  der  Verbandsleitung  geht  die  Un- 
gebundenheit  der  badischen  Anstalten  aber  nicht  so  weit,  daß 
lediglich  eine  bloße  Verkehrsvereinigung  vorläge. 

Dem  Verbände  badischer  Arbeitsnachw^eise  gehören  sämt- 
Hche  18  allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnachweise  Badens  —  und 
nur  diese  — ,  sowie  die  badische  Landwirtschaftskammer  an.  Nach 
der  Zeit  der  Eröffnung  geordnet  (die  nicht  immer  mit  der  Zeit  des  Ein- 
tritts in  den  Verband  zusammenfällt)  sind  dies  die  folgenden  Anstal- 
ten:  Karlsruhe  (1891),  Freiburg  (1892),  ^^lannheim  und  Schopfheim 
(1893),  Pforzheim  (1894),  Lahr,  Offenburg,  Lörrach  und  Konstanz 
(1895),  Heidelberg  und  Waldshut  (1896),  Müllheim  (189S),  Bruch- 
sal (1903),  Durlach  und  Weinheim  (1906),  Rastatt  (1907),  Baden 
(1908)  und  Eberbach  (1909).  Geplant  ist  zur  Zeit  die  Errichtung 
einer  w'eiteren  Anstalt  in  Villingen. 

Nach  seiner  Satzung  hat  sich  der  Verband^)  zur  Erreichung 

1)  Der  Verband  hieß  zunächst  >Verband  der  Anstalten  für  Arbeitsnachweis 
im  Großherzogtum  Baden«  ;  die  ersten  Statuten  sind  im  Anhang  des  Jahresberichtes 
des  Verbandes  von  1896  abgedruckt,  die  neue  Satzung  im  Geschäftsbericht  für 
1907/11,  S.  9  ff. 

2)  Die  Organe  des  Verbandes  sind  die  Verbandsversammlung  und  der  Ver- 
bandsausschuß. Die  Verbandsversammlung  besteht  aus  den  gesetzlichen  oder  sta- 
tutarischen Vertretern  der  Verbandsmitglieder  oder  deren  Bevollmächtigten.  Von 
den  Verbandsversammlungen  zu  scheiden  sind  die  Verwalterkonferenzen,  die  neben 
den  Verbandsversammlungen  abgehalten  wurden.  Ihr  Zweck  war,  die  Arbeits- 
nachweisbeamten durch  geeignete  Vorträge  und  anschließende  Debatte  mit  der  Ge- 


—     II     — 

seiner  Zwecke  folgende  besondere  Aufgaben  gestellt :  Errichtung 
neuer  Arbeitsnachweise  nach  Bedürfnis,  Verständigung  über  ge- 
meinsame Grundsätze  der  Berichterstattung  und  Verwaltung  (auch 
durch  Veranstaltung  von  Besprechungen),  sodann  Pflege  der  Sta- 
tistik über  die  Ergebnisse  der  Verbandsarbeitsnachweise,  Statistik 
der  Arbeitslosen  im  Verbandsgebiete,  endlich  die  Vertretung 
aller  gemeinsamen  Interessen  gegenüber  den  Behörden  und  im 
Verbände  deutscher  Arbeitsnachweise. 

Hat  sich  der  Zusammenschluß  der  badischen  allgemeinen  öffent- 
lichen Arbeitsnachweise  zu  einem  Verbände  bewährt  ?  Diese  Frage 
kann  schon  an  dieser  Stelle  zweifellos  bejaht  werden.  Es  sei  hier  in 
Kürze  gestattet  anzuführen,  was  der  Verband  badischer  Arbeits- 
nachweise bisher  in  seiner  nun  17 jährigen  Tätigkeit  geleistet  hat; 
dabei  kann  jedoch  nur  das  Wesentliche,  auf  keinen  Fall  jeder 
Erfolg  des  Verbandes  hervorgehoben  werden ;  das  würde  zu  weit 
führen.  An  erster  Stelle  möchte  ich  sein  durchaus  erfolgreiches 
Bestreben  stellen,  unter  Zurückdrängen  insbesondere  der  gewerbs- 
mäßigen Stellenvermittler  die  Arbeitsvermittlung  in  Baden  im 
öffentlichen  Arbeitsnachweis  zu  konzentrieren  und  durch  Heraus- 
gabe von  Vakanzenlisten  interlokal  zu  organisieren.  Dieses  Be- 
streben hat  in  den  nächstbeteiligten  badischen  Kreisen  der  Ar- 
beitsnachweise selbst,  wie  überhaupt  in  der  badischen  arbeitenden 
Bevölkerung  noch  nicht  die  gebührende  Anerkennung  gefunden. 
Als  weiterer  großer  Erfolg  der  Verbandstätigkeit  muß  sodann  der, 

schäftsgebahrung  vertraut  zu  machen.  Die  Verbandsversammlung  vom  8.  Mai 
1899  beschloß  jedoch,  daß  in  Zukunft  die  Versammlungen  der  Anstaltsverwalter 
gleichzeitig  mit  der  Verbandsversammlung  stattfinden  sollen.  Seit  1900  finden  denn 
auch  gewöhnlich  die  beiden  Versammlungen  gleichzeitig  statt.  (Der  Wert  dieser 
Verwalterkonferenzen  erscheint  mir  nicht  erheblich.  Auf  keinen  Fall  ist  damit  für 
Baden  die  Frage  der  Lösung  näher  gebracht,  auf  welche  Weise  tüchtige  Verwalter 
zu  gewinnen  sind.)  Der  Verbandsausschuß,  der  1910  an  die  Stelle  des  geschäfts- 
führenden Vororts  —  bis  dahin  Karlsruhe  —  gesetzt  wurde,  wird  von  der  Ver- 
bandsversammlung je  auf  drei  Jahre  aus  der  Zahl  obiger  Vertreter  gewählt;  er  be- 
steht aus  fünf  Mitgliedern  und  wählt  aus  seiner  Mitte  einen  Vorsitzenden  und 
dessen  Stellvertreter  (zurzeit  ist  Vorsitzender  des  Ausschusses  Bürgermeister  Dr. 
Horstmann  in  Karlsruhe).  Die  Verbandsversammlung  soll  jährlich  einmal  von  dem 
Ausschußvorsitzenden  einberufen  werden.  Beschlüsse  der  Verbandsversammlung 
und  des  Verbandsausschusses  können  auch  im  Wege  schriftlicher  Abstimmung  ge- 
faßt werden,  falls  dagegen  von  keinem  Mitgliede  Widerspruch  erhoben  wird.  Die 
Veröffentlichungen  des  Verbandes  erfolgen  in  der  Zeitschrift  des  Verbandes  deut- 
scher Arbeitsnachweise  »Der  Arbeitsnachweis  in  Deutschland«  (früher  in  der  Zeit- 
schrift »Der  Arbeitsmarkt«)  sowie  in  den  vom  Verbandsausschuß  zu  bestimmenden 
Zeitungen. 


—       12       — 

allerdings  unter  Mitwirkung  der  Staatsverwaltung,  nunmehr  glück- 
lich verwirklichte  Grundsatz  der  Unentgeltlichkeit  der  Arbeits- 
vermittlung gelten.  Wer  die  finanziellen  Kämpfe  unserer  badi- 
schen Arbeitsnachweise,  insbesondere  aus  den  Vereinszeiten,  kennt, 
weiß,  daß  die  Annahme  dieses  Grundsatzes  mit  ganz  geringen 
Ausnahmen  manchmal  Sein  oder  Nichtsein  des  Arbeitsnachweises 
berührt  hat.  Diesen  zwei  großen,  bleibenden  Verdiensten  des 
Verbandes  stehen  eine  Menge  kleiner  Erfolge  ebenbürtig  zur  Seite : 
es  sind  dies  die  Vereinheitlichung  der  Statistik,  die  Erhöhung  des 
Staatszuschusses,  die  Einführung  der  Fahrpreisermäßigung,  die 
verstärkte  Vermittlung  von  minderqualifizierten  Arbeitern,  die  Orga- 
nisation der  Lehrstellenvermittlung  usw.  Nicht  unerw-ähnt  bleiben 
darf  auch  die  Förderung  der  Reklame.  Wohl  fand  bis  in  die 
Neuzeit  hinein  die  Arbeit  des  Verbandes  nicht  immer  die  allge- 
meine Zustimmung,  aber  aus  kleinem  heraus  muß  auch  hier  großes 
geschaffen  werden!  Mögen  deshalb  die  badischen  Arbeitsnach- 
weise stets  zu  ihrem  Verbände  stehen ! 

Im  Jahre  1898  ist  dann  der  Verband  badischer  Arbeitsnach- 
W'eise  dem  Verband  deutscher  Arbeitsnachweise  beigetreten;  da- 
mit sind  gemäß  den  Satzungen  des  Reichsverbandes  sowohl  der 
badische  Verband  selbst,  wie  dessen  Einzelanstalten  Mitglieder 
des  deutschen  Verbandes  geworden.  Der  badische  Verband  ist 
im  deutschen  Verbandsausschuß  durch  seinen  Verbandsvorsitzenden 
vertreten.  Aus  der  Vorgeschichte  des  Beitritts  darf  hier  nicht 
unerwähnt  bleiben,  wie  die  vom  deutscTien  Verbände  ausgegangene 
Aufforderung  zum  Beitritt  in  Süddeutschland  verschiedene  Mei- 
nungen auslöste.  Direkt  gegen  den  Anschluß  richtete  sich  ein 
Plan  der  württembergischen  Anstalten,  die  einen  besonderen  süd- 
deutschen Arbeitsnachweisverband  gründen  wollten;  Bayern  nahm 
eine  abwartende,  zögernde  Stellung  ein.  Jedoch  fand  der  würt- 
tembergische Vorschlag  in  Bayern  keinen  Beifall.  Es  kann  wohl 
gesagt  werden,  daß  der  Beschluß  des  badischen  Verbandes  zu- 
gunsten des  Reichsverbandes  den  Ausschlag  gab  ein  Verdienst 
des  badischen  Verbandes,  das  mancher  nicht  an  die  letzte  Stelle 
setzen  möchte. 

2.  Die  Vermittlungstätigkeit. 

Ich  gehe  nunmehr  zur  Erörterung  des  inneren  Ausbaus  der  all- 
gemeinen öffentlichen  Arbeitsnachweise  in  Baden  über  und  betrachte 
deren  Vermittlungstätigkeit    unter    folgenden    4   Gesichtspunkten : 


—     13     — 

a)  die  Technik  der  Vermittlung, 

b)  das  Ergebnis  der  Vermittlung  in  seiner  Gliederung, 

c)  die  öffentlichen  Arbeitsnachweise  bei  Lohnstreitigkeiten 
(Streikklausel), 

d)  der  Arbeitsnachweis  und  die  Arbeitslosigkeit. 

a)  Die  Technik  der  Vermittlung. 

Wie  kommt  eine  Vermittlung  zustande,  und  zeigt  die  badische 
Vermittlungspraxis  besondere  Eigentümlichkeiten  ? 

Grundlegend  für  jede  Vermittlungstätigkeit  ist  das  Registrier- 
system, d.  h.  die  Art  und  Weise,  wie  die  Stellengesuche  und 
Stellenangebote  für  die  Vermittlung  bereit  gelegt  werden.  Da 
ist  nun  zu  sagen,  daß  die  allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnachweise 
in  Baden  sich  grundsätzlich  dem  sog.  Karten-  oder  Zettelsystem 
zugewendet  haben,  wenn  auch  natürlich  dieses  System  zurzeit 
noch  nicht  vollständig,  d.  h.  bei  einzelnen  kleineren  Anstalten 
noch  nicht  allgemein,  zur  Einführung  gelangt  ist^).  Mag  auch 
anderwärts  der  Streit  zwischen  dem  sog.  Listen-  oder  Buch-  und 
dem  Karten-  oder  Zettelsystem  noch  nicht  ausgetragen  sein,  für 
die  badische  Praxis  ist  diese  Frage  als  erledigt  zu  betrachten. 
Das  Kartensystem  hat  sich  unter  dem  Vorgange  der  Freiburger 
Anstalt  in  Baden  allgemeine  Anerkennung  verschafft.  Die  mit 
ihm  gemachten  vorzüglichen  Erfahrungen  lassen  ein  Abgehen  der 
badischen  Praxis  von  diesem  System  als  ausgeschlossen  erscheinen. 
Indem  ich  mich  hiernach  einer  näheren  Erörterung  der  Vor-  und 
Nachteile  dieses  Systems  an  dieser  Stelle  wohl  enthalten  kann, 
möchte  ich  doch  insbesondere  auf  seine  Vorzüge  bei  Aufstellung 
der  Arbeitsnachweisstatistik  kurz  hinweisen^).  Auch  die  badische 
Praxis  der  allgemeinen  öffentUchen  Arbeitsnachweise  in  Baden 
ist  zunächst  von  dem  einfachen  Buch-  oder  Listensystem  ausge- 
gangen, das  seinerzeit  im  Zusammenwirken  zwischen  dem  Stati- 
stischen Landesamt  und  der  Verbandsleitung  für  alle  Verbands- 
anstalten einheitlich  gestaltet  wurde.  Schwierigkeiten  ergaben  sich 
indessen  hierbei  insbesondere  für  die  Erfassung  der  sog.  Passanten, 
die  zunächst  in  die  Arbeitnehmer-Berufsfolien  usw.  eingestichelt, 
und   erst   dann  namentlich  in  das  Arbeitnehmerbuch  eingetragen 

i)  Vgl.  Geschäftsbericht  des  Verbandes  für   1912,   S.    13. 

2)  Vgl.  hierzu  meine  Ausführungen  über  »Die  Entwicklung  der  Statistik  der 
allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnachweise  in  Baden«  in  der  Zeitschrift  für  Badi- 
sche Verwaltung  und  Verwaltungsrechtspflege   1913,  S.    195  ff. 


—      14     — 

werden  sollten,  wenn  ihnen  alsbald  Arbeit  zugewiesen  weiden 
konnte.  Mit  Einführung  des  Kartensystems  bei  den  größeren 
Anstalten  (1906)  konnte  sehr  zum  Vorteil  der  Richtigkeit  und  Voll- 
ständigkeit der  Arbeitsnachweisstatistik  diese  Praxis  geändert  und 
die  gleichmäßige  Aufnahme  aller  Arbeitsgesuchc  mit  Erfolg  tat- 
sächlicher Durchführung  gefordert  werden.  Damit  verschwanden 
die  sog.  Passanten  aus  der  Statistik '). 

Von  größerer  sozialpolitischer  Wichtigkeit  und  zugleich  von 
weittragender  Bedeutung  für  eine  erfolgreiche  Vermittlungstätig- 
keit ist  gegenüber  dem  Registriersystem  das  bei  der  Reihen- 
folge der  Zuweisungen  einzuschlagende  Verfahren.  Die 
badische  Praxis  steht  bei  Wahrung  aller  Parität  auf  dem  Stand- 
punkt vorhergehender  Individualisierung,  d.  h.  grundsätzlicher  Ver- 
mittlung von  nur  passenden  Persönlichkeiten  in  passende  Stellen. 
Es  ist  gewiß  zweifellos,  daß  hierdurch  dem  Geschick  und  dem 
Takt  der  Anstaltsbeamten  ein  weiter  Spielraum  eröffnet  ist.  Es 
ist  andererseits  aber  auch  durch  die  langjährige  Erfahrung  der 
Pforzheimer  Bijouterievermittlung  erwiesen,  daß  der  allgemeine 
öffentliche  Arbeitsnachweis  in  Baden  sehr  wohl  in  der  Lage  ist,  zu 
individualisieren.  Richtiger  Ansicht  nach  verstößt  der  Arbeitsnach- 
weis hier  auch  in  nichts  gegen  die  sog.  Parität,  denn  ein  anderes 
Vorgehen  wäre  oft  gerade  unzweckmäßig,  wenn  den  Arbeitsuchen- 
den unnötige  Gänge  usw.  erspart  bleiben  sollen.  Erst  dann  wird 
die  Reihenfolge  der  Anmeldungen  in  Betracht  zu  kommen  haben, 
wenn  für  eine  Stelle  mehrere  gleichgeeignete,  gleichwertige  Arbeit- 
suchende vorgemerkt  sind.  In  diesem  Falle  wird  wohl  der  Be- 
amte grundsätzlich  verheiratete  wie  ortsansässige,  sowie  längere 
Zeit  arbeitslose  Arbeiter  vorzuziehen  haben.  Indessen  mag  hier 
ausdrücklich  festgestellt  werden,  daß  für  die  im  Verband  badischer 
Arbeitsnachweise  vereinigten  Anstalten  keinerlei  bindende  Vor- 
schriften hinsichtlich  der  Reihenfolge  der  Zuweisungen  bestehen  ^). 
Es  ist  jeder  Anstalt  überlassen,  wie  sie  nach  Maßgabe  ihrer  örtlichen 
Verhältnisse  verfahren  will.  So  können  selbstverständlich  auch 
bei  Angliederung  von  Fachabteilungen  besondere  Vorschriften  für 
die  Art  der  Zuweisung  aufgestellt  werden. 

F"ür  ein  technisch  2:utes  Vermitteln  von  nicht  zu  unterschätzen- 


1)  Jahresbericht  des  Verbandes  für  1904/6,  S.  15,  über  weitere  Vorteile  bei 
allgemeiner  Durchführung  des  Kartensystems,  vgl.  Geschäftsbericht  für  1912, 
S.   12  ff.,  S.  24  fr. 

2)  Vgl.  Jahresbericht   1904/05,  S.  20. 


-     15     — 

der  Bedeutung  ist  ferner  die  Person  des  Schalterbeamten  selbst, 
so  daß  ich  in  diesem  Zusammenhange  auch  die  Frage  der  zweck- 
mäßigen Ausbildung  der  Nachweisbeamten  streifen  möchte, 
die  mit  den  Fortschritten  der  allgemeinen  öffentlichen  Vermittlung 
immer  mehr  an  Bedeutung  gewinnt,  und  die  da,  wo  der  zuwei- 
sende Beamte  individualisieren  muß,  von  ausschlaggebender  Be- 
deutung ist.  Die  badische  Vcrbandsleitung  steht  hier  auf  dem 
Standpunkte,  daß  der  Besuch  von  Fortbildungskursen,  wie  sie  an 
einzelnen  Orten  außerhalb  Badens  für  Vermittlungsbeamte  bereits 
eingerichtet  worden  sind,  zu  empfehlen  ist.  Sie  ist  sogar  bereit,  die 
Kosten  der  Teilnahme  erforderlichenfalls  auf  die  Verbandskasse  zu 
übernehmen.  Ferner  beabsichtigt  die  Verbandsleitung,  gegebenen- 
falls in  den  einzelnen  Wirtschaftsgebieten  des  Landes  erfahrene  An- 
staltsleiter zu  benennen,  bei  denen  sich  die  jüngeren  Beamten 
Rats  erholen  können.  Die  badische  Verbandsleitung  ist  grund- 
sätzlich auch  geneigt,  die  Kosten  für  etwaige  Bereisungen  der 
Nachbaranstalten  durch  jene  Anstaltsleiter  zu  übernehmen  (Ge- 
schäftsbericht für  191 2  S.  19).  Von  all  dem  abgesehen  wird  aber 
m.  E.  jeder  öffentliche  Arbeitsnachweis  den  größten  Wert  darauf 
legen  müssen,  seine  Vermittlungsbeamten  nach  seinen  örtlichen 
Bedürfnissen  selbst  heranzubilden  und  sich  insbesondere  den  Zu- 
gang sorgfältig  auszuwählen.  Der  Vermittlungsbeamte  muß  ge- 
wandt, frisch  und  aufmerksam  sein.  Insbesondere  muß  der  lei- 
tende Beamte  eines  kommunalen  Arbeitsnachweises  neben  Liebe 
zur  Sache  auch  ein  gewisses  organisatorisches  Talent  besitzen,  sonst 
wird  auch  die  beste  fachliche  Ausbildung  nicht  viel  Früchte  tragen. 
Zur  Technik  eines  erfolgreichen  Vermittlungsgeschäftes  ge- 
hört endlich  auch  die  Reklame,  und  es  bedarf  wohl  keiner  be- 
sonderen Erörterung,  daß  Reklame  für  die  allgemeinen  öffentlichen 
Arbeitsnachweise,  vor  allem,  so  lange  sie  im  Wettbewerb  mit 
anderen  Nachweiseinrichtungen,  insbesondere  den  gewerbsmäßigen 
Stellenvermittlern  stehen,  eine  unbedingte  Notwendigkeit  ist  ^). 
Diese  Notwendigkeit  ist  denn  auch  von  den  badischen  allgemeinen 
öffentUchen  Arbeitsnachweisen  erkannt,  und  häufige  Reklame  in 
verschiedenster  Art,  durch  Inserat,  Anschlag  usw.  gemacht  wor- 
den. Auch  der  badische  Verband  hat  schon  frühzeitig  der  Re- 
klame   sein  besonderes  Augenmerk    zugewendet  und   die  Druck- 


i)  Vgl.  das  Referat  Jastiows  über  >Die  Reklame  im  Dienste  der  allgemeinen 
öffentlichen  Arbeitsnachweise*  auf  der  VII.  Verbandsversammlung  deutscher  Arbeits- 
nachweise zu  Wiesbaden  1905,  Schriften  des  Verbandes  Nr.  6,  S.  60  ff. 


—     i6     — 

leguncT  eines  einheitlichen  Plakats  für  die  Verbandsanstalten  in 
die  Wege  geleitet,  das  indessen  damals  —  1903  —  nicht  allge- 
meine Anerkennung  fand.  Neuerdings  ist  seitens  des  Verbandes 
die  Herausgabe  eines  sehr  hübschen,  künstlerisch  ausgeführten 
und  kolorierten  Verbandsplakates  erfolgt,  das  gleichzeitig  auf  ge- 
werbliche und  landwirtschaftliche  Vermittlung  hinweist  und  dem 
mit  Unterstützung  der  staatlichen  Behörden  weiteste  Verbreitung 
im  Großherzogtum  zuteil  geworden  ist.  Gleichzeitig  konnte  der 
letzte  Verbandsbericht  mitteilen,  daß  die  Großherzogliche  Gene- 
raldirektion der  Staatseisenbahnen  in  dankenswerter  Weise  sich 
bereit  erklärt  habe,  den  Anschlag  von  Ankündigungen  des  Ver- 
bandes an  Bahnhöfen  zu  gestatten,  und  daß  sie  voraussichtlich 
auch  Anschläge  in  den  Personenwagen  zulassen  werde.  ^) 

b)  Das   Ergebnis    der    Vermittlung    in    seiner 
Gliederung. 

Für  die  Betrachtung  der  Gliederung  der  Vermittlungsergeb- 
nisse der  bad.  allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnachweise  wollen 
wir   die  Ziffern  des  Jahres   1912  heranziehen^). 

Nach  den  Statistischen  Mitteilungen  über  das  Großh.  Baden 
Jahrgang  191 3,  Januarnummer,  waren  die  Vermittlungsergebnisse 
der  einzelnen  Verbandsanstalten  im  Jahre   1912  folgende  : 


Anslalten 

Offene  Stellen 

Arbeitsuchende 

Vermittlun 

Freiburg 

23373 

44194 

21333 

Mannheim 

21583 

41 162 

17317 

Karlsruhe 

301 12 

40874 

22168 

Pforzheim 

29883 

35595 

22923 

Heidelberg 

8601 

18130 

6445 

Konstanz 

7932 

16440 

5669 

Baden 

S910 

12096 

8492 

Bruchsal 

3543 

7003 

2538 

Lürrach 

3118 

6865 

2511 

Offenburg 

2159 

5175 

946 

Rastatt 

3289 

3708 

2493 

Müllheim 

1941 

3674- 

II70 

Waldshut 

1292 

3619 

548 

Schopfheira 

692 

3324 

292 

Weinheim 

1875 

2988 

766 

LaJir 

1329 

2709 

869 

Durlach 

726 

1872 

413 

Eberbach 

44 

6 

6 

Grundlegend  ist  zunächst  die  Rohscheidung  in  männliche 
und  weibliche  Arbeitsuchende.  Dabei  ist  einleitend 
zu  erwähnen,  daß  die    badischen    Anstalten    von    Anfang    an    in 

j)  A.  a.  O.  S.   18. 

2)  Die  Arbeit  wurde  Anfang  des  Jahres    1914  abgeschlossen. 


—     17     — 

richtiger  Erfassung  ihrer  volkswirtschaftlichen  Aufgabe  für  Ar- 
beitsuchende männUchen  und  weiblichen  Geschlechts  errichtet 
waren.  Indessen  bestand  eine  organisatorische  Trennung  zwischen 
den  beiden  Abteilungen,  wie  sie  jetzt  allgemein  üblich  ist,  zu- 
nächst nicht  überall.  Die  Erfahrungen  indessen,  die  zuerst  bei 
der  Freiburger  Anstalt  mit  besonderer  Leitung  und  räumlicher 
Trennung  der  weiblichen  Abteilung  gemacht  wurden,  belehrten 
auch  die  übrigen  Anstalten.  Heute  ist  die  Bedeutung  der  Tren- 
nung für  die  Entwicklung  der  weiblichen  Abteilung  nicht  nur 
grundsätzlich  anerkannt,  sondern  in  der  Leitung  überall  und  in 
den  Räumlichkeiten  regelmäßig  auch  durchgeführt.  Dabei  möchte 
ich  im  Hinblick  auf  die  anfänglich  geringen  Erfolge  der  weiblichen 
Abteilung  in  Baden  nur  daran  erinnern,  daß  auf  den  ersten  all- 
gemeinen deutschen  Arbeitsnachweiskongressen  in  Karlsruhe  und 
München  die  Referate  über  die  weibliche  Stellenvermittlung  aus- 
fallen mußten,  weil  man  keinen  Referenten  ausfindig  machen 
konnte.  Wir  haben  es  hier  also  mit  einer  allgemeinen  Entwick- 
lungstatsache zu  tun.  Denn  wie  anderwärts  stand  auch  gerade 
die  weibliche  Abteilung  in  Baden  zunächst  in  hartem  Wettstreit 
mit  gewerbsmäßigen  und  charitativen  Vermittlungseinrichtungen. 
Natürlich  ist  die  organisatorische  Zusammenfassung  der  beiden 
allgemeinen  Unterabteilungen  dringende  Notwendigkeit,  wenn  nicht 
die  volkswirtschaftliche  Funktion  des  Ganzen  notleiden  soll.  Diese 
engere  organisatorische  Verbindung  bestand  nun  im  Anfang  und 
besteht  bei  kleineren  und  mittleren  Anstalten  in  Baden  noch  heute 
darin,  daß  die  Frau  des  Verwalters  die  weibliche  Abteilung  leitet. 
Man  wird  sich  in  kleineren  Verhältnissen  damit  einverstanden  er- 
klären können.  Indessen  bei  weiterem  Umfange  der  Vermittlungs- 
tätigkeit gehört  natürlich  auch  an  die  Spitze  der  weiblichen  Abtei- 
lung eine  Kraft  im  Hauptamt,  die  allerdings  zweckmäßig  wieder  eine 
weibliche  sein  wird,  schon  des  größeren  Vertrauens  willen,  das  sie 
erfahrungsgemäß  bei  weiblichen  Arbeitsuchenden  genießen  wird. 
Im  einzelnen  verteilten  sich  die  oben  angegebenen  Gesamt- 
vermittlungsziffern  des  Jahres  191 2  auf  die  beiden  Abteilungen 
wie  folgt  ^) : 

Offene  Stellen  Arbeitsuchende  Vermittlungen 

männlich:  99  375  194  201  78438 

weiblich:  56027  55233  38461 


i)  Vgl.  die  Stat.  Mitteilungen  a.  a.  O.;    die    folgenden  Ziffern    beziehen    sich 
alle  auf  1912. 

Zeitschrift  für  die  ges.  Staatswissensch.     Ergänzungsheft  52.  2 


—      i8     — 

1  )as  \'ci  hältnis  der  beiden  Abteilungen  zueinander  ist  dar- 
nach im  ganzen  jetzt  als  ein  besseres  zu  bezeichnen,  obwohl  in 
obigen  Ziffern  der  weiblichen  Abteilung,'  die  hier  besonders  häu- 
figen kurzfristigen  Vermittlungen  zu  berücksichtigen  sind. 

Betrachtet  man  die  Vermittlungsergebnisse  weiter  nach  B  e- 
rufsgruppen,  so  weist  in  der  männlichen  Abteilung  die  Be- 
rufsgruppe Sonstige  Lohnarbeit  und  häusliche  Dienste,  also  die 
Gruppe  der  in  der  Hauptsache  ungelernten  Berufe,  allerdings  noch 
die  höchsten  Zahlen  auf: 
35962    offene    Stellen,    74Q89    Arbeitsuchende,    31274    Vermittl. 

Es  ist  indessen  aus  der  Statistik  der  badischen  Arbeits- 
nachweise, auf  deren  Veröffentlichungen  im  einzelnen  ich 
hier  verweisen  muß,  zu  entnehmen,  daß  diese  Berufsgruppe  der 
ungelernten  Arbeit  relativ  an  Bedeutung  abnimmt.  Es  mag  dies- 
bezüglich aus  dem  Jahresbericht  des  Verbandes  für  191 2  (S.  6) 
hier  folgendes  angeführt  werden:  >An  den  gegenüber  dem  Vor- 
jahr in  der  Zahl  der  Arbeitsuchenden  eingetretenen  Veränderun- 
gen sind  die  gelernten  Berufe,  und  an  jener  in  der  Zahl  der 
offenen  Stellen  die  ungelernten  Berufe  am  stärksten  beteiligt.  .  . 
Trotzdem  die  ungelernten  Berufe  mit  80  %  an  der  Abnahme  der 
offenen  Stellen  beteiligt  sind,  ist  die  Zahl  ihrer  Arbeitsuchenden 
gesunken,  dagegen  weisen  die  gelernten  Berufe  mit  einem  Anteil 
von  nur  20  %  (an  der  Abnahme  der  offenen  Stellen)  eine  ganz 
außerordentliche  Zunahme  der  Arbeitsuchenden  auf«.  Diese  Erschei- 
nung ist  meines  Dafürhaltens  in  erster  Linie  auf  den  Umstand  zurück- 
zuführen, daß  immer  mehr  auch  gelernfe  und  besser  qualifizierte  Ar- 
beiter sich  an  den  allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnachweis  wen- 
den, d.  h.  also  sich  von  andern  ürganisationsformen  des  Arbeits- 
marktes abkehren.  Dies  ist  einmal  das  äußere  Zeichen  für  die 
sorgfältige,  individuelle  und  taktvolle  Vermittlungstätigkeit.  Diese 
Entwicklung  zeigt  aber  auch,  daß  jene  Behauptung  nicht  zu- 
trifft, die  da  meinte,  der  besser  qualifizierte  Arbeiter  würde  es 
stets  verschmähen,  sich  an  einen  allgemeinen  Arbeitsnachweis  zu 
wenden.  Die  Zahlen  der  folgenden  männlichen  Berufsgruppen 
belegen  das  näher: 


Offene  Stellen 

Arbeitsucher 

>de 

Vermittlungen 

Metall-  und  Masch. -Arbeiter 

17990 

32  269 

14  157 

Baugewerbe 

13076 

22  008 

10064 

Industrie  der  Holz-  u.  Schnitzstoffe 

8596 

14688 

6377 

Land-  und  Forstwirtschaft 

6  153 

II  544 

4585 

—     ig- 
ln der    weiblichen    Abteilung    sind    die    folgenden  Gruppen  aus- 
schlaggebend : 

Offene  Stellen  Arbeitsuchende  Vermittlungen 
Häusliche  Dienstboten,  Putz-,  Wasch- 

und  Lauffrauen  33  323  32  794  22  938 

Gast-  und  Schankwirtschaft  15320  14389  10  381 

Metallverarbeitung  3090  3  34°  2591 

Fabrikarbeiterinnen  aller  Art  i  843  2  073  i  344 

Im  übrigen  glaube  ich  von  Aufzählung  weiterer  Einzelheiten 
der  Berufsgliederung  um  so  mehr  Umgang  nehmen  zu  können, 
als  die  Vermittlungstätigkeit  der  allgemeinen  öffentlichen  Arbeits- 
nachweise insbesondere  in  der  Landwirtschaft  noch  an  anderer 
Stelle,  bei  der  Vermittlungstätigkeit  der  badischen  Landwirt- 
schaftskammer,   ausführlicher  zu  behandeln  sein  wird. 

Wie  in  der  Reichberufsstatistik  der  allgemeinen  öffentlichen 
Arbeitsnachweise  die  »Lehrlinge  aller  Berufsarten«  als  besondere 
Berufsgruppe  am  Schlüsse  zusammengefaßt  werden,  so  möchte 
ich  an  die  vorstehende  Erörterung  anschließend  auch  hier  nun- 
mehr von  dieser  Vermittlung  handeln. 

Die  Frage  der  Lehrstellenvermittlung  muß  als 
eine  der  schwierigsten,  aber  auch  als  eine  der  wichtigsten  des 
allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnachweises  angesehen  werden. 
Wie  diese  Frage  überall  zurzeit  noch  im  Flusse  ist  und  allge- 
meiner Erörterung  untersteht^),  so  kann  auch  die  Entwicklung 
in  Baden  heute  noch  nicht  als  abgeschlossen  gelten  ^).  Dabei  ist 
Lehrstellenvermittlung  hier  gegenüber  Lehrlingsvermittlung  im 
weiteren  Sinne  zu  verstehen,  d.  h.  auch  Handel  und  Landwirt- 
schaft umfassend,  während  die  sog.  Lehrlingsvermittlung  nach 
allgemeinem  Sprachgebrauch  mehr  das  Handwerk  in  Betracht 
zieht.  Es  ist  die  Frage  der  Lehrstellenvermittlung  in  diesem  Sinne 
allerdings    geschichtlich    aus  der  Lehrlingsvermittlung  erwachsen. 

Bevor  ich  indessen  zur  näheren  Betrachtung  der  Leistungen 
der  badischen  Arbeitsnachweise  auf  diesem  Gebiete  übergehe, 
scheint  es  mir  zur  Klarstellung  ihrer  volkswirtschaftlichen  Be- 
deutung angebracht  zu  sein,  kurz  noch  auf  die  Lage  der  Lehr- 
lingsvermittlung im  Handwerk  in  Baden  vor  dem  Eingreifen  der 
badischen  Arbeitsnachweise  hinzuweisen.  Man  kann  wohl  mit 
Recht  behaupten,  daß  die  Lehrlingsvermittlung  früher,  da  das 
innige  Verhältnis  zwischen  Familie  und  Handwerk  noch  bestand, 


1)  Vgl.  Arbeitsmarkt   1910  Nr.   i   (Verbandstagschrift  1910)  S.  42  ff. 

2)  Vgl.  Verbandsberichte  1904/06,  S.  11  ff.,   1907/11,  S.  10  ff.,  1912,  S.  9,  29  ff. 

2* 


—       20       — 

wesentliche  Schwierigkeiten  nicht  verursacht  hat.  Der  Solin  trat 
in  das  Handwerk  des  Vaters  ein,  Verwandte  und  Freunde  wie 
Bekannte  führten  dem  Meister  den  LchrUng  zu.  Mit  dem  Nieder- 
gehen des  Handwerks  und  der  fortschreitenden  IndustriaUsierung 
änderte  sich  das  alles ;  neue  Elemente,  die  bi.shcr  in  keinem  Zu- 
sammenhange mit  dem  Handwerk  gestanden  waren,  wandten  sich 
diesem  zu,  und  übertriebene  Hoffnungen  scheiterten  nach  kurzer 
Zeit  kläglich.  Die  Folgen  blieben  nicht  aus !  Auch  das  wirt- 
schaftlich berechtigte  Handwerk  leidet  heute  Mangel  an  Nach- 
wuchs, und  zwar  an  tüchtigen  braven  Lehrlingen. 

Bei  Begründung  der  ersten  badischen  Anstalten  war  natur- 
gemäß schon  die  Vermittlung  von  Lehrlingen  vorgesehen'),  allein 
es  war  das  eine  schwierige  Sache,  zumal  bei  der  zunächst  noch  ab- 
lehnenden Stellungnahme  der  Arbeitgeberorganisationen  (Innungen 
usw.).  Das  Verdienst,  diese  Schwierigkeiten  im  Benehmen  mit 
Schule  und  Handw^erkskammer  grundsätzlich  und  zuerst  in  weiterem 
Umfange  überwunden  zu  haben,  gebührt  der  Freiburger  Anstalt, 
die  seit  1902  eine  besondere  Lehrlingsvermittlung  organisierte. 
Im  Jahre  1905  nahm  sich  dann  der  Verband  der  Organisation 
der  Lehrlingsvermittlung  an.  Er  erreichte  die  fördernde  Mitwir- 
kung der  staatlichen  Behörden,  insbesondere  der  obersten  Schul- 
behörde. Diese  erließ  an  die  Volksschulen  eine  Verfügung,  nach 
der  die  Lehrer  der  oberen  Klassen  veranlaßt  wurden,  alljährlich 
vor  Schluß  der  Schule  die  zur  Entlassung  kommenden  Schüler 
auf  die  Notwendigkeit,  sich  nach  der  Entlassung  der  Erlernung 
eines  Berufes  zuzuwenden,  hinzuweisen,  wie  auch  sonst  die  Be- 
strebungen der  allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnachweise  geeignet 
zu  unterstützen  2j.  Auch  der  Widerstand  der  Organisationen  der 
Arbeitgeber  tritt,  nachdem  auch  die  staatliche  Gewerbeförderung 
einen  dahingehenden  Einfluß  ausübte,  mehr  und  mehr  zurück. 
Gleichwohl  ist  auch  heute  die  Frage  der  einheitlichen  Organi- 
sation der  Lehrstellenvermittlung  in  Baden  noch  nicht  gelöst,  wie 
auch  die  Verhandlungen  auf  dem  letzten  badischen  Verbandstag 
zeigten  ^).  Und  es  scheint  auch,  daß  in  dieser  Frage  die  örtlichen 
Verhältnisse  ausschlaggebend  bleiben  müssen  !  Insbesondere  wird 


1)  Vgl.  >Die  Lehrlingsvermittlung  bei  den  allgemeinen  Arbeitsnachweisan- 
staltenc,  Zeitschrift  für  badische  Verwaltung  und  Verwaltungsrechlspflege  1904, 
S.  66  IT. 

2)  Verordnungsblatt  des  Großh.  Badischen  Oberschulrats   1907,  S.  30  ff. 

3)  Geschäftsbericht  des  Verbandes   1912,  S.  29  fF. 


—       21       — 

in  den  kleinen  Städten,  wo  sich  alle  Einwohner  kennen,  die  Lehr- 
stellenvermittlung wohl  niemals  in  weiterem  Umfange  auf  die 
Arbeitsämter  übergehen.  Und  doch  ist  dem  Verbände  badischer 
Arbeitsnachweise  als  besonderes  Verdienst  anzurechnen,  daß  er 
in  Baden  einmal  die  Zentralisation  der  Lehrstellenvermittlung  bei 
den  allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnachweisen  ungemein  geför- 
dert hat;  sodann  ein  für  alle  Mal  in  den  Verhandlungen  mit  den 
Beteiligten  klargestellt  hat,  daß  auch  der  paritätische  öffentliche 
Arbeitsnachweis  das  Recht  hat,  den  Arbeitsuchenden  vor  Er- 
greifung aussichtsloser  Berufe  zu  warnen.  Die  der  Zahl  nach 
größten  Erfolge  in  der  Lehrstellenvermittlung  erreichten  die  Pforz- 
heimer und  die  Karlsruher  Anstalten ;  indessen  ist  wohl  zu  be- 
rücksichtigen, daß  die  Pforzheimer  Anstalt  einer  einheitlichen 
Industrie  gegenübersteht,  die  ihren  Nachwuchs  von  selbst  anzieht. 
Dabei  dürfte  es  sehr  zweifelhaft  sein,  ob  sich  die  strengen  Formen 
der  Pforzheimer  Organisation  für  alle  Anstalten  gleich  eignen 
dürften.  Auch  sei  hier  erwähnt,  daß,  während  Pforzheim  mit  so- 
genannten Elternabenden  gute  Erfolge  hatte,  andere  Anstalten 
wie  z.  B.  Freiburg  dieser  Institution  skeptischer  gegenüberstehen. 
Es  können  deshalb  als  Grundsätze  einer  erfolgreichen  Lehrstellen- 
vermittlung für  Baden  hier  nur  festgestellt  werden,  einmal  die 
Mitwirkung  der  Schulen  bei  Gewinnung  der  Lehrlinge,  und  so- 
dann die  Mitwirkung  der  Arbeitgeberorganisation  bei  Gewinnung 
von  Lehrstellen ;  alles  übrige  wie  Elternabende,  Beratungsstunden, 
ärztliche  Untersuchung,  Herausgabe  eines  Berufsführers  ist  noch 
in  weiterer  Entwicklung  zu  klären.  Dagegen  hat  sich  bereits 
jetzt  schon  gut  bewährt  die  von  der  Landeszentrale  der  badi- 
schen Verbandsanstalten  zusammengestellte  und  im  Frühjahr  wö- 
chentlich einmal  verbreitete  besondere  Liste  über  gemeldete  Lehr- 
stellen und  Lehrlinge.  Auch  mir  scheint  es  besser,  von  allen 
weitgehenden  Vorschriften  und  Maßnahmen  vorerst  abzusehen 
und  die  beiden  Hauptgesichtspunkte,  die  Eltern  und  die  "Wünsche 
des  jungen  Mannes,  nicht  zu  weit  aus  den  Augen  zu  lassen ! 

Was  nun  die  Berufswahl  im  einzelnen  betrifft,  so  scheint 
mir  vorzugsweise  auch  heute  noch  die  Lehrlingvermittlung  als 
eine  Frage  des  Handwerks  zu  betrachten  zu  sein ,  und  es 
kommt  das  übrige  Gewerbe,  d.  h.  die  Fabrik  (angelernte  Ar- 
beitskräfte), wie  die  Landwirtschaft  und  insbesondere  der  Han- 
del m.  E.  erst  in  zweiter  Linie  in  Betracht.  Denn  was  zunächst 
die  in  den  Fabriken  häufigen    sogenannten   angelernten    Arbeits- 


kräftc  betrifft,  so  unterzog  sich  der  allgemeine  öffentliche  Ar- 
beitsnachweis bisher  dieser  Art  Lehrstellenvermittlung  nur  ungern, 
da  ein  großer  Teil  der  angelernten  Arbeiter  später  in  die  Klasse  der 
ungelernten  zurückfällt.  Auch  die  Lchrstellenvermittlung  im  Han- 
delsgewerbe bringt  den  Arbeitsnachweis  gemeinhin  in  eine  beson- 
ders schwierige  Lage.  Einem  großen  Angebot  von  yVrbeitsuchenden 
steht  nur  ein  kleines  Angebot  an  offenen  Stellen  gegenüber. 
Wieviele  wenden  sich  dem  Kaufmannsstandc  zu,  die  nur  dessen 
Proletariat  vermehren  helfen!  Hier  ist  es  dem  Arbeitsnachweis 
fast  unmöglich,  helfend  einzugreifen.  Von  besonderer  und  zu- 
nehmender Wichtigkeit  ist  endlich  die  Lehrstellenvermittlung  in 
der  Landwirtschaft;  sind  doch  schon  Anregungen  laut  geworden, 
in  der  Landwirtschaft  ein  ähnliches  Lehrverhältnis  wie  im  Hand- 
werk einzuführen ').  Auch  wird  von  landAvirtschaftlicher  Seite 
stets  nachdrücklich  ausgeführt,  daß  allzu  rege  Propaganda  für 
die  Lehrstellenvermittlung  in  der  Stadt  der  Landwirtschaft  den 
nötigen  Nachwuchs  abwende ;  ob  und  wo  das  im  einzelnen  zu- 
trifft, möchte  ich  dahingestellt  sein  lassen.  Eine  Berufsstatistik 
der  Lehrstellenvermittlung  fehlt  leider  noch  den  meisten  Anstalten. 
Im  ganzen  hat  sich  die  Lehrstellenvermittlungstätigkeit  der 
badischen  Arbeitsnachweise  von  1907  bis  1912  in  folgender  Weise 
entwickelt : 


Jahr 

Offene  Stellen 

Arbeitsuchende 

Vermittlungen 

1907 

1315 

674 

279 

1908 

2059 

1123 

549 

1909 

3116 

17 10 

1058 

1910 

3307 

2282 

1298 

1911 

3549 

2202 

1182 

1912 

4043 

2753 

1258 

Die  Zahlen  zeigen,  daß  zurzeit  die  Zahl  der  zustande  ge- 
kommenen Vermittlungen  noch  eine  verhältnismäßig  niedrige  ist, 
sie  zeigen  aber  doch,  daß  es,  seitdem  der  Verband  ein  Zu- 
sammenwirken aller  Beteiligten  veranlaßt  hat.  Schritt  für  Schritt 
vorwärts  geht. 

Nun  kann  aber  für  die  Bewertung  der  Vermittlungszahl  nicht 
ihre  Höhe  allein  ausschlaggebend  sein,  sondern  der  Schwerpunkt 
der  Lehrlingsvermittlung  liegt  auch  hier  in  der  individuellen  Aus- 
lese :  dem  entsprechenden  Gesuch  das  passende  Angebot. 

Aehnlich  wie  bei  der  Lehrstellenvermittlung  bessere  Erfolge 

i)  Vgl.  Mischler,  über  »Die  Lehrlingsvermittlung  in  Oesterreich«,  Arbeits- 
markt 19 10,  S.  69,  insbesondere  S.  76. 


—      23      — 

erst  erzielt  werden  konnten,  nachdem  die  Schulen  zur  Mitwirkung 
verpflichtet  worden  waren,  so  konnte  auch  die  sogenannte  R  e- 
servisten  Vermittlung  nur  im  Zusammengehen  mit  den 
Kommandostellen  der  zu  entlassenden  Reservisten  erfolgreich 
sein.  Auch  hier  ist  das  schon  frühzeitig  erfolgende  Eingreifen 
des  Verbandes  vom  größten  Wert  gewesen. 

Unter  Reservistenvermittlung  wird  einmal  ganz  allgemein  die 
Unterbringung  der  jeweils  im  Herbst  zur  Entlassung  kommen- 
den Soldaten  in  geeignete  Arbeitsstellen  verstanden ;  im  engeren 
Sinne  versteht  man  dann  weiter  unter  Reservistenvermittlung 
speziell  die  Vermittlung  von  Diener-  und  Portierstellen,  Aufseher- 
posten usw.  an  die  Reservisten.  Es  bleibt  jedoch  bei  dem 
großen  Andrang  auf  letztgenannte  Stellen  die  Reservistenvermitt- 
lung in  diesem  engeren  Sinne  meist  im  Interesse  aller  nur  ein 
frommer  Wunsch. 

Die  erste  Fühlungnahme  des  Verbandes  bad.  Arbeitsnach- 
weise mit  den  Militärbehörden  und  zwar  durch  Vermittlung  des 
Verbandes  badischer  Militärvereine  erfolgte  bereits  1896,  also 
gleich  bei  der  Verbandsgründung,  wie  denn  überhaupt  die  Re- 
servistenvermittlung in  Süddeutschland  zuerst  in  Angriff  genom- 
men worden  ist.  Das  XIV.  Armeekorps  zeigte  sich  der  Förde- 
rung dieser  Bestrebungen  des  badischen  Verbandes  im  ganzen 
nicht  abgeneigt.  Die  zur  Entlassung  kommenden  Soldaten  wurden 
auf  die  Bedeutung  der  allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnachweise 
aufmerksam  gemacht  und  die  Benützung  dieser  Anstalten  emp- 
fohlen. Ein  weiterer  Erfolg  blieb  jedoch  zunächst  aus.  Größere 
Erfolge  traten  vielmehr  erst  ein,  nachdem  unter  Ausschaltung 
der  Vermittlungstätigkeit,  insbesondere  der  Bezirkskommandos, 
eine  unmittelbare  Verbindung  zwischen  Reservisten  und  den  Ver- 
bandsanstalten hergestellt  war,  indem  die  Reservisten  durch  ihre 
Kommandostellen  mittelst  gedruckter  Belehrungen  auf  die  in 
Baden  bestehenden  öffentlichen  Arbeitsnachweise  aufmerksam  ge- 
macht wurden  ^).  Gleichwohl  wird  bei  Beobachtung  der  Praxis 
der  badischen  Arbeitsnachweise  niemand  behaupten  können,  daß 
die  Erfolge  heute  schon  so  sind,  wie  sie  eigentlich  sein  sollten. 
Denn  bekanntlich  verlieren  viele  Arbeitnehmer  durch  den  Militär- 


i)  Vgl.  Geschäftsbericht  des  Verbandes  1912,  S.  19.  Ueber  die  Regelung 
der  Reservistenvermittlung  in  Bayern,  Württemberg,  Pfalz  und  Elsaß-Lothringen 
siehe  Dr.  Schlotter,  Die  Reservistenvermittlung  der  öffentlichen  Arbeitsnachweise 
und  die  Militärverwaltungen,  Arbeitsmarkt  19 10,  S.  389. 


—      24      — 

dienst  Lust  und  Liebe,  zu  ihrem  früheren  Berufe,  insbesondere 
zur  Landwirtschaft,  zurückzukehren.  Hier  sich  mit  der  nötigen 
Energie,  insbesondere  für  die  Vermitthmg  von  landwirtsciiaft- 
Hchen  Arbeitsstellen  einzusetzen,  kann  als  eine  der  wichtigsten 
Aufgaben  der  öffentlichen  Arbeitsnachweise  bezeichnet  werden; 
wird  dem  von  verschiedenen  badischen  Arbeitsnachweisen  ent- 
gegengehalten, daß  ja  die  zur  Entlassung  kommenden  Reservisten 
schon  vor  dem  Dienstantritt  die  allgemeinen  öffentlichen  Arbeits- 
nachweise benützt  hätten  und  in  Zukunft  immer  mehr  benützen 
würden,  so  ist  doch,  wie  die  tatsächlichen  Verhältnisse  erweisen, 
hier  eherein  Zuviel  als  ein  Zuwenig  am  Platze.  Diese  Frage  kann 
nur  durch  regste  Propagandatätigkeit  in  Verbindung  mit  den  Mi- 
litärbehörden zweckmäßig  gestaltet  werden. 

Zusammenfassende  Zahlen  über  die  Ergebnisse  der  Reservisten- 
vermittlung der  Verbandsanstalten  und  insbesondere  eine  nähere 
Berufsgliederung  derselben  können  leider  mangels  einheitlicher 
Statistik  der  Verbandsanstalten  hier  nicht  gegeben  werden. 

Es  bleibt  endlich  noch  übrig,  auf  die  Vermittlung  Minder- 
erwerbsfähiger und  entlassener  Strafgefangener  einzugehen. 

Wie  noch  bei  der  Betrachtung  der  charitativen  Arbeitsnach- 
weise besonders  hervorgehoben  werden  wird,  ist  hier  auch  bei 
zunächst  der  Zahl  nach  wenig  großen  Erfolgen  die  Umwertung 
der  charitativen  Vermittlung  in  den  Augen  der  Arbeitnehmer  in 
eine  sozialpolitische  von  gar  nicht  zu  überschätzender  Bedeutung. 
Mindererwerbsfähig  ist  derjenige  Arbeitnehmer,  der  infolge  körper- 
lichen oder  geistigen  Krankseins  nicht  mehr  den  gleichen  Ver- 
dienst wie  früher  erzielen  kann.  Das  tertium  comparationis  ist 
also  die  Höhe  des  Verdienstes.  Auszuscheiden  sind  jedoch  die 
Arbeitnehmer,  deren  Verdienst  durch  eine  natürliche  Abnahme 
der  Körper-  und  Geisteskräfte,  insbesondere  also  durch  das  Alter, 
sich  verringert  hat,  denn  sonst  würde  der  Arbeitsnachweis  über- 
haupt zu  einem  Vermittlungsinstitut  für  minderwertige  Arbeiter 
werden.  Ferner  haben  natürlich  auch  alle  die  Arbeitsuchenden 
keinen  Anspruch  auf  die  den  Mindererwerbsfähigen  zuzuwendende 
besondere  Sorgfalt  in  der  Vermittlung,  deren  Lohn  durch  schlechte 
Konjunkturen,  durch  Krisen  usw.  gefallen  ist,  denn  an  diesen  Ver- 
hältnissen kann  der  einzelne  Arbeitsnachweis  nichts  ändern. 

Liegt  indessen  in  dieser  Uebernahme  ursprünglich  charitativer 
Fürsorge  nicht  etwas  dem  allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnach- 
weis  Fremdes,   ja    sogar    eine   Verletzung    der  Parität,    d.  h.    der 


—       25      — 

Neutralität  gegenüber  den  persönlichen  Verhältnissen  ?  Und  hat  nicht 
andererseits  gerade  der  tüchtige,  fleißige  Arbeiter  einen  Anspruch 
auf  die  leichteren  Stellen,  die  dem  Mindererwerbsfähigen  zuge- 
wiesen werden  sollen?  Diese  für  die  badische,  wie  die  allgemeine 
Praxis  bedeutsame  Frage  muß  vom  volkswirtschaftlichen  Stand- 
punkte verneint  werden.  Die  Vermittlung  mindererwerbsfähiger 
Arbeitsuchender  durch  den  kommunalen  Arbeitsnachweis  ist  ein 
Stück  Sozialpolitik,  das  im  allgemeinen  Interesse  liegt,  und  Zweck 
der  gesamten  Sozialpolitik  ist  doch  Förderung  der  wirtschaftlich 
Schwachen.  Auch  liegt  auf  der  Hand,  daß  durch  die  Vermitt- 
lung Mindererwerbsfähiger  das  Einkommen  der  Arbeitnehmer  ge- 
steigert wird,  wie  zugleich  die  Konsumtion  (Armenkosten  usw.) 
sich  mindert.  Es  wird  daher  mit  Recht  die  Vermittlung  Minder- 
erwerbsfähiger von  den  allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnachweisen 
in  Baden  als  besonders  wichtige  Aufgabe  angesehen. 

Die  Schwierigkeiten,  die  der  Arbeitsnachweis  bei  der  Ver- 
mittlung Mindererwerbsfähiger  zu  überwinden  hat,  sind  auch  in 
Baden  besonders  große.  Wer  als  geheilt  aus  Krankenhaus  oder 
Pflegeanstalt  entlassen  wird,  soll  sich  zumeist  noch  längere  Zeit 
schonen.  Zu  Hause  warten  Frau  und  Kinder  auf  den  Verdienst 
ihres  Ernährers !  Dabei  kann  gewöhnlich  der  alte  Beruf  nicht 
mehr  aufgenommen  werden,  einen  neuen  zu  ergreifen  kostet  Zeit 
und  Geld.  So  kommen  für  diese  Mindererwerbsfähigen  insbeson- 
dere Diener-,  Portier-,  Ausläufer-,  Aufseherstellen  in  Frage,  zu 
denen  der  Zugang  besonders  stark  ist.  Als  typisch  muß  auch 
für  badische  Verhältnisse  bemerkt  werden,  daß  alle  Entlassenen 
an  der  früheren  Lohnhöhe  festhalten  und  sich  nur  selten  dazu 
bewegen  lassen,  eine  für  sie  passende  Stelle  anzunehmen,  weil 
sie  geringer  bezahlt  wird.  In  der  Mehrzahl  der  Fälle  handelt  es 
sich  auch  in  Baden  um  Lungenkranke,  deren  Vermittlung  gerade 
besonders  schwierig  ist  ^). 

Die  Ergebnisse  der  Vermittlungen,  die  die  badischen  An- 
stalten im  Zusammenwirken  mit  Anstaltsleitungen,  Frauen-  und 
Fürsorgevereinen,  sowie  der  Armenpflege  auf  diesem  Gebiete  er- 
zielten, sind  der  Zahl  nach  nicht  besonders  hoch;  für  1912  können 
Angaben  nicht  gemacht  werden,  dagegen  stieg  in  den  Jahren 
1907  bis  191 1  die  Zahl  derartiger  Vermittlungen  nur  von  88  auf  155^) 


1)  Vgl.  Jahresbericht  des  Verbandes   1904/06,  S.   13. 

2)  In  seinem  Geschäftsbericht   191 1,  S.    12  gibt  der  Verband  der  Anschauung 
Ausdruck,    daß  es  sich  empfehlen  dürfte,    in  größeren  Städten    für  diesen  Vermitt- 


—       26       — 

Noch  schwieriger  wie  bei  der  Mindererwerbsfähigenvermitt- 
lung  liegen  die  Verhältnisse  bei  Vermittlung  von  entlassenen 
Strafgefangenen.  Auch  hier  geht  die  zweckmäßig  schon  früh- 
zeitig einsetzende  Vcrmittlungstätigkeit  der  Verbandsanstalten  mit 
der  der  Fürsorgevereine '),  wie  der  Strafanstalten  Hand  in  Hand. 
Besonderer  Wert  muß  darauf  gelegt  werden,  daß  der  entlassene 
Sträfling  sofort  in  Arbeit  kommt.  Und  darin  liegt  gerade  für  den 
Arbeitsnachweis  die  große  Schwierigkeit,  zu  bestimmen,  ob  zu  dem 
voraussichtlichen  Entlassungstermine  die  und  die  passende  Stelle 
zu  besetzen  sein  wird.  Indessen  ist  jedenfalls  das  erreicht  worden, 
daß  sich  die  entlassenen  Strafgefangenen  an  die  öffentlichen  Arbeits- 
nachweise zu  wenden  pflegen.  Wenn  auch  ein  Zuchthäusler  sich  an 
den  Schalter  eines  Arbeitsamtes  begibt,  ohne  daß  dessen  Beamter 
hiervon  etwas  weiß,  so  möchte  ich  beinahe"  sagen,  es  ist  gut  so. 

Als  selbstverständlich  ist  an  dieser  Stelle  noch  zu  erwähnen, 
daß  auch  der  Unterbringung  von  Zwangszöglingen  stets  be- 
sondere Sorgfalt  zugewendet  worden  ist. 

c)  Der   öffentliche   allgemeine   Arbeitsnachweis 
bei    Lohnstreitigkeiten    (Streikklausel). 

Zur  Vermittlungstechnik  im  weiteren  Sinne  gehört  auch  das 
Verhalten  der  allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnachweise  bei  Lohn- 
streitigkeiten. In  den  Statuten  der  allgemeinen  öffentlichen  Arbeits- 
nachweise wird  dieses  Verhalten  durch  die  sog.  Streikklausel  ge- 
regelt, die  sowohl  bei  Aussperrungen  wie  bei  Streiks  anzuwenden  ist^). 

Eine  dreifache  Haltung  ist  für  den  allgemeinen  öffentlichen 
Arbeitsnachw^eis  möglich : 

I.  Er  mischt  sich  in  die  Lohnstreitigkeiten  überhaupt  nicht 
ein  (Grundsatz  der  völligen  Nichtbeachtung)  ^). 


lungszweig  einen  besonderen  Beamten  anzustellen.  Ich  glaube,  soweit  ist  die  Ent- 
wicklung noch  nicht  vorgeschritten.  Eher  dürfte  es  praktisch  sein,  einem  mit  der 
Arbeitsvermittlung  schon  vertrauten  Beamten  die  nötige  Zeit  zur  Vornahme  dieses 
Vermittlungsgeschäftes  in  Verbindung  mit  Vertrauenspersonen  zu  gewähren, 
i)  Vgl.  Jahresbericht  des  Verbandes  1896,  S.  5  und  9. 

2)  Inwiefern  gerade  für  Einfügung  der  Streikklausel  die  Stellung  der  Ge- 
werkschaften, die  auf  die  Erörterung  des  Verhaltens  eines  allgemeinen  öffentlichen 
Arbeitsnachweises  im  Falle  eines  Streikes  den  größten  Wert  legten,  ausschlag- 
gebend war,  mag  hier  dahingestellt  bleiben.  [Neumauti,  Streikpolitik  und  Organi- 
sation der  gemeinnützigen  paritätischen  Arbeitsnachweise  in  Deutschland  1906,  S.  33.) 

3)  »Aussperrungen  und  Streiks,  beides  existiert  nicht  für  uns«,  3.  Verbands- 
tag des  Deutschen  Verbandes   1902,  Schriften  des  Verbandes  Heft  4,   S.  97. 


-       27       — 

2.  Der  allgemeine  öfifentliche  Arbeitsnachweis  kann  beiden 
Parteien  von  dem  Bestehen  der  Streitigkeiten  Mitteilung  machen 
(Grundsatz  der  Bekanntgabe). 

3.  Er  mischt  sich  in  die  Streitigkeiten  irgendwie  ein  (Grund- 
satz der  Einmischung). 

Die  badischen  allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnachweise  haben 
sich  grundsätzlich  auf  den  zweiten  Standpunkt  gestellt,  und  dieser 
Grundsatz  der  Bekanntgabe  der  Lohnstreitigkeiten  kann  heute  als 
der  allgemein  übliche  bezeichnet  werden.  So  hat  in  seinem  Sinne 
auch  eine  Besprechung  der  sog.  Streikklausel  auf  dem  Verbands- 
tag 1908  stattgefunden.  Die  Besprechung  hatte  zum  Ergebnis, 
der  allgemeine  öffentliche  Arbeitsnachweis  solle  vor  der  Bekannt- 
gabe der  Lohnstreitigkeit  zunächst  eine  Mitteilung  seitens  der  be- 
teiligten Organisationen  abwarten.  Bleibt  diese  aus,  dann  hat  die 
badische  Praxis  gewissermaßen  aus  sich  selbst  heraus  den  Aus- 
weg gefunden.  Streiks  und  Aussperrungen  werden  dem  Arbeits- 
nachweis dadurch  bekannt,  daß  einmal  die  streikenden  oder  aus- 
gesperrten Arbeiter  dem  Arbeitsnachweis  von  selbst  fernbleiben, 
andererseits  die  Arbeitgeber  den  allgemeinen  öffentlichen  Arbeits- 
nachweis plötzlich  in  viel  größerem  Maße  in  Anspruch  nehmen. 
Lehnt  es  dann  in  solchen  Fällen  der  allgemeine  öffentliche  Arbeits- 
nachweis ab,  dem  Arbeitgeber  Arbeitskräfte  zu  vermitteln,  so  ist 
der  Arbeitgeber  m.  E.  schwerer  geschädigt  als  der  Arbeitnehmer^). 
Denn  der  Arbeitnehmer  wird,  wenn  ihm  der  Arbeitsnachweis  keine 
Stelle  mehr  zuweist,  nur  in  die  nächste  Stadt  zu  wandern  brauchen, 
um  hier  neue  Arbeit  zu  finden.  Der  Arbeitgeber  dagegen  wird 
in  der  Hauptsache  auf  Inserate  angewiesen  sein,  deren  Erfolg  in 
den  meisten  Fällen  wohl  ein  negativer  sein  wird.  Es  ist  bemerkens- 
wert, daß  die  paritätische  Haltung  der  allgemeinen  öffentlichen 
Arbeitsnachweise  im  Laufe  ihres  20jährigen  Bestehens  niemals 
ernstlich  in  Zweifel  gezogen  worden  ist. 

Die  Frage,  in  welcher  Weise  Arbeitnehmern  wie  Arbeitgebern 
von  Streik  und  Aussperrungen  Mitteilung  zu  machen  ist,  hat  in 
der  badischen  Praxis  bisher  keinerlei  Schwierigkeiten  bereitet. 
Es  werden  hier  seitens  der  Arbeitsnachweise  die  Arbeitsuchenden 
jeweils  mündlich  (zum  Teil  erst  auf  Befragen)  durch  den  Nach- 
weisbeamten oder  durch  Anschlag  darauf  aufmerksam  gemacht, 
daß  ein  Streik  oder  eine  Aussperrung  bekannt  geworden  ist,    ein 

i)  Der  gleichen  Ansicht  sind  Neumann  a.  a.  O.,  S.  33,  und  Adler,  Hand- 
wörterbuch der  Staatswissenschaften   1908,    Art.  Arbeitsnachweis    und  Arbeitsbörse. 


—       28       — 

Verfahren,  das  als  das  allgemein  übliche  bezeichnet  werden  kann '). 
Die  Arbeitgeber  wiederum  pflegen  nur  dann  besonders  verständigt 
zu  werden,  wenn  dem  Arbeitsnachweis  seitens  der  Arbeitnehmer- 
Organisationen  eine  Angabe  gemacht  worden  ist.  Auch  in  der 
indirekten  Vermittlung  hat  die  Streikklausel  niemals  zu  Weite- 
rungen Anlaß  gegeben"-). 

Ob  bei  weiter  fortschreitender  Zentralisation  der  Arbeitsver- 
mittlung in  den  öffentlichen  Arbeitsämtern  der  Grundsatz  der 
Bekanntgabe  genügen  wird,  möchte  ich  dahingestellt  sein  lassen. 
Xeiinianns  ^)  Auffassung  aber,  daß  die  Gewißheit,  der  Arbeits- 
nachweis arbeitet  unter  allen  Umständen  fort,  beide  Teile  zur 
Vorsicht  veranlassen  und  auf  diese  Weise  zum  sozialen  Frieden 
beitragen  wird,  möchte  ich  nur  erwähnen  und  sie  der  Ansicht 
Mic/iaikes^)  gegenüberstellen,  der  die  weitverbreitete  Meinung, 
man  könne  durch  paritätische  Arbeitsnachweise  eine  völlig  neu- 
trale Arbeitsvermittlung  erzielen,  einen  schönen  Traum  nennt. 

1)  Herkner,  Die  Arbeiterfrage    1908,  S.  83. 

2)  Die  Stellung  des  Arbeitsnachweises  bei  Arbeiteraussperrungen  und  bei 
Streiks  ist  zu  unterscheiden  von  seinen  Maßnahmen  der  sog.  Arbeitssperre 
(Arbeitsnachweisverbot).  Diese  Maßnahme  richtet  sich  gegen  Arbeilgeber  und  Ar- 
beitnehmer, die  sich  ungebührlich  betragen.  Der  Arbeitnehmer  erhält  keine  Ar- 
beit und  der  Arbeitgeber  keine  Arbeiter  vermittelt.  Der  Ausschluß  soll  in  Baden 
gemeinhin  erfolgen  auf  Beschluß  der  dem  Arbeitsnachweis  vorgesetzten  Verwaltungs- 
kommission wegen  Uebertretung  der  Hausordnung,  wegen  unterlassener  Benach- 
richtigung des  Arbeitsamtes,  bei  mehrmaligem  Nichtantreten  einer  zugewiesenen 
Arbeitsstelle.  Die  bisher  vorgekommenen  vereinzelten  Fälle  der  Arbeitsnachweis- 
sperre richteten  sich  hauptsächlich  gegen  die  sog.  Garde  des  Arbeitsnachweises,  d.  h. 
der  Grund  des  Ausschlusses  war  meist  Trunkenheit  und  ungebührliches  Benehmen. 
Die  Arbeitsnachweissperre  traf  in  der  Hauptsache  Arbeitsscheue,  die  unter  dem 
Scheine  einer  unfreiwilligen  Arbeitslosigkeit  sich  städtische  Unterstützung  erschleichen 
wollten.  Das  Arbeitsnachweisverbot  —  der  städtischen  Anstalten  —  schließt  wäh- 
rend seiner  ganzen  Dauer  den  Betroffenen  vom  Bezug  städtischer  Unterstützung 
aus.  Es  stellt  so  bei  wirklich  vorhandener  Arbeitslosigkeit  eine  empfindliche  Strafe 
dar.  Wie  jedoch  beobachtet  werden  konnte,  wird  in  einem  solchen  Falle  von  der 
strikten  Durchführung  des  Verbotes  Abstand  genommen  (Karlsruhe).  Satzungs- 
gemäß ist  die  längste  Dauer  des  Verbotes  gewöhnlich  ein  halbes  bis  ein  ganzes 
Jahr.  Das  Arbeitsnachweisverbot  ist  im  Interesse  des  Arbeitsnachweises  unbedingt 
geboten,  doch  wäre  es  im  Rahmen  der  bisherigen  Uebung  durchaus  angebracht, 
älteren  erfahrenen  Verwaltern  die  Ermächtigung  zum  selbständigen  Erlasse  des  Ver- 
botes zu  geben  und  die  Beschlußfassung  der  Kommission  als  Beschwerdeinstanz 
vorzusehen. 

3)  Neumann  a.  a.  O.,   S.  32. 

4)  Michalke,  Die  Arbeitsnachweise  der  Gewerkschaften  im  Deutschen  Reiche 
1912,  S.  301. 


—      29      — 

d)   Arbeitsnachweis  und  Arbeitslosigkeit. 

Nachdem  ich  die  Vermittlungstätigkeit  der  allgemeinen  öffent- 
lichen Arbeitsnachweise  in  Baden  in  bezug  auf  die  Technik,  die 
Gliederung  des  Vermittlungsergebnisses  und  das  Verhältnis  zu 
Lohnstreitigkeiten  dargelegt  habe,  möchte  ich  jetzt  die  Stellung 
zur  Frage  der  Arbeitslosigkeit  betrachten.  Es  ist  dabei  die  Frage 
grundsätzlich  zu  beantworten,  inwieweit  die  Arbeitsnachweise  als 
Mittel  zur  Bekämpfung  der  Arbeitslosigkeit  in  Betracht  kommen 
können. 

Zunächst  was  ist  Arbeitslosigkeit  ?  Wir  fassen  mit  Sombart  ^) 
die  Arbeitslosigkeit  als  eine  soziale  Erscheinung  auf,  die  dann 
eintritt,  »wenn  der  Arbeiter  arbeiten  will,  von  sich  aus  auch 
arbeiten  kann,  trotzdem  aber  keine  Arbeit  findet,  weil  keine  Nach- 
frage nach  seiner  Arbeitskraft  vorhanden  ist«. 

Es  scheiden  also  von  vornherein  Arbeitsunfähige  und  Arbeits - 
unwillige  aus.  >Von  Arbeitslosigkeit  im  engeren  Sinne«,  sagt 
Ziviedineck-)  »kann  also  füglich  nicht  geredet  werden,  wo  und 
wann  noch  nicht  alle  Möglichkeiten  der  Stellenbeschaffung  er- 
schöpft sind.  Das  Problem  beginnt  also  erst  dort,  wo  der  denk- 
barst vollkommen  organisierte  Arbeitsnachweis  hinsichtlich  der 
Versorgung  mit  Stellen  unzulänglich  wird.« 

In  dieser  theoretischen  Abgrenzung,  die  praktisch  nicht  genau 
durchführbar,  ist  der  Arbeitsnachweis  in  schärferem  Bezug  zur 
sog.  »objektiven  Arbeitslosigkeit«  (Sombart)  gesetzt.  Es  ist  somit 
klar,  daß  der  beste  Arbeitsnachweis,  selbst  wenn  er  alle  Ver- 
mittlungsmöglichkeiten erschöpft  hat,  nicht  als  ein  Mittel  zur  Be- 
kämpfung der  objektiven  Arbeitslosigkeit  in  Betracht  kommt,  weil 
eben  die  Nachfrage  auf  dem  Arbeitsmarkt  ausbleibt,  der  Arbeits- 
nachweis also  nichts  zu  vermitteln  hat.  Die  Arbeitslosen  bringen 
dies  selbst  zum  Ausdruck,  indem  sie  in  Krisenzeiten  dem  Arbeits- 
markt zumeist  fernbleiben,  weil  sie  von  ihm  nichts  erhoffen. 

Der  Arbeitsnachweis  kann  eine  gegebene  Arbeitslosigkeit 
nur  lindern  bei  vorhandener  Arbeitsgelegenheit.  Er  kann  es  sich 
zur  Aufgabe  machen,  »alles  vorhandene  Angebot  und  alle  vor- 
handene Nachfrage  nach  Arbeit  möglichst  zusammenzubringen, 
damit  nicht  selbst  bei  vorhandener  Arbeitsgelegenheit  Arbeitslosig- 


i)  Sombart,  Die  gewerbliche  Arbeiterfrage   191 2,  S.    122. 
2)  Z'tviedmeck,  Sozialpolitik,  S.  356. 


—     30     — 

kcit  entsteht«  ').  ^Der  Arbeitsnachweis  kann,  auch  wenn  er  ideal 
vollkommen  organisiert  wäre,  nur  jene  Arbeitslosigkeit  verhindern, 
welche  dadurch  entsteht,  daß  Angebot  und  Nachfrage  sich  nicht 
in  entsprechender  Weise  begegnen.  Seine  Wirksamkeit  in  der 
Verhinderung  von  Arbeitslosigkeit  ist  sonach  eine  begrenzte. 
Die  Bekämpfung  der  Arbeitslosigkeit  muß  deshalb  noch  weitere 
Maßnahmen  ins  Auge  fassen«  ^).  Als  solche  Maßnahmen  werden 
gemeinhin  empfohlen  Arbeitslosenversicherung,  Notstandsarbeiten, 
öffentliche  Aufträge  bei  Krisenzeiten  usw.  Diese  Maßnahmen 
sollen  dazu  dienen,  den  objektiv  Arbeitslosen,  für  die  keine  Ar- 
beitsgelegenheit vorhanden  ist  aus  Gründen  von  Bedarfsverschiebung, 
Modelaunen,  Verlust  ausländischer  Absatzmärkte,  Sinken  des  Kapital- 
profits, Anarchie  der  Produktion  Arbeitsgelegenheit  künstlich  zu 
schaffen  oder  ihnen  auf  dem  Wege  öffentlicher  Unterstützungen 
usw.  es  zu  ermöglichen,  sich  während  der  schlechten  Zeit  über 
Wasser  zu  halten.  Von  ihnen  unterscheidet  sich  der  Arbeits- 
nachweis dadurch,  daß  er  bei  immer  vollkommenerem  Ausbau  in 
den  Stand  gesetzt  werden  kann,  einen  Teil  der  Arbeitslosen  an 
die  selbst  in  Krisenzeiten  vorhandene  Arbeitsnachfrage  zu  ver- 
mitteln. 

»Hier  handelt  es  sich  um  eine  Tätigkeit,  die  dem  Eintreten 
größerer  Arbeitslosigkeit  in  gewissem  Umfange  vorzubeugen  be- 
fähigt ist  dadurch,  daß  sie  ständig  auf  einen  Ausgleich  zwischen 
Angebot  und  Nachfrage  auf  dem  Arbeitsmarkt  hinwirkt.  Dadurch 
kann  bei  zweckmäßiger  Gestaltung  und  Organisation  des  Arbeits- 
nachweises eine  bessere,  dem  tatsächlichen  Bedarf  mehr  angepaßte 
berufliche,  zeitliche  und  örtliche  Verteilung  der  Arbeitskräfte  ein- 
treten, und  das  vermindert  die  Gefahr  einer  ausgedehnten  Arbeits- 
losigkeit ^).« 

Der  Arbeitsnachweis  kann  also  nur  die  sog.  »subjektive  Ar- 
beitslosigkeit« (Somhart),  die  auf  Unkenntnis  der  Arbeitsnachfrage 
seitens  des  Arbeitslosen  beruht,  beseitigen,  indem  er  den  Arbeits- 
losen mit  der  Arbeitsgelegenheit  bekannt  macht,  gegen  die   >ob- 

i)  Schanz,  Die  Bekämpfung  der  Arbeitslosigkeit,  Archiv  für  Soziale  Gesetz- 
gebung und  Statistik  1901,  S.  549. 

2)  Schanz  a.  a.  O.,  S.  615. 

3)  V.  d.  Borght,  Grundzüge  der  Sozialpolitik  1904,  S.  107,  vgl.  Zwiedineck^ 
Sozialpolitik  1911,  S.  359  ff. ;  Lindemann,  Arbeiterpolilik  und  Wirtschaftspflege  in 
der  deutschen  Städteverwaltung  1904,  Bd.  i,  Arbeiterpolitik,  S.  141  ff;  Pumpiansky, 
Das  Problem  der  Arbeitslosigkeit  in  England,  Archiv  für  Sozialwissenschaft  und 
Sozialpolitik   191 1,  S.    144  ff. 


—     31     — 

jektive  Arbeitslosigkeit«,  d.  h.  den  Ueberschuß  des  Arbeiter- 
angebotes über  die  Arbeiternachfrage,   ist  er  machtlos. 

Gehen  wir  nun  dazu  über,  die  Vermittkingstätigkeit  der 
öiTentlichen  Arbeitsnachweise  in  Baden  in  ihrem  Verhältnis  zur 
»subjektiven  Arbeitslosigkeit«  zu  betrachten.  Diese  Frage  hängt 
aufs  engste  mit  der  sog.  interlokalen  Vermittlung  zusammen, 
deren  Entstehung  und  Werdegang  in  Baden  darum  zunächst 
dargelegt  werden  soll. 

Die  interlokale  Vermittlung,  die  Vermittlung  von  und 
nach  auswärts,  zum  wenigsten  in  bescheidenem  Umfange,  hatten 
die  badischen  allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnachweise  von  Anfang 
an  in  ihr  Programm  aufgenommen.  Sie  mußten  dies  tun,  wollten 
sie  mit  ihrer  Vermittlungstätigkeit  allen  Berufszweigen  und  ins- 
besondere auch  der  Landwirtschaft  von  vornherein  gerecht  werden. 
Es  war  jedoch  die  Form  der  interlokalen  Vermittlung  gewisser- 
maßen zunächst  eine  individualistische,  die  sich  seitens  der  ein- 
zelnen Anstalten  durch  Errichtung  von  Filialen,  Benützung  des 
Telefons,  sowie  durch  Bekanntgabe  ihrer  Vakanzen  durch  die 
Tagesblätter  wie  im  gegenseitigen  Austausch  mit  den  benach- 
barten, auch  außerbadischen  Nachweisen  vollzog  ^). 

Mit  Errichtung  des  Verbandes  badischer  Arbeitsnachweise 
wurde  jedoch  das  Bedürfnis  nach  einer  organischen  Zentralisation 
dieser  interlokalen  Vermittlung  immer  dringender ;  Aufgabe  einer 
solchen  Zentralstelle  sollte  es  sein,  Angebot  und  Nachfrage  auf 
dem  Arbeitsmarkte  des  ganzen  Landes  tunlichst  auszugleichen. 
Es  stand  deshalb  die  Errichtung  einer  Landeszentralstelle  wieder- 
holt auf  der  Tagesordnung  der  Verbandsversammlungen,  ohne 
jedoch  endgültig  erledigt  werden  zu  können.  Der  Bedenken  gab 
es  noch  zu  viele,  und  zwar  im  wesentlichen  folgende  zwei :  Die 
kleineren  Arbeitsnachweise  hielten  sich  durch  eine  Landeszentrale 
in  ihrem  örtlichen  Wirkungsbereich  für  ernstlich  bedroht,  die 
Arbeitsuchenden  würden  dann  nur  im  verstärkten  Maße  in  die 
Großstädte  gezogen  werden.  Doch  ließ  es  sich  schon  damals  — 
es  war  am  Anfange  des  20.  Jahrhunderts  —  gar  nicht  ermög- 
lichen, große  und  günstige  Arbeitsgelegenheiten,  wie  sie  insbe- 
sondere in  den  Großstädten  auftreten,  längere  Zeit  verborgen  zu 
halten,  was  ja  an  sich  schon  ganz  widersinnig  gewesen  wäre. 
Für  die  kleineren  Arbeitsnachweise  wäre  deshalb  hier  ein  Nach- 
geben zugunsten    des  Ganzen  durchaus    am  Platze  gewesen.    Für 

i)  Vgl.  Jahresbericht  des  Verbandes   1896,  S.  4. 


—     3^     — 

die  Grundlosigkeit  ihrer  Befürchtung  spricht  auch,  daß  z.  B.  im 
Jahre  1911  die  weitaus  größte  Zahl  der  interlokalen  Vermittlung, 
nämlich  19  857  von  23739,  auf  ländliche  Orte  entfielen,  denen 
also  durch  die  Zentrale  keine  Arbeitskräfte  entzogen,  sondern 
zugeführt  wurden,  um  ihre  das  Arbeitsangebot  übersteigende 
Nachfrage  nach  Arbeitern  zu  befriedigen.  Aehnliche  Einwände 
waren  ja  auch  schon  seinerzeit  gegen  die  Errichtung  von  allge- 
meinen öffentlichen  Arbeitsnachweisen  überhaupt  erhoben  worden. 
So  hatte  eine  kleinere  Stadt  in  der  Umgegend  von  Karlsruhe  be- 
fürchtet, daß  allein  die  Bekanntgabe  von  offenen  Stellen  in  Tages- 
blättern schon  einen  so  massenhaften  Wegzug  von  Arbeitskräften 
zur  Folge  haben  könnte,  daß  dadurch  die  Löhne  anziehen  würden. 
Der  zweite,  zunächst  bedeutsamer  erscheinende  Einwand  richtet 
sich  sodann  weniger  gegen  die  Errichtung  einer  Landeszentrale 
überhaupt,  als  gegen  deren  örtliche  Festlegung  in  Karlsruhe. 
Es  wurde  insbesondere  auf  die  langgestreckte  Gestalt  des  Groß- 
herzogtums und  die  daraus  erwachsende  Schwierigkeit  schneller 
Geschäftserledigung  für  eineZentrale  hingewiesen  und  vorgeschlagen, 
anstatt  einer  mehrere  Zentralen  zu  errichten.  Letztere  Bedenken, 
aus  denen  dann  glücklicherweise  nicht  der  Schluß  gezogen  wurde, 
überhaupt  keine  Landeszentrale  zu  errichten,  hat  erst  die  Praxis 
der  badischen  Landeszentrale  zerstreuen  müssen,  und  auch  heute 
noch  ist  der  Wunsch  nach  mehreren  Zentralen  nicht  ganz  erloschen. 
Inzwischen  hatte  Württemberg  in  Stuttgart  eine  erfolgreich 
arbeitende  Landeszentrale  eingerichtet,  und  Elsaß-Lothringen  folgte 
seinem  Beispiele  1903  mit  einer  Zentrale  in  Straßburg  nach;  auch 
Bayern  war  in  der  Zcntralisationsfrage  mit  gutem  Beispiel  vor- 
gegangen und  vermittelte  bereits  von  mehreren  Zentralen  aus. 
So  war  in  Süddeutschland  allein  Baden  rückständig  geblieben. 
Es  veranlaßte  deshalb  hier  die  Gr.  Staatsverwaltung  unter  Zu- 
sicherung der  Kostendeckung  nunmehr  eine  erneute  Prüfung  der 
Angelegenheit.  Es  wurde  jetzt  auf  der  außerordentlichen  Ver- 
bandsversammlung in  Offenburg  1905  einstimmig  die  Errichtung 
einer  Landeszentrale  in  Karlsruhe  beschlossen.  Mit  ihrer  Errichtung 
wurde  auch  in  Baden  die  Arbeitsvermittlung  zentralisiert,  und  zwar 
in  dem  Sinne,  daß  die  Landeszentrale  nicht  selbst  vermittelt, 
sondern  Angebot  und  Nachfrage  durch  rasche  Bekanntgabe  aus- 
zugleichen sucht.  Die  tatsächliche  Vermittlung  erfolgt  dann  durch 
die  einzelnen  Anstalten  selbst  und  zwar  unter  lebhafter  Benützung 
des  Telefons. 


—     33     — 

Die  Geschäftsführung  der  Zentralstelle  wurde  dem  Arbeits- 
amte Karlsruhe  übertragen.  Diesem  übermitteln  die  allgemeinen 
öffentlichen  Arbeitsnachweise  zurzeit  dreimal  wöchentlich  auf  vor- 
gesehenen Formularen  Anmeldungen  von  offenen  Stellen,  die  sie 
voraussichtlich  in  den  nächsten  Tagen  nicht  werden  besetzen 
können ,  sowie  ausnahmsweise  auch  Anmeldungen  von  Arbeit- 
suchenden. Die  Landeszentrale  stellt  aus  diesen  Mitteilungen  die 
Stellenlisten  (sog.  Vakanzenlisten)  zusammen,  die  Montags,  Mitt- 
wochs und  Freitags  versandt  werden,  und  zwar  die  ausführlichere 
Mittwochsliste  außer  an  die  badischen  Verbandsanstalten  an  die 
württembergischen,  die  elsässischen,  pfälzischen  und  schweizerischen 
öiTentlichen  allgemeinen  Arbeitsnachweise,  bez.  deren  Zentralen, 
ferner  an  alle  badischen  Gemeinden  über  2000  Einwohner  (auch 
weitergehend  auf  Wunsch),  Herbergen  zur  Heimat  und  Verpfle- 
gungsstationen, während  die  Montags-  und  Freitagslisten  (sog. 
Handlisten)  nur  den  Verbandsanstalten  und  einzelnen  auswärtigen 
Anstalten  zugehen.  Diese  Stellenlisten  enthalten  in  alphabetischer 
Reihenfolge  die  wichtigsten  —  insbesondere  gelernten  —  Berufe 
vorgedruckt,  zu  denen  handschriftlich  noch  etwaige  Spezialberufe 
wie  spezielle  Wünsche  beigefügt  werden  können.  Ferner  gibt  die 
Zentralstelle  auf  Grund  von  Mitteilungen  der  Einzelanstalten 
Montags  und  Mittwochs  die  sog.  landwirtschaftliche  Vermittlungs- 
liste heraus,  über  die  im  Zusammenhang  der  Vermittlung  der 
Landwirtschaftskammer  noch  besonders  zu  sprechen  sein  wird, 
und  drittens  von  Januar  bis  Mai  einmal  wöchentlich  die  sog. 
Lehrlingsliste. 

Soll  die  interlokale  Vermittlung  gut  funktionieren,  so  muß 
es  dem  Arbeitsuchenden  möglich  gemacht  werden,  den  trennen- 
den Raum  zwischen  Angebot  und  Nachfrage  leicht  zu  überbrücken. 
Das  ist  aber  bei  seiner  vielfach  fehlenden  finanziellen  Leistungs- 
fähigkeit oft  nur  möglich  durch  weitere  Beistandsleistung,  als 
deren  hauptsächlichstes  Mittel    die  Fahrpreisermäßigung  erscheint. 

Die  Fahrpreisermäßigung,  d.  h.  die  Ermäßigung  des 
Personentarifs  für  Arbeitsuchende,  denen  auswärts  Arbeitsgelegen- 
heit nachgewiesen  ist,  ist  den  badischen  allgemeinen  öffentlichen 
Arbeitsnachweisen  im  Jahre  1901  insbesondere  durch  die  Bemü- 
hungen ihres  Verbandes  zuteil  geworden.  Dieser  erreichte  zu- 
nächst auf  den  badischen  Bahnen  und  dann  alsbald  auch  im  Ver- 
kehr mit  den  Nachbarbahnen  (zunächst  mit  Ausnahme  des  Boden- 
seeverkehres)   eine    Ermäßigung   des   Fahrpreises    um    die  Hälfte 

Zeitschrift  für  die  ges.  Staatswissensch.     Ergänzungslieft  5a.  2 


—     34     — 

(d.  w.  1,7  Pfi;.  für  das  km)  für  Personenzüge  und  auf  Strecken 
über  25  km.  Im  weiteren  Verlauf  der  Bewegung  wurde  Fahr- 
preisermäßijTung  auch  im  Verkehr  mit  der  Schweiz,  die  sich  ab- 
lehnend verhielt,  wie  auf  Entfernung  unter  25  km  angestrebt. 
Indessen,  alle  diese  Bestrebungen  unterbrach  die  Personentarif- 
reform  von  1907,  die  bekanntlich  den  Fahrpreis  in  der  untersten 
W'agcnklasse  gewöhnlicher  Züge  auf  2  Pfg.  das  km  festsetzte, 
wodurch  nach  sich  zunächst  bemerkbar  machender  Ansicht  die 
Weitergewährung  der  besonderen  Fahrpreisermäßigung  an  Arbeit- 
suchende sich  erübrigen  sollte.  Dem  gemeinsamen  Vorgehen  der 
süddeutschen  Arbeitsnachweisverbände  war  es  hier  zu  danken'), 
daß  für  die  Arbeitsuchenden  der  Ausnahmesatz  für  »milde  Zwecke», 
1,5  Pfg.  das  km,  in  unterster  Wagenklasse  gewöhnlicher  Züge 
bei  Entfernungen  über  25  km  und  zwar  für  den  ganzen  deutschen 
Verkehr  erreicht  wurde.  Tatsächlich  hatte  trotzdem,  wie  der  Jahres- 
bericht für  1912  hervorhebt"),  die  Tarifreform  die  Wirkung,  daß 
die  P'ahrpreisermäßigung  zunächst  etwas  an  Bedeutung  verlor,  in- 
dem bei  der  geringen  Ersparung  der  Anreiz,  sich  ihrer  zu  be- 
dienen, abnahm  ^).  Hieraus  wäre  indessen  kein  Grund  für  Wieder- 
aufhebung einer  Fahrpreisermäßigung  überhaupt  zu  entnehmen 
gewesen.  Vielmehr  wird  mit  Recht  seitens  des  Verbandes  an- 
gestrebt, für  die  Arbeitsuchenden  in  gleicher  Weise,  wie  für  die 
Besucher  der  sog.  Wanderarbeitsstätten,  den  i  Pfg.-Satz  zu  er- 
reichen. Leider  hat  vom  Jahre  1909  ab  die  P'ahrpreisermäßigung 
eine  grundsätzliche  Einschränkung  insofern  erfahren,  als  sie  nur 
noch  Arbeitern  zusteht,  d.  h.  also  nicht  mehr  stellungsuchenden 
Kaufleuten,  was  um  so  mehr  zu  bedauern  ist,  als  die  badischen 
allgemeinen  öfifentlichen  Arbeitsnachweise  in  letzter  Zeit  gerade 
nach  dieser  Richtung  hin  ihre  Tätigkeit  wesentlich  erweitert  haben. 
Dagegen  ist  seitens  der  ständigen  Tarifkommission  jüngst  aus- 
drücklich festgestellt  worden,  daß  bei  Benützung  der  Einrichtung 
der  Fahrpreisermäßigung  der  endgültige  Abschluß  eines  Arbeits- 
vertrages nicht  gefordert  werden  soll,  vielmehr  die  nach  Ueber- 
zeugung  der  zuweisenden  Anstalt  vorhandene  sichere  Aussicht, 
eingestellt  zu  werden,  genügt  *). 


1)  Jahresbericht  des  Verbandes   1904/06,  S.    13  fT. 

2)  A.  a.  O.,  S.   13. 

3)  Es  wurden    ausgestellt    1906:    2979    Scheine,     1907:    2600,     1908:    2262, 
1909:   2450,    1910:   2315,    191 1:   2773,  a.  a.  O.,  S.    13. 

4)  Vgl.  Arbeitsmarkt  191 1,   S.  753  —  54. 


—     35     — 

Wie  sich  aus  vorstehender  Darstellung  ergibt,  haben  die 
badischen  Verbandsanstalten  die  Fahrpreisermäßigung  erreicht, 
bevor  noch  die  Landeszentrale  errichtet  wurde ;  darf  es  uns  da, 
bei  der  Aehnlichkeit  der  Wirkung  beider  Institutionen,  wunder- 
nehmen, wenn  die  Einführung  der  Fahrpreisermäßigung  zum  Teil 
mit  denselben  Einwendungen  bekämpft  worden  ist,  wie  später  die 
Landeszentrale  ?  Insbesondere  fürchteten  wieder  die  kleineren 
Arbeitsnachweise,  durch  die  Fahrpreisermäßigung  eine  Schädigung 
ihres  Anstaltsbetriebes  zu  erfahren.  Nun  ist  es  ja  richtig,  daß 
vielleicht  ein  Arbeitnehmer,  der  eine  Stelle  sucht,  sich  es  über- 
legen wird,  ob  er  nicht  bei  Benützung  der  Fahrpreisermäßigung 
lieber  eine  etwas  weitere  Strecke  zurücklegen  und  in  eine  Groß- 
stadt fahren  soll.  Indessen  zeigt  die  Statistik  der  ausgegebenen 
Scheine,  nach  der  Größe  der  Bestimmungsorte  geordnet,  daß 
derartige  Befürchtungen,  wie  schon  oben  bei  der  Erörterung  der 
Landeszentrale  dargelegt,  nicht  begründet  waren,  denn  es  wurde 
die  Mehrzahl  der  Scheine  —  191 1  66,7  %  —  nach  kleineren 
Orten  bis  zu  2000  Einwohner  ausgestellt  ^). 

Es  muß  aber  weiter  hier  noch  hervorgehoben  werden,  daß 
insbesondere  die  Fahrpreisermäßigung  ein  nicht  zu  unterschätzen- 
des Mittel  im  Kampfe  der  allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnach- 
weise gegen  die  gewerbsmäßigen  Stellenvermittler  darstellt.  End- 
lich mag  hier  auch  noch  auf  den  nicht  unerheblichen  Reklamewert 
der  Fahrpreisermäßigung  für  allgemeine  öffentliche  Arbeitsnach- 
weise hingewiesen  werden. 

Indessen,  wie  auch  auf  der  Verbandsversammlung  im  Jahre  191 2 
erneut  betont  worden  ist "),  reicht  bei  vollständiger  Mittellosigkeit 
des  Arbeitsuchenden  die  Fahrpreisermäßigung  allein  nicht  aus,  um 
den  trennenden  Raum  zwischen  Angebot  und  Nachfrage  zu  be- 
seitigen, und  es  muß  die  Bewilligung  von  Fahrgeld  —  und  ge- 
gebenenfalls weiterer  Umzugskosten  —  dazu  kommen.  Diese  Frage 
hat  in  Baden  bisher  noch  keine  einheitliche  Regelung  erfahren, 
obschon  von  einzelnen  Anstalten  derartige  Vorschüsse  guttats- 
weise gewährt  werden,  jedoch  beabsichtigt  man  zurzeit  seitens  des 
Verbandes,  zunächst  auf  den  badischen  Bahnen  ein  Gutscheins- 
verfahren, ähnlich  wie  es  bereits  zwischen  Eisenbahnverwaltung 
und  Landwirtschaftskammer  besteht,  einzurichten.  Ich  möchte  die 
Einrichtung  aus  volkswirtschaftlichen  wie  sozialpolitischen  Gründen 

i)  Jahresbericht  des  Verbandes   1907/11,  S.   13. 
2)  Geschäftsbericht  des  Verbandes   1912,  S.  36. 

3* 


-     36     - 

für  besonders  wichtig  erachten  und  auch  zu  diesem  Zweck  für 
eine  Erhöhung  des  Staatszuschusses  an  die  einzelnen  AnstaUcn 
eintreten,  aus  den  gleichen  Gründen,  wie  ja  überhaupt  der  Staat  die 
Kosten  der  Zentralisation  in  der  Hauptsache  ersetzt.  Aber  auch  die 
Fahrpreisermäßigung  wird  in  Baden  erst  dann  die  volle  Wirkung  zu- 
gunsten der  allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnachweise  und  zum 
Nutzen  des  badischen  Arbeitsmarktes  entfalten  können,  wenn  sie 
einmal  mit  einem  Kilometersatz  von  i  Pfg.  auf  alle  Entfernungen 
und  w^eiter  für  mittellose  Arbeitsuchende  aller  Art  eingeführt  sein 
wird. 

Nach  dieser  Darlegung  von  luitstehung,  Entwicklung  und 
Förderungsmittel  der  interlokalen  Vermittlungstätigkeit  der  badi- 
schen Arbeitsnachweiszentrale  ist  diese  nun  als  Mittel  zur  Be- 
kämpfung der  subjektiven  Arbeitslosigkeit  zu  prüfen. 
Bei  dieser  Beurteilung  der  Landeszentrale  muß  von  denjenigen 
Bedingungen  ausgegangen  werden,  welche  eine  interlokale  Ver- 
mittlung erst  möglich  machen.  Diese  Bedingungen  sind  quali- 
tative Gleichheit  und  quantitatives  Annähern 
von  Angebot  und  Nachfrage  auf  dem  Arbeitsmarkt  ^). 

Nun  gibt  uns  die  Statistik  keinen  Aufschluß  über  Qualität 
und  Quantität  von  Angebot  und  Nachfrage  nach  Arbeitern  in 
den  verschiedenen  Gegenden  des  Großherzogtums,  denn  es  ist 
noch  üblich,  eine  offene  Stelle  nicht  nur  bei  den  nächstgelegenen, 
sondern  auch  bei  den  entfernteren  Arbeitsnachweisen  anzumelden, 
um  die  Besetzung  zu  beschleunigen.  Dadurch  kommt  in  der 
Statistik  das  faktische  Ueberangebot  von  offenen  Stellen  gegen- 
über der  Nachfrage  seitens  der  Arbeitsuchenden  an  kleinen  Orten 
nicht  zum  Ausdruck.  Die  doppelte  und  mehrfache  Anmeldung 
von  offenen  Stellen  verfälscht  das  Bild  und  verwandelt  es  sogar 
in  sein  Gegenteil. 

Doch  läßt  sich  aus  der  ganzen  wirtschaftlichen  Struktur  Bailens 
ein  Schluß  ziehen :  Die  Dezentralisation  vieler  Industriezweige 
über  das  flache  Land  macht  eine  Ausgleichung  zwischen  städti- 
scher und  ländHcher  Industrie  wahrscheinlicher  als  in  anderen 
Wirtschaftsgebieten  mit  äußerst  konzentrierter  Industrie.  Es  ist 
hier  denkbarer,    daß   städtische    Arbeitslose    von    der    ländlichen 

i)  Mangels  dieser  Voraussetzungen  scheiterte  z.  B.  der  im  Jahre  1906  von 
dem  Verband  Westfälischer  Arbeitsnachweise  in  Dortmund  gemachte  größere  Ver- 
such, für  die  westfälische  Industrie,  insb.  Bergwerke,  Arbeiter  aus  Süddeutsch- 
land zu  beziehen,  vgl.  Jahresbericht  des  badischen  Verbandes   1904/06,  S.  8. 


—     37     — 

Industrie  nachgefragt  werden  und  umgekehrt,  so  daß  hier  die  in- 
terlokale Vermittlung  der  allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnach- 
weise Badens  in  Funktion  treten  kann,  um  eine  solche  subjektive 
Arbeitslosigkeit  abzuschwächen  bez.  ganz  zu  beseitigen. 

3.  Entwicklung  des  allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnach\veises 

zum  Arbeitsamt. 

Schon  bei  Betrachtung  der  Vermittlungsergebnisse  war  im 
einzelnen  Anlaß  gegeben,  auf  die  organisatorische  Erweiterung  der 
Geschäftstätigkeit  der  allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnachweise, 
so  z.  B.  bei  der  w'eiblichen  Abteilung,  hinzuweisen.  An  dieser 
Stelle  soll  nun  über  den  allmählichen  inneren  Ausbau  der 
öffentlichen  Arbeitsnachweise  zu  Arbeitsämtern  in  Baden  weiteres 
gesagt  werden. 

Für  den  bisher  erfolgten  Ausbau  der  allgemeinen  öffentlichen 
Arbeitsnachweise  in  Baden  möchte  ich  zwei,  nicht  nur  zeitlich 
verschiedene  Perioden  unterscheiden  : 

1.  Die  Zeit  des  —  sagen  wir  —  extensiven  Ausbaues  durch 
Filialgründungen  usw., 

2.  die  des  intensiven  Ausbaues,  des  Anschlusses  von  Fach- 
abteilungen, der  Einrichtung  von  Wohnungsnachweisen,  Rechts- 
auskunftstellen usw., 

beide  Perioden  verbunden  durch  das  Bestreben,  die  sozial- 
politische Bedeutung  der  allgemeinen  öffentlichen  Arbeitnachweise 
zu  heben"). 

Zur  Zeit  der  Entstehung  der  ersten  allgemeinen  öffentlichen 
Arbeitsnachweise  in  Baden,  d.  h.  also  anfangs  der  90er  Jahre  des 
vorigen  Jahrhunderts,  wurde  der  Begründung  von  Filialen  großer 
Wert  beigelegt. 

Je  mehr  Filialen  ins  Leben  gerufen  wurden,  um  so  besser 
sollte  das  für  die  Mutteranstalt  sein.  Kaum  sicher  auf  eigenen 
Füßen  stehend,  streckte  diese  ihre  Fühler  auf  die  umliegenden 
kleineren  Städte  und  Landgemeinden  aus.  Die  Zahl  der  Filialen, 
insbesondere  der  Karlsruher  und  der  Freiburger  Anstalt,  war  eine 
ganz  bedeutende. 

i)  E.  H.  Mayer,  a.  a.  O.  S.  60,  versteht  umgekehrt  unter  intensiver  Entwick- 
lung den  räumlichen,  unter  extensiver  den  sachlichen  Ausbau.  Mit  Rücksicht  dar- 
auf, daß  die  Begründung  von  Filialen  usw.  die  bewußt  billige,  d.  h.  Kapital  und 
Arbeit  sparende  Art  des  Ausbaues  war,  dürfte  die  von  mir  gewählte  Ausdrucksweise 
dem  volkswirtschaftlich  üblichen  Gebrauch  von  extensiv  und  intensiv  mehr  entsprechen. 


-     38     - 

Es  kann  beinahe  behauptet  werden,  daß  mancher  Arbeits- 
nachweis nicht  mehr  recht  wußte,  wo  er  Filialen  besaß  und  wo 
nicht.  Standen  doch  die  meisten  nur  auf  dem  Papier,  zumal  bei 
der  geringen  Entschädigung  des  Filialvorstehers  sie  alle  gewisser- 
maßen im  Nebenamt  geleitet  wurden.  Daran  mögen  auch  die 
Berichte  der  Mutteranstalt  nichts  ändern,  die  den  guten  Fortgang 
ihrer  Filialen  vermelden.  J\Ian  war  damals  eben  noch  anspruchs- 
los. Jedenfalls  sind  diese  alten  Filialen  im  Nebenamte  heute  alle 
miteinander  verschwunden,  und  niemand  denkt  daran,  sie  in  alter 
Weise  wieder  zu  errichten.  Und  doch  ist  diesen  alten  Filialen 
ein  gewisses  bleibendes  Verdienst  nicht  abzusprechen ;  es  liegt 
in  der  Vorbereitung  des  Bodens  für  den  Gedanken  der  allgemeinen 
öffentlichen  Arbeitsvermittlung,  auf  daß  die  Saat  des  erstarkten 
allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnachweises  später  um  so  üppiger 
aufschießen  konnte. 

Filialen  besonderer  Art  sind  in  Baden  heute  noch  die  dem 
Vereinsarbeitsnachweis  Konstanz  angeschlossenen  schon  erwähnten 
Natural  Verpflegungsstationen  in  den  Kreisen  Kon- 
stanz und  Villingen  ^).  Ueber  die  Entstehung  der  oberbadischen 
Verpflegungsstationen  wird  unter  dem  Abschnitt  der  charitativen 
Arbeitsvermittlung  noch  weiteres  zu  sagen  sein,  liier  ist  lediglich 
festzustellen,  daß  die  Anstalt  Konstanz  der  Mitwirkung  ihrer 
Naturalverpflegungsstationen  insbesondere  ihre  guten  Erfolge  in 
landwirtschaftlicher  und  kleingewerblicher  Vermittlung  zuschreibt^), 
und  meiner  Ansicht  nach  nicht  mit 'Unrecht.  Die  Vermittlungs- 
ziffer der  Filialen  war  im  Jahre  1912  4753,  darunter  an  erster  Stelle 
890  landwirtschaftliche  Dienstknechte,  gegenüber  insgesamt  5669 
Vermittlungen  der  Anstalt  Konstanz  selbst.  Die  Naturalverpflegungs- 
stationen stehen  in  regelmäßigem  Vakanzenverkehr  mit  dem  Ar- 
beitsamt Konstanz  und  werden  jährlich  von  einem  Beamten  dieses 
Arbeitsamtes  bereist. 

Auch  der  allgemeine  öffentliche  Arbeitsnachweis  für  den 
Kreis  Waldshut  arbeitet  naturgemäß  mit  den  in  diesem  Kreise 
noch  bestehenden  Verpflegungsstationen  zusammen,  ohne  sie  in- 
dessen als  Filialen  zu  betrachten. 


i)  Von  diesen  Filialen  liegen  derzeit  8,  die  das  ganze  Jahr  im  Betriebe  sind, 
im  Kreise  Konstanz  und  12,  von  denen  7  ständig  und  5  nur  in  den  Wintermo- 
naten geöffnet  sind,  im  Kreise  Villingen. 

2)  Vgl.  Jahresberichte    des  Arbeitsamtes  Konstanz   191 1,  S.  6  ff. 


—     39     — 

Im  übrigen  ist  aber  alsbald  neben  und  an  die  Stelle  des 
extensiven  Ausbaues  bei  den  badischen  Arbeitsnachweisen  der 
intensive  getreten.  Hierher  gehört  die  schon  erwähnte  Scheidung 
der  männlichen  und  weiblichen  Abteilung  in  der  Leitung,  ferner 
die  Beschaffung  besserer  Räumlichkeiten,  die  Einrichtung  ver- 
schiedener Schalter  usw.  Als  bedeutungsvollstes  Stück  des  inneren 
Ausbaues  möchte  ich  indessen  —  unter  Zurückstellung  von  Woh- 
nungsnachvveisen,  Rechtsauskunftstellen  usw.  —  die  Ausbildung 
von  Fachabteilungen  ansehen. 

Als  F  a  c  h  a  b  t  e  i  1  u  n  g  wird  nur  diejenige  Vermittlungs- 
tätigkeit anzusprechen  sein,  die  mit  einer  ganz  besonderen  Sorg- 
falt in  Beziehung  auf  einzelne  bestimmte  oder  doch  verwandte 
Berufe  ausgeübt  wird').  Ueblich,  wenn  auch  nicht  begrifflich 
wesentlich  ist,  daß  diese  Fachabteilung  von  einem  besonderen 
Beamten  und  in  besonderen  Räumlichkeiten  geführt  wird ;  dabei 
braucht  der  Beamte  nicht  notwendig  ein  Fachmann  zu  sein,  muß 
aber  besonders  fachkundig  sein.  Der  Anlaß  zur  Errichtung  einer 
Fachabteilung  kann  sich  aus  der  allgemeinen  Vermittlungstätig- 
keit des  Arbeitsnachweises  allmählich  ergeben ,  er  kann  aber 
auch  von  außen,  von  Seiten  der  Arbeitgeber-  und  Arbeitnehmer- 
organisationen her  an  den  allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnach- 
weis herangetragen  werden,  indem  diese  unter  der  Voraussetzung 
der  Errichtung  einer  Fachabteilung  auf  ihre  besonderen  Nachw^eise 
verzichten.  In  Baden  ist  nun  die  Errichtung  von  Fachabteilungen 
gewöhnlich  aus  beiden  Wurzeln  gleichzeitig  erwachsen,  d.  h.  der 
allgemeine  öffentliche  Arbeitsnachweis  übte  bereits  eine  besondere 
Vermittlungstätigkeit,  wenn  auch  in  beschränktem  Umfange,  in 
dem  bestimmten  Berufe  aus,  die  dann  unter  der  Mitwirkung  der 
Organisationen  umfassender  gestaltet  und  organisatorisch  weiter 
ausgebaut  wurde.  Dabei  muß  weiter  zu  besonderem  Lobe  der 
badischen  allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnachweise  hier  gesagt 
werden,  daß  sie  Fachabteilungen  niemals  »auf  Propaganda«  oder 
»auf  gut  Glück«  geschaffen  haben,  sondern  nur  bei  bestehendem 
Bedürfnis.  Es  liegt  ferner  in  der  Natur  der  Sache,  daß  Fachab- 
teilungen nur  errichtet  werden  können  bei  Arbeitsnachweisen  von 
größerer  Bedeutung.  So  finden  wir  denn  auch  in  Baden  Fach- 
abteilungen nur  bei  den  größeren  Arbeitsämtern,  wie  in  Freiburg 
(für  kaufmännisches  und  für  Gastwirtspersonal)  usw.    In  Karlsruhe 

i)  Vgl.  Fischer,  Fachabteilung  bei  den  gemeindlichen  Arbeitsämtern  usw., 
Arbeitsmarkt   19 lo,  S.  209  fF. 


—     40     — 

ist  dabei  für  die  Fachabteilung  je  eine  besondere  \''er\valtungskom- 
mission  gebildet,  in  Pforzheim  und  in  Freiburg  für  die  besonderen 
Zwecke  die  allgemeine  Vcrwaltungskommission  paritätisch  er- 
weitert worden. 

Eine  Fachabteilung  besteht  dagegen  an  und  für  sich  noch 
nicht,  wenn  für  einzelne  Innungen  usw.,  wie  noch  zu  erörtern 
sein  wird,  die  Vermittlungstätigkeit  übernommen  wird ;  es  muß 
immer  noch  eine  besonders  qualifizierte  Vermittlungstätigkeit 
(Aufwand  von  besonderer  Sorgfall)  dazu  kommen.  Richtig  ist, 
daß  in  manchen  Fällen  die  Einrichtung  einer  Fachabteilung  für 
bestimmte  Berufe  Lebensfrage  für  den  Arbeitsnachweis  sein  kann. 

Neben  den  allgemeinen  Unterabteilungen  für  männliches  und 
weibliches  Personal  und  den  für  diese  Abteilungen  etwa  gebildeten 
zusammenfassenden  P'achabteilungen  bestehen  dann  beim  weiter 
ausgebauten  Arbeitsamt  noch  Abteilungen  besonderer  Art,  die 
nicht  eigentlich  Arbeit  vermitteln,  ich  meine  Wohnungsnachweis, 
Rechtsauskunftsstelle  und  weiter  Arbeitslosenfürsorge  ^). 

Auf  den  ersten  Blick  scheint  ein  W  o  h  n  u  n  g  s  n  a  c  h  w  e  i  s 
durchaus  in  keinem  Zusammenhange  mit  einem  Arbeitsnachweis 
zu  stehen,  und  doch  verbindet  beide  ein  wichtiger  sozialpolitischer 
Gedanke  ^j.  Braucht  der  Arbeiter,  der  den  Arbeitsnachweis  auf- 
sucht, auch  in  erster  Linie  Arbeit,  so  ist  es  besonders  für  den 
von  auswärts  zugereisten  Arbeitsuchenden  doch  von  großer,  oft 
für  den  Vermittlungserfolg  ausschlaggebender  Bedeutung,  daneben 
noch  billige  Wohn-  und  Schlafgelegenheit  erfahren  zu  können. 
So  finden  wir  denn  schon  bei  den  ersten  allgemeinen  öffentlichen 
Arbeitsnachweisen  in  Baden,  bald  nach  der  Errichtung,  vielfach 
Fürsorge  für  Wohnungsgelegenheit  für  Arbeitsuchende,  so  z.  B. 
in  Lahr  und  Offenburg,  wo  Schlafstellen  und  kleine  Wohnungen 
vermittelt  wurden.  Allmählich  wird  dieser  Nachweis  ausgebaut, 
und  er  wird  meines  Erachtens  zu  einer  besonderen  Abteilung, 
sofern  ähnlich  wie  beim  Fachnachweis  diesem  Aufgabenkreis  ganz 
besondere  Sorgfalt  zugewendet  wird.  Andererorts  ist  auch  der 
Wohnungsnachweis  gleich  als  besondere  Abteilung  -des  Arbeits- 
amtes in  erweitertem  Umfange,  so  z.  B.  in  Ineiburg,  eingerichtet 
worden.     Dabei  ist    wohl    von  Interesse    zu    erfahren,    daß    diese 


1)  Vgl.  hierzu  die  Verhandlungen  auf  dem  V.  Deutschen  Arbeitsnachweiskon- 
greß zu  Leipzig  1908,  Schriften  des  Verbandes  Deutscher  Arbeitsnachweise  Nr.  7, 
S.  81  flf. 

2)  Vgl.  Geschäftsbericht  des  Arbeitsamts  Freiburg   191 1,  S.  4. 


—     41      — 

Wohnungsnachweise  auch  in  Baden  Angriffen  insbesondere  von 
der  Seite  der  Haus-  und  Grundbesitzervereine  ausgesetzt  waren, 
die  ihre  Errichtung  und  ihr  Wirken  nur  höchst  ungern  sahen,  ob- 
wohl sie  doch  auch  in  ihrem  Interesse  tätig  waren.  Ein  Umschwung 
zugunsten  des  städtischen  Wohnungsnachweises  trat  vielfach  hier 
erst  bei  längerem  Bestehen  ein^).  Die  Vermittlung  oder  besser 
der  Nachweis  leerstehender  Wohnungen  usw.  erfolgt  kostenlos. 
Während  z.  B.  Karlsruhe  noch  mit  dem  Listensystem  arbeitet, 
hat  das  führende  Freiburger  Arbeitsamt  auch  hier  das  Karten- 
system mit  Erfolg  eingeführt.  Die  Vermittlungsergebnisse  resul- 
tieren zurzeit  meist  aus  Vermittlung  von  Schlafstellen  und  mö- 
blierten Zimmern ;  größere  Wohnungen  werden  nur  ausnahmsweise 
vermittelt,  doch  scheint  insbesondere  nach  den  Erfahrungen  der 
Freiburger  Anstalt  auch  hier  eine  Besserung  Platz  zu  greifen,  die 
man  w'ohl  als  Ansatz  einer  Organisation  des  kommunalen  Woh- 
nungsmarktes begrüßen  darf. 

Eine  besondere  Art  des  Wohnungsnachweises  hat  sich  ins- 
besondere für  das  weibliche  Personal  dort  ausgebildet,  wo  mit 
dem  Arbeitsnachweise  besondere  Mädchenheime,  wie  z.  B.  in 
Freiburg  und  Konstanz,  verbunden  wurden,  welche  Einrichtung 
sich  durchaus   bewährt  hat. 

Auch  die  den  allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnachweisen  an- 
gegliederten Rechtsauskunftstellen  können  erst  dann 
als  besondere  Abteilungen  angesehen  werden,  wenn  bei  ihnen  die 
gleichen  Voraussetzungen,  wie  bei  den  Wohnungsnachweisen, 
vorliegen,  d.  h.  wenn  die  Ratserteilung  nicht  gelegentlich  und 
nebenbei  im  Schalterdienst  erfolgt,  sondern  im  besonderen  Dienst 
mit  besonderer  Sorgfalt  vorgenommen  w"ird.  Obwohl  das  Bedürf- 
nis, insbesondere  in  Angelegenheiten  des  Arbeitsvertrages  Rat  und 
Auskunft  zu  erteilen,  schon  früh  bei  den  allgemeinen  öffentlichen 
Arbeitsnachweisen  sich  bemerkbar  machte,  und  auch,  wie  z.  B. 
in  Freiburg,  schon  früh  derartiger  Rat  erteilt  worden  ist^),  ist 
bisher  in  Baden  nur  einem  allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnach- 
weis   eine   besondere  Rechtsauskunftstelle  angeschlossen    worden 


i)  Aehnliche  Interessengegensätze  zeigten  sich  z.  B.  in  Zittau,  Worms,  Straß- 
burg i.  E.  und  Kaiserslautern  (in  letzterer  Stadt  beschäftigt  sich  auch  ein  Mieter- 
verein mit  Vermittlung  von  Wohnungen) ;  ein  allmähliches  Verschwinden  der  Gegen- 
sätze berichtet  z.B.  auch  das  Charlottenburger  Wohnungsamt,  Soziale  Praxis  1913/14, 
S.    142. 

2)  Vgl.  Jahresbericht  des  Verbandes   1898,  S.  8. 


—     42     — 

und  zwar  in  Karlsruhe.  Andererseits  bestehen  im  Großherzogtum 
gemeindliche  Rechtsauskunftstellen  in  Freiburg,  Pforzheim  und 
Mannheim,  aber  ohne  nähere  Verbindung  mit  dem  Arbeitsamt. 
Die  Frage  der  Verbindung  ist  darnach  noch  eine  offene,  und  sie 
muß  m.  E.  jedenfalls  für  die  größeren  Arbeitsämter  als  unzweck- 
mäßig abgelehnt  werden ').  Zwar  mag  es  sein,  daß  vielfach  die- 
selben Personenkreise,  die  zum  Arbeitsnachweis  kommen,  auch 
die  Rechtsauskunftstelle  aufsuchen  und  es  dann  nicht  wohl  an- 
geht, gelegentliche  Fragen  insbesondere  aus  dem  schon  erwähnten 
Gebiete  des  Arbeitsvertrages  stets  an  die  Gerichtsschreiberei  des 
Gewerbe-  bez.  des  Gemeindegerichts  zu  verweisen.  Derartige 
einfache  Auskünfte  können  und  sollen  auch  in  Zukunft  am  Schalter 
des  Arbeitsamtes  beantwortet  werden.  Allein  wird  die  Rechts- 
auskunftstelle erweitert  und  besonders  ausgtjbaut,  wie  die  gleich 
näher  zu  schildernde  in  Karlsruhe,  so  dürfte  m.  E.  das  die  Rats- 
erteilung mit  der  Tätigkeit  des  Arbeitsamtes  verbindende  soziale 
Band  nicht  mehr  stark  genug  sein,  um  eine  organisatorische  Ver- 
bindung zu  rechtfertigen.  Soweit  gehende  juristische  Kenntnisse 
können  dem  Leiter  eines  Arbeitsamtes  nur  in  glücklichen  Aus- 
nahmefällen zu  Gebote  stehen,  als  dann  nötig  sind,  um  den  weitesten 
Ansprüchen  der  ausgebauten  Rechtsauskunftstelle  mit  Erfolg  und 
im  Bewußtsein  der  Verantwortung  zu  entsprechen.  Auf  einer 
gewissen  Stufe  der  Entwicklung  müssen  deshalb  Rechtsauskunft- 
stelle wie  auch  Wohnungsnachweis,  dieser  wegen  der  mit  ihm 
zweckmäßig  zu  verbindenden  Wohnungsaufsicht,  von  dem  Arbeits- 
amt wieder  getrennt  werden,  ohne  daß  hierdurch  die  freund- 
nachbarlichen Beziehungen  abgebrochen  zu  w^erden  brauchen. 
Hauptzweck  des  Arbeitsamtes  muß  immer  die  Arbeitsvermittlung 
bleiben! 

Die  Karlsruher  Rechtsauskunftstelle,  die  ich  hier  als  Bei- 
spiel einer  besonders  ausgebauten  Rechtsabteilung  des  Arbeits- 
amtes anführen  möchte,  hat  die  Aufgabe,  der  minderbemittelten 
Bevölkerung  der  Stadt  und  des  Amtsbezirkes  Karlsruhe  Rat  und 
Auskunft  in  rechtlichen  Angelegenheiten  zu  erteilen,  namentlich 
im  Gebiete  des  Arbeits-  und  des  Dienstvertrages,  ferner  aber 
auch  des  Arbeiterschutzes  und  der  Arbeiterversicherung,  in  Steuer-, 


i)  Vgl.  Lauer,  Arbeitsnachweis  und  Rechtsauskunftstellen,  Arbeitsmarkt 
1908/09,  S.  61,  vgl.  die  Ausführungen  von  Schulz  und  Schweikert  auf  dem  V.  Deut- 
schen Arbeitsnachweiskongreß,  a.  a.  O.,  S.  95  ff.,  S.  107  ff,;  der  Kongreß  ließ  die 
Frage  der  Verbindung  prinzipiell  offen. 


—     43     — 

Schul-,  Militär-,  Unterstützungs-,  Vormundschafts-,  Erbschafts-, 
Ehe-  und  Mietsachen  und  dergleichen,  sowie  über  das  Ver- 
fahren, wie  man  sieht,  also  recht  weitgehende  Aufgaben.  Der 
Leiter  der  Rechtsauskunftstelle  ist  der  Leiter  des  Karlsruher 
Arbeitsamtes,  dem  zur  Besorgung  der  Kanzleigeschäfte  (Fertigung 
von  Schriftsätzen  usw\)  ein  Gehilfe  beigegeben  ist.  Rat  und 
Auskunft  werden  kostenlos  erteilt ;  ebenso  erfolgt  die  Anferti- 
gung notwendiger  Schriftsätze  völlig  unentgeltlich.  Die  Zahl  der 
Auskünfte  war  von  Anfang  an  sehr  beträchtlich,  sie  stieg  von 
5232  im  Jahre  1908  auf  5759  im  Jahre  1912,  und  wenn  die  Aus- 
künfte auch  in  der  Hauptsache  sich  auf  Arbeitsvertrag  und 
Mietsverhältnisse  bezogen  (dem  Arbeitsamt  ist  wie  schon  vor- 
erwähnt auch  ein  Wohnungsnachweis  angeschlossen),  so  wird 
man  doch  wohl  nicht  im  Zweifel  sein  können,  daß  hier  der 
Rechtsauskunftstelle  »als  besonderer  Abteilung  des  Arbeitsamtes«  ^) 
Aufgaben  gegeben  worden  sind,  die  zu  weit  gehen  (Erbschafts- 
sachen, Ehesachen).  Dabei  ist  mir  wohl  bewußt,  daß  dem  Karls- 
ruher Arbeitsamt  auch  die  sogleich  zu  berührende  Arbeitslosen- 
fürsorge angeschlossen  ist,  diese  aber  das  Auftreten  weiterer 
Rechtsfragen  aus  dem  Gebiete  des  öffentlichen  Rechts  natur- 
gemäß mit  sich   bringt. 

Den  Arbeitslosen  endlich,  für  die  die  Vermittlung  von 
Arbeit  zunächst  mangels  entsprechenden  Angebotes  nicht  mög- 
lich ist,  haben  die  allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnachweise  in 
Baden  schon  frühzeitig  ihre  Fürsorge  zugewendet.  Zunächst  den 
wandernden  Arbeitslosen,  indem  schon  auf  dem  Verbandstag 
1897  ^)  anerkannt  wurde,  daß  es  Aufgabe  der  allgemeinen  öffent- 
lichen Arbeitsnachweise  sei,  mit  den  Vereinen  gegen  Haus-  und 
Straßenbettel,  Verpflegungsstationen  und  ähnlichen  Einrichtungen 
in  Verbindung  zu  treten,  um  unter  etwaiger  Mitwirkung  der  Po- 
lizei es  zu  erreichen,  daß  Mißbräuche  dieser  besonderen  Institu- 
tionen verhindert  und  Unterstützungen  nur  an  solche  Wanderer 
verabreicht  würden,  deren  unverschuldete  Arbeitslosigkeit  und 
Bedürftigkeit  feststehe.  Ein  derartiges  Zusammenarbeiten  wurde 
denn  auch  tatsächlich  angebahnt,  jedoch  bisher  nicht  überall  und 
nicht  dauernd.  Es  sei  mir  deshalb  gestattet,  hier  auf  die  beson- 
ders günstigen  Erfahrungen  hinzuweisen,  die  Bruchsal  und  Pforz- 
heim mit  derartiger  Zusammenarbeit  gemacht  haben.     Allerdings 

1)  Geschäftsbericht  07/11,  S.   12. 

2)  Jahresbericht  des  Verbandes,  S.  4. 


—     44     — 

werden  zweifellos  größere  Erfolge  nur  in  Verbindunjr  rnit  einer 
allgemein  besseren  Organisation  der  Wandererfürsorge  zu  erreichen 
sein. 

Ferner  wird  in  Baden  allen  Arbeitslosen,  die  beim  öffent- 
lichen Arbeitsnachweis  vorsprechen  —  und  der  männliche  Arbeits- 
lose spricht  gewöhnlich  erst  dann  vor,  wenn  er  arbeitslos  ist  — , 
ein  besonderes  sozialpolitisches  Interesse  zugewendet,  indem  seitens 
der  Arbeitsnachweise  eine  besondere  Bewegungsaufnahme  der 
Arbeitslosen  stattfindet,  die  allmonatlich  in  weiterer  Entzifferung 
als  »Darstellung  der  Dauer  der  Arbeitslosigkeit«  dem  statistischen 
Landesamt  zur  Verwertung  bei  der  Beurteilung  des  Arbeitsmarktes 
mitgeteilt  wird.  Allerdings  darf  nicht  verschwiegen  werden,  daß 
die  Meinungen  über  die  sozialpolitische  Bedeutung  dieser  Ein- 
richtung recht  geteilt  sind  ^).  Auch  bei  den  sonstigen  Arbeitslosen- 
zählungen (Bestandsaufnahmen  der  Arbeitslosen),  die  in  den  letzten 
Jahren  in  einer  Reihe  von  größeren  Städten  Badens  stattfanden, 
haben  die  Arbeitsämter  zum  mindesten  kontrollierend  überall 
mitgewirkt,  ebenso  wie  ihnen  auch  überall  da,  wo  Notstands- 
arbeiten stattfanden  oder  sog.  Arbeitslosenversicherungen  ein- 
gerichtet sind  (Freiburg,  Mannheim,  Karlsruhe),  eine  weitgehende 
kontrollierende  Mitwirkung  eingeräumt  ist. 

Die  Arbeitslosenfürsorge  aus  öffentlichen  Mitteln,  und  nur 
von  dieser  kann  hier  im  Gegensatz  zu  der  privatim  von  Unter- 
nehmern gewährten  und  der  von  Arbeitnehmerverbänden  einge- 
richteten die  Rede  sein,  erscheint  m.E.  im  Großherzogtum  heute 
schon  in  doppelter  Gestalt,  einmal  in  Form  der  aus  öffentlichen 
Mitteln  unterhaltenen  Naturalverpflegungsstationen  insbesondere 
in  den  vier  oberbadischen  Kreisen,  worüber  noch  im  Rahmen 
der  charitativen  Arbeitsvermittlung  gehandelt  wird,  und  sodann 
als  Arbeitslosenfürsorge  im  eigentlichen  engeren  Sinne  in  ein- 
zelnen größeren  Städten,  nämlich  in  T'reiburg,  Mannheim  und 
Karlsruhe.  Dabei  muß  allerdings  sogleich  hervorgehoben  werden, 
daß  in  letzterem  Falle  die  genannten  Städte  nur  mit  einem  ge- 
wissen Widerstreben  an  die  Arbeitslosenfürsorge  herangetreten 
sind,  weil    man    sich    der    Unvollkommcnhcit    der    Einrichtungen 


l)  Vgl.  »Ergebnisse  der  Bewegungsaufnahme  der  Arbeitslosen  im  Geschäfts- 
bereich des  Verbandes  bad.  Arbeitsnachweise  1898/1910«  in  den  Stat.  Mitteilungen 
über  das  Großherzogtum  Baden,  Jahrgang  191 1,  S.  59  f.,  ferner  Geschäftsbericht 
des  Verbandes  1903,  S.  16  ff,,  sowie  meine  Ausführung  in  der  Zeitschrift  f.  bad. 
Verwaltung  und  Verwaltungsrechtspflege   1913,  S.    195  ff. 


—     45     - 

nur  zu  bewußt  war  und  auch  in  erster  Linie  ein  Eingreifen  als 
Sache  der  größeren  Verbände,  also  insbesondere  des  Staates  oder 
des  Reiches,  erachtete.  Indem  ich  hier  davon  absehen  muß,  die 
in  den  genannten  Städten  getroffenen  Einrichtungen  näher  zu  be- 
schreiben, möchte  ich  dieselben  doch  kurz  dahin  charakterisieren, 
daß  Freiburg  sich  einer  Verbindung  des  Genter  Systems  mit 
Spareinrichtung  zugewendet  hat  ^)  und  auch  Mannheim  neuer- 
dings das  Genter  System,  aber  mit  Gewährung  von  Unterstüt- 
zungen auch  an  Nichtorganisierte  und  zwar  ohne  Sparzwang"  zur 
Einführung  brachte  -),  während  in  Karlsruhe  ganz  allgemein  Ar- 
beitslosenunterstützung aus  verfügbaren  städtischen  Wohltätig- 
keitsmitteln nach  bestimmten  Grundsätzen  gewährt  wird  ^').  Ueber- 
all  ist  indessen  die  Arbeitslosenunterstützung  über  das  städtische 
Arbeitsamt  geleitet  worden,  dem  auch  in  Verbindung  mit  den 
Organisationen  die  Kontrolle  der  Arbeitslosen,  wie  gesagt,  ob- 
liegt, und  überall  ist  der  Grundsatz  beobachtet,  daß  Unterstüt- 
zung nur  gewährt  werden  soll,  wenn  Arbeit  nicht  vermittelt  werden 
kann. 

Meiner  Ueberzeugung  nach  liegt  eine  Arbeitslosenfürsorge 
als  Arbeitslosenversicherung  im  technischen  Sinn  und,  wie  sie 
sich  manche  als  Ergänzung  der  schon  bestehenden  sozialen  Ver- 
sicherung gegen  Krankheit,  Unfall  und  Invalidität  denken  mögen, 
noch  in  weiter  Ferne,  wenigstens  soweit  die  unverschuldete  Ar- 
beitslosigkeit in  Betracht  kommt.  Es  wird  hier  wohl  immer  nur 
eine  Verwendung  öffentlicher  Mittel  in  Frage  kommen  können, 
die  man  gewissermaßen  in  Zeiten  der  Hausse  von  der  Gesamt- 
heit erhebt  und  in  Zeiten  der  Baisse  an  Bedürftige  wieder  ab- 
gibt; aber  die  Form  dieser  Vergebung  scheint  mir  eine  verschie- 
dene sein  zu  müssen,  je  nachdem  der  Arbeitslose  in  der  Stadt 
oder  auf  dem  Lande  sich  befindet.  So  komme  ich  dazu,  die 
beiden  vorerwähnten  Formen  der  Arbeitslosenfürsorge,  die  wir 
schon  heute  im  Großherzogtum  finden,  für  typisch  anzusprechen, 
nämlich  in  der  Stadt  die  geldliche  Unterstützung  nach  bestimm- 
ten, an  sich  verschieden  sein  könnenden  Grundsätzen,  und  auf 
dem  Lande  die  Unterstützung  in  natura  durch  die  Wanderarbeits- 
stätte, wobei  aber  in  beiden  Fällen  die  Unterstützung  nur  eine 
sekundäre  sein  darf,    so  oft  und  so  lange  wirkliche  Arbeit  nicht 

i)  Vgl.  Geschäftsbericht  des  Arbeitsamtes  Freiburg   19 lo,    S.  4  ff.,    S.   25    ff. 

2)  Bürgerausschußvorlage   vom  25.  2.   13,  die  Arbeitslosenfürsorge  betr. 

3)  Vgl.  Geschäftsbericht  des  Arbeitsamts  Karlsruhe    191 2,  S,    10  ff. 


-     46     - 

vermittelt  werden  kann.  Ist  die  Unterstützungszeit  hier  aber  ab- 
gelaufen, so  müßte,  wenn  man  den  Arbeitslosen  nicht  der  Armen- 
fürsorge überlassen  will,  die  Aufnahme  in  sogenannte  Arbeiter- 
heime (gehobene  Arbeiterkolonien)  statthaben.  Und  aus  diesen 
Gründen  möchte  ich  auch  in  den  von  Reichs  wegen  in  Vorberei- 
tung befindlichen  besonderen  Gesetzentwürfen  über  Wanderar- 
beitsstätten und  Arbeiterheimc  einen  Versuch  zur  Lösung  der 
Arbeitslosenfrage  sehen,  wie  er  weitergehend  vom  Reich  wohl 
zurzeit  nicht  gemacht  werden  kann.  Auch  dieser  Weg  aber 
w^ürde  sonach  grundsätzlich  über  die  Einrichtungen  zur  Arbeits- 
vermittlung führen,  womit  die  Notwendigkeit  der  Verbindung  der 
Wanderarbeitsstätten  und  auch  der  Arbeiterheime  mit  dem  all- 
gemeinen öffentlichen  Arbeitsnachweise  aufs  neue  betont  werden 
soll. 

Üb  man  nun  diese  Fürsorgetätigkeit  für  die  Arbeitslosen, 
soweit  sie  den  allgemeinen  Arbeitsnachweisen  obliegt,  als  eine 
besondere  Abteilung  des  Arbeitsnachweises  bezeichnen  soll  oder 
nicht,  erscheint  zunächst  zweifelhaft.  Ich  möchte  die  Frage  be- 
jahen, sobald  diese  Tätigkeit  als  eine  besondere  Aufgabe  orga- 
nisationsmäßig dem  Arbeitsnachweis  übertragen  und  nicht  nur 
Gelegenheitsarbeit  ist.  Auch  möchte  mir  diese  Tätigkeit  im  Gegen- 
satz zu  Wohnungsnachweis  und  Rechtsauskunftstelle  als  eine 
dem  Arbeitsnachweis  durchaus  homogene  erscheinen,  denn  wenn 
dieser  Xotstandsarbeit  und  Arbeitslosenunterstützung  vermittelt, 
was  tut  er  da  anders,  als  das  Surrogat  nicht  vorhandener  Arbeit 
vermitteln! 

Am  Schlüsse  meiner  Erörterung  über  den  Ausbau  des  all- 
gemeinen öffentlichen  Arbeitsnachweises  in  Baden  sei  endlich  er- 
wähnt, daß  eine  Fortbildung  des  Arbeitsamtes  zum  Arbeitsbe- 
schaffungsamt, wie  es  z.  B.  durch  Beigabe  einer  Schreib- 
stube für  arbeitslose  Gebildete  beiderlei  Geschlechts  insbeson- 
dere beschäftigungslose  Kaufleute  anderwärts  geschehen  ist,  in 
Baden  bisher  nicht  stattgefunden  hat  ^).  Meines  Dafürhaltens 
möchte  sich  indessen  auch  in  Baden  die  Errichtung,  von  solchen 
Schreibstuben  im  Anschluß  an  die  größeren  allgemeinen  öffent- 
lichen Arbeitsämter  wohl  empfehlen,  da  die  Gemeindeverwal- 
tung besser  als  irgend  ein  wohltätiger  Verein  in  der  Lage 
wäre,  für  die  Schreibstube  einen  festen  Stamm  von  Arbeitern  zu 

l)  Mittel  hierfür  sind  allerdings  im  städtischen  Voranschlag  Freiburg  bereits 
wiederholt  vorgesehen  worden. 


—     47     — 

halten,  die  das  Rückgrat  gegenüber  den  vorübergehend  Beschäf- 
tigten bilden  könnten,  so  daß  Aufträge  öffentlicher  und  privater 
Stellen  leichter  zufließen  möchten.  Allerdings  muß  die  Entlöh- 
nung (am  besten  Akkordlöhne)  eine  solche  sein,  daß  sie  nur  das 
Notwendigste  bietet  und  ein  starker  Anreiz,  anderwärts  wieder 
in  dauernde  Stellung  zu  kommen,  bestehen  bleibt  ^). 

4.  Die  Finanzgebarung. 

Es  bedarf  keiner  weiteren  Ausführung,  daß  es  von  Anfang 
an  im  Wesen  der  allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnachweise  als 
gemeinnütziger  Vermittlungseinrichtungen  lag,  die  Vermittlungs- 
tätigkeit nicht  gewerbsmäßig  zu  betreiben.  Deshalb  waren  die 
gründenden  Vereine  für  möglichst  reichliche  Zuschüsse  besorgt,  wo- 
her immer  sie  nur  solche  erhalten  konnten.  Das  ging,  solange 
der  finanzielle  Bedarf  noch  gering  war.  Alsbald  reichten  jedoch 
die  freiwilligen  Gaben  nicht  mehr  aus,  die  Arbeitsnachweise 
mußten  auf  andere  Weise  unterhalten  werden,  und  es  ist  be- 
reits eingangs  erwähnt  worden,  wie  hier  insbesondere  die  Städte 
eingriffen  und  wie  es  mit  drei  Ausnahmen  zur  Uebernahme  der 
allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnachweise  in  städtische  Regie  kam. 

Indessen  ging  nebenher  ein  anderes  Hilfsmittel  finanzieller 
Bilanzierung  des  Bedarfs :  die  Gebührenerhebung.  Die 
Zeit  der  Gebührenerhebung  zerfällt  gewissermaßen  in  zwei  Ab- 
schnitte : 

zunächst  in  die  Zeit  der  Erhebung  geringer  Gebühren  mangels 
Unmöglichkeit  der  Unentgeltlichkeit, 

und  sodann  in  die  Zeit  der  grundsätzlichen  Unentgeltlichkeit 
bei  teilweiser  Erhebung  geringer  Gebühren. 

Dabei  hat  den  Umschwung  herbeigeführt  einmal  die  durch 
den  Verband  vermittelte  Erkenntnis  von  der  Wichtigkeit  der  Un- 
entgeltlichkeit für  die  gesamte  Entwicklung  der  allgemeinen  öffent- 
lichen Arbeitsnachweise,  insbesondere  im  Kampfe  gegen  die  ge- 
werbsmäßigen Stellenvermittler  ^),  und  sodann  die  Stellungnahme 


i)  Vgl.  Glücksmann,  auf  dem  V.  Deutschen  Arbeitsnachweiskongreß,  a.  a.  O., 
S.  84/85. 

2)  Verbandstag  1897  und  1898.  Wenn  E.  H.  Meyer,  a.  a.  O.  S.  60,  die 
Ansicht  vertritt,  daß  die  allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnachweise  zur  Gebühren- 
erhebung gekommen  sind,  insbesondere  um  dem  Anschein  charitativer  Einrichtungen 
zu  entgehen,  so  kann  dem  für  die  badischen  Verhältnisse  nicht  beigetreten  werden; 
die  Gebühren  wurden  hier,  soweit  ich  sehe,  überall  aus  finanziellen  Gründen  erhoben. 


-     4S     - 

der  Gioßherzoglichen  Staatsverwaltung,  die  die  Staatsunterstützung 
für  die  einzelnen  Anstalten  i,nundsätzlich  davon  abhängig  machte, 
daß  wenigstens  die  gewerblichen  Arbeiter  unentgeltlich  vermittelt 
würden.  Die  Frage  der  Gebührenerhebung  war  so  bei  der  Ueber- 
nahme  in  städtische  Regie  gewissermaßen  schon  gelöst.  Es  wird 
bei  Behandlung  der  Frage  der  Zentralisation  noch  zu  erörtern 
sein,  inwieweit  diese  Lösung  als  eine  für  das  städtische  Arbeits- 
amt endgültige  angesehen  werden  darf). 

Als  typisch  für  die  erste  Zeit  der  Gebührenerhebung 
kann  die  Einführung  von  Kupons-  und  Abonnementsbüchlein 
gelten.  Die  Gebühren  waren  .stets  außerordentlich  niedrig  und 
haben  nie  volle  Kostendeckung  ergeben. 

In  der  Zeit  der  grundsätzlichen  Unentgeltlich- 
k  c  i  t  bahnt  sich  dann  eine  Scheidung  der  Gebühren,  soweit  sie 
überhaupt  noch  erhoben  werden,  in  bloße  Kontrollgebühren  und 
in  Finanzgebühren  an.  Die  Kontrollgebühr  ist  eine  niedrige  Ein- 
schreibgebühr —  auch  Vormerkungsgebühr  genannt  — ,  die  bei 
Angehen  des  Arbeitsamtes  zu  entrichten  ist.  Eine  solche  Gebühr 
wollte  z.  B.  Mannheim  1899  zur  Einführung  bringen.  Darnach 
sollten  die  Arbeitnehmer  beim  Einschreiben  20  Pf.  entrichten, 
sie  aber  wieder  zurückerhalten,  sobald  sie  dem  Arbeitsamte  die 
Annahme  oder  die  Ablehnung  einer  Arbeitsstelle  meldeten.  Die 
Finanzgebühr,  gewöhnlich  etwas  höher  als  die  Kontrollgebühr, 
wird  erhoben  bei  Zustandekommen  einer  Vermittlung. 

Eine  Einschreibegebühr  verlangt  z.  B.  noch  heute  Konstanz, 
in  Höhe  von  25  Pfg.  von  den  Dienstherrschaften,  die  den  Ar- 
beitsnachweis wegen  Dienstboten  in  Anspruch  nehmen;  diese 
Einnahme  kommt  dann  allerdings  dem  mit  dem  Arbeitsamt  ver- 
bundenen Mädchenheim  zugute.  Eine  Finanzgebühr  erhebt  z.  B. 
Pforzheim  in  Höhe  von  i  Mark  für  die  Vermittlung  von  Dienst- 
boten von  den  Dienstherrschaften,  welche  Gebühr  zurückbezahlt 
wird,  wenn  die  Vermittlung  nicht  innerhalb  drei  Monaten  zu- 
stande kommt.  Dabei  ist  es  kein  Zufall,  daß  die  Gebühren  ins- 
besondere bei  der  Vermittlung  von  Dienstboten  sich  finden,  denn 
es  ist  bekannt,  daß  gerade  auf  diesem  Gebiete  die  gewerbs- 
mäßige Stellenvermittlung  die  Tätigkeit  des  allgemeinen  öffent- 
lichen Arbeitsnachweises  herunterzusetzen  suchte,  weil  sie  unent- 
geltlich und  daher  minderwertig  sei.     Ueberall  treffen  heute,   so- 

i)  Vgl.  Entgeltlichkeit  oder  UnenlgeUlichkeit  der  städt.  Arbeitsvermittlung? 
Arbeitsmarkt  1911/12,  S.  423. 


—     49     — 

weit  mir  bekannt,  Einschreibe-  und  Finanzgebühren  nur  mehr 
Arbeitgeber. 

Ein  Staatszuschuß  für  die  allgemeinen  öffentlichen  Arbeits- 
nachweise in  Baden  ist  erstmals  im  Staatsvoranschlag  1896/97 
vorgesehen  worden.  Begründet  wurde  die  Position  mit  dem  Hin- 
weis auf  die  volkswirtschaftliche  Bedeutung  der  Arbeitsnachweise 
insbesondere  für  den  Ausgleich  der  Schwankungen  auf  dem  Arbeits- 
markte und  für  die  Bekämpfung  der  Arbeitslosigkeit,  sowie  mit 
Hinweis  auf  den  dringenden  finanziellen  Bedarf  der  damals  noch 
vorherrschenden  Vereinsnachweise.  Im  Hinblick  auf  die  volks- 
wirtschaftliche Bedeutung  einer  geregelten  und  guten  Arbeitsver- 
mittlung, die  der  gesamten  Volkswohlfahrt  zugute  kommt,  ist  dann 
der  Staatsbeitrag  nicht  nur  beibehalten,  sondern  noch  ständig 
erhöht  worden,  auch  nachdem  die  Anstalten  in  städtische  Regie 
übernommen  waren.  Betrug  der  staatliche  Zuschuß  im  Jahre  1896 
insgesamt  9400  Mark,  so  bezifferte  er  sich  für  das  Jahr  191 2 
bereits  auf  30000  Mark  ^),  welche  Steigerung  erreicht  zu  haben 
ein  Verdienst  insbesondere  auch  des  Verbandes  ist.  Dabei  ge- 
währt die  Großherzogliche  Regierung  diese  Unterstützung  einmal 
dem  Verbände  (einschließlich  der  Landeszentrale)  als  solchem, 
sie  deckt  hier  die  Kosten  nahezu  ausschließlich.  Sodann  gewährt 
die  Großherzogliche  Regierung  Staatsunterstützung  den  einzelnen 
dem  Verbände  angehörenden  Arbeitsnachweisen  durch  Vermitt- 
lung des  Verbandes.  Der  Zuschuß  zu  den  Kosten  des  Verbandes 
(einschließlich  der  Landeszentrale)  ist  ein  fester;  für  das  Jahr  19 12 
betrug  er  8000  Mark.  Für  die  Verteilung  des  Staatsbeitrages  auf 
die  einzelnen  Anstalten  kommt  vom  Jahre  1907  ab  gerechterweise 
neben  dem  Vermittlungsergebnisse  auch  der  sonstige  Aufwand 
und  überhaupt  die  Größe  des  Geschäftsbetriebes  in  Betracht. 
Eine  weitere  Erhöhung  der  Staatszuschüsse  ist  wohl  mit  Sicher- 
heit zu  erwarten. 

Das  gleiche  Interesse  wie  der  Staat  an  geregelter  Arbeits- 
vermittlung haben  m.  E.  auch  die  größeren  Verwaltungskörper, 
das  sind  in  Baden  die  Kreise,  letztere  insbesondere  hinsichtlich 
des  Ausgleiches  des  Arbeitsmarktes  in  Stadt  und  Land.  Die 
badischen  Kreise  gewähren  nun  den  allgemeinen  öffentlichen 
Arbeitsnachweisen  Zuschüsse  von  Bedeutung  erst  mit  allgemeiner 
Durchführung    der  Unentgeltlichkeit,    als  eben    der  Bedarf  immer 

i)  Davon  500  M.  der  badischen  Landwirtschaftskammer  für  landwirtschaft- 
liche Vermittlung. 

Zeitschritt  für  die  ges.  Staatswissensch.     Ergänzungsheft  5^.  4- 


—     50    — 

dringender  wurde.  Sie  haben  diese  Zuschüsse,  zum  Teil  wohl 
aus  organisatorischen  Gründen,  stets  nur  mit  einem  gewissen 
Widerstreben  gegeben.  Vorbehaltlich  späterer  Ausführungen 
möchte  ich  doch  hier  schon  sagen,  daß  dieses  Widerstreben  nach 
Lage  des  badischen  Verfassungsrechtes  als  ein  völlig  unbegründetes 
nicht  bezeichnet  werden  kann.  Auch  ist  es  richtig,  daß,  so  lange  nicht 
alle  Kreise  gleichmäßig  an  der  Unterstützung  des  allgemeinen  Ar- 
beitsnachweises sich  beteiligen,  bez.  sich  beteiligen  müssen,  natur- 
gemäß bei  interlokaler  Vermittlung  ein  Kreis,  der  nichts  gab,  aus  den 
Beiträgen  der  andern  Vorteil  zog.  Vielfach  waren  aber  auch  die 
Ablehnungsgründc  andere:  so  glaubte  z.  B.  der  Kreis  Mosbach 
durch  Unterstützung  eines  allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnach- 
weises den  Zug  in  die  Stadt  zu  vermehren;  so  beanspruchte 
z.  B.  der  Kreis  Baden  im  Falle  eines  Zuschusses  an  die  Anstalt 
Karlsruhe  eine  Filiale,  obschon  die  Errichtung  und  der  Betrieb 
derselben  der  Anstalt  Karlsruhe  mehr  gekostet  hätte,  als  der 
Kreisbeitrag  betragen  hätte.  Derartige  Ablehnungen  sind  unent- 
schuldbar! Indessen  diese  Anschauungen  änderten  sich,  und  auch 
die  Kreiszuschüsse  stiegen  in  den  letzten  Jahren.  Für  das  Jahr  191 2 
haben  die  badischen  Kreise  zu  den  Verbandskosten  775  Mk.  und 
zu  den  Kosten  der  Verbandsanstalten   1 1  800  Mk.  beigesteuert. 

An  sonstigen  Einnahmen  hatten  im  Jahre  1912  der  Verband 
300  Mk.  und  die  Verbandsanstalten  insgesamt  11917  Mk.,  den 
Rest  des  Aufwandes  der  letzteren  mit  7i7io]\Ik.  haben  die 
Träger  der  Anstalten,  also  insbesondere  die  Gemeinden,  gedeckt. 
Nach  einer  Berechnung  im  letzten  Geschäftsbericht  des  Ver- 
bandes ')  kostete  im  Durchschnitt  eine  Vermittlung  im 
Jahre  191 2  unter  Zuschlag  der  Kosten  des  Verbandes  99,6  Pf.; 
durch  den  gesamten  Staatsbeitrag  sind  gedeckt  23,4  Pf.  und 
durch  die  Kreisbeiträge  9,5  Pf.,  der  freie  Rest  beträgt  darnach 
66,7  Pf.  Das  Verhältnis  zwischen  Aufwendungen  von  Gemeinden 
einerseits  und  Kreis  und  Staat  andererseits  ist  sonach  2:1,  während 
das  Verhältnis  zwischen  lokaler  und  interlokaler  Vermittlung  etwa 
4,5:1   ist  (117463:23739  im  Jahre   191 1). 

Darnach  kann  das  Verhältnis  der  Kostendeckung  als  ein 
schlechtes  nicht  bezeichnet  werden,  wenn  auch  zweifellos  der 
kommunale  Aufwand  sehr  erheblich  gewachsen  ist^).     Allein  es  ist 

i)  A.  a.  O.,  S.  4- 

2)  Im  Geschäftsbericht  des  Verbandes  191 1,  S.  69  finden  sich  hierüber  wei- 
tere prozentuale  Berechnungen. 


—     51     — 

doch  zu  berücksichtigen,  daß  die  interlokalen  Vermittlungen  be- 
sondere Mühe  und  Sorgfalt  erfordern  und  deshalb  auch  —  abge- 
sehen von  den  ersetzten  Telcphonkosten  —  für  die  Arbeitsämter 
wesentlich  teuerer  sind  als  die  lokalen  Vermittlungen.  An  diesem 
kommunalen  Aufwand  nehmen  nun  aber  all  diejenigen  Nachbar- 
gemeinden nicht  teil,  die  im  wirtschaftlichen  Bezirk  des  allgemeinen 
öffentlichen  Arbeitsnachweises  liegen  und  von  seiner  Tätigkeit 
unmittelbar  berührt  werden.  Es  erscheint  mir  daher  billig,  auch 
diese  —  soweit  die  Kostendeckung  grundsätzlich  den  Gemeinden 
zur  Last  zu  legen  ist  —  zu  Beiträgen  heranzuziehen.  Dies  wird 
eine  Forderung  der  zukünftigen  Entwicklung  sein  müssen ! 

B.  Die  Arbeitgeber-  und  Arbeitnehmernachweise. 

Daß  sich  die  hier  zu  behandelnden  sogenannten  Interessenten- 
arbeitsn.achweise  von  den  eben  dargestellten  allgemeinen  öffent- 
lichen Arbeitsnachweisen  durch  die  grundsätzliche  Beschränkung 
ihrer  Vermittlungstätigkeit  auf  bestimmte  Berufszweige  unter- 
scheiden, habe  ich  schon  in  der  Vorbemerkung  zum  ersten  Teil 
meiner  Arbeit  ausgeführt.  Diese  charakteristische  Beschränkung 
der  Vermittlungstätigkeit  auf  bestimmte  Berufszweige  ist  zu  er- 
klären aus  dem  Entstehen  der  sogenannten  Interessentenarbeits- 
nachweise aus  Berufsverbänden  der  Arbeitnehmer  und  der  Arbeit- 
geber. Sie  stellt,  wie  insbesondere  bei  der  landwirtschaftlichen 
Arbeitsvermittlung  noch  näher  darzulegen  sein  wird,  einerseits 
eine  gewisse  Schwäche  dar,  wenn  es  gilt,  aus  einem  bestimmten 
Berufszweig  aus  irgendwelchen  Gründen  zurückflutende  Arbeit- 
nehmermassen in  andere  Gewerbszweige  unterzubringen ,  wie 
andererseits  gerade  wieder  die  Kraft  und  die  Stärke  der  Interessen- 
tennachweise auf  diese  Selbstbeschränkung  zurückzuführen  ist. 
Diese  Beschränkung  hat  endlich  aber  auch,  sobald  der  Nachweis 
nur  noch  als  Selbstzweck  und  nicht  mehr  als  Kampfzweck  ange- 
sehen wurde,  in  Einzelfällen  es  ermöglicht,  für  bestimmte  Berufs- 
zweige den  Berufsnachweis  an  den  allgemeinen  öffentlichen  Ar- 
beitsnachweis leichter  anzuschließen. 

Nicht  dagegen  möchte  ich  als  durchgreifendes  Unterschei- 
dungsmerkmal der  Interessentenarbeitsnachweise  gegenüber  den 
allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnachweisen  ihre  Imparität  an- 
sprechen; denn  abgesehen  davon,  daß  sich  auch  bei  den  letzteren 
die  Parität  der  Verwaltung  erst  allmählich  entwickelt  hat,  zeigen 

4* 


—     52     — 

auch  die  Interessentenarbeitsnachweise  Ansätze  zu  einer  gewissen 
Parität,  so  z.  B.  im  Gesellcnausschuß  bei  den  Innunc,^snachweisen'), 
ohne  daß  jedoch  hierdurch  der  <,'rundsätzlich  einseitige  Charakter 
dieser  Arbeitsnachweise  aufgehoben  würde  ;  kommt  es  aber  auch 
gewissermaßen  nach  Beendigung  des  Kampfes  zu  einem  paritätischen 
Zusammengehen  der  beiden  bisherigen  Gegner,  wie  bei  den  sog. 
paritätischen  Facharbeitsnachweisen,  so  trennt  sie  doch  auch  dann 
von  dem  allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnachweise  immer  noch 
das  grundsätzliche  Merkmal  der  Berufsbeschränkung  der  Arbeits- 
vermittlung. 

Für  die  Arbeitgeber-  und  Arbeitnehmernachweise  charak- 
teristisch ist  ferner  die  von  ihnen  angestrebte  besondere  Straff- 
heit in  der  Organisation,  die  im  sog.  Obligatorium,  Meldezwang, 
und  im  sog.  Nummerzwang,  d.  h.  in  der  Vermittlung  grundsätz- 
lich nach  der  Reihenfolge  der  Anmeldungen,  zum  Ausdruck  kommt ; 
es  wird  Sache  der  folgenden  Darstellung  sein,  zu  zeigen,  wie  in- 
dessen diese  straffen  Normen  bei  der  praktischen  Durchführung 
auf  besondere  Schwierigkeiten  gestoßen  sind  und  teilweise  in  sehr 
formlose  Vermittlungstätigkeit  umgeschlagen  haben. 

Endlich  ist  bei  der  Darstellung  der  verschiedenen  Arbeit- 
geber- und  Arbeitnehmernachweise  zu  beachten,  daß  sich  ihr 
Wirkungskreis  vielfach  in  weit  höherem  Grade  (nicht  Maße)  über 
die  Grenzen  des  Großherzogtums  Baden  hinauserstreckt,  als  das 
bei  der  interlokalen  Vermittlungstätigkeit  der  allgemeinen  öffent- 
lichen Arbeitsnachweise  der  Fall  gewesen  ist.  Dieses  Hinaus- 
greifen über  die  Landesgrenze  geht  bei  den  Arbeitnehmer-  und 
den  paritätischen  Facharbeitsnachweisen  sogar  so  weit,  daß  viel- 
fach spezielle  Vermittlungszahlen  für  das  Großherzogtum  gar  nicht 
gegeben  werden  können. 

I.   Die  Arbeitgebernachweise  ^). 

Die  Arbeitgebernachweise  sind  heute  noch  überwiegend  als 
Kampfesorganisationen   zu  betrachten  ^),    und  der    wichtigste    Ar- 

1)  Auch  hat  z.  B.  der  Arbeitsnachweis  des  Hamburger  Hafeobetriebsvereins, 
ein  typischer  Arbeitgebernachweis,  eine  paritätische  Beschwerdeinstanz. 

2)  Vgl.  insbesondere  Kessler,  Die  Arbeitsnachweise  der  Arbeitgeberverbände, 
Leipzig  191 1.  Diese  Arbeit  bringt  zum  erstenmal  umfangreiches  Tatsachenma- 
terial über  die  Arbeitgeberarbeilsnachweise,  deren  Beschaffung  nicht  immer  leicht 
gewesen  sein  mag;  ob  indessen  die  Beleuchtung  dieses  Materials  immer  in  genü- 
gend weiter  Distanz  erfolgt  ist,  möchte  ich  dahingestellt  sein  lassen. 

3)  Vgl.  Bericht  über  die  Gründung  und  erste  Mitgliederversammlung  der  Ver- 


—     53     — 

beitgebernachweis,  über  den  wir  im  Großherzogtum  verfügen, 
der  Arbeitsnachweis  der  Industrie  Mannheim-Ludwigshafen,  ist 
m.  E.  in  erster  Linie  als  solche   Kampfesorganisation  anzusehen. 

Daneben  bestehen  aber  auch  Arbeitgebernachweise,  denen 
der  Charakter  als  Kampfesorganisation  mangelt.  Es  sind  das 
einmal  die  teilweise  an  größere  Verbände  von  Arbeitgebern,  so 
z.  B.  an  den  Internationalen  Verband  der  Gasthofbesitzer,  ange- 
schlossenen Nachweiseinrichtungen,  die  in  erster  Linie  den  Ar- 
beitsuchenden von  der  gewerbsmäßigen  Stellenvermittlung  und 
von  der  Umschau  fernzuhalten  bestrebt  sind,  wenn  auch  natur- 
gemäß gewisse  Nebenzwecke,  wie  insbesondere  Kontrolle  des  ein- 
zustellenden Arbeitnehmers,  hierbei  mit  unterlaufen.  Sodann 
sind  das  ferner  die  von  einzelnen  teilweise  öffentlichen  Arbeit- 
gebern für  Zwecke  ihrer  Betriebe  und  für  unteres  Personal  ein- 
gerichteten Nachweisstellen,  wie  wir  eine  solche  Einrichtung  in 
Baden  z.  B.  bei  der  Generaldirektion  der  badischen  Staatseisen- 
bahnen finden^). 

Wenn  ich  nun  im  folgenden  in  Abweichung  des  von  mir  im 
allgemeinen  beobachteten  Behandlungsprinzipes  zunächst  nicht 
dem  wichtigsten  badischen  Arbeitgebernachweis,  nämlich  dem  Ar- 
beitsnachweis der  Industrie  Mannheim-Ludwigshafen,  mich  zuwende, 
sondern  an  erster  Stelle  die  von  der  Badischen  Landwirtschafts- 
kammer eingerichtete  Vermittlungstätigkeit  für  die  Landwirtschaft 
behandle,  so  geschieht  das  nur  deshalb,  weil  der  Arbeitsnach- 
weis der  Landwirtschaftskammer  in  Baden  in  engster  Verbindung 
mit  den  allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnachweisen  in  Baden 
steht,  und  zwar  so  weitgehend,  daß  man  ihm  beinahe  Selbstän- 
digkeit absprechen  könnte,  so  daß  mir  daher  seine  Darstellung  in 
unmittelbarem  Anschluß  an  die  Vermittlungstätigkeit  der  allge- 
meinen öffentlichen  Arbeitsnachweise  am  zweckmäßigsten  erschei- 
nen möchte.  Jedoch  werden  wir  sehen,  daß  seine  Vermittlungs- 
tätigkeit, wenn  auch   nach  den  Grundsätzen  des  Verbandes  badi- 


einigung  deutscher  Arbeitgeberverbände  im  Verbandsorgan   >Der  Arbeitgeber«    1913, 
S.  89  fF.,   129  if. 

l)  Vgl.  Arbeitsmarkt  1911/12,  S.  382  ff.  Die  Vermittlung  erfolgt  insbeson- 
dere als  interlokale  durch  Veröffentlichung  der  Zahl  der  Stellensuchenden  und  der 
offenen  Stellen  im  Nachrichtenblatt  der  Generaldirektion,  sowie  durch  Aufstellung 
von  Vakanzlisten,  bei  Gewährung  von  freier  Fahrt.  Genauere  Zahlen  für  die  Ver- 
mittlung können  nicht  gegeben  werden.  Austausch  mit  anderen  Eisenbahndirek- 
tionen findet  nicht  statt.  Die  Ergebnisse  der  Vermittlung  erscheinen  nicht  als 
bedeutend. 


—     54     — 

scher  Arbeitsnachweise  ausgeübt,  doch  als  eine  selbständige,  von 
der  Landwirtschaftskammer  geleitete  erscheint,  so  daß  die  Dar- 
stellung an  dieser  Stelle  meiner  Arbeit,  bei  den  Spezialnachwei- 
sen  der  Arbeitgeber,  wohl  gerechtfertigt  ist,  da  eben  die  Land- 
wirtschaftskammer als  die  Interessenvertretung  der  selbständigen 
Landwirte  d.  h.  der  landwirtschaftlichen  Arbeitgeber  anzusprechen 
ist  ^).  Der  Darstellung  der  speziell  landwirtschaftlichen  Vermitt- 
lung soll  dann  die  Erörterung  des  erwähnten  Industrienachweises 
und  endlich  der  Innungsnachweisc  nachfolgen,  da  letztere  auch 
in  Baden,  wie  schon  angedeutet  und  noch  näher  zu  zeigen,  eben- 
falls überwiegend  als  Arbeitgebernachweise  erscheinen. 

Endlich  möchte  ich  aber  hier  besonders  darauf  hinweisen, 
daß  ich  an  dieser  Stelle  meiner  Arbeit,  d.  h-  bei  Betrachtung  der 
Arbeitgebernachweise,  allein  in  der  Lage  war,  einiges  Material 
darüber  beizubringen,  inwieweit  der  Arbeitsnachweis  die  Produk- 
tion zu  beeinflussen  imstande  ist,  indem  er  den  Arbeitsmarkt  zu 
regulieren  sucht.  Gleiches  war  mir,  wie  ich  hier  nochmals  be- 
tonen möchte,  weder  bei  den  allgemeinen  öffentlichen  Nachweisen, 
noch  bei  den  Arbeitnehmernachweisen  möglich,  weil  es  hier,  so- 
weit eine  solche  Beeinflussung  überhaupt  stattfinden  kann,  noch 
an  der  entsprechenden  Konzentration  fehlt.  Daß  aber  die  chari- 
tative  Arbeitsfürsorge  und  heutzutage  auch  der  gewerbsmäßige 
Stellenvermittler  2),  soweit  sie  als  Organisationsträger  des  Arbeits- 
marktes erscheinen,  nicht  in  der  Lage  sind,  irgendwelche  regu- 
lierende Funktion  auf  demselben  auszuüben,  dürfte  sich  m.  E. 
aus  der  Darstellung  dieser  beiden  Vermittlungsgruppen  noch  des 
näheren  ohne  weiteres  ergeben. 

a)  Die    Vermittlungstätigkeit    der    badischen 
Landwirtschaftskammer. 

Bevor  ich  auf  die  Vcrmittlungstätigkeit  der  badischen  Land- 
wirtschaftskammer näher  eingehe,  möchte  ich  hier  in  Kürze  dar- 
auf hinweisen,  daß  und  warum  der  Arbeiterbedarf  der 
badischen  Landwirtschaft  an  sich  geringer  ist  als  in 
Nord-  und  Ostdeutschland,  denn  ich  glaube,  daß  diese  Vorbe- 
merkung notwendig  ist,    um  die    nachstehend    aufgeführten    Ver- 

i)  Vgl.  §§  7  und  9  des  Gesetzes  vom  28.  Sept.  1906,  die  Landwirtschafts- 
kammer betr.,  Bad.  Gesetz-  und  Verordn.-Bl.,  S.  445  fT.,  vgl.  auch  Kessler,  a.  a.  O., 
S.  30. 

2)  Abgesehen  vielleicht  von  den  Theateragenturen. 


—     55     — 

mittlungsziffern,  wie  überhaupt  die  besondere  Organisation  der 
landwirtschaftlichen  Arbeitsvermittlung  in  Baden  richtig  würdi- 
gen zu  können. 

Für  die  badische  Landwirtschaft  ist  typisch  der  Kleinbetrieb. 
Es  haben  gerade  die  vom  sozialpolitischen  wie  kulturellen  Stand- 
punkt so  bedeutsamen,  auf  familiärer  Arbeitsvereinigung  beruhen- 
den Wirtschaften  unter  i  ha  im  Laufe  der  letzten  Jahrzehnte 
wesentlich  zugenommen.  Während  1882  nur  80153  solcher  Be- 
triebe gezählt  wurden,  betrug  ihre  Zahl  1907  1 10655.  Hierzu 
kommt,  daß  nach  den  Berechnungen  der  badischen  Landwirt- 
schaftskammer von  den  insgesamt  200000  landwirtschaftlichen 
Betrieben  des  Großherzogtums  ca.  80  %  mit  eigenen  und  nur 
20  %  mit  fremden  Arbeitskräften  bewirtschaftet  wurden,  d.  h. 
also  nur  ca.  50000  Betriebe  fremder  Arbeitskräfte  bedurften. 
Nur  für  diese,  d.  h.  die  größeren  Betriebe,  kommt  also  Leutenot 
in  Frage.  Nach  den  noch  zu  erwähnenden  Erhebungen  des  Ver- 
bandes badischer  Arbeitsnachweise  beliefen  sich  im  Sommer  (Juli, 
August  und  erste  Hälfte  September)  des  Jahres  1908  die  fehlen- 
den Arbeitskräfte  der  badischen  Landwirtschaft  insgesamt  auf 
4815  Personen,  also  auf  rund  5000,  und  für  die  oben  angege- 
bene Betriebszahl  je  eine  Person  gerechnet,  damit  auf  10  0/0  ^)^  also 
auf  eine  wenn  auch  nicht  große,  so  doch  immerhin  fühlbare  Zahl. 
Wenn  nun  trotzdem  1907  in  der  badischen  Landwirtschaft  im 
ganzen  nur  2  270  ausländische  Arbeiter  beschäftigt  waren,  gegen- 
über 25  516  in  Industrie  und  Handel,  so  rührt  das  daher,  daß 
man  sich  eben  so  gut  es  ging  noch  in  anderer  Weise  zu  helfen 
suchte,  durch  stärkere  Heranziehung  von  Frauen  und  Kindern 
gegenseitiges  Aushelfen,  Benützung  von  arbeitsparenden  Maschi- 
nen, Inanspruchnahme  von  Militär  in  der  Hauptarbeitszeit  usw., 
ohne  daß  damit  indessen  die  Leutenot  ganz  hätte  beseitigt  werden 
können.  In  gewissen  engeren  Grenzen  besteht  dar- 
nach ländlicher  Arbeitermangel    auch   im  Großherzogtum   Baden. 

Der  Verband  badischer  Arbeitsnachweise  hat 
nun,  wie  schon  in  der  Darstellung  seiner  Vermittlungstätigkeit  gele- 
gentlich erwähnt  worden  ist,  von  Anfang  an  auch  der  landwirt- 
schaftlichen Vermittlung  sein  besonderes  Augenmerk  zu- 
gewendet. Er  empfahl  schon  in  seinem  ersten  Jahresbericht  den 
Mitgliedern  ein  Zusammengehen  mit  den  Bezirksämtern  und  den 


i)  Vgl.  Tätigkeitsbericht  der    badischen  Landwirtschaftskammer  19 12,  S.  22. 


-     56     - 

landwirtschaftlichen  Bezirksvereinen  im  Interesse  der  Vermittlung 
aufs  Land  '),  und  auch  die  Verbandsversammlung  trat  schon  im 
Jahre  1907  nachdrücklich  für  die  landwirtschaftliche  Vermittlung 
ein-).  Dabei  vertrat  aber  der  badische  Verband  noch  1898  auf 
der  Vcrbandsversammlung  wie  Arbeitsnachweiskonferenz  des  deut- 
schen Verbandes  in  München  mit  Nachdruck  den  Standpunkt,  daß 
nach  Maßgabe  der  badischen  Verhältnisse  mit  vorherrschendem 
Kleinbetrieb,  wie  aber  auch  grundsätzlich  es  verfehlt  wäre,  für 
die  Landwirtschaft  besondere  Arbeitsnachweise  einzurichten ;  der 
Landwirtschaft  werde  besser  gedient,  wenn  sich  ihre  Interessenten 
einer  allgemeinen  öffentlichen  Nachweiseinrichtung  zuwendeten, 
der  allein  es  möglich  wäre,  überschüssige  industrielle  Arbeiter 
aufs  Land  zu  vermitteln,  wie  die  in  die  Stadt  ziehenden  Land- 
arbeiter tunlichst  in  ihrer  Beschäftigung  zu  erhalten  ^).  Mag  sein, 
daß  bei  dieser  Argumentation  schon  der  Gedanke  möglichster 
Zentralisation  des  Arbeitsmarktes  eine  ausschlaggebende  Rolle  ge- 
spielt hat  gegenüber  dem  Gesichtspunkt,  daß  ein  eigentlich  land- 
wirtschaftlicher Arbeitsnachweis  ja  nur  für  die  Landwirtschaft 
vermitteln  kann,  und  er  daher  stets  besondere  Schwierigkeiten 
haben  w-ird,  die  nach  Beendigung  der  Saisonarbeit  zurückflutenden 
Arbeiter  in  andere  gewerbliche  Arbeit  wieder  unterbringen.  Jeden- 
falls haben  die  badischen  Anstalten  gemäß  dieser  Stellungnahme 
ihres  Verbandes  hinfort  auch  und  zwar  mit  einem  steigenden 
Erfolge  für  die  Landwirtschaft  gearbeitet,  wenn  schon  die  Ver- 
mittlungsziffern an  sich  nicht  besonders  hohe  waren;  sie  erzielten 
für  die  Landwirtschaft  1898  1525,  1903  2459  und  1907  3222 
Vermittlungen,  wobei  noch  neben  der  wie  gezeigt  wachsenden 
Zahl  der  Kleinbetriebe  besonders  zu  berücksichtigen  ist,  daß  letztere 
Steigerung  des  Vermittlungserfolges  teilweise  in  die  Zeit  der  indu- 
striellen Hochkonjunktur  fällt,  in  der  die  Vermittlung  landwirt- 
schaftlicher Arbeitskräfte  naturgemäß  besonderen  Schwierigkeiten 
begegnet.  Aus  diesem  lebhaften  Interesse  an  der  landwirtschaft- 
lichen Vermittlung  und  in  dem  Wunsche,  sie  noch  weiter  zu 
steigern,  hat  der  Verband  badischer  Arbeitsnachweise  im  Jahre 
1908  auch  die  schon  erwähnte  Umfrage  veranstaltet,  die  an  ins- 
gesamt 1 590  Gemeinden  erging  und  auf  welche  nur  i  5  Gemeinden 
nicht  geantwortet  haben.  978  Gemeinden  antworteten,  daß  der 
landwirtschaftliche  Arbeitsbedarf  durch  die    einheimischen  Kräfte 


1)  Jahresbericht   1896,  S.    12.  2)  Vgl.  Protokoll,  S.  7   ff. 

3)  Jahresbericht  des  badischen  Verbandes   1898,   S.  5   ff. 


—     57     — 

gedeckt  werden  könnte,  während  allerdings  597  Gemeinden  über 
Leutemangel  in  der  Landwirtschaft  klagten,  und  zwar  in  erster 
Linie  über  Mangelan  landwirtschaftlichen  Knechten,  in  zweiter  Reihe 
häuslicher  Dienstboten  und  in  dritter  an  Arbeiterinnen  überhaupt. 
Dabei  herrschte,  wie  hier  besonders  hervorgehoben  werden  muß, 
dieser  Arbeitermangel  insbesondere  im  Kreise  Freiburg,  Konstanz 
und  Offenburg,  also  auch  dort,  wo  bewährte  alte  Arbeitsnach- 
weise ihren  Sitz  hatten. 

Unter  diesen  Umständen  mußte  wohl  der  Verband  selbst  an- 
erkennen, daß  die  Organisation  der  badischen  Arbeitsnachweise 
zurzeit  im  Interesse  der  Landwirtschaft  noch  nicht  vollkommen 
sei,  und  er  hat  sich  deshalb  auch  grundsätzlich  nicht  mehr  ab- 
lehnend verhalten,  als  im  Jahre  1910  die  badische  Land- 
wirtschaftskammer mit  dem  Ansinnen  an  ihn  herantrat, 
einen  besonderen  landwirtschaftlichen  Arbeits- 
nachweis in  Verbindung  mit  den  bestehenden  allgemeinen 
öffentlichen  Vermittlungsanstalten  einzurichten^). 

Dieses  gewollte  und  bewußte  Zusammengehen  bekundete 
die  badische  Landwirtschaftskammer  vor  allem  damit,  daß  sie  dem 
Verbände  badischer  Arbeitsnachweise  als  Mitglied  beitrat,  während 
im  übrigen  die  Bedingungen  der  Angliederung  kurz  folgende  waren  : 
Die  Landwirtschaftskammer  richtet  einen  »Arbeitsnachweis  der 
Landwirtschaftskammer  in  Verbindung  mit  dem  Verbände  badi- 
scher Arbeitsnachweise«  bei  dem  Arbeitsamt  Karlsruhe  (das  ja 
auch  die  Geschäfte  der  Landeszentrale  besorgt)  ein,  von  dessen 
Beamten  einem  die  landwirtschaftliche  Vermittlung  —  zunächst 
im  Nebenamt  —  übertragen  wird.  Dieser  Beamte  hat  die  Ver- 
mittlungstätigkeit nach  näherer  gemäß  dem  Wunsche  der  Landwirt- 
schaftskammer aufzustellender  Weisung  zu  besorgen.  Im  übrigen 
sind  für  die  Technik  des  Vermittlungsgeschäftes  selbst- 
verständlich die  Grundsätze  des  Verbandes  und  insbesondere  die 
des  Arbeitsamtes  Karlsruhe  maßgebend.  Den  Arbeitgebern  ist  es 
freigestellt,  ihren  Bedarf  an  Arbeitskräften  bei  dem  nächstgelegenen 
öffentlichen  Arbeitsamt  oder  unmittelbar  bei  der  Landwirtschafts- 
kammer anzumelden,  womit  die  mit  letzterer  aus  anderen  Gründen 
etwa  schon  bestehenden  Geschäftsverbindungen  auch  für  den  Ar- 
beitsnachweis fruchtbar  gemacht  werden  sollten.  Die  Zuweisung 
der  Arbeitnehmer  erfolgt  dagegen  grundsätzlich  stets  unmittelbar 

i)  Vgl.  Protokoll  der  Verbandsversammlung  1910,  S.  2  ff.,  Geschäftsbericht 
des  Verbandes   1 907/11,  S.    15   ff. 


-     58     - 

durch  den  allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnachweis.  Zur  Förde- 
rung des  interlokalen  Ausgleiches  wird  ferner  eine  besondere,  aus- 
führlichere Vakanzliste  für  die  landwirtschaftliche  Arbeitsvermitt- 
lung herausgegeben.  Des  weiteren  bleiben  der  Landwirtschafts- 
kammer alle  Maßnahmen  unbenommen,  die  sie  im  Interesse  ihres 
Arbeitsnachweises  ergreifen  will  (Reklame  usw.).  Dabei  ist  jedoch 
zu  beachten,  daß  dieses  Zusammengehen  re<,^elmäßig  nur  statt- 
findet bei  einheimischem  deutschen  Personal,  während  die  Vermitt- 
lung ausländischer  Arbeiter,  wie  auch  von  Verwaltern,  Aufsehern, 
Volontären  usw.  durch  die  Landwirtschaftskammer  direkt  erfolgt. 
Durch  die  Vermittlung  des  einheimischen  Personals  für  die  Land- 
wirtschaft über  die  einzelnen  Arbeitsämter  kommen  diesem  natur- 
gemäß alle  Vergünstigungen  zugute,  die  die  Arbeitsuchenden  bei 
den  allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnachweisen  überhaupt  genießen, 
also  insbesondere  auch  die  Fahrpreisermäßigung,  und  es  erfolgt 
ferner  die  Vermittlung  für  Arbeitnehmer  wie  -geber  völlig  kosten- 
los, wofür  der  Landwirtschaftskammer  als  Entschädigung  der  am 
Ende  des  vorhergehenden  Abschnittes  (A.)  bereits  erwähnte  Staats- 
zuschuß in  Höhe  von  z.  Z.   500  Mk.  gewährt  worden  ist^). 

Die  neue  Organisation  ist  am  i.  Januar  19 10  in  Kraft  ge- 
treten, und  es  kann  wohl  gesagt  werden,  daß  sich  die  Vermitt- 
lungsziffern unter  ihrem  Einfluß  nicht  unwesentlich  gesteigert  haben: 

1910  4357  Vermittlungen   einschließlich     869     der  Konstanzer  Filialen^) 

1911  4228  >  >  733  >  > 

1912  4927  >  »  ,     890  >  >         ; 

insbesondere  kommt  aber  m.  E.  für  diese  Steigerung  auch  die 
rege  Propaganda,  die  die  Landwirtschaftskammer  im  landwirt- 
schaftlichen Wochenblatt  usw.  gemacht  hat,  wie  überhaupt  ihr 
vermehrtes  Eintreten  für  die  allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnach- 
weise in  Betracht,  wodurch  manches  Widerstreben  und  manches 
Vorurteil  besiegt  wurde.  Auch  die  landwirtschaftliche  Vakanzen- 
liste,   die   derzeit   zweimal   wöchentlich,   Montags  und  Mittwochs, 


1)  Mit  der  Zeit  wird  wohl  auch  dieser  Staatszuschuß  zu  erhöhen  sein.  Dagegen 
scheint  mir  der  zunächst  beanspruchte  Staatszuschuß  von  5000  M.  viel  zu  hoch 
gegriffen  zu  sein,  und  ist  er  m.  E.  mit  Recht  abgelehnt  worden.  Der  Staatszu- 
schuß wurde  übrigens  von  dem  Zusammengehen  der  Landwirtschaftskammer  mit 
den  allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnachweisen  abhängig  gemacht. 

2)  Diese  besonderen  Konstanzer  Vermittlungsziffern  fehlen  in  der  »Darstel- 
lung der  neueren  Entwicklung  der  landwirtschaftlichen  Arbeitsnachweise <  im  Reichs- 
arbeitsblatt 191 3,  S.  42  ff.  insbesondere  S.  122  ff.  Der  Fehler  ist  wohl  ein  unbe- 
absichtigter. 


-     59     — 

hergestellt  und  an  die  badischen  und  an  einige  angrenzende  außer- 
badische  Arbeitsämter  versandt  wird,  hat  sich  im  Interesse  ver- 
mehrter Vermittlung  wohl  bewährt.  Endlich  hat  die  badische 
Landwirtschaftskammer,  wie  anläßlich  der  grundsätzlichen  Erörte- 
rung der  Fahrpreisermäßigung"  schon  erwähnt  wurde,  den  Ver- 
mittlungsdienst weiter  gefördert  durch  ein  mit  der  badischen 
Eisenbahnverwaltung  getroffenes  Abkommen,  wonach  bei  Ge- 
währung von  P^ahrpreisermäßigung  an  landwirtschaftliche  Arbeit- 
nehmer durch  den  allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnachweis  Gut- 
scheine ausgestellt  werden  können,  so  daß  also  die  einheimi- 
schen, in  landwirtschaftliche  Stellen  vermittelten  Arbeiter  zu- 
nächst völlig  freie  Eisenbahnfahrt  erhalten.  Dabei  ist  zu  bemerken, 
daß  der  Ersatz  dieser  Fahrkosten  wesentUchen  Schwierigkeiten 
nicht  begegnet  ist;  die  jährlichen  Unkosten  der  Landwirtschafts- 
kammer aus  dieser  Einrichtung  belaufen  sich  nur  auf  30 — 40  M. 

Im  Vergleich  zu  den  Ergebnissen  der  gemeinsamen  Arbeit 
zwischen  Landwirtschaftskammer  und  Verbandsanstalten  hat  er- 
stere,  wie  ich  der  Vollständigkeit  halber  erwähnen  möchte,  im 
Jahre  191 2  unmittelbar  vermittelt  40  ausländische  Arbeiter,  ferner 
37  Verwalter  und  Aufseher,  sowie  53  Volontäre^);  diese  un- 
mittelbare Vermittlungstätigkeit  fällt  also  der  mittelbaren  gegen- 
über ziffernmäßig  nicht  ins  Gewicht. 

Es  mag  dahingestellt  bleiben,  ob  die  neue  Organisation  der 
landwirtschaftlichen  Arbeitsvermittlung  in  Baden  als  etwas  dauern- 
des anzusehen  ist,  und  ob  sie  insbesondere  auch  die  für  die 
badische  Landwirtschaft  bestehende  Leutenot  zu  beseitigen  im- 
stande sein  wird.  Denn  das  Problem  des  landwirtschaftlichen 
Arbeitermangels  liegt  im  Grunde  tiefer,  als  daß  es  allein  auf  dem 
Boden  der  Arbeitsmarktorganisation  gelöst  werden  könnte  ^).  In- 
dessen bedeutet  zweifellos  das  Zusammengehen  von  Landwirt- 
schaftskammer und  öffentlichem  Arbeitsnachweis,  wie  es  jetzt 
nach  dem  Vorgang  Elsaß-Lothringens  und  Hessens  auch  im 
Großherzogtum  Baden  statthat,  einen  organisatorischen  Fort- 
schritt, und  eine  weitere  günstige  Entwickelung  ist  wohl  mit 
Sicherheit  zu  erwarten. 


i)  Tätigkeitsbericht   1912,  S.  22. 

2)  Vgl.  bei  Meyer,  a.  a.  O.,  S.  143  fF.,  vgl.  auch  die  Verhandlungen  über 
»Maßnahmen  zur  Bekämpfung  der  Arbeiternot  auf  dem  Lande«  auf  dem  V.  deut- 
schen Arbeitsnachweiskongreß,  Schriften  des  Verbandes  deutscher  Arbeitsnachweise 
Nr.  7,  S.  40  ff. 


—     6o    — 

Eine  weitergehende  Förderung  der  landwirtschaftlichen  Ar- 
beitsversore^ung,  wenigstens  was  das  männliche  Personal  an- 
langt, wird  m.  E.,  wie  insbesondere  das  l^cispiel  der  Konstanzer 
l^^ilialen  zeigt,  aus  allgemeiner  Einführung  von  Wanderarbeits- 
stätten im  Großherzogtum  zu  erwarten  sein,  worauf  sowohl  der 
letzte  Geschäftsbericht  des  Verbandes  hinweist '),  wie  auch  in 
sehr  beachtenswerter  Weise  die  von  der  badischen  Landwirt- 
schaftskammer gesammelten  und  im  letzten  Tätigkeitsbericht  ver- 
öffentlichten Vorschläge  badischer  Landwirte,  indem  diese  zur 
Behebung  der  Leutenot  eine  schärfere  Ueberwachung  des  Bettels 
für  notwendig  erachten  ^).  Wegen  Erörterung  der  Frage  der 
Wanderarbeitsstätten  muß  ich  indessen  hier  auf  den  zweiten 
Hauptteil  meiner  Arbeit  verweisen.  Dage-gen  ist  m.  E.  für  die 
vermehrte  Vermittlung  von  weiblichem  Personal  eine  noch  inten- 
sivere Tätigkeit  der  allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnachweise 
dringend  geboten,  deren  weibliche  Abteilung  ja  schon  an  anderer 
Stelle  als  noch  weiteren  Ausbaus  bedürftig  bezeichnet  werden 
mußte  (1912  nur   189  Vermittlungen!). 

b)  Der   Arbeitsnachweis   der   Industrie   Mannheim- 
Ludwig  s  h  a  f  e  n. 

Der  Arbeitsnachweis  der  Industrie  Mannheim-Ludwigshafen 
ist  seitens  des  Verbandes  der  Metallindustriellen  Badens,  der  Pfalz 
und  angrenzenden  Industriebezirke  im  Dezember  1907  zunächst 
als  P'achnachweis  für  die  in  Mannheim  und  Ludwigshafen  an- 
sässigen Mitglieder  dieses  Verbandes  gegründet  worden.  Im 
Jahre  1908  traten  dann  die  ebenda  ansässigen  Mitglieder  des 
Allgemeinen  Arbeitgeberverbandes  Mannheim-Ludwigshafen  dem 
als  eingetragenen  Verein  konstituierten  Nachweise  bei,  so  daß 
dieser  nicht  nur  die  Metallindustrie,  sondern  weiter  insbesondere 
die  chemische  Industrie,  Textilindustrie,  Nahrungsmittelindustrie 
und  das  Verkehrsgewerbe  usw.  umfaßte,  also  zum  sogenannten 
gemischten  Arbeitgebernachweis  wurde. 

Als  Entstehungsgrund  des  Nachweises  wird  im  ersten  Ge- 
schäftsbericht ^)  auf  die  Arbeitsnachweise  der  GewerkschaTten  als 
Kampfesorganisationen,    sowie    auf  die    mit  der    gewerbsmäßigen 

i)  Geschäftsbericht  19 12,  S.  6,  insbesondere  Deckung  des  Saisonsbedarfs! 

2)  Tätigkeitsbericht   1912,  S.  21. 

3)  Bericht  über  die  Tätigkeit  des  Vereins  Arbeitsnachweis  der  Industrie 
Mannheim-Ludwigshafen   1908,  S.   i  flf. 


—     6i     — 

Stellenvermittlung  und  mit  Inserat  und  Umschau  verbundenen 
Mißstände  hingewiesen  und  hiermit  das  Bedürfnis  nach  Errich- 
tung eines  besonderen  Arbeitsnachweises  für  die  Unternehmer 
begründet;  indessen  ist  es  wohl  zweifellos,  daß  auch  dieser  Ar- 
beitgebernachweis im  Zusammenhang  der  gesamten  Arbeitergeber- 
organisation als  Abwehrmaßnahme  gegen  die  erstarkende  Ar- 
beiterbewegung gegründet  worden  ist. 

Seine  Benützung  wurde  mit  Rücksicht  auf  diesen  Kampf- 
zweck auch  als  grundsätzlich  obligatorisch  den  Vereins- 
mitgliedern vorgeschrieben,  »denn  —  wie  es  im  ersten  Geschäfts- 
bericht heißt  —  wenn  man  den  Arbeitsmarkt  beherrschen,  An- 
gebot und  Nachfrage  regulieren  will,  so  ist  die  obligatorische 
Benützung  des  A.rbeitsnachweises  die  erste  Vorbedingung  dazu«. 
Allein  von  diesem  sogenannten  Obligatorium  mußten  von  vorn- 
herein Ausnahmen  vorgesehen  werden ;  den  Vereinsmit^liedern 
blieb  überlassen,  einmal  Lehrlinge,  deren  Väter,  Mütter  und  Ge- 
schwister in  ihren  Betrieben  beschäftigt  waren,  und  sodann  ganz 
allgemein  ihre  Arbeiterinnen  selbst  einzustellen ;  jedoch  waren  sie 
verpflichtet,  dem  Arbeitsnachweis  von  derartigen  Einstellungen 
Mitteilung  zu  machen.  Diese  prinzipielle  Beschränkung  des  so- 
genannten Obligatoriums  bei  einem  Arbeitgebernachweis,  der  sich, 
wie  gesagt,  die  Aufgabe  stellt,  den  Arbeitsmarkt  zu  regulieren, 
scheint  in  hohem  Grade  beachtenswert  und  ein  Fingerzeig  dafür 
zu  sein,  daß,  ganz  allgemein  betrachtet,  das  sogenannte  Obliga- 
torium bei  jedem  Arbeitsnachweis  besonderen  Schwierigkeiten 
begegnen  muß,  worauf  an  anderer  Stelle  noch  zurückzukommen 
sein  wird.  Aber  auch  in  der  Beschränkung  auf  männliche  Ar- 
beiter scheint  dem  Arbeitsnachweis  Mannheim-Ludwigshafen  die 
Durchführung  des  Obligatoriums  nicht  leicht  geworden  zu  sein, 
denn  er  hat  in  jedem  seiner  bisherigen  Geschäftsberichte  Anlaß 
genommen,  seine  Mitglieder  immer  erneut  auf  seine  bewährten 
Geschäftsgrundsätze  hinzuweisen. 

Im  übrigen  ist  der  Nachweis,  wie  im  ersten  Geschäftsberichte 
kurz  gesagt  ^),  nach  dem  Hamburger  System  eingerichtet  worden, 

i)  a.  a.  O.  S.  I.  Ueber  das  Hamburger  System  im  Gegensatz  zum  Berliner 
System  vgl.  amtliche  Denkschrift,  S.  104  flf.,  Meyer  a.  a.  O,  S.  96  ff. ;  versteht 
man  unter  Berliner  System  lediglich  die  Kontrolle  der  Einstellungen,  wobei  Um- 
schau gestattet  bleibt,  unter  Hamburger  System  dagegen  die  Einstellung  in  den 
einzelnen  Betrieb  gewissermaßen  durch  den  Nachweis  selbst,  so  kann  wohl  gesagt 
werden,  daß  der  Mannheimer  Nachweis  sein  Hamburger  Vorbild  noch  nicht  er- 
reicht hat. 


—      62       — 

d.  h.  er  schließt  sich  in  seiner  Geschäftsführung  grundsätzlich 
den  Einrichtungen  des  Arbeitsnachweises  des  Verbandes  der  Eisen- 
industrie Hamburg  an.  Seine  Benützung  ist  darnach  kostenlos, 
jedoch  muß  der  Arbeitsuchende  sich  vor  der  Vermittlung  ge- 
nügend legitimieren. 

Vermittelt  wird  auf  Grund  von  Listen')  nach  dem  Gesichts- 
punkt der  Auswahl,  d.  h.  nicht  nach  Reihenfolge  der  Meldungen, 
sondern  in  dem  Bestreben,  den  geeigneten  Mann  in  die  geeignete 
Stelle  zu  bringen,  wogegen,  wie  schon  bei  Erörterung  der  gleichen 
Praxis  der  allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnachweise  ausgeführt, 
nichts  zu  sagen  ist,  sofern  regelmäßig  unter  den  gleich  tüchtigen 
die  verheirateten,  unter  diesen  wieder  die  am  längsten  gemeldeten 
und  die  ortsansässigen  vor  auswärtigen  berücksichtigt  werden. 
Allerdings  kann  dieser  Grundsatz  der  :» Auswahl  der  Besten«  zu  be- 
sonderen Härten  gegenüber  den  minderbefähigten  und  insbesondere 
den  älteren  Arbeitern  führen,  und  ich  habe  schon  anläßlich  der 
Erörterung  der  Vermittlung  INIinderqualifizierter  durch  die  allge- 
meinen öffentlichen  Arbeitsnachweise  ausgeführt,  daß  das  Brach- 
liegenlassen derartiger  Arbeitskräfte  m.  E.  eine  größere  Minderung 
des  Volkseinkommens  bedeutet,  als  das  in  Arbeitstellen  dieser 
Kräfte,  selbst  bei  natürlich  geringeren  Löhnen.  Auch  bei  dem 
Mannheimer  Industrienachweis  steht  es  zunächst  dem  Arbeitgeber 
wie  Arbeitnehmer  frei,  den  zugewiesenen  Arbeiter  einzustellen 
bez.  in  die  nachgewiesene  Arbeit  zu  treten ;  ein  Arbeitnehmer 
jedoch,  der,  obwohl  eingestellt,  seine  Arbeitsstelle  nicht  antritt, 
wird  grundsätzlich  auf  2  Wochen  ausgesperrt.  Im  übrigen  er- 
folgt aber  auch  bei  dem  Industrienachweis  eine  Aussperrung, 
von  allgemeinen  Lohnstreitigkeiten  abgesehen,  nur  auf  Beschluß 
des  Vorstandes  und  nur  wegen  Roheitsdelikten  usw.,  sowie  groben 
Verstößen  gegen  die  Hausordnung,  und  dieser  Beschluß  wird  erst 
gefaßt,  nachdem  der  Arbeiter  gehört  worden  ist,  und  es  wird 
diesem  dann  von  der  Sperre  schriftliche  Mitteilung  gemacht.  Ferner 
ist  jedem  Arbeitnehmer  Gelegenheit  geboten,  Klagen  über  die 
Geschäftsführung  des  Arbeitsnachweises  sowohl  bei  dem  Geschäfts- 
führer selbst,  wie  auch  bei  den  Mitgliedern  einer  besonderen 
Beschwerdekommission  anzubringen,  von  welcher  Möglichkeit  aller- 
dings nur  in  seltenen  Fällen  Gebrauch  gemacht  worden  ist.  Häu- 
figer sind  Klagen  direkt  an  das  Oberbürgermeisteramt  Mannheim 


i)  Vgl.  Kessler  a.  a.  O.,  S.   139. 


-     63     - 

gerichtet  worden.  Zu  beachten  ist  hierbei,  daß  sowohl  im  Vor- 
stand wie  in  der  Beschwerdekommission  Arbeitervertreter  nicht 
beisitzen'). 

Nach  den  von  dem  Nachweis  in  seinen  Geschäftsberichten 
gegebenen  Zahlen  hat  sich  seine  Vermittlungstätigkeit 
ständig  vermehrt,  und  sie  ist  insbesondere  noch  dadurch  gesteigert 
worden,  daß  der  Nachweis  im  April  1910  eine  besondere  Filiale 
in  Ludwigshafen  errichtet  hat.  Im  Jahre  191 2  belief  sich  die  Zahl 
der  Eingestellten  insgesamt  auf  28623  gegenüber  15  312  im  Jahre 
1908.  Im  Vergleich  hierzu  betrug  die  Zahl  der  Einstellungen  bei 
dem  allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnachweis  in  Mannheim  (ge- 
gründet 1893)  nur  5647,  und  selbst,  wenn  man  von  obiger  Ge- 
samtzahl für  den  Industrienachweis  die  Einstellungen  der  Filiale 
Ludwigshafen  abzieht,  bleibt  immer  noch  die  sehr  erhebliche  Zahl 
von  2 1  500  übrig.  Diese  letztere  Zahl  möchte  ich  aber  gegenüber 
der  allgemeinen  Kritik  Kesslers  ^)  an  der  Statistik  der  Arbeitgeber- 
nachweise für  zutreffend  halten,  umsomehr  als  jetzt  die  Buchfüh- 
rung der  Kontrolle  der  staatlichen  Behörden  untersteht. 

Nach  einzelnen  B  e  r  u  f  s  g  r  u  p  p  e  n  der  Vermittlung  —  im 
Jahre  19 12  hat  der  Nachweis  keine  weiblichen  Arbeiter  selbst  ver- 
mittelt —  geordnet,  steht  die  Metallindustrie  mit  11 631  Einstel- 
lungen an  der  Spitze,  es  folgen  dann  die  chemische  Industrie,  die 
Holzindustrie,    das  Verkehrsgewerbe  usw.,    und  endlich  auch  das 

1)  Neben  den  dem  Vermittlungsdienst  unmittelbar  dienenden  Schalterbüchern 
besitzt  der  Arbeitsnachweis  der  Industrie  Mannheim-Ludwigshafen  wie  die  meisten 
anderen  Arbeitgebernachweise  auch  eine  sog.  Kartenregistratur,  in  die  indessen 
nur  Vor-  und  Zuname,  Beruf,  Geburtsdatum  und  -ort,  sowie  Einstellungen  und 
Entlassungen  des  Arbeiters  vorgetragen  werden  und  die  zum  Vermittlungsdienst 
zunächst  gar  nicht  benutzt  werden  soll,  sie  soll  vielmehr  lediglich  .statistischen 
Zwecken,  und  der  »Ermöglichung  rascher  Feststellung  in  Beschwerdefällen*  dienen. 
Unter  diesen  Umständen  stehe  ich  nicht  an,  die  Kartenregistratur  für  einen  ver- 
mittlungstechnischen Fortschritt  zu  erklären,  vgl.  Kessler  a.  a.  O.,  S.  149.  Auch 
eine  sog.  schwarze  Liste  führt  der  Arbeitsnachweis  noch,  in  die  indessen  nur  die 
Ziffern  der  Firma,  die  den  Arbeiter  nicht  mehr  zugewiesen  erhalten  will,  nicht  da- 
gegen mehr  der  Grund  hierfür  eingetragen  wird;  das  »V.  d.  M.*  mit  der  ominiösen 
Bemerkung  »z.  K.«  (zu  Keinem)  besteht  nicht  mehr.  Vgl.  Beilage  32  a  zum  Pro- 
tokoll  der  Sitzung  der  2.  badischen  Kammer  vom  13.  Juli  1910  sowie  Verhand- 
lungen in  der  Sitzung  von  15.  Juli  1910,  amtlicher  Bericht  S.  2781  ff.  Dafür,  daß 
»Kinderkrankheiten«  beim  Nachweis  nicht  mehr  vorkommen,  dürfte  auch  die  Unter- 
stellung unter  strengere  behördliche  Aufsicht  seitens  Badens  uud  Bayerns  durch  die 
Vollzugsverordnungen  zum  Stellenvermittlergesetz  gesorgt  haben. 

2)  a.  a.  O.  S.  92/93. 


-     64     - 

Handwerk  mit  273  Einstellungen,  wobei  allerding^s  gesagt  werden 
mag,  daß  für  das  Handwerk  die  Vermittlungen  im  Rückgang  be- 
griffen zu  sein  scheinen  (191 1:  436,  1910:  623  Vermittlungen). 
Lehrlinge  wurden  im  Jahre  191 2  insbesondere  als  Maschinen- 
schlosser und  Eisendreher  insgesamt   121   vermittelt. 

Auch  die  inte  r  lokale  Vermittlung  scheint  von  dem 
Industrienachweis  mit  Erfolg  gepflegt  zu  werden,  und  es  heben  die 
Geschäftsberichte  in  dieser  Beziehung  insbesondere  den  Verkehr 
mit  den  Arbeitsnachweisen  des  Gesamtverbandes  deutscher  Metall- 
industrieller,  wie  überhaupt  des  Verbandes  deutscher  Arbeitgeber- 
verbände hervor.  Dabei  mußte  allerdings  den  Arbeitnehmern  das 
Aufsuchen  der  mitgeteilten  Vakanzen  selbst  überlassen  werden. 
Was  umgekehrt  das  Heranziehen  fremder  Arbeitskräfte  nach  Mann- 
heim-Ludwigshafen  betrifft,  so  möchte  ich  im  Hinblick  darauf, 
daß  von  den  oben  angegebenen  insgesamt  28623  Eingestellten 
nur  3509  Fremde  waren,  hier  feststellen,  daß  diese  Zahl  nicht 
wohl  als  irgendw^ie  auffällig  hoch  erscheinen  kann. 

Endlich  gibt  der  Arbeitsnachweis  Mannheim-Ludwigshafen  in 
seinen  Geschäftsberichten  noch  eine  sehr  beachtenswerte  Stati- 
stik der  Eingestellten  nach  Altersklassen.  Darnach 
gliederten  sich  im  Jahre  191 2  die  Eingestellten  nach  Lebensjahren 
wie  foliJt: 


Unter  21   Jahren 

36,5% 

von  21    bis  30  Jahren 

46,7% 

>      31      »     40        » 

20,0  0/0 

>     41      »     50        > 

5.5% 

>     51      j.     60        » 

1,0% 

über  61  Jahre 

0,3  %• 

Müßte  man  in  diesen  Gliederungszahlen,  die  eine  auffällige 
Bevorzugung  der  jüngeren  Altersklassen  bis  zu  30  Jahren  zeigen, 
(73,2  Proz.)  allein  das  Produkt  der  »Auslese  der  Besten«  sehen, 
so  wäre  diese  Erscheinung  nicht  unbedenklich,  allein  es  spielen 
hier  auch  noch  andere  Gründe  (Tarifverträge  usw.)  mit  herein, 
und  schließlich  ist  es  ja  nicht  der  Nachweis,  sondern  der  Unter- 
nehmer, der  den  Arbeiter  einstellt. 

Prägt  man  zum  Schluß,  wieweit  es  dem  Indüstrienachweis 
tatsächlich  gelungen  ist,  den  Mannheimer  Arbeitsmarkt  zu  be- 
herrschen, ihn  zu  regulieren,  so  kann  jedenfalls  die  in  den  letzten 
Jahren  auf  dem  Mannheimer  Arbeitsmarkt  herrschende  Ruhe  nicht 
ohne  weiteres  auf  seine  Rechnung  gestellt  werden.  Immerhin  ist 
es    aber    zweifellos,    daß    der  Industrienachweis    auf    dem  IVIann- 


-    65     - 

heimer  Arbeitsmarkt  eine  überragende  Stellung  einnimmt,  die 
ihm  zurzeit  auch  in  keiner  Weise  von  dem  aligemeinen  öffentlichen 
Arbeitsnachweis  in  Mannheim  streitig  gemacht  wird,  von  den  an- 
deren Nachweiseinrichtungen  ganz  abgesehen.  Es  war  deshalb 
wohl  verständlich  und  beinahe  vorauszusehen,  daß  der  Industrie- 
arbeitsnachweis das  anfangs  des  Jahres  1911  an  ihn  gestellte 
»Ansinnen«,  sich  zugunsten  des  neu  organisierten  städtischen 
Arbeitsamtes  aufzulösen,  ablehnen  würde  ^),  und  es  kann  m.  E. 
der  Stadt  Mannheim  wenigstens  von  selten  des  Außenstehenden 
hier  nicht  der  Vorwurf  erspart  werden,  zu  spät  eingegriffen  zu 
haben;  vielleicht  wäre,  was  191 1  unmöglich,  noch  1906  oder  1907 
zu  erreichen  möglich  gewesen  ?  Ueber  kurz  oder  lang  wird  in- 
dessen der  Wettkampf  zwischen  dem  Industrienachweis  und  dem 
allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnachweis  in  Mannheim  doch  schär- 
fere Formen  annehmen  müssen,  und  ich  denke  mir  diesen  wei- 
teren Kampf  so,  daß  sich  der  allgemeine  Nachweis  zunächst  alle 
übrigen  noch  besiehenden  Arbeitsnachweiseinrichtungen  anglie- 
dern wird,  um  dann  in  geschlossener  Front  dem  Arbeitsnachweis 
der  Industrie  gegenüberzustehen.  Indessen  kann  m.  E.  dieser 
Wettkampf  nur  allmählich  und  mit  der  wirtschaftlichen  Waffe  der 
besseren  Organisation  ausgetragen  werden,  wenn  nicht  die  ge- 
werbtreibenden  Dritten  Schaden  erleiden  sollen^). 

c)  Die   Arbeitsvermittlung    der   handwerklichen 
Organisationen. 

Bei  der  vom  Kaiserlichen  Statistischen  Amt  anfangs  1905 
veranstalteten  Erhebung  über  die  Wirkungen  des  sog.  Hand- 
werkergesetzes (Novelle  zur  Reichsgewerbeordnung  vom  26.  Juli 
1897)  wurden  im  Großherzogtum  Baden  Ende  1904  insgesamt 
82  Innungen  ermittelt,  welche  Zahl  nach  den  Zusammenstellungen 
der  Landesstatistik  ^),  die  auf  Angaben  der  Handwerkskammer 
sich  gründet,  bis  Ende  191 2  nur  um  4,  also  auf  86  Innungen, 
sich  erhöhte.  Im  Rahmen  der  vorliegenden  Arbeit  kann  ich  na- 
türlich auf  die  Lage  des  badischen  Handwerks  im  allgemeinen  und 

i)  Vgl.  Tätigkeitsbericht   191 1,  S.  5. 

2)  Beachtenswert  in  dieser  Beziehung  erscheint  mir,  daß  der  Geschäftsführer 
der  Vereinigung  deutscher  Arbeitgeberverbände  seinerzeit  auf  dem  7.  Deutschen 
Arbeitsnachweiskongreß  Hamburg  1912  es  bemängelt,  daß  einseitig  nur  den  all- 
gemeinen öffentlichen  Nachweisen  die  Fahrpreisermäßigung  zustehe!  Schriften  des 
Verbandes  deutscher  Arbeitsnachweise  Nr.    11,  S.   188. 

3)  Statistisches  Jahrbuch  für  das  Großherzogtum  Baden   1913,  S.   137. 
Zeitschrift  für  die  ges.  Staatswissensch.     Ergänzungsheft  52.  C 


—     66     — 

auf  die  Gründe  der  jreringen  Entwicklung  seiner  weiteren  Orga- 
nisation insbesondere  nicht  näher  eingehen.  Dagegen  glaube  ich 
für  den  Zweck  meiner  folgenden  Betrachtungen  hier  feststellen 
zu  sollen,  daß  die  Weiterentwicklung  der  handwerklichen  Selbst- 
verwaltung in  Baden  jedenfalls  eine  so  langsame  ist,  daß  auch 
heute  noch  für  den  Gegenstand  meiner  Untersuchungen,  d.  h.  für 
die  Organisation  der  handwerklichen  Arbeitsvermittlung,  sehr 
wohl  die  Ergebnisse  der  eingangs  erwähnten  Erhebung,  soweit 
neuere  Zahlen  nicht  verfügbar  sind,  zugrunde  gelegt  werden 
können. 

Nach  der  Reichserhebung  hatten  nun  nur  20  badische  In- 
nungen eigene  Arbeitsnachweisstellen  eingerichtet,  und  es  waren 
weiter  nur  bei  13  Innungen  die  Gesellen  an  deren  Verwaltung 
beteiligt,  wodurch  sich  m.  E.  der  Arbeitgebercharakter  der  In- 
nungsnachweise auch  für  Baden  deutlich  dokumentiert.  Von 
diesen  Innungsnachweisstellen  wurden  im  Jahre  1904  3306  Ar- 
beitsuchende vermittelt,  während  im  ganzen  5375  Personen  um 
Arbeit  vorsprachen  und  von  den  Nichtvermittelten  2069  insge- 
samt 15 16  Reiseunterstützung  erhielten.  Nach  der  seit  1905  ein- 
geführten Berichterstattung  der  Innungen  zur  Reichsarbeitsmarkt- 
statistik  wurden  dagegen  für  19 12  seitens  13  badischer  Innungen 
im  ganzen  3957  Vermittlungen  gemeldet,  so  daß  man  an  sich 
bei  der  abnehmenden  Zahl  der  Nachweisstellen  auf  eine  wesent- 
lich erhöhte  Vermittlungstätigkeit  schließen  könnte.  Dem  steht 
aber  der  Gesichtspunkt  der  größeren  Genauigkeit  der  Statistik 
seit  Vollzug  des  Stellenvermittlergesetzes  entgegen,  ganz  abge- 
sehen davon,  daß  sich  unter  diesen  Vermittlungen  erfahrungsge- 
mäß sehr  viele  sog.  Aushilfsstellen  befinden.  Der  Grund  für  das 
Zurückgehen  der  Innungsnachweise  der  Zahl  nach  liegt  dabei, 
wie  hier  schon  vorweg  bemerkt  werden  mag,  hauptsächlich  in 
der  Angliederung  der  Nachweisstellen  an  die  allgemeinen  öffent- 
lichen Arbeitsnachweise ;  hatten  doch  nach  der  Reichserhebung 
schon  1904  36  (44%)  der  badischen  Innungen  ihre  Vermittlungs- 
tätigkeit an  die  gemeindlichen  Arbeitsämter  angeschlossen.  Im 
übrigen  verteilen  sich  die  für  1912  gemeldeten  Vermittlungen 
mit  1933  Stellen  auf  die  Bäckerinnungen,  mit  1 148  auf  die  Bar- 
bier-, Friseur-  und  Pcrückenm.acher-,  mit  691  auf  die  ]\Ietzger- 
und  mit  nur  185  Stellen  auf  die  Wirte-Innungen.  Es  zeigt  aus- 
weislich der  Berichterstattung  seit  1905  die  Zahl  allein  der  Ver- 
mittlungen der  Barbier-  usw.  Innungen   steigende  Tendenz,    wäh- 


-    67     - 

rend  die  Vermittlungen  bei  den  Metzger-  und  Wirte-Innungen 
stagnieren  und  die  der  Bäckerinnungen  erheblich  zurückgehen. 

Ich  möchte  diese  Entwicklungserscheinungen  kurz  benützen, 
um  auch  hier,  wie  bei  den  vorbehandelten  Arbeitgebernachweisen, 
einiges  über  den  Einfluß  der  Innungsnachweise  auf 
die  Deckung  des  Bedarfs  in  den  einzelnen  Handwerks- 
zweigen zu  sagen. 

Das  Bäckergewerbe  hat  sich  im  allgemeinen  auch  in 
den  größeren  Städten  Badens  noch  den  kleingewerblichen  Cha- 
rakter bewahrt;  deshalb  finden  wir  auch  1905  in  den  Städten 
Mannheim,  Karlsruhe,  Freiburg  und  Heidelberg  noch  größere 
Vermittlungsergebnisse.  Diese  gehen  nun  in  den  folgenden  Jah- 
ren dauernd  zurück;  trotzdem  wollen  die  Klagen  der  Innungen 
über  Arbeitermangel  nicht  verstummen.  Sie  werden  sogar  immer 
lauter,  und  es  herrscht  auf  dem  flachen  Lande  geradezu  Leute- 
not ^).  Gleichwohl  werden  Maßnahmen  der  Innungen,  die  diesen 
Mangel  durch  Verbesserungen  der  eigenen  Arbeitsnachweise  wirk- 
sam zu  bekämpfen  suchen,  nicht  bekannt,  sie  müssen  daher  wohl 
als  aussichtslos  betrachtet  worden  sein. 

Auch  für  die  Metzger  und  Wirte  glaube  ich  nach  den 
mitgeteilten  Ergebnissen  eine  gewisse  Bedeutungslosigkeit  der 
eigenen  Innungsnachweise  behaupten  zu  können,  w^obei  noch  zu 
berücksichtigen  ist,  daß  einmal  im  Metzgereigewerbe  der  sich 
unverkennbar  zeigende  Zug  zum  Groß-  und  arbeitssparenden  Ma- 
schinenbetrieb neben  anderen  Faktoren  die  Vermittlungsergeb- 
nisse ungünstig  beeinflußt  haben  mag.  Ferner  ist  beim  Wirts- 
gewerbe der  Wettbewerb  der  andern  Nachweiseinrichtungen  be- 
sonders stark  (191 2  berichtete  nur  mehr  ein  Wirte- Innungsnach- 
weis zur  Arbeitsmarktstatistik). 

Gegenüber  den  genannten  Gewerben  besteht  nun  nur  für  das 
der  Barbiere  usw.  in  Baden  im  allgemeinen  noch  eine  bessere 
Konjunktur,  allein  wenn  hier  im  Zusammenhange  damit  die  Ver- 
mittlungsergebnisse steigende  Tendenz  zeigen,  so  ist  zugleich  zu 
beachten,  daß  der  Innungsnachweis  der  Barbiere  usw.  besonders 
gut  organisiert  ist;  wird  doch  hier  sogar  eine  interlokale  Ver- 
mittlung in  gewissen  allerdings  engen  Grenzen  gepflegt!  Trotz- 
dem herrscht  auch    im    Barbier-    usw.    Gewerbe    ein    Mangel    an 


i)  Vgl.  Geschäftsberichte  der  Handwerkskammern  Mannheim  1904/5,  S.   115, 
Karlsruhe   1907/8,  S.   139  und  Karlsruhe   1905/6,  S.   142. 

5* 


—     68     — 

tüchtigen  Gesellen  \),  so  daß  auch  hier  wohl  der  Schluß  gezogen 
werden  muß,  daß  der  eigene  Innungsnachweis  nicht  vermocht  hat, 
die  Verhältnisse  zu  verbessern. 

^lit  diesem  Versagen  —  um  es  beim  richtigen  Namen  zu 
nennen  —  der  Innungsnachweise  hängt  m.  E.  auch  die  zurück- 
haltende Stellungnahme  zusammen,  die  die  zur  Förderung  des 
Handwerks  eingerichteten  weiteren  Organisationen,  also  insbe- 
sondere die  badischen  Handwerkskammern,  den  Innungs- 
nachweiseinrichtungen gegenüber  beobachtet  haben.  Die  badi- 
schen Handwerkskammern  sind  vielmehr  alsbald  dazu  überge- 
gangen, den  Wert  der  allgemeinen  öffentlichen  Nachweise  auch  für 
die  Mitglieder  der  Innungen  anzuerkennen. 

Anläßlich  des  ii.  deutschen  Handwerks-  und  Gewerbekam- 
mertages 1910  in  Stuttgart  hat  der  Vorsitzende  der  Freiburger 
Kammer  gegenüber  der  sog.  Magdeburger  Resolution, 
die  den  norddeutschen  Standpunkt  eigener  Arbeitsnachweise  zum 
Ausdruck  brachte,  ausgeführt,  daß  in  Baden  die  allgemeinen  öffent- 
lichen Arbeitsnachweise  sich  nicht  nur  bewährt  hätten,  sondern 
auch  die  Bedürfnisse  des  Handwerks  entsprechend  befriedigen, 
es  liege  also  eine  Veranlassung  zum  Abrücken  von  diesen  be- 
währten Einrichtungen  nicht  vor,  man  würde  vielmehr  in  Baden 
die  allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnachweise  unterstützen^).  Diese 
Unterstützung  hat  sich  dann  darin  gezeigt,  daß  immer  mehr  In- 
nungsnachweise an  die  allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnachweise 
angeschlossen  wurden. 

In  welcher  Weise  aber  in  Baden  insbesondere  die  Frage  der 
Lehrlingsvermittlung  im  Zusammengehen  der  Hand- 
werkskammern mit  den  allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnachweisen 
gelöst  worden  ist,  habe  ich  schon  oben  anläßlich  der  Erörterung 
der  bezüglichen  Vermittlungstätigkeit  dieser  Arbeitsnachweise  zur 
Darstellung  gebracht  und  bringen  können ;  denn  eine  eigene 
Lehrlingsvermittlung  seitens  der  badischen  Handwerkskammer 
besteht  heute  eigentlich  nicht  mehr. 

Im  Zusammenhang  mit  dieser  Stellungnahme  der  badischen 
Handwerkskammern  zu  den  allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnach- 
weisen   möchte    ich    hier    als    charakteristisch    für    das    badische 


1)  Vgl.  Jahresbericht  der  Handwerkskammer  Karlsruhe    1904/05,  S.  24. 

2)  Vgl.  Geschäftsbericht  der  Handwerkskammer  Freiburg  1910/II,  S.  108/9 
an  anderer  Stelle  dieses  Geschäftsberichtes  (S.  55)  bezeichnet  dieselbe  Kammer 
die  Errichtung  besonderer  Handwerkernachweise  geradezu  als  Luxus! 


-     69    - 

Handwerk  noch  erwähnen,  daß  im  Jahre  1903  der  Verband 
badischer  Gewerbevereine  an  den  allgemeinen  öffent- 
lichen Arbeitsnachweis  Karlsruhe  mit  dem  Plan  herantrat,  im 
Landesverband  für  die  hier  vereinigten  Gewerbe  einen  besonde- 
ren Arbeitsnachweis  zu  errichten,  und  hierüber  um  Rat  und  Aus- 
kunft bat.  Der  Karlsruher  Arbeitsnachweis  hat  sich  nach  bestem 
Wissen  und  Ueberzeugen  damals  gegen  diesen  Plan  ausgespro- 
chen, und  die  Begründung  eines  besonderen  Arbeitsnachweises 
im  Landesverband  ist  dann  zugunsten  des  allgemeinen  öffentlichen 
Arbeitsnachweises  auch  unterblieben ! 

]\Iit  den  Arbeitsvermittlungseinrichtungen  der  Innungen  steht 
in  einem  gewissen  organischen  Zusammenhange  seit  altersher  das 
Herbergswesen.  Doch  besaßen  nach  der  Reichserhebung 
1904  von  den  82  badischen  Innungen  nur  mehr  i  eine  eigene  Her- 
berge, während  13  Innungen  sonstige  Herbergen  benutzten,  wo- 
für aber  nur  3  geringe  Beiträge  entrichteten ;  3  weitere  Innungen 
hatten  für  die  Beherbergung  ihrer  Gewerksgenossen  Abkommen 
mit  Gastwirten  getroffen.  Das  war  alles,  und  wie  die  Arbeits- 
nachweiseinrichtungen keine  Fortschritte  gemacht  haben,  so  ist 
auch  im  wesentlichen  das  eigene  Herbergswesen  nicht  weiter  aus- 
gebaut worden;  an  seine  Stelle  sind,  wie  schon  die  Ergebnisse 
der  Reichserhebung  erkennen  lassen,  andere  Einrichtungen  zu 
treten  berufen,  Herbergen  zur  Heimat,  Naturalverpflegungsstationen, 
und  in  Zukunft  wohl  auch  die  Wanderarbeitsstätten. 

Was  iiun  die  Vermittlungstechnik  der  Innungsnach- 
weise betrifft,  so  hat  bekanntlich  auf  Grund  des  Handwerkerge- 
setzes das  Reichsamt  des  Innern  ein  neues  Normalinnungsstatut 
ausgearbeitet.  Auf  Grund  dieses  Statuts  hat  der  Zentralaus- 
schuß der  deutschen  Innungen  versucht,  eine  einheitliche  Rege- 
lung der  Arbeitsvermittlung  herbeizuführen.  Darnach  wurde  vor- 
gesehen, überall  Geschäftsstellen  für  Arbeitsnachweis  zu  errichten, 
wo  die  Gesellen  sich  melden  und  gegebenfalls  legitimieren  soll- 
ten, und  wo  auch  die  offenen  Stellen  seitens  der  Meister  gemeldet 
werden  sollten.  War  ein  Geselle  eingestellt  worden,  so  oblag  dem 
Meister  wiederum  die  Pflicht,  dieses  zur  Gesellenrolle  anzuzeigen. 
Die  Bekanntgabe  der  offenen  Stellen  sollte  dabei  entweder  durch 
Anschreiben  an  eine  Tafel  oder  durch  den  Herbergsvater  oder 
durch  den  sog.  Sprechmeister  geschehen,  der  in  letzterem  Falle 
die  Zuweisungen  möglichst  nach  der  Reihenfolge  der  Anmel- 
dungen betätigen  sollte,    damit  niemand  bevorzugt   oder  benach- 


—     yo    — 

teiligt  werden  könnte.  Wir  hätten  iiicr  also  sowohl  den  a  1  1- 
gemeinen  Meldezwang  wie  das  sogen.  N  u  m  m  e  r  n- 
System,  aber  auch  das  sog.  Obligatorium  ist  von  ein- 
zelnen Statuten  für  den  Meister  übernommen  worden.  Wird  eine 
Stelle  nicht  vermittelt,  so  hat  der  Geselle  gegebenenfalls  Anspruch 
auf  das  Innungsgeschenk. 

Allein  eine  solche  Vereinheitlichung  und  genaue  Regelung 
des  Nachweis-  und  Herbergswesens  ist  in  Deutschland  nur  in 
einigen  Gewerben  und  dann  nur  bei  den  größeren  Innungen  zur 
Durchführung  gelangt^),  und  in  Baden  wie  überhaupt  in  Süd- 
deutschland ist  eine  weitergehende  Verbesserung  der  Technik  der 
Innungsnachweiseinrichtungen  im  allgemeinen  nicht  erreicht  worden. 
Am  weitesten  vorgeschritten  scheinen  mir  noch  die  Nachweis- 
einrichtungen der  Bäckerinnung  in  Freiburg  im  Breisgau  zu  sein, 
wo  ein  besonderes  Innungshaus  besteht  und  die  Vermittlung  für 
diese  Innung  durch  sog.  Sprechmeister  erfolgt.  In  anderen  Orten 
erfolgt  die  Vermittlung  durch  den  Herbergsvater,  d.  h.  also  durch 
den  Hausvater  der  Herberge  zur  Heimat.  Ich  werde  auf  diese 
Art  der  Vermittlungstechnik  in  dem  Abschnitt  über  charitative 
Arbeitsvermittlung,  wo  die  Herbergen  zur  Heimat  zur  Erörterung 
stehen,  noch  näher  einzugehen  haben.  Eine  andere  Art  der  Ver- 
mittlung von  Gesellen  ist  die  durch  Gastwirte,  wobei  allerdings 
bei  einzelnen  Gewerben,  wie  z.  B.  bei  der  Brauerei-Innung  zu 
Karlsruhe,  diese  Art  der  Vermittlung  eine  mildere  Beurteilung 
verdient,  weil  das  Gewerbe  mit  dem  Gastwirtschaftsbetrieb  in 
engeren  Beziehungen  steht.  Eine  Vermittlung  im  Geschäftslokal 
findet  weiter  statt  z.  B.  bei  der  Friseurinnung  in  Karlsruhe,  bei 
welcher  Innung  sich  auch  Meldezwang  und  Obligatorium  findet. 
Eine  ganz  besondere  Art  der  Vermittlung  war  endlich  die  durch 
den  Geschäftsführer  der  Innungskrankenkasse  der  Baugewerke- 
innung Karlsruhe,  die  sich  indessen  —  ähnlich  wie  die  noch  zu 
erwähnende  Vermittlung  der  Ortskrankenkasse  der  weiblichen 
Dienstboten  in  Mannheim  —  m.  E.  mit  Recht  —  einer  gewissen 
Unbeliebtheit  bei  den  Gesellen  erfreut;  denn  Krankenkasse  und 
Arbeitsvermittlung  haben  eigentlich  nichts  miteinander  zu  tun. 

Die  m.  E.  rückständige  Technik  der  Innungsvermittlung  hat 
natürlich  auch  ihrerseits  die  Erfolge  der  Vermittlungs- 
tätigkeit beeinträchtigt,  obwohl  man  wohl  besser  umgekehrt 

i)  Vgl.  Meyer  a.  a.  O.  S.  115,  Amtliche  Denkschrift  S.  1 1 1  fif.,  Eckert,  Der 
moderne  Arbeitsnachweis   1902,  S.   51  ff. 


J 


—     71     — 

sagt,  daß  die  Technik  eben  eine  so  schlechte  ist,  weil  die  Be- 
deutung der  Innungsnachweise  ständig  zurückgeht.  So  möchte 
denn  auch  ich  hier  für  Baden  dem  Urteil  der  amtlichen  Denk- 
schrift ^)  über  die  Innungsnachweise  beipflichten,  daß  dieser  Zweig 
der  Arbeitsvermittlung  im  allgemeinen  in  primitiven  Formen  ohne 
Ausbildung  eines  bestimmten  Geschäftsverfahrens  sich  bewegt 
und  einer  gesonderten  Weiterentwicklung  wohl  nicht  als  fähig 
erscheint. 

Das  Beispiel  zeigt,  daß  gerade  die  Innungsnachweise  bei 
gutem  Willen  leicht  dem  allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnach- 
weis angegliedert  werden  können,  auch  unter  Erhaltung  alt- 
hergebrachter Einrichtungen,  wie  z.  B.  des  Reisegeschenkes.  Für 
diesen  allgemeinen  Anschluß  möchte  ich  auch  hier  wenigstens  für 
die  badischen  Verhältnisse  eintreten  und  zum  Schluß  noch  darauf 
hinweisen,  daß  damit  auch  die  volle  Unentgeltlichkeit  der  Ver- 
mittlung für  alle  Beteiligten  erreicht  werden  würde,  die  bisher 
bei  den  Innungsnachweisen  noch  nicht  überall  besteht. 

2.  Die  Arbeitnehmernachweise. 

Die  Nachweiseinrichtungen  der  Arbeitnehmer,  denen  ich  mich 
nunmehr  zuwende,  scheiden  sich  deutlich  in  2  Gruppen,  je 
nachdem  die  Arbeitnehmer  vorzugsweise  den  Berufszweigen  I  n- 
dustrie  und  Gewerbe  oder  Handel  und  Verkehr 
angehören. 

Dabei  sind  die  Nachweiseinrichtungen  für  letztere  wesent- 
lich älter  als  die  der  ersteren,  entsprechend  der  Zeit  der  Ver- 
bandsgründungen, die  bekanntlich  im  Handel  aus  hier  nicht  zu 
erörternden  Gründen  viel  früher  erfolgten,  als  bei  den  gewerb- 
lichen Arbeitern^). 

Allein  nicht  nur  nach  Entstehungszeiten  und  Berufszweigen 
scheiden  sich  die  beiden  Gruppen,  sondern  wesentlich  auch  nach 
ihrer  Stellungnahme  zu  den  allgemeinen  öffent- 
lichen Arbeitsnachweisen,  was  im  Hinblick  auf  die 
weitere  Zentralisation  insbesondere  für  die  süddeutschen  und  ba- 
dischen Verhältnisse,  wo  die  kommunalen  Arbeitsämter  am  wei- 
testen entwickelt  sind,  von  besonderer  Wichtigkeit  ist  und  daher 
hervorgehoben  werden  muß.  Während  die  Gewerkschaften  jeder 
Art    sich    den    allgemeinen    öffentlichen    —   paritätischen  —  Ar- 

1)  Amtliche  Denkschrift  S.   I2i. 

2)  Vgl.  Meyer   a.  a.  O.,  S.    125  ff. 


beitsnachweisen  unverkennbar  nähern'),  scheint  sicli  für  den  Handel, 
je  schärfer  hier  der  Gegensatz  zwischen  l'rinzii)al  und  Gehilfen 
wird,  eine  entgegengesetzte  Bewegung  anl)ahnen  zu  wollen,  von 
der  nur  zu  hoffen  ist,  daß  sie  sich  bald  wieder  wie  bei  den  Ge- 
werkschaften wende. 

Im  übrigen  sind  die  als  Träger  (der  Arbeitnehmer- 
nachweise) erscheinenden  Berufsverbände  regelmäßig  interlokale 
Reichsverbände  und  daher  die  Erörterung  ihrer  Nachweiseinrich- 
tungen für  den  Bereich  des  Großherzogtums  unter  dem  Gesichts- 
punkt, daß  hier  doch  nur  die  besonderen  badischen  Verhältnisse 
betrachtet  werden  sollen,  außerordentlich  erschwert,  zumal  bei 
ihnen  nur  ausnahmsweise  die  speziell  badischen  Vermittlungs- 
ergebnisse angegeben  werden  können^).  Diesen  Reichsverbänden 
gegenüber  erscheinen  aber  die  wenigen  im  Großherzogtum  be- 
stehenden lokalen  Verbände  mit  Arbeitsnachweiseinrichtungen  von 
so  unbedeutender  Art,  daß  ich  hier  davon  absehen  möchte,  sie 
aufzuzählen  ^). 

Ich  möchte  mich  deshalb  hier  im  wesentlichen  auf  die  Er- 
örterung der  V  e  r  m  i  1 1 1  u  n  g  s  t  e  c  h  n  i  k  beschränken  und  fest- 
stellen, daß  abgesehen  von  den  Berufsvereinen,  die  eine  Arbeits- 
losenunterstützung irgendwelcher  Art  gewähren,  die  Vermittlung 
bei  den  in  Baden  bestehenden  lokalen  Verwaltungsstellen  der  großen 
Verbände  trotz  gewollter  Straffheit  eine  außerordentlich  einfache, 
um  nicht  zu  sagen,  ganz  formlose  ist.  Ein  Ve  rtrauensmann 
nimmt  zu  gewissen  Stunden  (abends)  die  Arbeitsgesuche  ent- 
gegen und  ebenso  Meldungen  offener  Stellen,  die,  da  die  Arbeit- 
geber sich  grundsätzlich  fernhalten,  von  Mitgliedern  überbracht 
werden.  Er  sucht  dann  so  gut  es  geht  zu  vermitteln,  wobei 
manchmal  natürlich,  aus  besonderen,  außerhalb  der  Vermittlungs- 
technik liegenden  Gründen,  die  Ergebnisse  gar  nicht  so  schlecht 
sind.  Technisch  etwas  höher  stehen  die  Vermittlungseinrich- 
tungen bei  den  Nachweis  stellen  (Zahlstellen)  der  Ver- 
bände, die  Arbeitslosenunterstützung  gewähren,  z.  B.  des  Metall- 
arbeiterverbandes. Ihre  Vermittlungsergebnisse  sind  grundsätzlich 
größere.  Dagegen  zeigt  sich  bei  den  Arbeitnehmernachweisen 
eine  ins  Gewicht  fallende  interlokale  Vermittlungstätigkeit  nur  bei 


1)  Vgl.  Reichsarbeitsblatt  191 2,  S.  906  ff. 

2)  Vgl.  Reichsarbeitsblatt   191 2,  S.  907. 

3)  Z.  B.  Lithographenverein  Lahr  (1912    1  Vermittlung),  Schifferverein  Mann- 
heim (14  Vermittlungen),  Kaufmännischer  Verein  Lätitia  Freiburg  (6  Vermittlungen). 


—     73     — 

den  größeren  Berufsverbänden  in  Handel  und  verwandten  Be- 
rufszweigen (Technikerverbände),  wobei  die  Verwendung  schrift- 
licher Offertenschreiben  und  die  öffentliche  Bekanntgabe  von 
Vakanzen  (Korrespondenzblatt  des  Buchhändlerbörsenvereins)  eine 
wesentliche  und  hier  typische  Rolle  spielt. 

Alles  in  allem  kann  wohl  gesagt  werden,  daß  die  Vermitt- 
lungsergebnisse der  Arbeitnehmernachweise,  auch  soweit  das  Groß- 
herzogtum Baden  in  Betracht  kommt,  nicht  so  unerhebliche  sind, 
wie  man  vielleicht  bei  flüchtiger  Betrachtung  und  mangels  be- 
stimmter vorliegender  Vermittlungszahlen  anzunehmen  geneigt  ist. 
Den  allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnachweisen  eröffnet  sich  hier 
noch  ein  Tätigkeitsfeld,  das,  soweit  die  gelernten  gewerblichen 
Arbeiter  in  Betracht  kommen,  wie  oben  ausgeführt,  mit  Erfolg 
bereits  teilweise  gewonnen  ist,  während  es  den  sich  ablehnend 
verhaltenden  Berufskreisen  des  Handels  usw.  gegenüber  vielleicht 
mit  Hilfe  der  Handelskammern  und  mittelst  Bildung  von  beson- 
deren Fachabteilungen  gelingen  dürfte,  weiteren  Boden  zu  ge- 
winnen ^).  Diesen  Weg  scheint  auch  der  Verband  besonders  för- 
dern zu  wollen. 

Anfügen  möchte  ich  endlich,  daß  die  Zahlen  der  Vermitt- 
lungserfolge insbesondere  bei  den  größeren  Arbeitnehmerverbänden 
auch  in  einem  gewissen  Verhältnis  zu  den  hierfür  aufgewendeten 
Mitteln  stehen,  daß  aber  andererseits  namentlich  im  Handel 
die  Durchschnittskosten  einer  Vermittlung  oft  recht  hohe  sind 
(beim  Deutsch-Nationalen  Handlungsgehilfenverband  1908  3oMark); 
treffend  bemerkt  Meyer  ^)  hierzu,  daß  die  Möglichkeit,  so  hohe 
Beträge  aufzuwenden,  sich  vielfach  nur  aus  der  Teilnehmerschaft 
der  Prinzipale  bei  letzteren  Verbänden  erklärt,  und  von  diesen 
wollen  sich  jetzt  die  Arbeitnehmer  im  Handel  abwenden  ! 

3.  Die  paritätischen  Facharbeitsnachweise  ^). 

Auch  die  paritätischen  Facharbeitsnachweise  betätigen  sich, 
wie  gesagt,  nur  im  Interesse  bestimmter  Berufszweige  und  stehen 
daher  insofern  ebenfalls  im  Gegensatz  zu  den  allgemeinen  öffent- 
lichen Arbeitsnachweisen,  obschon  sie  durch  die  ausgesprochene 
Parität  der   Verwaltung  mit  diesen  näher  verwandt  sind  und  ge- 

1)  Beispiel  die  Freiburger  Handelskammer  im  Jahresbericht  1907,  S.  109, 
191 2,  S.  28,  und  die  Fachabteilung  des  Arbeitsamtes  Freiburg  seit   1909. 

2)  A.  a.  O.,  S.    137. 

3)  Vgl.    Conrad  a.   a.   O.,   S.    117  ff. 


—     74     — 

gcbencnfalls  einen  Weg^  bieten,  auf  dem  sich  bestimmte  Berufs- 
zvveige  unter  Aufgabe  ihrer  Nachweiseinrichtungen  dem  allgemeinen 
öffentlichen   Arbeitsnachweis  angliedern  kcninen. 

Als  Träger  der  paritätischen  Facharbeitsnachweise  erschei- 
nen immer  die  Arbeitgeber-  und  Arbeitnehmerverbände  eines  be- 
stimmten Berufszweiges,  auch  insofern  sind  die  paritätischen  Ar- 
beitsnachweise also  Interessentennachweise.  Ihre  Entstehung  knüpft 
gewöhnlich  an  Tarifverträge  an,  die  nach  Beendigung  von  Ar- 
beitskämpfen zwischen  den  sich  als  gleichwertig  erkennenden 
Parteien  abgeschlossen  werden,  und  zu  deren  Aufrcchterhaltung 
und  Kontrolle  dann  der  Arbeitsnachweis  mit  Vorteil  benutzt 
wird'). 

Die  Art  der  Anglied  erung  eines  paritätischen  Fach- 
arbeitsnachweises an  den  allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnachweis 
erfolgt  dann  gewöhnlich  auf  dem  Wege,  daß  die  Vermittlungs- 
tätigkeit zunächst  im  Hause  des  allgemeinen  öffentlichen  Arbeits- 
nachweises stattfindet.  Sobald  sie  dann  nicht  mehr  durch  einen 
eigenen  Beauftragten  der  Verbände,  den  Fachmann,  sondern  durch 
einen  Beamten  des  Arbeitsamtes,  der  natürlich  auch  Fachmann 
sein  kann  -),  und  ferner  nach  den  Geschäftsgrundsätzen  des  Ar- 
beitsamtes erfolgt,  entsteht  aus  dem  paritätischen  Facharbeits- 
nachweis die  ?""achabteilung  in  dem  oben  von  mir  bezeichneten 
Sinne.  Es  kommt  also  für  die  Angliederung  der  paritätischen 
Facharbeitsnachweise  insbesondere  auch  darauf  an,  daß  die  Ver- 
mittlungsgrundsätze sich  denen  des  allgemeinen  öffentlichen  Ar- 
beitsnachweises nähern.  Es  ist  daher  von  grundsätzlichem  In- 
teresse, hier  festzustellen,  daß  das  sog.  Obligatorium  bei  den 
typischen  paritätischen  Facharbeitsnachweisen,  die  wir  in  Deutsch- 
land besitzen,  denen  der  deutschen  Buchdrucker  und  der  Ber- 
liner Brauer^),  in  wesentlich  gemilderter  Form  erscheint;  an- 
dererseits ist  bei  Erörterung  der  Vermittlüngstechnik  der  allge- 
meinen öffentlichen  Arbeitsnachweise  schon  vorgetragen  worden, 
daß  mir  hinsichtlich  der  ebenfalls  gewöhnlich  einen  wichtigen 
Punkt    bei    den    paritätischen    Facharbeitsnachweisen-    bildenden 

1)  Zu  beachten  ist  jedoch,  daß  Tarifgemeinschaft  und  Verbandszugehörigkeit 
etwas  verschiedenes  sind  und  die  Tarifgemeinschaft  grundsätzlich  als  der  umfas- 
sendere Begriflf  erscheint.  Durch  Tarifgemeinschaft  ist  vielfach  auch  die  Benützung 
eines  einseitigen  Berufsnachweises  vorgesehen  worden;  vgl.  Reichsarbeitsblalt  1912, 
S.  908  ff. 

2)  Vgl.  oben  S.  39. 

3)  Amtliche  Denkschrift,  S.   133  ff.,  Meyer  a.  a.  O.,  S.   116  (T. 


—    75     — 

Reihenfol  ge  der  Zuweisungen  ein  Entgegenkommen  der  Ar- 
beitsämter für  bestimmte  Berufszweige  durchaus  als  möglich  und 
diskutabel  erscheinen  möchte.  Der  sog.  M  e  I  d  e  z  w  a  n  g  end- 
Hch  ist  ebenfalls  bei  den  paritätischen  Facharbeitsnachweisen  sehr 
erheblich  abgeschwächt,  und  er  besteht  z.  B.  bei  den  deutschen 
Buchdruckern  nur  für  die  Gehilfen,  alles  zugleich  Fingerzeige,  daß 
auch  bei  den  bestorganisierten  Facharbeitsnachweisen  das  Obli- 
gatorium und  seine  notwendige  Ergänzung,  der  Meldezwang,  sich 
nicht  ohne  weiteres  haben  durchführen  lassen. 

Die  Vermittlungstätigkeit  der  paritätischen  Facharbeitsnach- 
weise ist  grundsätzlich  interlokal,  soweit  die  als  Träger  der  Nach- 
weise erscheinenden  Verbände  ebenfalls  ein  größeres  Gebiet 
umfassen.  So  hat  das  deutsche  Buchdruckergewerbe  —  die  Tarif- 
gemeinschaft deutscher  Buchdrucker  —  seine  Kreiseinteilung  für 
Zwecke  der  Arbeitsvermittlung  in  der  Weise  nutzbar  gemacht, 
daß  an  den  Kreisvororten  zugleich  Arbeitsnachweise  errichtet  sind, 
die  als  Zentralstellen  für  die  übrigen  im  Kreise  vorhandenen  Nach- 
weisstellen erscheinen.  Von  diesen  erfolgt  eine  Verteilung  von 
Angebot  und  Nachfrage  innerhalb  des  Kreises ;  letzte  und  oberste 
Ausgleichstelle  ist  dann  das  Tarifamt  in  Berlin,  das  eine  Ver- 
bindung mit  den  Kreisnachweisen  durch  sog.  Kontrollkarten  auf- 
recht erhält,  die,  in  ähnlicher  Weise  wie  die  Vakanzenliste  der 
allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnachweise  aufgestellt,  eine  Ueber- 
sicht  über  zunächst  nicht  zu  vermittelndes  Angebot  geben.  Für 
Baden  erreichte  der  Kreisvorort  Freiburg  i.  B.  im  Jahre  19 12  in 
dieser  Weise  129  Vermittlungen.    Die  Vermittlung  erfolgt  kostenlos. 

Lediglich  lokale  Facharbeitsnachweise  sind  dagegen  selten, 
und  ich  glaube  nach  meinen  Ermittelungen  annehmen  zu  kön- 
nen, daß  ein  irgendwie  bedeutender  lokaler  Facharbeitsnachweis 
etwa  nach  Art  der  Berliner  Brauer  im  Großherzogtum  nicht  be- 
steht. 

Dagegen  findet  sich  in  Baden  noch  eine  eigenartige  Ver- 
mittlungseinrichtung, die  mär  in  ihrer  Beschränkung  auf  bestimmte 
Berufsgruppen  und  zufolge  ihrer  gewissermaßen  kraft  Gesetzes 
bestehenden  paritätischen  Verwaltung  noch  am  meisten  Aehn- 
lichkeit  mit  den  paritätischen  Facharbeitsnachweisen  zu  haben 
scheint.  Diese  ist  deshalb  in  dem  von  mir  aufgestellten  Sy- 
stem der  Arbeitsnachweise  hier  am  ehesten  unterzubringen.  Es 
ist  das  die  Arbeitsvermittlung,  die  seitens  der  Orts  k  ranke  n- 
kasse  häuslicherDienstboten  in  Mannheim  statt- 


-   ;^^   - 

findet').  Dabei  ist  natürlich  hier  die  Vcrmitthingstätif;kcit  durch 
die  reichsgesetzHche  Meldepflicht  zur  Krankenversicheruni^  we- 
sentlich erleichtert;  im  übri<j;en  aber  besteht  m.  E.  der  einzige 
organisatorische  Vorteil  der  Einrichtung  in  der  Ersparung  des 
Weges  zum  allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnachweis,  dem  dafür 
der  Nachteil  einer  Verbindung  zweier  an  sich  nichts  miteinander 
gemein  habender  Institutionen  —  Krankenversicherung  und  Ar- 
beitsvermittlung —  gegenübersteht.  I''estzustellen  ist  jedoch,  daß 
zur  Steuerung  der  Dienstbotennot  und  im  Kampfe  gegen  das  ge- 
werbsmäßige Stellenvermittlertum  die  Arbcitsvermittlungseinrich- 
tung  bei  der  ürtskrankenkasse  Mannheim  sich  wesentliche  Ver- 
dienste erworben  hat.  Trotzdem  möchte  ich  meinen,  daß  im 
Interesse  der  Zentralisation  des  Mannheimer  Arbeitsmarktes  und 
auch  zur  notwendigen  Stärkung  des  dortigen  gemeindlichen  Ar- 
beitsamtes die  Vermittlung  an  diese  abgegeben  werden  sollte, 
besonders,  nachdem  jetzt  durch  das  Stellenvermittlergesetz  der 
Kampf  gegen  die  gewerbsmäßigen  Gesindevermieter  mit  anderen 
schärferen  Waffen  möglich  ist.  Im  übrigen  ist  die  Vermittlungs- 
tätigkeit der  Ortskrankenkasse  nicht  unbedeutend  gewesen.  Sie 
erzielte  im  Jahre  191 2  1002  Vermittlungen.  Gebühren  in  ge- 
ringem Umfange  wurden  dabei  nur  seitens  der  Dienstherrschaften 
zur  Kostendeckung  erhoben. 

C.  Die  charitative  Arbeitsvermittlung^). 

Daß  die  charitative  Arbeitsvermittlung  im  Großherzogtum 
Baden  im  allgemeinen  nur  von  geringer  Bedeutung  für  die  Or- 
ganisation des  Arbeilsmarktes  ist,  ist  bereits  eingangs  gesagt 
worden.  Fragt  man  nach  den  Gründen  hierfür,  so  ist  zunächst 
einmal  ganz  allgemein  zu  nennen  die  Tatsache,  daß  den  Trägern 
der  charitativen  Arbeitsvermittlung  diese  nicht  Selbstzweck,  son- 
dern nur  Mittel  zum  Zweck  ihrer  sonstigen  Fürsorge  ist,  und  so- 
dann der  Umstand,  daß  insbesondere  der  selbstbewußte  moderne 
Arbeiter  die  charitative  Vermittlung  meidet,  um  nicht  mit  denen 
verwechselt  zu  werden,  die  diese  Art  von  Vermittlung  mangels 
körperlicher,  geistiger  oder  moralischer  Kraft  notwendigerweise  in 

1)  Vgl.  Ludwige  Gesindevermittlung,  S.  151  ff.  Da  Ludwig  erklärt,  daß 
diese  Einrichtung  für  Deutschland  ganz  exzeptionell  ist,  so  möchte  ich  demge- 
genüber doch  an  die  bereits  erwähnte,  wenn  auch  geringere  ähnliche  Vermittlungs- 
tätigkeit der  Baugewerksinnungskrankenkasse  zu  Karlsruhe  erinnern. 

2)  Vgl.   Conrad  a.  a.  O.,  .S.   175  ff. 


—    17    — 

Anspruch  zu  nehmen  gezwungen  sind.  Es  ist  deshalb  schon  an 
anderer  Stelle  auf  die  große  sozialpolitische  Bedeutung  hinge- 
wiesen worden,  die  dem  Zusammengehen  von  Trägern  chari- 
tativer  Arbeitsvermittlung  mit  dem  allgemeinen  öffentlichen  Ar- 
beitsnachweise innewohnt,  und  es  ist  hierbei  insbesondere  an  den 
schon  frühzeitig  erfolgenden  Anschluß  der  Bezirksvereine  für  Ge- 
fangenenfürsorge an  die  allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnach- 
weise zu  erinnern.  Aber  auch  abgesehen  von  dieser  Verbindung 
haben  die  badischen  Bezirksvereine  für  Jugendschutz 
und  Gefangenenfürsorge  auch  sonst  dem  erzieherischen 
Werte  der  Arbeit  stets  größte  Bedeutung  beigemessen  und  viel- 
fach Arbeitsstellen  auch  auf  Grund  persönlicher  Beziehungen  ihrer 
Vorstandsmitglieder  vermittelt;  sie  haben  ferner  in  zahlreichen 
Fällen  Reiseunterstützung  zur  Erreichung  von  Arbeitsgelegenheit 
gewährt,  wo  andernfalls  ein  Aufsuchen  der  Arbeit  wegen  Mittel- 
losigkeit nicht  möglich  gewesen  wäre.  Sie  haben  endlich  häufig 
durch  Bewilligung  von  Lehrgeldern  und  Lehrlingsausstattungen 
auch  das  Eingehen  junger  Leute  in  gelernte  Berufe  gefördert. 
Sogar  eine  Schreibstube  ist  von  einem  Bezirksverein  (Mannheim) 
zwecks  vorübergehender  Beschäftigung  eingerichtet  worden.  Wie 
hoch  aber  auch  der  Wert  dieses  Tuns  unter  dem  Gesichtspunkt 
christlicher  Fürsorge  und  charitativer  Betätigung  geschätzt  werden 
mag,  der  ziffernmäßig  für  den  Arbeitsmarkt  erreichte  Erfolg  ist 
doch  nur  gering:  im  Jahre  1910  (spätere  Zahlen  liegen  noch  nicht 
vor)  im  ganzen  nur  201  Vermittlungen.  Eine  nähere  Entzifferung 
der  Vermittlungen  fehlt  leider,  es  ist  indessen  nach  der  Praxis 
der  Vereine  wohl  anzunehmen,  daß  ein  großer  Teil  dieser  Ver- 
mittlungen der  Landwirtschaft  und  dem  Kleingewerbe  zugute  ge- 
kommen ist ;  man  kann  wohl  sagen,  im  Interesse  der  Individuen 
sowohl  wie  auch  dieser  Berufskreise  selbst. 

Aehnlich  wie  bei  den  Bezirksvereinen  für  Jugendschutz  und 
Gefangenenfürsorge  liegen  die  Verhältnisse  bei  allen  charitativen 
Fürsorgeeinrichtungen,  soweit  sie  Arbeit  vermitteln.  Sie  im  ein- 
zelnen aufzuführen  und  zu  charakterisieren,  ist  hier  unmöglich ; 
»denn  es  handelt  sich  um  eine  Fülle  von  den  verschiedensten 
Sach-  und  Organisationsgebieten  angehörigen  Bildungen,  die  kaum 
für  eine  einzelne  Stadt,  geschweige  denn  für  ein  ganzes  Land 
aufgezählt  werden  können«^).  Ich  muß  mich  deshalb  hier  auf 
jene    charitative    Arbeitsvermittlung    beschränken,    die    anknüpft, 

l)  Amtliche  Denkschrift,  S.   169. 


einmal  an  die  Fürsorge  für  wandernde  männliche  Arbeitslose  und 
sodann  an  die  für  beschäftigungslos  in  die  Stadt  kommende  Mäd- 
chen, und  ich  glaube  bei  näherer  Beschreibung  dieser  beiden 
Richtungen  der  charitativen  Fürsorge  auch  die  Tendenz  genügend 
kennzeichnen  zu  können,  die  die  charitative  Vermittlungstätigkeit 
den  allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnachweisen  näher  bringt,  wie 
andererseits  aber  auch  die  Grenze,  die  die  beiden  Tätigkeitsge- 
biete trennt. 

I .  Träger  der  Fürsorge  für  wandernde  Ar- 
beitslose sind  bekanntlich  die  Herbergen  zur  Heimat,  die 
Naturalverpflegungsstationen  und  die  Arbeiterkolonien ;  alle  drei 
finden  sich  auch  im  Großherzogtum  Baden  vor.  Während  die 
Herbergen  zur  Heimat  sich  mit  allerdings  sehr  geringen  An- 
sprüchen an  selbstzahlende  Wanderer  wenden,  sind  die  Natural- 
verpflegungsstationen zur  vorübergehenden  Unterstützung  für 
mittellose  Wanderer  bestimmt,  und  die  Arbeiterkolonie  endlich 
gewährt  arbeitswilligen,  aber  mittellosen  Personen  aller  Art  so 
lange  dauernden  Aufenthalt ,  bei  geeigneter  Inanspruchnahme 
ihrer  Arbeitskraft,  bis  sie  wieder  ein  anderweitiges  Unterkommen 
finden  können. 

Die  Herbergen  zur  Heimat  sind  in  Baden  nicht 
allein  christlich-charitativer  Vereinstätigkeit  zu  verdanken,  son- 
dern knüpfen  teiKveise  auch  an  die  alte  Fürsorge  der  Innungen 
für  ihre  wandernden  Gesellen  an  ^).  Es  ist  deshalb  von  Anfang 
an  auf  die  Vermittlung  von  Arbeit  auch  in  den  Herbergen  ein 
gewisser  Wert  gelegt  worden ;  allein,  so  lange  der  Herbergsnach- 
weis als  gesonderter  bestand,  ist  er  nirgends  über  eine  primitive 
Technik  herausgekommen.  Persönliches  Vorsprechen  der  Meister, 
Angabe  der  offenen  Stellen  an  der  Tafel  und  äußerstenfalls  ein 
Vakanzenbuch  sind  typisch  für  den  Herbergsnachweis.  Man  ist 
deshalb  in  neuester  Zeit  dazu  übergegangen,  wo  allgemeine 
öffentliche  Arbeitsnachweise  bestehen,  den  Herbergsnachweis  mit 
diesem  zu  verbinden,  so  z.  B.  in  Pforzheim  ^j.  Ich  halte  diesen 
Schritt  für  den  einzig  richtigen,  obwohl  mir  wohl  bewußt  ist,  daß 
in  weiten  Kreisen  des  Deutschen  Herbergvereins  der  Wunsch  nach 
eigenen  Herbergsnachweisen  noch  ein  sehr  lebhafter  ist.  Indessen 
ein  tüchtiger  Herbergsvater,    und    auf  den    kommt  es    doch    an, 

l)  Vgl.   oben.  S.  69,  so  z.  B.  die  Vereinsherberge  in  Freiburg  i.  B. 
^)  Vgl.  Joos,  Regelung  des  Naturalverpflegungswesens  in  Pforzheim,  Arbeits- 
markt  1909/10,  S.  339  ff. 


—     79     — 

wird  es  sich  niemals  nehmen  lassen,  seinen  Gästen  bei  Ermittlung 
von  Arbeitsstellen  an  die  Hand  zu  gehen.  Er  wird,  wenn  er  in 
enger  (telefonischer)  Verbindung  mit  dem  allgemeinen  öffentlichen 
Arbeitsamt  steht,  diesen  Rat  häufig  mit  mehr  Erfolg  insbesondere 
im  Hinblick  auf  dauernde  Einstellung  geben  können,  als  wenn 
er  selbständig  vorgeht.  Jedenfalls  dürfte  das  für  die  Verhältnisse 
in  größeren  Städten  zutreffen,  und  nur  in  solchen  bestehen  in 
Baden  eigentliche  Herbergen  zur  Heimat.  Wie  gering  im  übrigen 
die  Vermittlungsergebnisse  der  besonderen  Herbergsnachweise 
sind,  ergab  sich  deutlich  anläßlich  einer  im  Jahre  1910  vom  Ver- 
band deutscher  Arbeitsnachweise  veranstalteten  Enquete^):  dar- 
nach vermittelte  im  Jahre  1909  die  Herberge  zu  Freiburg  bei 
23991  Herbergsgästen  5304  in  Arbeit,  aber  nur  104  dauernd,  und 
die  zu  Karlsruhe  bei  26000  Gästen  2500,  davon  300  dauernd  ; 
wer  weiß,  welcher  Art  gewöhnlich  die  Gelegenheitsarbeit  der 
Herbergsgäste  ist,  wird  nur  den  dauernden  Vermittlungen,  d.  h. 
im  ganzen  in  den  beiden  Städten  404,  größeren  volkswirtschaft- 
lichen Wert  beimessen  können.  Im  übrigen  soll  aber  hiermit, 
wie  ich  ausdrücklich  betonen  möchte,  ein  Urteil  über  den  cha- 
ritativen  und  sozialen  Wert  der  Herbergen  nicht  gefällt  sein. 

Die  badischen  Naturalverpflegungsstationen 
haben  sich  auf  Grund  von  Unterstützungseinrichtungen  der  Ge- 
meinden und  innerhalb  der  Gemeinden  gegründeter  sog.  Anti- 
bettelvereine  entwickelt.  Sie  verfolgten  ursprünglich  vornehmlich 
den  Zweck,  durch  Gewährung  von  Geldgaben  die  Einwohner  vor 
lästiger  unmittelbarer  Inanspruchnahme  zu  schützen.  Es  zeigte 
sich  aber  bald,  daß  eine  Scheidung  zwischen  arbeitswilligen  und 
arbeitsscheuen  Benutzern  so  ohne  weiteres  nicht  möglich  war  und 
daß  diese  Unterstützungsstellen  den  Bettel  geradezu  förderten. 
Es  wurde  deshalb  auch  für  die  badische  Entwicklung  von  ent- 
scheidender Bedeutung,  daß  auf  Grund  der  insbesondere  in  Würt- 
temberg gemachten  Erfahrungen  der  anfangs  der  90er  Jahre  ge- 
bildete Gesamtverband  deutscher  Verpflegungsstationen  sich  iur 
das  weitere  Strecken  umspannende  Stationssystem  im  Gegensatz 
zum  Gemeindesystem  aussprach.  Er  setzte  sich  vor  allem  dafür 
ein,  daß  die  Unterstützungen  nicht  mehr  in  Geld,  sondern  in 
natura  (Beherbergung,  Frühstück,  Mittagsbrot  und  Abendbrot) 
gegeben  werden  sollten  und  wenn  irgend  möglich  von   einer  Ar- 

l)  Jahrbuch  des  Verbandes  1911/12,  S.  3239".;  Zeitschrift  »Der  Wanderer« 
1910,  S.  296  ff. 


—     8o     — 

beitsleistung  abhängig  zu  machen  seien,  cndHch,  daß  mit  jeder 
Naturalverpflegungsstation  grundsätzlich  ein  Arbeitsnachweis  zu 
verbinden  wäre.  Indessen  haben  sich  diese  Grundsätze  in  Baden 
nur  ganz  aUmähiich  Geltung  zu  verschaffen  vermocht,  und  es 
muß  sogar  gesagt  werden,  daß,  wenn  auch  die  Geldunterstützung 
fast  allenthalben  verschwand,  im  übrigen  die  Sache  der  Natural- 
verpflegungsstationen  im  Großherzogtum  Baden  keine  wesent- 
lichen Fortschritte  gemacht  hat  ,  ausgenommen  in  den  vier 
oberbadischen  Kreisen  Konstanz,  VValdshut,  Villingen  und  Lör- 
rach. 

Gleichwohl  muß  meiner  Ueberzeugung  nach  der  als  Wander- 
arbeitsstätten ausgebauten  und  mit  einem  allgemeinen  öffentlichen 
Arbeitsnachweis  in  Verbindung  gebrachten  Naturalverpflegungs- 
station eine  höhere  Bedeutung  nicht  nur  unter  sozialpolitischem 
Gesichtspunkt,  sondern  auch  für  die  Organisation  des  Arbeits- 
marktes, insbesondere  für  die  Versorgung  des  Lokalmarktes,  zu- 
erkannt werden. 

Die  Organisation  der  Verpflegungsstationen  in  den  genannten 
oberbadischen  Kreisen,  die  wohl  in  Zukunft  noch  von  besonderer 
Bedeutung  für  die  badische  Entwicklung  sein  wird,  ist  dadurch 
ausgezeichnet,  daß  es  hier  dem  Eingreifen  des  Großherzoglichen 
Landeskommissärs  in  Konstanz  gelang,  nicht  nur  ein  einheitliches 
Stationsnetz  zu  schaffen,  eine  einheitliche  Hausordnung  und  einen 
einheitlichen  Wanderschein  einzuführen,  sondern  insbesondere 
auch  die  Unterhaltung  der  Stationen  ^zur  Kreisangelegenheit  zu 
machen,  indem  die  Kreise  die  Kosten  teils  ganz  übernahmen, 
teils  wesentliche  Zuschüsse  leisteten.  Gleichzeitig  wurde  ein 
näheres  Verhältnis  der  oberbadischen  Naturalverpflegungsstationen 
zu  den  benachbarten  schweizerischen  und  später  auch  vorder- 
österreichischen herbeigeführt').  Es  gewann  damit  die  Stations- 
sache ein  ganz  anderes  Aussehen,  und  wenn  auch  der  Schritt  zu 
Wanderarbeitsstätten  auch  in  den  oberbadischen  Kreisen  noch  zu 
tun  ist,  so  wird  doch  hier  heute  schon  auf  die  Leistung  von  Ar- 
beit, soweit  möglich,  besonderer  Wert  gelegt  und  in  gewissem 
größeren  Umfang  auch  Arbeit  vermittelt.  Die  Vermittlungs- 
ziffern   für   die    dem  Arbeitsamt   Konstanz    angeschlossenen  Ver- 


i)  Vgl.  Etigelhorn,  Die  Naturalverpflegung  armer  Reisender  zur  Bekämpfung 
der  Wanderbettelei,  Zeitschrift  für  badische  Verwaltung  und  Verwaltungspflege  1887, 
S.  53  ff.,  und  die  Naturalverpflegung  wandernder  Arbeiter,  ebenda  1887,  S.  225  ff., 
1889,  S.   105  ff. 


—     81      — 

pflegungsstationen  in  den  Kreisen  Konstanz  und  Villingen  habe 
ich  bereits  oben  angegeben,  es  waren  im  Jahre  191 2  4753  Ver- 
mittlungen ;  die  Vermittlungsziffer  der  Stationen  im  Kreise  Walds- 
hut betrug  im  gleichen  Jahre  443  und  der  im  Kreise  Lörrach 
ca.  250.  Die  Vermittlungstätigkeit  der  übrigen  im  Großherzog- 
tum Baden  vorhandenen  Naturalverpflegungsstationen  kann  da- 
gegen als  unerheblich  bezeichnet  werden,  sie  haben  m.  E.  keiner- 
lei Bedeutung  für  den  badischen  Arbeitsmarkt. 

Die  einzige  Arbeiterkolonie,  über  die  das  Großher- 
zogtum Baden  zurzeit  verfügt,  ist  das  Hofgut  Ankenbuck  im 
Amtsbezirk  Villingen ;  Eigentümer  dieser  Kolonie  ist  der  Landes- 
verein für  Arbeiterkolonien  in  Baden,  Sitz  Karlsruhe.  Die  Ko- 
lonie beherbergte  19 12  im  ganzen  346  Kolonisten,  von  denen  41 
(12  %)  in  anderweitige  Arbeitsstellen  untergebracht  werden  konn- 
ten^). Diese  Zahl  möchte  ich  doch  als  eine  nicht  so  unerheb- 
liche ansehen.  Ich  kann  deshalb  das  harte  Urteil  der  amtlichen 
Denkschrift  des  Kaiserlichen  Statistischen  Amtes  über  die  Arbeits- 
vermittlung der  Kolonien  für  Baden  nicht  vollkommen  teilen  ^). 
Denn  wer  weiß,  ob  diese  41  ohne  die  Kolonie  überhaupt  wieder 
in  Arbeit  gekommen  wären !  Allerdings  ist  es  richtig,  daß  die 
Gesellschaft  der  Kolonisten  stets  eine  besonders  gemischte  war, 
und  ist  es  wohl  zweifellos,  daß  hierdurch  auch  die  Bestrebungen, 
Arbeit  zu  vermitteln,  leiden.  Indessen  tut  die  Kolonie,  was  sie 
kann,  und  es  verdient  hier  besonders  hervorgehoben  zu  werden, 
daß  die  badische  Kolonie  mit  den  Bezirksvereinen  für  Gefangenen- 
fürsorge ein  besonderes  Uebereinkommen  zwecks  Vermittlung 
von  Arbeitsstellen  abgeschlossen  hat  ^).  Damit  steht  die  Ko- 
lonie aber,  wie  oben  ausgeführt,  mit  den  einzelnen  öffentlichen 
Arbeitsnachv/eisen  Badens  in  indirekter  Beziehung,  wie  auch 
schon  in  Einzelfällen  ein  direktes  Angehen  derselben  stattgefun- 
den hat. 

Während  demnach  für  den  vorstehend  behandelten  Zweig 
charitativer  Vermittlung,  der  sich  auf  wandernde  Arbeitslose 
männUchen  Geschlechts  erstreckt,  ein  Hinstreben  zum  allgemei- 
nen öffentlichen  Arbeitsnachweis  in  Baden  unverkennbar  ist,  kann 


1)  Vgl.  Jahresbericht  des  Vereins  für   1912. 

2)  Amtliche  Denkschrift,  S.  183.  Zu  beachten  ist  auch,  daß  die  Kolonie 
manchem  für  seinen  Beruf  nicht  mehr  Brauchbaren  ermöglicht  hat,  landwirtschaft- 
liche Arbeiten  zu  erlernen  und  so  für  einen  neuen  Erwerb  sich  vorzubereiten. 

3)  Bericht  der  Zentralleitung  der  Schutzvereine   1896,  S,    19. 
Zeitschrift  für  die  ges.  Staatswissensch.     Ergänzungsheft  52.  6 


das  gleiche  für  die  weibliciie  Fürsorgetätigkeit,  soweit  sie  Arbeit 
vermittelt,  zurzeit  noch  nicht  in  gleichem  Umfange  behauptet 
werden.  Indessen  liegen  hier  die  Verhältnisse  auch  insofern 
wesentlich  anders,  als  bei  der  h^ürsorgetätigkeit  für  weibliche  Per- 
sonen die  Arbeitsvermittlung  häufig  hinter  Beherbergung  und 
Ausbildung  als  Mittel  des  Schutzes  zurücktreten  muß. 

2.  Die  Träger  weiblicher  charitativer  Ver- 
mittlungstätigkeit  sind  auch  in  Baden  insbesondere  kon- 
fessionelle Anstalten,  und  die  Hauptmasse  der  Vermittelten 
sind  Dienstboten. 

Im  Großherzogtum  wurden  die  ersten  derartigen  Anstalten 
von  der  Inneren  Mission  in  den  70er  Jahren  gegründet,  heute 
finden  sich  solche  Anstalten  beider  Konfessionen  (Marienhäuser, 
Marthahäuser,  Franziskushäuser,  Josefhäuser  usf.)  in  allen  grö- 
ßeren Städten,  und  muß  hier  von  einer  Aufzählung  Umgang  ge- 
nommen werden.  Abgesehen  von  dem  hohen  sittlichen  Schutz- 
und  Ausbildungswerte  dieser  Häuser,  worauf  hier  nicht  näher 
eingegangen  werden  kann,  ist  auch  ihre  Vermittlungstätigkeit 
von  nicht  unerheblicher  Bedeutung,  insbesondere  unter  dem  Ge- 
sichtspunkt der  Dienstbotennot  und  im  Kampf  gegen  die  ge- 
werbsmäßige Stellenvermittlung.  Im  Gegensatz  zu  den  allge- 
meinen öffentlichen  Arbeitsnachweisen  kommt  allerdings  die  Ver- 
mittlungstätigkeit immer  nur  den  Kreisen  einer  bestimmten  Kon- 
fession zugute.  Letztere  Einschränkung  fällt  weg  bei  der  sog. 
Bahnhofsmission,  soweit  diese  von  besonderen  Heimen  (z.  B. 
Baden-Badener  Bahnhofsheim)  aus  auch  Arbeitsstellen  vermittelt 
und  nicht  nur  die  Mädchen  zwecks  weiterer  Fürsorge  anderen 
Heimen  zuführt^). 

Neben  den  konfessionellen  Anstalten  entstanden  in  Baden 
mit  der  Zeit  aber  noch  weitere  Vereinigungen,  die  sich  der  Ar- 
beitsvermittlung insbesondere  auch  sozial  höherstehender  weib- 
licher Personen  auf  charitativer  Grundlage  widmen.  Es  kommen 
hier  vornehmlich  Zweigvereine  des  badischen  Frauen- 
vereins in  Betracht'^).  Im  ganzen  haben  im  Jahre  191 2  nach 
den    Erhebungen    des  Statistischen    Landesamts   die    charitativen 


i)  Die  Zweigstellen  der  Bahnhofsmission  ziehen  auch  Erkundigungen  über  aus- 
wärtige Stellen  ein,  welche  Einrichtung  auch  von  den  allgemeinen  öffentlichen 
Arbeitsnachweisen  mit  Vorteil  benutzt  werden  könnte. 

2)  Vgl.  die  Tabelle  im  Anhange  der  Geschichte  des  badischen  Frauenvereins 
Karlsruhe,    1906,  S.  770  ff. 


-     83     - 

Arbeitsnachweise  für  weibliches  Personal  9751  Stellen  besetzt, 
davon  8314  Dienstbotenstellen,  der  Rest  verteilt  sich  auf  Wirt- 
schaftspersonal, höheres  und  niederes  Erziehungspersonal  und 
auf  kaufmännisches  Personal ;  eine  doch  ganz  erhebliche  Leistung, 
da  sie  vielfach  im  Kampfe  stehen  mit  dem  gewerbsmäßigen 
Stellenvermittlertum.  Dabei  ist  die  Technik  der  Vermittlung, 
insbesondere  bei  den  Frauenvereinen,  gar  keine  so  schlechte,  denn 
ich  habe  bei  einzelnen  sogar  Ansätze  zu  einem  indirekten  Ver- 
mittlungsverkehr gefunden. 

Eine  Besonderheit  der  charitativen  weibUchen  Arbeitsver- 
mittlung ist  die  Erhebung  geringer  Gebühren,  deren  Erfas- 
sung oft  dadurch  besonders  erschwert  ist,  daß  mit  der  Vermitt- 
lungstätigkeit Beherbergung  und  weitere  Ausbildung  verknüpft 
ist.  Diese  Gebühren  sind  jetzt  durch  die  badische  Vollzugsver- 
ordnung zum  Siellenvermittlergesetz  der  behördlichen  Fest- 
setzung, unterworfen.  Sie  sind  allenthalben  so  niedrig  normiert 
worden,  daß  auch  hier  nur  mehr  von  Kostendeckung,  wie  bei 
charitativer  Vermittlung  eigentlich  selbstverständlich,  gesprochen 
werden  kann.  Oft  erfolgt  auch,  insbesondere  bei  den  Arbeit- 
suchenden, der  Nachlaß  der  Gebühr.  Die  Entwicklung  geht 
unverkennbar  dahin,  die  Erhebung  von  Gebühren  ganz  fortfallen 
zu  lassen. 

Vielleicht  ergibt  sich  im  Anschluß  hieran  die  AngUederung 
der  Vermittlungstätigkeit  auch  der  weiblichen  Fürsorge  an  die 
allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnachweise,  die,  soweit  ich  urteilen 
möchte,  gern  bereit  sein  würden,  ihre  Räume  und,  soweit  ge- 
wünscht, auch  ihre  Beamtinnen  der  weiblichen  charitativen  Ver- 
mittlung ohne  Entgelt  zur  Verfügung  zu  stellen.  Indessen  ist 
nicht  zu  verkennen,  daß  eine  Loslösung  der  Vermittlungstätig- 
keit von  den  Fürsorgeheimen  mit  gewissen  organisatorischen  wie 
auch  sonstigen  Schwierigkeiten  verknüpft  sein  wird,  da  die  im 
Schutze  des  Heims  befindlichen  Mädchen  von  diesen  selbst  aus 
wohl  auch  am  besten  der  Dienstherrschaft  übergeben  werden. 
So  sehr  deshalb  im  Interesse  einer  zentralisierten  Arbeitsvermitt- 
lung auch  die  Abgabe  der  charitativen  weiblichen  Vermittlungs- 
tätigkeit an  die  allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnachweise  zu 
begrüßen  wäre,  glaube  ich  doch,  daß  hier  der  Anschluß  nur 
allmählich  oder  wohl  nie  vollständig  wird  erfolgen  können.  Ein 
zu  rascher  Anschluß  aber  würde  nur  zum  Vorteil  der  gewerbs- 
mäßigen Stellenvermittlung  sein! 

6* 


-     84     - 

D.  Die  gewerbsmäßigen  Stellenvermittler '). 

I.  Die  Einführung  der  Rcichs^fewerbeonlnung  von  1869  be- 
seitigte auch  in  Baden  den  bis  dahin  bestehenden  Konzessions- 
zwang für  die  gewerbsmäßigen  Stellenvermittler,  Wie  dann  die 
Reichsgewerbegesetzgebung  ihre  einer  individuahstischen  Wirt- 
schaftsauffassung entsprechende  SteUungnahme  gegenüber  den 
gewerbsmäßigen  Gesindevermietern  und  Stelienvermittlern  durch 
die  Novellen  vom  1.  Juni  1883  und  vom  30.  Juni  1900  änderte 
und  mit  letzterer  Novelle  insbesondere  zum  Konzessionszwang 
kam,  kann  hier  nicht  näher  erörtert  werden.  Jedoch  möchte  ich, 
weil  es  m.  E.  nicht  möglich  ist,  bei  Betrachtung  der  gewerbs- 
mäßigen Stellenvermittler  die  verwaltungsgemäße  Regelung  ganz 
außer  acht  zu  lassen,  hier  gewissermaßen  im  Spiegel  der  1  a  n- 
desrechtlichen  Ausführung  derReichsgewerbe- 
Ordnung  die  Entwicklung  und  insbesondere  die  Mißstände  kurz 
beleuchten,  die  das  gewerbsmäßige  Vermittlertum  in  Baden  mit 
sich  brachte. 

In  Baden  war  zunächst  von  irgendwelchen  Ausführungsvor- 
schriften auf  Grund  des  §  38  (erste  Fassung)  der  Reichsgewerbe- 
ordnung ganz  abgesehen  worden.  Mag  sein,  daß  man  ein  Be- 
dürfnis hierfür  zunächst  nicht  annahm  oder  aber  die  gewerbs- 
mäßigen Gesindevermieter  bei  den  damals  noch  vorherrschen- 
den ländlichen  und  klein^^ ewerblichen  Verhältnissen  in  einem  ge- 
wissen Grade  noch  für  nüt/.lich  hielt,  «so  daß  man  ihre  Entwick- 
lung rechtlich  nicht  mehr  als  nötig  einengen  wollte.  Indessen 
änderte  sich  das  alsbald,  als  die  weitere  wirtschaftliche  Entwick- 
lunjj  des  Großherzogtums  immer  mehr  Menschen  in  die  größeren 
Städte  führte  —  die  auch  in  Baden  der  Hauptnährboden  der 
gewerbsmäßigen  Stellenvermittler  geworden  sind  —  und  als  ins- 
besondere auch  immer  häufi-;er  Klagen  übisr  die  wenig  redliche 
und  teilweise  unsittliche  Art  der  Geschäftsführung  dieser  Ver- 
mittler laut  wurden. 

Das  Ministerium  des  Innern  sah  sich  daher  veranlaßt,  in 
einer  Verordnung  vom  18.  März  1887^)  für  die  gewerbsmäßigen 
Gesindevermieter  und  Stellenvermittler  in  Gemeinden  mit  über 
3000  Einwohner  insbesondere  die  Führung  bestimmter  Geschäfts- 

i)  Vgl.  insbesondere  Ludwige  Die  Gesindevermiitlung  in  Deutschland,  Tü- 
bingen  1903,  und  Der  gewerbsmäßige  Arbeitsnachweis,   Berlin    1906. 

2)  Gesetzes-  und  Verordnungsblatt  für  Großh.   Baden    1887,  S.    loi  ff. 


-     85     - 

bücher  vorzuschreiben  und  ihnen  die  Aufstellung  von  Gebühren- 
tarifen aufzuerlegen,  die  von  den  Bezirksämtern  einzusehen  und 
abzustempeln  waren.  Durch  ortspolizeiliche  Bestimmungen  konn- 
ten diese  Vorschriften  auch  auf  Gemeinden  mit  unter  3000  Ein- 
wohner ausgedehnt  werden.  Wie  man  sieht,  noch  eine  sehr 
zurückhaltende  Reglementierung,  durch  die  nur  die  größten  Miß- 
stände und  auch  diese  nicht  immer  beseitigt  werden  konnten. 

Eine  Neuregelung  erfolgte  jedoch  erst  nach  Inkrafttreten  der 
Gewerbenovelle  von  1900,  und  nachdem  man  sich  auch  in  Baden 
an  Hand  einer  eingehenden  Enquete  zuvor  über  die  bestehenden 
Verhältnisse  genauer  informiert  hatte  ^).  Die  neue  Verordnung 
vom  10.  Oktober  190 1  ^)  beseitigte  die  Unterscheidung  von  Ge- 
meinden mit  über  und  unter  3000  Einwohnern,  erweiterte  und 
verschärfte  die  Bestimmungen  über  die  Buchführung,  machte 
wahrheitsgemäße  Geschäftsankündigungen  und  Geschäftsführung 
zur  besonderen  Pflicht  und  verbot  insbesondere  die  Verleitung 
zum  Vertragsbruch.  Sie  untersagte  ferner  den  Vermittlern  die 
gleichzeitige  Ausübung  des  Gast-  und  Schankwirtschaftsgewerbes 
sowie  den  Betrieb  des  Vermiitlungsgewerbes  überhaupt  in  Wirt- 
schaften und  stellte  weiter  den  Bezirksämtern  anheim,  auch  das 
Verbot  der  Beherbergung  stellensuchender  Personen  wie  die  Ver- 
abreichung von  Speisen  und  nichtgeistigen  Getränken  ergänzend 
auszusprechen.  Im  Interesse  der  allgemeinen  öffentlichen  Nach- 
weise, deren  Konkurrenz  für  die  gewerbsmäßigen  Vermittler  be- 
reits rechu  fühlbar  geworden  war,  wurde  verboten,  eine  diesen 
ähnliche  Bezeichnung  des  Geschäftsbetriebes  zu  wählen  oder  in 
deren  Räumen  wie  auf  der  Straße  Stellensuchende  anzusprechen ; 
bei  Vermittlung  von  Stellen  weiblicher  Minderjähriger  sowie  von 
Stellen  ins  Ausland  wurde  bedeutendere  Sorgfalt  zur  Pflicht  ge- 
macht. Endlich  wurde  hinsichtlich  des  Gebührentarifes  ausdrück- 
lich bestimmt,  daß  die  Vermittlungsgebühr  nur  dann  erhoben 
werden  dürfe,  wenn  die  Vermittlungstätigkeit  zum  Abschluß  eines 
gültigen  Vertrages  geführt  habe ;  dabei  blieb  aber  die  sog.  Dop- 
pelgebühr zulässig,  und  es  durfte  auch  bei  Entgegennahme  des 
Auftrages  eine    mäßige  Einschreibegebühr    erhoben   werden.     Im 


1)  Stat.  Mitt.  über  das  Großh.  Baden  1897,  S.  23  ff.  Unmittelbar  im  An- 
schluß an  die  Enquete  ist  wohl  schon  ausgesprochen  worden,  daß  die  Aufstellung 
eines  Gebührentarifes  mit  Mindest-  und  Höchstsätzen  der  Verordnung  von  1887 
nicht  genüge. 

2)  Gesetzes-  und  Verordnungsblatt    1901,  S.  472  ff. 


—     86     — 

übrigen  sollten  Aufwendungen  (nicht  da(je<(en  allc^emeinc  Ver- 
waltungskosten) nur  auf  Grund  besonderer  Vereinbarungen  be- 
rechnet werden  können.  Hiermit  war  nunmehr  eine  gründliche 
und  umfassende  Reglementierung  des  Vermittlergewerbes,  soweit 
reichsgesetzlich  überhaupt  zulässig,  auch  in  Baden  erfolgt,  obwohl 
noch  gelegentlich  der  eben  erwähnten  Enquete  einzelne  badische 
Bezirksämter  eine  Lanze  zugunsten  der  gewerbsmäßigen  Stellen- 
vermittler unter  Verneinung  des  Bedürfnisses  zum  weiteren  Aus- 
bau der  gemeinnützigen  Arbeitsvermittlung  gebrochen  hatten  ^). 
Es  will  mir  zweifelhaft  erscheinen,  ob  der  badische  Minister  des 
Innern,  der  eine  so  weitgehende  Reglementierung  für  ein  Gewerbe 
verfügte,  noch  von  dessen  volkswirtschaftlich  nützlicher  Tätigkeit 
überzeugt  war.  Indessen  hat,  wie  ich  weiter,  unten  an  den  Er- 
gebnissen der  badischen  Stellenvermittlerstatistik  zeigen  werde, 
die  Menge  der  neuen  Vorschriften  die  Gesindevermieter  nicht 
gehindert,  sich  weiter  emporzuranken,  bis  das  neue  Stellenver- 
mittlergesetz  dafür  sorgte,  daß  die  Bäume  nicht  in  den  Himmel 
wachsen. 

Auch  die  Bestimmungen  des  Stellenvermittlergesetzes  vom 
2.  Juli  1910  möchte  ich  hier  als  im  allgemeinen  bekannt  voraus- 
setzen dürfen  und  will  nur  kurz  daran  erinnern,  daß  durch  die- 
ses am  I.  Oktober  1910  in  Kraft  getretene  Reichsgesetz,  das 
erstmals  auch  die  Herausgeber  von  sog.  Stellen-  oder  Vakanzen- 
listen erfaßte,  insbesondere  die  Prüfung  der  Bedürfnisfrage  bei 
Konzessionierung  eines  Stellenvermittfers  vorgeschrieben  wurde 
mit  dem  Beifügen,  daß  ein  Bedürfnis  insbesondere  dann  nicht 
anzuerkennen  sei,  wenn  für  den  Ort  oder  wirtschaftlichen  Bezirk 
ein  öffentlicher  gemeinnütziger  Arbeitsnachweis  in  ausreichendem 
Umfange  bestehe.  Ferner  wurde  vorgeschrieben,  daß  die  Fest- 
setzung der  Gebühren  durch  die  Behörden  zu  erfolgen  habe,  wo- 
bei nunmehr  die  sog.  Doppelgebühr,  ebenso  wie  eine  Einschreibe- 
gebühr verboten  wurde.  Endlich  wurde  auch  in  erheblich  er- 
weitertem Umfange  das  Verbot  der  Verbindung  des  Stellenver- 
mittlergewerbes  mit  anderen  Gewerben  ausgesprochen.  In  dem 
Stellenvermittlergesetz  erhielt  zugleich  die  Landeszentralbehörde 
die  Ermächtigung,  noch  weitere  Bestimmungen  über  den  Ge- 
schäftsbetrieb der  gewerbsmäßigen  Stellenvermittler  zu  erlassen, 
sowie  auch  die  Befugnis,  gewisse  Bestimmungen  des  Stellenver- 
mittlergesetzes   auf    die    nichtgewerbsmäßigen    Arbeitsnachweise 

i)  A.  a.  O.,  S.  39. 


-     87     - 

auszudehnen.  In  der  badischen  Vollzugsverordnung  zum  Stellen- 
vermittlergesetz  vom  24.  September  1910^)  ist  dann,  soweit  die 
Bestimmungen  für  meine  Arbeit  in  Betracht  kommen,  ergänzend 
vorgeschrieben  worden,  daß  vor  Konzessionierung  eines  neuen 
gewerbsmäßigen  Stellenvermittlers  stets  der  für  den  betr.  Ort 
oder  wirtschaftlichen  Bezirk  bestehende  allgemeine  öffentliche 
Arbeitsnachweis  zu  hören  ist,  wie  auch  bei  der  Konzessionsent- 
ziehung. Auch  vor  Festsetzung  der  Vermittlungsgebühren  ist 
neben  Vertretern  aller  Beteiligten  der  allgemeine  öffentliche  Ar- 
beitsnachweis zu  hören.  Es  hat  die  Festsetzung  dieser  Gebühren 
einheitlich  für  sämtliche  gewerbsmäßige  Stellenvermittler  einer 
Gemeinde  durch  den  Bezirksrat  zu  erfolgen.  Den  Polizeibehörden 
»und  den  von  ihnen  beauftragten  Beamten«  ist  ferner  jederzeit 
Einsicht  in  den  Geschäftsbetrieb  der  Stellenvermittler  zu  gestat- 
ten, ebenso  wie  auch  die  Geschäftsbücher  alljährlich  zur  Einsicht 
vorzulegen  sind.  Dabei  hat  das  Ministerium  des  Innern  in  einem 
besonderen  Erlasse  ausgesprochen,  daß  bei  dieser  Kontrolle  des 
Geschäftsbetriebes  und  der  Geschäftsbücher  es  sich  empfehle,  die 
Beamten  der  dem  Verbände  badischer  Arbeitsnachweise  ange- 
schlossenen gemeinnützigen  Arbeitsnachweisanstalten  beizuziehen, 
wodurch  auch  in  Baden  jene  vielbekämpfte  »Kontrolle  durch  die 
Konkurrenz«  ^)  allgemein  zur  Durchführung  gelangte,  die  aller- 
dings bei  einzelnen  badischen  Aemtern,  so  z.  B.  in  Pforzheim 
und  Karlsruhe,  schon  vorher  bestanden  hatte. 

2.  Ueberschaut  man  hiernach  die  verwaltungsgemäße  Regle- 
mentierung, die  den  gewerbsmäßigen  Stellenvermittlern  durch  die 
drei  angeführten  Verordnungen  zuteil  geworden  ist,  so  fällt,  ab- 
gesehen von  der  Zurückdrängung  von  Mißständen,  unter  dem  Ge- 
sichtspunkte der  Organisation  des  Arbeitsmarktes  insbesondere 
ins  Auge  das  rechtlich  unterstützte  Hineingreifen  der  allgemeinen 
öffentlichen  Arbeitsnachweise  in  die  Geschäftstätigkeit  der  ge- 
werbsmäßigen. Im  übrigen  möchte  ich  an  dieser  Stelle  zunächst 
an  Hand  der  Statistik  darlegen, 

a)  wie  sich  bei  vorstehend  geschilderter  Rechtslage  das  Ge- 
werbe der  Gesindevermieter  und  Stellenvermittler  in  Baden  ziffern- 
mäßig entwickelt  hat, 


i)  Gesetzes-  und  Verordnungsblatt   191  o,  S.   511  ff. 

2)  Vgl.  Verhandlungen  des    7.  Deutschen    Arbeitsnachweiskongresses,  in    den 
Schriften  des   Verbandes  deutscher  Arbeitsnachweise  Nr.   11,  S.  21  fif. 


—     88     ~ 

b)  in  welchen  Berufszwei^en  es  seine  Haupttäti^fkcit  ent- 
faltete, 

c)  was  für  eine  Bedeutung  für  den  badischen  Arbeitsmarkt 
ihm  zugemessen  werden  kann,  und 

d)  mit  welchen  Kosten  (Gebührenaufwand)  seine  Tätigkeit 
für  die  Allgemeinheit  verknüpft  ist '). 

a)  Bei  der  in  den  Jahren  1895 — 96  durchgeführten,  bereits 
erwähnten  Enquete  wurden  im  Großherzogtum  auf  Ende  1895 
247  gewerbsmäßige  Vermittler  ermittelt.  Von  diesen  konnten 
jedoch  nur  für  237  Angaben  über  den  Umfang  ihrer  Geschäfts- 
tätigkeit gemacht  werden,  wobei  in  36  Fällen  die  Zahl  der  Stellen- 
gesuche so  klein  war,  daß  sie  nicht  einmal  10  erreichte.  Ver- 
gleicht man  diese  Ziffern  mit  den  Ergebnissen  der  ab  1902  regel- 
mäßig vorgenommenen  Bestandsaufnahme  der  Stellenvermittlcr, 
die  für  Ende  1902  eine  Gesamtzahl  von  nur  173  ergab,  so  könnte 
man  wohl  prima  facie  meinen,  daß  durch  die  Verordnung  von 
1901  eine  wesentliche  Abminderung  der  gewerbsmäßigen  Ver- 
mittler erreicht  worden  sei ;  indessen  spricht,  wie  oben  schon  an- 
gedeutet, die  Entwicklung  in  den  folgenden  Jahren  zu  sehr  da- 
gegen. Bei  der  Enquete,  deren  Wert  im  übrigen  hier  nicht  in 
Zweifel  gestellt  werden  soll,  konnten  eben  die  Bezirksämter  auf 
Grund  der  Bestimmungen  der  Verordnung  von  1887  genauere 
Angaben  nur  bezüglich  der  Gemeinden  über  3000  Einwohner 
machen ;  sie  waren  im  übrigen  auf  die  Angaben  der  ürtsbürger- 
meister  angewiesen,  so  daß  auch  ma-nchmal  Leutevermittler  ge- 
zählt sein  mögen,  deren  Vermittlungstätigkeit  nicht  eigentlich  als 
Gewerbe  anzusehen  war.  Dagegen  können  die  Zahlen  ab  1902, 
die  von  den  Bezirksämtern  nach  Büchern  und  Angaben  der  an- 
gemeldeten Vermittler  zusammengestellt  werden,  wohl  als  zuver- 
lässig angesehen  werden.  Darnach  hat  sich  aber  die  Zahl  der 
gewerbsmäßigen  Stellenvermittler  wie  folgt  entwickelt: 

Es  stieg  die  Zahl  der  Vermittler  von  173  im  Jahre  1902  auf 
229  im  Jahre  1908,  fiel  dann  bis  Ende  1910  auf  209  und  ging 
im  Jahre  191 1  auf  150  und  im  folgenden  Jahre  1912  auf  loi  zu- 
rück; daß  letzterer  gewaltiger  Rückgang  auf  die  Einwirkung  des 
Stellenvermittlergesetzes    zurückzuführen    ist,    erscheint   zweifellos. 


i)  Ueber  die  seit  1902  in  Baden  durchgeführte  Statistik  der  gewerbsmäßigen 
Stellenverraittler  vgl.  besonders  Reichsarbeitsblatt  191 2  »Neuere  Erhebungen  über 
die  gewerbsmäßigen  Stellenvermittler  in  Deutschland«,  S.  666  ff.,  insbesondere 
S.  674  ff. 


-     89    -      • 

Dabei  ist  als  bemerkenswert  hier  hervorzuheben,  daß  in  erster 
Reihe  die  Zahl  der  Betriebe  zurückgegangen  ist,  die  sich  mit  der 
Vermittlung  weiblichen  Personals  beschäftigten;  in  zweiter  Linie 
gingen  die  Betriebe  zurück,  die  gleichzeitig  männliches  und  weib- 
liches Personal  vermittelten,  während  die  Vermittler  allein  männ- 
lichen Personals  von  1911/12  sogar  um  zwei  zugenommen  haben. 
Zugleich  wurde,  wie  das  Statistische  Landesamt  bemerkt^),  eine 
starke  Konzentration  der  Betriebe  unter  Ausscheidung  der  klei- 
neren wahrgenommen,  zumal  in  den  größeren  Städten,  was  sich 
schon  daraus  ergibt,  daß  die  Zahlen  der  Vermittlungsergebnisse 
nicht  in  gleichem  Maße  wie  die  Zahl  der  Betriebe  abnahmen, 
wobei  jedoch  auch  wohl  zu  berücksichtigen  ist,  daß  die  Statistik 
der  gewerbsmäßigen  Stellenvermittler  seit  1910  besser  ausgestaltet 
ist  und  so  Vermittlungen  faßbar  werden,  die  früher  außer  Be- 
tracht gelassen  wurden  (Aushilfspersonal).  Von  loi  Betrieben 
des  Jahres  1912  wurden  in  den  Amtsbezirken  (Städten)  Mann- 
heim, Karlsruhe,  P'reiburg  und  Heidelberg  51,  also  mehr  als  die 
Hälfte  gezählt,  während  in  den  mehr  ländlichen  Bezirken  die  Zahl 
erheblich  geringer  war. 

b)  Die  Hauptdomäne  des  gewerbsmäßigen  Stellenvermittler- 
tums  war  in  Baden  stets  die  Vermittlung  weiblicher  Per- 
sonen gewesen,  und  zwar  gliedern  sich  die  Vermittlungsergebnisse 
des  Jahres  1902  in  2583  männliche  und  17674  weibliche,  dagegen 
die  des  Jahres  1912  in  3523  männliche  und  18363  weibliche  Ver- 
mittlungen; das  Verhältnis  hat  sich  also  heute  zu  Gunsten  der 
weiblichen  doch  sehr  verschoben.  Es  war  auch  im  Jahre  1912 
die  Abnahme  der  weiblichen  Vermittlungen  gegenüber  1911  in  den 
absoluten  Zahlen  stärker  wie  die  der  männlichen.  Betrachtet  man 
die  Vermittlungen  der  männlichen  Personen  näher,  so  fällt  die 
Hauptzahl  auf  männliches  Wirtschaftspersonal,  im  Jahre  1912 
1130  Vermittlungen ;  doch  zeigt  sich  in  den  Gliederungszahlen 
der  verschiedenen  Jahre  zugleich  deutlich,  daß  sich  das  Gast- 
wirtschaftspersonal relativ,  d.  h.  im  Verhältnis  zu  den  übrigen 
Berufen,  allmählich  des  gewerbsmäßigen  Vermittlertums  entwöhnt, 
d.  h.  also  sich  den  gemeinnützigen  Arbeitsnachweisen  zuwendet 2). 
In  der  weiblichen  Abteilung,  wenn  ich  so  sagen  darf,  fällt  die 
Hauptzahl  der  Vermittlungen  auf  Wirtschaftspersonal  und  häus- 
liche Dienstboten.    Im  Jahre  1912    10965   und  6504  Vermittlungen. 

1)  Stat.  Mitt.  über  des  Großh.  Baden   1912,  S.  73, 

2)  Vgl.  die  Berechnungen  im  Reichsarbeitsblatt  a.  a.  O.,  S.  677. 


—    90     — 

Es  ist  dabei  äußerst  beachtenswert,  daß  hier  aus  den  Gliede- 
rungszahlen der  einzelnen  Jahre  festgestellt  werden  kann,  daß  sich 
die  häuslichen  Dienstboten  relativ  mehr  und  mehr  von  der  ge- 
werbsmäßigen Vermittlung  abwenden,  während  bei  dem  weib- 
hchen  Wirtschaftspersonal  leider  das  Gegenteil  der  Fall  zu  sein 
scheint.  Ausdrücklich  festzustellen  ist  endlicii  noch,  daß  insbe- 
sondere für  die  Landwirtschaft,  wie  sich  schon  aus  der  geringen 
Zahl  gewerbsmäßiger  Vermittler  in  den  ländlichen  Amtsbezirken 
ergibt,  in  Baden  das  gewerbsmäßige  Stellenvermittlertum  ohne  jede 
Bedeutung  ist,  während  ich  im  übrigen  bezüglich  der  Einzelheiten 
der  statistischen  Ergebnisse  auf  die  landesstatistischen  Quellen 
verweisen  muß. 

c)  Aus  der  Statistik  der  gewerbsmäßigen.  Stellenvermittler  im 
Vergleiche  zu  der  der  allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnachweise 
in  Baden  ergibt  sich,  indem  ich  einer  Berechnung  des  Reichs- 
arbeitsblattes folge  ^),  m.  E.  auch  deutlich,  wie  wenig  be- 
deutsam die  gewerbsmäßige  Vermittlung  für 
den  Arbeits  markt  im  weiteren  übertragenen 
Sinne  und  damit  auch  für  seine  Organisation  ist.  Setzt  man 
nämlich  die  Zahl  der  Arbeitsuchenden  des  Jahres  1902  =  100,  so 
erhält  man  folgendes  Bild  : 


Jahre 

Gevve 

rbsmäß 

ige  Stellenvermittlung 

Ot 

ffentliche 

Arbeitsnachweise 

Sie 

lensuchende 

Stellensuchende 

1902 

100 

100 

1903 

120 

- 

94 

1904 

120 

92 

1905 

121 

82 

1906 

132 

84 

1907 

130 

82 

1908 

124 

104 

1909 

133 

112 

1910 

152 

III 

1911 

136 

121 

Darnach  zeigen  die  Indexziffern  der  Stellensuchenden  beiden 
allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnachweisen  eine  ausgesprochene 
Kurve  entsprechend  der  Konjunktur,  die  im  Jahre.  1907  ihren 
Gipfelpunkt  erreichte,  wahrend  bei  den  gewerbsmäßigen  Stellen- 
vermittlern irgend  ein  charakteristischer  Ausschlag  für  den  Wechsel 
der  Konjunktur  nicht  erkennbar  ist,  was  doch  wohl  der  Fall  sein 
müßte,  wenn  die  gewerbsmäßigen  Vermittler  in  irgend  einem 
engeren  Verhältnis    zum    Arbeitsmarkte    ständen.     Dabei    ändert 

i)  A.  a.  O.,  S.  678. 


—     91     — 

sich  dieses  Bild,  wie  ich  hier,  um  Einwänden  zu  begegnen, 
gleich  bemerken  möchte,  auch  nicht,  wenn  man  die  Reihen  der 
gesamten  Stellensuchenden  in  männliche  und  weibliche  auf- 
löst. Ich  glaube  deshalb  meine  eingangs  der  Arbeit  aufgestellte 
Behauptung,  daß  unter  den  Arbeitsnachweiseinrichtungen  aller 
Art  nicht  nur  sozialpolitisch,  sondern  auch  organisatorisch  die 
gewerbsmäßigen  Vermittler  an  letzter  Stelle  stehen,  hiermit  wohl 
begründen  zu    können. 

d)  Ich  komme  zu  den  Vermittlungsgebühren.  Diese 
Gebühren  sind  gewissermaßen  unter  einem  doppelten,  einem  ge- 
meinwirtschaftlichen und  einem  privatwirtschaftlichen  Gesichts- 
punkt zu  betrachten.  Daß  auch  in  Baden  diese  Gebühren  usw.  un- 
verhältnismäßig hohe  waren  und  vielfach  mit  andern  Praktiken  der 
Vermittler  zusammen  zu  einer  Ausbeutung  insbesondere  der  Stel- 
lensuchenden geführt  haben,  ergibt  sich  schon  aus  der  besonderen 
behördlichen  Aufmerksamkeit,  die  von  Anfang  an  den  Vermitt- 
lertaxen zugewendet  wird.  Auch  bei  der  Enquete  von  1896  wur- 
den sehr  erhebliche  Mißstände  in  der  Gebührenerhebung  festge- 
stellt, von  denen  ich  den  einen,  den  zu  großen  Spielraum  bei 
Bemessung  der  einzelnen  Gebühr  bereits  anmerkungsweise  erwähnt 
habe;  aber  auch  die  Höhe  der  verschiedenen  Gebühren  war  da- 
mals in  einzelnen  Fällen  geradezu  exorbitant,  so  wenn  bei  einem 
Karlsruher  Tarif  für  Vermittlung  eines  Dienstboten  10%  des  Jah- 
resgehalts ausbedungen  wurden!  Je  mehr  nun  die  Erkenntnis  von 
der  volkswirtschaftlich  geringen  Bedeutung  des  Vermittlergewerbes 
sich  Bahn  bricht,  um  so  stärker  wird  der  Wunsch,  diese  Ge- 
bühren zu  ermäßigen.  Da  das  Stellenvermittlergesetz  in  der  be- 
hördlichen Festsetzung  der  Gebühren  hierzu  die  Handhabe  bietet, 
wird  allerseits  eine  besonders  weitgehende  Herabsetzung  erwartet. 
Dieselbe  ist  jedoch  nicht  überall  in  dem  erwarteten  Umfange  ein- 
getreten !  Denn  die  Vermittler  stellten  nicht  ohne  Erfolg  dem 
volkswirtschaftlichen  Gesichtspunkteden  privatwirtschaltlichen,  d.  h. 
den  Gesichtspunkt  der  Nahrung,  entgegen.  Es  gelang  ihnen  auf 
diese  Weise,  manche  Minderung  ihrer  Gebühren  hintanzuhalten, 
auch  wo  ihr  Gewerbe  volkswirtschaftlich  infolge  der  Entwicklung 
der  allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnachweise  als  geradezu  über- 
flüssig erscheinen  mußte.  Eine  amtliche  zusammenfassende  Ver- 
öffentlichung der  ermäßigten  Gebühren  fehlt  bisher,  jedoch  bietet 
hierfür  eine  Erhebung  des  Verbandes  deutscher  Arbeitsnachweise 
für    die  Städte    über   10 000  Einwohner  und   für  den  Stand  Ende 


—    92     — 

1910  einigermaßen  Ersatz*).  Darnach  hat  allerdings  auch  für 
Baden  eine  erhebhche  Herabsetzung  der  Gebühren  stattgefunden, 
aber  es  ist  m.  E.  noch  zu  fordern  Gleichmäßigkeit  in  der  Gliede- 
rung der  Tarife  und  Gleichmäßigkeit  in  der  Ausgestaltung  nach 
der  Höhe.  Forderungen,  die,  da  das  gewerbsmäßige  Vermiltler- 
tum  in  Baden  hauptsächlich  in  den  größeren  Städten  sich  zusam- 
mendrängt, doch  wohl  zu  erreichen  sind.  Vielleicht  könnte  sogar 
für  das  ganze  Land  ein  einheitlicher  Tarif  aufgestellt  werden. 

3.  Der  bereits  hervorgehobene  Gegensatz  zwischen  dem  volks- 
wirtschaftlichen Nutzen  des  Vermittlergewerbes  und  dem  Ge- 
sichtspunkte der  Nahrung  leitet  mich  zum  Schlüsse  über  zu  der 
Frage  nach  dem  zukünftigen  Schicksal  der  gewerbs- 
mäßigen Vermittler.  Liegt  auch  offenbar  dem  Stellen- 
vermittlergesetz  und  seinen  Ausführungsbestimmungen,  wie  schon 
gesagt,  die  Tendenz  zugrunde,  die  gewerbsmäßigen  Vermittler 
tunlichst  zurückzudrängen,  so  ist  damit  doch  noch  die  Frage  offen 
gelassen,  ob  man  sich  mit  dieser  allmählichen  Zurückdrängung 
begnügen  oder  ob  man  zur  gesetzlichen  Aufhebung  des  Gewerbes 
schreiten  soll.  Im  letzteren  F'alle  müßte  dann  selbstverständlich 
eine  Ablösung  des  Gewerbes  erfolgen,  da  es  den  Grundsätzen  eines 
Rechtsstaates  widersprechen  würde,  mit  einem  F'ederstrich  einen 
Stand  Gewerbetreibender  brotlos  zu  machen.  Um  zu  sehen,  um 
welche  Summen  es  sich  hierbei  handeln  würde,  habeich  für  191 1 
das  Einkommen  der  gewerbsmäßigen  Stellenvermittler  in  Baden 
an  Hand  der  Vermittlungsergebnisse*  und  der  neuen  Tarife  zu 
berechnen  gesucht.  Ich  bin  dabei  zu  einem  natürlich  nur  über- 
schläglichen jährlichen  Gesamteinkommen  von  75000  Mark  und 
damit  zu  einem  Durchschnittseinkommen  von  540  Mark  für  das 
Land  im  ganzen  gekommen.  Danach  würde  es  sich  aber  bei 
einer  entsprechenden  Ablösung  zurzeit  noch  um  recht  erhebliche 
Summen  handeln,  die  die  nach  den  mit  dem  französischen  Ab- 
lösungsgesetz vom  14.  März  1904  gemachten  Erfahrungen  m.  E. 
auch  in  Baden  hierfür  zunächst  in  Betracht  kommenden  Gemein- 
den (da  das  Stellenvermittlergewerbe  vorzugsweise  ein  lokales  ist) 
wohl  nicht  so  leicht  übernehmen  möchten").    Man  muß  sich  des- 

1)  »Die  Ta.xen  für  gewerbsmäßige  Stellenvermittler  nach  dem  Gesetz  vom 
2.  Juli  iQloc,  Sonderabdruck  aus  dem  Arbeitsmarkt  1911/12.  Dabei  möchte  ich 
bemerken,  daß  für  Bruchsal  in  dieser  Zusammenstellung  ein  Fehler  unterlaufen  zu 
sein  scheint,  denn  die  Bruchsaler.  Taxen  stimmen  hier  nicht  mit  der  amtlichen 
Festsetzung  vom  Oktober   1910  überein,  sie  sind  viel  zu  hoch  angegeben. 

2)  Vgl.  Ludwig,  Der  gewerbsmäßige  Arbeitsnachweis,   S.    163. 


—     93     — 

halb  für  ein  allmähliches  Zurückdrängen  des  Vermittlergewerbes 
entsclieiden.  Daher  muß  der  Kampf  gegen  das  gewerbsmäßige 
Vermittlertum  insbesondere  vonseiten  der  allgemeinen  öffentlichen 
Arbeitsnachweise  weitergeführt  werden,  aber,  wie  man  sich  bei 
Besprechung  dieser  Frage  auf  dem  letzten  deutschen  Arbeits- 
nachweiskongreß in  Hamburg  ausdrückte,  unter  Beobachtung  eines 
»fair  play«,  und  insbesondere  durch  bessere  Ausgestaltung  der 
eigenen  Vermittlungstätigkeit  ^). 

I)  Vgl.  Protokoll   des  Verbandstages  badischer  Arbeitsnachweise  1912,  S.  5  ff . 


—     94     — 


IL 

Die  Zentralisation  des  badischen  Arbeits- 

marktes. 

Bei  vorstehender  Erörterung  der  einzelnen  Träger  der  Or- 
ganisation des  badischen  Arbeitsmarktes  habe  ich  nicht  nur  dessen 
Wesen,  Bedeutung  und  Vermittlungstechnik,  sondern  auch  ihre 
Entwicklungstendenz  namentlich  in  der  Richtung  darzulegen  ge- 
sucht, in  welcher  Weise  sie  sich  zu  der  Tätigkeit  des  allgemeinen 
öffentlichen  Arbeitsnachweises  stellen.  Ich  habe  dabei  schon  mit 
der  Anlage  der  ganzen  Darstellung  deutlich  zum  Ausdruck  ge- 
bracht, daß  für  den  badischen  Arbeitsmarkt  an  organisatorischer 
Bedeutung  an  erster  Stelle  die  allgemeinen  öffentlichen  Arbeits- 
nachweise stehen,  so  daß  sie  praktisch  auch  bei  jedwelcher  Lö- 
sung der  Frage  der  Zentralisation  des  Arbeitsmarktes  in  erster 
Reihe  in  Betracht  zu  ziehen  sind.  Es  scheint  mir  indessen  ge- 
boten, dieses  Urteil  von  ihrer  ausschlaggebenden  Bedeutung  nicht 
als  petitio  principii  an  den  Anfang  meiner  folgenden  Ausführung 
zu  stellen,  sondern  ich  möchte  mir  zunächst  auf  Grundlage  der 
Ergebnisse  meiner  vorstehenden  Untersuchungen  Rechenschaft 
geben  einmal  über  den  tatsächlichen  Organisationswert  der  ver- 
schiedenen Vermittlungsträger,  die  wir  im  Großherzogtum  Baden 
vorfinden,  und  sodann  anschließend  über  die  Frage  der  Zentrali- 
sation des  badischen  Arbeitsmarktes  unter  wirtschaftspolitischem 
Gesichtspunkt.  Erscheint  aber  darnach  das  Urteil  über  die  all- 
gemeinen öffentlichen  Arbeitsnachweise  als  Träger  jedwelcher 
Zentralisationsbestrebungen  näher  begründet,  so  wird  endlich  die 
Frage  zur  Erörterung  zu  bringen  sein,  in  welcher  Weise  diese 
Arbeitsnachweise  etwa  noch  auszubauen  sind,  um  den  an  sie 
unter  dem  Gesichtspunkt  der  Zentralisation  zu  stellenden  höheren 
Ansprüchen  gerecht  zu  werden. 

Es  wird  also  im  folgenden  zu  handeln  sein  : 


-    95     — 

1.  über  den  gegenwärtig  erreichten  Zentralisationsgrad  auf 
dem  badischen  Arbeitsmarkt, 

2.  über  die  wirtschaftpohtische  Bedeutung  der  Zentralisation 
dieses  Marktes  und 

3.  über  den  weiteren  Ausbau  der  aligemeinen  öffentHchen 
Arbeitsnachweise. 

I.  Der  gegenwärtige  Zentralisationsgrad. 

Die  Betrachtung  des  Grades  der  gegenwärtigen  Zentralisation 
auf  dem  badischen  Arbeitsmarkt  hat  auszugehen  von  der  Zahl 
der  Vermittlungen  ^).  Dabei  ergibt  sich  nun  von  vornherein  die  auf 
Mängel  der  Arbeitsmarktstatistik  zurückgehende  und  von  der  ge- 
schilderten Art  der  Betätigung  der  einzelnen  Vermittlungsträger 
herrührende  Schwierigkeit,  daß  die  genaue  Zahl  der  erfolgten  Ver- 
mittlungen nur  für  die  allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnachweise 
und  die  gewerbsmäßigen  Stellenvermittler  angegeben  werden 
kann,  während  man  im  übrigen,  also  bei  den  Arbeitgeber-  und 
insbesondere  Arbeitnehmernachweisen,  sowie  bei  der  charitativen 
Arbeitsvermittlung  mehr  oder  weniger  auf  Schätzungen  ange- 
wiesen ist.  Trotzdem  möchte  ich  im  folgenden  den  Versuch 
machen,  die  Vermittlungsergebnisse  für  das  Jahr  1912  überschläg- 
lich zusammenzustellen,  wobei  ich  glaube,  daß  ich  auch  für  die 
Interessentennachweise  wie  für  die  charitative  Stellenvermittlung 
beiläufig  richtige  Zahlen  zu  geben  in  der  Lage  war  : 

Im  Jahre   19 12  vermittelten:  Stellen 

A.  Die  allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnachweise  (ein- 
schließlich aller  Vermittlungen  für  die  Landwirt- 
schaft)-)     121 920 

B.  Die    Arbeitgeber-    und  Arbeitnehmernachweise  ^)  ca.        32000 

C.  Die  charitativen  Vermittlungsträger      ....      ca.        20000 

D.  Die  gewerbsmäßigen  Stellenvermittler 21  886 

im  Summa  also  195  800 
Vermittlungen,  so  daß  auf  die  Vermittlergruppe  A.  62%,  auf  B. 
17%,  C.  10%  und  D.  11%  der  gesamten  Vermittlungen  entfielen. 
Darnach    besetzten     aber    die    allgemeinen    öffentlichen    Arbeits- 

1)  Vgl.  Amtliche  Denkschrift,  S.  207. 

2)  Zuzüglich  auch  der  mit  den  Arbeitsämtern  Konstanz  und  Waldshut  in  Ver- 
bindung stehenden  Naturalverpflegungsstationen. 

3)  Arbeitsnachweis  der  Industrie  Mannheim-Ludwigshafen  ohne  Filiale  Lud- 
wigshafen. 


-     90     - 

naclnveise  auf  dem  organisierten  badischen  Arbeitsmarkte  1912  be- 
reits mehr  als  ^  5  aller  Stellen,  womit  die  ein<^angs  aufgestellte 
Behauptung,  daß  sie  für  diesen  Arbeilsmarkt  an  erster  Stelle  zu 
setzen  sind,   wohl  ziffernmäßig  belegt  erscheint. 

Allein  es  ist  weiter  noch  zu  beachten,  daß  vorstehende  Ver- 
mittlungszahlen nur  die  organisierte  Vermittlung  umfassen,  und 
daß  die  Zahl  der  tatsächlich  jährlich  im  Großherzogtum  abge- 
schlossenen Arbeitsverträge  erheblich  höher  anzusetzen  ist.  Geht 
man,  um  diese  Zahlen  zu  berechnen,  von  den  nach  der  Berufs- 
zählung 1907  im  Großherzogtum  Baden  in  Arbeitsverhältnissen 
stehenden  723  538  Personen  aus  ^.),  und  zugleich  von  der  eher  zu 
niedrigen  als  zu  hohen  Annahme,  daß  auf  jede  dieser  Personen 
nur  alle  zwei  Jahre  im  Durchschnitt  ein  neuer  Arbeitsvertrag 
kommt,  so  wären  jährlich  rund  362000  neue  Arbeitsverträge  ab- 
zuschließen, d.  h.  362  000  offene  Stellen  zu  besetzen.  Darnach 
würde  aber  auf  dem  organisierten  badischen  Arbeitsmarkt  nur 
etwa  erst  die  Hälfte  aller  Vermittlungen  abgeschlossen  werden, 
während  der  Rest  durch  die  sog.  wilde  Stellenvermittlung,  Inserat, 
Umschau,  Vermittlung  durch  persönliche  Beziehung  usw.  zustande 
käme  -).  Nun  zeigen  allerdings  aucli  Inserat  und  Umschau  An- 
sätze zu  einer  gewissen  Organisation,  d  h.  zu  einem  planmäßigen 
Hineingezogenwerden  in  die  Tätigkeit  der  organisierten  Stellen- 
vermittlung, indem  z.  B.  auch  seitens  der  allgemeinen  öffentlichen 
Arbeitsnachweise  inseriert  oder  durch  den  Nachweisschein  gewisser 
Arbeitgebernachweise  (auch  bei  einzelnen  Innungsnachweisen)  die 
Umschau  in  engeren  Grenzen  autorisiert  wird  ,  indessen  steht 
doch  hier  einer  vollkommenen  Organisation  das  Prinzip  der  F"rei- 
heit  der  Person  und  der  freien  Benutzung  der  Presse  so  weit- 
gehend entgegen,  daß  mir  diese  Versuche  zur  Organisation  der 
wilden  Stellenvermittlung  tatsächlich  und  prinzipiell  ohne  größere 
Bedeutung  erscheinen  möchten.  Als  Hauptdomäne  von  Inserat 
und  Umschau  finden   wir  auch   in  Baden   heute  noch    für  ersteres 


1)  Unselbständige,  sog.  b  und  c  Personen  in  den  Berufsabteilungen  A,  B, 
C,  D ;  im  Arbeitsverhältnis  (c)  standen  ohne  Familienangehörige  in  den  Berufs- 
abteilungen A.  und  C.  insge^amt  414937  Personen  (nach  dem  Urmaterial  des  Gr, 
Slat.  Landesamtes). 

2)  Vgl.  Meyer  a.  a.  O.,  S.  107  ff.  Derselbe  berechnet  für  das  Reich  im 
ganzen,  daß  knapp  nur  */»  aller  Arbeitsverträge  durch  die  organisierte  Stellenver- 
mittlung zustande  kommen,  so  daß  also  nach  meiner  vorstehenden  Berechnung  für 
das  Großherzogtum  sich  ein  wesentlicher  Fortschritt  der  Organisation  des  Arbeits- 
marktes gegenüber  dem  Reich  ergeben  würde. 


—    97     — 

die  sog.  höheren  Berufe  und  für  letztere  insbesondere  die  länd- 
lichen Verhältnisse,  d.  h.  beides  Gebiete,  von  denen  man  wohl 
sagen  muß,  daß  hier  Inserat  und  Umschau  auch  in  Zukunft  stets 
eine  gewisse  Rolle  spielen  werden. 

Endlich  möchte  ich  als  wichtig  bei  Beurteilung  des  gegen- 
wärtig erreichten  Zentralisationsgrades  auf  dem  badischen  Arbeits- 
markte noch  darauf  hinweisen,  daß  die  oben  gegebenen  relativen 
Organisationsquoten  für  die  einzelnen  Vermittlungsträger  sich 
natürlich  verschieben  würden,  sofern  man  männliche  und  weib- 
liche Arbeitnehmer  scheiden  wollte.  Indessen  ist  es  mir  nicht 
möglich,  zahlenmäßig  diese  Scheidung  durchzuführen,  und  es  kann 
deshalb  im  allgemeinen  nur  gesagt  werden,  daß  bei  dieser  Tren- 
nung die  für  die  weibliche  Arbeitsvermittlung  auf  die  allgemeinen 
öffentlichen  Arbeitsnachweise  fallende  Quote  sich  mindern  würde 
zugunsten  der  charitativen  und  insbesondere  der  gewerbsmäßigen 
Stellenvermittlung,  so  daß  hiernach  abermals  die  noch  verhältnis- 
mäßige Rückständigkeit  der  weiblichen  Abteilung  bei  den  all- 
gemeinen öffentlichen  Arbeitsnachweisen  zu  betonen  wäre. 

Alles  in  allem  genommen  ist  also  der  organisierte  Arbeits- 
markt auch  im  Großherzogtum  Baden  noch  weiterer  Ausdehnung 
fähig,  ebenso  wie  auf  dem  organisierten  Arbeitsmarkt  das  öffent- 
liche Arbeitsamt  noch  weiteren  Ausdehnungsraum  hat,  was  mich 
nunmehr  zu  der  Frage  überleitet,  ob  und  aus  welchen  Gründen 
sich  eine  derartige  zentralisierende  Entwicklung  wirtschaftspolitisch 
empfehleu  würde. 

2.  Die  wirtschaftspolitische  Bedeutung  der  Zentralisation. 

Die  vollkommene  Zentralisation  des  Arbeitsmarktes  würde  ein 
Doppeltes  umfassen  müssen,  einmal  die  Einbeziehung  der  ge- 
samten sog.  wilden  Stellenvermittlung  in  die  Arbeitsmarktorgani- 
sation und  zweitens  die  Zusammenfassung  der  so  lückenlos  organi- 
sierten Arbeitsvermittlung  durch  einen  einheitlichen  Träger.  In- 
dem ich  die  Frage,  wer  als  Träger  dieser  gesamten  zentralisierten 
Stellenvermittlung  in  Betracht  kommen  könnte,  zunächst  offen 
lassen  will,  wäre  dann  in  diesem  einheitlichen  Arbeitsmarkt  offen- 
bar ein  volkswirtschaftliches  Organ  geschaffen,  bei  dem  Angebot 
und  Nachfrage  der  Ware  Arbeit  ausschließlich  zusammenliefe, 
und  das  also  über  ein  Nachweismonopol  verfügen  würde.  Indem 
ich  wieder  die  Frage  der  Durchführung  eines  solchen  Monopols 
zunächst    dahingestellt    sein    lasse,    würde    dann  allerdings    dieser 

Zeitschrift  für  die  ges.  Staatswissensch.    Ergänzungsheft  52.  '1 


-     98     - 

monopolisierte  Arbeitsnachweis  in  der  La^^c  sein,  Angebot  und 
Nachfrage  besser  —  weil  einheitlich  —  in  Beziehung  zu  setzen, 
als  das  bisher  der  Fall  ist,  und  er  müßte  dimit  auch  zweifellos 
die  gesamte  Produktion  lediglich  durch  seine  Vermittlungstäiigkcit 
in  weit  höherem  Grade  mittelbar  fördern  können,  als  die  einzelnen 
Vermittlungsträger,  wie  ich  ausgeführt  habe,  heute  dazu  imstande 
sind.  Darin  würde  ein  außerordentlicher  volkswirtschaftlicher  Vor- 
teil liegen.  Allein  sobald  dieser  Monopolnachweis  sich  nicht  auf 
die  reine,  neutrale  Vermittlungstätigkeit  beschränkte,  sondern 
irgendwie  unmittelbar  in  den  Gang  der  volkswirtschaftlichen  Pro- 
duktion eingreifen  würde,  würde  er,  um  es  kurz  zu  sagen,  die 
Grundlagen  der  heutigen  Wirtschaftsverfassung  aus  den  Angeln 
heben;  er  würde  in  gleicher  Weise  einerseits  den  Arbeiter  der 
Freizügigkeit  und  der  freien  Verwertung  seiner  Arbeitskraft  be- 
rauben, wie  andererseits  dem  Unternehmer  einen  großen  Teil  des 
Unternehmerrisikos  entwinden.  Da  unter  diesen  Umständen  wohl 
nur  der  Staat  als  Träger  des  monopolisierten  Nachweises  in  Be- 
tracht käme,  würde  er  unweigerlich  zu  einer  Art  Staatskollektivis- 
mus führen. 

Deshalb  möchte  ich  an  den  Anfang  meiner  Ausführungen 
über  jegliche  weitere  Zentralisation  des  Arbeitsmarktes  den  Satz 
stellen,  daß  dabei  die  Selbstbeschränkung  des  Arbeits- 
nachweises von  ausschlaggebender  Wichtigkeit  sein  muß,  und 
daß,  wie  ich  mich  ausdrücken  möchte,  der  monopolisierte  Nach- 
w^eis  keinerlei  aktive  Wirtschaftspolitik,  sondern  nur  mittelbare 
Wirtschaftsförderung,  insbesondere  sozialpolitischer  Art,  treiben 
darf.  Bevor  ich  mich  indessen  der  Erörterung  dieser  P'ragen 
weiter  zuwende,  möchte  ich  zunächst  kurz  auf  die  Frage  der 
technischen  Durchführung  des  monopolistisch  zentralisierten  Ar- 
beitsnachweises näher  eingehen,  weil  ich  aus  dieser  vorangestellten 
Betrachtung  mir  weitere  Gesichtspunkte  auch  bezü'^lich  der  Er- 
örterung der  wirtschafispolitischen  Fragen  versprechen  möchte. 
Soll  also  der  Arbeitsnachweis  in  einheitlicher  Art  monopolistisch 
organisiert  werden,  so  ist  m.  E.  dazu  technisch  offenbar- notwendig 
einmal  die  Konstituierung  des  Benutzungszwanges,  des  sog.  Ot)li- 
gatoriums,  und  zweitens  als  Ergänzung  hierzu  die  Festlegung  der 
Meldepflicht  für  alle  abgeschlossenen  Arbeitsverträge,  die  ge- 
gebenenfalls als  rechtlich  ungültig  anzusehen  wären,  wenn  sie 
nicht  über  den  Monopolnachweis  geleitet  werden.  Abgesehen 
davon  nun,   daß  auch  in  diesen  Zwangsvorschriften  eine  mit  den 


—    99     — 

gegenwärtigen  Reclitsanschauungen  unvereinbare  Beschränkung 
der  persönlichen  Freiheit  liegen  würde,  würde  m.  E.  selbst  der 
straffsten  gesellschaftlichen  Organisationsform,  dem  Staate,  die 
Macht  fehlen,  dieses  Obligatorium  trotz  Kontrolle  durch  die  An- 
zeigepfiicht  der  abgeschlossenen  Arbeitsverträge  und  Strafe  der 
Ungültigkeit  derselben  tatsächlich  durchzuführen.  Denn  überall, 
wo  bisher  durch  die  Macht  der  Organisation  die  Durchführung 
eines  Benutzungszwanges  versucht  worden  ist,  sind  diese  Versuche 
an  der  Macht  der  tatsächlichen  Verhältnisse  in  gewissem  Grade 
zerschellt.  Es  spricht  also  die  Erfahrung  der  Gegenwart  deutlich 
auch  gegen  eine  Durchführbarkeit  in  der  Zukunft,  selbst  mit  den 
Machtmitteln  des  Staates,  und  es  ist  vielmehr  anzunehmen,  daß 
der  staatliche  Benutzungszwang  ausarten  würde  einmal,  wie  schon 
Meyer  ^)  anführt,  zu  indirekter  Konstituierung  einer  öffentlichen 
Vermittlungspflicht,  d.  h.  praktisch  zur  Beanspruchung  des  Rechts 
auf  Arbeit,  das  der  gegenwärtige  Staat  nicht  gewähren  kann,  und 
zweitens  zu  direkter  Förderung  der  sog.  wilden  Stellenvermittlung, 
insbesondere  der  Umschau,  die  ja,  soweit  sie  ein  Ausdruck  der 
persönlichen  Freiheit  ist,  ebenfalls  nicht  verboten  werden  könnte. 
Und  wie  ferner,  wenn,  abgesehen  von  Lohnstreitigkeiten  usw.,  für 
die  aus  den  oben  angeführten  Gründen  der  Selbstbeschränkung 
naturgemäß  das  Prinzip  der  Nichteinmischung  für  den  monopoli- 
sierten Arbeitsnachweis  gelten  müßte,  aus  Gründen  des  Haus- 
rechts usw.  die  Nachweissperre  verhängt  würde.?'  Würde  das 
nicht  konsequenterweise  für  den  Arbeitnehmer  eine  Strafe  be- 
deuten, die  den  Getroffenen  schließlich  zur  Auswanderung  ver- 
anlassen müßte  ^)  ? 

Schon  aus  Gründen  der  praktischen  Durchführbarkeit  ist  das 
absolute  Nachweismonopol  etwas  Unmögliches,  und  ich  komme 
so  zur  Beanspruchung  lediglich  eines  relativen  Nachweismonopols 
und  damit  zur  Forderung  eines  zentralisierten  Nachweises,  dessen 
Leistungen  unter  gemein-  wie  privatwirtschaftlichen  Gesichts- 
punkten so  bedeutende  sind,  daß  er  nicht  nur  besonderer  Förde- 
rung durch  die  Allgemeinheit  teilhaftig  zu  werden  verdient,  son- 
dern auch  hinsichtlich  der  seitens  der  einzelnen  Interessenten  zu 
stellenden  Ansprüche    den  Wettbewerb    mit  andern  Nachweisein- 


1)  A.  a.    O.    S.    182,    vgl.    dagegen    v.    Zwiedineck-Südetihorst ,    Sozialpolitik, 
1911,5.  339. 

2)  Vgl.  yastroiu,    auf    dem  V.  Deutschen  Arbeitsnachweiskongreß    in  Leipzig 
1908,  Protokoll  des  Verbandstages,  S.   193. 


—       lOO      — 

richtungen  erfolgreich  besteht.  Das  aber  wird  nur  der  Fall  sein 
können,  wenn  dieser  Nachweis  in  möglichst  rascher,  zuver- 
lässiger und  umfassender  Weise  tätig  wird  M,  und  hierin 
die  übrigen  Nachweisarten  übertrifft. 

Die  hiermit  einmal  beanspruchte  möglichste  Ausdehnung  der 
Vermittlungstätigkeit  wird  dabei  m.  K.  gewährleistet  durch  eine 
möglichst  umfassende  Organisation  nicht  nur  in  räumlicher,  son- 
dern auch  in  sachlicher  Beziehung.  Für  die  umfassende  sachliche 
Zentralisation  besteht  dabei  meiner  Ueberzeugung  nach,  soweit 
lediglich  Arbeitsvermittlung  in  Frage  kommt,  keine  Grenze,  und 
ich  habe  im  vorhergehenden  I.  Teil  meiner  Arbeit  gezeigt, 
daß  —  jedenfalls  für  badische  Verhältnisse  —  auch  die  Land- 
wirtschaft einer  derartig  allgemeinen  Arbeitsvermittlung  mit  Vor- 
teil angeschlossen  werden  kann.  Aber  auch  für  die  höheren 
kaufmännischen  und  technischen  Berufe  halte  ich  den  Anschluß 
wenigstens  an  eine  Landeszentralstelie  für  durchaus  möglich  -), 
ebenso  wie  endlich  auch  die  Einbeziehung  der  künstlerischen 
Berufe,  obwohl  hier  die  Verhältnisse  noch  besonderer  Art  sind  ^). 
Schließlich  würde  der  umfassend  organisierte  Arbeitsnachweis 
auch  am  besten  in  der  Lage  sein,  in  den  Fällen,  wo  es  sich  um 
die  Ergreifung  eines  Berufes  handelt,  also  bei  der  Lehrstelle- 
vermittlung, auf  die  jeweils  aussichtsreichste  Berufsart  hinzuweisen. 

Unter  zuverlässiger  Vermittlung  sodann  ist  das  zu  verstehen, 
was  gemeinhin  als  Vermittlung  nur  geeigneter  Arbeitskräfte  in 
geeignete  Arbeitsstellen  bezeichnet  wird,  so  daß  tunlichste  Ständig- 
keit des  Arbeitsverhältnisses  im  wohlverstandenen  Interesse  so- 
wohl der  Arbeitnehmer  wie  der  Arbeilgeber  erreicht  wird.  Dabei 
schließt  m.  E.  dieser  Grundsatz  der  Zuverlässigkeit  nicht  aus,  daß 
auch  den  körperlich  oder  geistig  Schwachen  geeignete  Arbeits- 
stellen vermittelt  werden,  wenn  auch,  wie  schon  bei  Erörterung 
der  charitativen  Arbeitsvermittlung  angedeutet,  die  neben  der 
Arbeitsvermittlung  hergehende  körperliche  oder  geistige  Siäi-kung 
natürlich  der  charitativen   Fürsorge    verbleiben  soll,    und  daß  bei 


I 


1)  Vgl.  Heitzenslein-Freund,  Der  Arbtitsnachweis,  Schriften  der  Zentralstelle 
für  Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen  Nr.    ii,  Berlin   1897,  S.  350  fF. 

2)  Gegen  den  Anschluß  von  Landwirtschaft  und  der  höheren  kaufmänni- 
schen und  technischen  Berufe  war  noch  Doni'niicus  auf  dem  V.  Deutschen  Arbeits- 
nachweiskongreß in  Leipzig,  Protokoll  S.  67,  der  im  übrigen  für  Begrenzung  der 
Zentralisation   auf  den  Bereich  der  Reichsinvalidenversicherung  eintritt. 

3)  Vgl.  Ludwig,  Der  gewerbsmäßige  Arbeitsnachweis,    1906,  S.    loi  ff. 


—       lOI       — 

gleicher  Geeignetheit  zunächst  der  Ortsansässige  vor  den  Fremden, 
der  Verheiratete  vor  dem  Ledigen,  der  länger  Arbeitslose  vor 
dem  erst  kurz  Arbeitslosen  vermittelt  wird,  während  allerdings 
der  sog.  Nummernzwang  mir  mit  der  beanspruchten  zuverlässigen 
Vermittlung  unvereinbar  erscheinen  möchte. 

Was  dann  endlich  die  rasche  Vermittlung  anbetrifft,  so  scheint 
mir  diese  vor  allem  unter  dem  Gesichtspunkt  von  besonderer 
Wichtigkeit,  als  durch  sie,  insoweit  die  Möglichkeit  produktiver 
Tätigkeit  überhaupt  vorhanden  ist,  Verzögerungen  im  Gange  der 
Produktion  tunlichst  hintangehalten  werden.  Der  Förderung  rascher 
Vermittlung  dienen  beim  zentralisierten  Nachweis  namentlich  die 
sog,  Vakanzenlisten  und  die  Institution  der  Fahrpreisermäßigung, 
und  ich  möchte  bezüglich  letzterer  hier  ausdrücklich  bemerken,  daß 
auch  in  der  Fahrpreisermäßigung  mir  keine  Verletzung  der  wirt- 
schaftspolitischen Selbstbeschränkung  des  zentralisierten  Arbeits- 
nachweises zu  liegen  scheint,  als  hierdurch  etwa  irgendwie  auf 
die  Lohnhöhe  eingewirkt  werden  könnte. 

Betrachtet  man  nun  unter  diesen  vorstehend  entwickelten 
Gesichtspunkten  der  einem  zentralisierten  Arbeitsnachweis  volks- 
wirtschaftlich notwendigen  Eigenschaften  rascher,  zuverlässiger 
und  umfassender  Vermittlung  die  verschiedenen  im  ersten  Ab- 
schnitt meiner  Arbeit  erörterten  Nachweiseinrichtungen,  so  ergibt 
sich  m.  E.  ohne  weitere  Ausführung,  daß  nur  die  allgemeinen 
öffentlichen  Arbeitsnachweise  diesen  höheren  wirtschaftspolitischen 
Ansprüchen  grundsätzlich  entsprechen  können  und  daß  daher 
nur  sie  in  Richtung  eines  relativ  monopolistischen  zentralisierten 
Arbeitsnachweises  weiter  entwicklungsfähig  sind. 

So  bleibt  mir  nach  dieser  Begründung  der  notwendigen  Fort- 
entwicklung der  allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnachweise  in  Baden 
nur  noch  die  Erörterung  der  Frage  übrig,  wie  denn  deren  zu- 
künftiger Ausbau  in  Richtung  einer  tatsächlichen  Beherrschung 
des    badischen  Arbeitsmarktes  erfolgen  soll. 

3.  Der  zukünftige  Ausbau  der  allgemeinen  öffentlichen  Arbeits- 
nachweise. 

Ueber  den  weiteren  Ausbau  des  allgemeinen  öffentlichen 
Arbeitsnachweises  in  Baden  hat  der  badische  Verband  im  Anschluß 
an  eine  Besprechung,  die  auf  Grundlage  einer  von  der  Staats- 
verwaltung   mitgeteilten    Denkschrift    über     die    Arbeitslosenver- 


—       I02       — 

Sicherung  ')  Endo  des  Jahres  igoo  im  badischen  Ministerium  des 
Innern  stattfand,  gewisse  Richtlinien  aufgestellt  ^),  von  denen  auch 
ich  hier  zweckmäßigerweise  ausgehen  zu  sollen  glaube. 

An  die  Spitze  dieser  Richtlinien  wurde  der  Satz  gestellt, 
daß  von  einem  gesetzlichen  Eingreifen  zugunsten  der  weiteren 
Ausdehnung  der  allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnachweise  zu- 
nächst abzusehen  sei  und  daß  man  diesen  weiteren  Ausbau  von 
der  Initiative  des  Verbandes,  wie  der  einzelnen  Verbandsanstalten 
mit  Unterstützung  der  Staatsverwaltung  wie  der  Kreisverwaltungen 
erhoffe.  Damit  war  von  vornherein  zu  der  Frage  Stellung  ge- 
nommen, die  heute  noch  nicht  ausgetragen  ist  ^),  ob  das  erstrebte 
tatsächliche  Nachweismonopol  für  den  allgemeinen  öffentlichen 
Arbeitsnachweis  ohne  weiteres  Eingreifen  der  Gesetzgebung  in 
irgend  einer  Form,  insbesondere  gegen  die  Arbeitgeber-  und  Ar- 
beitnehmernachweise, zu  erreichen  sein  wird  oder  nicht.  Es  war 
ein  Bedürfnis  nach  einem  solchen  Eingreifen  zunächst  verneint 
worden!  Ferner  wurden  in  den  Richtlinien  Grundsätze  aufgestellt 
über  den  sachlichen  Ausbau  der  Vermittlungstätigkeit  (Ausdehnung 
auf  alle  gelernten  und  ungelernten  Berufe  in  Handel,  Gewerbe, 
Industrie,  Landwirtschaft  und  Haushalt),  über  die  Neugründung 
von  Arbeitsämtern  nach  Bedarf,  aber  nur  da,  wo  mindestens  ein 
Beamter  im  Hauptamt  angestellt  werden  kann,  sodann  über  die 
lokale  Konzentration  der  Stellenvermittlung  durch  Anschluß  aller 
Verbands-  und  Facharbeitsnachweise  und  über  weitere  Ausbildung 
der  interlokalen  Vermittlung  durch  Erweiterung  der  Tätigkeit 
der  Landeszentrale  (häufigere  Vakanzenlisten,  Vereinheitlichung 
der  Vermittlungstechnik,  Reklame  usw.),  alles  Punkte,  die  bereits 
im  ersten  Teile  meiner  Arbeit  behandelt  worden  sind. 

Die  fördernde  Mitwirkung  der  Staatsverwaltung  an  dem  wei- 
teren Ausbau  der  allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnachweise  wurde 
in  diesen  Grundsätzen,  abgesehen  von  dem  allgemeinen  Eintreten 
der  Staatsbehörden  für  dieselben,  insbesondere  in  Richtung  ener- 
gischer Bekämpfung  der  gewerbsmäßigen  Stellenvermittler  und 
sodann  in  Form  wesentlicher  Erhöhung  des  Staatszuschusses  für 
Zwecke  des  interlokalen  Verbindungsdienstes,  sowie  auch  zur  Neu- 


1)  Denkschrift  über  die  Arbeitslosenversicherung,  Karlsruhe   1908. 

2)  Abgedruckt  im  Geschäftsbericht  des  Verbandes   1907/11,  S.  6  ff . 

3)  Vgl.  auch  die  Verhandlungen  auf  dem  VII.  Deutschen  Arbeitsnachweis- 
kongreß über  die  bisherige  Wirksamkeit  des  Stellenvermittlergesetzes,  Protokoll 
S.  21  ff. 


—     I03     — 

gründung  und  zum  weiteren  sachlichen  Ausbau  der  einzelnen 
Nachweisanstalten  verlangt,  ebenso  wie  auch  die  Kreisverwaltungen 
grundsätzlich  Zuschüsse  zu  allen  diesen  Zwecken  gewähren  sollten. 
Auch  über  die  Zuschüsse  aus  öffentlichen  Mitteln  habe  ich  bereits 
gelegentlich  der  Erörterung  der  Finanzgebarung  der  allgemeinen 
öffentlichen  Arbeitsnachweise  gesprochen  und  dabei  zum  Aus- 
druck gebracht,  daß  insbesondere  der  interlokale  Dienst  und  die 
Tätigkeit  der  Landeszentrale  im  Interesse  des  Staates  wie  der 
weiteren  Selbstverwaltungskörper  liege.  Ich  habe  dabei  schon 
darauf  hingewiesen,  daß  mir  abgesehen  von  den  Kosten  der  Lan- 
deszentrale ^)  insbesondere  die  interlokale  Vermittlungstätigkeit 
auch  emen  Maßstab  für  die  Bemessung  dieser  Beiträge  zu  bieten 
scheint,  und  ich  meine  deshalb,  daß,  wenn  es  anläßlich  der  Er- 
richtung der  sogleich  zu  erwähnenden  Wanderarbeitsstätten  in 
Baden  zu  einer  Aenderung  des  badischen  Verwaltungsgesetzes 
kommt,  auch  die  Unterstützung  der  allgemeinen  öffentlichen  Ar- 
beitsnachweise den  Kreisverwaltungen  zur  gesetzlichen  Pflichtauf- 
gabe in  bestimmtem  Umfange  gemacht  werden  sollte  ~). 

Endlich  wurde  in  den  vom  Verbände  aufgestellten  Richt- 
linien als  wünschenswert  bezeichnet  die  allgemeine  Errichtung  von 
Wanderarbeitsstätten  in  organischer  Verbindung  mit  den  allge- 
meinen öffentlichen  Arbeitsnachweisen,  eine  Frage,  die  den  Ver- 
band im  Hmblick  auf  die  für  die  Versorgung  des  flachen  Landes 
und  insbesondere  der  Landwirtschaft  mit  Arbeitskräften  so  gün- 
stigen Ergebnisse  der  oberbadischen  Verpflegungsstationen,  ins- 
besondere der  Konstanzer  Filialen,  schon  wiederholt  beschäftigt 
hatte,  ohne  aber  bei  der  badischen  Staatsverwaltung  zunächst 
auf  besondere  Gegenliebe  zu  stoßen  ^).  Der  Verband  hatte  seiner- 
zeit beantragt,  derartige  Wanderarbeitsstätten  im  ganzen  Lande 
zu  errichten  und  zu  ihrer  Unterhaltung  allgemein  die  Kreise 
heranzuziehen,  diesen  aber  zu  den  Kosten  einen  Staatszuschuß 
zu  gewähren;  das  Ministerium  hatte  sich  jedoch  auf  den  Stand- 
punkt gestellt,    daß    die  Frage    zur  Entscheidung    noch  nicht  reif 

i)  Die  übrigens  m.  E.  über  kurz  oder  lang  zu  einer  selbständigen  Verwal- 
tungsstelle mit  besonderen  Verwaltungsaufgaben  (Kontrolle  der  gewerbsmäßigen 
Stellenvermittlung,  Herausgabe  von  kurzen  Arbeitsmarktsituationsberichten  an  Hand 
der  Vakanzenlisten  usw.)  auszubauen  sein  wird. 

2)  §  25  des  Gesetzes  über  die  Organisation  der  inneren  Verwaltung  vom 
5.  Okt.   1863,  Bad.  Ges.-  und  Verord.-Blatt  1863,  S.  399  ff. 

3)  Vgl.  Roth^  Die  Wandererfürsorge  in  Baden,  Arbeitsraarkt  1909/10,  S.  220  ff.; 
vgl.  Protokolle  der  Verbandsversammlungen   1905/07,    1908  nebst  Beilagen. 


—     I04     — 

sei  und  auch  die  anderwärts  mit  der  Errichtunj^f  von  Wander- 
arbeitsstätten zu  machenden  Erfahrungen  noch  abgewartet  werden 
müßten.  Diese  in  Preußen  und  insbesondere  in  Württemberg  ge- 
machten Erfahrungen  müssen  aber  als  überaus  günstig  ange- 
sehen werden,  so  daß  jetzt  sogar  von  reichswegen  die  Vorberei- 
tung eines  Gesetzes  zur  allgemeinen  Einrichtung  von  mit  Arbeits- 
nachweisen verbundenen  Wanderarbeitsstätten  in  die  Wege  ge- 
leitet worden  ist. 

In  einer  zweiten  im  Ministerium  des  Innern  abgehaltenen 
Besprechung  über  diese  vom  Verband  für  den  weiteren  Aus- 
bau aufgestellten  Richtlinien  ^)  fanden  dieselben  grundsätzliche 
Zustimmung,  und  es  ist  danach  anzunehmen,  daß  ihnen  ent- 
sprechend auch  der  weitere  Ausbau  der  allgemeinen  öffentlichen 
Arbeitsnachweise  im  Großherzogtum  erfolgen  wird.  Dabei  sind 
heute,  wie  schon  in  der  Einzeldarstellung  gezeigt,  einzelne  Vor- 
schläge des  Verbandes  bereits  zur  Durchführung  gekommen, 
während  andere,  wie  z.  R.  die  vertragsmäßige  Verpflichtung  der 
staatlichen  wie  städtischen  Unternehmer  zur  Benützung  der  all- 
gemeinen öffentlichen  Arbeitsnachweise  noch  in  Verhandlung 
stehen  ^). 

Zwei  weitere  Gesichtspunkte  der  allgemeinen  öffentlichen 
Arbeitsvermittlung  endlich  scheinen  mir  danach  aber  für  das  Groß- 
hetzogtum  Baden  außer  Streit  zu  stehen,  die  Organisation  als 
paritätische  gemeindliche  Anstalt  und  das  Prinzip  unentgeltlicher 
Vermittlung.  Mit  ersterem  möchte  auch  ich  mich  grundsätzlich  ein- 
verstanden erklären,  und  wenn  wir  auch  im  Großherzogtum  noch 
drei  allgemeine  öffentliche  Arbeitsnachweise  aus  Gründen  der 
historischen  Entwicklung  als  Vereinsnachweise  haben,  so  wird 
man  doch,  wie  schon  eingangs  geschehen,  als  Entwicklungsergebnis 
feststellen  müssen,  daß  es  in  Zukunft  zweifellos  zu  keinen  der- 
artitjen  Vereinsbildungen  mehr  kommen  wird,  sondern  daß  in 
Baden  der  allgemeine  öffentliche  Arbeitsnachweis  zur  anerkannten 
Gemeindeaufgabe  geworden  ist.  Dagegen  möchte  ich  hinsichtlich 
der  Unentgeltlichkeit  doch  zum  Schluß  die  Frage  stellen,  ob  nicht, 
sobald  bei  fortgeschrittener  Entwicklung  der  einheitlich  zentrali- 
sierte gemeindliche  Arbeitsnachweis  ein  relatives  Nachweismono- 
pol tatsächlich  erreicht  haben  wird,  entsprechend  den  Grundsätzen 
bei  den  andern,  vorzugsweise  den  Interessen  einzelner  dienenden 

1)  Karlsruher  Zeitung  vom  2b.  Jan.    191 1,  Nr.  20. 

2)  Vgl.  Geschäftsbericht  des  Verbandes   1912,  S.   18. 


J 


—     I05     — 

Gemeindeeinrichtungen  wieder  Gebühren  erhoben  werden  sollen, 
wenigstens  von  selten  der  leistungsfähigen  Arbeitgeber  ^).  In- 
dessen liegt  die  Entscheidung  dieser  Frage  unter  dem  Gesichts- 
punkt der  tatsächlichen  und  nicht  gesetzlich  herbeizuführenden 
Monopolstellung  der  allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnachweise 
noch  in  weiter  Ferne. 


i)  Dominicus  a.  a.  O.,    S.    150,    vgl.    auch    v.    Reitzenstein-Freujid   a.    a.    O. 
>79  ff- 


Zeitschrift  für  die  ges.  Staatswissensch.     Ergänzungsheft  52. 


lo; 


Inhalts-Uebersicht. 

Seite 

Einleitung:   Der  Begriff  des  Arbeitsmarktes i 

I.   Die  Träger  der  Organisation  des  badischen 

Arbeitsmarktes 4 

A.  Die  allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsnachweise 4 

B.  Die  Arbeitgeber-  und  die  Arbeitnehmernachweise 51 

C.  Die  charitative  Arbeitsvermittlung 76 

D.  Die  gewerbsmäßigen  Stellenvermittler 84 

II.   Die  Zentralisation   des  badischen  Arbeits- 
marktes      93 


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H  Zeitschrift  für  die  gesamte 

5  Staatsv/issenschaft. 

Z42         Ergänzunt^sheft 
Mr. ^3-52 


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