ZEITSCHRIFT
FÜR
DEUTSCHE PHILOLOGIE
BEGRÜNDET von JULIUS ZACHER
HERAUSGEGEBEN
VON
HUGO GERING
ACHTUNDZWANZIGSTER BAND
HALLE A. S.
VERLAG DER BUCHHANDLUNG DES WAISENHAUSES.
18 96.
3öc3
INHALT.
Seite
Zum Heliand. Von F. Holthausen • 1
Zwei bruclistüche aus der Christherre-weltchrouik. Von E. M. "Werner . . 2
Mitteilungen aus deutschen bandschriften der grossherzoglichen hofbibliothek zu
Darmstadt. Von A. Schmidt 17
Zu Reinke de vos. Von E. Sprenger 32
Mitteilungen aus mhd. bandschriften. Von F. W. E. Eoth 33
Das chronologische Verhältnis von Strickers Daniel und Karl. Von A. Leitzmaun 43
Zur textkritik von Hartmauns Gregorius. Von 0. Erdmann 47
Beiträge zur erklärung Wolframs. Von J. Stosch 50
Der Ausgang von Goethes Tasse. Von H. Düntzer . . • 56
Zu den Kinder- und bausmärchen der gebrüder Grimm. Von R. Sprenger . 71
Zu Johann Easser. Von J. Bolte • . . . 72
Zur altsächsiscben Genesis. Von B. Symons 145
Der Fenriswolf. Eine mythologische Untersuchung. Von E. Wilken . . 15G. 297
Zum Fraueudienst Ulrichs von Lichtensteiu. Von A. E. Schöubach .... 198
Zum Goetbetext. Von A. Schöne 226
Die göttin Nerthus und der gott NiQr{)r. Von Axel Kock 289
Zu dem von Büwenberc. Von F. Bech 295
Zur erkläi-ung von Goethes Faust. Von R. Sprenger 349
Zur Vorgeschichte des Müncbener Heliandtextes. Von H. Klinghardt . . . 433
Zu Mai und Beaflör. Von R. Spreuger und F. Schultz 437
Arigos Blumen der tagend. Von Fr. Vogt 448
Goethes brucbstück „Die Geheimnisse". Von H. Düntzer 482
Gedichte und briefe von E. M. Arndt an eine freundin. Von A. Schmidt . . 509
Zur frage nach der ausgleichung des silbengewichts. Von K. Bohnenberger 515
Beiträge zur westgermanischen wortkunde. Von E, Wadstein 525
Nekrologe.
Rudolf Hildebrand. Von E. Wolff 73
Oskar Erdmaun. Von H. Gering 228
Traugott Ferdinand Scholl. Von H. Fischer 430
Miscellen.
Zur altsächsischen bibeldichtung. Von Tb. Siebs 138
Zur alliteriereuden doppelconsonanz im Heliand. Von R. Meyer 142
Erklärung. Von H. Gering 285
Artisen und arthave. Von H. Haupt und E. Schröder 421
Germanistische Studien in den Vereinigten Staaten von Amerika. Von H. Schmidt-
Wartenberg 425
Der name der Loreley. Von R. Sprenger 427
Zu Goethes Iphigenie. Von demselben 428
Zum Schretel und wasserbär. Von demselben 429
Langez här — kurzer muot. Von J. Stosch ... 429
Bericht über die Verhandlungen der germanistischen section auf der philologen-
versammlung zu Köln 530
Personalien und stoffgescbichtliches zu G. A. Bürger. Von L. Fränkel . . . 551
Materialien zur begriffseutwickluug von nhd. „ü'äulein". Von demselben . . 561
Berg und vöglein. Von A. Hartmann 563
Zu Parzival 826, 29. Von A. Wallner 565
Berichtigung. Von Fr. Vogt 566
An die mitarbeiter und leser der Zeitschrift. Von H. Gering 566
Litteratur.
Zimmer, Nennius vindicatus; von R. Thurneysen 80
Kühnemann, Herders persönlichkeit in seiner Weltanschauung ; von H.Meyer 113
Bugge, Bidrag til den jeldste skaldedigtuings bistorie; von H. Gering . , , 121
Wolfskehl, Germanische werbungssagen ; von E. Mogk 127
Kahle, Die spräche der skalden; von 0. Jiriczek 128
Mourek, Eintluss des hauptsatzes auf den modus des nebensatzes im gotischen;
von E. Bernhardt 130
IV INHÄLT
Seite
Neuere Schriften zur rimeukuude (W immer, S0nderjyliands historiske runemin-
desma?rker; W immer, De tyske runemindesmrerker; Bugge, Norges inskrif-
ler med de asldre ruuer); vou H. Gering 236
Meyer, Germanische mythologie; von Fr. Kauffmann 245
Minor, Neuhochdeutsche metrik; von H. Wunderlich 248
Hench, Der althochdeutsche Isidor; von demselben 254
Kraus, Deutsche gedichte des 12. Jahrhunderts; von demselben . . ' . . . 256
Valentin, New high german; von 0. Erdmann 259
Schröder, Zwei altdeutsche rittermären; von A. Leitzmann 260
Holz, Zum Rosengai-ten und Derselbe, Die gedichte vom Eosengarten zu "Worms ;
von demselben 261
Fränkel, Shakespeare und das tagelied; von G. Sarrazin 263
Ho ff mann. Dar einfluss des reims auf die spräche Wolframs von Eschenbach;
von 0. Erdmann 267
Bolte, Xystus ßetiüius Susanua; von H. Holstein 269
Hartfelder, Philipp Melanchthon Declamationes; vou demselben .... 270
Griesebach, G. A. Bürgers werke; von 0. Erdmann 271
Hermann, Albrecht von Eyb; von E. Matthias 273
Elliuger, E. T. A. Hoffmann; von C. Heine 280
Höber, Eichendorffs jugenddichtungen; von A. Bredfeldt 282
Schreiber, Die vagantenstrophe der mittellat. dichtung; von J. Seh nie des . 284
Goethes werke (Weimar, ausgäbe); von H. Düntzer 354
Bremer, Deutsche phonetik; von H. Pipping 375
Seiler, Die entwicklung der deutschen kultur im Spiegel des lehnworts; von
G. Hinz 377
Cook, A glossary of the Old northumbrian gospels; von demselben . . . 378
Ausfeld, Zur kritik des griechischen Alexanderromans; von H. Becker . . 379
Siebert, Tannhäuser; vou J. Wahner 382
Bolte, Die schöne Magelone übers, von Veit Warbeck; von A. Hauffen. . 390
Schnorr von Carolsfeld, Erasmus Alberus; von E. Matthias 392
Ordbok öfver Svenske spräket udg. af Svenska akademien; von H. Gering . . 394
Schwartz, Esther im deutschen und neulat. drama; von P. Bahlmaun . . 398
Birket Smith, Niclaus Manuels satire von den syge Messe; von J. Bolte . 399
Wolkan, Das deutsche kirchenlied der böhmischen brüder; vou demselben . 401
Bolte, Die Singspiele der englischen komödianten; von G. Elliuger . . . . 402
Gerhard, Peter de Memels Lustige gesellschaft; vou demselben 403
Wolff, Gottscheds Stellung im deutschen bildungsieben; von A. Leitzmann . 404
Schönbach, Über Hartmann von Aue; von demselben 405
Altenkrüger, Fr. Nicolais jugeudschriften; von G. Witkowski 407
Elliuger, Fr. Nicolais briefe über den itzigen zustand der schönen Wissenschaf-
ten; von demselben 407
Knauth, Von Goethes spräche und stil im alter, von E. Bruhn 409
"Wolff, Goethes leben uud werke; von A. Leitzmann 413
Meyer, Goethe; von demselben 415
Poppenberg, Zacharias Werner; von F. Ahlgrimm 417
Farinelli, Grillparzer und Lope de Vega; von J. Schmedes 419
Schröter und Thiele, Lessings Hamburg, dramaturgie; von A. Leitzmann . 420
Tardel, Untersuchungen zur mhd. spielmannspoesie; von F. Ahlgrimm . . 535
Sattler, Die religiösen anschauimgen Wolframs v. Eschenbach; von G. Bötticher 537
Bohnenberger, Zur geschichte der schwäb. mundart; von Fr. Kauffmann . 540
Bremer, Deutsche phonetik und Mentz, Bibliographie der deutschen mundart-
forschung; von demselben . 543
Kock und af Petersens, Östnordiska och latinska medeltidsordsprak ; von
0. Jiriczek 545
Schultheiss, Geschichte des deutschen nationalgefühls von H. Wunderlich 550
Nachrichten 144. 288. 432 568.
Neue erscheinungon 143. 286. 431. 567
Eegister von E. Matthias 569
ZUM HELIAND.
Y. 2481 fgg. e7icli the uuard godes
nahor fnikilu nahtes endi dages,
anttat sie ina hrengead,
schreibt Behaghel mit M, während C das gewöhnliche dages endi nah-
tes aufweist. Das erste verstösst gegen die regeln der inetiik, das
andere zeigt unregelmässige alliteration (vgl. Beitr. XII, 349). Ich
glaube, dass keine der beiden handschriften hier das richtige bewahrt
hat, sondern die zweite vershälfte von 2482 eine blosse widerholung
von V. 2480 a: dages endi nahtes ist. Wenn wir die verse betrachten,
in denen nähor gebraucht wird, so finden wir es häufig mit niud
gebunden, vgl. v. 182: nähor miJdlu : uuas im niud mikil, v. 1448:
that man is nähiston niutlico scal, v. 2468: siouto 7iiudltco endi näho?'
sied, V. 4971: nähor ntähiiata endi ina nindltco, v. 5204: nähor gan-
gan endi ina niudltco, v. 5825: nähor mikilu — ik uiiet that is iu
ist niud sehan. Versuchen wir hiernach eine ergänzung der lücke,
die zugleich zum folgenden passt, so liegt wol am nächsten, nach
V. 182 b is im niud mikil als die ursprüngliche lesart anzusehn. Der
gleiche schUiss beider halbzeilen erklärt auch genügend die auslassung
der zweiten. — Bemerkenswert ist übrigens der plötzliche Wechsel im
numerus!
V. 4290 fg. a7i thenne ^niddilgard, mankivnnie
te adeliennc, dödim endi quikun?
So Behaghel mit C gegen das adömien7ie von M. Dass keins von bei-
den hier passt, bemerkt richtig Kaulfmaun Beitr. XII, 348 fg. Er nimmt
eine lücke an „in der Orist gestanden haben mag, worauf /"rö mtn
the gudo [4292a] hinweist; dann ist quikun endi dodun zu lesen, wie
durchweg üblich ist." Da Crist allein nicht in der lücke gestanden
haben kann, ergänze ich nach v. 3139: Krist alouualdo als ersten halb-
vers zu quikun endi dddun als zweitem; zwischen vers 4290 und dem
so hergestellten 4291 mag gestanden haben:
dömos te adelienne an themo dage selbo,
ZEITSCHRIFT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. SXVIH. 1
2 HOLTHATJSEN, ZUM HELIAl^D
Vgl. V. 5255: dömos adeldi. He uuas ök cm tliemu dage selho. Für
die Verbindung dömos adelian mit dativ der person vgl, v. 3315 fg.:
irminthiodun \\ dömos adelicn, und ohne einen solchen (ausser dem
angeführten v. 5255) v. 5419: huö tlmi thiod haMa duomos adelid. —
Ich würde schliesslich noch als stilgerechtere Interpunktion das frage-
zeichen erst nach gödo in v. 4292 setzen und das ganze also folgen-
dermassen schreiben:
mankunnie
[dömos] te adelieniie [a7i themo dage selbo,
Krist alouualdoj quikun endi dödun,
frö min the gödo?
Yon der ursprünglichen lesart dömos te adelienne hat M sowol wie C
etwas bewahrt!
V. 5738 gumon ne bigruohiin. Thar sia that godes barn
schreibt Behaghel mit Sievers gegen barn godes der handschrift. Kauff-
mann weist a. a. o. darauf hin, dass dies dem rhythmus nicht genüge.
Dui'ch einsetzung des gleichbedeutenden und öfters überlieferten thena
godes simo (vgl. Sievers, Heiland s. 402, 20 fgg.) — im acc. wegen des
bifulhun in v. 5740 — wird die halbzeile korrekt.
GÖTEBOEG, 7. NOV. 1894. F. HOLTHAUSEN.
ZWEI BEUCHSTUCKE AUS DER CHEISTHEEEE-
WELTCHEONIX.
Das Salzburger gemeindearchiv besitzt eine grosse reihe von , spi-
tall-raittungen', die in fragmente von pergamenthandschriften gebunden
sind. Nur die beiden bände nr. 13 und 14 aus den jähren 1590 und
1591 zeigten reste eines deutschen textes. Mit erlaubnis und freund-
licher hilfe des herrn direktors L. Pezolt habe ich wähi-end der oster-
ferien des Jahres 1890 von diesen bänden zwei doppelblätter abgelöst,
die einer und derselben läge einer mit schöngezierten initialen aus-
gestatteten foliohandschrift der Christherrechronik aus dem 14. Jahr-
hundert entstammen. Die handschrift war etwa 35 cm x 26,5 cm gross,
denn ausser den ecken dürfte kaum viel durch den buchbinder abge-
schnitten worden sein. Für die zwei spalten und die zeilen sind linien
vorgezeichnet; die anfangsbuchstaben der ungeraden verse sind heraus-
gerückt und ebenso wie die mehrzahl der eigennamen rot durchstrichen.
Die Überschriften der kapitel und der blätter selbst sind rot, die ini-
WEENER, BBUCHSTÜCKE DER CHRISTHERRE - CHRONIK 3
tialeu abwechselnd rot und blau; auf jeder spalte stehen 50 zeileu mit
den abgesetzten versen. Das äussere doppelblatt diente der spitall-
raittung- von 1591, das innere jener von 1590 als einbanddecke; auf
dorn ersten steht der schluss des buches Genesis und der beginn des
buches Exodus, welchem das andere blatt ganz angehört.
Der dialekt unseres fragmentes ist, wie sich auf den ersten blick
zeigt, der bairisch- österreichische mit ei < t , ai < ei, o •< a, au <: ü
und Oll usw. Hervorgehoben seien die formen: iveleiben für helihen
(v. 51) und diern (v. 623).
Ein teil des in diesen fragmenten enthaltenen textes geht mit dem
von Zupitza Ztschr. f. d. a. 18, 105 fgg. veröffentlichten \Yiener bruch-
stücke suppl. 2715 parallel, wozu in den anmerkungen die fassung der
AViener handschrift 2690 citiert wird. Bei Schütze, Die historischen
bücher ist dieser teil der Weltchronik nicht abgedruckt. Ich gebe in
den noten die wichtigeren abweichungen und ergänzungen nach W (der
Wiener hdschi-. 2809 bl. 95 *" fgg.), um so den vergleich zwischen dem
werke Rudolfs von Ems und der Christherrechronik zu ermöglichen.
Damit wird der abdruck eines an versteckter, schwer zugänglicher stelle
erhaltenen bruchstücks aus dem leider noch immer ungedruckten werke
vielleicht etwas mehr berechtigung gewinnen.
Herrn direkter L. Pezolt sage ich hiermit auch noch öffentlich
dank für seine liebenswürdige erlaubnis zur benutzung der handschrift.
LE5IBERG. RICHAED MAEIA WEENER.
Erstes doppelblatt. I*.
.fis.
Waz si nu beten e. getan
si trügen zweifeleichen wan
Yon sorgleichen Sachen doch
si vorchten daz er gedächt
noch
5 Dar an waz si im taten e.
die zweifelz vorcht tet in we.
Vnd giengen einez tagez hin
Vor V. 1 steht in W: do diz zil ein ende nam Vnd Joseph wider Ivom Haim
in Egippen lannt Die prüder wui-den ermant Was si im beten getan — 3 sacken]
förchten — Nach v. 14 folgt in W noch; Wann vnser vater zu vns sprach Den-
noch do man in lehn sach Das wir dich peten das du Gen vns die suld liessest nu
Das tu durch vns vnd durch in Lass den zorn vnd leg in hin So das dem werde
hulde Vergess gen vus der sulde Gegen vns als ein prüder sol Tust du gen vnserm
vbel wol So wii-t das lob die ere dein So wir gegen dir in sulde sein
1*
Ynd vielen wainud für in
Vnd sprachen prüder herr
10 swaz Dir gen vnz w^err
Daz la durch die genad dein
gen vnz genädikleichen sein
Wir haben vil vbel an dir
getan
Daz solt du herr varn lan.
15 TOseph der gotez erweit man
mit in wainen do began
Er sprach lieben prüder mein
lat gen mir den zweifei sein
Ynd furcht ew vmb die geschiht
20 Vnd vmb die schnld nimmer
nicht
Ynder fnz ist liepieich erchorn
aller vnfreumtleicher zorn
Daz ist gilt vnd pruderlich
Der red fräwten si sich
25 Daz er sie also wol trost
vnd von den vorchten lost
Da von si zweifelhaft warn
Joseph het in seinen iarn
Gelebt vnd in seiner zeit
30 Daz er seiner chind chinder
seit.
Pis an daz vierd chünn ansah
Der aller vrhab geschah
Mit der gepurd an Effraym
Der geporn waz von im
35 Manasses het einen sun hiez Ma-
chir
Den die geschrift also nant mir
Der gewan auch werder chind
vil
Dar nach seit Josephen zil
Im ser mit iar nahen began
40 Do sprach der rain gut man
Ze chinden vnd ze den priidern
sein
got tut ew noch die genad
schein
Also daz ir wert gesant.
Von im in daz gehaizzen laut.
45 Daz er hat vnserm chünn erchorn
vnd ze geben vnz gesworn
Nu wil ich ew piten daz ir
Daz lobt vnd auch swert mir
Mit trewen all gemain
50 Daz ir mein gepain
[Spalte 2] Lat hie weleiben nicht
so got ew füg die geschieht
Ynd die sälikleichen zeit
Daz ir von hinnen seit
55 Ynd sagt ez auch ewrn chinden
Daz si sein nicht erwinden
Si behalten dar an ewrn ait
dez aidez warn si do berait.
Ynd swurn im daz si ez täten
60 vnd ez vil gern stat hat. [sie]
Dez er gepeten het sie
Dar nach schier do daz ergie
Joseph begund siechen vnd starb
in der zeit do er verdarb
65 Do waz er hundert iar alt
vnd zwaintzik. die im warn
gezalt
Sein leip nach chunikleicher art
reichleich gepalsemt wart
Nach hocher wogender wirdikeit
70 ward er in Egipto geleit
Do rüt er fntz an die zeit
alz die geschrift vnz vrchünt
geit.
Daz die Israhelischen diet
von Egipten land schiet
21 vercborn — 22 Awer vnuermxBftigl eicher zorn — 35 Manasses Sun
machir — 38 seit do Josebs — 39 mit iar] fehlt W — 41 ze den] fehlt W —
45 chunne gesworn — 46 vns erchorn — 47 piten auch daz — 51 Enlat — 54 von
hinnen farnd seit — 58 do] im — 59 im] fehlt W — 60 heten — 63 starb] ster-
ben — 64 verdarbn — 66 die im] fehlt W — 69 begernnder — 70 Vnd ward in —
74 Von demselben Lannde schiet
BRUCHSTUCKE DER CHRISTHERRE - CHRONIK
75 Do vol fürten si den ait
sein gepain ward in Ebron
gelait
Die andern sein prüder gar
Die wurden auch gefurt dar
Vnd in Ebron begraben seit
80 Alz vuz die geschrift vrchunt
geit
vnd alz ich noch sagen wil
so ich chüm an daz zil.
Hie hört nu u'a% 'pey der zeit
haidenischer chunig ivaz und
waz sie begierigen: —
T)ey der zeit do ditz waz alsus
ein chimig hiez Amiricus
85 Der trüg do in Assiria
dez landez die zwelft ebron
alda
Argus den ich da vor nant.
in der Argiven lant
Der lebt noch in seiner chraft
90 mit chünikleicher herschaft.
Ynd in der selben zeit
waz in dem land ze Creit
Ein chimik Citropes genant
\Tid het vnder im daz lant
95 Mit chiinigez gewalt der
w^olt also daz Jupiter
war der Allmächtig got
er macht im durch dez tew-
fels spot.
Erstes cloppelblatt. I".
.UV. Exü.
100
Einen alter hartt reich
vnd opfert im herleich
Er waz der erst der im slüg
vich. vnd im ez zeopfer ti'üg
In den zeiten alz man do got
opfert nach gotez pot.
105 Auch waz in den zeiten do •
der listreich Appollo
Der half mit ertznei vil
lawten an demselben zil
Der selb ze sun seit gewan
auch einen chunstreichen
110
man
Der hiez der weiz Ascolopus
ein artzt maister hiez er alsus :
Hie ist nu Moises püch daz
erst auz.
Daz Genesis ist genant nu
hebt sich
An daz ander, daz ist Exodus
genant, ode'
daz püch de' Israhelische
chind auzgank :
IITit gotez Weisung
hat ew nu hie mel züg
115 beschaiden vnd auch berich
gesait vn getichtet [tet
Daz erst puch vö Moise
Daz er schraib vö de' alte. e.
Daz ist Genesis genant.
80 — 82 Statt dieser verse hat W: Igleich nach seiner zeit— Die Überschrift
nach V. 82 fehlt W. — 86 Lanndes chron die zwellfte da Also das er als ich das las
Des Lanndes zwölfter chunig waz — 91 denselben zeiten — 92 ze chriehen —
93 Ceorpes — 94 het er im dasselb — 95 chunnige gewaldes — 101 in — 102 Vie —
im sein opher — 105 Nu was auch — 111 Aselopius — Die Überschrift nach v. 112
hat einen anderen Wortlaut in W. — 115 betichtet — 116 berichtet
120 vnd han ew gemacht erchant.
Die drei weiit wie die zergien-
gen
vnd von erst an vieugen
Die erst waz alz ich sprach .e.
von Adam piz an Noe.
125 Ynd von Noe an Abrahamen
Wie die von erstvrhab namen
Vnd von Abraham piz her
Nu pis meiner sinn wer
Vnd meinez lebenz herr christ
130 seit -du ein angeng pist
Vnd ein end aller Weisheit.
Allew Weisheit von dir treit.
Vrhab chunst vnd end
Aller chunst weishait eilend
135 Ist nicht an dem trinitat
Die Allew dink bestricket hat.
Der witz vrhab der vater geit
Die weishait an dem sun leit
Von der die chunst hat vollaist.
140 so erfüllt der heilig gaist
Die fruch mit Deiner gut
Der chunst da mit ir blünt
An dem vater vnd an dem sun
blünt
Die an menschleichen witzen
grünt
145 TTerr got nu wil ich
in den drein namen piten
dich
Daz du gerüchest meinen sin
wan ich nicht wol beweiset
pin
Also hochew red ze tichten
150 vnd so reichew mär zebe-
richten
Alz ich mich han an genomen
Wan daz ichs mit dir ze end
chomen
Müz nach den genaden dein
nu nim dich an die sinn mein
155 So daz du sinnikleichen mir
gehst die sinn von dir
Daz ich die mär also gesag
Daz si deinen hulden behag.
Wie dein gotleich gepot
160 himlischer cheiser vnd got.
Begieng, hocher wunder vil
Pey dez rainen mannez zil
Mit dem ich wil heben an
Daz ist Moises dein dienst
man
165 Dem du vil manigew stund
von muud ze mund
Deinez gewaltez willn chür
nach Deinem willen legatzt
fiir
Vnd wie dein chraft ie dem-
diet.
in allen noten wol beriet
Alz er selber die warheit
von deinen genaden hat ge-
seit.
Dez wil ich auer beginnen hie
ze tichten. nu hört wie.
T ang nach den zeiten seit
ich main nach Josephen zeit
Do der gestarb vnd wart geleit
alz ich ew hie vor seit
170
175
121 Dew werlt — zergieukch — 122 anefienkch — 131 angeng] anefenge —
133 chunst wicz vnd — 135 dem] deiner — 141 Deiner] seiner — 142 Die chunst
die mit der plüde — 143 blüt — 144 Gen menschleihn — grüt — 148 beweiset]
versinnet — 156 Besinnet werden von Dir — 161 Beginnet — 168 -willen leitest
füi- — 169 chraft yedem diet — 177 starb vnd gelait
BRUCHSTUCKE DER CHRISTHERRE - CHRONIK
Ez waz vüd wuchs ein chünick
aldo
180 mit chreften in Egipto
Der do dez landez chron
trüg nach dem chünig Pha-
raon
Vnder dem der gotez weigant
Joseph bericht Egipten lant
185 Nach ienera an der achten zal
Der land chünig fber al
Alz die warheit vnz tut gewis
Der waz genant Amolophis
Sein zu nam waz auch Pharao
190 Also hiezzen dez landez chü-
nig do
Swie si auch hiezzen Da.
Der selb chünig waz an-
derswa
Mit haus also iehent die mär
dann Josephs herr war
Zweites doppelblatt. V.
Dus.
195 Vnd hie von Egipten lant.
in einem newen sit erchant
Wan der chünig erchant nicht.
Der hochen tat, die hochen
geschieht.
Die Joseph dem land pot.
200 mit rat in dez hungerz not.
Vnd vergaz der gütat also gar
Daz er ir nam chainen war
Vnd niemant in dem land
an Josephs chünn erchand
205 Wie er daz land von chumber
schiet
in hungerz not vnd si beriet.
In notürftiger Aveiz
chorns vnd auch speis.
Wan ez waz aldo für war
210 vergangen hundert iar
Vnd sechs iar mit not
Pis auf den chünik vö Jo-
sephe tot
Da von si. der gütat do
heten vergezzen hie also.
215
D
er chünig waz dem chünn
gram
vnd daz lant volk alsam
Si hazzten si ze aller zeit
Dm'ch den has vnd diu'ch
den neit.
Si has gen im gewunnen
220 da von daz si sich paz ver-
sunnen
Vnd witziger warn dann sie
vnd daz ez in paz zehanden
gie
Nach wunschleicher 1er
mit Salden gut vnd er
225 Vnd an gesläcez edelkait
Ditz waz den lant lawten leit
Vnd heten ez für vngemach
Der chünig do zu den sei-
nen sprach
Ditz fremd le'^wt gewachsen ist.
230 vnd wächst ser ze aller frist
Vnd beleibt ez also die leng
Daz ez vnz eben streng
184 richtt das lannt — 188 Apolophis — 198 die grossen geschieht — 200
der hungers not — 209 — 314 fehlen W — 217 Die horten sie — 220 — 221 Daz
si was versunnen An witze warn danne Sie
8
Wirt vnd sterker dann wir sein
so tunt si vnz vngenaden
schein
235 Wirt vnz ein not an gent
vnd vrlewg bestent.
So cliernt si zu der veint her
vnd helffent in. in streitlei-
cher wer
Daz si mit in an vnz gesigent
240 Alz si vnz dann ob geligent.
So beraubent si daz lant
vnd varnt liin frei zehant.
Nu ratt wie wir daz bewarn
Ynd ez weisleich vnder varn
245 Wir süllen an si legen mit
chlükeit
mit dienst so vil arbeit
Daz an in allew chraft zerge
Daz ir fürbaz werd nicht me
T\gv rat begund in allen
250 behagen vnd wol genauen
Ir rat gemainlichen daz riet
Daz er die Israhelisch di'^t
Mit arbeit nider druckt
Vnd in da mit enzuckt
255 Wollust an ii'm leib
Also daz pey seinem weib
Ir chainer da nicht lag
vnd churtzweil mit ir pfläg
Von der stachen arbeit
260 die an si wurt geleit
Mit manigem peinleichem sit
Vnd daz do wurd erwendet
mit
Menschleichez samen art
Daz lewtt do ser gearbaitt
wart.
265 Si müsten pawen daz lant
erd tragen vnd auch sant
Ziegel prennen vnd auch chalk
als ein gechauft aigen schalk.
Arbaiten si nacht vnd tag
270 ein maister der ir pflag
Schilf man der gesellschafft zu
iegleicher spat vnd fru
Vnd müst daz ir ainer wesen
vber den ward auz gelesen
275 Ein lantman der sein pflag.
vnd ze allen zeiten ob in lag.
Vnd in mit siegen dar zu twang
ob ir rü in daucht ze lang
So müst er si twingen
280
M'
vnd mit slegendar zupringen
Daz si an allen vnder lazzen
arbaitten müsten an mazzen.
'it so getaner leibez not
man ze pawen in gepot
285 Mit hertten siegen sunder Ion
ein stat die hiez Phiton
Vnd Ramazzen die haubt stat.
die vest wurden wol besät
Mit werleicher läwt wer
die mit chreftikleichem her
Ze wer dem lant do lagen
vnd daz dem land do pflagen
Dez landez do werleich
vnd daz in daz reich.
290
236 vnd vrleugent leicht zestuude — 238 in zu reicher wer — 244 weisleich]
mit sinne — 245 Wir legen an sew — 258 Vnd minne churczleich pflege —
264 Das Lande sere gearbait — 271 man in sterkleichen — 272 Paidew spat vnd
auch — 277 — 280 siegen ob im lang Danicht ir ruh in ze lanng Das er sew
must twingen Vnd mit — 292 ans den vesten do pflagen — 294 daz in allen
reichen
BRÜCHSTUCKE DER CHRISTHERREr CHRONIK
Zweites doppelblatt. I".
Exo.
295 Yemtleich niemant mocht cho-
men
Waz in dem land wart ge-
men
Zinsez do. den hiez vil gar
Dez landez chimig fürn dar
Die wurden do mit reicheit
300 Aldo ze samen geleit
Daz si der chünik sold
Da vinden swenn er wold
In not ze chainen stunden
Die stet da begunden
305 Ser reichen von der arbait
Die daz Israhelisch chiinn da
lait
Wan si dar dienten ser
noch müsten si mer
Leiden arbaitleichew not
310 ze vegen man in gepot
Der stet weg pey den tagen
vnd daz hör von dannen
tragen.
Tier dritten not ward in ge-
^ dacht
daz si wurden für pracht
315 Mit pein an lebleicher chraft
man gepot all derchünnschaft.
Daz si sunder lonez gelt.
vor den steten hin daz velt.
Durch grüben an allen selten
S20 mit tieffen graben weiten
So die wazzer erguzzen
/ Daz si in die graben fluzzen
Hin dan von den vesten
swaz die lantläwt westen
325 Zerdenken daz tet man in
won si ze verderben wont
ir sin
Also taten si in wirz dan we
so ward er iemer vnd me.
So man si ie serr druckt nider
330 so si ie serr wuchsen wider
Irwardievil. vnd mer dann vil
si wüchsen mernt aUew zil
Warn si alz got gepot
mit chainer band not
335 Mochten die lantlat sie
verdiigen noch vertreibe nie
Si wüchsen dar. an irn dank
Die grozz arbait waz in ze
lank.
Wan si wert daz ist war
340 an dem chunn vier hundert
iar
T\o dem chünig wart gesait
vnd daz beuand mit warhait
Daz ditz allez nicht veruie
sein arger Avill in do nicht lie.
345 Er gedacht nu wie daz docht
daz er verderben mocht
Die rainen Israhelisch diet
Zwain weisen weihen er do
riet
Der selben hiez Ainew Phua
350 vnd die ander Sephora
Die solicher chunst pflagen
303 chainen] allen — 315 fehlt W — nach 316 steht in W: Si warn junkch
oder alt — 323 Vnd dann ein igleich grabe Die wasser solt wesen abe Hindan —
325 das vand — 326 Si zu verderben wann ir sin — 327 Vil vbels vnd wierses
dan ee — 333 Wurden ir raer als got — 335 lanntlewt nie — 336 nie] sie —
837 Si] fehlt W — 345 fehlt W — 349 phita
10
swo die fraAven gelagen.
Vnd chint sollen gepern
An die beund der chunik
gern
355 Daz si destei' öfter warn
Do die jüdischen weip gepärn
Vnd alz ain sun wurd geporn
Daz der zehant wurd verlorn
E. die gepurd solt geschehen
360 Vnd daz si dann selten iehen
Daz si den sun e. sähen tot
Da pey er in mit pet gepot
Daz si der sinn wielten
vnd die maidlein behielten
365 Lebent vnd vnverderbt
An dem leib vnd vnersterbt
Vnd dar vmb gehiez er in.
miet vil. vnd grozzen gewin
Tl^ar vmb der chnnik tat daz
Daz er si ie mit vorcht
entsaz
Do het im .e. mit warhait
ainer seiner weissagen gesait
370
Daz daz selb chunn
vil churtzleich gewunn
375 Ein chint daz mit gewaltez band
solt alz Egipten lant
Drucken vnd Diemüten
Daz wolt er do also behüten
Daz daz nimmer geschäch
380 Nu waz die red vil späch
Vnd verderbt si durch daz
Wan er die vorcht ser entsaz
Daz er die maid behalten hiez
Vnd in frid werden liez
385 Daz geschäch durch den list
so si nach reclitez alterz Mst
Dar nach zu irn tagen chomen
Daz si dann der haiden siin
nämen
Vnd sie ze weib bäten
390 vnd irn mütwillen täten
An in swie si däucht gut
Alz ez gert ir gern der müt
Durch daz beMt er irn leib
Auch west er wol daz die weib.
Zweites doppellblatt. IP
.Dus.
395 Die morn in Egiptenlant
si wüsten mit gewaltez haut
An allen wider satzez wer
Von Memphin piz an daz mer
Daz lant alz ez gelegen waz
400 Daz lantvolk an sich do laz
Die wer die si mochten han
mit den si weiten wider stan.
Den morn die si an riten
si chomen mit gemainen siten
405 Für irn got vnd paten
Daz er in solt raten
"Wie si gen der veint her
sich beraiten wol ze wer
Do ward in daz für geleit.
410 vnd von irm got daz geseit
353 gepern solden Das si die haben woldea Als si die chind solten gepern —
356 Judinne gepern — 357 sun] degen — 358 zehant] same — 361 sun sterben
tot — 362 Darmit er in gepot — 363 sinn] Sune — 370 Die Sun er mit forchten
besaz — 388 dann die Sune nemen — 391 Äinen Sun den daucht gut — 393 befri-
det — Nach 394 stehen in W 376 verse, die den Salxburger fragmenten fehlen. —
395 Der satz beginnt inW: In denselben zelten Sach man mit chreften reiten Die
morn
BRUCHSTUCKE DER CHRISTHERRE- CHRONIK
11
Nach irr warheit vngelogen
si solten nemen ze hertzogen
Einen Ebraischen degen
daz er irz herz solt pflege
415 Der war Moisez genant
Do gie daz lewt alzehant.
Für dez chimigez tochter hin
Vnd paten si ser vmb in
Daz si in mit in sant
420 Zeliilff vnd ze wer dem land
Wan sein werleichew hant
befriden miiz vnz daz lant.
Alz in ir got mit warhait
Het gecliündet vnd gesait.
425 Tiie fraw ez ser versprach
wan si sich mit vorchten
versah
Daz si in verderbten auf der
vart
mit aiden ir daz versichert
wart.
Vnd mit gewissener warhait.
430 Daz si im nimmer chain lait.
Noch vngemach taten
Vnd in ze herren gern baten
Nach sein selberz 1er
Do säumt nicht mer
435 Termüt. si lie den rainen man.
Mit den lantläwten do von
dan
Die namen in ze herren do
Do ditz geschehen waz also
Daz sie warn in seiner pfleg
440 Do lie er der wazzer umb
weg.
Vnd fiirt si nach weiser art
N'
ein gar nachnew durchvart
Daz si den Morn für chonien
E . daz si ir chunft veruomen.
445 Vnd in dann entwichen
einen weg si strichen
Der durch ein wüst gie
in der selben wüst hie
Schedleich würm lagen
450 Die der strazz also pflagen
Daz niemant dar durch mocht
chome
nu het Moises genomen
Starchen die in den iarn
Aldo gezemt warn
455 Mit den daz her auf der vart
befridetvonden slangenwart.
V chom an der morn her
Moises mit solher wer
Daz in vermaid ir streit
460 Vnd chertenan der selben zeit
Sunder wer mit flucht da
in dez chunigez vest von Saba
Ich main in sein haubstat
Die waz mit reicher w'er besät
465 Si nant der chünik Cambises
seit nach den zelten Merores
Vnd waz so wol ze wer gestalt
Daz si nie mannez gewalt.
Mocht an den zelten
470 erstürm noch erstreiten.
Dar inn lie der Morn her
sich besitzen do mit wer
Die si heten aller täglich
her auz mit chraft werten
si sich
475 So werleich das in nieman
422 vnz] Im — 435 Termut vnd si liessen den man — 442 nachent dui'ch-
fart — 447 wüst] büchs [!] — 448 wüst] wuchst — 453 Stockclie dew in den
Jarn — 456 Befridet auf der Strasse — 465 CampMses — 473 Das si paten alle
tag tegleich
12
480
Die stat mocht gewinnen an
E. von geschieht daz gesehach
Daz dez chünigez tochter sah
Moises schonen leib
In begund daz iung weib
In sendez hertzen sinnen
so hertzleichen minnen
Daz si sich chiirtzleichen ver-
wag
aller der fräwden der si pflag.
485 Oder er wurd ir ze man
si ti'ug ins mit pet an
AVolt in dez gen ir gezemen
Daz er si ze weib wolt nemen
Dez si gert vnd pat
490 so wolt si im geben die stat
Also ward in churtzen tagen
Vnder in vber ain getragen
Daz si im gab vnd seinem her
stat vnd läwt sunder wer.
Zweites tloppelblatt. II'
495 Vnd nam si do ze weib sa
waz er den läwten tat alda
Ob er si sing oder anderz icht
tat. daz sait die geschrift
nicht.
Doch ward mir so vil erchant
500 Der mär. daz er betwang daz
lant.
Do er sich an den morn rah
die morinn man in nemen
sah
Ze w^eib alz er ir gehiez
Die im sich vü die vest liez
505 Tarbis waz die fraw genant
Daz si im ze weib waz er-
chant
Vnd ir minn waz sein Ion
dez zürnt vil ser Aaron
Vnd Maria die swester sein
510 die tet im so vil zorns schein
Daz ez got sider an in rah
wie die räch an in gesehach
Daz wirt ew her nach gesagt
do Moises da waz getagt.
515 So lang er wolt in der stat
sein weib er mit im ehern pat.
Von dann in Egiptenlant
Die wider redat ez zehant
Vnd wolt mit dem werden man
520 nicht ze land ehern dan
Si wolt in nicht von ir lan
er miist alda pey ir bestan.
"VTv tet der edel degen gut
alz manik man noch gern tut
525 Der mit willen allew frist
gerner pey den seinen ist
Dann in dem land anderswa.
in seinen sinen gedacht er da
Wie im der list zäm
530 daz er von dannen chäm
Mit solher füg daz sein weib
Der er waz lieber dann ir leib
Nicht beswort wurd
vnd swärez iamerz purd
483 sich churczweil bewag — 485 Ee der ir wurd ze — 486 is mit poten —
489 und 490 in W umgestellt. — 495 Vnd er nam — 515 So lannge von der
Stat — 519 werden] weisen — 521 Si wolt auch von dem chrieg nicht lan —
526 Gern pey den trennten ist — 527 in eilende anderswo — 534 Nicht gesweret
wurde
BRUCHSTUCKE DER CHRISTHERRE - CHRONIK
13
535 Den si nach im trug
so man in sein zu gewüg
Ditz waz in seiner tracht
von clmnst raaniger acht
Ynd listikleicher wunder
540 von Astronomie chund er
Daz liez er chiesen do dar an
Der edel chunstreich man
Macht im zwai vingerlein
Zwai chlainew pild guidein
545 Die warn wunderleich genüg
swer daz ain pe)^ im trüg
Der vergaz in seinem müt
swaz im ie ze gut
Oder ze lait geschach
550 swen mau daz ander tragen
sah
Den müt sein hertz zehant geuie
swaz im waz geschehen ie.
Also daz er der geschiht
mocht vergezzen nicht
555 Daz vergezzen vingerlein
liez Moises der mörein
Do vergaz si sein so gar
Daz si nam chain war
Ob si sein ie chünn gewan
560 Der edel rain weiz man
Chert wider haim ze haut
vnd für gen Egiptenlant
Da er von chindhait waz erzöge
der werd an sälden vnbetrogen
565 Gen Jerssen do chert
alz in die lieb lert
Die er seinem chünn trüg
Do sah er iamerz genüg
Vnd not an seinen magen da
570 vnd in dem land anders wa
Wan si mit dienstleichen siten
manik hochew swär erliten
von Dienstleicher arbeit
die si da wurden an geleit.
575 Alz ich ew vor veriah
Moises der gut sah
Daz ein Egiptisch' man do slüg
vngezogenleichen genüg
Ainen seiner magen da
580 An den selben chert er sa
Vnd slüg in zetod zehant
vnd parg in vnder den sant
Daz man innen wurd nicht
von im der selben geschiht.
585 "Drü an dem andern tag
gie Moises nach der war-
hait sag
Zu dem werch hin do vand er
zwen Ebraisch die mit ein
ander
Chriegten. ich waiz vmb waz
590 in paiden wert er daz
Vnd straft ienen genüg
der die schuld auf im trüg
Dem waz ez zorn vn vngemach
vil zorinkleichen der selb
sprach.
595 Wer hat dir gewalt gegeben
Daz du wild richten vnser
leben
Erstes doppelblatt. II ^
Wez vnder windest Du dich
ich wän du woldest slahen
mich
559 chunn] chunde — 563 von chiude was gezogen — 565 yesse — 577 ein
lanntman do — 585 Do au dem dritten — 587 weg liin wider do — 589 Yrleu-
gen ich
14
Alz du auch ienen gestern slügd
600 Ynd in vnder den sant grubd
Yon hinnen einen laut man
Moses sei- wundern began
Wer die verhohi warhait
hiet so recht im gesait
605 Vnd ez doch haimeleich ge-
schach
im waz laid do iener sprach
Gen im so paldikleich daz wort,
wan ez von dem chiinig dort
Waz vil churtzleich gesait
610 Der chimig hiez dem degen
vnuerzait
Zehant mit suchen nach iagen
vnd wolt in haben lazzen
erslagen
Da von der rain weiz man
Dem chunig von dem land
enti'an.
Hie hört nu wo Moises hin-
chom. vn
waz climder er vnd sein
prüder Aaron gewö
615 T\o nu der gotez weigant
geräumt het Egiptenlant
Do cham er alz ich gelesen han
durch ein wüst in Madian
Daz waz ein reichew haubtstat
620 Die het an daz rot mer ge-
sät
Mit päw da vor Madian
den ich auch genennt han
Wan Abraham von seiner diern
Cetura
in gepar. der pawet alda
625 Die selben stat in dem lant
Die er nach im selb nant
Alz ir sein nani wol gezam
Moises für die gegangen cham
zu einem prunnen vor der stat
630 Durch rü er do nacher trat
Vnd wolt Do Die ru han
nu waz gesezzen in Madian
Ein edler Ewart do
der waz gehaizzen Jetro.
635 Siben tochter het Der
Die chomen do gegangen her
Nach irm sit vnd weiten
trenken als si selten
Ir vidi daz waz ir sit Do
640 vnd do si stünden also
Pey dem prunnen do chamen
stach liirtten die namen.
Den iunkfrawen den prunnen
Den si alda gewunnen
645 Vnd wolten ir vich trencken e.
Ditz tet den iunkfrawen we.
Pis Moises der gut
gewaltez si behüt
Vnd half in wol zerecht
650 hin ab slüg er die chnecht
Die chomen do zu in nie
e. die maid getrenckten hie
kie maid do wider cherten
mit danken si in erten
655 Zu dem vater waz groz ir pet.
Wan er in ditz ze ern tet.
Daz er dem fromden werden
man
danckt. der si die er het ge-
legt an
D'
Die Überschrift vor 615 feJilt W. — 619 reichew] michel — 623 Abraham
von cethura — 651 chomeu darnacher nie — 652 hie] ie — 657 Das die fromdeu
weren man — 658 Der sew er het gelegt an
BRUCHSTÜCKE DER CHRISTHERRE - CHRONIK
15
Vnd beschirmt, do in Jetro
ersah
660 er danckt im. Do daz ge-
schach.
Do fürt er in mit im hain
vnd wart Daz mit im enain
Daz im der will gezäm
Daz er seiner tochter näm
665 Ainew die hiez Sephora
Die nam der do ze weib da
Einen sun si im gewan
dem edlen gotes dienstman
Der wart Gerson genant
670 dar nach auer seit zehant
Gewan si seinez hertzen ger
einen sun der hiez Eliezer
Gotez hilff bedäwtt der nam
gütleich vnd an allew schäm
675 Lie im sein sweher Jetro
gewalt vber alz sein vich Do
N^
Daz waz die grost reichait
die do ieraant waz berait
Wan hin vnd her warn die lant
680 in gantzem päw nicht erchant
Da von waz vich die reichest
hab
do sich betrüg iemant ab.
'v han ich ew vor chunt ge-
tan
Daz Jacobs sun Leuy gewon
685 Gersson Caaht vnd Merary
die selben prüder drj.
Mit irm geslächt geparn
Die Leuiten in den iarn
Chaat der Leuy sun waz
690 der gewon alz ich ew vor laz
Amram vnd ysuar
Der selb ysuar einen sun
gepar.
Erstes doppelblatt.
Exo
IV
Der waz gehaizzen Chore
.e.
710
Amraran den ich naut
695 Moyses vater der waz
vnd Aaronez Alz ich ew laz
Aaron ze weib nam
ein weib die im wol zam
Auz dem geslächt von Juda
700 Amynadabes tochter da.
Die waz Elysabet genant
der selben waz ze prüder
erchant
Ein werder man hiez Naason
pey Elyzabet gewon Aaron
705 Nadab Abyu vnd Eleazar
vnd einen sun hiez ythamar
Eleazar ze weib do nam
659 Vnd beschirmet do er in sach — 663 fehlt W
683 — 716 fehlen W, ebenso die Überschrift darnach.
ein weib die im wol zam
Die selb im do gewan
einen sun dem guten man
Der waz Phynees genant.
Der slug seit mit seiner haut
In gotez Dienst Zambry
Ditz geslächt ist von Leuy
715 Vil gar von im chomen
Alz ir hie habt vernomen.
Hie hört nu waz got tvunderx
vn zaiche
mit Moises vn Aarö begie.
vn waz er mit in sehüof
T\o ditz geschehen waz also
in der zeit starb der chü-
nig Pharao.
671 si] fehlt W —
16
Nach im ward ein chnnig in
Egipte lant
720 vilweiz. der ward auch genant
Alz e. die andern Pharao
Der tet den Israheliten do
Vil wirz dann in e. waz ge-
schehen
Alz wir die warheit hom
iehen
725 Da von si von hertzen sauften
tiefPen
hin ze got do rieffen
Die chint der Israhelischen
schar
Die Israhelisch fruch gepar
Alz si twang raanik arbait
730 do gedacht got an die sicher-
hait
Die er hie vor irn vätern tet
vnd erhört do ir gepet
Daz si heten in irm laid
nu het Moises auf ein waid
735 Sein vich do getriben
in einer wüst waz ez beliben
Von dem perg Synay.
Do gie daz vich nahen py
Der perg dar an frey belaib
740 Daz niemant sein vich dar
an traib
Wie da war süzzez graz
wan der läwt gelaub waz
Daz man dicker säch da
gotez heilikait dann anderswa
745 Indert da pey vber daz lant.
ein hörn dez pergz waz ge-
nant.
Oreb. pey dem selben perg hie
A
Moises vich da selbe gie
An der wüsten waid
750 waident auf der haid
vf dem selben perg Oreb
geschach
ein wunder groz daz sah
Moyses der rain man
Da stand auf ein pusch vn
pran
755 Vnd waz dez fewrez flammen
plick
prinnent starch vnd dick
Laub vnd holtz dar an wart
von dem fewr doch nicht
verschart
Ez stund in seiner aigenschaft.
760 gantz. daz fewr pran mit
chraft
Daz doch der pusch waz behüt
Moyses der rain gut
Gedacht, ich wil gen besehen
Daz wunder daz hie ist ge-
schehen
765 Daz diser pusch also print
vnd doch nicht mail gewint
Von disem grozzem fewr hie
hin zu dem pusch er do gie
Do er ditz grozz wunder sah
770 got erschain im vnd sprach
Moises Moises zehant
Do im die gotez stimm ward
erchant
Do sprach er herr. hie pin ich
loz dein schlich vnd ent-
schüch dich
775 Wan die stat auf der du stast
vnd die erd dar auf du gast
745 In der die do vber das Lannt — 751 Auf oreb dem perg do geschach —
754 stund ein pusch der pran — 760 Ganz das verpran mit chraft — 761 Das den-
noch des pusches hüte — 766 Vnd is nicht
BRUCHSTÜCKE DER CHRISTHERRE - CHRONIK
17
8int paidew samt heilig
vnd mit heilikait vnmeilig
Got sprach auer wider in
780 Abrahams got ich piu
Ysaackes vnd Jacobs got
Die gern laisten mein gepot
Ich han die grozzen arbeit
Die mein lewt ist an geleit
785 In Egipto wol gesehen
waz in da laidez ist gesche-
hen
Vnd irn clilagenden ruf ver-
vernomen
nu pin ich her nider chomen
Daz ich si da von losen wil
790 vnd fürn in churtzem zil.
788 her wider — nacli 790 schliesst der satx, in W: In das erbnnscht suzz lannt
Das milich vnd honig ist erchant Baide ternde vnd fliesseude Vnd wü sew machen
niessende Dew laut die Chananeus Beresus vud Ebuseus Jergessens vnd Euseiis usw.
75 rote initiale. 83 blaue initiale. 113 grosse rote initiale, die weit
über den freien seitenrand hinab und hinauf reidd. 145 rote initiale. 175 rote
und blaue initiale. 191. Da] auf rasur, darnach stand anderswa, vgl. v. 192. 211
iar mit not aiif rasur. 215 rote initiale. 225 l. geslähtes. 249 rote initiale.
259 /. starchen. 283 blaue initiale. 313 7-ote initiale. 341 blaue initiale. 369 rote
initiale. 421 hant aus hent corrigiert. 425 rote initiale. 457 blaue initiale.
523 rote initiale. 585 blaue initiale. 615 rote initiale. 653 blaue initiale.
683 rote initiale. 717 blaue initiale. 745 hinter pey ist an rot gestrichen.
751 rote initiale. 779 blaue initiale. Die verse 1. 51. 99. 145. 195. 245. 295. 345.
395. 445. 495.- 545. 595. 643. 693. 741 beginnen neue spalten.
MITTEILUNGEN AUS DEUTSCHEN HANDSCHßlETEN
DER GEOSSHEEZOGL. HOFBIELIOTHEK ZU DAEMSTADT.
I.
Dietrich von Plieiiiiigeiis Seiiecaübersetzimgeii.
Als Karl Hartf eider 1884: das Heidelberger gymnasialprogramm
„Deutsche Übersetzungen klassischer Schriftsteller aus dem Heidelber-
ger humanistenkreis" veröffentlichte, kannte er von Senecaübersetzungen
des schwäbischen ritters und humanisten Dietrich von Plieningen^ nur
die in dem Münchener Codex germ. 977 erhaltene Verdeutschung der
„Consolatio ad Marciam", sowie die zu Landshut 1515 gedruckte Über-
setzung des dem Seneca zugeschriebenen werkes „De moribus." Eine
dritte, von Plieningen in der vorrede der letzten schrift selbst er-
wähnte Übersetzung von Senecas „De ira" war ihm nur dem namen
nach bekannt (anm. 4 zu s. 7). Der zufall wollte es, dass nicht nur
1) Vgl. ausser der bei Hartfelder s. 5 anm. 2 angegebenen litteratur Th. Schott
in der „Allg. deutschen biographie" 26, 297. 1888.
ZEITSCHRIFT F. DEUTSCHE PHILOLOGUC. BU. XXVHI. 2
18 A. SCHMIDT
diese schrift, sondern ausser den beiden oben genannten noch zehn
andere von Plieningen verdeutschte werke Senecas sich handschriftlich
in seiner nächsten Ucähe, in der Darmstädter hofbibliothek befanden.
Dass Hartfelder von ihnen keine kenntnis erlangte, darf man ihm
natürlich nicht zum Vorwurf machen, da die liofbibliothek leider immer
noch keinen gedruckten handschriftenkatalog besitzt. Die einzige frü-
here erwcähnung der handschrift in Walthers „Beiträgen zur näheren
kenntnis der gr. hofbibliothek zu Darmstadt'' (Darmstadt 1867) s. 129
nr. 3 kann in ihrer unbestimmten fassung kaum in betracht kommen.
Möge man die nachfolgenden ausführungen als ergänzung zu Hartfelders
interessantem programm aufnehmen.
Die in einen braunen lederband mit eingeprägten Verzierungen
gebundene Darmstädter handschrift nr. 290 in fol. ist 31,5 cm. hoch
und 21,5 cm. breit und besteht aus 309 blättern, die in einer spalte
mit meist 30 zeilen in deutscher schrift aus dem anfange des 16. Jahr-
hunderts beschrieben sind. Die Überschriften und randbemerkungen sind
rot. Eine menge farbiger und goldener initialen, zu anfang der ein-
zelnen bücher mit farbigen rankenverzierungen , schmücken den band.
Keine andeutung in der handschrift gibt uns künde, von wem und für
wen die abschrift angefertigt wurde. Dass es nicht Plieningens origi-
nalmanuskript ist, dürfen wir aus dem fehlen aller korrekturen und
der gleichmässigen schrift in allen von 1515 bis 1517 datierten teilen
annehmen. Das schliesst aber nicht aus, dass wir es mit einer auf
Plieningens anordnung angefertigten abschrift zu tun haben, die der
prächtigen ausstattung nach vielleicht zum geschenk für irgend eine
hochgestellte persönlichkeit bestimmt war.
In die Darmstädter bibliothek gelangte der band 1813 mit der
bibliothek des in Grossgerau verstorbenen kirchenrats Georg Nikolaus
Wiener.
Die handschrift enthält die Übersetzungen folgender Seneca'schen
oder Pseudo- Seneca'schen Schriften:
1. Blatt la — 84b 4: Ad Novatum de ira libri tres. Über-
schrift: Lucy Annei Senece: von Corduba vom Zorn das Erst Buch
dem Nouato zugeschriben: von mir Dietrichen vonn Pleningen zu Schou-
begk vnd Eysenhouen Kitter vnd doctor zu teutsch gepracht ec' |.
Schluss: Hye Endet sich das Trit Buch Senece vom Zorn ec'; | Sei-
tenüberschriften: Das Erst (Ander, Trit) Buch | Senece vom Zorn/|.
2. Blatt 85a — 115a 25: Ad Neronem Caesarem de demen-
tia. Überschrift: Hie facht an das Erst Bucli Lucy Annei Senece von
der senfftmutigkait dem kaiser Nero zugeschriben durch mich Dietrichen
HANDSCHRIFTEN IN DÄRMSTADT 19
von Pleningeu zu Schoubegk vnd Eysenhofen ritter vnd doctor geteutscht
ec' ! I Schlusii: Hje Endet sich das anuder vnd letzst Buch Senece
von der sennfftmutigkait: auf Sant Maria Magdalena aubent zu Lands-
hut durch mich Dietrichen von Pleningen ec' geteutscht Anno 1515/ 1.
Seitenüberschriften: Das Erst (Ander) Buch Senece ] von der Senft-
mutigkait | .
3. Blatt 115b — 130b. 28: Ad Lucilium quare aliqua in-
commoda bonis viris accidant, cum Providentia sit. (De Pro-
videntia.) Überschrift: Hye facht an das Erst Buch Lucy Annei
Senece zu Lucilio geschriben: von regierung der weit vnd gotlicher
fursichtigkait / vnd das vil onfalls den guten männern zustande: durch
mich dietrichen von Pleningen zu Schoubegk vnd Eysenhofen ritter
vnd doctor geteutscht ec' c^ | Schluss: Hie Endet sich das Buch Senece
von der gotlichen fursichtigkait A*^ 1515/ ] Seitenüberschriften: Seneca
von regierung der weit vnd gotlicher für | sichtigkait vnd das viel onfals
dem guten mann (resp. den guten.) zustand; | , von bl. 117b an: Das
Buch Senece warumb den guten | männern (oder dem guten | mann)
vil onfalls widerfare.
4. Blatt 131a— 157b 28: Ad Gallionem de vita beata.
5. Blatt 157b 28 — 165a 7: Ad Serenum de otio. Letztere
Schrift, die erst von Lipsius abgetrennt wurde, schliesst sich ohne jeden
absatz an erstere an. Die gemeinsame Überschrift lautet: Hie facht an
das Buch Lucy Annei Senece zu Gallioni seinem bruder geschriben
von dem säligen leben / durch mich dietrichen von Pleningen ge-
teutscht/ ! . Schluss: Hie Endet sich Seneca vom säligen leben auff
den Ain vnd treyssigisten tag des monats octobris Anno 1515 durch
mich Dietrichen von Pleningen: Ritter vnd doctor geteutscht ec' | Sei-
tenüberschriften: Das Buch Senece | vom Säligen (Saligen, Seligen)
leben | .
6. Blatt 165b — 189b 17: Ad Paulinum de brevitate vitae.
Überschrift: Das Buch Lucy Annei Senece vonn kurtzen des lebens zu
Paulino geschriben: durch mich Dietrichen von Pleningen zu Schou-
begk vnd Eysenhouen Ritter vnd doctor geteutscht ec'; |. Schluss:
Finis ec' |. Seitenüberschriften: Das Buch Senece \ von kurtze (kurtz)
des lebens | , zuletzt: vom kurtzen leben | .
6. Blatt 190a — 193b 19: De paupertate. Überschrift: Das
Buch Lucy Senece von der Armut von mir obgemelten/ | Dietrich von
Pleningen geteutscht | . Schluss; Hie Endet sich das Buch Senece von
der Armut ec' | . Seitenüberschriften: Das Buch Senece | von der
Armut |.
2*
20 A. SCHJIIDT
8. Blatt 194a — 226a 23: Consolatio ad Marciam. Über-
schrift: Hie facht sich an die loblich trostuiig Senece die Er zu der
Irrleuchten frawen Marcia des Caton weyb: die Irn Sun Drusum ver-
lorn het/ geschriben hat/ durch mich Dietrichen vonn Plenyngen auch
geteutscht ec' •;• '^ ^^ | Schluss: Finis-:'^ | Seitenüher Schriften:
Der Seneca/ | Ain Tröstung zu der Marcia | , von blatt 197b an: Des
Senece | Tröstung zu der Marcia/ |.
Den anfang dieser Übersetzung bis blatt 200 b 2 hat Hartfelder
nach dem Münchener Cod. Germ. pap. 977 fol. 1 — 20 auf s. 13—18
seines programms zum abdruck gebracht. Beide handschriften stimmen
nicht ganz überein. Gleich in der Überschrift hat die Darmstädter
iiandschrift den fehler Caton für Cordus, dann fehlt die widmung an
Kunigunde, erzherzogin von Österreich d. d. München 10. märz 1519,
und auch in dem eigentlichen text zeigen sich mannigfache abwei-
chungen.
9. Blatt 226 b — 233b 21: Ad Gallionem de remediis for-
tui forum. Überschrift: Hie facht sich an das Buechlin Luci Annei
Senece das Er zu seinem Bruder Gallioni geschriben hat von Artzneyen
gegen allen Einlouffung des onfalls vnd do redent wider einander: die
Synn: vnd die Vernunft, der kaiserlichen maiestat meinem aller gne-
digisten herren zu Ern durch mich Dietrichen von Pleningen geteutscht
ec' • : ^^ j Sehhfss: Hie Endet sich das Buch Senece vonn Ertz-
neyen gegen allen vnfallen von mir Dietrichen von Pleningen '^ • : ge-
teutscht • : ^^ I ' Seitenüberschriften: Des Senece Buch | von artzneyen
gegen allen onfällen | .
10. Blatt 234a — 264a 30: Ad Serenum de tranquillitate
animi. Überschrift: Hie facht an das Erst Buch Lucy Annei Senece:
das Er zu Sereno geschriben hat dar jnnon begriö'en ist: wölhe ding
das styll vnd onbetruebt leben beschirmen: vnd woUiche ding das selb
widergeben mögen: wölliche ding auch den ein kriechenden lästern
widerstand thuend. durch mich Dietrich von Pleningen zu Eysenhofen
Riter vnd doctor dem durchleuchtigisten fursten vnd herren herren
Fridrichen Hertzagen zu '^ • : geteutscht • : "^ | Die schlussschrift blieb
weg, offenbar nur weil blatt 264 a vollgeschrieben Avar. Seitenüber-
schriften: Das Buch Senece | vom styllen rwigen vnd onbetrubten
leben | .
11. Blatt 264b —284 a 30: Ad Serenum nee iniuriam nee
contumeliam accipere sapientem. Überschrift: Hie facht an das
ander Buch Lucy Annei Senece zu Sereno von dem onbetrubten leben :
vnd wie in ainen wevsen mann schmachen nit einfallen moffen: durch
J
I
HANDSCHRIFTEN IN DAKMSTADT 21
mich Dietrichen von Pleningen jn vigilia Ephiphanie dominj Anno ec'
1517 ~ :• goteutscht :• ~ | Schluss: Hye Endet sich das ander Vnd
das letzste Buch Lucy Annej Senece von dem stillen vnd onbetrubten
leben: durch mich Dietrichen von Pleningen geteutscht Anno 1517 zu
Landshut ec' |. Seitenüberschriften: Das Ander buch Senece vom stil-
len vnd onbetrubten leben/ | vnd wie kain schmach in (ain) weisen man
fallen mog/ |.
12. Blatt 284b — 290b 15: Liber de moribus. Überschrift:
Hie nach uolgt das Buch Lucy Senece von sytten dar Jnn er gantz
schönlich vnd nutzlichen des lebens sytten erzelt hat durch mich Die-
trichen von Pleningen zu Eysenhofen ritter vnd doctor geteutscht
ec' •:■ ^^ |. Schluss: Hye Endet sich das Buch Senece vonn sytten
ec' |. Seitenüberschriften: Das Buch Senece | von Sytten |.
Aus dem ganzen Inhalt unserer handschrift ist diese schrift die
einzige, die zu lebzeiten des Übersetzers gedruckt worden ist. Da mir
die seltene zu Landshut bei Johann Weyssenburger 1515 in 4<^ ge-
druckte ausgäbe, deren genauer titel bei Weller, Rep. typ. nr. 946 und
s. 455 zu finden ist, nicht vorliegt, vermag ich nicht festzustellen, wie
weit der druck mit der handschrift übereinstimmt. Aus Hartfelders
besprechung a. a. o. s. 7 ergibt sieh, dass er eine in der handschrift
fehlende vorrede Plieningens enthält.
13. Blatt 291a— 309a 30: Proverbia Senecae. Voraus geht
auf b]att291a — b 28 eine widmung dieser Übersetzung an den „her-
ren Fridrichen Hertzogen zu Sachsen", etc. „Geben zu Landshut vff
den Sechzechenden tag Decembris nach Cristi vnsers hailmachers gepurt
Anno 1515" ~ | Es heisst darin: „Genedigister fürst vnd herr/ wiewol
ich neben deß durchleuchtigen hochgepornen fursten vnd herren/ her-
ren Ludwigen pfaltzgrafen bey Rein Hertzogen in Obern vnd Nidern
Bairn ec' meins gnedigen herren fürstlichen beuelchen vnd obligenden
geschafften: mitler zeit vnd ich euren Curfurstlichen gnaden meinen
geteutscliten Salustium zugeschickt vber angekorten vleis gar wenig
niüssig tage erlangen mögen ! so hab ich doch die selben tag : nyemants
anderm dann allain Euren Curfurstlichen gnaden zu Ern vnd gefallen:
vndertcänigklichen zuuerzern furgenomen. In besonderer bewegung die-
weil ich hieuor durch vielfaltig glaubliche vnd grundtliche erfarung
wares wissen empfangen han: das die selb eur Curfürstlich gnad vor
allen andern geistlichen vnd weltlichen Curfursten des heiligen Römi-
schen Reichs aller loblichen kunsten vnd guter sytten besonderlichen
der philosophi ain getrewer furdrer liebhaber vnd gnediger vatter ist:
also bewegt worden die Sprichwort: deß heiligen hochberompten manß
22 A. SCHMIDT
Seneco aiiß launischer jn teutsche also jn mein muterliche sprach zu
pringen]" etc. Nach einer längeren ausein andersetz uug, wariuu Seneca
ein heiliger mann zu nennen sei, fährt Plieningen fort: „Dem allem
nach: vnd auf das eur Curfurstlich gnad meiner willigen vnd gevlissen
dienstparkait : wares vnd grundtlichs wissen empfachen mögen: so vber-
schick ich den selben Eurn Curfurstlichen gnaden dits mein tranßlacion
mit vndertäniger Bit die selben wollen sollichs von mir mit gnaden an
uemen. vnd wil mich hiemit also Eurn Curfurstlichen gnaden vnder-
tänigklichen beuolchen haben/".
Die (schwarze) Überschrift der Übersetzung lautet: Hye fachent
an: die Sprichworter Lucy Annej Senece: die Er zu Paulino geschri-
ben haben soll. Durch mich Dietrichen von Pleningen zu Schoub-
Egk vnd Eysenhofen Ritter vnd doctor: dem durchleuchtigisten vnd
hochgeporneu Curfiu-sten vnd lierren/ herren Fridrichen Hertzogen zu
Sachsen ec' meinem gnedigisten herrn/ zu ern geteutscht; | Schluss:
Finis-:^^ | Seitenüberschriften: Die Sprichwort Senece/ |.
Proben aus unserer handschrift hier zu geben, halte ich nicht für
nötig, da das von Hartfelder veröffentlichte stück aus der Verdeutschung
der Consolatio ad Marciam vollständig genügt, um die art und weise
der Übersetzungen Plieniugens kennen zu lernen, und neue züge zu
der von Hartfelder in seinem programm s. 7 und 8 und in der „Zeit-
schrift für allg. geschichte" H, 677 fg. 1885 gegebenen treffenden Cha-
rakteristik der Übersetzertätigkeit dieses humanisten sich auch aus den
vorliegenden arbeiten, die ja gleichzeitig mit den früher bekannten ent-
standen sind, nicht gewinnen lassen.
Dagegen möchte ich noch auf eine andere leistuug Plieningens
aufmerksam machen, die von seinen neueren biographen mit stillschwei-
gen übergangen wird, obgleich gerade sie von besonderem Interesse ist.
Plieningen gehört nämlich zu den ersten deutschen Schriftstellern, die
sich um die einführung einer geregelten Interpunktion in deutschen
Schriften verdient gemacht haben. Alexander Bieling weist in seinem
buche „Das princip der deutschen Interpunktion nebst einer übersicht-
lichen darstellung ihrer geschichte" (Berlin 1880) nach, wie die uot-
wendigkeit sorgfältig zu interpungieren sich bald nach der ausbreitung
der buchdruckerkunst eingestellt hat, und wie zuerst Mklas von Wyle
1462 und Steinhöwel 1471, dann erst viel später die grammatiker Kol-
ross 1529 und Ickelsamer 1531 feste grundsätze der Interpunktion auf-
gestellt haben. Die äusserung Plieningens aber ist ihm entgangen; sie
wird auch in der neuesten arbeit über „Die historische entwickelung
der deutschen Satzzeichen und redestriche" von 0. Glöde (Zeitschrift ^
HANDSCHRIFTEN IN DARMSTADT 23
f. d. deutschen Unterricht 8, 6 fgg. Lpz. 1894) nicht erwähnt. Daher
lasse ich sie liier wortgetreu folgen nach dem der Göttin ger nniversitäts-
bibliothek gehörigen exemplar des druckes: Gay Pliny des andern lob-
sagung . . . Durch . . Dietrichen vonn Pieningen . . . getheuscht. Landß-
hiit. Johann Weyssenburger. 1515. Dez. 14. Fol.i In der „Yorrede"
genanten widmung an den herzog Wilhelm von Bayern, die 1511 auf
S. Jörgen tag in München geschrieben ist, sagt der Verfasser (Bl. A iiij
verso): Nun hab ich gnediger Fürst! souil mir möglichen: vnnd (Bl.
A V recto) es vnser muterliche sprach erleiden hat mögen: dy arte auch
dy natur diser lobsagung die Plinius in latin gepraucht hat: mit figu-
ren vnd punctil onuerändert behalten: vii den anhengig pliben! die
wort nit leichtlichen vmbrodt: "Wollicher auch auff die punkte: Auch
auff sich selbs jm lösen merckung haben: vnd auf ains yeden puncten/
aigenschafft zw pausiern sich fleissen -will/ der Avurdet an grosse mue:
die verstantnus pald haben, wo nit: so mochte einem yeden löser nit
allain der sententz sonnder auch dy wort tunckl vnd onuerstendig plei-
ben. dan wie Plinius nichts vberflissigs im latin in diser seiner lobsa-
gung sonnder allain was zur nottorfft vnnd der gezierde gedint: ge-
praucht hat: des hab ich mich meiner verstentnus nach auff dz kur-
tzest: dz auch auf die selben arten/ zu teutsche! auch geflissen. Ich
mächte auch gedecken mancher löser sein Avürde: Der diser od' der
gleichen rode der lobsagüg in irn naturn nit erkent! oder d' puncto
onwissenhaft: were: (daraus doch der mangel der pronuctiation vnd der
geperden entsteen mueste) : der wurde mich meiner kurtz halber strouf-
fen wollen. Den pite ich aber: Das der selbs sich fleiß nach den
puncten zw lösen / So wurdet auff hörn sein onverstäntnus vnd tunckel-
hait / Die puncten habe ich auch mit einer kurtz : (Bl. A v verso) gleich
nach diser Missiuen vnnd vor des püchs anfanng: wie man: nach eins
yeden puncten aigenschafft: pausirn solle: endeckt vn angezaigt.
Die auseinandersetzung über die Satzzeichen lautet dann: (Bl. B
recto) Cj Ich Dietrich von pieningen hab in meiner vorröde verspro-
chen Natur der puncten in einer kurtz : vor anfanng der lobsagung an
zuzaigen das thun ich also /
1) In der Schlussschrift Weyssenbui'gers heisst es: „jm durch herm Dietrichen
von pieningen zu gelassen sub priuilegio jruperiali: mit grossen penen verpunde das
nyemauts dises Buch jn acht Jarn nach trucke soll." Aus diesen werten dürfen wir
vielleicht, zumal da Plieningen 1515 in Landshut ansässig war, schHessen, dass der
Verfasser auch den druck überwacht hat, der uns dann in der von ihm beabsichtigten
form vorläge.
24 A. scnmDT
Cj Aiu punct: ist ain zaiclie das do! oder durch figur oder sein
verziechen: die clausel zertailt! die sty^" vnderschait: das gemuet wid'
erkuckt, vnnd verlast aiu zeit den gedencken. das geschieht oder
durch Verzug des ausprechens vnud der zeit! oder durch zaichen der
feder. Wollicher puncten ainer des andern zaichen ist. Dan Avan der
durch die feder gerecht formirt: so zaigt er dem loser: an de wege:
aus zu sprechen vn verstentliche zu losen, vnd domit thüt er aus
trucken vn ein pilden im selbs vnd den zuhorern dy begirlichen vn
rechte verstendnus der worter vnd der Oration. Es sind auch man-
cherlay figurn der puncten die dan dy versamelten worter: von recht
erfordern thünd. domit die begirde des rodners vn seiner sententz zu
bedeuten Nämlichen tbund dy latinische sechserlay puncten sich ge-
prauche.' Ainer halst virgula / Der ander Coma! Der dryt Colum:
der fierdt Interrogatio / ain fragender punct ^ Der funfft parentesis:
vnnd der letzst periodus;
Virgula: ist ain hangende lini gegen der rechten handt sich auf-
richten / die man ordenliche thüt setzen nach Worten die do noch vol-
bekomenhait der bedewtuus oder worter in mangi stende;
(Bl. B verso) Coma. ist ain punct mit ainem virgelein obe erhebt!
gleicherweis wie die erst virgel: also! wirt geschicklichen gesatzt nach
wortern die do ain volkomen bedeutnus band das man haist ein zer-
tailung. vü wie wol das der zimlichen: nach volkomender bedeutnus
vnnd werten gesatzt: so bezaichet er doch das man der rode so ain
namen ainer clausel behalten noch was nit ongehörlichs zufuegen möge;
Colum. ist ain punct mit zwayen tüpflen also: Wirt schier gleich
mit ainer weniger mere auffhaltung der zeit dann Coma gepraiicht aber
auch: noch so mag was zierlichs angehenckt werden;
Interrogatio. ain frageder punct ist ain püct mit ainem virguli
herumb gekrompt also?
Parentesis. diso puncten prauchent die latinischen so sy in einer
noch onuolendter angefangner clausein eingeworffne worter vnder schai-
den wollend, das thünd sy mit zwayen halben zirckel also (2c.)
Periodus. ist ain punct mit einer virgel vnden angegenckt also ;
wurd gepraucht am ende ains gantzen sententzien.
Das sind die puncto domit man die clausein thüt vnderschaiden
vnd so duYirgulam in deiner aussprechung recht bedeuten wilt: bedarff
der in der pronunction vn der zeit ainer ganntzen kurtzer auff hal-
tung / Coma ainer klainer zeit mere Parentesis : ainer hupffend' auspre-
chung. Der frogend: erfordert seins selbs geperde / Periodus. ains
guete erholten Autemps/das ist mein vnderricht;
HANDSCHRIFTEN IN DARMSTADT 25
Um Plieningens bestrebmigen auf dem gebiete der interpunktion
würdigen zu können, müssen wir uns daran erinnern, dass die bemü-
hnngen seiner Vorgänger Niklas von Wyle und Steinliöwel ziemlich
Avirkungslos geblieben waren. In den beiden ersten Jahrzehnten des
16. Jahrhunderts finden wir in den meisten druckwerken nur strich
und punkt ziemlich willkürlich gebraucht oder mich gar keine Satz-
zeichen. Dass er diesen übelstand erkannte und, als humanist natür-
lich im anschluss an die lateinischen Vorbilder, zu beseitigen suchte,
zeigt uns den schwäbischen ritter als einen denkenden und dabei prak-
tischen mann. Namentlich die allgemeinen sätze zu anfang und in der
vorrede lassen erkennen, dass er sehr wohl wusste, wie notwendig imd
wertvoll die interpunktion für das Verständnis der Schriften ist. Sein
System ist reicher gestaltet als das des Niklas von Wyle und Stein-
höwels, die beide zwischen virgula und punkt nur ein Satzzeichen haben,
wofür jener den doppelpunkt: (Bieling s. 70), dieser unser ausrufimgs-
zeichen! (D. L. Z. 2, 1231) wählt, während Plieningen noch zwischen
Coma! und Colum: unterscheidet. Auffallend ist, dass er in seiner
auseinandersetzung neben periodus ; den einfachen punkt . nicht erwähnt,
der in dem druckwerke selbst ungemein ' häufig vorkommt, während
jenes unserem Semikolon gleich geformte zeichen sich fast nur vor
grösseren absätzen findet. Dies führt uns auf die frage, wie sich über-
haupt die anwendung seiner regeln in dem druckwerke gestaltet. Es
war, wie es scheint, auch in diesem falle leichter die regeln aufzustel-
len, als sie immer genau zu beobachten; denn an vielen stellen, wo
Plieningen unbedingt ein zeichen hätte setzen müssen, fehlt es, an
anderen, wo man mit dem besten willen beim lesen keine pause ma-
chen kann, steht es überflüssiger weise. Auch mit der wähl der ein-
zelnen zeichen können wir uns nicht immer einverstanden erklären.
Für jeden dieser lalle hier nur ein beispiel, die ich den oben mitgeteil-
ten Sätzen entnehme. Ein notwendiges zeichen fehlt zwischen „zu
bedeuten" und „Nämlichen" (s. 24 z. 12), ein überflüssiges steht zwi-
schen „on wissenhaft" und „were" (s. 23 z. 23), falsch gewählt ist die
vii'gula statt des punktes zwischen „tunckelhait" und „Die puncten"
(s. 23 z. 27). Allerdings wissen wir ja nicht, was hierbei auf rech-
nung des ^Verfassers, was auf die des druckers kommt, da die an-
nähme, Plieningen habe die drucklegung selbst überwacht, immerhin
nur eine, wenn auch begründete Vermutung ist.
Sehr sorgfältig interpungiert ist unsere Senecahandschrift; ein
umstand, der die annähme, dass uns eine auf Plieningens veranlassung
angefertigte abschrift vorliege, zu bestätigen geeignet ist. Dass Hart-
26 A. SCHMIDT
felder in dem längeren aus der Consolatio ad Marciam in seinem Pro-
gramm abgedruckten stück die Satzzeichen des Originals durch seine
eigenen ersetzt hat, ist recht schade.
Interessant ist es, die erste zu Landshut 1515 gedruckte ausgäbe
der Lobsagung mit einem trotz den in dem kaiserlichen privileg ange-
drohten „grossen penen" schon fünf jähre später veranstalteten nach-
druck (GAy Plinij des Andern Lobsagung: ... Durch .. Dietrichen vö
Pleninge ... geteütscht. o. 0. 1520. Juli 18. Fol), von dem die Darm-
städter hofbibliothek ein exemplar besitzt, zu vergleichen. Der unge-
nannte nachdrucker (es ist der druckermarke nach Martin Flach der
jüngere in Strassburg) gibt Plieningens interpunktionsregeln getreulich
wider, aber er kehrt sich seinerseits durchaus nicht an die Satzzeichen
des Originals. Manche fehler hat er verbessert, z. b. zwischen „zu be-
deuten" und „Nämlichen" (s. 24 z. 12) setzt er richtig einen punkt, zwi-
schen „onwissenhaft" vnd „were" (s. 23 z. 23) tilgt er das überflüssige
kolon:, in der aufzählung der Satzzeichen (s. 24 z. 14) heisst es bei ihm
richtiger: Der fünfft Parentesis (. Im allgemeinen aber hat er das bestre-
ben Plieningens interpunktion zu vereinfachen, indem er meist statt;
(periodus) den punkt allein, statt coma ! und colon : die virgula / setzt,
ohne aber die drei andern zeichen ganz aufzugeben. Ein rechtes prin-
cip der interpunktion fehlt ihm, vielmehr scheint er schon auf dem
Standpunkt zu stehen, den später Ickelsamer mit den werten ausspricht:
Es leyt auch so vhast nit daran wie die zaichen sein / Aveü allain die
reden vnnd ire tail recht damit getailt vnd vnterschaiden werden.
IL
Heinrich Miiiisiiigers Ibiicli von den Mken, lialbiclitcn , sperhern
und liundcn.
Die für die geschichte der mittelalterlichen beizjagd hoch interes-
sante Schrift Munsingers wurde zuerst 1863 unter dem titel: „Hein-
rich Mynsinger. Von den Falken, Pferden und Hunden" als bd. LXXI
der „Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart" von K. D. Hass-
ler nach einer in seinem besitz befindlichen, 1473 von Clara Hätzlerin
in Augspurg geschriebenen handschrift veröffentlicht. Eine zweite
„noch dem 15. Jahrhundert angehörende" handschrift der reichsgräflich
Nostizischen bibliothek zu Lobris bei Jauer beschrieb Heinrich Meisner
1880 in der „Zeitschr. f. d. phil.." XI, 480 — 482. Die grossherzogl.
hofbibliothek besitzt eine dritte abschrift, die deshalb eine genauere
beschreibung verdient, weil sie nicht nur die älteste bis jetzt bekannte
HANDSCHRIFTEN IN DARMSTADT 27
ist, sondern auch das werkchen in einer augenscheinlich älteren fassung
bietet.
Die in mit rotgefärbtem leder überzogene holzdeckel gebundene
papierhandschrift nr. 448 in 4*' ist 21 cm. und 14,5 cm. breit und be-
steht aus 120 blättern, die vom rubrikator mit den blattzahlen qj —
q CXX. versehen sind. Die Signaturen a ^ — k g rechts unten in den
ecken geben die reihenfolge der blätter an, während die der aus je 6
doppelblättern gebildeten 10 lagen durch die als kustoden auf der letz-
ten Seite jeder läge unten stehenden anfangsworte der folgenden läge
geregelt wird. Die volle seite enthält 24 zeilen, die mit schöner und
sorgfältiger deutscher schrift beschrieben sind. Überschriften und blatt-
zahlen sind rot, einzelne buclistaben und worte im texte rot durch-
gestrichen oder unterstrichen, die einfachen kunstlosen initialen, für
die der Schreiber dem rubrikator kleine schwarze buchstaben an den
rand gesetzt hat, sind rot oder schwarz mit roten Verzierungen.
Der Inhalt der handschrift (D.) ist folgender: Auf blatt la begint
ohne jede Überschrift die widmung, die ich hier vollständig abdrucke,
da sie mit der Hasslerschen handschrift (H) und der Lobriser (L) nicht
ganz übereinstimmt. Die nur selten vorkommenden abkürzungen löse
ich auf, die fehlende Interpunktion (in der hdschr. finden sich nur
wenige striche und punkte) füge ich bei.
HOchgeborner, gnediger, lieber herre: Als vwer gnade die
von angeborner arte zu adelichen dingen vnd zu allem dem, das
den adell geczieren magk, furtrefi'liclien geneyget ist, zu den zcijten,
als ich zcum lösten zu weybelingen bij derselben vwer gnade gewe-
sen bin, mir geboten halt zu dutschtem vnd jnn dutsch zu beschriben
Solichs, das die Philosophi vnd meistere von der natuer der falcken,
der hebich, der Sperber Ynd darczu auch von der natuer der hunde
jn latine beschrieben haut, Ynd domit auch waz sie von derselben jre
nature geschrieben haut, als die yczu jn gebresten vnd suchte gefallen
ist, wie man die mit arczenye zu gesuutheit (bl. Ib) widderbriugen
solle: Also gnediger, lieber herre nach dem vnd es billich ist, das ich
nach allem mynem vermögen derselben vwere gnaden jn den vnd jn
andern Sachen jtzunt vnd zu allen zcijten gehorsame vnd willig sij. So
hau ich hie jn diesem buche nach begrifflichkeit myner synne vnd
nach vermogunge myner vernunfft mit der hulff gotis volnbracht solichs,
das mir vwere gnade also jn den obgeschrieben stucken zu thunde
geboten halt, mit solicher ordenunge vnd wijse, das ich daz Buche
jnn dru teyle geteylet han. Vnd das erste teyle diß buchs saget von
den falcken, Das ander von den hebichen vnd von Sperbern, Vnd das
28 A. SCHMIDT
dritteyle saget von den hunden. Vud ein jglich teyle halt sin vnder-
sclicydt vnd Cappitel (bl. 2 a) nach dem vnd man sie nacheinander
ordinglichen geczeichent findet. Vnd vor dem anfangt eins jglichen
vnderscheidt vnd Cappitel, so findet man mit roter schrifft geschrieben,
wo von die redde des Cappitels vnd vnderscheidt saget, als es auch
liio jn diesem register hirnachgeschrieben geschrieben stett.
Auf bl. 2 a 9 — 9 b 3 folgt nun das register über die drei teile des
ganzen werks. "Während in H. die register und zwar nur über die
hauptkapitel vor den einzelnen teilen stehen, sind sie hier zu einem
gesamtregister vereinigt und enthalten neben den kapitelüberschriften
auch sämmtliche rubriken mit angäbe der blätter, wo die betreffenden
abschnitte zu finden sind.
Bl. 10 a — 117 a 1 geben den text der drei bücher. Der erste teil
begint ohne hauptüberschrift mit: „Das erste Capitel das saget, wie die
falcken vnd die hebiche vnd auch die Sperbere nit eynes geslechtes
sint" und schliesst bl. 61b 13 mit: „Vnd domit halt ein ende diß erste
teile diß ßuchs daz da saget von den falcken." Es schliesst sich un-
mittelbar die Überschrift des zweiten teiles an: „Das ander teyle diß
Buchs ist das da saget von den hebichen vnd von den Sperbern" etc.
Ende bl. 103a 9: „Vnd domit hait das anderteyle diß buchs ein ende,
das da saget von den hebichen vnd den Sperbern." Der dritte teil
beginnt bl. 103a 10: „Das dritte vnd leste teyl diß buch jst daz da
Sagett von den hunden vnd ist geteylt jnn dru Capitel" etc. und endet
bl. 117a 1: „Vnd domit hait auch ein ende dritteteyl diß buchs vnd
domit daz gantz buche, das gemacht hait Meister heinrich Munsinger,
Doctor jnn Arczenij 2c'. dem woilgebornen herren Ludewigk Grauen zu
Wirtenbergk 2c'.
Der Schreiber fügte dann noch zu: Deo gracias (rot.)
Also hait diß buch ein ende,
Got wolle vns von sunden wende.
Lobe vnd ere sij got geseyt
Vnd marien der reynen meyt.
Anno domini millesimo quadrin- | gentesimo Sexagesimo | sexta post
onuiium sanctorum (letzte zeile rot). Johannes glockener zu vrsel 2c',
hait I diß Bnchelin geschrieben |
Die schon liniierten und foliierten blätter 117b — 120b sind leer.
Über die früheren besitzer der handschrift gibt sie selbst keine
auskunft. Wenn das einliegende blatt mit einem von Daniel Moser in
Göppingen unterschriebenen rezept „Für die Vogelsucht" von einem
der eigentümer stammt, muss sie von Ursel in die heimat des Verfassers
Handschriften in darmstadt 29
zurückgo wandert sein. Von dort brachte sie wol der Hessen -Darmstäd-
tische leibmedicus und professor in Giessen Johann Daniel Horst (iG16 —
1685, vgl. Strieder YI, 195 fgg.), der in Tübingen promoviert, hatte,
lind dem sie nach dem Jiing'schen kataloge der Darmstädter bibliothek
von 1717 s. 398 vormals zugehört hatte, nach Darmstadt. Zu ende des
17. Jahrhunderts wird sie bereits in dem ältesten erhaltenen handschrif-
tonkatalog der landgräflichen bibliothek als deren eigentum aufgeführt.
Aus der obigen beschreibung der handschrift D ergibt sich, dass
Munsingers schrift in ihr aus drei teilen besteht, während in H. und
L. zwischen dem zweiten und dritten teile ein weiterer abschnitt „von
den pferden" eingefügt ist, so dass hier die hunde im vierten teil
behandelt werden. In den allen handschrifteii angehörigen drei teilen
ist der text in D. und H. ziemlich der gleiche, nur bietet D. fast
durchweg bessere Jesarten, die manche dunkle stelle in Hasslers abdruck
zu erhellen vermögen. Da voraussichtlich die schrift nicht so bald mit
benutzung aller handschriften herausgegeben werden dürfte, lasse ich
hier die hauptabweichungen der handschrift D. von H. folgen, soweit
sie zur erklärung des textes etwas beitragen.
Seite 2, 28 des Hassler'schen textes ist davon die rede, „das das
geschlächt der häbich vierlay sey", es werden aber nur drei arten
genannt. In D heisst die stelle bl. 10 a 13: Vnd also vnder dem namen
falcken begrieffen sie beyde die hebich vnd die Sperbere vnd fürbaß
vnder dem namen habiche begrieffen sie den Sperbere, wann sie spre-
chen, das das gesiecht der habiche vierley sij. Das erste heißent sie
den großen babich, vnd das ander, das darnach großer ist, heißent sie
Tritzelin, Das dritte heißent sie Sperber, Das vierte heißent sie muscer.
Statt „muscer" hat H. immer „mustet", ein wort, das nach Lexer I,
2258 nur bei Munsinger vorkommt und von Lexer = müs-toet? gesezt
wird. Albertus Magnus, Munsingers quelle, hat „muscetus" (= frz.
mouchet). In Munsingers original stand wol muscet, und beide abschrei-
ber haben das ihnen unverständliche wort falsch widergegeben. Ein
späterer Übersetzer, Walther Kyff (Thierbuch. Alberti Magni. Franck-
fort. 1545) übersetzt dieses wort mit „Wanneber'', wozu Lexer III, 682
wannen -wehe und Diefenbach-Wülcker, Hoch- u. ndd. Wörterbuch
s. 894 wannen -weher zu vergleichen sind.
2, 2 V. u. muss es statt „allem widerm vederspil" heissen „an-
derm". Derselbe lesefehler des abschreibers von H. oder Hasslers kommt
öfter vor, so s. 16, 22: „So fahen sy tauben vnd nit vogel" statt „tau-
ben vnd antfogel".
10, 4 st. vermischet lies vermißt.
A. SCHMIDT
13, 8 denn — haißens 1. den — lieißent.
13, 27 st. der Marck 1. denmarckt (= Dänemark).
18, 3 st. als sy tünd 1. als man nu.
18, 18 st. in Clusen 1. jnn Küssen; st. in S wenden 1. jun Swed-
den (Schweden).
20, 13 st. gewel, die man vnderweilen macht von vedern vnd
vnderweilen von pamöle 1. geweile die man ynderwylen von feddern
macht vnd vnderwijlen von Baumwollen. (Albertus Magnus lib. 23
cap. 17: purgatoria quae vulgariter Germani guel vocant, et fiunt ali-
quando de pennis, sed melius fiunt de bombace.)
27, 13 1. übereinstimmend mit dem original cap. 18: gense miste
oder tuben miste vnd die vber Rinde von der worczeln des baumes,
den man nennet Eiben, vnd wachssen bij dem wasser, Vnd sal man
die Rinden sieden jnn wasßer als lange biß das wasßer dauon Roit wirt.
27, 19 1. So sal man nemen Roit wachsß vnd muscaten vnd die
fruchte, die zu latein heisßent mirabolones Citrini vnd koment vber
mere here, vnd findet man sie jnn der apoteken, vnd steyne salcz,
daz man auch jn der appoteken findet vnd heißet zu latin Sal gemma
vnd ist glich als yse, vnd ein harcz, heißet zu latin Gummi arabicum,
vnd etwann viel korner von kern (= grana tritici) etc.
28, 5 st. vernychen 1. vermischen.
28, 25 st. sincket das ayter 1. smacket dasselbe eyter vbel.
30, 7 und 8 v. u. 1. wer es an der zcijt, das man sieben (st.
flech) funde. So mochte man vff den flecken treuöfen drij droppen von
dem sieben safft (st. flehen). (= acacia quae sunt pruna spinarum sil-
vestrium.)
31, 1 st. schwarwoll 1. scharewollen.
31, 6 st. zu stund 1. vff zcwo stunde.
31, 23 st. so sol man nemen von der Hawt ains rauchen ygels
1. So sal man nemen von der hut eyns rohen slijgen (= abstrahatur
cruda pellis piscis quae tincha vocatur, quem Germani sligen vocant).
33, 21 1. sprachen segen, wann sie des morgens den falcken vff
die band namen; dafür fehlt 33, 23 so haben sy die gesegent, das der
Schreiber von H. zugesetzt hat.
34, 6 V. u. st. der Ar, der da vich faucht 1. der are, der da
fische facht.
35, 10 st. der ze vil ist 1. der zu vol ist.
35, 7 V. u. st. die herfliegen 1. die sie erfliegent.
36, 2 1. VOrbaß ist zu wijssen, das der Sperber nach dem latiu-
schen namen, den er halt, heißet (st. paißet) begirig. (Albertus Magnus
HANDSCHRIFTEN IN DAKMSTADT 31
lib. 23 s. 194a 1 der ausgäbe Venetiis 1519 foL: Nisus ... a nisu hoc
est conamine prede sie vocatur.)
43 zwischen zeile 6 und 7 fehlt in H. ein ganzer absatz: Wann
der habich luse hait 2c'. Saltu also vertriben: Du salt nemen wechhol-
der mit Rinden vnd alle, vnd eynen Rick dem habich daruß machon
vnd yne darufi' stellen, vnd yme zcwo ader drij mentschen luse an
sinen halß lauffen laßen, vnd so der habich ein zcijt vff dem Rick also
gestanden hait, vergeen die luse gantz vnd gar.
47, 13 V. u. st. sol es in seinen mund nemen 1. sal wyne jnn
sinen mundt nemen.
48, 22 hat D. richtig vor, nicht von.
48, 1 V. u. st. mit Eppfkrautt fest zesamen vermischen 1. mit
Eppenkrut safft.
52, 7 1. in dem kopff.
52, 8 st. solen 1. vlen.
53, 22 1. Dann wann es also ist. So kan er vor lenge des sna-
bels das asß nit verslinden.
55, 2 V. u. 1. Hait das federspielo die febres vnd viele vnnatur-
liche hitze. So sal man yme geben das safft von dem krude, das man
heisßet buckeln oder Bijfusß mit hunerfleisch zu essen.
56, 4 V. u. st. gundelres 1. Gundelrebe.
57, 10 1. als die Appteker thunt, so etc. st. vnd so.
58, 5 V. u. 1. Darnach sal man yne stellen vff ein dennen oder
Saigon Stangen, d. h. auf eine stange- von tannen- oder weidenholz.
(Albertus Magnus lib. 23 cap. 23 super lignuni Salicis aut abietis seni-
per sedeat.) Hasslers „Tennen oder felchen Stangen" gibt ganz fal-
schen sinn.
89, 22 1. Ynd wan sie wunt sint, so ist yre zcunge etc.
90, 4 V. u. 1. jnnewendig wole suber werden.
91, 23 st. damit 1. vnd nit.
93, 1 V. u. st. üiech 1. flöhe.
93, 3 V. u.: in D. steht richtig anderswo hat.
94, 1 V. u. st. gerent für milich 1. gereute sure milche == geron-
nene sauere milch. Statt „gereute" von geronnen (Lexer I, 878), das
ihm wol nicht verständlich war, setzte der abschreiber von D. geremte,
wobei er vielleicht an „abgerahmt" dachte. Albertus Magnus lib. 22
bl. 175 a hat: lac acidum et bene commixtum.
95, 24 1. vnd den kopff woil schern st. beswarn. (Albertus Mag-
nus lib. 22 bl. 176b: caput radatur et bene depiletur.)
nARMSTADT. ADOLF SCHMIDT.
32 SPRENGER
ZU EEmKE DE VOS.
3774. Isegrim sprach: „ivat scJwlde dat wesen,
Dat ik nicht scholde lesen, wat yd ock sy?
Ja, dudesch, tvalsch, latin, ok franxoss dar by.
Hcbbe ick doch to Er fort de scliole ylieholdenl
Ock hebbe ick myt den tvysen olden
Qiiestien yhegeuen unde sentencien.
scliole holden bezeichnet jetzt in Niederdeiitschland allgemein die tätig-
keit des lehrers. Da aber diese bedeiitung hier nicht in den Zusam-
menhang zu passen scheint, und man im Reinaert v. 4048 fg. der älte-
ren ausgaben liest:
op Westvalen ende Provin
(liebbik) geyaen ter hager scolen,
so bemerkt Lübben in seiner ausgäbe des Reinke Oldenburg 1867 in
der anmerkung zu v. 3778 auf s. 258 (vgl. auch das glossar unter Itol-
den): „(fe schale Jiolden hier vom schüler gesagt, der die schule be-
sucht." Ihm hat sich auch Karl Schröder in seiner ausgäbe (Leipzig
1872) angeschlossen, indem er ausdrücklich erkLärt: schale (gc)halden
nicht „schule halten" sondern „die schule besuchen", während in Fr.
Prions ausgäbe (Halle 1887) die stelle unerörtert blieb. Auch im Mnd.
wb. bd. 4, s. 111 wird v. 3778 ähnlich erklärt durch: „habe ich mei-
nen Unterricht empfangen = studiert."
Nun liest aber E. Martin in seiner ausgäbe des Reinaert, Pader-
born 1874, s. 217 V. 4038 fg.:
Op Westvalen ende te Pravijn^
hebbe ic die Scalen gehouden.
Da also der niederdeutsche text sich auch an dieser stelle als genaue
Übersetzung des niederdeutschen erweist, und da jeder nachweis fehlt,
dass das mnl. scole lioiiden wie das mnd. scliole holden in anderer als
der jetzigen bedeutung vorkommt, so sind wir genötigt, uns nach einer
anderen erklärung des ausdrucks umzusehen. Nach meiner meinung
heisst de schale holden auch hier nichts anderes als „schule halten"
und erklärt sich aus dem damaligen studiengauge der Universitäten.
Diese teilten sich bekanntlich in die vier fakul täten der theologie, Juris-
prudenz, medicin und der „freien künste". Die artistenfakultät war
den anderen untergeordnet und vertrat die stelle unserer gymnasien:
1) Martin vermutet einl. s. XXU mit recht eine entstelhing dieses verses und
möchte lesen: te Westvalen op d'Erfortijn. In der Delffter prosa heisst es: ie hebbe
terffortden ter scolen ghegaen.
zu EEINKE DB VOS 33
unter der leitiing eines magisters hatte der scholar zunächst hier einen
lehrgang durchzumachen; dann wurde er baccalaureus und hatte als
solcher weiter zu studieren, zugleich aber sich selbst lehrend zu
versuchen (vgl. F. Kurze, Deutsche geschieh te im mittelalter. Stutt-
gart, Göschen 1894 s. 178). Da aber die erlangung der magisterwürde,
welche an diese Vorbedingungen geknüpft war, von einem jeden gefor-
dert wurde, der in eine der höheren fakultäten eintreten wollte, so
geht daraus hervor, dass Reinke, der es nach v. 3781 zum licentiaten
der rechte gebracht hat, auch selbst lehrend aufgetreten sein muss. Es
scheint aber durchaus angemessen, wenn Reinke seine Sprachkenntnis
dui'ch die bemerkung zu erweisen sucht, dass er in Erfurt die würde
eines magisters der freien künste erlangt habe.
NORTHEIM. R. SPRENGER.
MITTEILUNGEN AUS MITTELHOCHDEUTSCHEN
HANDSCHEIFTEN.
Im nachlasse des am 12. juni 1812 an der landesbibliothek zu
Wiesbaden angestellten, am 4. december 1817 entlassenen und am
9. Oktober 1858 zu Endenich bei Bonn gestorbenen dr. Helferich
Bernhard Hundeshagen finden sich die nachstehenden stücke 1 — 4
in säubern abschriften vor, die derselbe wol herausgeben oder jeman-
den mitteilen wolte. Da Hiindeshagen 1817 nach Bonn zog und gänz-
lich herabkam, unterblieb diese absieht.
1. Liebesbrief ^
Vil liber brif, nun var mit heil,
Du gewinnest aller seiden teil.
Als ich dich bescheiden kan.
Dich sieht mein frouwe selber an.
5 Daz were [ist] dir ein groze er.
Dir widervert noch eren mer.
Darumb sei [Davon bis] fro, daz ich dich sende,
Sie beut nach dir ir weissen [weisse] hende.
1) Dieses interessante stück ist nach einer aus Regensburg durch v. Gemeiner
mitgeteilten handschrift (original?) abgedruckt im Morgenblatt für gebildete stände
1815 nr. 167; vgl. Zeitschrift f. d. alt. 36, 358. Der ältere druck enthält zahlreiche
abweichungen von dem hier durch Roth gebotenen texte, die ich — soweit sie ganze
woi-te betreffen — in klammern oder unter dem texte hinzufüge. o. e.
ZEITSCHEIFT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XXVM. 3
34 ROTH
Dir mag- noch mer werden kimt,
10 Si list dich mit irem roten mund.
Daz wolte got, daz selbes [halb es] mir
Mocht wider varn, waz man dir
Grozer ere dort enbeut [erbeut]!
Wie selig wer mir solche zeit!
15 So var nun hin, du verst mit ere,
Und grnzze mir die minnigliche here,
Gruz mir iren rosen varben mund,
Gruz sie von mir zu tausend stund,
Gruz mir ir wenglein rosen var,
20 Graz mir ir spilden auglein klar,
Gruz mir ir helslein hermelnweiss [harminweiss],
Gruz die übe mir mit fleisz,
Gruz mir ir herz und iren sinn [ire sinne],
Gruz mir meines herzens konigin [königinnej,
25 Gruz mir ir danch und iren mut,
Gruz mir die herzens frouwe gut.
Gruz mir sie, der ich gutes gan,
Gruz sie von mir eilendem man,
Und sag ir meinen dienst von herzen gar,
30 Sie möge [Ich lass sie] wissen offenbar.
Wie ich getracht hab lange stund,
Dass [Wo] ich ein frouwe finden kunt.
So [Die] minnigliche wer gestalt.
Mit züchten fro, zu rechte bald.
35 Der wolte ich mich eigen geben.
Mein leib und mein leben.
Ich bin fro, ich hab gefunden,
Wan ich bey meinen stunden
So trautes [liebes] lib noch nie gesach [nie ich sach].
40 Euer äuge in mein herze brach.
Da ich zuerst euch erblickte [an erblickte],
Vor vrouden ich erschrickte,
Ich dachte, daz solde sie [die] sein.
Die mir so [mir die] senecliche pein
45 Keren [Wenden] sol, die ich getragen
35 — 37: Der wolte ich füi' eigen geben Beide leib und leben Nun wol ich
hab euch funden
I
MITTKILUNGEN AUS MHD. HANDSCHRIFTEN 35
So [Hab] lange her bey meinen tagen.
Ir seid [seit's] ein engel an gemüte,
Und eine turteltaub an gute,
Der tugend [Und seid der tugend ein] blühender stam;
50 Gepreist sei [Des ist gepreist] euer edler nam!
Ir seid gebild von gotes banden,
An euch ist kein fei vorhanden.
Ach herzens liebste [herze liebe] frouwe mein,
Nu lazzet an mir werden schein,
55 Daz euch die werlt des besten gicht,
Ich hab kein ander [doch andre] hofnung nicht,
Als die ich gen euch frouwe [froue gen euch] han.
Des solt ir mich geniezen lan.
In meinem herzen seid ir verslossen,
60 Dar inne seid ir gar vervlossen,
Darin must ir gehauset sein
Nu bis [Nun stets bis] an daz ende mein.
Ob euer gute mir heiles gan.
So helfet [ratet] mir eilendem man,
65 "Wo ich euch [Wo die] heimlich mög ergan,
Daz ich euch frouwe wol getan
Kan sprechen, als ich willen han
Und doch on allen valschen wan.
Nu lieber brif, bis mir [mir ein] guter bot,
70 Damit verleih der liebe got,
Dazu alles himelische her,
Daz sie sich üblich gen mir ker.
Amen.
3. Vom mönch Felix ^
Ein heyliger mönch einest was,
Der gerne von got las,
Was er geschriben fand.
Der was Felix genant.
52 Dess seid ir gar on allen wandel
1) Jüngere, gekürzte bearbeitang der bei Hagen Gesammtabenteuer III, 613 —
623 abgedruckten legende; andere Fassungen bei Grimm, Altdeutsche wälder II, 70.
Zeitschr. f. d. a. V, 433. Pfeiffer, Germania IX, 260. Vgl. Wackernagel, Litt.-gesch.
I^, 214. Gering, Islendzk a^ventyri II, 120 — 122. Zu den dort erwähnten moder-
nen behandlungen des Stoffes ist nachzutragen: Elise Polko, Neue novelleu, 6. folge
(Leipzig 1866) s. 277 fgg. red.
3*
36 BOTE
5 Des morndes ging er
Mit einem buch aus dem münster,
Alda er zu lesen began
Und traf diese stelle an,
Dass in dem himel were
10 Stets freud one schwere
Ewiglich one ende.
Bejde äugen und hende
Erhob er zu dem herrn:
0 got, ich glaubte das gern,
15 Was diss buch mir spricht,
Doch ich begreife es nicht.
Da kam ein vogelein,
Das war gar merklich cleyn.
Doch tat es so minniglichen sang,
20 Dass der mönch aufsprang.
Und das buch verschloss.
Sein freud die war gross.
Im ward noch nyemals so wol,
Sein herze war freuden voll.
25 Das Beste, so im gescheen was.
Das hoechst, so er an büchern las
Dunckte im kein freud zu sein
Als der gesang des vögeleyn.
Wer es hörte singen,
30 Dem wars wie Harfen klingen.
Alle tone waren nit so süsse
Wie dieser Tone grusse.
Dem heilig mann
Nun in sinnen kam,
35 Dass er mögt das voglein fangen,
Da flog dasselb von danneu.
Er sprach: Eya, lib vögeleyn
Du hast erfreut das herze meyn.
Mir dauchte gleich
40 Ich war im hymelreich.
Deiner stimme klang
Ist über allem menschlichen gesang.
Ze band eine glock erklang,
Ze läutende den mittag gang.
i
MITTEILIjyGEN AUS MHD. HANDSCHRIFTEN *>'
45 Da begann der mönch zu bangen,
Dass er nit ins kloster gangen.
Grross reu er da empfing,
Gegen die pfort er eilends ging.
Der pfortner zur pforten lief,
50 Der mönch aussen rief:
Eva bruder lass mich eyn!
Der pfortner sprach: wer magst du sein?
Ich bin der mönch Felix gnant,
Dem abte wol bekant.
55 Wye seid ir her gekomen,
Hab nye was von dir vernomen.
Dreissig Jar seind es an der zeit,
Dass ich mich diesem haus geweiht,
Doch ich dich nimmer sach.
60 Der mönch zum bruder sprach:
0 lasse deynen groben spott.
Auch ich sah euch nye, bey Gott!
Ich ging vom münster zur prim.
Gar grosse freud ich da empfing
65 Von eynem kleinen vögeleyn.
So gross ward die Freude meyn,
Dass nicht gang ins kloster eyn.
So ist mir die zeit entpflogen
Und ward ich um die stund betrogen.
70 Der pfortner red gar unverdrossen:
Die pforte wird nicht aufgeschlossen,
Ich kann euch nicht einlassen.
Drum gehet gemut euer Strassen.
Der mönch begann zu flehen,
75 Er solle doch zum abte gehen,
Dass er zur stelle käme
Und seine red vernehme.
Der pfortner zu dem abte ging
Und sagte im den anbeging.
80 Ein mönch steht vor der pforten
Und spreche offenbar von werten
Er sei gewesen vierzig Jar
In diesem kloster gar.
Der abt die Ältesten nam
38 ROTH
85 Und vor die pforte kam,
Doch keiner hat in je gesehen.
Da hiess in der abt ins siechhaus gen,
Wo ein viel alter mönch gelag,
Den frng der abte um die sach.
90 Der sprach: Do ich war novitius
Und läse in canonibus,
In diesem kloster ein mönch was,
Der gern von got las,
Der was Felix genant.
95 Zur prime zeit er einst entschwand,
Der ist jetzt zurück gekommen,
Das soll dem kloster frommen,
Ein vil heiliger man
Do in das kloster kam.
100 Felix war es gewesen eine stund an zeit,
Die däucht im eine ewigkeit,
Von stund an er gern von got las
Und von got begriff er das,
Dass des himels freude one ende
105 Der her den seinigen zuwende. Amen.
3. Unser lieTbeii fraiieii ritter^
Eyn ritter kün und weiss,
Sucht ritterlichen preiss,
Dabey from und dugenthafft
Maria zugethan in grosser krafft
5 Und liebe, die er ir
Stets bot in frommer zier.
Er wolt zu eyni turney
Gewinnen ehren mancherley
Nach ritters art einst reiten.
10 Am müuster sah er die mess bereiten.
Der ritter dachte fromm im sinn
Zu hören eine mess zu ehr Marien.
Er ging ins münster und hört die messe bass,
Doch als die messe nicht zu ende was,
1) .Jüngere, gekürzte bearbeitung der bei Hagen G. A. lU, 466 fg. Hahn,
Passional 142, 75 fgg. abgedruckten erzählung. bed.
MITTEILUNGEN AUS JIHD. HANDSCHRIFTEN
15 Hub schon eine ander an.
Da wolt er nicht von dannen gähn
Bis die zu end gesprochen war.
So blieb er in dem Gottes haus
Bis Mittags war die letzte messe aus.
20 Als alles gebracht zum ende was,
Er schnell auf sein ross gesass
Und reitet eilig zum turney
unwissend, dass es längst vorbey.
Die leute ritten im entgegen
25 Und lobten ihn als wackem degen
Auf Työst und schwerthieb fest
Noch keiner sei also gewest.
Je keinen ritter sye gesehn
So kühn die ritterschafft begehn,
30 Dass er mit seinem grossen mut
Erstritten viel hohes gut,
Dass ihm ein hohes los gefallen
Ehr, Preis und gut vor allen.
Den ritter nam gross wunder das,
35 Do er nicht beim turney was,
Alsbal(f er begann zu schauen
Ein wunder unser lieben frauen,
Die gestritten hat für in.
Erzält, dass er am turney kein gewin,
40 Dass er nicht dabey gewesen,
Dieweil er im münster messe hören lesen.
Drumb ihn sein hoher sinn
Zog ganz zu Marien hin,
Marien weiht er seine ritterschafft
45 Im closter mit aller tugend kraft,
Zu ir zog in sein ganzer sin
Zu des himels konigyn.
4. Diz ist ein segeii für den Riten. ^
Eit vil böse ich beswere
Dich bey der heiligen lere.
Die got in dem Jordan hat entphangen,
1) Parallele zu dem Ztschr. f. d. a. 17, 430 mitgeteilten fiebersegea. red.
39
40 ROTH
Daz du am dritten tag seyst vergangen.
Eit du solt gedencken,
Daz sich Jhesus Christ liss hencken
An daz frone crucze here.
So virmide mich heut und immermere.
Do Jhesus an der marter hing
Und seyn bitter leyd anfing,
Do sprach ein Jude in seinem spott:
Hast du den riten, herre gott?
Wan ich den Kiten nit enhan
Und ich den riten nye gewan,
Noch der in nymer darf gewynnen,
Der disse wort gesprechen kan:
Ez ging sich über lande
Der gut herre sante
Johannes.
Da kamen zwen vnd sibentzig riten gegangen: Herre meister,
wo wolt ir hin? Da wil ich in diesen walt und wil zwey vnnd sibent-
zig widen hawen und wil euch binden. Herre meister, daz lant sin,
wir wollen euch geloben, daz wir nimmer kommen an, ez seye frauwe
ader mann, der dis wort gesprechen kann.
5. Ein new lied von Hans und Lieuhardt dem VitteP.
1. Nun wollen wir aber heben an
Ein newes lied zu singen,
Was zu Augspurg gesehen man.
Es soll mir wol gelingen.
Vittel Hanss ist er genant,
Vorm kaiser er gelegen wäre
Um ein Sach, das sag ich euch fürwahre.
2. Er kam gen -Augspurg eingeritten
Wohl in die werte Stadt,
Wann er thät nach seinen Sitten,
Und auf das Rathaus er trat.
Auf dem Rathaus solt er geschworen han.
Das wollt er nicht gethun.
Er wollts vor dem kaiser austragen lan.
1) Nach stark verunstalteter Überlieferung mitgeteilt bei Liliencron, bist. Volks-
lieder nr. 149.
MITTEILUNGEN AUS MHD. HANDSCHEIFTEN 41
3. Er stund bis auf den andern Tag,
Man eilet also gach,
Hans Yittel an den Eisen lag,
Lienhardt thät man es auche.
Das Recht liess man über sie gehn,
Ihr Leben mussten sie geben.
Sollt das sejn Recht oder Eben.
4. Sie hiessen inen Dinten und Feder bringen,
Ein Brief thaten sie schreiben
Iren Kindern vor allen Dingen
Und ihren ehelichen Weihen:
Um Unschuld müssen wir sterben,
So hilf uns Maria die reine Magd,
Lass uns dein Kind Gnad erwerben.
5. Fürsten und Herren mit Bitten anliegen
Herzog Albrecht hochgeboren.
Dem Bischof war sein Bitt verzigen,
Dem Abt von Sant Ulrich verloren
Und andern mehr Thumherrn,
Dabey sechshundert Fräuwlein
"Wolt man ihr Bitt nit gewähren.
6. Man zog die Sturmglocken an,
Die Söldner zogen dort here,
Da liefen die Frauen und Man
Und weinten gar sere.
Sie stiegen die Berlachstigen hinab,
Sie traten Hende und Füsse, ich sag.
Man meint, es kam der jüngste Tag.
7. Und da man die Vittel führt am Tage
Und man ausrufen wolt lan.
Vor manicher grosser Klage
Das Rufen könnt man nit verstahn.
Da stunden die Vittel die werthen Leut,
Sie riefen dem Schwartzen dahere
Und redten im an sein Ehre.
8. 0 Schwartz, du bist ein rechter Dieb,
Umb Unschuld willst du uns tödten,
"Wir haben dir kein leid gethan nie
Und stehn in grössten Nöthen.
42
Um Unschuld müssen wir sterben,
So hilf uns Maria die reine Maid,
Lass uns dein Kind Gnacl erwerben.
9. und da sie auf die Eichtstatt kamen
Und jeder sein Beicht het gethan,
Die brüder von einander Urlaub nahmen:
Ach Bruder durch Gott solt du ablan.
Durch Gott solt du vergeben.
Was wir um Unschuld leiden müssen^
So faren wir ins ewig leben.
6. Wie man den Schwartzen richte
1. Augspurg ist eine werthe Stadt,
In einem Jahr eben, ja eben
Dem Burgermeister es do gabt
Gar an sein Leben, ja Leben.
Die Vittel thaten die Warheyt sagen,
Drumb man diesen ihr Haubt abgeschlagen,
Dem Kurtzen es an das Leben ging,
Schwartz und Taglang an dem Galgen hing.
2. Der Schwartz nahm sich an des Handels viel,
Do er nur an der Steuer sass im Sause,
Es war ihm gar ein eben Spiel,
Da er das Geld in Hüten aussmasse.
Mangmeister wollt kein Theil daran han.
Er hub sich auf und schlich von dann,
Mangmeister ihm that Verrath,
Und legt die Sache hintern Rath.
3. Bleib morgen daheim mein Herre,
Seine Frau gen den Schwartzen sprach.
Mir hats geträumt, ein Traum gar schwere,
Dass man euch morgen fach.
So schweig, so schweig, lieb Freüwelein,
Bist du Kaiserin, so will ich Kaiser sein.
Die Gewalt will ich über sie han.
Bin gar ein listiger man.
4. Des Morgens da er ging in Rath,
Man ihn mit den andern fangen that,
1) Sehr abweichend bei Lüiencron, bist, vollislieder nr. 150.
MITTEILUNGEN AUS MHD. HANDSCHRIFTEN 43
Den Schwartzen warf man an die Eisen ein,
Er hat geschenckt Most für Wein,
Er hat gestohlen also viel.
Mehr, als ich euch sagen will,
Mit seinen guten Gesellen,
Die haben ihm helfen stehln.
5. Der schwartz Kapp macht ein Capittel,
Da musten sterben beyde Vittel,
Da sah man Weib und Kleinen
Allenthalben auf den Gassen weinen.
Des Kappen Nest das wurd zerstört,
Da Jesus Christus Jahrzahl wehrt
Im Jahr mit einem M geschrieben,
Yier C, ein L, zwey X und sieben.
6. An des aprillen achtzehenten Tagen
Für das Rathaus kam ein Wagen,
Den thät der Schwartz betreten.
Auf denselben zu sitzen empor
Ihn zum Galgen führen vor das Thor.
Da ward nm ihn kein Beten,
Manniglich sich erfi'euen that,
Dieweyl er das Hencken verdinet hat.
Nr. 5 und 6 aus handschrift des 15. — 16. Jahrhunderts, zwei
blätter folio, in Hundeshagens nachlass.
GEISENHEDI. F. W. E. ROTH.
DAS CHEONOLOGISCHE VEEHÄLTKES VON STßICKEKS
DANIEL UND KAEL.
Fast allgemein nahm man bisher an, dass des Strickers poetische
tätigkeit mit der dichtung seines Artusromans Daniel von dem blühen-
den tal begonnen habe (ausser den litteraturgeschichten vgl. besonders
Bartschs einleitung zum Karl s. III); begründet wurde diese ansieht
immer einzig und allein "durch die mancherlei freiheiten in spräche
und Versbau, die der Daniel gegenüber des Strickers andern werken
zeigen sollte (obwol man darüber eigentlich ohne Untersuchung der
handschriftlichen Überlieferung und ohne ausgäbe des gedichts gar kein
44 LEITZMANN
urteil haben konnte), und die man nur einem anfänger glaubte zu gute
halten zu können. Die Chronologie der andern gedieh te des Strickers
war schwankend: einige setzten den Karl, die erneuerung des alten
Rolandslieds vom pfaffen Konrad, unmittelbar nach dem Daniel an;
Bartsch versuchte in der oben citierten einleitung eine reihenfolge zu
begründen, wonach der Karl etwa in den beginn der zweiten hälfte
von des Strickers dichterischer produktion, jedenfalls nach dem frauen-
lob gefallen sein solte. Fest schien aber immer das zu stehen, dass
der Daniel des Strickers erstes werk war. Nur bei Wilhelm Grimm
finde ich in einer allerdings erst nach seinem tode gedruckten abhand-
lung „Deutsche wörter für krieg" eine andere auffassung; dort heisst
es bei gelegenheit des wortes ivigant (Kleinere Schriften 3, 527): „mer-
kenswert ist Stricker, weil er in seinem Karl das wort absichtlich in
allen den stellen übergeht, wo er es bei dem pfaffen Konrad vor sich
hatte — nur erscheint es einmal in dem später gedichteten Daniel
und zwar im reim", wozu Grimm in der anmerkung hinzufügt:
„Stricker hat es aus Roland, denn der Daniel ist später gedichtet."
Wie Grimm sich diese ansieht begründete, habe ich nicht auffinden
können; trotzdem er sie so sicher ausspricht, hat sie doch niemals
jemand geteilt.
In jüngster zeit nun hat Gustav Rosenhagen, der erste her-
ausgeber des vollständigen Daniel textes, in seinen Untersuchungen über
Daniel s. 110 und in der ausgäbe des gedichts s. IX, unabhängig von
Grimm und ohne seine eben citierte ansieht zu kennen, die zeitliche
Priorität des Karl vor dem Daniel behauptet. Die kritiker seines
buches haben sich nach beiden selten hin entschieden: Seemüller hat
seiner ansieht ohne rückhalt zugestimmt; Meier und Singer haben —
allerdings ohne nähere begründung, als dass sie bekannten von Rosen-
hagens argumenten nicht überzeugt zu sein — sich abweisend dagegen
verhalten. Bei gelegenheit der besprechung von Rosenhagens arbei-
ten für diese Zeitschrift 27, 543 hatte ich mich eingehend mit dieser
frage zu beschäftigen und will meine gleichfalls von Rosenhagen abwei-
chende ansieht hier des genaueren darlegen.
Zunächst wären also Rosenhagens argumente für die priorität des
Karl zu entkräften, was nicht schwer faUeu kann, da sie tatsächlich
(obwol er s. 112 bemerkt „die angeführten stellen beweisen nun klar
und deutlich, dass der Karl älter ist als unser gedieht") auf sehr
schwachen füssen stehen. Er findet nämlich, dass die stellen im Da-
niel, welche die Avirkung des geschreis des tieres schildern, notwendig
die Schilderung der Wirkung von Rolands blasen auf dem hörn Olifant
STEIOKEBS DANIEL UND KAEL 45
im Karl, der dem Rolandsliede nacherzählt, voraussetzen; die betreffen-
den stellen (Roland 10, 4. 18. 214, 30; Karl 772. 7096; Daniel 752.
2900. 2944. 5746. 5766) hat er daher zweimal (Untersuchungen s. 110
und ausgäbe s. X) neben einander gestelt; ich brauche sie nicht aus-
führlich zu eitleren. Mir scheinen die geschilderten dinge zu sehr auf
der band liegend und zu einfach, als dass man überhaupt an „remi-
niscenzen" zu denken brauchte. Der schall des tieres und des hornes
ist so gross, dass keiner den andern hören kann, und dass viele vor
schrecken und betäubung wie tot zur erde nieder und von den rossen
fallen. Diese naheliegenden Vorstellungen sind in allen drei gedichten
schmucklos ausgedrückt, zwingende wörtliche Übereinstimmungen sind
nicht zu entdecken. Ich bekenne mich von Rosenhagens beweisführung
gänzlich unüberzeugt und glaube, dass andere bei vorurteilsfreier betrach-
timg denselben eindruck haben werden.
Wir müssen also auf einem andern wege zur entscheidung der
chronologischen frage zu gelangen versuchen. Bei der vergleichung
des Stils aller drei werke nun kann man folgende für die prioritäts-
frage recht wol verwertbare beobachtung machen: der Daniel ist
durch den Roland in sprachlichen Wendungen beeinflusst,
die im Karl, auch an den dem Roland entsprechenden stel-
len, entweder vermieden oder doch nicht mit der verliebe
wie im Daniel gebraucht sind. Das material ist nur gering, doch,
wie mir scheint, nur so richtig zu deuten:
ie haz u?ide bax (Roland 1, 24. 159, 2. 265, 10) steht Daniel 5225.
6488; im Karl fehlt es an allen drei stellen, steht dagegen 10512;
später ist es ein lieblingswort des Strickers (vgl. frauenlob 1338.
1581; gäuhühner 17; melker Sammlung 7, 193);
eilen (Roland 10, 9. 39, 16. 190, 12. 196, 9. 211, 19. 218, 7.
221, 8. 222, 4. 225, 23. 226, 4. 227, 2. 233, 3. 273, 18.
300, 8) steht in der formelhaften Verbindung baldez eilen Daniel
992. 3180. 3928. 5598, im Karl nur 7292. 7584;
ergremen (Roland 142, 9. 146, 5. 226, 21. 266, 23) findet sich im
Daniel 1142. 7480, im Karl nur 5122 (vgl. auch Amis 1905);
goltmäl (Roland 174, 6) steht Daniel 5120; im Karl ist die stelle ver-
ändert;
xebrechen sam daz huon (Roland 135, 16) wendet der Stricker im Da-
niel zweimal an (2761. 3191), wo auch sonst (3512. 4429) das huhn
in vergleichen auftritt; im Karl steht die wendung nur an der ent-
sprechenden stelle (4643);
46 LEITZMAXN, STRICKERS DANIEL UND KARL
qneln (Roland 29, 33. 197, 1) begegnet im Daniel 2094. 2520. 3756.
3916, im Karl nur 5652;
den vergleich der^kämpfer mit arbeitenden schmieden finden wir zwei-
mal im Roland (145, 18. 174, 8), zweimal im Daniel (3626. 5050),
aber nur einmal im Karl (5124); vgl. darüber meine Zusammenstel-
lung in Paul-Braunes Beiträgen 16, 356;
sin herze ime spilete (Roland 210, 29) reflektiert sich in si?i herze vor
vreuden spute (Daniel 3012), während an der entsprechenden stelle
im Karl die wendung vermieden ist;
entwischen steht Roland 75, 13 und Daniel 3293. 3392 (wo auch 3648.
5173 hin wischen und 4397 üf wischen vorkomt), während es im
Karl fehlt;
endlich sei bemerkt, dass das schöne poetische bild si begunden einan-
der vären mit des tödes knehtoi (Karl 6592: gemeint sind tötliche
Verwundungen, nicht, wie Bartsch in der anmerkung erklärt, die
Waffen) nur verstanden werden kann, wenn den zuhörern die stelle
im Daniel 4054 er begimdc im solhe siege geben, die wol des tödes
hnehte viohten stn mit rehie bekant war, an die es deutlich erinnert.
Gibt man mir richtigkeit und tragweite dieser beobachtung zu,
so hätten wir uns die dichterische entwicklung des Strickers etwa so
zu denken. Mehr als durch alle zeitgenössische höfische dichtung fühlt
sich der Stricker von früh an ergriffen und erfüllt von der urwüchsigen
kraft und lebendigkeit der deutschen dichter des 12. Jahrhunderts, vor
allem vom Rolaudsliede, das ihm frühe als eine art kanon erzählender
poesie erschienen sein muss. Sein erster schriftstellerischer versuch ist
der Daniel, im Inhalte teilweise ein kompromiss mit der ihm unsympa-
thischen herrschenden geschmacksrichtung, in form, stil und färbe stark
beeinflusst vom Rolaudsliede. Mangelnder erfolg und -wol auch erstar-
ken der eigenen Selbständigkeit heissen ihn dann die bahn des höfischen
romans, auf der ihm lorbeern nicht beschieden waren, verlassen; er
modernisiert sein geliebtes Rolandslied, wobei er jedoch die im Da-
niel noch vielfach hervortretende archaistische färbung der spräche und
des Stils vermeidet; die grosse zahl von handschriften , in denen uns
der Karl überliefert ist, spricht dafür, dass sein beginnen beifall und
anerkennung fand, wenn er auch natürlich dem geist der Vergangen-
heit, den er verehrte, nicht die herrschaft über die gegen wart erringen
konnte. Erst später hat er dann im gebiete der kleinen erzählung, die
er zum ersten male zur meisterschaft bringt, das richtige feld der tätig-
keit für sein talent gefunden.
ERDMANN, ZUE TEXTKRITIK DES GEEGORIUS 47
So muss es denn doch bei der alten ansieht, dass der Daniel
des Strickers frühstes werk ist, der Karl erst sein zweites,
meiner Überzeugung nach sein bewenden haben.
WEDIAE, 14. OKTOBEE 1894. ALBERT LEITZMAXN.
ZUE TEXTKEITIE VON HAETMANNS GEEGOEIUS. I.
Eine neue ausgäbe des Gregorius auf grund des durch die auf-
findung der Konstanzer handschrift (K) sowie der lateinischen Über-
setzung Arnolds von Lübeck (herausgeg. von G. v. Buchwald. Kiel
1886) erheblich erweiterten und verbesserten materiales der textkritik
ist ein dringendes bedürfnis. Ich hatte eine solche selbst in angriff
genommen, bin aber von diesem plane zurückgetreten, seitdem dr.
K. Zwierzina in der Zeitschr. f. d. alt. 37, 129 — 217. 356 — 416 seine
eingehenden Studien über den wert und die gruppierung säramtlicher
Gregoriushandschriften veröffentlicht und mir mitgeteilt hat, dass er
selbst die Veranstaltung einer ausgäbe beabsichtige. Möge dieselbe nicht
zu lange auf sich warten lassen! Vielleicht können ihr die beobach-
tungen und bemerkungen in etwas zu gute kommen, die ich — um
meine vorarbeiten und namentlich meine vergleichung der hss. K und I
(jetzt in Berlin auf der königl. bibliothek, Germ. qu. 979) nicht ganz
unbenutzt zu lassen — in dieser Zeitschrift veröffentlichen will, und
zwar zunächst zu dem texte der einleitung, den Zwierzina Ztschr. f. d. a.
37, 407 fg. nach IK und den in G erhaltenen fragmenten konstruiert
hat. Ich zähle die 170 verse der einleitung für sich; am anfange des
hauptwerkes würde ich raten, von neuem mit 1 zu beginnen, um die
in aUen lexikalischen und grammatischen hülfsmitteln eingeführte Zäh-
lung Lachmanns beibehalten zu können.
5 fg. Zwierzina schreibt: daz rieten im (dem herzen) diu tum-
ben jär; die Verbesserung des nü in K ist sehr ansprechend und kann
sich gegenüber dem mir der in der einleitung oft wenig zuverlässigen
handschrift I wol behaupten. Was den Inhalt der ganzen stelle betrifft,
so brauchen die tumben, d. h. jugendlichen jähre noch gar nicht
vorbei gewesen zu sein, als der dichter diese verse schrieb; vielmehr
passt die entgegengesetzte annähme, dass sie noch in Hartmanns frühere
zeit zu setzen sind, viel besser zu v. 12 — 16, was schon Naumann
Ztschr. f. d. a. 22, 40 mit recht betont hat. Die ansieht Schönbachs,
der in seinen Untersuchungen (Graz 1894) s. 455 den Gregorius sogar
I
48 ERDMANN
später als den Iwein ansetzen will, findet in dieser stelle der einlei-
tung ebenso wenig eine stütze wie in den bisherigen beobachtungen
über spräche, stil und versbau beider dichtimgen. — Y. 6 hat, wie ich
glaube, K die echte lesart: nu iveiz ich doch clax für ivär, vgl. z. b.
Iw. 1188 icli tveiz doch ivol, daz ex geschach. 1623 7iu iveix ich doch
ein dinc ivol. Wenn IG beide für doch ein ivol setzen, so ist darüber
ebenso zu urteilen wie über viele ähnliche fälle, die Zwierzina selbst
37, 393 angeführt hat. — 7 lese ich auch in K des, nicht der, w^as
Zwierzina angibt.
21 fg. sind von Zwierzina, wie ich glaube, richtig hergestellt.
Über den rührenden reim rihtet : bfejrihiet s. zu 99 fg.
28. K bietet ohne anstoss: und solt im sin sele; das 7nit in Gl
halte ich für einen unechten zusatz, veranlasst vielleicht durch das mit
in V. 27.
36 fg. deutet der text von K auf die ursprüngliche fassung: ze,
sprechenne vo?i tvärheit, daz gotes wille waere = wahrhaftig (etwas)
zu reden (d. h. dichterisch vorzutragen), das Gottes wille wäre (d. hJ
Gottes willen entspräche). Mit v. 38 fg. wird dann ein wider auf 36l
zurückgreifender folgesatz angereiht: und (so zu reden), dass die grosse
last meiner Sünden etwas geringer werden möchte. 40 ringer ist durcl
IK sehr gut bezeugt; dagegen wird die lesart von G geringet empfoh-
len durch Iw. 4264 geringet wart ir schoene.
41. Von dem in I und mit voller deutlichkeit auch in K über-
lieferten missekeit == missecheit abzugehen liegt kein grund vor. Das
wort war bisher nur belegt im Pass. 58, 20: si (Christus und Jacobus)
ivdren an dem antlitze vil nach geVich beide äne missecheide; es kann
hier entweder ebenfalls bedeuten: abweichung , verschiedenes oder un-
stetes benehmen (indem Hartmann sich bald mit göttlichen, bald mit
irdischen dingen beschäftigt habe); oder es bedeutet: abweichung vom
rechten und guten, bosheit oder Sündhaftigkeit, vgl. 46 missetät.
51. In K ist (mit recht) ein abschnitt bezeichnet, nicht in I. Die
mehr oder weniger häufig in allen handschriften — teils durch Zwi-
schenräume, teils durch Initialbuchstaben — bezeichneten abschnitte
durchweg anzugeben, halte ich für pflicht des kritischen herausgebers.
57. elliu sündigiu diet; die in K überlieferten adjectivformen
sind nicht zu ändern.
60. noch ist wol nur zusatz von I; das überlieferte deheiner (K
mit geringer Verderbnis: da kainer) ist nicht zu ändern.
71 steht in K hinter der ein m mit einem /-punkte darüber;
das bedeutet bei diesem Schreiber: iyn, wie gleich darauf 74 ün, ebenso
ZUR TEXTKRITIK IJES GREGORIUS 49
41 miner, 103 sinne, 281 ungewinne und oft ähnliche Wörter mit erspa-
riing eines Striches geschrieben sind. Diese von dem Schreiber von K
gemeinte fassung der im sicJi niht enruoclie ist vielleicht die ursprüng-
liche; vgl. das Mhd. wb. 2, 798'' zweimal aus geistlichen gedichten
(fi-eilich ohne dativ) belegte reflexive riiochen. Der sinn wäre dann:
(Gott,) der ihm sich nicht rücksichtsvoll (d h. gnädig, barmherzig) be-
weise; vgl. 138. Geläufiger freilich, aber in keiner liandschrift bezeugt,
ist Zwierzina's: der sin 7iiht e?iruoche. Sonst stimme ich in der her-
stellung der satzreihen 66 — 78 fast ganz mit Zwierzina überein; nur
betrachte ich 69 als beginn des nachsatzes zu 64 fgg. und halte in 70
das er für fehlerhaften zusatz von K.
84. mos, welches in der bedeutang sumpf recht gut in den
Zusammenhang passen würde, scheint mir durch I gegenüber GK zu
wenig gestützt zu sein. Ich schreibe mit GK: noch gebirge noch
tvcdt, so dass auch dieser vers wie 82 und 84 ein par von gegensätzen
enthält.
97: abschnitt in K, nicht in I.
100. I: er was kotnen in im gehalt; K: er ivas komen in ir
ivalt. Das zweite halte ich für das richtige, da gehalt Mhd. wb. 1, 623
nur in jüngeren quellen belegt ist, und auch nicht genau in der hier
geforderten bedeutung. Der gebrauch rührender reime wie gewalt :
walt bei Hartmann ist noch festzustellen, vgl. oben 21 fg.
108. vingerbluz aus ungehloss K halte ich für eine glückliche
conjectur Zwierzina's, obwol mir der ausdruck sonst nicht bekannt ist.
110. dene heit in K ist doch wol zu ändern in done het = do
ejihet.
123. In K steht: warbende (vgl. 15 arstarb, 16 aricarb u. v. a.)
= tverbende I; Zwierzina's iveibende verstehe ich nicht, doch aus I
beizubehalten habe ich keinen grund.
138. beruochen conjiciert Zwierzina wol richtig aus vcrruochen in
K, da dieses in einer hier passenden bedeutung sonst nicht belegt ist.
148. 149 sind von Zwierzina glücklich hergestelt.
154 halte ich für richtig (nach K): ob ieman %e gotes hulden,
mit Überladung des ersten fusses. I hat: ob ex %e g. h.
KIEL. 0. EKDMANN.
ZEITSCHRIFT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XXVIII.
50 STOSCH
BEITElaE ZUR EEKLÄEUNG WOLFEAMSi.
I.
1) Parz. 1, 15 fgg. diz vliegende Mspel
ist tumhen Uuten gar xe snel,
sine mugens niht erdenken:
tvand ez, Ican vor in tvenken
rehte alsam ein schellec hase.
Diese stelle, auf welche man wol mit recht die bitteren worte von des
hasen gesellcji in Gottfrieds Tristan 4636 fgg. bezieht, hat — wie es
scheint — auch noch einen andern dichter, den Stricker, zu einer
polemischen anspielung bewogen. Doch knüpft er nicht wie Gottfried
an das bild von dem hasen, sondern an das von dem fliegenden bei-
spiel an. In seinem „Frauenlob" (Ztschr. f. d. a. VII, 478 fgg.) verkün-
digt er nämlich v. 86 fgg. ein gedieht,
daz, i7i den sinnen höhe sivebe
und iedoch in der mä^e
da^ ichs, niht v liegen lä^e
nach sinem wilden onuote,
daz, ichz, so habe in huote
daz, man ez> rincUchen sehe
unde im doch der hoehe jehe
daz, ez, niht an schrien
weder die krän noch wien.
Die vorstellimg von dem fluge des maeres ist ja im mittelhochdeut-
schen nichts ungewöhnliches (vgl. Myth. * 747, Grimm z. Freid. 136, 3,
Frommann z. Herb. 13704 u. a.); aber die nachdrückliche betonung des
Strickers, dass sein frauenlob nicht nach stnem luilden muote fliegen,
sondern in massiger höhe sich halten solle, um weder unverständlich
noch trivial zu werden, scheint doch nur motiviert durch die annähme,
dass er einen bestimmten autor dabei im äuge hatte, dessen vliegendez,
bispel gar xe snel war. Er hat dann den ausdruck, wie auch Albrecht
im j. Tit. Str. 50'^, einfach wörtlich genommen, während Wolfram doch
offenbar meinte: „Dies gleichnis von etwas fliegendem, nämlich von
der elster."
1) Diese beitrage bilden die fortsetziing zu den Zeitschr. f. d. alt. 37, 138 fgg.
veröffentlichten,
2) Nach Lachmanns abdruck (str. 46 bei Hahn): Diu flüge dirre spelle fuor
den tufnben Uuten für oren gar %e snelle.
ZUR ERKLÄRUNG WOLFRAMS 51
Die Vermutung, dass die angeführte stelle aus dem „Frauenlob"
eine spitze gegen Wolfram enthalte, wird dadurch bestärkt, dass in
demselben gedieht noch eine zweite äusserung auf ihn gemünzt zu sein
scheint. Es heisst nämlich wenige zeilen später, v. 120 fgg.:
solt ich die not besorgen,
iva2, si sprechen begimden,
die niht gemerken künden
iva$ ich sagte oder sprceche,
uns, ich die schulde gerceche:
das, borgen unt das, gelten
die brühten Ithte ein schelten
iveis, ich selbe, ivas, ich sage
und ivelher verte ich nach jage,
son darf 7nans, diutschen Hüten
niht an der st unt bediuten.
Die Worte erinnern lebhaft an die bekannte Willehalmstelle (237, 8 fgg.),
wo Wolfram über die dunkelheit seiner ausdrucks weise scherzt:
seht ivaz, ich an den reche,
den ich diz mcere diuten sol:
den z-cetne ein tiutschiu spräche wol:
min tiutsch ist etsivä doch so krump,
er mac mir lihte sUi ze tump,
den ichs niht gähs bescheide:
da siime ivir uns beide.
Auch das wort rechen kehrt, wie man sieht, beim Stricker wider.
Angeregt sind die beiden polemischen stellen im „Frauenlob"
offenbar durch Gottfried von Strassburg, der ja gleichfalls den vlndce-
ren ivilder mcere, bei denen er gewiss zunächst an Wolfram dachte,
vorwirft (4682 fg.):
si müez,en tiutcere
mit ir mceren läs,en gän.
Natürlich kann Wh. 4, 19 fgg., wo der dichter von vielen tadlern
seiner muse spricht, der Stricker nicht mit eingeschlossen seiu: seinen
angriif hat Wolfram wol nicht mehr erlebt.
2) Parz. 12, 27 fg. : swer selbe sagt, wie ivert er st,
da ist lihte ein iingelonbe b'i.
Bartsch: „solcher aussage wohnt leicht ein Unglaube (von selten der
hörenden) bei." Ähnlich Simrock: „da steht Unglaube jedem frei."
Was ein ungeloube heisst, ergibt sich deutlich aus einer stelle in dem
beispiel „Des vögleins lehren", das Pfeiffer in der Ztschr. f. d. a. VII,
4*
52 STOSCH
343 fgg. veröffentlicht hat. Eine gefangene lerche erkauft sich leben
und freiheit dadurch, dass sie dem vogelsteiler drei gute lehren mit-
teilt; die eine davon lautet v. 13 fg.:
swä ein ungeloube geschiht,
des sult ir ouch gelouben niht.
Fortfliegend redet das vöglein dem manne dann vor, dass es einen
edelstein, grösser als ein straussenei, in seinem magen trage. Als aber
der leichtgläubige über den verlust unglücklich ist, ruft es v. 32 fgg.:
du hast übergangen
mine lere und min gebot.
nu verbot icli dir hl got
niht %e glouben das, vncere^
daz, ungeloubec ivmre.
Also ein ungeloube ist etwas unglaubwürdiges, ein mcBre, das, ungelou-
bec ist. In derselben konkreten bedeutung haben wir das wort oben
bei Wolfram: „wer sich selbst rühmt, sagt leicht etwas unglaub-
würdiges, eine lüge mit dabei."
3) Parz. 15, 22: das, er ivas gegenstrttes vri
vor ies liehe m einem man.
An der Wortstellung ieslichem einem nehmen Bartsch und Bucheuau
(Über gebrauch und Stellung des adjectivs in Wolframs Parzival, Strass-
burger dissertation 1887, s. 23) mit unrecht anstoss. einem ist hier
nicht unbestimmter artikel, sondern zahlwort; es heisst nicht „vor
einem jeden" sondern „vor jedem einzelnen manne." Nur mehrere
gegner zusammen waren Gahmiu-et gewachsen, so dass er eigentlich
wie Gramoflanz (604, 12 fgg. 685, 4 fg. 15. 705, 19 tgg. 707, 24)
niivan mit xivein hätte kämpfen müssen.
In ganz analoger weise findet sich ein gebraucht Iav. 5347 tg.:
lüande ie sin einer slac
vaste ivider ir ziveüi ivac,
wo der neueste herausgeber nicht von seinen Vorgängern und Paul
(Beitr. I, 386) hätte abweichen sollen, sin einer (so A, ainiger dl)
slac ist keineswegs gleichbedeutend mit ein sin slac, sondern heisst
„der einzige schlag von ihm" und steht gegenüber den zwei schlagen,
welche gleichzeitig die beiden gegner tun. Eine reihe von handschrif-
ten liest allerdings sin eines slac, wie Henrici in den text gesezt hat.
Gregen diese lesart spricht aber das folgende wider ir %ivei7i: es müsste
vielmehr, um den gegensatz zu sin eines auszudrücken, tvider ir
xweier siegen lauten. Die Überlieferung von Adl wird ausserdem, wie
Paul a. a. o. gezeigt hat, durch das frz. original bestätigt.
ZUR ERKLÄRUNG WOLFRAMS 53
4) Parz. 367, 19 fgg.:
min herre mir geivalt tvil tuon,
20 durch daz, ich hän decheinen suon.
mir sulen ouch tohter lieber stn
siver sol mit stner tohter wein,
25 swie ir verbote?i st de§ swert,
ir teer ist anders als ivert:
si ericirht im, kiuschecliche
einen sun vil ellens riche.
des selben ich gedi7igen htm.
Bartsch sucht in der gesperrt gedruckten zeile unnötig Schwierigkeiten.
Er bemerkt: „der ausdruck ist dem erb rocht entnommen und lautet
vollständig teilen und iveln, wobei der ältere bruder zu teilen, der
jüngere zu wein pflegt. Wem als erbschaft vom Schicksal eine
tochter zufällt." Allein dann müsste es doch wol heissen eine
tochter wein, nicht aber mit sin er tochter tveln^. Dieses kann
nur bedeuten „vermittelst seiner tochter wählen", imd dass objekt ist
aus dem zusammenhange zu ergänzen, ausserdem im nachsatze v. 28
noch ausdrücklich genannt. Lippaut redet von einem söhn, den ihm
das Schicksal versagt hat. „Was schadet's?" tröstet er sich, „mir sind
tochter sogar lieber. Denn wer sich durch seine tochter einen söhn
(sc. Schwiegersohn) wählen soll — si erwirbt im usw." Der sinn ist:
„durch tochter kann ich mii- söhne wählen, während ich den eignen
söhn nehmen müsste, wie ihn das Schicksal bescherte. Darum siden
mir tohter lieber stn.^'- 25 und 26 enthalten einen zwischengedanken.
Die juristische formel teilen und iveln kommt also in dem bezeichneten
verse gar nicht in anwendung.
5) Parz. 487, 1 fgg. Von dem kargen, nur ans wurzeln und
kräntern bestehenden mahle, das Parzival bei Trevrizent genoss, be
merkt der dichter:
sivas, da tvas spise für getragen,
beliben si da nach ungetivagen,
das, enschadet in an den ougen niht,
als man fischegen handen giht.
Auch im Wälschen gast 526 wird das reinigen der bände nach der
mahlzeit mit rücksicht auf die äugen empfohlen, da^ ist hilf seh und
guot xen ougen; und Petrus Alfonsi sagt in der disciplina clericalis
1) In ähnlicherweise ist das mit von Bartsch misverstanden 826 , 30, worüber
weiter unten.
54 STOSCH
(ed. F. W. V. Schmidt, Berlin 1827) c. XXVIH, 9: post prandium
manus ahlue, quia pliysieiim est et curahile. ob hoc ermn multorum
oculi deterioi^antur, qnoniciDi j^ost prandium manihus non
ablutis tercju7itur. Aber warum spricht Wolfram grade von „fischi-
gen" händen? Galt die berühruug der äugen mit ihnen für besonders
schädlich? Ich finde das in der mhd. litteratur sonst nirgends ausge-
sprochen i, obwol doch das verhalten- bei tische darin häufig genug
erörtert wird. Die in rede stehende bemerkung des dichters erklärt
sich wol einfach aus dem tage, an welchem der besuch Parzivals bei
dem einsiedler statt fand: es war der karfreitag (448, 7. 470, 1), an
dem ja fische wegen des fastengebotes die gewöhliche speise waren,
die meisten menschen also nach dem essen eben „fischige" bände
hatten.
6) Parz. 817, 28. Bei der taufe des Feirefiz zählt der priester
verschiedene heilsame eigenschaften des wassers auf:
25 von wa^^er boume sint gesaft.
tvas,z,e7~ früht al die geschaft,
der man für creatiure giht.
mit dem waz,z,er man gesiht.
ivaz,z,er git maneger sele schtn,
30 das, die engl niht Hehler dürften sin.
Zeile 28 wird gewöhnlich dahin verstanden, dass das wasser das äuge
„frisch und sehkräftig" mache (vgl. Bartsch und die Übersetzer). Ich
glaube aber, das ist nicht gemeint: die stelle ist vielmehr ganz wört-
lich zu nehmen. Nach der ansieht des mittelalters, die wir aus Kon-
rad von Megenberg kennen, lag nämlich in der wässerigen füllung des
auges (dem sg. glaskörper) die Sehkraft: K. v. M. 10, 9 fgg. Baz, aug
ist gesetzt in sibcn röche, da^ sint siben häulel, da mit ist diu er is tal-
lisch fäuht verhüllt^ dar an des gesihtes kraft ligt. 93, 10 fgg.
(der blitz kann den menschen blind machen.) da^ ist da von, da§ er
im die cristallischen fäuhten verprent in dem augapfel, dar
an des gesihtes kraft ligt. Nach dieser auffassung konte Wolfram
den priester wol sagen lassen: „vermittelst des wassers sieht mau."
7) Parz. 825, 9: mit triwen milte an äderstoz,.
Seine frühere erklärung (Germ. 7, 302 fg.), dass statt äderstdz, mit d
1) Mit unrecht vergleicht K. Hofmann (Münchener SB 1864 II, 188 fg.)
Helmbr. 783 fgg.: het ich dan alle visclie, im twalä bi viinem tische durch e^^en
nimmer iuwer haut. Hier handelt es sich ja um das handwaschen vor dem essen.
Nach Bartsch soll allerdings in Mecklenburg der aberglaube bestehen, dass fischige
bände den äugen schaden.
ZUR ERKLÄRUNG WOLFRAMS 55
understöz, zu lesen sei, hat ßech nach den benierkimgen Scherers in
der Ztschr. f. d. österr. gymnasien 1869 s. 833 (= Kleine Schriften I,
376) selbst zurückgenommen (vgl. Germ. 19, 55 fg.). Obwol eine ent-
scheidende parallelstelle leider noch fehlt, kann der sinn von mute an
äderstdz, doch kaum zweifelhaft sein: „freigebig ohne pulsschlag", d. h.
„ohne erregung, ohne Widerwillen", also etwa gleichbedeutend mit Hart-
manns mute äne riiiwe (Er. 2735, vgl. auch Wh. 462, 8) oder "Walthers
(84, 13) man sach Linpoltes hant da gehen, das, si des niht erschrac.
Eine reihe ähnlicher ausdrucks weisen hat Bech in seinem zweiten auf-
satz (Germ. 19) zusammengestellt. Ich möchte hier noch auf eine nie-
derdeutsche redensart aufmerksam machen, welche die Verwendung von
äderstö^ in dem gedachten sinne zu stützen vermag: dar sleit my
nick en ade?' na = „das ficht mich gar nichts an, das beunruhigt
mich nicht." Vgl. Brem. wb. I s. v. ader und Kosegarten, Wörterbuch
der nd. spräche s. 119, wo die formel aus Firmenich I, 292 für das
Münsterische belegt wird. Ohne nähere geographische angäbe verzeich-
net sie Berghaus, Der Sprachschatz der Sassen I, 10 1. Im Mnd. wb.
fehlt sie.
8) Parz. 826, 29 fg.: hie solte Ereck nu sprechen:
der kund 7nit rede sich rechen.
Bartschs erklärung „w»Y rede, was reden betrifft; es könnte auch heissen
der künde rede reellen'"'' ist unzulässig. Soll rede hier in dem sinne von
oratio stehen, so kann mit rede sich rechen nur heissen „mit werten sich
rächen, schelten." Das wäre aber im zusammenhange höchst trivial;
auch schalt Erec Eniten ja nicht, sondern bestrafte sie vielmehr durch
harte Zumutungen für ihr warnendes reden. Folglich bleibt für das
vorliegende mit rede nur die bedeutung „nach gebühr, wie es recht und
billig war" (= adv. redelichc)., die Benecke z. Wig. 1605 [tnit rede het
er den valschen man) belegt hat'; und es ist zu übersetzen: „der
wusste gehörig (ordentlich) sich zu rächen."
1) Nach mündlichen mitteilungen ist sie auch in Göttingen und Witzenhausen
bekannt.
2) Vgl. auch M. v. Craon 2, wo es Schröder mit recht gegenüber Haupts ände-
rung wider eingesetzt hat.
IvIEL, J^VNUAE 1895. JOHANNES STOSCH.
56 DÜNTZER
DER AUSGANG VON GOETHES TASSO.
Das vollendetste drama des meisters der darstellung und lösung
von herzensirrungen hat die entschiedensten misurteile und misdeu-
tungen hervorgerufen, nicht durch eigene schuld, sondern weil man bei
der beurteilung des „Tasso" den begriff von dramatischer handlung zu
beschränkt fasste und beziehungen auf des dichters leben hereintrug,
worüber man den dichterischen faden übersah, 'ler die ganze dichtung
durchzieht und zu lebendiger einheit zusammenschliesst. Und doch
hatte Goethe, als er an der Vollendung des „Tasso" arbeitete, Herders
gattin gebeten, ihn nicht zu deuten, obgleich er viel deutendes über
seine eigene person habe; dadurch würde das stück ganz verschoben,
dessen sinn die disproportion des talentes und des lebens sei; was
doch nur heissen kann, diese werde in dem Schauspiel durch den erlit-
tenen Verlust überwunden. Leider geht die vorwaltende richtung der
neuern Goetheforschung darauf aus, persönliches in seinen dichtungen
auszuspüren, in dem beiden immer Goethe selbst, in den andern per-
sonen abdrücke seiner bekannten zu entdecken ; ja man will uns neuer-
dings gar einreden, ein hauptfehler seiner dramen liege darin, dass
sie biographisch seien. „Selbsterlebtes in Goethes Tasso" hat
Wilhelm Büchner im 15. bände des „Goethe -Jahrbuchs" ausgeführt^
wobei er an das in Eom im februar 1787 der frau von Stein gemachte
bekenntnis anknüpft, dass der gedanke, sie nicht zu besitzen, ihn auf-
reibe und verzehre. Die äusserung desselben briefes: „Ich bin heute
konfus und fast schwach" wird mit dem bekenntnis von Goethes prin-
zessin an Leonore zusammengestellt, sie sei geschwätzig und verbärge
besser, wie schwach und krank sie sei. Von diesem archimedischen
punkte geht der neue entdecker aus, um das vermeinte rätsei zu lösen.
Wahr ist nur, dass bei der frühern dichtung der beiden ersten akte
die glühende liebe zu frau von Stein ihn so mächtig erregte, dass er
einmal gegen diese äusserte, was er heute geschrieben, sei als anruf
an sie gewiss gut, aber er wisse nicht, ob auch als scene und an der
stelle; und zweitens, dass bei der spätem umdichtung er der idealen
Schwärmerei für die beherrscherin seiner ersten elf Weimarer jähre ent-
sagt hatte, die bei der kälte, womit die geliebte den aus Italien heim-
kehrenden empfing, und bei dessen natürlichem verlangen nach sinn-
licher befriedigung, die er in seiner Christiane gefunden, nicht bestehen
konte. Übergangen wird, dass er schon auf der seefahrt nach Sicilien
einen plan des ganzen „Tasso" entwarf, und dass jener brief an frau
von Stein der letzte ausbruch seiner wilden leidenschaft war, dass er
DER AUSGANG VON GOETHES TASSO 57
dieser schon in Palermo schrieb, sein herz sei bei ihr und wider
brenne und leuchte die schöne flamme der liebe, treue und
anhänglichkeit. Deshalb kann der schmerz, den ihm zwei jähre
später die völlige abweudung der gekränkten geliebten von ihm erregte,
auf die handlung des dramas keinen einfliiss gehabt haben, wenn auch
die ausführung von der damals ihn häufig ergreifenden bewegten
Stimmung begünstigt werden mochte. "Wol zu beachten war, dass der
dichter auch die Schwungkraft besitzt, sich in die seinem wirklichen
zustande widersprechendste läge zu versetzen, ohne die ein dramatiker
gar nicht denkbar ist. Dass der schluss genau ebenso in der gleich-
zeitigen Seelenstimmung Goethes wurzele wie in den beiden ersten
akten, ja der bruch mit Charlotte und dessen verboten während Goe-
thes italienischer reise (?) die Vorbedingung für den abschluss der dich-
tung gewesen seien, beruht auf blosser Verwechselung des schon in Palermo
entworfenen planes mit der erst im Spätherbst 1788, nach abschluss des
„Faust", begonnenen, bis zum sommer 1789 erfolgten ausführung. Wenn
Büchner sagt, zurückgedrängte liebe mache Tasso wie Goethe unglück-
lich, so war im dichter damals die leidenschaft der liebe zu frau
von Stein längst gelöscht; nur wünschte er, ihr allerinnigstes vertrauen
möge ihm bleiben, empfand schwer ihre kälte und ihren bitterern
groll. Dagegen wird Tasso unglücklich, als er seine glühend ausgebro-
chone liebe von der prinzessin entsetzt zurückgewiesen und so das
höchste glück seines lebens zerstört sieht. Solche vergleichungen füh-
ren eben zu nichts; sie zerstieben wie nebelbilder, wenn sie als beweise
dafür dienen sollen, selbsterlebte zustände hätten die dramatische fabel
eingegeben, zu welcher der dichter die Überlieferung umgeschaffen hat.
Auf den spuren Schölls wandelnd, behauptet Büchner (s. 184):
„Goethe entlässt uns mit dem gedanken, dass Tasso in einer furchtbaren
gefahr schwebt." Er kenne sich so wenig mehr, dass er die Zuflucht
sogar bei Antonio suche, obschon er in ihm den felsen sehe, an dem
er scheitern sollte. Man verkenne die bedeutung der schlussverse:
Ich fasse dich mit beiden armen an.
So klammert sich der schiffer endlich noch
Am felsen fest, an dem er scheitern sollte,
wenn man in ihnen etwas anderes sehe als den versuch eines abschlus-
ses. Was damit gesagt sein soll , verstehe ich nicht. Freilich ist es ein
abschluss; es handelt sich nur um den sinn dieses abschlusses, den
wir nicht als einen versuch, sondern als eine dem dichter endlich ge-
lungene ausführung betrachten. Nur genaue auslegung mit besonderer
58 DÜNTZER
erwägung des Zusammenhangs kann darüber wirklich aufklären. Hier
Averden wir bloss mit der anmerkung abgespeist: „Eine andere erklä-
rung der werte: ,an dem er scheitern sollte', ist sprachlich und sach-
lich unmöglich." Wunderlich mutet es uns an, wenn Büchner von der
leicht errungenen Stellung frohgemut besitz nimt: „Hätte Goethe es
auch nur für möglich gehalten, dass dieser mann von Antonio zur
Selbstbestimmung gebracht wird, welch schöner stoff hätte sich dem
dichter, der die heilung des Orest geschildert hat, geboten?" Nun, er
hat es nicht bloss für möglich gehalten, sondern es glänzend geleistet:
freilich nur für solche, die dem Verständnisse nicht widerstreben. Wie
eine schönere heilung denkbar sei, möchte ich wissen. Ein bewunderns-
wertes meisterstück ist es, wie Antonios entsetzte bestürzuug, zuspräche,
ruhe, rührung, hinweisung auf Tassos dichtergabe, endlich sein stum-
mes nähertreten und ergreifen von Tassos band den wütenden allmäh-
lich beruhigen und sein volles vertrauen erwecken.
Halten wir uns zunächst an die von Büchner in ihr gerades gegen-
teil verkehrten schlussverse, so schweben bei dem bildlichen ausdruck
stellen alter dichter vor. Herr v. Loeper hat einmal darüber gespottet,
dass ich so viel von vorschweben spreche, und es für ein leeres
wort halten wollen: und doch wüsste ich keine passendere bezeichnung
fär das anklingen bestimmter dichterstellen oder werke der bildenden
kunst, das nicht zu einer wirklichen anspielung sich steigert. An
unserer stelle schwebte zunächst die rettung des Odysseus im fünften
buch der Odyssee vor. Auf der seefahrt nach Sicilien hatte Goethe
den plan zu Tasso vollständig entworfen. In Palermo kauft er sich
einen Homer mit lateinischer Übersetzung, worin er zu einem eben
ihm aufgegangenen trauerspiel „Nausikaa" die betreffenden bücher der
Odyssee, das sechste bis dreizehnte, liest, aber auch die stelle des fünf-
ten vom Schiffbruch bis zum landen an der insel der Phäaken, worin
geschildert wird, wie Odysseus, als die flut ihn an schroffe felsen zu
schleudern droht, mit beiden armen einen felsen fasst, von dem
ihn freilich nach einiger zeit die gewalt des rückflutenden meeres weg-
reisst. Auch dürfte er im vierten buche die erzählung von der rück-
reise des Menelaos, und in ihr den Untergang des Lokrischen Ajax an
den Gyräischen felsen gelesen haben. Der held rettete sich aus dem
meere auf einen felsen; aber dieser, auf dem der gerettete übermütig der
macht der götter spottet, wird durch einen blitz gespalten imd das
abgerissene stück mit Ajax ins meer geschleudert. Seinem zweck ge-
mäss führt Goethe das bild nur bis zum fassen des felsens aus, über-
geht das hinaufschwingen, wie er es auch bei römischen dichtem fand.
DER AUSGANG VON GOETHES TASSO 59
Vergüs Palinurus rettet sich aus der meerflut, indem er „mit geboge-
nen liänden den gipfel eines berges fasst". Auch die stelle des Satiri-
kers Persius könnte ihm bekannt gewesen sein (VI, 27 fgg.), wo der
gestrandete freund die Bruttischen felsen gefasst hat und nun elend
am iifer liegt. Horaz am Schlüsse der fünften ode des ersten buches
bedient sich des bildes von dem aus dem Schiffbruch geretteten, der
dankbar im tempel des meergottes seine kleider aufgehangen hat und
ein Aveihetäfelchen mit der abbildung seiner rettung. Dass Goethe diese
stelle gekannt hat und sie ihm im gedächtnis geblieben war, ergibt
sich daraus, dass der aus der Leipziger Zerrüttung seiner gesundheit
gerettete Student seinem Leipziger freunde Langer bei dessen besuch
zu Frankfurt im September 1769 in den ilmi geschenkten abdruck sei-
ner „Neuen iieder in melodien gesetzt" die werte aus Horaz als Wid-
mung schrieb. Lebhafte erinnerung an stellen des Horaz werden wir
auch weiter im Schlüsse des „Tasso" finden. Aber nicht bloss aus den
alten kannte Goethe die gefahr des Scheiterns und das glück der ret-
tung, er hatte beides erlebt, wie auch Horaz, der unter den gefahren,
aus denen die gunst der museu ihn gerettet, auch einen stürm bei dem
vorgebii"ge Palinurus nent. Auf der rückfahrt von Messina nach Nea-
pel wäre das schiff, auf dem er sich befand, beinahe gescheitert, wo-
rüber sein bericht vom 13. und 14. mai 1787 vorliegt. In der raeer-
enge von Capri schwankte und schwippte das schiff immer stärker nach
den schroffen felsen hin, avo kein auch nur fussbreiter vorsprang, keine
bucht rettung bot. Oben auf den bergen schrieen schon die ziegen-
hirten, unten strande ein schiff, und freuten sich auf die beute. Ver-
gebens suchte man mit grossen stangen das schiff vom felsen abzuhal-
ten; diese brachen, und der Untergang schien unvermeidlich, als endlich
ein leiser Windhauch sich erhob, der sich allmählich verstärkte, sodass
man die segel aufziehen konnte. Wenden wir uns zu unserer Tasso-
stelle zurück, so geht scheitern sollte freilich auf den durch das
Schicksal ihm bestimmten wirklichen Schiffbruch, aber nur das schiff
scheiterte und ging in stücke (noch Klopstock braucht die scheiter).
Nur in gangbarer Übertragung spricht man auch vom scheitern eines
menschen, wie ähnlich auch stranden gebraucht wird. Der schiffer
selbst hat hier das leben gerettet, was im gegensatze zmn scheitern
durch das festhalten am felsen bezeichnet wird; das wegreissen vom
felsen durch die flut ist durch die nichterwähnung ausgeschlossen.
Dass der dichter die heilung des Tasso von seinem wahn im sinne
gehabt, habe ich ausser inneren gründen auch dadurch erwiesen, dass
er den schluss des dramas als Tassos Verklärung bezeichnet. An
60 ' DÜNTZER
Herder schrieb er den 2. märz 1789: „Von ,Tasso', der nun seiner
Verklärung sich nähert, habe ich die erste scene im kreise der freunde
publiciert. Deine frau und Knebel haben sie am meisten genossen.
Ich habe diesen prologus mit fleiss dem Averke selbst vorausgeschickt."
Wie hier der erste akt als prologus bezeichnet wird, so der schluss,
wo Tasso einsieht, wie sehr er die weit verkannt, als dessen Verklä-
rung. Als Herder am 7. august 1788 die reise nach Italien antrat,
wusste er, dass Goethe den plan des „Tasso", den er auf seiner See-
fahrt entworfen, zum teil schematisiert, auch mehrere einzelne stellen
auszuführen begonnen, in derselben reinen form, die er der „Iphigenie"
gegeben, noch vor ablauf des Jahres vollenden wollte. Dem vertrauten
freunde, dessen geschmack und urteil er so hoch schätzte, hatte er viel
davon gesprochen, so dass dieser die wendung kannte, welche das stück
am Schlüsse nehmen sollte. Doch der zerrissene zustand seines dama-
ligen lebens gab ihm nicht die zur ausarbeitung einer so feinen, in die
tiefe der seele dringenden dichtung nötige Stimmung. Freilich hatte er
schon anfangs September ernstlich die ausführung bedacht, am 7. bei
einer fahrt im mondschein drei geistreichen frauen manches von seinem
plane erzählt, am 1. Oktober gegen den herzog die hoffnung ausgespro-
chen, über diesen „das übergewicht zu kriegen", da er, je weiter er
komme, seiner sache um so sicherer werde; ja er las drei tage später
Herders gattin einige stellen, denen diese beifall gab. Aber gleich
darauf Hess er den „Tasso" ganz liegen, so dass er am ende des Jah-
res beschämt Herder bekennen musste, dieser sei noch immer nicht
fertig, ja bald dürfe er von ihm nicht mehr reden. Eifrig nahm er
ihn erst während der anwesenheit seines geistreichen freundes Moritz
wider auf, so dass er ihn vor dessen abreise vollenden zu können
hoffte. Doch am 18. Januar 1789 machte er wider eine pause. Herder
hörte in den beiden ersten monaten des Jahres von Tasso nur durch
seine gattin, die ihm am 20. februar die erste vor kurzem ganz fer-
tig gewordene scene des Stückes sante. Ihr gatte hatte sie am 2. märz
noch nicht erhalten, als Goethe die oben erwähnte äusserung tat. Erst
mehr als vierzehn tage später gab er Herders gattin die zweite, am
20. den grössten teil der dritten scene. So langsam ging es mit der
reinigung, der durcharbeitung bis zur letzten feile, nach welcher er sie
als fertig, vollendet, absolviert erklärte. Geschrieben waren
damals schon viele scenen, fertig nur diese drei. Dem herzog mel-
dete er fünf wochen nach dem briefe an Herder vom 2. märz, seine
freude über die drei ersten scenen lasse ihn desto mutiger dem ende
entgegengehen; was darauf hindeutet, dass damals (am 6. april) die
DER AUSGANG VON GOETHES TASSO 61
erste ausfülirung schon recht weit fortgeschritten sein musste, wenn
auch nur drei scenen fertig waren. Bestätigt wird dies durch die
sich unmittelbar anschliessende bemerkung: „Ich habe noch drei scenen
zu schreiben, die mich wie lose nymphen zum besten haben, mich bald
anlächeln und sich nahe zeigen, dann wider spröde tun und sich ent-
fernen." Es können nur die schlussscenen des Stückes (wol die vier
letzten, da das kurze Selbstgespräch in der dritten mit zur zweiten
gezogen war) darunter gemeint sein, zu denen ihn der beifall, den der
herzog dem anfang gegeben habe, ermutigte; denn so hätte er unmög-
lich sich äussern können, wenn es sich um scenen der mitte handelte,
die er noch unausgeführt gelassen. In demselben briefe heisst es: sehi-
glücklich wäre er, wenn er noch vor den feiertagen (dem 17.) die letzte
(vierte) scene des ersten aktes fertigen könte, woran er fast zweifele;
schicken werde er sie, sobald sie geschrieben sei. An dieser fehlte wol
noch der durch fragen hervorgerufene bericht Antonios über seine
]-ömische gesantschaft, der, wie so manche notwendige, aber für den
dichter weniger ergiebige ausführungen , besonders schwer zu machen
war, sollte er nicht zu sehr von dem anziehenden leben des vorigen
auftrittes und dem Schlüsse des vierten selbst abfallen. Auffallend ist
freilich, dass er von derselbigen scene schreiben neben fertigen
gebraucht. Den entwurf wird er damals vielleicht mit ein paar Kicken,
bis zum Schlüsse von V, 1 ausgeführt haben; aber fertig, gereinigt
waren auch damals nur die drei ersten.
Schon hierdurch allein wird Büchners sonderbarer versuch wider-
legt, die Verklärung des Tasso durch die deutung wegzuschaffen,
„dass der dichter ihn von den letzten schlacken reinigte, damit er sei
wie ein verklärter leib", w\as dem Verfasser freilich auf der band zu
liegen scheint, obgleich eine reinigung, eine ausfeil ung himmelweit
verschieden ist von einer Verklärung, einer höhern begeistigung, die
den irdischen stoff umgestaltet, mit hölierm leben erfüllt, nicht bloss
die schlacken entfernt. Und wollen wir einmal annehmen, Verklä-
rung habe von der reinigung, dem limae labor gesagt werden kön-
nen, so hiesse seiner Verklärung sich nähern der reinigung sich
nähern, bald zur reinigung kommen, deutete also darauf, dass das
geschäft der reinigung bevorstehe, was hier gar nicht passt. Wollte
man aber noch kühner sein und die vollendete reinheit verstehen, die
fast erreicht sei, so würde man Goethe etwas ganz unwahres sagen
lassen: denn so wenig war „Tasso" damals der reinheit nahe, dass erst
drei scenen fertig w^aren, wenn auch die erste ausführuug bis auf
wenige scenen vorlag. Den dichter drängte es mehr zur ausführung
62 DÜNTZEB
als zur durchsieht des ausgeführten: war einmal der guss gelungen,
so konnte die sorgfältige ausfeilung leichter geleistet werden.
"Wenn Groethe von den fortschritten seiner dichtung berichten wollte,
so lag nichts näher als es durch die angäbe zu tun, bis zu welchem
punkte der handlung er gekommen sei; statt, wie sonst, geradezu das
ende zu nennen, wählte er die läge, in welche sein held dort gelangt
ist, und so braucht er Tassos Verklärung, da Herder die art des
ausganges des Stückes kannte. Büchner meint, bei meiner deutung sei
ich von meiner philologischen akribie entschieden im stiche gelassen
worden. Er sieht nicht, dass die von mir gegebene sachlich allein
möglich ist, da Goethe unmöglich das sagen konnte, w^as er ihm in
den mund legt, weil es unwahr wäre, und dass, wo man zwischen der
annähme einer sprachlichen ungenauigkeit, besonders im leichten brief-
stile, und einer Unwahrheit in dingen, die der redende genau wusste,
zu wählen hat, die entscheidung nicht schwer fällt. Freilich wird
„Tasso" am anfange vom stücke gebraucht, wogegen seiner vor
Verklärung sich auf das vorhergegangene Tasso als bezeichnung
der person bezieht; aber dies ist eine fi-eiheit, der sich der ausdruck,
wenn ein misverständnis kaum möglich, des leichtern flusses wegen
bedienen kann, wenn man es nicht als nachlässigkeit entschuldigen
will. Einen ähnlichen gebrauch finden -wir in einer zwillingsstelle, von
der Büchner freilich wol nichts ahnt. Am 9. juni 1814 schrieb Goethe
von seinem festspiel „Des Epimenides erwachen" an Riemer: „Epime-
nides naht sich seinem erwachen", zur andeutung, dass dieses bald bis
zu ende gedichtet sei; denn jener erwacht erst im einundzwanzigsten der
siebenundzwanzig auftritte (nach der ersten Zählung). Auch nahen
steht dort ganz ähnlich wie hier nähern. AVir erinnern noch an den
scherz in der „Xenie" von 1814: „Epimenides, denk' ich, wird in
Berlin zu spät, zu früh erwachen." Hier wird unter Epimenides
zuerst das festspiel gedacht, dann aber bei erwachen die person.
Hierdurch glauben wir unsere beziehung der Verklärung des Tasso
auf das erwachen aus seiner verkennung der weit und dem wahne, er
sei von einer Verschwörung von feinden umgeben, gesichert, und somit
den äussern beweis erbracht zu haben, dass das drama mit dessen
ungeahnt auf rauhe weise erfolgter heilung schliesse.
Den Innern beweis bietet die ganze schlussrede Tassos, nachdem
Antonio mit stummer rührung zu dem unglücklichen getreten ist und
ihn bei der band ergriffen hat. Sie ist von anfang bis zu ende von
der vergleichung des Unglücks mit einem Schiffbruch beherrscht. Tasso
beginnt mit der völligen Verschiedenheit ihres wesens, das aber eine
DER AUSGANG VON GOETHES TASSO 63
gäbe der iiatur sei. Antonio stehe „fest und still", wobei schon die ver-
gleich ung mit einem felsen vorschwebt, die gleich darauf hervortritt
und am Schlüsse widerkehrt: er selbst scheint nur die sturmerregte
welle, ein spiel der ihn willenlos umtreibenden einbildung. Das schei-
nen deutet auf Antonios übersehen seines von der natur ihm verlie-
henen tiefen gefühls, wozu ihn dessen eigene, ganz entgegengesetzte
natur verleitet hat. Dies tritt entschiedener in der sich unmittelbar
anschliessenden mahnung hervor: „Bedenk' und überhebe nicht dich-
deiner kraft!" die den leisen Vorwurf enthält, dass er dies gegen ihn
getan habe. Einen solchen konnte Tasso nur bei völligster beruhigung
und im bewusstsein, dass Antonio ihm nicht feindlich gesinnt sei, ge-
gen ihn erheben, und gerade in so leiser, ihn nicht beschuldigender
weise. Dies führt ihn zu einer weit ausgeführten, mit bewegtestem
gefühl ihn ergreifenden bildlichen darstellung seiner natur im gegen-
satze zum felsen Antonio, Avobei auch der stürm leidenschaftlicher
erregung als naturkraft bezeichnet wird, der sich die welle, das empfind-
liche dichterherz, nicht entziehen kann. „Wind ist der welle lieblicher
buhle" hatte Goethe schon 1779 in der Schweiz gesungen, hier aber
ist von der sturmerregten welle die rede. Mit unendlicher rührung
muss er hier des seligen glückes gedenken , das er im wahne der liebe
der Prinzessin und ihres vollen besitzes genossen, wo sein zärtlich
bewegtes herz süsse himmelsruhe empfunden. Aber leider ist diese
höchste Seligkeit für ihn vorüber. „Verschwunden ist der glänz, ent-
flohn die ruhe."
Nach dem diesen satz schliessenden punkte findet sich schon in
der handschrift ein gedankenstrich , dessen bedeutung bisher unbeachtet
geblieben. Noch immer spuken in den ausgaben unserer klassiker fal-
sche gedankenstriche, die nach der unart der zeit häufig statt eines
punktes gesetzt wurden. Da dieser gebrauch heute nicht mehr besteht,
so sollten sie endlich ein- für allemal verbanntsein , zumal da sie nur zu
misverständnissen führen. Ich habe den unfug bei Goethe, Schiller
und Herder in meinen „Erläuterungen" verfolgt, ohne dass dies von
anderer seite die gebührende beachtung gefunden hätte. So hat auch
die Weimarische ausgäbe keine rücksicht darauf genommen, weder bei
den werken noch bei den briefen; wie sie überhaupt bei der Inter-
punktion grundsätze aufgestellt hat, ohne genaue (freilich nicht augen-
blicklich zu erlangende) kenntnis der Sachlage. Auch in den briefen
finden sich solche gedankenstriche, selbst statt Semikolon und komma,
wie bd. II s. 27, 8 fg. In den brieten der frau rat an ihren söhn
ergiessen sie sich fast seuchenhaft. Mir war dieser misbrauch zuerst
64 DÜNTZER
in Herders handschriften und ausgaben aufgefallen. Es verlohnt sich,
den gebrauch des gedankenstriches in „Tasso" mit vergleichung der
„Iphigeuie" zu verfolgen, die hierin einige Verschiedenheit zeigt. Nur
kurz deuten wir den gebrauch des gedankenstrichs als parenthesezei-
chen an (Tasso 212. 1996. 2384 fg. Iphigenie 1566. 1718) und zur
Scheidung von wechselreden (Tasso 2899 — 2910). Im „Tasso" findet
sich ein gedanken strich geradezu statt eines punktes, auch eines aus-
rufungs- oder fragezeichens mehrfach (1542. 1742. 2018. 2123. 2398.
2536. 2543 nach las st. 3252. 3350. 3382. 3384. 3394. 3494 nach
trägt). In einigen dieser stellen könnte man meinen, es sollte eigent-
lich noch eine starke interpunktion vor dem gedankenstrich stehen.
„Iphigenie" bietet auch einen fall dieser art 1632, wo man aber auch
lieber vor dem gedankenstrich noch punkt sähe. „Tasso" zeigt ein
paarmal gedan kenstriche auch am ende einer nicht abgebrochenen rede
(196 und 3263), wogegen er das abbrechen bezeichnet 1821 (die zweite
ausgäbe hatte hier das wort „freund" irrig gestrichen). 2286. 3162. In
der „Iphigenie" schliesst ein solcher gedankenstrich 349 die rede, wo-
gegen er zeichen des abbrechens ist 628. Entsprechend dem heutigen
gebrauche steht der gedankenstrich vor überraschendem und bei der
scheu, etwas auszusprechen. Im „Tasso" gehören hierher 2500. 2506.
3213, wogegen 1277 der gedankenstrich auf ein innehalten deutet,
weil Tasso Antonios antwort erwartet, der überrascht schweigt, wes-
halb davor noch ein punkt stehen sollte. Dreimal steht er so in der
„Iphigenie" 1852. 1925. 1936. Eigen ist in dieser der gebrauch der
gedankenstriche 1889 bei der Verwirrung, worin Iphigenie nach einem
sie am wenigsten verratenden ausdrucke sucht: „Sie sind — sie schei-
nen — für Griechen halt' ich sie." Häufig steht ein gedankenstrich
vor dem nachsatze statt des sonst von Goethe gebrauchten Semikolons,
wenn dieser von grosser bedeutung ist oder des gegensatzes wegen
besonders hervorgehoben werden soll, auch um ihn entschieden nach
einem längern Vordersätze trotz seiner kürze lebhaft zu betonen. Hier-
her gehören Tasso 873 (wo mir statt Mir zu schreiben ist). 945. 1472.
2249. 2400. 2560. In der „Iphigenie" finde ich keinen ähnlichen fall.
Ein gedankenstrich steht im „Tasso" auch dann, wenn das gesagte
mit gesteigerter kraft weiter ausgeführt wird. So steht 1173 — 1177
„Und wagte gern das leben, das ich nur Von ihren bänden habe —
forderte usw., 3429 fg. „Und mir noch über alles — Sie liess", wo
eine andere wendung eintritt statt des erwarteten „verlieh sie".
Von dem gebrauche eines einfachen gedankenstriches in einer
rede und innerhalb eines satzes sind die fälle, wo ein solcher zwischen
DER AUSGANG VON GOETHES TASSO 65
einem mit starker interpunktion geschlossenen und einem neu anheben-
den satze steht. Hier kann er nur eine pause bezeichnen, welche der
redende macht. 1927 tritt eine solche ein vor der ausführung, welch
ein glück die nähere Verbindung mit Tasso für Leonoren hat, 2230 vor
dem die eingetretene Veränderung einführenden „Ja", 2530 vor der
antwort, 2543 vor der warnung, sich nicht mehr betöreu zu lassen.
Goethe hatte ihn hier nachträglich hinzugefügt. Die „Iphigeuie" hat ihn
359 bei der rückkehr zur erzählung, 426 bei dem übergange zur ret-
tung, 880 vor mitteilung der ermordimg Agamemnons, 1696 bei dem
gegensatze zum ewig währenden fluch, 1970 bei der erinnerung, wie
der könig Iphigenien die rückkehr zugesagt. Im „Tasso" werden neben
solchen kurze pausen bezeichnenden gedankenstrichen auch absätze ver-
want in den Selbstgesprächen IV, 3 und 5, während Y, 3 einmal die
scenarische bemerkung „Nach einer pause" steht, die sich auch Y, 5 nach
3330 findet. Einen absatz hat „Iphigeuie" nur 1718, wol weil hier
gedankenstriche als zeichen der parenthesen gebraucht sind. Gedanken-
striche stehen so in ihr 1243 bei dem übergange zimi schrecklichen aufruf
des Schattens der mutter, 1504 vor der ausführung der frühern unend-
lichen freude im gegensatze zum jetzigen schrecken, 1516 vor dem
Übergang zur darstellung des 1510 erwähnten unmöglichen. Ebendort
1189 deuten die gedankenstriche vor und nach „Schwelle brüst!" eine
doppelte kiu'ze pause an. Häufig bedient sich Goethe eines gedanken-
strichs, wo der redende vorher etwas selbst tut oder etwas von einem an-
dern geschieht, was eigentlich eine scenarische bemerkung angeben sollte.
Wir finden 1189: „So soll es sein! — Hier kommt der rauhe freund",
weil Leonore den Antonio kommen sieht, 1283 „Noch einmal. — Hier
ist meine band", weil Tasso diese entgegenstreckt. In der „Iphigeuie"
findet sich 388 gedankenstrich vor: „Du wendest schaudernd dein
gesiebt, 0 könig", weil die priesterin dies eben bemerkt hat. 793 deu-
tet das zeichen vor „Still!" darauf, dass Pylades eben sieht, wie Iphi-
geuie sich naht. Der gedankenstrich vor 882 „Ja du verehrest dieses
köuigshaus" bezieht sich darauf, dass Iphigeuie ihre bewegung über die
eben vernommene schreckenskunde nicht verbergen kann. 1049 steht
gedankenstrich vor: „Sage mir Yom ungiücksel'gen", weil Iphigeuie,
nachdem sie den göttem freudigsten dank dargebracht, sich wider an
Orest wendet. 1255 finden wir den gedankenstrich vor „Wo bist du,
Pylades?" da sie, nachdem sie längere zeit stehen geblieben, davon-
zueilen begonnen, was freilich auch eine am schluss stehende scena-
rische bemerkung besagt. Yon ähnlicher art sind die gedankenstriche
1265. 1267. 1274. 1286. 1290, wogegen darauf 1294 einer die anreden
ZEITSCHRIFT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XXVm. 5
66 DÜNTZER
an die mutter und an beide eitern trennt. 1415 fgg.: „Mich dünkt, ich
höre gewaffnete sich nahen. — Hier! — Der böte Kommt von dem
könige mit schnellem schritt." Zuerst glaubt sie waffengetöse zu hören,
dann sieht sie jemand kommen, zuletzt erkennt sie den Arkas. 1607 fgg.:
„Orest ist frei, geheilt! — Mit dem befreiten 0 führet uns hinüber,
günst'ge winde, Zur felseninsel, die der Gott bewohnt." Der gedan-
kenstrich bezeichnet den Übergang zur dringenden mahnung, die von
Apoll ihnen gnädig gewährte hülfe zur Vollendung ihrer rettung nach
der heimat zu benutzen. Pjlades wendet sich flehend an die winde,
was auch die erhebung seiner bände zum himmel andeutet. 1918 fgg.
Nachdem Iphigenie die Götter angefleht, ihren kühnen entschluss zu
segnen, tritt sie zum könige, ihm den betrug zu verraten. Der vor:
„Ja, vernimm o könig", stehende gedankenstrich deutet an, dass sie
zum könige sich zurückwendet, ähnlich wie 1049. Dagegen bezieht er
sich 1942 vor: „Was sinnst du mir", darauf, dass sie einige zeit auf
eine günstige antwort gewartet. Hier könnte auch, wie vor 1892, die
scenarische bemerkung stehen: „nach einigem stillschweigen" oder
„nach einer pause" wie im „Tasso" vor 3311,
In diesen kreis gehört nun auch der gedankenstrich nach Tassos
verse: „Yerschwunden ist der glänz, entflohn die ruhe": er vertritt
eine scenarische bemerkung. Vor der schlussrede Tassos hat Antonio
ihn bei der band genommen, dieser sie nicht zurückgezogen. Da Tasso
3451 bei den worten: „Ich fasse dich mit beiden armen an!" Antonios
band ergreift, muss er sie vorher losgelassen haben. Dies ist eben
nach 3445 geschehen vor den worten: „Ich kenne mich in der gefahr
nicht mehr." Durch den fürchterlichen gedanken seines erlittenen Ver-
lustes ganz ausser sich geraten, lässt er Antonios band fahren und
tritt mit der gebärde eines verzweifelnden, der die bände voll schrecken
erhebt, zur seite, wie es auch Iphigenie 1039 tun muss, die 1049
wider zu Orest tritt; wogegen nach 1093, wie die scenarische bemer-
kung besagt, Orest sich entfernt, damit der dichter Iphigenien ihr dank-
gebet allein sprechen lassen kann. Sein lebhaft geschautes verderben
schildert Tasso durch die not des Seefahrers, dessen schiff der stürm
mitten auf dem meer zertrümmert; es ist ein wirkliches gesiebt, das
ihm die erregte einbildungskraft vorspiegelt:
Ich kenne mich in der gefahr nicht mehr.
Und schäme mich nicht mehr es zu bekennen.
Bisher hat der beginnende stürm ihn nicht ausser fassung gesetzt, sei-
nen tapferen mut nicht erschüttert; aber jetzt, wo er den stürm sein
Zerstörungswerk am schiffe beginnen sieht, kennt er sich nicht mehr,
DER AUSGANG VON GOETHES TASSO 67
er ist jetzt ein naata pavidus, tiraidus (Hör. carm. I, 1. 14. 14. 14)
geworden, der vor schrecken erblasst ist (Ovid Trist. I, 4, 11); wie
römische dichter den schiffer in äusserster not selbst weinen lassen,
wovon der gegensatz an einer sehr bekannten Horazischen stelle (carm.
I, 3, 9 — 20) sich findet. Auf ganz unglaubliche weise hat Büchner
die ganz deutlichen worte: „Und schäme mich nicht mehr, es zu be-
kennen" misverstanden, da er sie auf Tassos wirklichen zustand bezieht,
obgleich dieser den festen boden des schlossgartens unter den l'üssen
hat. Er übersieht, dass sie im bilde des entsetzten schiffbrüchigen
stehen, eng verbunden mit dem vorangehenden: „Ich kenne mich in
der gefahr nicht mehr", also eine weiterführung dieses vergessens sind,
und macht den seltsamen fehlschluss: „Also hat er sich bis jetzt ge-
schämt, seinen wahren seelenz ustand zu enthüllen, und was er vorher
über seine Zukunft gesprochen hat, ist ihm eingegeben von dem stol-
zen bestreben, nicht allzu klein vor Antonio zu scheinen." Und auf
einen solchen groben Schnitzer sich stützend, triumphiert er: „Wie
kann man, da Tasso dies eingesteht, die vorausgehende partie als Zeug-
nis für sein zukünftiges leben ansehen?" Diese albernheit dichtet
Büchner dem Tasso nur an! Mehr bezeichnet offenbar den gegensatz
zu d3r zeit, wo der stürm das schiff noch unversehrt gelassen , es bloss
auf und ab getrieben hatte. Solcher leichtfertigkeit ist alles möglich.
Aber auch abgesehen davon, wer kann es für möglich halten, dass
Tasso bei der anrede „0 edler mann" (3434) und dem, was weiterfolgt,
sich verstelle; wer übersehen, dass die verscheuchung von Tassos Wahn-
vorstellung durch Antonios benehmen auf das treffendste begründet ist?
Bei der Schilderung der Zertrümmerung des schiffes schwebt die vier-
zehnte ode des ersten buches des Horaz, die berühmte allegorie des
Staates als schiff, unverkennbar vor. Aber der von der äussersten Ver-
zweiflung hingerissene erkennt jetzt, dass ihm in aller not ein edler
freund in dem geblieben ist, den er für seinen grimmigsten feind
hielt. So tritt er denn zu diesem, der ihn mit teilnehmendster rührung
anblickt, und bietet ihm die band mit dem vollsten vertrauen, dass er
sein zuverlässiger fi-eund sei. Freilich sollte auch nach 3450 ein ge-
dankenstrich als Vertretung der scenarischen bemerkung stehen; aber
auch sonst fehlen mehrfach die notwendigen scenarischen bemerkungen
oder die sie ersetzenden gedankenstriche. Vermissen wir ja auch am
ende von II, 4 jede andeutung, dass Tasso das wirklich tut, was er
sagt, dass er den degen und darauf den kränz über diesen zur erde
legt; ja die wirklich am Schlüsse stehendo, darauf wenigstens rücksicht
nehmende anweisung: „Auf des fürsten wink hebt ein page den degen
5*
68 DÜNTZER
mit dem kränze auf und trägt ihn weg" hat Goethe erst nachgetragen.
Wenn der dichter sagt, er fasse Antonio mit beiden bänden an, so
schwebt ihm schon das in den beiden folgenden versen ausgeführte
bild des auf einen felsen sich rettenden schiffbrüchigen vor. Hier ist
nicht, wie eben, von einem auf offenem meere zerstörten schiffe, son-
dern vom scheitern an kuppen die rede. So (3452) gehört der ver-
gleichung an, da der dichter, statt mit wie anzuknüpfen, einen neuen
satz anhebt; es ist keineswegs mit fest zu verbinden. Den eigent-
lichen Vergleichungspunkt bildet die hoffnung auf sichere rettung. In
Antonio erwartet Tasso mit solcher Sicherheit seine rettung wie der
schiffbrüchige von dem ihm festen boden bietenden felsen. Der fels,
an den der schiffbrüchige sich anklammert, statt sich vom meere ver-
schlingen zu lassen, ist seine rettung. Die allerneueste deutung des
„Tasso" fasst das anklammern an den felsen gar als ein „stürzen ins
Schwert!" So schliesst denn das stück mit Tassos Überzeugung, dass
er in Antonio seinen retter, seinen ihm treu zur seite stehenden freund
gewonnen habe. Alle versuche, welche man macht, die dauernde Ver-
bindung Tassos mit Antonio als unmöglich nachzuweisen, sind nichtig.
Tasso ist geheilt, freilich auf rauhe weise, durch den rauhen Anto-
nio (1694), während Alphons die schuld des rauhen arztes nicht hatte
auf sich laden wollen (333 fg.). Einen zweifei des Zuschauers, ob Tasso
nicht wider in seinen wahn zurückfallen werde, lässt die rührung nicht
aufkommen.
Eine äusserst seltsame deutung hat Louis Lewes eben in seiner
Schrift „ Goethes frauen gestalten " von Tassos schlussrede gegeben.
Über Tassos zukunft urteilt er: „Das bittere geschick, Avelches ihn
zerschmetternd getroffen hat, wird freilich in zukunft eine unversieg-
lich sprudelnde quelle für seine lieder sein, und die poesie wird zwar
immer wider die alten wunden aufs neue aufreissen, aber auch immer
wider heilenden, lindernden baisam auf dieselben träufeln." Die schluss-
steile soll nach ihm über den eigentlichen Schlusspunkt hinausgehen
und beides in der zukunft zeigen, Tasso also gleichsam der seher sei-
ner eigenen zukunft sein. Der anfang bis 3445 sei mit einem tiefen,
aber ruhig gefassten, besinnungsvollen schmerz gesprochen zu denken;
derselbe ton solle in diesen worten angeschlagen werden, welcher in
Zukunft der bleibende für den dichter Tasso sei. In den letzten acht
versen breche allerdings die leideuschaft hervor, sie beweise aber nur,
wie mit jenem poetisch verklärten schmerze auch das unmittelbar in
der erinnerung sich erneuernde wideraufleben desselben abwechseln
werde und doch zugleich- für solche augenblicke die freundschaft An-
DER AUSGANG VON GOETHES TASSO 69
tunios, die hüte desselben und dadurch die rückkehr zu jener poeti-
schen erhebung und Verklärung des Schmerzes gesichert sei. Und so
fehle denn auch nicht der trost einer echt tragischen erhebung, wenn
sie auch gegen den schmerz in den hintergrund trete. Bei dieser
phantastischen deutung sind der offenbare dramatische fortschritt und
der wirkliche gehalt der stelle geradezu verflüchtigt. Das drama bedarf
eines wirklichen abschlusses, und dieser ist hier vortrefflich gelungen,
wenn man ihn nur recht verstehen will. Die gangbare art der auf-
fassung unserer klassischen dichtungen leidet daran, dass man auf
kosten der dichter geistreich zu. sein trachtet, unbekümmert um das
Verständnis aller einzelnen stellen und sorgfältige beachtung der leitung
des ganges der handlung, woraus allein die vollkommene einsieht in
das ganze gewonnen wird.
„Tasso" ist kein marionettenspiel, in dem die laune ihre wunder-
lichen Sprünge macht, sondern alles entwickelt sich nach dem ausge-
prägten Charakter der hauptperson und den gesetzen menschlichen den-
kens, fühlens und handelns in lebendigem fortschritte. Tassos heilung
ist das ziel der handlung; die Unmöglichkeit derselben darzustellen,
ziemte kaum dem koraiker. Büchner versichert ernstlich: wer an einen
düstern ausgang, dass Tasso in der krankenstube bleiben müsse, nicht
glauben wolle, der verkenne Goethes behandlung geschichtlicher stoffe,
die wesentlich der Überlieferung folge; der erdgeruch, der seine ge-
summten dichtungen durchwehe {?!), mache sich in seinen dramen dop-
pelt geltend. Stärker kann man die Wahrheit nicht verletzen. Tatsäch-
lich ändert unser dichter regelmässig sogar den ausgang, gestaltet
diesen entsprechend dem Charakter und den Verhältnissen, die er seinem
beiden gibt. Büchner stützt sich auf „Götz" und „Egmont", als ob
diese für die in seiner reifen zeit geschaffenen meisterwerke irgend
zeugen könnten! Aber auch sie beweisen das gerade gegenteil. Den
Götz lässt Goethe zu Heilbronn im gefängnis sterben in folge seiner
Verwundung und des Schmerzes über sein eigenes und des Vaterlandes
Unglück, in dem feigheit und treulosigkeit herrschen. In Wirklichkeit
führte er noch viele jähre auf seiner bürg ein tatenloses leben! Wie
wesentlich Goethe sonst die handlung verändert, liegt vor aller äugen.
Egmont stirbt freilich wie in der geschichte auf dem schaöbt, aber als
mutiger held, in der Überzeugung, dass der schmähliche wortbruch
und sein opfertod die tyrannen stürzen und sein volk befreien werden;
während er in Wirklichkeit ganz gebrochen war durch sein Schicksal,
nicht um das Vaterland, sondern bloss um frau und kinder bekümmert
war, weshalb er untertänig gegen den feigen tyrannen war, der ihn
70 DÜNTZER
mordete, um die freiheit zu unterdrücken. Büchner muss dieses nicht
wissen, er muss die vielen andern Umgestaltungen nicht kennen, nichts
von Schillers berühmter beurteilung gehört haben, die dem dichter
seine Verletzung der geschichtlichen Wahrheit scharf als verderbung vor-
rechnete! Goethe hat alle geschichtlichen stoffe frei umgestaltet, immer
erst aus der geschichte eine dichterische fabel gebildet. Laut sprechende
zeugen sind „Iphigenie", „Faust", „Die natürliche tochter", „Der ewige
Jude", der beabsichtigte „Wilhelm Teil". Und angesichts dieser unleug-
baren tatsache soll Goethe nicht gewagt haben, Tasso durch seinen
wirklichen grossen verlust und Antonios schöne menschlichkeit genesen
zu lassen! Büchners Tasso wirft sich als unheilbarer kranker Antonio
in die arme, eine torheit, die, nebenbei bemerkt, doch auch eine ab-
weichung von der Überlieferung wäre. Ja wir werden belehrt, Goethes
dramen könnten uns sittlich nicht befriedigen, weil er zu sehr der
geschichte folge, die er in ein Prokrustesbett spanne. Goethes Tasso
ein Prokrustesbett ist wirklich ein ganz einziger gedanke! Jeder dra-
matiker ist gezwungen, sich auf einen geringen räum zu beschränken;
dies mit geschick, ohne Verzerrung zu tun, ist die aufgäbe des drama-
tischen plans, und im entwerfen desselben ist Goethe unzweifelhaft
nicht weniger glücklich als Schiller, wenn beide auch im einzelnen
Verschiedenheiten zeigen, wie jeder von ihnen der eigenheit des Stoffes
sein verfahren anpassen musste. Wer solche allgemeine sätze aufstel-
sen will, sollte durch allergenaueste kenntnis der sache sich die berech-
tigung dazu erworben haben.
Ebenso nichtig ist der beweis, Goethe habe im stücke selbst
andeutungen gegeben, dass Tasso nie zur ruhe kommen werde. Als
ob der dichter überhaupt andeutungen dieser art durch eine seiner per-
sonen zu geben vermöchte, wie es nur in einem prolog oder einem
chor allenfalls geschehen könnte! Keine der handelnden personen darf
darauf ansprach machen, dass sie die zukunft sicher erkenne, wie ja
selbst der kluge Antonio in seiner behandlung Tassos in den vier ersten
akten ganz irre geht. Auch wären solche hindeutungen an sich undra-
matisch. Der dichter hat uns bloss die handlung anschaulich zu ver-
gegenwärtigen. Büchners nachweise sind geradezu ergötzlich. Wenn
Alphons Y, 2 Tasso wolmeinend rät, nicht durch zu strengen fleiss und
zu grosse rücksicht auf die stimmen anderer seine dichtung zu verder-
ben, so soll dies darauf deuten, dass dieser wirklich in Rom durch die
erinnerungen der kritiker in Verzweiflung geraten werde! Die düstere
Schwermut, die ihm V, 4 auf der prinzessin erinnerung an den noch
auf ihm ruhenden bann einredet, in keiner Unternehmung werde er
DER AUSGANG VON GOETHES TASSO 71
g'Iück haben, nie sich der höchsten Vollendung seines gedichtes freuen,
müsse die Wahrheit sprechen!! Wenn er unmittelbar darauf sich im
hirten- oder pilgerkleide nach Neapel fliehen, mit wildem haar, ver-
düstert, von staunenden knaben umringt, das haus seiner Schwester
in Sorrent betreten sieht, so ruft Büchner jubelnd aus: „Wer kann im
ernst bestreiten, dass Goethe Tasso diese Prophezeiungen (?) in den mund
legt, um auf sein späteres Schicksal hinzuweisen?" Mit demselben
unrecht würde man behaupten, dass Leonorens wort von Tasso und
Antonio (III, 2) in erfüllung gehen müsse:
Dann stünden sie für einen mann und gingen
Mit macht und glück und lust durchs leben hin.
Der dramatiker soll nicht im gange der handlung auf die Zukunft hin-
deuten, wenn dies nicht etwa durch die handlung selbst geboten wird;
aber am Schlüsse muss er eine lösung geben, die uns einen blick in
die Zukunft gestattet. Durch den bittersten verlust ist Tasso von der
schwäriuerischen leidenschaftlichkeit, die ihn die weit verkennen liess,
geheilt und hat an dem als todfeind gehassten Antonio einen freund
und sicheren halt gewonnen; die holde gäbe der dichtung ist ihm ge-
blieben und sein verdüsterter geist verklärt. Er ist geheilt, gerettet!
KÖLN. H. DtlXTZER.
zu DEN KINDER- UND HAÜSMÄKCHEN DEE
GEBRÜDEE GRIMM.
In nr. 152 der grossen ausgäbe erwidert „das hirtenbüblein" auf
seine frage „Wie viele Sekunden hat die ewigkeit?" dem könige: „In
Hinterpommern liegt der demantberg; der hat eine stunde in die höhe,
eine stunde in die breite und eine stunde in die tiefe; „dahin kommt
alle hundert jähr ein vögelein und wetzt sein schnäblein
daran, und wenn der ganze berg abgewetzt ist, dann ist die
erste Sekunde von der ewigkeit vorbei." Im 3. (erläuterungs-)
bände, 3. aufl. s. 256, wo W. Grimm auch zu diesem märchen zahlreiche
parallelstellen aus andern erzählungen nachgewiesen hat, findet sich
für die obige bildliche bezeichnung einer undenklich langen Zeitdauer
kein beleg. Ähnlich ist der gedanke im 2. bände von „Des knaben
wunderhorn" (neudruck der ausgäbe von 1806 — 1808) in Meyers Yolks-
büchern nr. 1046 — 1050, s. 190:
72 zu GRIMMS KINDER- UND HÄUSMÄRCHEN. — ZU JOHANN EASSER
„Wenn berg und thal aufeinander stand',
Yiel lieber wollt' ich sie tragen,
Als das ichs soll stehen vor dem jüngsten gericht,
Soll all meine sünden beklagen,
„Und kam' alle jähr' ein vögelein,
Und nahm nur ein schnäblein voll erden,
So wollt ich doch die hoffnung haben,
Dass ich könnt' selig werden."
NORTHEDI. E. SPEENGER.
ZU JOHANN EASSER
In dieser Zeitschrift XXVI, 480 hat Gr. Binz über ein aus alten
bücherdeckeln von ihm zusammengestelltes exemplar von J. Rassers
„Spil von kinderzucht" (Strassburg 1574) berichtet. Da dasselbe
aber verschiedene lücken aufweist, so mache ich darauf aufmerksam,
dass weitere exemplare auf den öffentlichen bibliotheken zu Dresden
und Wolfenbüttel vorhanden sind. Auch Merklen (Histoire de la ville
d'Ensisheim 2, 191. 1841) wird das stück gesehen haben. Binz hätte
noch bemerken können, dass Rasser seine fabel von dem ungeratenen
Aleator und dem wolgeratenen Hänslein ebenso wie fünf jähre später
der Oltener dramatiker Schertweg seineu Bigandus aus Jörg Wickrams
Knabenspiegel (vgl. Spengler, Der verlorene söhn im drama des
16. Jahrhunderts 1888 s. 126) geschöpft hat.
Zu Martins artikel über Rasser in der Allgemeinen deutschen
biographie notiere ich, dass das titelbild von Rassers zweiter komödie
„vom könig, der seinem söhn hochzeit machte" (1575) von C. Oerdel
(Über die pflege des dramas auf deutschen gelehrtenschulen. Tübinger
dissertation 1870, tafel 1) reproduciert ist. Ebendort s. 75 — 89 steht
auch ein auszug aus Baumgartens Juditium Salomonis (1561)?
der W. Kawerau (Yierteljahrsschrift für litteraturgeschichte 6, 1) ent-
gangen ist.
BERLIN. J. BOLTE.
WOLFF, RUDOLF HILDEBRAND 73
Rudolf Hil(lel)rand.i
Sonntag den 28. Oktober 1894 starb in Leipzig Rudolf Hildebrand. Sein
tod kam nicht unerwartet: seit jähren war der nunmehr dahingeschiedene an die
krankenstube gefesselt — und doch hat er rastlos bis zum letzten tage für die Wis-
senschaft gewii'kt; so reisst sein tod eine klaffende lücke in unsere reihen. Fürwahr
ein schöner tod! Fast wie ein feldherr auf dem schlachtfelde ist meister Hildebrand
verschieden: noch Sonnabend revidierte erden jetzt Ztschr. f. d. a. 39, 1 — 8 abgedruck-
ten aufsatz über Spervogel und schrieb an einem aufsatze über „wache stehn und
dergleichen" — mitten in der arbeit musste er abbrechen; schmerzlos ist er in der
nacht verschieden. Die schöne feier des tages, an dem er das siebente Jahrzehnt
vollendete, hatte er noch erlebt und, tiefgerührt von allen ihm dargebrachten zeichen
der liebe, des dankes und der Verehrung, es aussprechen dürfen, dass er sich wie
auf dem höhepunkte seines erdenlebens fühle. Köstlichere freude konnte ihm nicht
mehr zu teil werden. So klagen wii- auch nicht.
„Völlig vollendet
Liegt der ruhende greis, der sterbliehen herrliches muster."
Hildebrands leben ist ganz mit Leipzig verknüpft. Dort wurde Heinrich Ru-
dolf Hildebraud sonntag den 13. märz 1824 als söhn eines Schriftsetzers geboren.
Wie der vater eifrig bemüht blieb, sich selbst fortzubilden, so sorgte er auch für
des Sohnes erziehung in aufopferungsvollster weise. Zuerst besuchte Rudolf eine
privat schule; 1836 kam er auf die Thomasschule, zu der er später durchgebildet als
lehrer zurückkehren sollte. Schon als quartaner gefiel er sich in dem wachen träume,
wie er einst ein deutsches Wörterbuch schreiben wolle! Von 1843 bis 1848 studierte
er an der Universität seiner Vaterstadt — anfangs theologie, bald philologie, die klas-
sische lind in zunehmendem masse die deutsche. Eng schloss er sich hierbei an
Moriz Haupt an. Wenige monate nach bestandenem statsexamen beginnt Hildebrands
lehrtätigkeit an der anstalt, der er seine Vorbildung für die akademischen Studien
verdankte. Bis 1869, volle zwanzig jähre, ist er der Thomasschule treu geblieben;
dann übernahm er eine professur an der Universität.
Nicht eigentlich das akademische lehramt rief ihn ab: sollte dieses doch zu-
nächst nur die müsse zur arbeit an einem gross angelegten wissenschaftlichen unter-
nehmen gewähren. Von anfang an war unserm Hildebrand auf Haupts empfehlung
die korrektur des Deutschen Wörterbuches übertragen, welches die brüder Grimm
seit 18.52 herausgaben. In seiner zaghaft bescheidenen weise bat er über der kor-
rektur, hie und da ergänzende zusätze vorlegen zu dürfen. Hierbei bekundete er
alsbald eine solche Fähigkeit zur mitarbeit, dass ihm zunächst die unumschränkte
erlaubnis zu eigenmächtigen Zusätzen erteilt, später die bearbeitung des buchsta-
ben K übertragen ward. Jakob Grimm hatte schon in der von-ede des ersten bandes
sp. LXVII HUdebrands ungemeine Sachkenntnis und neigung zur deutschen spräche
gerühmt, in der des zweiten (1860) sp. VI ihm volle befähigung zur mitarbeit zuer-
kannt. Nachdem Jakob Grimm 1863 gestorben war, gewährte schon 1865 der rat
der Stadt Leipzig dem fortsetzer des grossen nationalwerkes eine wesentliche erleich-
terung durch die erlaubnis, dass Hildebrand auf drei jähre nur acht stunden wöchent-
lich zu unterrichten brauche. Noch vor ablauf dieser fi'ist veranlasste Julius Zacher
1) Durch auskunft haben den Verfasser zu dank verpflichtet die herren Oberlehrer dr. Rudolf
Hildebrand, prof. dr. Friedrich Vogt und privatdocent dr. Georg Witkowski. — "Vgl. namentlich auch
die nekrologe in der „Zeitschrift für den deutschen Unterricht", band IX, s. 1 fgg. (Otto Lyon); in
der „Leipziger zeitung" vom 3. nov. 1894 abends vind im ,, Leipziger tageblatt" vom 4. nov. 1894.
74 WOLFF
in der deutsch -romanisclien abteilung der philologen- Versammlung zu Halle 1867
einen beschluss, die so eben verheissungsvoU gestiftete nationale gemeinschaft, den
Norddeutschen bund, um Unterstützung des nationalen Unternehmens anzugehen.
Die folge davon war, dass die sächsische regierung Hildebrand 1869 zum ausser-
ordentlichen Professor der „neueren deutschen litteratur und spräche" ernannte, wie
die hessische in ähnlicher weise für seinen mitarbeiter Karl Weigand in Giessen sorgte.
Fünf jähre später wurde Hildebrands professur in ein Ordinariat verwandelt. Inzwi-
schen hatte er 1873 die bearbeitung des buchtaben Z" vollendet und die des 0 begon-
nen. Wenn die arbeit nur langsam vorrückte, wenn es Hildebrand, auch bei späterer
Unterstützung durch einen hilfsarbeiter, nur vergönnt war, in der ausarbeitung bis
zum artikel „GestorZe"^ zu gelangen, so liegt der grund nicht nur in dem langen Siech-
tum des bearbeiters und nicht nur in der äussern fülle, die das G (schon wegen der
Zusammensetzungen mit ge-) umfasst, sondern vor allem auch in der Innern fülle,
die ein schier unerschöpflicher reichtum an wissen und feinheit hier ausbreitete.
Auch Hildebrands ai'beit an den späteren auflagen (seit der 2.) vonWeiskes ausgäbe
des „Sachsenspiegel" berührte sich wesentlich mit seiner tätigkeit als wortforscher: im
glossar konnte er die entstehung vieler Wörter aus alten rechtszuständen verfolgen.
Anderseits bekundet seine fortsetzung von Soltaus Sammlung „Historischer Volkslie-
der" (1856) seinen eifer und sein feinsinniges Verständnis für volksmässige poesie.
Neben der arbeit am Deutschen wörterbuche gieng fortlaufend die akademische
lehrtätigkeit her. Schon als gymuasiallehrer, als lehrer der Thomasschule hatte Hil-
debrand ein privatissimum für geistig rege primaner und Sekundaner abgehalten; vor-
wiegend brachte er hier altdeutsche dichter zur lesuug und erläuterung. An der
miivei-sität lehrte er in Vorlesungen und Übungen über das Volkslied, über Walther
und die mionesänger, über das Nibelungenlied, die Gudrun, den Sachsenspiegel,
Wickrams Rollwagenbüchlein, besonders auch über Goethe und die litteratur des
18. Jahrhunderts u. a. Auch sonst besprach Hildebrand allerlei wissenschaftliche fra-
gen mit den mitgliedern seines kränzchens auf gemeinsamen Spaziergängen in der
ihm eigenen gemütvollen und gemütlichen weise. Die langwierige krankheit nötigte
ihn in den letzten jähren seine lehrtätigkeit auf ein privatissimum einzuschränken,
das er mit um so eindringlicherer Wirkung in seiner wohnung abhielt.
Hildebrands familienleben war gesegnet. Er fand eine verständnisvolle frau,
mit der er 21 jähre (1853 — 74) in glücklichster ehe lebte. Nach dem tode der lebens-
gefährtin blieben ihn; zwei söhne und zwei töchter zurück, von denen er eine tochter
bis an sein lebensende im hause behielt, so dass er der treu sorgenden band nie ent-
behrte. Wenige jähre vor seinem tode traf Hildebrand mitten in seinem Siechtum
ein schwerer schlag durch den in geistesumnachtung selbstgewählten tod seines älte-
sten hoffnungsvollen sohnes. Nun ist der meister selbst von uns geschieden, und wir
blicken mit wehmütiger dankbarkeit auf die reichen fruchte, die sein wirken in
unserer Wissenschaft und unserm leben gezeitigi hat.
Mit wie weitem blicke Eudolf Hildebrand seine mitarbeit am Deutschen Wör-
terbuch auffasste, zeigt seine antrittsvorlesung „Über Grimms Wörterbuch in seiner
wissenschaftlichen und nationalen bedeutung" (1869); noch bedeutendere anfschlüsse
gibt die vorrede zum V. bände des Wörterbuches (1873). In den Vordergrund stellt
er für die Wortforschung natürlich das geschichtliche verfahren, wie es Jakob Grimm
in die grammatische betrachtung der sprachen eingeführt hat. Aber ganz im geiste
1) Der letzte bei Hildelirands leben gedruckte aushängebogen geht bis Gespiele. 0. E.
RUDOLF HILDEBRAND 75
dieses grössten meisters unserer Wissenschaft, ja vielleicht noch in weiterem umfange
gilt für Hildebrand das Wörterbuch auch, als stiller mitarbeiter zum begreifen unse-
rer Vorzeit wie unserer eigenen gedankenweit. Die geschichte fast jedes wertes wird
ihm ein beitrag zur inneren geschichte unseres kulturlebens , ein Spiegel der entwick-
lung unseres volkes. So betrachtet Hildebrand den wortvorrat der deutschen spräche
im höchsten und vollsten sinne als nationalschatz. "Wol lässt er dabei als getreuer
Eckart nicht ausser acht, dass andre Völker meist dann erst in solchem umfange ihre
geschichte zu schreiben begannen, wenn sie sich anschickten, mit ihrem leben abzu-
schliessen. Uns aber soll vielmehr nach, seiner meinung der blick in den Spiegel
unserer entwicklung bald zur anfeuerung, bald zur heilung dienen. Das kann frei-
lich nur geschehen, wenn die Wissenschaft zum leben hinstrebt, nicht aber, wenn sie
in Selbstgenügsamkeit verknöchert.
Als denkmäler und Zeugnisse der kulturentwicklung, gleichsam als abdrücke
oder abspiegelungen vergangener, aber noch fortwirkender sitten und zustände sind
die Wörter für Hildebraud in erster linie von Interesse. „Wie die spräche altes leben
fortführt", lautet eines seiner liebliugsthemata. Mit umfassender gelehrsamkeit und
eindringender sachkentnis liebt er es nachzuweisen, wie viele Wörter und Wendungen
ein stück alter sitten und anschauungen vor unsern blick zaubern. Indem er die
redewendungen bis auf ihren xirsprung zurückzuverfolgen sucht, greift er gern in die
deutsche 1 rechtsanschauungen und -gebrauche sowie in die sitten und gebrauche des
Volkslebens hinein; das familienleben wie die öffentlichen einrichtungen zieht er heran;
bald holt er aus dem ritterweseu und dessen kampfspielen, bald aus kinderspielen
aufklärung über den eigentlichen sinn unserer rede. So verstand Hildebrand meister-
haft, uns gleichzeitig unsere spräche und unsere Vergangenheit lebendig zu machen;
so strebte er die „freie, fröhliche innere anschauung" anzuregen, ein gegenständ-
liches, ein sach-denken im gegensatz zum bloss logischen oder wort-denken auszu-
bilden. Hier wusste er sich ganz auf Goethes bahnen; er selbst verweist in der
vorrede zum V. bände auf dessen werte 50, 93 fg. (Hempel 27, 1, 351 fg.). Mochte
auch das eifrige spüren nach zusammenhängen und anknüpfungspunkten hie und da
zu voreiligen hypothesen führen, so besass doch Hildebrand zu strenge philologische
Schulung, um sich nicht der uferlosen phantasieflut mancher sprachvergleicher ent-
gegenzustemmen. Sehr verständig betonte er, dass es nicht die aufgäbe des Wörter-
buches sein könne, ein wort über seine erste fest nachweisbare form hinaus zu ver-
folgen, um durch kombination und ansetzen hypothetischer formen zu einer älteren,
möglichst urgeboreu anmutenden wurzel zurückzuschreiten. Desto entscheidenderes
gewicht leg-te Hildebrand auf eutwicldung des begriffs vom greifbaren auftreten bis
zum heutigen gebrauche; auf entwicklung, wie besonders betont werden darf:
denn nicht bloss auf statistische aneinanderreihung der wechselnden gebrauchsweisen
geht er aus , sondern er schreibt eine innere geschichte des wertes und des begriffes.
So nehmen manche artikel den umfang einer kleinen abhandlung, unter umständen
selbst einer grossen abhandlung an; über Geist z. b. wird auf 118 spalten gehandelt.
Vielleicht ist bisweilen zu viel differenzieii, wo das gespannte feingefühl unterschiede
zu empfinden glaubte, die doch im wesentlichen auf denselben grundtypus hinaus-
kommen. Dafür erhalten wir an der band eines wortes aber auch meist eine tief-
gi'eifende und voll ausschöpfende seelengeschichte des deutschen volkes, die nir-
gends ihres gleichen hat. Dies zeigt besonders die meisterhaft behandelte gruppe
der Wörter gedanke , geist, gemüt, genie, aus der allein schon die epochen und Wen-
dungen des deutschen gefühlslebens klar heraustreten! Mit verliebe und mit vollem
76 WOLFF
rechte lässt er scharf den Umschwung hervortreten, der in der deutschen Volksseele
nm die mitte des 18. Jahrhunderts vor sich gieng: die verinnerlichung und Vertiefung
gelangen zu kongenialer nachzeichnung, und auch das allmähhche eintreten des Über-
schwangs lind der verstiegenheit wird an der wortgeschichte kenntlich gemacht. Es
gehört zu Hildebrands eigenartigsten Verdiensten, aufgewiesen zu haben, wie die
empfind ungsfülle der genie-periode bis auf Geliert zurückgeht; von „Sentimentalität",
von „stürm und drang" wollte er da nichts hören, ganz erfüllt war er von pietät-
vollem danke für die positive, schöpferische gewalt, die sich in jener Überwindung
des nüchternen Verstandes durch die gewalt des herzens offenbarte. Glücklich wusste
er auch die epoche der romantik an der entwicklung der begriffe aufzuweisen. Einen
früheren grossen abschnitt unserer geistesgeschichte fasst er als unsere Franzosenzeit
zusammen, die er bis weit ins 18. Jahrhundert hinein datiert. Im hinbhck auf sie
namentlich geht er von der blossen wortgeschichte zur wortkritik über, wo er findet,
dass die ruhige entwicklung eines deutschen begriffes, welcher der sache und dem
bewusstsein nach längst vorhanden war, von einem fremden eindringling durchkreuzt
und auf Seitenwege oder gar auf abwege gelenkt ward. Vom rein sprachlichen boden
auf die gesammte kultur ausgreifend, polemisierte Hildebrand ähnlich gegen die soge-
nannte renaissance: nicht eine widergeburt, wie der name bedeutet, sondern eine
wider er weckung des altertums fand statt. Eine rechte widergeburt sei nur aus
unserer natur heraus möglich und freilich jetzt vonnöten.
Gewähren die wöiier so viel stoff zum nachdenken wie zu kultur -rückblicken,
dann liegt es nahe, sie zu solchen zwecken methodisch fruchtbar zu machen. Die
logik des Sprachgeistes soll die „ geistesbildung nach dem Innern zu" fördern, zum
sachdenken anregen. Spricht doch Hildebrand als ziel des deutschen Unterrich-
tes gleicherweise aus, „dass jener Spiegel der nation in jedem gebildeten deutschen
sich widerholend darstelle." Daraus ergibt sich, wie unauflöslich Wortforschung und
Sprachunterricht in dem interessenkreise unseres mannes verknüpft waren. Sein lebe-
lang blieb er bemüht, die forschung und deren ergebnisse auch der schule nutzbar
zu machen. "Welche bedeutung Hildebrand dadurch für unser gesammtes erziehungs-
wesen gewonnen, lässt sich schon aus jener schritt ermessen, welche neben seinen
beitragen zum Deutschen wörterbuche seinen namen vor allem in ehi'en lebendig erhal-
ten wird: „Vom deutscheu sprachunteiTicht in der schule und von deutscher erzie-
hung und bildung überhaupt, mit einem anhang über die fremdwörter und einem
über das altdeutsche in der schule" (erste aufläge 1867, zweite 1879, dritte 1887,
vierte 1890). Mit feuereifer verficht der Verfasser hier folgende grund- und leitsätze:
1) „Der Sprachunterricht sollte mit der spräche zugleich den Inhalt der spräche,
ihren lebensgehalt voll und frisch und warm erfassen." 2) „Der lehrer des deut-
schen sollte nichts lehren, was die schüler selbst aus sich finden können, viel-
mehr alles das sie unter seiner leitung finden lassen." 3) „Das hauptgewicht sollte
auf die gesprochene und gehörte spräche gelegt werden, nicht auf die geschrie-
bene und gesehene." 4) „Das hochdeutsch, als ziel des Unterrichts, sollte nicht als
etwas für sich gelehrt werden , wie ein anderes latein , sondern im engsten anschluss
an die in der klasse vorfindliche Volkssprache oder haussprache."
Im einzelnen macht Hildebrand namentlich darauf aufmerksam, wie doch unser
ganzer sprachbesitz eigentlich aus lauter kleinen eigenen schöpfungsakten entstehe und
bestehe: diese schöpfungsakte nun wären im Unterricht unter anleitung des lehrers zu
widerholen. Dabei ist stets an bekanntes anzuknüpfen, bis sich wort und sache im
köpfe des Schülers vermählen. „ Nur zehn solcher augenblicke in einer stunde " —
RUDOLF HILDEBKAND 77
ruft der feine kenner der kinderseele — ^wo bleiben da leere und langeweile!" Aber
er will nicht einmal, dass der lehrer die gegenstände in die seele der kinder hinein-
arbeite, vielmehr soll er sie hinein spielen — in Schillers ästhetischem sinn des
begriffes. An das unmittelbare leben, au die kindliche Sphäre will er angeknüpft
wissen: die methode hat überall im Unterricht an die stelle des einseitig systema-
tischen Vortrags zu treten. So soll denn also der deutsche Unterricht nicht bloss zum
logischen, sondern zum begrifflichen selbstfinden und nicht bloss zum selbstfinden,
sondern zum selbstbeobachten anleiten. Nimmer ward unser dahingeschiedener mei-
ster müde, gegen jenes rein gedächtnismässige wissen zu eifern, das in fächern wol-
geordnet ruht, aber abstrakt bleibt. „Ja, es ist für eine frische zukunft eine grosse
Umkehr nötig!" Widerum berührt er sich eng mit Goethe. — Man weiss, wel-
chen umfang der von Hildebrand neu begonnene kämpf gegen die Vorherrschaft
der geschriebenen spräche vor der gesprochenen angenommen hat. Die ausartungen
dieser bewegung hat er sich nie zu eigen gemacht. Eng zusammen Meng mit die-
ser rettung der mündlichen rede seine forderung, dem hochdeutschen nicht eine
falsche Vornehmheit, der mundart nichts schlechtweg verächtliches zu geben. Ler-
nen soll der schüler vielmehr von seiner mundart aus das hochdeutsche und noch
vieles andere.
Noch enger gehen der wortforscher und der erzieher Hildebrand in dem
abschnitte des buches zusammen, welches „Vom bildergehalt der spräche und sei-
ner Verwertung in der scliule" handelt. Jene bilder aus dem leben, die in festen
Wendungen niedergelegt sind, werden darin für den Unterricht fruchtbar zu machen
gesucht. Mit recht betont Hildebrand, dass der überlieferte verrat solcher bildlicher
rede Wendungen den eigentlichen geist, gehalt und reichtum, das eigentliche innerste
leben der spräche darstelle. Mit ihrer hilfe müsse die schule wider eine deutliche
anschauung, eine gesättigte bildlichkeit pflegen; das denken müsse in ein sehen, ja
in ein bewegen, ein mitleben und mittun, ein nachschaffen übergehen. Sehr fein
wird entwickelt, wie auch die namen ein stück kulturgeschichte spiegeln.
Selbst die fremdwörter, so lebhaft Hildebrand für ihre einschränkung ficht,
weiss er noch in ähnlicher weise für den Unterricht fruchtbar zu machen. Denn
natürlich bewahrt ihn seine sprachgeschichtliche bildung bei sprachreinigenden bestre-
bungen vor Übertreibung und geschmacklosigkeit. Mit glücklicher Vereinigung von
gelehrsamkeit und Ironie weist Hildebrand nach, wie viele fremdwörter ihren gebrauch
in Deutschland der blossen bildungsstreberei verdanken, und wie viel gedankenlosig-
keit sich dabei kundgebe. Auch die gesichtspunkte der klarheit und Schönheit lässt
er in Verurteilung des übermasses unserer fremdwörter nicht ausser acht. Eindring-
lich schärft er den satz ein: „Das bloss nachgeahmte und andern nur nachgelebte
leben ist gar kein wahres leben." Aber dennoch verwahrt er sich dagegen, alles
ausweisen zu wollen, was sich nicht schon fest eingebürgert hat. Nur müssten wii"
verstehen, den leben hemmenden wüst in eine fröhliche ernte zu verwandeln, die
leblosigkeit, die den fremdlingen anhängt, wider in volles förderndes leben umzu-
setzen. Wodurch? Auch die fremdwörter, soweit sie nicht entbehrlich sind, will
Hildebrand als kulturbilder behandelt wissen, die nach ihrem Ursprünge wie nach der
zeit und veranlassung ihrer einführung im Unterricht gesondert, somit in einen kul-
tm-geschichtlichen rahmen gerückt werden.
Mit alle dem hat die Wissenschaft nun freilich aufgehört, Selbstzweck zu sein;
sie ist in den dienst der erziehung wie des lebens getreten. Hildebrand tat diesen
schritt mit vollem bewusstsein. Er war von der Überzeugung durchdi'ungen, dass
78 WOLFF
jede Wissenschaft verdorren und verknöchern niuss, die sich selbstgenügsam auf sich
zui'ückzieht, die sich nicht mit dem leben wechselseitig befruchtet. Darum stellte
er schliesslich sein ganzes iuteresse, soweit es nicht vom wörterbuche gefesselt war,
in den dienst des Unterrichtswesens. Aus diesem gründe begrüsste er die begrün-
dung dieser Zeitschrift ganz besonders mit freude, wie es die bd. 20, 409 mitgeteilte
stelle aus einem briefe an ihren begründer Julius Zacher bezeugt^. Später (seit 1887)
beteiligte er sich eifrig an der „Zeitschrift für den deutschen Unterricht", die er zu-
gleich als fleissigster und gediegenster mitarbeiter förderte. In welchem geiste er
dieses unternehmen ausgeführt wissen wollte, das bezeugen seine geleitworte: für ims
Deutsche handele es sich jetzt darum, „ein neues leben eben als Deutsche zu begin-
nen." Der deutsche Unterricht müsse deshalb in den mittelpunkt der erziehung tre-
ten. Für uns seien Lessing, Goethe, Schiller diejenigen, die uns „mehr mensch"
werden, uns eine „höhere menschheit" erreichen Hessen; sie also stellten für Deutsch-
land die hiimaniora dar. Auch später noch kam er mit folgerechter beharrlichkeit
auf diesen bedeutsamen gedanken zurück: jetzt erst laufe die periode der sogenannten
renaissance ab, und wir erlebten den beginn der deutschen periode. In dieser denkt
er sich vor allen Goethe als führer. Im anschluss an Goethe müsse das deutsche in
die mitte der höchsten deutschen bildung rücken, wie ja auch schon das ausländ
beginne, eben im anschluss an Goethe, unserer geistesweit für das allgemein mensch-
liche eine bestimmende niittelstellung einzuräumen.
So erhoffte und erstrebte Hildebrand einen unmittelbaren einfluss der deutschen
Philologie auf das leben. Ihm war die Wissenschaft eben nicht blosse kalte, interes-
selose verstandessache ; wie er sie ausübte, war die Wissenschaft vielmehr zugleich
ein ausfluss des gemütes und des gewissens. „Das blosse wissen", rief er aus, „der
blosse verstand gibt uns von einem gegenstände nur die umrisse und die fläche, gibt
ihn uns nui- als äusseres Schauspiel; die färbe aber und den duft und die seele oder
das volle leben, die tiefe gibt uns allein die eigenste beteiligung, d. h. das empfin-
den, das gemüt!"
Wie in dem entschlafenen verstand und gefühl, wissen und gemüt zusammen-
wirkten, das offenbaren besonders charakteristisch die „Tagebuchblätter eines sonu-
tagsphilosophen ", die er 1887 imd 1888 in den „Grenzboten" ohne seinen namen
veröffentHchte. Ein sonntagsphilosoph ! Mit sichtlicher Vermeidung alles systema-
tischen streut Hildebrand denn hier eine fülle gelegentlicher anregungen aus, ganz
wie es für seine lehrart überhaupt charakteristisch war. Mit Vorliebe wirkt er auch
hier für gemütsbildung und nationale tatkraft. Nicht nur für gegenständliches den-
ken in Goethes sinne tritt Hildebrand widerum ein ; auch für das leben , für das liandeln
gegen ein blosses denken kämpft er im geiste von Goethes „Faust", und er widerholt
Goethes ausruf: „Armer mensch, an dem der köpf alles ist!" In einem dieser tage-
buchblätter spricht er „Vom zusammenleben", widerum auf Goethe fussend, dessen
„Natürliche tochter" er geschickt als zeugnis gegen den egoismus heranzieht. Ein
andermal verfolgt er an der band der Htteratur „Deutsche Prophezeiungen über sie-
ben jakrhunderte hin", mit einer verständnisvoll rettenden auslegung von Goethes
1) In unserer Zeitschrift erschienen folgende arbeiten R. Hildebrands: I, 442 ,,ein wunderlicher
rheinischer accusativ" (vgl. noch 11, 190); I, 448 ,,die bedeutung der krypta"; II, 188 ,,zu Schil-
lers Teü"; II, 253 ,,zur geschichte des Sprachgefühls bei den Deutschen und Eömern"; II, 468 ,,zur
Gudrun"; III, 358: anzeige von Dietz, Wörterbuch zu Luthers schritten; IV, 356: anzeige von Kudrun
herausgegeben von Martin. — Mehrere von diesen arbeiten und viele andere zerstreute aufsätze Hilde-
brands sind vereinigt erschienen als : Gesammelte aufsätze und vortrage zur deutschen philologie und
zum deutschen Unterricht. Leipzig 1890. 0. E.
RUDOLF HILDEBRAND 79
festspiel „Des Epimenides erwachen." Gleicherweise zieht unser sonntagsphilosoph
musik und bildende kunst, menschen- und tierseele, leben und sterben, trauer und
treue heran; auch stiftet er eine Versöhnung zwischen der guten alten zeit und dem
fortschritt, unter der bedingung, dass man den ton auf das erste attribut „gut" lege.
Alles nationale, alles volkstümliche und alles individuelle nährt Rudolf Hilde-
brand; das nächstliegende heisst er uns ergreifen — wie Goethe, von den kindern
lernen — im geiste des Heilandes. Denn er war eine voll harmonische und tief reli-
giöse natur. Engherzigkeit war ihm aber auf religiösem und nationalem wie auf wis-
senschaftlichem gebiete zuwider. Zuwider war ihm auch jede Wissenschaft, die nur an
der materie klebt. Die einseitig grammatische wie die rein physiologische betrachtung
der Sprache wies er ab, ohne ihr begrenztes recht zu verkennen: die psychologie
habe in der Sprachwissenschaft ergänzend neben die physiologie zu treten; ihre ein-
hoit wird beiden gegeben in betrachtung der spräche als kunstwerk, welches das
geistige leben in seiner ganzen erscheinung, seinem ganzen wesen einfängt. Diese
bedeutsame auffassung ist für Hildebrand bezeichnend: er war eine künstlerische,
positive, schöpferische natur. Wie sehr seine persönlichkeit wol an Geliert erinnern
mag — seir geist war doch vielfach Herder und Jakob Grimm verwant. Demgemäss
schienen ihm in der litteraturwissenschaft diejenigen betrachtungsweisen nicht anspre-
chend, die sich in kühlem feststellen von tatsachen, in mechanischer handhabung
eines äusseren apparates gefielen. Ihn fesselte mehr die methode als das System,
mehr die nachschaffende („rekonstruierende") als die kritische Seite der Wissenschaft.
Das erklärt den zauber, den Hildebrand als akademischer lehr er ausübte.
Nicht freilich was man „schwarz auf weiss" „nach hause tragen" kann, erwarben wir
bei ihm ; aber auregung für alle selten der philologischen arbeit und fürs ganze leben.
Von scheinbaren nebensachen aus und durch Seitensprünge eröffnete er ausblicke ins
unbegrenzte. An das gemüt, nein, an die ganze persönlichkeit der hörer wandte sich
meister Hildebrand, indem er zeigte, wie viel mehr an dem philologischen lernstoff
haftete als etwa blosses denkwerk. So wusste er hunderte von jugendlichen herzen
zu begeistern — für die Wissenschaft von deutscher spräche und dichtung wie unwill-
kürlich auch für den meisterlichen lehrer selbst. Doch weiter reichte seine persön-
liche Wirkung. "Wer wäre je von ihm ohne anregung, ohne erquickung gegangen?
Noch in der langen krankheit seiner letzten jähre leuchtete sein äuge auf, sobald im
gespräch ein gegenständ berührt wurde, der ihm am herzen lag; und wie viel lag
ihm nicht am herzen, zum besten unserer Wissenschaft wie unseres Volkes! Dann
konnte er, je nachdem gegenständ und Stimmung es mit sich brachten, jubeln und
weinen, begeistert anfeuern oder grimmig auffahren. Alles in ihm gieng durch das
gemüt. Wer ihm je als Schüler oder freund nahegetreten ist, den wird sein bild
nimmer lassen. Und wie es sich unauslöschlich in die herzen seiner jünger und in
die geschichtsbücher der Wissenschaft vom deutschen eingegraben hat, so steht es
mahnend und bahnweisend an der pforte der zukunft, auf dass unsere Wissenschaft
gedeihe in Schöpferkraft und Wetteifer mit dem frischen, befruchtenden leben!
KIEL. EUGEN WOLFF.
80 . THURNETSEN
LITTEEATUR
Nennius vindicatus. Über entstehung, geschichte und quellen der Historia Brit-
toaum. Von Heinrich Zimmer. Berlin, Weidmann. 1893. VIII u. 342 s. 8. 12 m.
Die frage nach geschichte und Verfasser der Historia Britonum schien nach
den letzten Untersuchungen sich in nebel auflösen zu wollen; Zimmers buch hat ihr
wider einen festeren rückgrat gegeben. Ein glücklicher gedanke war jedesfaUs die
veränderte fragestelluug. Während man bisher vor allem nach der zeit der entste-
hung der einzelnen bestandteile zu forschen pflegte, wobei die durch das werk zer-
streuten widerspruchsvollen zahlen wie irrlichtev jeden in eine andere Sackgasse ver-
lockten, fragt Zimmer zunächst nach dem „wo?". Die beautwortung dieser frage
erleichtert dann auch die auffindung von etwas sichereren daten. Auch der beinahe
schon aufgegebene „Nennius" wii'd als wirklicher Verfasser einer redaktion der Hi-
storia erwiesen; daher der titel des buches. Die grundlage bildet das handschrift-
liche material, das Mommsen für die ausgäbe des Nennius in den Monumenta
gesammelt hat (s. das vorwort).
Das buch zeigt denselben Charakter, wie die andern arbeiten des Verfassers:
einen ungeheuren Impetus, der vor keiner folgerung zurückscheut. Jede einmal
geäusserte Vermutung wird zum weiterbau verwendet (vorrede IV); hierdurch ent-
steht für den rein ästhetischen beurteiler ein bild A'on berückender eiuheitüchkeit —
wie einige erschienene recensionen des Werkes zeigen — , für den dem zweifei zugäng-
lichen leser aber ein unbehagliches gefühl, wie wenn er ein hochragendes gebäude
auf einem fuudament, in dem sich luftsteine unter die quadern mischen, aufrichten
sähe. Das umfangreiche buch mit all seinen detailuntersuchungen hätte einen aus-
führlichen index verlangt, der aber fehlt; das Verzeichnis der quellen der Historia
(s. 265 fgg.) bietet einigen, aber ungenügenden ersatz; so werden auch manche gute
gedanken, die in dem meere von hypothesen schwimmen, leicht übersehen oder ver-
gessen werden.
Zimmers hauptresultate sind (s. 275 fgg.): Im jähre 679 schrieb ein Britta des
nördlichen Kymrenstaats eine geschichte der Angeln und Britten des nordens bis auf
seine zeit (§57 fgg. ^ der späteren Historia); sie war als fortsetzuug gedacht zu
dem überblick über die britannische geschichte, welche die einleitung bildet zu der
von Gildas um 540 verfassten schrift De excidio Britamiiae. Aus jener geschichte,
die inzwischen einige Zusätze erhalten, schuf der Südkymre Nennius, der auf der
grenze von Brecknock-Eadnor und Herefordshire lebte, im jähre 796 die Historia
Brittonum (nach Zimmer Volumen Britanniac genannt; s. u. s. 90), namentlich indem
er aus sehr verschiedenen quellen einen ersten teil dazu neu komponierte (bis § 56).
Sie ist nur in verwirrtem zustande auf uns gekommen, indem in früher zeit zwei
blätter einer handschrift herausfielen, an falscher stelle eingelegt imd kopiert wurden.
Der beste Vertreter dieser redaktion ist cod. A (Harleian 3859); doch kommen dane-
ben die handschriften DE in betracht (s. 171*, 280). Auch die vaticanische recension
(die sog. Marcus -handschriften^) ist nicht altertümlich, sondern aus dieser Harleian -
recension im 5. jähre könig Eadmunds (946) durch einen Engländer umgearbeitet
(s. 167 fgg.). Vor der Verwirrung hatte ein auf Anglesey lebender schüler eines pres-
1) Ich citiere hier und im folgenden nach der ausgäbe von San-Marte (Ste-
venson).
2) Über den Ursprung des titeis Marctis anachoreta s. G. Paris, Romania 12, 1
370; Zimmer 169. '
ÜBER ZIMMER, NENNIUS VINDICATUS 81
byters Beulan um 810 eine neue redaktioa mit einigen Zusätzen und mit kürzung
der geschichte des nordens veranstaltet, die Zimmer als „nordwelsche recension"
der „südwelschen" (= Harleian) gegenüberstellt. In lateinischer gestalt ist sie
verloren, liegt dagegen der irischen Übersetzung zu gründe, die der irische dich-
ter und annalist Gilla Coemgin vor 1072 angefertigt hat; daher ist diese von hervor-
ragender Wichtigkeit. Auszüge aus der lateinischen fassung finden sich als randnoten
in mehreren hand'=chriften der südwelschen recension und sind in einigen haudschrif-
ten in deren text aufgenommen. Eine solche handschrift ist L (13. jh.), die ein spä-
tes bombastisches machwerk (§1. 2) als erste vorrede vorschiebt (s. 48).
Soweit Zimmer. Einige lokalisierungen und daten scheinen mir begründet;
dagegen was über gestalt und inhalt der älteren recensionen erschlossen ist, hat sich
im wesentlichen als irrig herausgestellt. Den hauptstoss hat das gebäude erlitten
durch Mommsens nach weis, dass die handschrift von Chartres (9. — 10. jh.), die auch
Zimmer (s. 201 fg.) gekannt, aber in ihrem wert nicht erkannt hat, eine abschrift der
Eist. Britt. enthält in der gestalt, die sie vor Nennius gehabt hat\ Sie ist jetzt all-
gemein zugängiich durch Duchesnes abdruck in der Eevue Celtique 15, 174 fgg.,
der auch einige bemerkungen daran knüpft-. Ich bezeichne sie mit Ch. Die vorläge
dieser — im einzelnen sehr fehlerhaften — handschrift war unvollständig, so dass sie
leider mitten in § 37 abbricht. Doch so wie sie ist, genügt sie, um auf den ersten
blick folgendes zu lehren: 1. Auch der erste teil der Eist, rührt in seinen wesent-
lichen bestandteilen nicht von Nennius her, sondern gehörte schon dem älteren werke
an. Dieses war also nie als fortsetzung von Gildas gedacht. 2. Die scheinbare
Unordnung der „südwelschen recension" beruht nicht auf ausfall von blättern, son-
dern ist altererbt; im gegenteil hat Nennius durch ein paar eingestreute sätze den
weg gewiesen, sich in dem etwas chaotischen gemengsei zurechtzufinden. Also sind
auch die daten in § 16 nicht erst später, beim kopieren einer verwirrten handschrift
eingefügt. 3. Die „nordwelsche recension" hat also gleichfalls nie einen „geordneten"
text besessen; sie ist nicht verloren, sondern bestand von anfang an, ausser in der
kürzung des Schlusses, in ein paar rand- oder interlinearnoten, wie sie noch mehrere
handschriften bieten. 4. Die vaticanische recension hat neben Nennius eine handschrift
des vornennianischen Werkes benützt und verarbeitete 5. Das gleiche gilt von der
irischen Übersetzung. Schon Heeger hat in seiner anzeige des buches* — ent-
gegen seiner eigenen früheren ansieht — ausgesprochen, dass ihre verständigere anord-
nung nicht der lateinischen vorläge (Zimmers x) , sondern dem Übersetzer zu verdanken
sei, was jetzt keines beweises mehr bedarf. Mit recht bezweifelt er auch die autor-
schaft des GiUa Coemgin. Zimmer (s. 13 fg.) gründet sie auf den Untertitel in der
einen der 4 vollständigen hss., im Book of Hy-Mane (vor 1423 geschrieben): In-
cipit de Britania airte quam Nenius constriixit ; Qilla Coemain ro rmpai i
scotic^ d. h. „G. C. übersetzte [sie] ins ii-ische" ". Die notiz könnte nur wert haben,
1) Neues archiv der ges. für ältere deutsche geschichtskunde 19. 283 fgg.
2) Ein störender druckfehler ist dort s. 176 die zahl [11] statt [10] nach § 9.
3) Mommsen, a. a. o. 288.
4) Gott. gel. anz., mai 1894, s. 399 fgg.
5) Zimmer korrigiert airte in aiste und übersetzt: ex ea, quam. Vor einem
relativsatz kann aber ex ea irisch nicht aiste (este) heissen, wie ja wol Zimmer sel-
ber weiss. Vielmehr steht airte nach irischer Schreibweise für arte. Die Überschrift
umschreibt ungeschickt: hicipit eulogium hrevissimum Britanniae inszdae, qiiod
Ninius Elvodugi diseipulus congregavit, wonüt mehrere Nenniushss. beginnen; sie
gibt also eidogümi durch ars wider.
ZEITSCHRIFT F. DF.UTSCHE PHILOLOGIE. BD. XXVHI. . t>
82 THURNEYSEN
weim sie iu alte zeit hioaufreichte. Hiergegen spricht nicht nur, dass sie in
der parallelhs. D (H. 3. 17 Trin. Coli., Dublin) fehlt \ sondern namentlich auch
die Schreibung des namens. Der Verfasser der Historia heisst für den irischen
Übersetzer durchaus Nenmius oder Nemnus: in § 3 (Todd s. 24) liest D Niimnus,
L Netmtius, B Neimnus, in der Überschrift von § 13 (Todd s. 42) D und B Nemnus,
L Nemius (Todd s. VIII), in §48 (Todd s. 104) hat die älteste hs. TJ Nemnus,
D Neamnos, L Nemnes, nur B Nenus. Die Überschrift mit Nenius geht also nicht
in die zeit des Übersetzers zurück. Ist sie aber späterer zusatz, so hat sie keine
bedeutung, da Gilla Coemgin als Verfasser annalistischer gedichte auch in späteren
Jahrhunderten wolbekannt war, sein name sich also leicht für ein historisches werk
dai'bot. Die frage ist insofern weniger wichtig, als ein fragment der Übersetzung sich
bereits in dem vor 1106 geschriebenen Lebor na h-Uidre findet, sie also nicht spä-
ter ist als das 11. Jahrhundert (der terminus -post quem ist das jähr 910; s. u.). Es
ist somit der zeit nach möglich, aber freilich nach allem sonstigen sehr unwahr-
scheinlich, dass sie von Gilla Coemgin herrührt.
Die grundlage für den Ii-en bildete, wie sich aus Zimmers Untersuchungen
ergibt, ein Nennius mit randnoten, die „nordwelsche recension", und zwar steht ihr
im allgemeinen hs. G am nächsten (Zimmer s. 43). Heegeri hat aber nicht erklärt,
ja merkwürdiger weise die frage gar nicht berührt, woher die zum teil besseren les-
arten des Iren stammen, die sich entweder nur in der vaticanischen recension oder
selbst da nicht widerfinden; und doch hatte sie Zimmer s. 19 fg. zusammengestellt.
Das rätsei löst sich jetzt aufs einfachste. Der irische bearbeiter hat, wie ein blick in
Todds ausgäbe lehrt, verschiedene andere quellen beigezogen. Eine derselben war
nun sicher eine Hist. Britt. in vornennianischer gestalt. Er hat sie da verwendet,
wo sie ihm richtigeres und genaueres zu bieten schien als sein Nenmus, dagegen ihre
verwoiTenen partieen bei seite gelassen. Aus ihr stamt die notiz in § 31 (Todd s. 78),
dass im jähre 347 nicht Gratianus Aequantius, wie alle Xenniushss. lesen, sondern
Gratianus und Aequitius „herrschten"-. Ferner hat er ihr- offenbar, wie die vatica-
nische recension, die zahl der 12 magi (§40, Todd s. 90), das wort nitilsaxum (=
Middelsaxum) am schluss von §46 (Todd s. 102)=* und den satz: stagnum figura
(der Ire las regniim) hujus mundi est in § 42 (Todd s. 96) entnommen. Die irische
Version komt also für die Nenniustradition nur- in dem grade in betracht, wie die
vaticanische recension.
Stellen sich so Zimmers misgiiffe als recht beträchtlich heraus, so erscheinen
sie doch darum verzeihlich, weil sie eigentlich alle in dem autem des zweiten satzes
von § 10 wurzeln. Und in der tat, wer einmal die bedeutung von Ch verkannte,
konnte nicht wol erraten, dass das autem des Nennius den gegensatz zu einer dar-
stellung bezeichnet, die gar nicht mehr vorhanden ist, weil sie eben Nennius in sei-
ner recension unterdrückt hat. Es ist der anfang von § 10 in Ch, den auch die
vaticanische recension leicht geändert wider aufgenommen hat. Anstatt nun Zimmers
aufstellungen , die durch Mommsens nachweis fast alle in eine schiefe läge geraten
sind, einzeln zu durchgehen, glaube ich den lesern dieser Zeitschrift einen besseren
1) s. Heeger, a. a. o. 401 fg. 2) Rev. Celt. 15, 178.
3) Der fehler des Nennius erklärt sich dai'aus , dass in der handschrift Middel-
saxum und der zu §47 gehörige satz: ut ab illicita conjunctione se scpararet aus-
gelassen, aber am rande nachgetragen waren. Durch falsche beziehung der verwei-
sungszeichen kam der satz an stelle von Middelsaxum ans ende von § 46 und letz-
teres wui"de übersehen.
ÜBEK ZIMMER, NENNIUS VINDICATUS 83
dienst ZU erweisen , wenn ich kurz zu bestimmen suche, wie sich auf grund des Zim-
merschen buches einerseits, der Bemerkungen Mommsens und Duchesnes anderseits
die g-esehichte der Historia Brittoinim gestaltet.
Die handschrift Ch führt den titel: Incipiunt. exberta. flnirhaoen^ de libro
sei. Germani inventa et origine. et genelogia Britonum. de aetatihus micndi.
Das zweite wort kann nur excerpta bedeuten, da Nennius § 3 über seine tätigkeit
berichtet: Ego Nennius . . . aliqua excerpta scribere curavi, qtiae hebetudo gentis
Britanniae dejecerat. Es lag ihm also ein werk mit ähnlichem titel vor. Das
dritte wort ist natürlich fll (d. i. fdii) TJrbagen zu lesen und erinnert sofort an
Rum (besser Run)., söhn des Urbgen, der sich in § 63 der Historia des Nen-
nius ziemlich unmotiviert in den Vordergrund drängt. Dort wird dem bericht, dass
der nordhumbrische herrscher Eadguin, ein jähr nach der taufe seiner tochter
Eanfled, mit :'2000 mannen sich taufen liess (nach. Beda i. j. 627), beigefügt: Si
quis scire voluerit.^ quis eos baptixavit, Rum map Urbgen baptixavit eos; et per
qiiadraginta dies non cessavit baptixarc omne genus A7nbronuni^ et per praedi-
eationem illius tnulti crediderunt in Christo, eine notiz, die auch die Annales
Cambriae a. 626 aufgenommen haben. Ein namhafter map Urbgen im 7. Jahrhun-
dert kann, da der name nicht häufig ist, fast nur ein söhn des brittenfürsten Urbgen
(später Uryen) sein, der auf einem feldzuge gegen den Nordhumbrerkönig Theodric
(572 — .'Ö79) auf anstiften seines brittischen bmidesgenossen Morcant ermordet wurde
(Nennius § 63)', also ein bruder des sagenberühmten Euein {Yivein, Owein) mab
Uryen. Da Run map Urbgen ein geistlicher war, also latein konnte, werden wir in
dem ßlius Urbagen der alten Überschrift kaum einen dritten bruder, sondern wol
eben diesen Sun zu sehen haben. Diese Übereinstimmung des namens macht Duches-
nes annähme (a. a. o. 187), der zweite teil der Hist., die geschichte des nordens,
habe dem ursprünglichen werke gefehlt, ganz unwahrscheinlich. Vielmehr drängt
sich sofort die frage auf, ob dieser söhn Urbgens , auf den laut dem titel die excerpta
de libro sancti Germani zurückgehen, welche wir längst aus Nennius als haupt-
quelle der geschichte Guorthigirns kannten, nicht überhaupt das ganze ältere werk-
chen verfasst habe. Da der erste, in Ch erhaltene teil keine daten liefert, kann nur
der dort fehlende Schlussteil (ab § 56 ende) die antwort geben.
Dieser gewöhnlich unter dem falschen titel genealogiae Saxomim zusammen-
gefasste abschnitt besteht bei Nennius aus zwei ganz verschiedenen bestandteilen.
An die kämpfe Arthurs wird § 56 mit kühner, nicht ungeschickter wendung eine
geschichte des nordens von der regierungszeit des Ida, den der Verfasser für den
ersten einheimischen fürsten der Nordhumbrer hält, bis auf Ecgfrid angehängt. Sie
1) So Duchesne; bei Mommsen: fu Urbacen.
2) Weil in glossaren ambro mit devorator erklärt wird und Güdas § 14 die ein-
fallenden Bieten und Iren quasi ambrones lupi nennt, übersetzt Zimmer s. 105:
,40 tage liess er nicht nach, bis er die ganze räuberbande getauft hatte" (!).
Ich brauche kaum darauf hinzuweisen, dass der schluss der Hist. überhaupt keine
animosität gegen die germanischen stamme dm-chbhcken lässt, dass eine solche aber
gerade bei ihrer taufe besonders unangebracht wäre. Vielmehr waren die latinisten
Britanniens in Verlegenheit, wie sie „Nordhumbrer" ins lateinische übersetzen soll-
ten, und gebrauchten dafür den alten völkerhamen Ättibrones. Vielleicht erst Beda
hat die form Nordanhymbi-i gewagt; in dem von ihm citiei-ten briefe des erz-
bischofs Theodor vom jähre 680 heisst Ecgfrid noch rex Eymbronensium (Hist.
eccl. 4, 17), eine leichte Variante zu Ambrones.
3) Die Zeitrechnung bei Zimmer 95** verstehe ich nicht.
6*
84 THÜRNEYSEN
steht in § 56 ende und in § 61 ende bis § 65. Störend schieben sich wie ein keil
in diese fortlaufende geschichte und zwar mitten in den bericht über Ida die §§ 57
bis 61 ein, enthaltend genealogieen der fürsten von Bernicia, Kent, Ostangeln, Mercia
und Deira. Sie nehmen zwar deutlich auf jene geschichte des nordens bezug; aber
diese ihrerseits lässt sie völlig unberücksichtigt. Es finden sich selbst genealogische
Widersprüche. Nach §63 ist Aedlric söhn des Adda, nach den genealogieen §57
bruder desselben; nach §65 ist Eegfrid söhn des Osbiu, nach den genealogieen
§ 57 ist Aechßrd söhn von Osbius bruder Osguid. Demnach sind die genealogieen
nach Vollendung der geschichte eingefügt worden^ und fallen für die verfasserfrage
ausser betracht. "Wann und von wem sie eingeschoben worden, darüber imten. Die
alte geschichte des nordens , in der § 63 die erwähnung Run map TJrbgens vorkommt,
reichte, wie Zimmer s. 96 richtig konstatiert hat, bis zu dem satze: Eegfrid filius
Osbiu regnavit novem annis, also bis zum 9. jähre des Nordhumbrerkönigs Eegfrid,
d. h. 678/679. Die notiz über den tod des bischofs Cudbertus und was in § 65 wei-
ter folgt, sind spätere zusätze. Nun ist klar, dass ein söhn des vor 579 gestorbenen
Urbgen zwar sehr wol die taufe Eduinis a. 627 erleben, aber unmöglich noch lun 679
Schriftstellern konnte. Da die erzählung in einem tenor weitergeht, wir also kein
recht haben, den urspmnglichen schluss etwa nach der taufe Eduinis, vor § 64 zu
setzen, kann Run map Urbgen nicht der Verfasser des ganzen sein.
Somit steht zunächst nur fest, dass der Verfasser des jahres 679, den ich in
ermangelung eines namens im folgenden den „Historiographen" nennen will,
excerpte, die der bis 627 lebende Run map Urbgen aus einem liber saneti (oder
beati'^) Qermani ausgezogen hatte, zu einer geschichte Britanniens verarbeitete. Map
Urbgen hatte diejenigen stellen aus dem Heiligenleben excerpiert, die sich auf Britten-
fürsten, auf Catell den Stammvater der könige von Powis (§32 — 35) imd namentlich
auf Guorthigirn bezogen. Aber die ganze geschichte Guorthigirns stammt keines-
falls daher. Bei seinem tode werden ausdrücklich zwei andere berichte neben dem
des liber beati Germani erwähnt (§ 47. 48). Auch z. b. die magiergeschichte § 40 bis
42, die zur gründung von Cair Guorthigirti führt und nichts christliches enthält —
Guorthigirn flieht dort nicht vor dem heil. Germanus, sondern vor den Germanen — ,
kann in keinem Heiligenleben gestanden haben; bestätigt wird dies dadurch, dass in
§ 42 die Germanen gens Anglorum genannt werden, während sie sonst in diesem
abschnitt (§ 36. 45. 46) Saxones heissen. Der § 43 verdankt seinerseits erst der Pro-
phezeiung in § 42 seinen Ursprung. Dreimal jagen sich die schlangen und Ambro-
sius verheisst: ^Postea gens nostra surget et gentem Anglorum frans mare dejiciet."'
Da nun tatsächlich das gegenteil einer völligen vertreibmig der Germanen eintrat, hat
ein späterer die prophezeiung dahin gedeutet, dass Guorthemir, Guorthigirns söhn,
sie dreimal auf die insel Tanet (also t?-ans mare) verjagt habe. Die Situation ist
dem folgenden § 44 entnommen, der also älter ist. "Welche von diesen Zusätzen auf
Run selbst, welche auf den historiographen zurückgehen, will ich nicht entscheiden.
1) Ursprünglich wird an: auxiliimi a Germania petebant et augebantur mul-
tipliciter sine iitterniissione et reges a Germania deducebant, ut regnarent super
illos in Brittannia, usque ad tempus quo Ida regnavit, qui fuit Eobba filius (§56)
direkt angeschlossen haben: Ida teniiii regiones in sinistrali parte Brittaniae i. e.
Umbri maris et regnavit annis XII usw. (§61). Der satz: ipse fuit usw. (§56
schluss) und die worto filius Eobba (nach Ida § 61) sind zugleich mit den genealo-
gieen eingefügt worden.
2) So § 47.
ÜBER ZIMMER, NENNIUS VINDICATUS 85
Doch scheint mir sicher, dass jener ausser den Exeerpta einiges weitere aufgezeich-
net hatte ; denn der bericht von Eadguins taufe § 63 geht doch sicher auf eine notiz
von ihm zurück'. So ist denn die weitere Vermutung gestattet, dass die berichte
über ältere nordbrittische ereignisse, vielleicht namentlich die, bei denen sich kym-
rische spräche unter das latein mengt, von ihm herrühren. So möglicher weise schon
die 12 bclla des dux bellornm Arthur §56. Sicherer der satz: Ida ... [jjunxit
Din Quayrdi"^ guiii-th Berneich (§ 61), „Ida vereinigte Din-Guoaroi (das heutige
Bamborough) mit Bernicia", nebst der notiz über die änderung dieses namens in
Bebbanhurch (§ 63). Ebenso der bericht über Dutigirn und die zu seiner zeit blühen-
den Barden (§ 62), da Zimmer s. 103* scharfsinnig erkannt hat, dass et Neirin durch
missverständniss des a- aus Aneirin entstanden ist. Vermutlich die notiz über Mail-
cunus und Cunedag (§ 62). Sicher die über die kämpfe der Brittenfürsten Urbgen,
Eiderch Heu, Guallanc, Morcant und den tod des ersteren, der wol in Runs knaben-
zeit fiel (§ 63); der satz „[Urbgen] jtigulatiis est Moreanto destinante pro invidia,
qiiia in ipso prae omnibiis regihus virtus maxima erat [in] instattratione belli"
schmeckt deutlich nach familientradition. Endlich wol auch die bemerkung über die
eroberung von Elmet (§63). Ich denke mir die sache etwa folgendermassen , wenn
auch hier natürlich jede Sicherheit aufhört. Der historiograph fand eine ziemlich aus-
führliche geschichte Guorthigirns und manche notizen über spätere brittische ereig-
nisse vor. Letztere brachte er in Zusammenhang, indem er sie an eine nordhum-
brische königsliste anschloss, die ziemlich genau derjenigen entsprach, M'elche von
Petrie Mon. Bist. Brit. s. 290 aus einer handschrift des 8. Jahrhunderts abgedruckt
ist; nur ist sie hier an der hand von Beda bis auf Ceoluulf (Beda 5, 23) ergänzte
Anderseits hat der historiograph den zweiten könig, Glappa, mit einem regierungs-
jahr übergangen, weil er in seine regierung nichts cinziu'eihen wusste. Sonst hat er
Dutigii-n und Mailcunus an könig Ida (547 — 559) angeschlossen, die kämpfe von
Urbgen, Eiderch Hen, Guallanc, Morcant an die fünf könige Adda (560 — 568), Aedl-
ric (568 — 572), Deodric (572 — 579), Friodolguald (579 — 585), Hussa (585 — 592);
es folgen Eadfered Flesaur(s) 592 — 616, Eadguin 616 — 633, Oswald 633 — 642,
Osguid 642 — 670, Ecgfrid (seit 670) bis zu seinem 9. regierungsjahr*. Unter aU
1) Freilich auf eine misverstaudene. Die erzählung Bedas 2, 9 — 14 von der
bekehrung und taufe Eduinis durch Paulinus, sowie über dessen 36tägiges katechi-
sieren und taufen der Nordhumbrer (2, 14) ist so ausführlich, dass an ihrer glaubwür-
digkeit kaum zu zweifeln ist. Run kann also nicht die taufe sich selber zugeschrieben
haben, da wir keinen grund haben, ihn für einen lügner zu halten, und da der
kämpf zwischen Rom und den altchristen in betreff der osterberechnung damals im
norden noch nicht entbrannt war. Vermuthch war er bei der taufe anwesend gewe-
sen und hatte eine notiz darüber hinterlassen, die der historiograph so auffassen
konnte, als sei ihm die hauptroUe dabei zugefallen. Auch der satz ^Eanfled filia
illius XII. die post Pcntccosten baptismtim accepit cum universis hominibus suis'^
usw. sieht gegenüber Bedas .„anno DCXXVI. Eanfled fdia Aeduini regis bapti%ata
cum XII in sabbato Pentecostes"- (5, 24) wie ein missverständniss der zahl XII aus.
2) Nach § 63 Din Ouayroi oder Bin Ouoaroi zu lesen.
3) Sie lautet: Anno DXLVII Ida regnare coepit, a quo regalis Nordanhym-
broruin i^rosapia originem tenet, et XII annis in regno permansit (vgl. Beda 5, 24).
Post Juinc Glappa I anno. Adda VIII. Acdilric IUI. Theodrie VII. Friduuald VI.
Hussa Vn. Aedilfrid XXIIII Aeduini XVII Osuald Villi. Osuiu XXVIU.
Ecgfrid XV. Aldfrid XX. Osred XI Coinred II Osrid XI. Ceoluulf VIIl
4) Schon hieraus ergibt sich, dass der abschnitt y,Penda filius Pybba regna-
vit X annis"- usw. (§ 65) späterer zusatz ist, da Penda nichts mit der nordhumbri-
schen königsliste zu schaffen hat.
86 THURNEYSEN
diesen regierungen aber, auch den späteren, wo der historiograph selbständig arbei-
tet, wird ausser der regierangsdauer nur das erzählt, was direkt die Britten
angeht oder wobei Britten beteiligt sind. Wenn Zimmer s. 105 diesen teil eine „ge-
schichte der Angeln und Britten" nennt, so geschieht es, weil er die später einge-
schobenen genealogieen mit hinzurechnet, die allerdings mehrere daten der Angeln-
geschichte nachtragen.
Dieser Brittengeschichte von Guorthigirn bis 679 hat der historiograph eine
einleitung vorausgeschickt. Sie ist uns glücklicherweise in Ch erhalten, wenn auch
nicht ganz rein, doch nur mit wenigen, leicht auszuscheidenden interpolationen. So
können wir uns denn ein sehr genaues bild machen von der
Brittengeschichte aus dem jähre 679 ^ Der titel mochte lauten: Inci-
piunt excerpta fdii Urbagen de libro sancti Germani inventa, et genelogia
Britonum. Nennius, der den titel excerpta auch kennt (s. oben s. 83), scheint den
folgenden nanien bereits nicht mehr haben lesen zu können. Denn wo er sich nach-
weislich auf diese quelle beruft, nennt er sie unbestimmt: traditio veterum, qui
incolae in pri?no fuertint Brittanniae (§ 17), tetiis traditio seniorion nostrorum
(§27), veteres libri veterum nostrorutn (§17 anfang)^ Dass der historiograph als
haupttitel excerpta fdii Urbagen beibehalten hat, bestätigt wol unsere Vermutung,
dass ihm nicht nur für das mittelstück, sondern auch für den Schlussteil aufzeich-
nungen map Urbgeus vorgelegen haben.
Die einleitung des werkes (betitelt de aetatibus mundi?) bildete eine unvoll-
ständige, mit Nabuchodonosor abbrechende periodisierung der Weltgeschichte §4^ und
eine einteilung der weltzeit in sex aetates mundi § 6. Es folgte die beschreibung
der britannischen insel (§7 — 9), beginnend mit Britannia instda a qi/odam Bruto
conside Romano dicta und schliessend mit Britones olim impleverunt Britanniam
a mari usque ad mare"^. An diese erwähnung der Britten schloss sich sofort, wol
mit dem sondertitel de genelogia Britommi, § 17 an: Tres fdii Noe diviserunt
orbetn terrae in tres partes post diluvium usw. Primus homo venit ad Europam
de genere Jafeth Älanus cum tribus fdiis suis, c/iiorion nomina sunt Hissicion
Armenon Neugo. Hissicion habuit quatuor fdios: Francus Romanus Ahnannus
Brito usw. Ab Hissiciotie atdem quatuor gentes ortae sunt: Franci Latini Al-
manni Britones usw. Istae autem gentes subdivisae sunt per totani Europam. Es
ist die nach MüUenhoff um 520 entstandene fränkische völkeiiafel, auf Japheth zurück-
geführt^. Die lücke von Alanus aufwärts füllt ein anschhessender Stammbaum aus,
der Alanus dui'ch eine reihe fiktiver namen mit Jouan (Javan), dem söhne Japheths,
verbindet und Japheths Stammbaum bis auf Adam filius Dei verfolgt. Dieser Stamm-
baum kann dem ursprünglichen werkchen angehören, da er den Zusammenhang nicht
wesentlich unterbricht. Die namen, die er enthält, tauchen in der irischen gelehr- i
tenlitteratur des 10. und 11. Jahrhunderts wider auf und Zimmer s. 234 fgg. glaubt,
sie seien aus Irland entlehnt. Der umgekehrte weg der entlehuung ist mir wahr-
scheinlicher.
1) Vgl. Duchesne a. a. o., dem ich aber nicht durchweg beistimme.
2) So auch in der einleitung § 3 : traditio veterum nostrorum.
3) Dass der spätere § 5 nicht etwa in Ch ausgelassen, sondern von Nennius
ergänzt ist, ergibt sich aus seiner fassung.
4) Zu den quellen des abschnitts vgl. Zimmer s. 265.
5) S. Heeger, Trojanersage der Britten s. 31 fgg.; Zimmer s. 232 fg.
ÜBER ZBIMER, NENNIUS VINDICÄTUS 87
Naclidem durch, die völkertafel die Eömer neben den Britten eingeführt sind,
begint die gesohichte (§ 19 — 20 mitte): Romani autem cum aceepissent dominitim
toti'us mündig ad Britannos iniserunt legatos, ut obsides et censum acciperent usw.
Der abschnitt erzählt Caesars dreimaligen angriff auf Britannien nach verwirrter
quelle, in der man Gildas, Euseb-Hieronymus und des Orosius bericht über Caligu-
las (!) zug nach Britannien unterscheiden kann^ Das ist alles, was der historiograph
von den Eömern zu berichten weiss; er schliesst den abschnitt mit dem satze: Tri-
bus vicibus oceisi sunt duces Romcmorum a Britannis, den später Nennius an den
anfang seines § 30 gestellt, aber auch in § 28 verwertet hat. Dann geht es sofoit
weiter (§ 31): Factum est auteln post supradicticm bellum qicod fuit inter Britoncs
et Romanos , qtiando duces eontm oceisi sunt , et post occisionem Maximi tyranni,
per XL azinös fuerunt sub metu. Guorthigirnus regnavit usw. Mit post occisio-
nem Maximi setzen deutlich map Urbgens excerpte aus dem leben des Germanus
ein, da Maximus vorher gar nicht erwähnt worden ist. Die werte können kein spä-
teres einschiebsei, etwa auf grund der intei-polatiou über die römischen kaiser in Bri-
tannien (hinter § 10) sein, da auch jenes Verzeichnis nicht mit Maximum absehliesst.
Im vorhergehenden abschnitt hiess es , Julius habe das imperium Britanniae 47 vor
Chr. erhalten; hier, nur ein paar sätze weiter, steht, die Sachsen seien regnante
Oratiano secundo cum, Aequitio, 347 jähre post passionem, Christi von Guorthigirn
aufgenommen worden, so dass die zwei daten unvermittelt aufeinander stossen. Die
letztere vielbesprochene Jahreszahl - stammt also gleichfalls aus dem liber S. Germani.
Da sie nach dem Zusammenhang 40 jähre nach Maximus' tod (f 388 n. Chr.) bedeu-
ten muss, sehe ich in .cccxluii. einen alten lesefehler für- .cccxcuii. (397), so dass
des Maximus todesjahr auf 357 yjos^ passionem Chr. angesetzt war. Secundär sind
die namen der jatresconsuln aus Victorius Aquitaaus oder Prosper beigefügt, aber
vor der einverleibung in die Hist., welche keine römischen Chroniken benutzt hat.
Die erzählungen von Hengist, S. Germanus und Guorthigirn bis zu dessen
tode (§31 — 48 mitte) sind, wie der in Ch erhaltene anfang zeigt, von Nennius nicht
verändert worden. Es folgte, mit in illo tempore an Guorthigirns tod anknüpfend,
der spätere § 56, Hengists tod und Ai-thurs kämpfe; endlich, wie oben erörtert, daten
aus der geschichte der Dritten, angeknüpft an die nordhumbrische königsreihe von
vor der Ida bis zum neunten jähre Ecgfrids (§ 56 ende, § 61 ende bis § 65 mitte).
Der historiograph ist also zwar nicht wählerisch in seinen quellen gewesen,
hat aber ein einheitliches, festgefügtes werk eben geschaffen. Diese einheit wurde
bald durch Interpolationen gesprengt und so der boden für Nennius' grosse erweite-
rung vorbereitet.
Interpolation des alten werkcliens. Den ersten einschub bildet deutlich
der abschnitt „ de origine Britonuvi " in Ch , der sich zwischen den titel „ de gene-
logia Britonutn"- und den zugehörigen § 17 eingedrängt hat^. Die vaticanische recen-
sion nimmt ihn in den § 10 des Nennius auf. Ich habe den eindruck, dass ihn Hee-
ger. Über die Trojanersage der Dritten, — er nennt ihn bericht B — nicht
ganz verstanden hat. Was dieser bericht über die Silvii soll, ist in der tat nicht
auf den ersten blick zu erkennen; erst der Wortlaut der quelle, Euseb-Hieronymus
a. Abr. 878, klärt darüber auf. Dort heisst es: Latinorum UI Sylvius Aeneae filius,
1) Zimmer s. 189. 191. 199. 266. 271.
2) Zuletzt darüber Zimmer s. 199 — 206.
3) Dass er auch der quelle des Nennius ursprünglich eignete, geht aus dem
folgenden hervor.
88 THÜRNEYSEN
an. XXIX. Sylvius Posthumus , quia post tnorteni patris editus ruri ftierat edu-
catus, et Sylvii et Posthiimi nonien aceepit, a quo omnes Albanoruvi reges Sylvii
rocati sunt. Offenbar sind die Albani als „bewohner Albious" verstanden worden.
Das ist besonders leicht begreiflich, falls die quelle des interpolators aus Irland
stammte; denn der bewohner der englischen insel heisst altirisch fer Alban (mann
Albions) oder Albanach. Doch war das misverständniss auch sonst möglich ^ Der
Verfasser des abschnittes will also zweierlei erklären: erstens, warum die (reges) Bri-
tones den namen Silvii führten. Die erklärung lieferte dieselbe quelle, aus der die
nachricht geschöpft war. Zweitens, warum Britannia, also auch die Britones., a
quodam Brtito consule Romano benannt sind (§ 7). Hier hilft ihm seine künde, dass
Brutus erster konsul von Rom, also offenbar bei dessen gründung beteiligt war; fer-
ner dass er den ganzen westen erobert hatte. Letztere nachricht fliesst, wie schon
mehrfach bemerkt worden, aus Euseb-Hieronymus a. Abr. 1875: Brutus (gemeint ist
D. Brutus Callaicus) Hiberiam tisqtie ad Oeeanum subigif. So bietet der abschnitt,
den ich nach Ch und Vat. einigermassen emendiert hiehersetze ^, keine Schwierigkeit
mehr, sobald man im äuge behält, dass in der excerpierten quelle vorher davon die
rede gewesen, dass die Britones (eigentlich ihre könige) Silvii hiesseu.
De Rornams et Oraecis trahunt etymologiam, id est de matre Lavina, filia
Latini regis Italiae, et patre Silvii Aenea^, filio Anchisae*, [filii Troi], filii Dar-
dani. Idem Dardanus , filius Saturni regis Oraeconcm , j^errexit ad partem, Asiae
et Trous filius Dardani aedificavit urbem Trojae. Trotts pater Priami et Anchi-
sae, Anchises jjater Aeneae, Aeneas pater Ascanii et Silvii. Silvius filius Aeneae
et Lavinae, fdiae regis Italiae. Et de stirpe Silvii, filii Aeneae ex Lovina, orti
sunt Remus et Romuius et Brutus, tres filii reginae sanctimonialis Reae, qui
feeerunt Roma/m. Brutus consul fuit in Roma primus, quando exptcgriavit Hispa-
niam ac detraxit in servitutem, Romae; et postea tenuit Brifanniam insidam,
quam habitabant Britones Silvii^, olim Silvio Posthumo orti. Ideo dicitur Post-
humus, quia post mortem Aeneae patris ejus natus est. Et fuit mater ejus La-
vina semper clandestina, quando fuit praegnans ; ideo Silvius dictus est, quia in
silva natus est. Et ideo Silvii dieti sunt reges Romani et Britones, quia de eo
nati sunt; sed a Brtito Britones^.
Dieser einschubl, wie ich ihn nennen will, hat zahlreichen weiteren gerufen.
Zunächst ermöglichte er die Zeitbestimmung (einschub II): Quando regnabat Brito
in Britannia , Heli sacerdos judicabat in Hisrael., et tunc archa testamenti possi-
debatur ab alienigenis; Postumus frater ejus regnabat apud Latinos. Der Verfas-
ser dieser notiz kennt aus der völkertafel (§ 17) Brito als ersten Britten und weiss
aus einschub I, dass er, wie alle Britones, den namen Süvius führte und söhn des
Silvius Postumus war. Zur Unterscheidung des Süvius (-Brito) von einem in Latium
herrschenden bruder Postumus mochte Euseb-Hieronymus a. Abr. 908 den anlass
1) Ganz anders, mir nicht wahrscheinlich Zimmer s. 249 fg.
2) Ich glaube allerdings, dass er schon mit vielen fehlem in die Hist. aufge-
nommen wurde, bilde mir also nicht ein, den ur.sprünglichen text genau zu bieten.
3) et patre Silvianiae Ch, et progenie Silvani Vat.
4) filii Enaehi Ch, f. Inachi Vat.
5) Britones filius Uli Ch, Britones Roynanorum filii Vat.
6) Das folgende: et de stirpe Bruti surrexerunt hat ein späterer, \aeUeicht
der interpolator von § 18 beigefügt. Es widerspricht dem vorhergehenden, wonach
die Britones von Brutus wol den namen führen, aber nicht abstammen.
i
ÜBER ZIMMER, NENNIUS VINDICATUS 89
geben, wo vom nachfolger des Silvias Postuums bemerkt ist: Latinorum IlII Aeneas
Sylvius, an. XXXI. In alia historia reperinius, IV. Lat. Sylvium regnasse, La-
viniae et Melampodis filiwn, uterimim fratreni Posthumi, et V., qui mmc hie
IV. ponitur, Sylvium, Äeneam Posthumi filkim. Die nächst vorhergehenden daten
der hebräischen geschichte sind bei Euseb-Hierouymus a. Abr. 861: Hell sacerdos
annis XL und 900: Mortuo Hell sucerdote arca testamenti ab alienicjenis posside-
tur. So gelang es, den ersten Britten zeitlich zu fixieren.
Das ist aUes, was Ch vom späteren § 11 enthält. Allein noch blieb die lebens-
geschichte dieses Brito filius Silvii Postum i zu schreiben und zu erklären, wie er
nach Britannien gekommen; denn der einschub I bot ja nur: Britanniam, . . quam
hahitabant Britones . ., olim Silvio Posthmno orti. Das ist dann später durch den
fabelhaften, mit weiteren citaten aus Euseb - Hieronymus geschmückten bericht bei
Nennius § 10. 11 (Heegers bericht A) bestens besorgt worden. Er hat den einschub I
dort völlig verdrängt; nur das verräterische autem in § 10 ist stehen geblieben. Dass
Nennius den kern dieser erzählung selbst erfunden, bezweifelt man mit recht, beson-
ders da er sich dabei ausdrücklich auf annales Romanoriim beruft, eine quelle, die
nach der vorrede § 3 von den chronica Hieronyvii zu unterscheiden ist. Heeger
und Zimmer vermuten irischen Ursprung; letzterer denkt bei der stelle: in nativi-
tate illius mulier mortua est ... et vocatum est nomen ejus Brito an ein Wort-
spiel mit irisch brith „geburt" (s. 246).
Wie dem auch sei, schon in hdschr. Ch, also vor Nennius hatte ein dritter
adnotator den Widerspruch zwischen einschub I, der die Britten aufDardanus zurück-
führt, und § 17, wo als Stammvater Alanus und weiter hinauf Japheth genannt ist,
durch einen beide verschmelzenden Stammbaum zu beseitigen gesucht (§ 18). Indem
er auf grimd der Schlussworte von einschub I: a Bruto Britones den Eponymen
Brutus mit dem Stammvater Brito (in § 17) identificiert, setzt er einen Stammbaum
aus drei stücken zusammen: 1. von Adam bis Elisa (Flisa)., grosssohn des Japheth;
2. von Dardanus über Aeneas bis Rea Silvia, tochter des Numa Pampilius (gemeint
ist Nuraitor) ; 3. von Alanus über Hissicion auf Brutus (= Brito) ^ Dieser Stammbaum
nebst den notizen über die von Japheth abstammenden völker ist längere zeit randnote
geblieben; daher erscheint er in hdschr. Ch und bei Nennius an abweichender stelle
eingereiht ^.
Um die ganze genealogienfrage gleich hier im Zusammenhang zu erledigen,
sei noch die randnote erwähnt, die die „nordwelsche recension", d. h. wol ebenfalls
Nennius (s. u.), zu § 10 beifügt und zwar zu der stelle: et erit exosus omnibus
hominibus. Sic evenit, . . . et vocatimi est nomen ejus Britto. Die note lautet
(Zimmer s. 25): Haec est genealogia ist ins Bridi^ exosi (nunquam ad se nos*, id
est Britones, ducti, quandoque volebant Scotti neseientes origüiis sui ad istum
do7nari) : Bridus^ vero fuit filitis Silvii fil. Ascanii fd. Äeneae fil. Anchise ßl.
Capen fil. Asaraci fil. Tros fil. Aerectonii fil. Dardani fil. Jovis de genere
Cam filii maledicti videntis et ridentis patrem Noe. Tros vero usw. (folgen nach-
richten über Tros' nachkommen). Sie inveni, ut tibi . . . scripsi; sed haec genea-
1) S. Heeger, Trojanersage s. 25. Durch weitere vermengung nennen dann
einige hss. des Nennius den beiden von § 10. 11 Bruto statt Brito oder Britto.
2) S. Mommsen, a. a. o. 239.
3) So San-Marte und Zimmer. Petrie gibt als lesart von hs. K und N (bei
ihm B und C) Briti und unten Britus, von hs. Tj (bei ihm A) Brito.
4) ad saevos San-Marte.
90 THURNEYSEN
logia non scripta in aliquo volumine Britanniae , sed in seriptione mentis scriptoris
fuit. Nach dem schlusssatz schreibt der Verfasser diese notiz aus dem köpfe und, wie
das schlechte latein des anfangs vermuten lässt, sehr flüchtig nieder. Darf man dort
in ad istum einen flüchtigkeitsfehler für ab isto sehen, so lässt sich etwa folgendes
herauslesen: „Auf den Brutus, dessen Stammbaum ich gebe, sind wir, die Britten,
niemals zurückgeführt worden, obschon die Iren, die ihre eigene Urgeschichte nicht
kannten, von \\\m bezwungen sein wollten" ^ Das bedeutet wol: irische antiquare
behaupteten, jener konsul Brutus, der den ganzen Westen erobert (s. oben s. 88),
habe Irland (und Britannien) bezwungen und die Britten stammten von ihm ab. Sie
scheinen diesen Brutus an die steUe des Brito, söhn des SUvius, der annales Roma-
norum gesetzt und seinem ahnen Aeneas einen genaueren Stammbaum gegeben zu
haben, als er im alten einschub I besessen. Der brittische glossator citieii diesen
Stammbaum nach dem gedächtniss, nimmt aber die theorie, dass der Stammvater der
Britten Brutus und nicht Britto gewesen, nicht an. Dass er ausdrücklich bemerkt,
diese genealogie finde sich in keinem buche Britanniens geschrieben, geschieht wohl
darum, weil ja einschub I der alten Hi st., den schon die Harleian-receusion als irrig
und unverständlich unterdriickt hatte, allerdings anklänge bot, aber doch tatsäch-
lich abwich. Kaum geht aber daraus hervor, dass eine frühere recension der
Hist. den titel Volumen Britanniae gefühi't habe (Zimmer s. 41). Der irische
Übersetzer hat den Stammbaum — mit einigen weitern Zwischengliedern zwischen
Cam und Juppiter — in den text von § 10 eingefügt (wie hs. L) und vermittelt zwi-
schen beiden bestandteilen, indem er sowol den Britto als den Brutus der Hist.
Britus nennt. Er bemerkt zum Stammbaum (Todd s. 36): „So hat unser erhabener
senior Guanach die genealogie der Britten aus den chroniken der Römer ausgezogen."
Todd und Zimmer vermuten, dass damit Über Cuanach „Cuana's buch" gemeint sei,
das in den Ulsterannalen vom jähre 467 bis 628 öfters als quelle citieri wird. Das
ist wahrscheinlich. Dieses frühe werk hat dann aber gewiss nur den älteren teil des
Stammbaums etwa bis auf Aeneas oder Ascanius enthalten; denn die sage von Bru-
tus, dem söhne des Silvius, kann damals noch nicht gebildet gewesen sein. Immer-
hin wird dadurch bestätigt, dass die quelle des Adnotators der „nordwelschen recen-
sion" in Irland zu suchen ist.
Auf derselben kombination des Brutus der randnote mit dem Britto von
§ 10. 11 beruht dann der so berühmt gewordene Brutus des Galfred von Monmouth.
So lässt die neue handschrift das lawinenartige anschwellen des genealogieen-
chaos mühelos erkennen, an dem bisher so viel vergeblich henungeraten worden ist,
weil eben bei Nennius gerade der urkern, einschub I, fehlt.
Die durch einschub I in das einheitliche werkchen gerissene lücke ist aber
früh noch durch interpolationen andern Inhalts erweitert worden. Der historiograph
hatte, wie oben bemerkt, von der römischen kaiserzeit nichts zu berichten gewusst.
Dies bewog einen kundigeren, ein verzeichniss der imperatores qui in Britanniam
venerunt einzulegen, genauer eine liste der römischen herrscher, die in Britannien
geweilt haben. Sie steht in Ch hinter einschub I-. Auf den ersten blick scheint sie
aus Beda, Hist. eccl. 1, 2 — 11 ausgezogen, an den sie oft wörtlich ankhngt. Da
aber die betreffenden kapitel bei Beda grossenteils aus wörtlichen excerpten aus Oro-
1) Etwas anders Zimmer s. 25 * und 39 fg. , dem ich nicht folgen kann.
2) Vat. bringt ebenfalls die imperatorenliste am aufang hinter den calculi,
aber geändert nach dem text des Nennius § 19 — 29.
I
ÜBER ZIMMER, NENNIÜS VINDICATUS 91
sius bestehen, so fragt sich, ob die liste nicht vielmehr direkt oder durch andere
Zwischenglieder aus diesem geflossen. In der tat spricht hiefür verschiedenes. Sie
beginnt mit: Julius imperator primus in Britaniani venit per Remmi et Oerma-
niam usque Tamensis bellum. Das missverständniss, dass Caesar über den Rhein
und Germanien nach Britannien gelangt sei, erklärt sich leicht aus Orosius YI 8, 23 —
9, 2, aber kaum aus Beda 1, 2. Die berichte über die folgenden Imperatoren
2. Claudius, 3. Soverus (Reversus), 4. Carausius tyrannus (Guratius tirenus) ent-
scheiden nichts. 5. Constantinus Constantini magni paier, vir tranquillissimus ;
nie Constantinus in Britannia morte ohiit; qui Constantinum ßlium ex concu-
bina Helena creatum imperatorcm Oalliarum reliquit; qui in Britannia ohiit.
Dieser Constantinus berulit wol auf einer vermengung des Constantius, vater
Constantins des Grossen, mit dem britannischen tyrannen Constantinus (Orosius VLL
40, 4 fgg. = Beda 1, 11). Der satz: „qui Constantinum filium" usw. steht genau
so bei Orosius VIT 25, 16, während Bedal, 8 schreibt: „hie Constantinum" usw.,
allerdings ein unwesentlicher unterschied. Es folgt 6. Maximus imperator in Bri-
tania ordinatur invittis, cum quo Martimis sepe locutus est. Den zusatz von Mai'-
tinus kennt weder Orosius VII 34,' 9 noch Beda 1, 9; er weist vielleicht auf ein
Zwischenglied. Endlich 7. Gracianus Valentiniani films, qui in Romam a Bre-
tannia exiit et ibi a Maximo ocisus est; cujus sanguinetn vindicavit Eugenius de
Maximo, et postea Eugetiitim oecidit pro Valentiniano Graciano frater (etwa zu
bessern: et jjostea Eugenium oecidit Theodosius pro Valentiniano Gratiani fratre).
Dieser Graciamis ist sicher ein mischprodukt aus kaiser Gratianus, dem söhne Va-
lentinians, der nie in Britannien gewesen, und dem britannischen tyrannen Gratianus
(Orosius VII 40, 4 = Beda 1, 11). Der schluss kann gar nicht aus Beda stammen,
da dieser den Eugenius nirgends erwähnt, wol aber aiis Orosius VII 35, 11 fgg. ^
Somit ist die liste nicht aus Beda geschöpft. In welchem verhältniss steht sie nun
zu ihm? An und für sich könnten zwei historiker der englischen insel selbständig
auf denselben gedanken gekommen sein, die römischen heiTscher, die Britannien
gesehen, aus Orosius auszuziehen; merkwürdig wäre aber, dass sie in der excerpie-
rung so oft übereinstimmen, da das thema doch immerhin einigen Spielraum liess.
Das begreift sich besser, wenn Beda dasselbe oder ein ähnliches Verzeichnis vorlag,
das ihm die anregung zu jenen kapiteln gab und das er dann nach Orosius sehr
gründlich ergänzte und verbesserte.
Diese ansieht wird bestätigt durch die von Zimmer, Mommsen und Duchesne
besprochene legende, die sich gleichfalls in jenen anfangskapiteln Bedas findet, dass
Iaicius Brittaniarum rex durch papst Eleuther das Christentum erhalten habe -. Zwar
stammt Bedas text aus dem liber pontiflcalis (um 520 verfasst, hs. seit ende 7. Jh.),
nicht aber die Jahreszahl 167 (Beda 5, 24), die zu papst Eleuther nicht stimmt.
'Die legende fehlt der liste in Ch, taucht aber bei Nennius § 22 mit demselben datum
wider auf^. Der abschnitt § 20 mitte bis § 29 bei Nennius, der in Ch noch nicht
1) Das ist der Oicein oder Yivein ab Maxen Wledie „Eugenius, söhn des
tyi'annen Maximus " der w'elschen Triaden. Der nachfolger des Maximus ist zu sei-
nem söhne geworden.
2) S. Zimmer s. 140 fgg. ; Mommsen a. a. o. 291 ; Duchesne a. a. o. 186 A. 2.
3) Hier heisst der papst Eucharistus; eljeuther mag in der tradition zu
eucharfistus verderbt worden sein. Die lesart einiger hss. Euaristus ist, wie
Mommsen zeigt, eine gelehrte verschlimmbesserung, indem kein papst Eucharistus, wol
aber ein Euaristus (96 — 108) bekannt war.
92 THURNETSEN
vorhanden ist, erzählt von den Römern in Britannien und beruht deutlich auf der
imperatorenliste von Ch, ergänzt und ausgeschmückt nach Euseb - Hieronymus und
Prosper, nur § 27 (und 30) wol nach einer von Gildas abhängigen secundärquelle
(Zimmer s. 197. 267). Nennius hatte aber eine doppelte vorläge für diese Paragra-
phen. Er citiert § 27 erstens die traditio seniorum nostrorum, welche 7 impera-
tores aufzählte; das ist die liste in Ch. Nur nennt er den 7. nicht Oratianus , son-
dern durch irgend ein weiteres missverständniss, vielleicht nach der Gildasquelle,
Maximiamis (§ 27, vgl. § 29 anfaug), schreibt ihm aber taten des Maximus zu.
Dann fährt er fort: Romani aiäem dicunt novem fuisse, und fügt noch einen alius
Severus und einen Gonstantius bei*. Er hatte also neben der interpolierten Brit-
iengeschichte noch eine zweite, etwas erweiterte imperatorenliste, die er als „römisch"
bezeichnet. Aus dieser muss, da wir seine quellen ziemlich vollständig überblicken,
auch § 22, die legende vou könig Lucius und das datum 167, übernommen sein. So ist
das erweiterte verzeichniss der Imperatoren, welche Britannien besucht, gewiss die
gemeinsame quelle von Beda und Nennius gewesen. Ferner wird aus ihr die angäbe
stammen, dass die Römerherrschaft in Britannien 409 jähre gedauert habe (Nennius §28).
Eine vei'mutung liegt nahe. In § 10, für die geschichte des Britto, wurden
annales Romanorum, die nach Irland zu weisen schienen, als quelle angeführt.
Hier wird die imperatorenliste, die den ersten brittischen Christen Lucius enthielt,
den Romani zugeschrieben. Beide abschnitte sind erweiterungen von kapiteln der
vornennianischen Hist. , wie sie in Ch vorliegt. Sollte es sich nicht um ein und
dieselbe quelle handeln? Zimmer erwähnt s. 145, dass könig Lucius in der kym-
rischen litteratur Les (Lies) heisst und gibt eine unhaltbare erklärung. Nun bedeutet
Ics altirisch (aber nicht kymrisch) „licht". Also ist wol entweder Les die irische
1 I ersetzung von Lucius oder umgekehrt Liicius die latinisierung eines irischen Les.
Sollte nicht der Bi'itannierkönig Lucius nebst seiner legende überhaupt eine irische
erfindung sein und auch der Über pontißcalis von nach Rom pilgernden Iren die
notiz übernommen haben? Auch dies spricht dann für gemeinsamen urspnmg bei-
der abschnitte.
Hätte Mommsen (a. a. o. 292 fg.) mit der annähme recht, dass auch die namen
Vurtigermis , Hcngist und Horsa bei Beda auf engen Zusammenhang mit Nennius
weisen, so hätten wir wol dieselben annales Romanorum als Bedas nächste quelle
anzusehen; sie hätten dann also noch weitere bestandteile der Hist. Brit. enthalten.
Doch bin ich mit Zimmer der ansieht, dass Beda diese namen nicht aus der Hist.
haben muss, ja dass ihre form diese annähme gar nicht empfiehlt. Somit können
wir den annales Romanorum mit einiger Wahrscheinlichkeit nur die Britto -geschichte
und die erweiterte kaiserliste zuschreiben. Über eventuelle weitere bestandteile
s. die folgende seito.
Die ältere imperatorenliste zeigt in hs. Ch vorn und hinten einen auswuchs.
Jemand, der wusste, dass vor den römischen kaisern Caesai' nach Britannien gekom-
men, diesen aber in dem Julius imperator der liste nicht erkannte, schickte ihr
1) Das missverständniss hat er offenbar aus seiner quelle übernommen, die für
den „zweiten Severus" die Epitome des Aurelius Victor benutzt zu haben scheint
(Zimmer s. 196). Es mag auf einer älteren notiz beruhen, dass in zwei Imperatoren
der alten liste je zwei personen zusammengeflossen sind, im 5. Constautius und dor
tyrann Constantinus, im 7. kaiser Gratian und der tyrann Gratian. Die letztere notiz
ist dann fälsclüich auf den dritten, Severus, bezogen worden und durch ein weiteres
versehen erscheinen nun bei Nennius 2 Constantii und 2 Severi.
ÜBER ZIMMER, NENNIUS VINDICATDS 93
voran, dass Gajus Julius .Caesar, inissus ab imperatore Latino, dreimal mit Casa-
bellaunus gekämpft und ihn schliesslich getötet habe. Nennius konnte diesen passus,
auch wenn er ihn vorfand, nicht brauchen, da er inhaltlich mit § 19. 20 zusammen-
fällt. Endlich hinter der liste steht die notiz, Libine (Leofwine?) abt von Inripum
(Ripon) habe als jähr der Sachsenankunft 500 n. Chr. berechnet. Das datum hat also
nicht erst in der ueuzeit viele köpfe beschäftigt. Aus dem verderbten schlusssatz
liest Ducliesne (s. 182) heraus, dass diese note a. 801 entstanden sei. Nennius scheint
sie nicht gekannt zu haben.
Die nächste gestalt, in der uns die Brittengeschichte entgegentritt, ist der sog.
Nennius. Und zwar sind, wie Zimmer mit recht annimmt, die hss. die altertüm-
lichsten, die den schluss ungekürzt erhalten haben; sie bilden die
Harleian-receusion. Einige ihrer ueuerungeu sind schon besprochen, so
der Wegfall von einschub I, ferner § 10. 11 (geschichte des Britto), § 20 mitte bis
§ 30 (die Eömer in Britannien). Ausserdem ergänzt diese recension die unvollstän-
dige Zeitberechnung in § 4 durch die fragwürdigen zahlen von § 5, von denen die
drittletzte {Adam, bis passio Christi 5228 jähre) wol auf Prosper Tiro als quelle
weist. In der Revue Celtique 6, 105 fgg. habe ich darauf aufmerksam gemacht, dass
eine entsprechende rechnung mit demselben hexeneinmaleins sich in dem um 987
gedichteten irischen Saltair na Rann findet. Ich dachte damals an eine gemein-
same quelle, wie jetzt auch Zimmer (s. 185 fg.). Da aber § 4 und § 5 sich erst in
derHist. zusammengefunden haben, muss die rechnung des Saltair — wol indirekt
— aus Nennius selber stammen.
Mit § 12 — 14 werden die sagen von der einwanderung der Picten und Iren
eingeschoben (vgl. dazu Zimmer s. 221 fgg.); wieso Duchesne zweifeln kann, ob nach
irischer quelle, ist mir bei dem irischen ausdruck Dam Hoctor „truppe der acht
mann" in § 14 unverständlich (s. Zimmer s. 222). Da sie unmittelbar hinter den aus
^Qu annales Romanoruni geschöpften paragraphen 10. 11 stehen, obschon die berichte
über den Brittenurspiung im § 17 wider aufgenommen werden, können sie leicht aus
derselben quelle geflossen sein; dann ist deren irische herkunft zweifellos. Sicher ist
die annähme darrnn nicht, weil in der vorrede § 3 auch annales Scottorum erwähnt
werden. Der schluss von § 14 (über Cuneda) enthält ein versehen des brittischen
redaktors, veranlasst durch § 62, wie Zimmer s. 92 gut nachweist.
Da diesen erzählungen genauere daten fehlten, lieferten peritissimi Scottorum
dem redaktor, wol auf sein verlangen, einige anhaltspunkte durch die angaben, die
in § 15 niedergelegt sind. Wahrscheinlich geschah diess mündlich (mihi nunciave-
runt); daher das ängstliche vermeiden irischer eigennamen in diesem abschnitt und
wol auch der grobe Schnitzer in der Zeitrechnung, den Zimmer s. 186 fgg. aufdeckt.
Der pai"agraph enthält den ältesten bericht über den irischen eponymen Goidel Glass
und seine auswauderung aus Ägypten, nachdem Pharao im roten meere ertrunken.
Man beachte, dass er hier durch Afrika wegwandert, während er schon in dem
gedieht des Mael-Mui-u Othna^ (t 887) und dann im Saltair na Rann (um 987) auf
libiu'nen zum kaspischen meer und nach Scythien fährt, von späteren umgestaltun-
tungen im Lebor Gabdia zu schweigen'. Doch ist hier nicht der ort, auf diese
irischen gelehrtenfabeln einzugehen.
1) ed. Todd, Irish Nennius s. 220 fgg.
2) s. Rev. Celt. 6, 101. Nicht geschickt ist es und führt leicht irre, wenn
Zimmer eine erschlossene quelle des Lebor Gabdia „Über occupationis", das wol im
94 THURNEYSEN
Es folgen, nachdem § 15 mit excerpten aus Gildas abgeschlossen worden, in
§ 16 noch solche irische daten, die vermutUch gleichfalls peritissimi Scottorum.
geliefert hatten, die aber in der Brittengeschichte nicht anzubringen waren, vermischt
mit ein paar eigenen. Da sich einige der älteren darunter auf Patricius' ankimft in
Irland beziehen , mögen sie den anstoss gegeben haben zu der nächsten grossen Inter-
polation, das leben des heil. Patricius betreffend, §50 — 55. Dass sie erst von die-
sem redaktor herrührt, lässt sich freilich insofern nicht strikte beweisen, als eine
direkte vergleichung mit der älteren version für diese teile nicht mehr möglich ist.
Da der abschnitt aber keinesfalls ursprünglich ist und da diese recension auch sonst
irische quellen benutzt hat, bietet die annähme keine bedenken. Die Patriciuslegende
ist, wie Stokes (The Tripartite Life of Patrick I s. CXVIII) andeutet und Zim-
mer (s. llü fgg.) näher ausführt, aus zwei irischen denkmälern geschöpft, die aus der
zweiten hälfte des 7. Jahrhunderts zu sein behaupten und nach der Schreibung der ein-
heimischen eigennamen wirklich sind, aus den lateinischen notizen des Muirchu maccu
Machtheni i;nd des bischofs Tirechän. Diese quellen werden also in der vorrede § 3
mit annales Scottorimi „geschichtsbücher der Iren" gemeint sein.
Vor dieser inte rpolation, gleich nach dem bericht über Guorthigirns tod, findet
sich § 48 mitte bis 49 ein abschnitt, der sich speciell auf zwei landstriche von Wales
bezieht, auf Biielt und Guorthigirniaiin im norden der heutigen grafschaft Breck-
nock und im süden von Radnor (Zimmer s. 67). § 49 mit dem Stammbaum Fern-
mails, des fürsten dieser gegenden, qtii regit modo, aufwärts über Guoiihigirn bis
auf Glovi^, den angeblichen gründer von Gloucester, ist wegen der lebenszeit dieses
fürsten sicher ein einschiebsei. So wird auch § 48 (von Tres filios an) gleichzeitig
eingefügt sein; er steht mit der übrigen geschieh te in keinem rechten Zusammen-
hang, indem er erzählt, Ambrosius, qiii fuit rex inter omnes reges Britannicae
gentis, habe Pascent, dem dritten söhne Guox-thigirns , diese zwei bezirke geschenkt-.
Man darf wol eine landestradition darin sehen, und mit recht schliesst Zimmer, dass
der interpolator aus dieser gegend stamme oder in ihr gelebt habe. Auch hat er die
zeit des fürsten Fernmail einigermassen festlegen können, indem er in Stammbäumen
des Morgant Hen eine cousine Fernmails, Braustud, tochter seines väterlichen
oheims Cloud und frau eines südwelschen fürsten Arthvael, entdeckt hat (s. 68). Die
nächsten daten sind: Arthvaels und Braustuds grosssohn Howel (Hywel) ist 894 hoch-
betagt gestorben; dessen söhn Ewein (Owein) erscheint schon vorher, 892, als füllst
von Glamorgan. Anderseits ist Arthvael urenkel von Rees f. Judhael, dessen lebens-
zeit durch den tod seines bniders Fernvail a. 775 annähernd bestimmt ist. Danach
setzt Zimmer Braustuds vetter Fernmail , fürst von Buelt und Quorthigirniaun, rund
um 785 — 815 an.
Bevor wir uns zu den andern daten dieser recension und zum Schlüsse des
Werkes wenden, müssen wir einen blick auf die vei'sion werfen, welche wir im
anschluss an Zimmer vorläufig
Ifordwelsche recension nennen wollen. Sie wird gebildet durch die hss.
GKN und IL, und unterscheidet sich von der Harleian- recension: 1) diu'ch die vor-
11. Jahrhundert aus verschiedenen bestandteilen zusammengesetzt wurde, selber wider
Lebor Gahdla nennt.
1) Zu diesem namen vgl. eine Vermutung von Zimmer (s. 174 fgg.).
2) Wäre § 48 alt, so müsste er wol schon aus dem liber S. Germani stam-
men, da nur dieses auf die pro\'inz Powis, zu der die landschaften gehören, bezug
nimmt. Das ist aber ganz unwahrscheinlich.
ÜBER ZIMMER, NENNIUS VINDICATUS 95
ivde § 3 (Apologia). 2} Duicli weitere gemeinsame Zusätze, die in KNG mehrfach
noch als rand- oder interlinearnoten erscheinen (Zimmer s. 38). Sie sind zusammen-
i;L'stellt bei Zimmer s. 24 fgg. ; doch gehört noch dazu s. 42 gruppe I und s. 43 die
note zu § 5 über Anaraut^ 3) Dui'ch die kürzung des Schlusses der eigentlichen
Brittengeschichte. Sie wird in GEL durch eine bemerkung motiviert, die nach Petrie
und San-Marte in K gleichfalls auf dem rande steht.
Die vorrede (§3) beginnt: Ego Nennius sancti Elvodugi discipulus aliqua
excerpta scribere curavi, qtiae hebetudo gentis Britanniae dejecerat usw. und be-
richtet: Ego autem coacervavi omne quod inveni, tarn de annalibus Romanorutn
quam de chronicis Sanctorum Patrum, id est Hieronymi Eusehii Isidori Pro-
speri et de annalibus Scottorum, Saxonumqtie et ex traditione veterttm nostrorwn.
Man sieht, es passt alles so haai'genau auf die tätigkeit des Verfassers derHarleian-
recension, dass ein zweifei daran, dass dieser sich hier selber nennt, gar nicht auf-
kommen kann. Das hat Zimmer mit recht hei"vorgehoben. Er meint zwar s. 263,
den Isidor habe Nennius nirgends direkt benützt ; ich vermag es nicht geradezu zu
widerlegen, möchte aber bei der genauigkeit der übrigen angaben doch vermuten,
dass sich bei der nachprüfung dieses oder ienes datums die möglichkeit herausstel-
len wird, dass Isidor mit beigezogen wurde ^. Durchaus unpassend wäre anderseits
die vorrede, wenn sie sich nur auf die änderungen der „nordwelschen recensiou"
beziehen sollte. Mit den paar randnoten, die diese beifügt, hat jener apparat nichts
zu schaffen, und annales Saxonum konnte derjenige gar nicht brauchen, der gerade
den schluss der Eist, unterdrückte.
Eher kann man fragen, ob der name Nennius buchstäblich richtig sei. Der
irische Übersetzer las, wie oben s. 82 bemerkt, Nemnius oder Nemnus; und die in
einer wol gleichzeitigen hs. erhaltene anekdote, die ihm die ei"findung eines brittischen
alphabets zuschreibt, nennt ihn Nemnivus^. Also zwei selbständige quellen haben
mn statt nn.
"Wie dem sei, seine zeit lässt sich aus den daten, die die Harleianrecension
den früheren beigefügt hat, annähernd genau bestimmen. Drei Jahreszahlen beziehen
sich auf die gegenwart des schreibenden. In § 5 haben die besten hss. (Zimmer
s. 126 fg.): a passione Christi anni 796, ab inearnatione 831. Ist auch der abstand
von 35 Jahren von incarnatio bis passio ungewöhnlich, ein rechenfehler also nicht
ausgeschlossen, so wird das datum c. 831 n. Chr. doch ungefähr richtig sein.
In § 16 sind irische daten in zwei verschiedenen Zeitpunkten eingetragen worden;
zuerst wird die ankunft des Patricius in Irland a. 405 , später a. 438 n. Chr. angesetzt.
Vor der ersten angäbe steht: A primo anno, quo Saxones venerunt in Brittanniam,
usque ad anmmi quartum Mermini regis suppufanttcr anni CCCCXXIX (429).
Dass unter Merminus nur Merfyn frych verstanden werden kann, darin stimme ich
Zimmer (s. 164 fgg.) bei. Merfyn erbte Nordwales von seinem schwiegei-vater Cynan
1) Dass diese, obschon sie in die irische bearbeitung aufgenommen ist, bei
der ersten auf Zählung fehlt, ist unbegreiflich und führt den leser — man möchte fast
sagen absichtlich — irre.
2) Dass in §4. 5 kein Zusammenhang mit Isidor vorliegt, wie ich Rev. Celt.
6, 105 gemeint hatte, hält mir Zimmer s. 185 mit recht entgegen.
3) Gramm. Celtica- XXYII und 1059, Zimmer s. 131. Dass unser Nennius
gemeint sei, ergibt sich, wie Zimmer gesehen, mit Sicherheit aus der angäbe, er habe
die ei"findung gemacht, ut hebitudinem dcjeceret gentis suae, eine deutliche anleh-
nung an den anfang der vorrede § 3.
96 THÜRNETSEN
Tindaethwy und dazu Powis, weil seine mutter tochter des Powisfürsten Cadell war;
auch wird er, wie sein Schwiegervater, den titel „könig aller Kymry" geführt haben.
Im Brut y Tywysogion der Myvyrian Archaiology (s. 687) wird der tod Cy-
nans sub a. 814 n. Chr. erzählt, der tod von Cadells söhn Griffri a. 815 und Mer-
fyns antritt der doppelherrschaft a. 818 angesetzt; danach wäre das 4. jähr der regie-
rung 822. Die bedeutend älteren Annales Cambriae setzen Cynans tod ins jähr
816; Zimmer zählt Merfyns königtum von diesem jähre an, also das 4. jähr = 820.
In jedem falle steckt in der zahl 429 ein fehler; aber als nindes datum dürfen wir
c. 820 ansetzen ^ Damals wird der Verfasser auch die vorausgehenden irischen wan-
derungssagen in die Hist. eingefügt haben.
Nach dem späteren datum von Patricks ankunft findet sich (§16 schluss) eine
neue berechnung des gegenwärtigen Jahres, die die Jahreszahl 859 n. Chr. zu ergeben
scheint. Dass diese verschiedenen daten verschiedenen personen oder verschiedenen
ausgaben entsprechen, wie man angenommen, scheint mir durch nichts angedeutet;
im gegenteil, die vorrede macht wahrscheinlich, dass die Zusätze der Harleianrecen-
sion von einem manne und zwar von Nennius herrühren. Zu den festen daten kommt
noch, dass er früher ein discipulus des 809 gestorbenen bischofs von Bangor, El-
bodgw, gewesen, der in "Wales eine wichtige rolle gespielt hatte, so dass die Schü-
lerschaft als ein ruhmestitel erscheinen mochte. Nimmt man beispielweise an, Nen-
nius sei bei Elbodgw's tode 18 jähre alt gewesen, so hätte er die ersten irischen
daten etwa in seinem 30. , die ergänzung der calculi (§ 5) etwa im 40. und das letzte
datum (859) im 68. lebensjahre eingetragen. Doch kann er ein paar jähre jünger
gewesen sein. Jedenfalls hat er ziemlich sein lebenlang für die Historia gesammelt.
Die Apologia steht nun aber nicht in der Harleian-recension, sondern nur vor
der gekürzten, Zimmers „nordwelschen". Auch hier war sie, wie es scheint, erst
nachträglich eingetragen wol in derselben kleineren schrift wie die randnoten, was
spätere kopisten zum teil beibehalten habend Kann sie ursprünglich mit dieser
recension verbunden gewesen sein, d. h. ist Nennius auch Verfasser der gekürzten
Historia? Zimmer verneint die frage, Heeger und Duchesne bejahen sie. Ich denke,
mit recht. Die die kürzung motivierende note (Zimmer s. 31) schliesst nach dem
bericht über Eduini's taufe (§ 63): Si quis scire voluerit, qiiis baptixavit eos, sie
mihi Renchidus episcopus et Elbodus episcoporum sanctissimus tradiderunt , Run
map Urbeghen, id est Paulinus Eboracensis archiepiscopus , eos baptizavit; et per
XL dies non cessavit baptixare om.ne genus Ambronum et per praedicationem illius
multi crediderunt in Christo. Sed ctim imäiles magistro meo, id est Beulano
presbytero, visae sunt genealogiae Saxonmn et aliariim genealogiae gentium, nolui
eas scribere. Sed de civitatibus et mirabilibus Brittanniae insidae ut alii scriptores
ante me scripsere, scripsi. Sie enthält also zunächst eine Verbesserung des § 63
1) Nimmt man als wirkliches jähr 821 an, und rechnete Nennius hier wie in
§ 5 das passionsjahr =: 35 unserer Zeitrechnung, so wäre DCCLXXXVI (786) post
passionem Chr. das von ihm gemeinte jähr. Davon abgezogen das jähr der Sach-
senankunft 347 p. pass. Chr. ergäbe 439; in CCCCXXIX betrüge der rechenfehler
also nur ein X.
2) Nur so kann ich mir Petrie's bemerkung deuten, in allen hss., welche die
Apologia enthalten, sei sie manu vel aliena vel aliqimnto recentiori geschrieben
(Nennius s. 48 anm. b und vorrede s. 66). Es ist doch unmöglich anzunehmen, dass
die ganze reihe von hss., die schon an sich derselben recension angehören, zufällig
den gleichen zusatz nachträglich aufgenommen haben.
I
ÜBER ZnUIER, NEN'NTÜS \1NDICATUS 97
der Harleiam-ecension, wo Nennius — wol nach seiner vorläge — geschrieben hatte:
Rum map Urbgen baptizavit eos. Denn Run map Urbeghen ist die teils rich-
tigere teils altertümlichere form des namens*. Die andere notiz, dass dieser ßun
gleich Paulinus, erzbischof von York, sei, ist zwar irrig, beruht aber indirekt auf
Bedas bericht, dass Paulinus die Nordhumbrer getauft habe. Als gewährsmänner
werden ein — unbekannter — bischof Eenchidus und der heiligste bischof Elbodgw
genannt, ersterer aber vorangestellt. Das dürfte darauf hinweisen, dass der Schrei-
ber die korrektur zunächst Eenchidus verdankt, der ihn auf irgend eine bemerkung
oder notiz Elbodgw's mag aufmerksam gemacht haben. Die beruiung auf diesen passt
sehr gut für einen ehemaligen discipuius Ehodugi. Dagegen darf man nicht anneh-
men, dass Nennius schon als schüler Elbodgw's an der Historia gearbeitet habe.
Kannte dieser — wie es nach obigem scheint — schritten Bedas, so hätte er ihm
viel mehr neue materialien zuführen können und wäre gewiss viel öfter von ihm
citiert worden-. Es spricht also nichts dagegen, dass Elbodgw zur zeit, als voixede
und Schlussnote verfasst wurden, seit lange tot war. Somit hat gewiss Nennius sel-
ber nach der Harleianrecension, also nach dem jähre 859 die gekürzte recension
besorgt und jenen passus beigeschrieben. Aus letzterem lernen wir ferner, dass der
alte Nennius in einem untergeordneten Verhältnisse zu einem presbyter Beul an stand,
den er magister mens tituliert. Demnach rührt gleichfalls von ihm her die randnote
zu § 10 (s. oben s. 89), welche die worte enthält: Sic inveni, ut tibi, Samuel, id
est itifans magistri niei, id est Beulani presbgteri, in isla (d. h. der gegenüber-
stehenden) pagina scripsi. Die künstliche Übersetzung Zimmers (s. 50) ist unnötig.
Beulan, dem Nennius diese ausgäbe wol bestimmt hatte, mag vor oder gleich nach
der Vollendung gestorben sein; der Verfasser wendet sich daher in dieser nachträg-
hchen note an ßeulans söhn Samuel. Die einzige Schwierigkeit bildet das schlechte
latein im anfang der note, da Nennius sonst wenigstens verständlich schreibt. Aber
die Schwierigkeit bleibt immer bestehen, wenn man die beiden stellen, in denen Beu-
lan genannt wird, demselben autor zuschreibt, was doch alle tun; denn die zweite
hat glattes latein. Darum habe ich oben s. 90 angenommen, dass die mangelhafte
Sprache auf grosser Mchtigkeit beruhe.
Endlich spricht auch der anfang der motivierenden schlussnote für Nennius
als Verfasser der kürzenden recension. In der Harleianrecension hatte § 61 den
imverständlichen schluss : Ida filius Eobba . . . unxit Dinguayrdi guurthberneich.
Die kürzende recension biingt wider eine wenigstens halbrichtige korrektur^: Ida . . .
junxit arcem, id est D in, Oueirin et Giirdbirnech: quae duae regiones fuerimt in
una regione, id est Deur a Bernech, Anglice Deira et Bernicia. Diese erklärung,
über die Vereinigung von Deur a Bernech „Deira und Bernicia" wii-d doch wol
schon ihrer fassung nach von demselben manne stammen wie die bemerkung zu
Soemil in der genealogie von Deira § 61 : ipse primus separavit Deur o Birneich.
Da letztere sich nur in der Harleianrecension findet, kann sie nur vor oder von Nen-
nius eingetragen sein. Auch diess führt also wider auf Nennius.
1) In Urbeghen ist wie in Urbagen (überschiift in Ch) der auslautende vokal
des ersten kompositionsgliedes (Urbi-geniis) bewahrt, freilich in schwankender Schrei-
bung.
2) Die irische ühersetzimg hat den papstnamen Eu(ch)aristus der Lucius-
legende in Eleutherius verbessert. Das beruht aber nicht auf der „nordwelschen
recension" (Zimmer s. 141), sondern ist selbständige besseitmg des irischen bearbei-
ters nach Bedas schilft De temporum ratione.
3) Vgl. oben s. 85.
ZEITSCHKliTT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. Bü. XXVIU. •
98 THURNEYSEN
Ob noch andere der gemeinsamen rand- und interlinearnoten auf ihn zurück-
gehen, mag dahingestellt bleiben. Sicher nicht alle. Denn die randnote zu § 5 zählt
6108 jähre ab exordio rmmdi usque ad XXX annum Anaraut regis Moniae (Ang-
lesey), qui regit modo regnutn Wenedociae regiotiis, d. i. 910 n. Chr. (Zimmer
s. 43 fg.). Um diese zeit kann ein schüier Elbodgw's nicht mehr gelebt haben. Bald
darauf scheint das archetyp der hs. G und wol auch die vorläge des irischen Über-
setzers kopiert worden zu sein; bei weiteren Zusätzen hört daher die Übereinstimmung
der handschriften auf.
Zu ganz anderen resultaten ist, wie oben bemerkt, Zimmer gelangt, der für die
Harleiam'ecension und die „nordwelsche recension" verschiedene Verfasser annimmt,
nur für die erstere Nennius. Der § 16 ist nach ihm später in das werk des Nennius
eingeschoben, seine daten also für dessen lebenszeit ohne belang; in dem datimi von
§ 5 sieht er einen grossen lapsus (s. 127 fg.) Er rechnet folgendermassen. Der Verfas-
ser der nordwelschen recension ist ein jungermann, weil erBeulan seinen magi-
ster nennt; er beruft sich auf eine mündliche mitteilung des bischofs Elbodgw, kann
also nicht lange nach 810 geschrieben haben. Nennius, ein (i/sc2)>w/z<s dieses bischofs,
ist also noch etwas früher anzusetzen. Der fürst Fernmail, dessen Stammbaum er § 49
bringt, lebte rimd um 785 — 815. Catell Durnluc, den Nennius in einer glosse (§35)
nennt, ist der fürst Catell von Powis, dessen tod die Annales Cambriae a. 808
melden (s. 71 fgg.)- Die genealogieen von Mercia (§ 60) fügen am schluss den Stamm-
baum könig Ecgfrids bei, der nach einer regierung von nur 141 tagen a. 796 starb.
Also ist 796 das jähr, in dem Nennius sein werk verfasste (s. 82).
Abgesehen davon, dass wir nun nicht mehr so leicht wie Zimmer über die
daten der Harleianrecension hinwegsehen können, ist auch Fernmails lebenszeit nur
ungefähr, durch generationenrechnung bestimmt (oben s. 94); sie kann sich leicht
in die 20er oder 30er jähre des 9. Jahrhunderts erstreckt haben, wo Nennius nach
dem obigen eben an der arbeit war. Ausserdem ist gerade bei der interpolation von
§ 49 nicht ganz zweifellos, dass sie Nennius und nicht einem Vorgänger zuzuschrei-
ben ist.
Mit Catell aber verhält es sich so. Nach § 32 fgg. hat S. Germanus einem
servus des bösen königs Benli, namens Catel, prophezeit (§ 35): „Non deficiet rex
de semine tuo — ijjse est Catell Durnhic — et tit, solus rex eris ab hodierno
die.'' Und so geschah es; von seinem samen omnis regio Poeisorum regitur usque
in hodiernum diem. — Der satz: ipse est Catell Durnluc ist ein späterer einschub,
wie Zimmer gesehen und wie hs. Ch bestätigt; seiner fassung nach rührt er von
Nennius her. Am nächsten liegt gewiss, dass mit ipse der Stammvater der Powis-
fürsten gemeint sei, dem Germanus die königswürde verheisst. So haben es nicht
nur die kopisten des Nennius verstanden, die bei der früheren nennung des servus
schreiben: cui nomen erat Katel Durnluc dux^\ sondern auch in den alten genea-
logieen (Harl. 3859) steht Catel Durnluc an der spitze der könige von Powis. Anders
Zimmer; er denkt, Catell Durnlue bezeichne den zu Nennius' zeit regierenden fürsten,
gehöre also gewissermassen zu seinen tuum. lu dem Brut yTywysogion den die
Myvyrian Archailogy s. 685 fgg. enthält, auf dessen besonderheiten übrigens auch
Zimmer sonst nicht viel baut, heisst es nämlich zum jähre 804: y bu farw ... Ca-
dell Brenin Teyrnllwg a elwir yr aivr honn Powys „da starb Cadell, könig von
1) Dux scheint die typische bezeichnuug der herrscher zu sein, die nicht aus
dem brittischen hochadel hervorgegangen; vgl. Arthur dux bellorum § 56.
ÜBER ZIMMER, NENNIDS VINDICÄTUS 99
Teyrnlhvg, das jetzt Powis genannt wird"; und in der folge wii'd dieser fürst mehr-
fach als Cadeil Deijrnllwg citiert. Dass Deyrnllwg mit dem obigen Durnlue zusam-
menhängt (durch den lesefehler Dlirnlnc)^ ist an sich klar und wird dadurch bestä-
tigt, dass in jüngeren genealogieen (Zimmer s. 72) der Stammvater des geschlechts
das epitheton Deernluc, eine andere Variation von * Diirnluc, führt. Da jedoch der
historische fürst gerade in den älteren quellen einfach Catell (Cadeil) von Powis
heisst*, so muss der name Cadell Deyrnllwg in der Myv. Arch. auf einer Verwechs-
lung mit dem urahnen und die erklärung von Teyrnllwg = Powis auf einem nahe-
liegenden Schlüsse beruhen"-. Der name kommt also für die bestimmung der zeit des
Nennius gar nicht in betracht. Dann aber ebensowenig das datum des königs Ecg-
frid von Mercia, das nur in Verbindung mit den andern in die wagsohale hätte fal-
len können (s. darüber unten, s. 101). Die daten aus dem 9. Jahrhundert in § 5 und
§ 16 behalten somit ihre volle beweiskraft.
Nunmehr sind wir in der läge auch die bestandteüe der zweiten hälfte der
Hist. Britt. auf ihren urheber hin zu prüfen. Oben s. 83 constatierten wir, dass der
schluss der Brittengeschichte zum alten bestände gehört. Als vermutliche Interpola-
tionen wurden bereits besprochen § 48 (von der mitte an) und 49 , ferner das leben
des Patricius § 50 — 55. Es bleiben ausser dem anhang, den Mirabilia und Civi-
tates, noch die
Geuealogieeu § 57 — 61. Sie nehmen, wie früher s. 84 bemerkt, häufig auf
die Brittengeschichte, in die sie eingeschoben sind, bezug. Alle enthalten fürsten-
namen, die in dieser vorkommen. Eine merkwüi'dige ausnähme büdet nur die genea-
logie der Ostangeln § 59, indem sie keinerlei beziehuug zur Brittengeschichte zeigt,
auch nicht zu dem hysterogenen schluss des §65: Penda . . Onnan regem Easter-
angloruvi . . occidit; gerade dieser Ostangelnkönig kommt im Stammbaum nicht vor.
Ihre aufnähme lässt sich also nur so erklären, dass sie schon in der quelle direkt
auf die genealogie von Eent (§ 58) folgte und, sozusagen aus versehen, mit abge-
schrieben wurde.
Die genealogieen beginnen mit Bernicia §57. Der » Stammbaum wii'd von
Woden über Ida bis auf die generatiou Aechfirds {= Ecgfrid) herabgeführt, des
letzten in der Hist. erwähnten königs (regiert 670 — 685). Dann wird sein tod im
Pictenkriege berichtet, der in der Brittengeschichte von 679 natürlich fehlte. Von
wem? Das verrät wol der satz: et nunqiiam addiderunt Saxones Ambroniim, ut a
Pictis vectigal exigerent. Der Verfasser bezeichnet also die Nordhumbrer, die Ambro-
nes (s. 0. s. 83 anm. 2), als Saxones Ambronum, obschon sie Angeln sind. Mithin ist
für ihn Saxones ein gesammtname für alle Germanenstamme Englands; demnach ist er
ein Südkymre , d. h. aus Wales oder umgegend , wie noch heute in "Wales aUe Eng-
länder Seison „Sachsen" genannt werden. Da nun auch der Verfasser der gekürzten
recension von genealogiae Saxonum et aliariwi genealogiae gentium spricht (oben
s. 96), obschon die Stammbäume nur Angeln und Juten, aber keinen einzigen der
englischen Sachsenstaaten betreffen, wird wol ein und derselbe mann beide bemer-
kungen verfasst haben, d. h. Nennius. So wird wahi-scheinlich , dass auch die fol-
gende notiz über Osguids zwei frauen von Nennius herrührt; er fülut sie an, weü
1) Catell Pouis in den Annales Cambriae a. 808, Cadell brenhin Powys in
dem Brut y Tywysogion des roten buchs von Hergest (ed. Rhys- Evans s. 258).
2) Dadurch verhert auch die von Zimmer s. 73 citierte stelle der Job Mss.
jede glaubwürdigkeit.
7*
100 THTJRNETSEN
die eine, Riemmelth, die grosstochter , die andere, Eanfled^ nach § 63 der täufling
des dort erwähnten Rum (Run) map Urbgen zu sein schien. Ebenso geht dann der
Zusatz zu Aelfret: ipse et Aedlfred Flesaur, der gleichfalls auf § 63 hinweist, auf ihn
zurück.
Die zweite genealogie §58, die die fürsten von Kent bis auf Ecgberth (664 —
673) herabführt, ist mit rücksicht auf Hengist und seinen söhn Octha (§ 56) aufge-
nommen. Die vorfahren Hengists sind weggelassen, weil sie schon in § 31 der Eist.
genannt waren. Zimmer s. 82 fgg. meint, die namen seien aus den genealogieen aus-
gezogen und an jener früheren stelle eingefügt worden. Eher werden sie doch dem
ursprünglichen werkchen angehören, da der Stammbaum, im unterschied von den
andern genealogieen, über Wodeii hinaufgeht bis auf Oeta filius Dei (s. unten).
Die anschliessende genealogie der Ostangeln § 59 erstreckt sich von Woden
über Quecha bis auf einen unbekannten Elrie, der hier als söhn Aldul(f)s (663 —
713) erscheint (s. unten). — Die genealogie von Mercia § 60 führt zuerst von Woden
auf Penda (626 — 655), der in § 65 der Britteugeschichte vorkam, und seinen bruder
E(o)ua (t 642). Dann folgen aufsteigende Stammbäume von drei späteren mercischen
fürsten: 1. Eadlrit (675 — 704), 2. Eadlbald (716 — 757), 3. Ecg fr id filius Off a , der
796 (795?) nur wenige monate regiert hat. — Die genealogie von Deira §61 end-
lich führt von Woden über Soemil auf Äedgtiin, von dem § 63 handelte. Sein und
seiner söhne tod in der schlacht gegen Catguollaunus , der in der Britteugeschichte
übergangen war, wird hier nachgetragen, vermutlich gleichfalls von Nennius.
An diese verschiedenen genealogieen ist in § 61 noch angeschlossen: 1. der
Stammbaum eines unbekannten Oslaph, der in 6. generation von Osguid (regiert
642 — 670) abstammt. Rechnet man sechs generationen als rund 200 jähre, so war er
ein Zeitgenosse des Nennius. 2. Der Stammbaum Eadbyrths, des Nordhumbrerkönigs
von 737 — 758, und seines bruders Ecgbirth, der 766 als erzbischof von York starb.
Hat nun Nennius nur ein paar zusätze zu den genealogieen gemacht oder hat
er überhaupt den ganzen abschnitt §57 — 61 der Historia einverleibt? Ich glaube,
die zeit der quelle der genealogieen, die wir einigermassen bestimmen können, spricht
für die zweite anschauung. Sweet, The Oldest English Texts s. 169 fgg., druckt aus
dem Cotton ms. Vespasian B 6 fol. 108 fgg., einer hs., die vor 814 von einem Nord-
humbrer geschrieben scheint, eine reihe von genealogieen ab. Der titel lautet: Haee
genelogiae per partes Brittaniae regum regnantium per diversa loca. Dann folgt
zunächst ein abschnitt mit Stammbäumen von Nordhumbrerfürsten: 1. von Eduine
Aelling (616 — 633) aufwärts bis Uoden Frealafing (vgl. Nennius § 61); 2. von
Ecgfriä Osuing (670 — 685) bis Uoden Frealafing (vgl. § 57); 3. von Ceoluulf
(729 — 737) über Ecguald bis Ida; daran angehängt der Stammbaum von Eadberht
Eating (737 — 758), vgl. Nennius §61, wo Eadbyrths bruder, erzhischoi Ecgbirth,
hinzutritt; 4. die genealogie von Alhred (765 — 774).
Hierauf vier genealogieen von Mercia: 1. von Aeäilred Pending aufwärts bis
Woden Frealafing; 2. von Aeäelbald Ahving bis Eoiva Pybbing; 3. von Ecgfriä
Offing bis Eowa Pybbing; 4. von Goenuulf Cuäberhting (796 — 819) bis Coenwalh
Pybbing. Die drei ersten entsprechen genau den di'ei abschnitten bei Nennius § 60:
Eadlrit, Eadlbald und Ecgfrid.
Nach einer genealogie der Lindisfari, die bei Nennius fehlt, folgt die von
Kent. Sie geht von Aeäelberht Uihtreding (748 — 760) über Uihtred Ecgberhting,
Ecgberht Erconberhting usw. und Hengest Uitting hinauf bis auf Uoden Frealafing.
Sie enthält also zwei generationen mehr als Nennius § 58, der mit Ercunbert genuit
ÜBER ZIMMER, NENNIUS VINDIGATÜS 101
Ecgherth (664 — 673) abbricht. Das ist schon an sich auffällig, da die andern gleich-
artigen Stammbäume des Nennius nicht so früh schliessen. Jetzt wird sehr wahr-
scheinlich, dass nur ein flüchtigkeitsfehler des Nennius vorliegt; die ähnlichkeit der
naraen Ecgberth und Eadlberth hat ihn die zwei letzten gheder übersehen lassen.
Die genealogie der Ostangeln führt von Äelfwald Älduulfing (713 — 749)
aufwärts bis Uoden Frealafmg. Bei Nennius § 59 schliesst dagegen der Stammbaum
mit Aldul genuit Elrie. Schon Lappenberg bemerkt, dass ein solcher söhn oder
nachfolger^ Aldulfs sonst nirgends erwähnt werde. Da nun bei Nennius Aldul(f)s
vater Edric (= Eäilrie) unmittelbar vorhergeht, scheint mir zweifellos, dass in
Elrie nur ein durch diesen namen veranlasster Schreibfehler für * Elfguald steckt.
Die ähnlichkeit beider denkmäler springt in die äugen: dieselbe auswahl der
Stammbäume (nur Angelnstämme und Kent) und in allem einzelnen, in der eintei-
lung, in den besonderheiten der Ostangeln - genealogie , überall die grösste Überein-
stimmung. Da, soA'iel ich sehe, die annähme, dass diese englischen genealogieen
aus der Historia Brit. ausgezogen seien, schon durch ihre form so gut wie ausge-
schlossen ist, so gehen beide auf dieselbe quelle zurück. Diese scheint nach ihren
hauptbestandteilen in die mitte des 8. Jahrhunderts zu gehören, befand sich aber
wol 796 in Mercia, wo der Stammbaum könig Ecgfrids eingetragen wurde. Bei spä-
teren daten (könig Ceonwulf) stimmt Nennius nicht mehr mit den englischen genea-
logieen überein. Immerhin sind wir damit der lebenszeit des Nennius so nahe
gerückt, dass kein grund vorliegt, die einreihung der genealogieen einem andern
interpolatar zuzuschreiben. Hatte Nennius selbst sie in der Harleianrecension ein-
geschoben, so begreift sich auch das urteil seines magister Beulan besser, sie seien
inutiles.
Nennius, der seine quelle in der vorrede § 3 annales Saxonwn nennt — viel-
leicht erhielt er sie durch den Oslaph, dessen Stammbaum § 61 beigefügt ist — , hat
wol einiges weggelassen^, namentlich aber vieles nachgetragen und zwar aus brit ti-
schen quellen, wie die brittischen namen der Schlachtfelder in § 57 und 61 und meh-
rere sonstige einschiebsei dartun. Als zusatz zu den genealogieen ergibt sich nun aber
auch der bericht über die 12 söhne Idas, die 7 söhne Aedlfreds und die 3 söhne
Osguids in § 57 ; docb stammt dieser vielleicht eher aus der vorläge als von Nen-
nius selbst. Dagegen wird ihm gewiss die auffällige anordnung der genealogieen zuzu-
schreiben sein: Nordhumbrien (ßernicia), Kent, Ostangeln, Mercia, Nordhumbrien
(Deira). Die alte reihenfolge mag gewesen sein: Kent, Ostangeln, Mercia, Bernicia-
Deira. Da Nennius an Ida (§ 56) anknüpfen wollte, musste er Bernicia an die spitze
stellen. Ähnlich hat der nordhumbrische Schreiber der englischen genealogieen mit
seiner heimat begonnen.
Ferner bestätigt sich jetzt, dass der Stammbaum von Hengist und Hors auf-
wärts über Woden bis auf Oeta films Dei (§ 31) nicht aus diesen genealogieen aus-
gezogen ist, dass wir also nicht anzunehmen haben, die version der hs. Ch, worin
er sich bereits findet, habe auch schon die genealogieen enthalten. Freilich steht
auch bei Sweet (s. 170) ein Stammbaum, der über Woden Frealafing hinaufreicht;
das ist aber gerade der der Lindisfari , den Nennius nicht hat. Zudem ist hier als
oberster Stammvater Oodulf Geoting (bei Nennius: Folcwald fil. Geta) genannt; die
1) In den genealogieen, denen Lappenberg folgt, ist nämlich Aelfivold nicht
söhn, sondern bruder Aldulfs.
2) Ob die vielen nachlässigkeitsfehler, von denen einige oben berührt worden
sind, von ihm oder einer dazwischenliegenden vorläge herrühren, bleibe dahingestellt.
102 THDRNEYSEN
notiz, dass Geta filius Dei sei, fehlt. Überhaupt weichen die namen in der Schrei-
bung zu stark ab, als dass direkter Zusammenhang angenommen werden könnte. Alle
andern englischen genealogieen, auch die von Kent, gehen nur bis auf Uoclen Frea-
lafing hinauf, genau wie bei Nennius. —
Die notiz über bischof Cudbertus am ende der Brittengeschichte § 65 stammt
kaum, aber die über Ecgfrids tod sicher von Nennius (vgl. § 57). Wer den schluss
(über Penda) beigefügt hat, kann ich nicht bestimmen. Er nennt die Nordhumbrer
Nordi, gen. Nordonim, was weder Nennius noch der historiograph tun. JedesfaUs
hat ihn Nennius schon vorgefunden.
Die 28 Civitates (San-Marte s. 80) und wenigstens ein teil der Blirabilia
(§ 67 fgg.) standen ebenfalls schon in seiner vorläge nach seinen oben citierten Wor-
ten: Sed de cnntatihus et mirabilibus Brittanniae insulae tit alii scrii^tores ante
me scripsere, scripsi. Für die Civitates die einen excui's zu § 7 bilden, wird das
ausserdem durch die altertümliche Orthographie der namen bestätigt, auch durch das
fehlen von Gloucester, das Nennius wegen § 49 gewiss nicht übergangen hätte (Zim-
mer s. 109). Die vaticanische recension, welche die städtezahl zu 33 erweitert, hat
denn auch Cair Olovi richtig beigefügt.
Die Mirabilia zerfallen in vier abschnitte'. Zuerst (§67 und §68 anfang)
4 numerierte wunder, betreffend 1. Loch Lomond in der schottischen grafschaft Dum-
barton; 2. die mündung des flusses Trent in den Humber (Zimmer s. 112); 3. warme
quelle bei Bath-, 4. eine saline in eadem (regione?)"^. Diese bilden jedesfalls einen
alten stock; Zimmer denkt, die beiden ersten haben schon zum alten werkchen
gehört, was möglich ist.
Die folgenden 10 wunder (§68 — 74) sind lose angereiht mit: Aliud miracu-
lum est, Est aliud mirahile oder ähnlich. Die genannten lokaütäten sind: 1. und
2. Severnmündung, 3. unsicher, 4. fluss "Wye, 5. 6. 7. Monmouth - Glamorgan,
8. regio Buelt (Builth), 9. quelle des Amir -'ba.oh.es, ^ der südlich von Hereford fliesst
(Zimmer s. 114); 10. Cardigan; also die mehrzahl im gebiet des Wye- flusses von
seinem oberen laufe bis zur mündung. Zu wunder 7. (bei Chepstow am untern Wye)
und zu 9. (grafschaft Hereford) bemerkt der erzähler: ego probavi. Dass das 10. wun-
der späterer zusatz sei, scheint mir durch Zimmer s. 111 nicht erwiesen.
Den dritten abschnitt bildet § 75 mit 4 numenerten, summarisch aufgezählten
wundern der insel Anglesey, den vierten §76 mit zwei wundern Irlands. Diebeiden
letzten gruppen scheinen nur in hs. I Überschriften zu tragen: De mirabilibus Mo-
niae insulae und De mirabilibus Hiberniae. In der urhs. sollten sie offenbar nach-
träglich eingetragen werden, da der text auf sie bezug nimmt. Doch lagen sie auch
dem irischen Übersetzer vor, der Monia als insel Man miss verstanden hat.
Alle diese wunder finden sich sowol in den guten hss. der Harleianrecension
als in der gekürzten, sie sind also von jenen in diese herübergenommen wor-
den, da nichts zur umgekehrten annähme zwingt. Sie führen uns zur frage, wo
Nennius gelebt und geschrieben hat. Für Nordwales, wol speciell Anglesey
spricht: 1. er war Schüler des bischofs von Bangor, Elbodgw; 2. vier wunder von
Anglesey sind an später stelle angehängt; 3. am rande der urhs. der gekürzten recen-
sion wird um 910 ein datum nach Anaraut, fürsten von Anglesey und herrscher über
1) Vgl. Zimmer s. 110, dem ich aber auch hier nicht in allem folgen kann.
2) Ich weiss nicht, ob es bei Bath salinen gibt. Potrie, der wol in eadem als
in Britannia versteht, bezieht es auf die saline bei Chester.
ÜBER ZIMMER, NENNIUS VINDICATUS 103
Nord Wales, berechnet. Nach dem süden (süd-osten) von Wales weisen: der Stamm-
baum Fernmails, des fürsten von Buelt und Guorthigirniaun , in § 49 und die
Mirabilia aus dem Wye- gebiet. Da der "Wye-fluss an Builth vorbeiströmt, wird
man mit Zimmer für sehr wahrscheinlich halten, dass beide abschnitte denselben
Verfasser haben. Anderseits erlaubt der abweichende stil, in dem die wunder von
Anglesey erzählt werden, keinen sichern schluss auf die Verschiedenheit der Verfas-
ser; es könnte nur der Zeitpunkt der eintragung ein verschiedener sein.
Wir erhalten also folgendes bild von Nennius tätigkeit. In seiner Jugend war
er Schüler des berühmten Elbodgw, bischof von Bangor, der 768 die römische
osterberechnung bei den Kymren eingeführt hatte und 809 starb. Entweder kam er
später eine zeit lang nach Südost -Wales und begann dort die alte Brittengeschichte,
die er aufgefunden, weiter auszuarbeiten; oder er erhielt ein exemplar derselben, in
das kurz vorher in Südost -Wales einige Zusätze eingetragen worden waren. Jedes-
falls vollendete er sie später in Nordwales , wahrscheinlich auf Anglesey. Er erscheint
dort abhängig von einem presbyter Beulan, den er seinen mag ister nennt. An der
erweiterung der Brittengeschichte arbeitete er mindestens seit c. 820 und hatte bis
oder nach 859 ein exemplar seines Werkes fertig gestellt. Es liegt den hss. der Har-
leianrecension zu gründe. Da der presbyter Beulan die eingeschobenen genealogieen
englischer fürsten überflüssig fand, liess er sie in der definitiven ausgäbe, die er
bald darauf besorgt haben mag, weg, zugleich aber auch den alten schluss der Brit-
tengeschichte, in den sie verarbeitet waren (also §57 — 65). NachträgHch fügte er
diesem exemplar bei: 1. eine motivierang der kürzung, worin er zugleich einige
partieen des imterdrückten Schlusses wider aufnahm, nämlich solche, bei denen er
Verbesserungen seiner früheren lesarten anzubringen hatte; 2. die vorrede zum gan-
zen werke, eine wahiheitsge treue aufzähkmg seiner quellen; sie kennzeichnet ihn als
einen sehr bescheidenen mann und erklärt dadurch, weshalb er so lange jähre mit
dem abschluss gezögert; 3. eine randnote zu § 10, die er an Beulans söhn Samuel
richtet, was -sielleicht auf den inzwischen eingetretenen tod seines „magisters"
schliessen lässt; endlich vielleicht noch andere kleine randbemerkungen. Das ist die
„gekürzte recension mit randnoten", die sich noch um 910 in Nordwales oder Anglesey
befand, imd auf die auch die irische Übersetzung des 10. oder 11. Jahrhunderts zu-
rückgebt. Nun gibt es aber auch hss. der gekürzten recension ohne diese zusätze
(hauptvertreter scheinen DE). Ob sie aus der definitiven ausgäbe vor eintragung
der noten geflossen, oder me sie sich zu den andern Versionen verhalten, wird wol
die kommende edition zeigen.
Ich lasse, wie Zimmer s. 265fgg. , ein Schema der Historia des Nennius
nach dem abdrucke von San-Marte folgen. So werden die abweichuugen übersicht-
licher zu tage treten. Was sich schon in der um 679 im norden verfassten Britten-
geschichte fand, nenne ich „ursprünglich''; doch berücksichtigeich nur die haupt-
bestandteile der einzelnen paragraphen, führe auch nur die hauptquellen an.
§ 1. 2. ProZo^«s.- Spätere rhetorische ausarbeitung der echten vorrede des Nennius.
§ 3. Apologia: Vorrede des Nennius, nachträglich der definitiven ausgäbe bei-
gefügt. S. oben s. 95. 96 fg.
§4. Unvollständige Calculi, ursprünglich. S. oben s. 86.
§ 5. Ergänzung der Calculi durch Nennius um's jähr 831. S. oben s. 86 anm. 3.
93. 95. 99.
§ 6. Calculi: die 6 weltalter, ursprünglich. S. oben s. 86.
§ 7 — 9. Beschreibung Britanniens, ursprünglich. S. oben s. 86.
104 THURNEYSEN
§ 10. 11. Geschichte und zeit des Britto, söhn des Silvius. Von Nennius
hauptsächlich auf grund der (irischen?) annales Romanorum eingeschoben an stelle
einer älteren Interpolation (einschub 1) ; s. oben s. 87 fg. 89.. In den schluss von
§ 11 ist ein zweites älteres einschiebsei verarbeitet; s. oben s. 88 fg. — Stammbaum
des Brutus (Britus) exosiis nach irischem bericht, späte randnote des Nennius zur
definitiven ausgäbe § 10; s. oben s. 89 fg. 97.
§ 12 — 14. Einwanderung der Picten und Iren; von Nennius beigefügt nach
ii'ischen quellen (annales Romanorwm?). S. oben s. 93.
§ 15. 16. Daten zur sagenhaften und wirklichen geschichte der Iren, \on peri-
tissimi Seottorum dem Nennius mitgeteilt und der hauptsache nach um 820 aufge-
zeichnet; ein nachtrag um 859. S. oben s. 93 fg. 95. 99.
§ 17. A. Ursprung der Britten nach der fränkischen völkertafel, ursprüng-
lich, s. oben s. 86. B. Stammbaum von Adam bis Alaniis, ursprünglich oder
früher einschub; s. oben s. 86.
§ 18. Stammbaum des Brutus, söhn des Hissicion. Vornennianischer zusatz,
schon in Ch; s. oben s. 89.
§ 19 — 20 erste hälfte: Caesars angriffe auf Britannien , ursprünglich. S. oben
s. 87.
§ 20 mitte bis § 30. Die Römerherrschaft in Britannien. Von Nennius eingefügt,
hauptsächlich auf grund von zwei listen der Imperatoren, welche Britannien besucht,
einer kürzeren, die früh in die Hist. eingeschoben worden, und einer erweiterten, wol
in den annales Romanorum enthaltenen; mit Zusätzen aus Hieronymus und Prosper,
auch Gildas (?). S. oben s. 90—92. Zur Luciuslegende (§ 22) vgl. s. 91 fg. 97 anm. 2.
§31 — 48 mitte. Geschichte von Hors und Hengist, Guorthigirn und S. Ger-
manus, ursprünglich; beruht grossenteils auf Map Urbgen's excerpten aus einem
über sancti (oder beati) Oermani. S. oben s. 83. 84. 87.
§ 48 mitte bis § 49. Über das fürstengeschlecht von Buelt und Guorthigir-
niaun, eingeschoben entweder von einem Südwelschen kurz vor Nennius oder von
Nennius selbst. S. oben s. 94. 98. 102 fg.
§ 50 — 55. Leben des heil. Patricius; wol sicher von Nennius, nach zwei
irischen quellen. S. oben s. 94.
§ 56. Biittengeschichte von Hengists tod an, ursprünglich. S. oben s. 87.
§ 57 — 61, z. 13 (bis zu den Worten: de natione eorum). Genealogieen der
fürsten von Bernicia, Kent, Ostangeln, Mercia, Deira (Nordhumbrien). Von Nennius
hineinverarbeitet nach einer quelle, die oder deren vorläge sich 796 in Mercia befand.
S. oben s. 84. 99 fgg. Diesen abschnitt, sowie die zwei folgenden hat Nennius in
der definitiven ausgäbe weggelassen.
§ 61 (von Ida fil. Eobba an) bis § 65 (bis: Ecgfrid . . . regnavit IX annis).
Schluss der Brittengeschichte, ursprünglich. S. oben s. 83 fgg.
§ 65 rest. Verschiedene zusätze, meist vornennianisch. S. oben s. 102.
[§ 66. Anfang der Annales Cambriae in hs. A].
S. 80. Civitates; excurs zu § 7, vornennianisch und ziemlich alt. S. oben s. 102.
§67 — 68 anfang (Quartum miraculum). Grundstock der Mirabilia Britan-
niae. Vornennianisch; die zwei ersten wunder vielleicht ursprünglich oder sehr
früher anhang. S. oben s. 102.
§ 68 (von Aliud tniraculum an) bis § 74. Zehn wunder, meist aus dem gebiet
des "Wye - flusses ; entweder von einem Südwelschen kurz vor Nennius oder von Nen-
nius selbst. S. oben s. 102 fg.
ÜBER ZIMMER, NENNIUS VINDICATUS 105
§ 75. Mirabilia von Anglesey. Von Nennius. S. oben s. 102. 103.
§ 76. Mirabilia von Irland. Wol von Nennius. S. oben s. 102.
Von einzelheiten in Zimmers buch möchte ich besonders hervorheben: die
nachrichten über die irischen ansiedelungeu in AVales und auf der cornischen halb-
insel (s. 84 fgg.), die meines wissens noch nie so vollständig zusammengestellt wor-
den sind, und den nachweis, dass die südlichsten derselben trotz Nennius § 14 durch
Cunedag und seine söhne nicht vertrieben worden sind (s. 93), ein für die Ogham-
ioschriften in Südwales wichtiges resultat. Ferner die Vermutung, dass der erweiterte
Servius-kommentar zu Virgil aus Irland stamme (s. 238 fgg.). Für verunglückt halte
ich dagegen die parabase über den Irenapostel Patrick (s. 146 fgg.), für ebenso ver-
unglückt wie Zimmers artikel in der Ztschr. f. d. a. 35 , 1 fgg. , auf den er sich stützt.
Da er mit einer gewissen verliebe immer wider darauf zuräckkommt, möchte ich die
gelegeuheit nicht vorübergehen lassen, einmal entschiedenen Widerspruch gegen seine
auf Stellungen einzulegen'. Seine these ist: Patricius, den das Irland des mittelalters
und der neuzeit als seinen hauptapostel verehrt, war in wirklichieit ein wenig bedeu-
tender brittischer priester Sucat, der, vom heil. Germanus von Auxerre gesant, dem
Pelagianismus der bereits bekehrt en Iren entgegentrat, dann namentlich gegen
den Volksaberglauben ankämpfte und zwischen 457 und 461 als erster bischof in dem
von ihm zum bischofssitz erhobenen Armagh starb, ohne dass er in der nächsten
folgezeit über seine diöcese hinaus einen besonderen ruf genossen hätte. Durch eine
lange reihe bewusster fälschungen, die namentlich vom 8. bis 11. Jahrhundert von
Armagh ausgiengen, wurde der mann, dem man durch eine Verwechslung den namen
Patricius beilegte , zu seiner späteren berühmtheit hinaufgeschwindelt. — Gewiss eine
sensationelle enthüUung !
Nun wird man zwar ohne weiteres zugestehn, dass die ältesten aufzeichnun-
gen über Patricius viel legendarisches enthalten; auch dass er niemals in Eom gewe-
sen, ergibt sich jetzt, wo die ältesten quellen durch den druck zugänghch sind, als
sehr wahrscheinlich. Dass ferner manche äbte und bischöfe von Armagh nach kräf-
ten ihren cinfluss zu erweitern strebten, erscheint, da sie ja menschen waren, recht
glaublich. Aber von da bis zu dem Zimmerschen Zerrbild ist noch ein sehr wei-
ter weg.
Seine beweise. Prosper meldet in seiner chronik zum jthre 431: Ad Seottos
in Christum credentes ordinatus a papa Caelestino Palladius primus episcopus mit-
titur. Also — schliesst Zimmer — die Iren waren damals bereits Christen, und Palla-
dius wird ähnliche zwecke verfolgt haben, wie Germanus von Auxerre auf seiner
429 unternommenen reise nach Britannien, nämlich die Unterdrückung der pelagia-
nischen ketzerei; der Britte Sucat (= Patricius), den auch die spätere legende mit
Germanus verbindet, ist demnach offenbar zu demselben zwecke nach Irland entsant
worden, um Ordnung in der schon bestehenden kirche zu schaffen, nicht um Irland
zu bekehren. ■ — Sonst pflegt man zugleich mit der notiz aus Prospers chronik eine
zweite, sie ergänzende stelle anzuführen, die Zimmer, ich weiss nicht weshalb, bei
Seite lässt. Sie steht in dem um 435 von Prosper verfassten Liter contra collato-
rem kap. 21 und sagt von dem venerabilis memoriae pontifex Caelestinus aus: Nee
vero segniore cura ab hoc eodem morbo (dem Pelagianismus) Britannias liberavit,
1) "Wenigstens soweit sie Patrick betreffen. Die abenteuerliche hypothese, dass
tuatha Fene (eine alte, halb poetische bezeichnung der Iren) eigentlich die nor-
dischen Vikinger bezeichnet habe, verlangt wol keine specielle Widerlegung.
1 06 THURNEYSEN
quando quosdam inimicos gratiac, soliim suae originis oeeupantes, etiam ab illo
secreto exclusit oceani, et ordinato Scotts eptscopo, dum Romanmn insulam stu-
det servare Catholicam, fecit etiam barharam Christ ianam. Mir scheint, da stellt
etwas von heidenmission imd Irlands christianisiening in der ersten hälfte des 5. jalir-
hnnderts, und Mnircliu maccu Machtheni hätte eigentlich Zimmers tadel (s. 149) nicht
verdient, wenn er jene notiz des Prosper i. \ngestaltet zu: Palladius ordinatus et
misstis fuerat ad hatte insolam sub brumaii rigore positam convertendam , mag
immerhin als motiv für die sendung mitgewirkt haben, dass man die eben dem Chri-
stentum sich erschliessende insel nicht den Pelagianern in die hände fallen lassen
wollte.
Das ist, was man in Rom von den anfangen des Christentums in Irland wusste.
Als man aber auf dieser insel selbst im 7. Jahrhundert daten und raaterialien zur
geschichte der irischen kirche zu sammeln begann, strömte zwar eine reiche fülle
von notizen und angaben über den brittischen Irenbekehrer Patricius zusammen,
glaubwürdige und unglaubwürdige; aber von Palladius, den man doch aus Prosper
kannte, keine spur und kein wort. Das geht deutlich aus der art und weise hervor,
wie die biographen des Patricius im 7. Jahrhundert, Muirchu maccu Machtheni und
Tirechan, sich mit Palladius abfinden. Der erstere lässt seine mission scheitern:
Nam neque hi feri et inmites homines faeile receperunt doctrinam ejus, neque et
ipse voltiit transigerc tempus in terra 7ion st(a\ sed reversus ad eum qui misit
illum. Auf der heimreise stirbt er aber in Britonum finibus^. Anders Tirechan
(ebend. s. 332): Paladins episcöjms [a Celestino] primo mittittcr, qtoi Patricius
alio nomine appellabatur ; qui martyrium passus est apud Scottos, ut tradunt
sancti antiqni. Deinde Patricius secundus . . . mittitur, cui Hibernia tota credi-
dit, qui et eatn pene totam baptixavit. Also Palladius wird mit dem legendarischen
„Alt-Patrick" (Sen-Phatric) identificiert , der in Irland den märtyrertod erlitten
haben sollte^. Dass dies keine böswilligen fälschungen sind, sondern einfach naive
versuche, den mangel an nachrichten über den verschollenen Palladius zu erklären,
wird jedermann zugeben. Also das christliche Irland des 7. Jahrhunderts weiss nichts
von Palladius, aber sehr viel vom heil. Patricius, dem es seine bekehrung zuschreibt.
Aber „Beda, mit der irischen kirchengeschichte wolvertraut, kennt Patrick in
der Hist. eccl. absolut nicht"; das ist Zimmers hauptargument (s. 148). Von den
anfangen des Cliristentums in Irland ist aber Beda überhaupt nichts bekannt als die
notiz in Prospers chronik, die er jedesmal wörtlich anführt, wenn er darauf zu
sprechen kommt (Hist. eccl. 1, 13 und 5,24; Chronic on unter TÄeoc?os«2<s minor);
irische berichte lagen ihm also keine vor. Auch später erwähnt er nur solche
Iren, die auf der englischen insel geweilt haben, wie den Pictenapostel Columba und
seinen nachfolger Adamnan oder die geistlichen, die bei den nordhumbrischen Angeln
tätig waren. Von der inneren geschichte der irischen kirche bringt er nichts als bei
gelegenheit des streites um die osterberechnung die angäbe, dass die Süd-Ii-en yam-
duduni ostem nach römischer art berechnet hätten (Hist. eccl. 3, 3), aber nichts
von all den irischen heihgen, von den grossen klostergründungen in Irland usw.
Wenn er also „mit der irischen kirchengeschichte wolvertraut" war, so scheint er
von seinen kenntnissen keinen gebrauch gemacht zu haben.
1) Stokes, The^Tripartite Life of Patrick (Rer. Britann. med. aev. scrip-
tores), s. 272.
2) Vgl. d'Arbois de Jubainville, Rev. Celt. 9, 111 fg.
ÜBER ZIMMER, NENNIÜS VINDICATUS 107
Diesem argutnentiim ex süentio steht gegenüber, dass die Iren selber seit
dem 6. Jahrhundert, wo sich mir eine gelegenheit findet, den Patricias nennen und
zwar als ihren anerkannten Schutzpatron und heiligend Dass der primat der „nach-
folger Patricii", wie sich die äbte imd bischöfe von Armagh betiteln, von Iren jemals
bestritten worden, kann ich nicht entdecken*. Hat es also zur zeit, als Patrick
nach Irland kam, dort schon einige Christen gegeben, so hat jedesfalls seine mächtige
persönlichkeit und seine wirkungsvolle tätigkeit alles frühere in schatten gestellt und
dem gedächtniss entschwinden lassen.
Der irische name Patrie (Patraicc) ist einfach lat. Patricius mit weggelas-
sener endung, also — sagt Zimmer — •niiur gelehrtenfabrikat des 7. Jahrhunderts."
Dass heiligeunamen die lateinische form beibehalten, pflegt sonst nicht gegen ihr alter
zu sprechen; ist es nötig, an Bonifaz zu erinnern? Zum überfluss kennen wir aber
wirklich eine volkstümlichere irische form, das gut bezeugte Cothrige Cothraige^
aus älterem * Qivathriche, das so regelrecht wie denkbar lat. Patricius widergibt.
Auch Zimmers zweifei an der echtheit der Confessio S. Patricii (Zs. f. d. a. 35,
79 A.) überschreitet meines erachtens die grenzen des berechtigten skepticismus und
hat keinen andern grund als seine vorgefasste meinung. Pflugk - Hartungs ähnliche
versuche (Heidelberger jahrbb. III, 71 fgg.) zeigen nur von neuem, wie schwer es
hält, innere gründe für diese unechtheitstheorie aufzutreiben.
Es hätte keinen wert im einzelnen zu verfolgen, wie Zimmer nun in jeder
legende, sobald sie Patricius und Armagh günstig ist, „aus habsucht und herrsch-
sucht entstandene lügen" sieht. Aber die hauptstelle (Ztschr. f. d. a. 85, 75 fgg.),
auf die er sich auch jetzt wider (s. 149 fg.) beruft, darf ich nicht übergehen. Sie
handelt von der lex Patricii.
Von den verschiedenen durch die irische geistHchkeit erlassenen leges (ir. cdin)
hat im Zusammenhang Petrie, Antiquities of Tara Hill s. 171 fgg., gesprochen.
Über ihren inlialt meldet eine glosse zum 24. September des Iheiligenkalenders, der
Oengus zugeschrieben wird, folgendes: „Das sind die vier cäin Irlands: 1. die cäin
Patricks, keine geistlichen zu töten; 2. die cäin von Dari Caillech, keine kühe zu töten;
3. die eamAdamnans, die frauen nicht zu töten; 4. die cäin des sonntags, am Sonn-
tag nicht zu übertreten."'' Die letztgenannte cäin kommt für uns nicht in betracht,
da sie erst ende des 9. Jahrhunderts auftritt.
Unter den übrigen „gesetzen" ist das älteste die cäin Adamnäin oder lex
innocentium, das nach der einen nachricht die frauen von der pflicht des kriegs-
dienstes befreite, nach der andern das töten von frauen und kindern im ki-iege ver-
hindern sollte. Adamnan, der nachfolger Columbas als abt von Hi (Jona), brachte
es in den 90 er jähren des 7. Jahrhunderts in Irland zur geltung (das datum schwankt
zwischen 693 und 697). Als seine reliquien im jähre 727 nach Lland übergeführt
wurden, wurde das gesetz erneuert. Dies scheint dei lex Patricii gerufen zuhaben,
welche das erschlagen von geistlichen (clerici) in den nimmer ruhenden raub-
1) Die Zeugnisse bei Stokes, a. a. o. s. CXIV.
2) Selbst in dem verhältnismässig unabhängigen Süden, in Munster, begrün-
dete man den ansprach der fürsten von Cashel auf die königswürde über ganz Irland
mit einer Weissagung von Patricks Schutzengel Victor (Leabhar na g-Ceart, ed.
O'Donovan, s. 30).
3) S. Stokes a. a. o., Index s. 601; von Tirechan in Cothirthiacus latinisiert
(ebend. 302).
4) S. Petrie, a. a. o.; Stokes, Calendar of Oengus, s. CXLVIII.
108 THURNEYSEN
zügen und kriegen verbot. Die Ul st er annale n berichten a. 733: Commotatio niarti-
rum Petir ocics Phoil ocus Phatraice ad legem perficiendam, was Zimmer wol mit
recht auf die lex Patricii bezieht. Also reliquien von Petrus, Paulus und Patricius
wurden „commutiert", um die lex perfekt zu inachen-, d. h. vermutlich: sie wurden
von ihren bisherigen Standorten entferr^i und irgendwie mit der lex verbunden
(daher wol der name lex Pntricii) , die von da an als wertvollstes besitztum Armaghs
erscheint und von jedem flüchtenden abt mitgenommen wird^ Den erfolg lehren die
ITlsterannalen a. 736^: lex Patricii tenuit Hibernimn. . Gewiss ist das ein zeugniss
für die macht der geistlichkeit und auch für die bedeutung Armaghs in jener zeit;
aber unberechtigte übergriffe Armaghs gegen andere diöcesen gehen daraus nicht her-
vor, da das gesetz natürlich alle geistlichen Irlands schützen sollte. Freilich mag es
bald eingeschlafen sein. Aber in der zweiten hälfte des 8. Jahrhunderts und am
anfang des 9. hören die oft erfolgreichen bemühungen der bischöfe und äbte von
Armagh nicht auf, dieser lex bei den irischen fiirsten und ihren Untertanen geltung
zu verschaffen. Man vergleiche die daten der ITlsterannalen: a. 766 lex Patricii
(also erneuerung des gesetzes); a. 782 Promulgation der cäin Patricii in Cruachna
(Connaught) durch Dubdalethe (bischof von Armagh) und Tipraite mac Taidg (fürst
von Connaught); a. 798 lex Patricii über Connaught durch Gormgal mac Dindataig
(abt von Armagh); a. 805 lex Patricii durch Aedh mac Neill (oberkönig von Irland)
— vermutlich ein letzter erfolg fiormgals, der in diesem jähre starb — ; a. 822 lex
Patricii über Munster dui'ch Feidlimid mac Cremtainn (fürst von Munster) und Artri
mac Concobair, bischof von Armagh; a. 824 lex Patricii über die drei (provinzen
von) Connaught durch (denselben) Artri mac Concobair. Inzwischen war ein zweites
Schongesetz aufgekommen, das verbot, „die kühe zu töten", d. h. die rinder, die man
bei den raubzügen nicht wegtreiben konnte, hinzuschlachten, was vermutlich öfters
hungersnot erzeugt hatte. Das ist die lex Darii. Sie wird für Connaught zuerst
erwähnt a. 811 (d. i. 812) und widerholt a. 825; die Ui-Neill nahmen sie an a. 812^
Alle diese gesetze, die man völkerrechtliche nennen möchte, sind dann natürlich in
den folgenden Wikinger -wirren untergegangen.
Wir haben oben angenommen, dass jene glosse den inhalt der lex Patricii
richtig angebe. Und man wird zugestelien, dass ein gesetz zum schütze der geist-
lichen im kriege sich trefflich einreiht zwischen eines zum schütze der trauen und
eines zum schütze des viehstandes. Freilich gab es auch andere deutungen des aus-
drucks cdin Patraicc^ die — äusserlich betrachtet — auf derselben stufe stehen wie
jene notiz, indem ja wol alle diese angaben aus einer zeit stammen, wo die wirk-
liche lex Patricii verloren und halb verschollen war. So steht in der voiTede des
grossen gesetzbuches Seuchas mör, dieses selber sei die cäiti Patraic*. Das gesetz-
buch Lebar Aide beruft sich in der abhandlung über pfänder dreimal auf die cdin
1) Vgl. Ulsterann. a. 810: Nuadha, abt von Armagh, migravit nach Connaught
cum lege Patricii et cum armario ejus; a. 834: Dermait (abgesetzter abt von Ar-
magh) gieng nach Connaught cum lege et vexillis Patricii. — Im Chronic on Sco-
torum lautet der schluss der ersten notiz (hier a. 811): cum lege Patricii et con-a-
cdin („mit seiner cdiii'^)., als ob lex und cdin zweierlei wären; das ist offenbar ein
versehen dieser späteren quelle.
2) Die Ulster annalen datieren in der regel um ein jähr zu früh, was auch
für die folgenden daten gilt.
3) A. 813 wird noch eine lex Quiarani erwähnt, von deren inhalt wir nichts
wissen.
4) Ancient Laws and Institutes of Ireland I, 18.
ÜBER ZIMMER, NENNIÜS VINDICÄTTJS 109
Patralc (a. a. o. III, s. 150. 323. 325); ich finde im Senchas mör I, 276 fgg. wol
ähnliches, aber nichts genau entsprechendes. Über die entstehungszeit des grund-
stockes des Senchas steht noch sehr wenig fest\ Dass es wirklich die lex Patrieii
der alten annalen sei, ist schon darum unwahrscheinhch, weil man nicht begriffe,
welch grosses Interesse die bischof-äbte von Armagh an seiner annähme gehabt haben
sollten, und weshalb ein gesetz solchen Inhalts alle paar- jähre hätte aufgefrischt wer-
den müssen-.
Henuessy, der herausgeber der Ulsterannalen, nennt s. 234 armi. 1 die lex
Patrieii ein „system of collecting tribute" und verweist dabei auf eine stelle in
einer schrift von Keeves , die mir nicht vorliegt. Zimmer (Zs. f. d. a. 35 , 75) nimmt an,
die lex habe „neben anderm auch die ansprüche Armaghs auf den primat und sein
recht auf erhebung von kirchensteuern enthalten", ja sie sei der liber angeli des
buches von Armagh, in dem alle die ansprüche vorkommen, welche die bischof-
äbte von Armagh auf grund ihres primates erhoben (s. 79 anm.). "Worauf er sich
aber bei dieser annähme stützt, weiss ich nicht zu sagen, da er sie nicht begründet
hat^. So sind ihm nun alle oben angeführten daten Zeugnisse für einen hundertjäh-
rigen kämpf Armaghs um den Primat. Wir können ihm auf diesem wege nicht
folgen.
Also bleibt es vorläufig dabei, dass Patricius, seit wir überhaupt Zeugnisse
aus Irland besitzen, als der bekehrer und patron der Ii'en galt, und dass der primat
seiner uachfolger niemals angezweifelt wurde, wenn man sich auch natürlich den
praktischen konsequenzen , die die bischöfe und äbte von Armagh daraus zogen , nicht
immer ohne weiteres gefügt haben wird. Das hat aber mit der anerkennung des
primates ebensowenig zu tun wie auf dem festlande der widerstand gegen die
ansprüche der nachf olger Petri.
Zimmers Nennius hat als anhang (s. 291 fgg.) einen abschnitt „Über die His-
perica Famina und andere südwestbrittannische denkmäler des 6. Jahrhunderts." Er
handelt von dem keltischen kunstlatein der Hisperica Famina, des Luxemburger
fragments , des sogenannten hymnus loricae und des alphabetischen gedieh ts , das Beth-
man in der Ztschr. f. d. a. 5, 207 fgg. und Stowasser in seinen Stolones latini (Wien
1889) herausgegeben haben. Da ich in diesem abschnitt widerholt mit entschiedener
missbilligung citiert werde (s. 292. 299. 311*), mich aber unschuldig fühle, möge der
leser verzeihen, wenn ich noch mit ein paar werten darauf eingehe. Zimmer tadelt
mich vornehmlich darum, dass ich irrtümer Stowassers ungerügt gelassen habe.
Daraus geht hervor, dass wir das amt eines recensenten sehr verschieden auffassen.
Ich halte es natürlich nicht für meine pflicht, vor allem die fehler aufzusuchen und
wie ein schuUehrer unter jeden lapsus einen roten strich mit ausrufungszeichen zu
setzen; sondern womöglich anzugeben, was in der anzuzeigenden schrift brauchbar
erscheint oder durch leichte korrektur brauchbar wird. Polemik scheint mir im all-
gemeinen nur da am platze, wo die fehler des Verfassers den falschen schein der
Wahrheit an sich tragen, also andere täuschen könnten. Dass dies nicht der fall ist,
1) Zimmers angaben (a. a. o. 35, 85 fgg.) beruhen auf seiner Wikingertheorie,
sind also wertlos. [Vgl. jetzt auch d'Arbois de Jubainville, Etudes sur le droit
celtique, I. Cours de litterature celtiqne, Tome VII.]
2) Vgl. auch Zimmer a. a. o. s. 87.
3) Jene stelle bei Reeves scheint nicht seine grimdlage zu büden, da er sie
nicht erwähnt.
110 THÜRXETSEN
wenn jemand aus altbretonischen glossen auf schottischen Ursprung eines
Schriftstückes schliesst (Zimmer s. 299), wird er mir zugeben, und dass ich nicht
dadurch zur biiligung des resultats bewogen wurde, vielleicht glauben. Dass aber
das, was ich selber ausgesprochen, so seh'- irrig gewesen, davon haben mich Zim-
mers ausführungen nicht überzeugt.
Nachdem Geyer und Stowasser im Archiv für lat. lexicographie an dem
latein der Hisp. Famina herumgerätselt hatten, sante ich die Archiv 3, 548 abge-
druckte notiz ein, dass durch die lateinischen und altbretonischen glossen des Luxem-
burger fragments das verständniss dieser spräche erschlossen werde. Sie wurde vor
dem druck durch Wölfflins Vermittlung Stowasser bekannt, der dann das fragment
neu abdruckte und bei seiner ausgäbe der Hisp. Fam. benützte. Ich glaubte damals,
einige der Luxemburger glossen bezögen sich direkt auf die erhaltenen Hisp. Fam.,
ein irrtum, den Stowasser verbessert hat. Dagegen schien und scheint mir sein von
Zimmer s. 298 gebilligter schluss unberechtigt, die Hisp. Fam. seien eine gekürzte
bearbeitung eines älteren werkes. Wahrscheinlicher ist mir immer noch, wie ich
Archiv 4, 341 ausgesprochen, dass in kap. 1 — 5 der Hisp. Fam. der alte grund-
stock erhalten ist, das muster sowol für die fortsetzer als für direkte nachahmer.
In jener notiz wies ich ferner darauf hin, dass diese latinität von Kelten herrühre
und setzte mit rücksicht auf die altbretonischen glossen des Luxembui-ger fragments
hinzu: „vielleicht von einem brittischen Kelten" ; ähnlich jetzt Zimmer. Diebedeu-
tung der glossen ist gewiss nicht zu unterschätzen; denn ein solches denkmal kann
nur entweder vom Verfasser selber oder von einem schüler, dem er es erklärte, so
richtig glossiert worden sein; das lehren ja die vergeblichen versuche neuerer, dieses
latein ohne die glossen zu verstehn, deutlich genug. Aber die bedeutung der unter
die lateinischen gemischten altbretonischen glossen wird dadui'ch sehr verringert,
dass sie, wie ich ebend. 3, 547 an der missverstandenen glosse zu samo nachwies, erst
aus lateinischen übersetzt sind. Sie zeugen also direkt nur für die bretonische her-
kunft des Luxemburger blattes, nicht für die seiner vorläge, also auch nicht für die
der nahe verwanteu Hisperica Famina; darum schrieb ich „vielleicht". Als ich
dann gelegentlich der anzeige der Stowasserschen ausgäbe die ganzen Hisperica
Fam in a genauer durchsah, ergab sich, dass in der tat jener schein getrogen, dass
vielmehr — mit A. Mai und Stowasser — ein Scottus oder mehrere Scotti als Ver-
fasser anzunehmen seien {Archiv 4, 341). Das bestreitet Zimmer. Die entschei-
denden stellen sind die, wo scottigenus vorkommt, Seite 9, 23 und 10, 8 der Stowas-
serschen ausgäbe.
Die Hisp. Fam. schildern das treiben einer christlichen lateinschule , die man
sich gewiss in einem kloster zu denken hat. Kap. 10 wird beschrieben, wie eine
mahlzeit bereitet wird. Dann handelt es sich darum, wer fähig sei, die gelehrten
herrschaften zum essen zu bitten (Quis tales poscet possores?) Da sagt einer
(kap. 11): „Non ausonica nie subligat catena^; ob Jioc scoUigenum haud cripi-
tundo eidogiimi . . (folgt ein unklarer satz; bedeutet amwlios „hunde"?). Venusti
exeusent^ acculae, parcas amplecti sub numine aiimoiiias" usw. Ich verstehe:
„Die ausonische kette bindet mich zwar nicht (d. h. ich spreche kein gewähltes
latein^); darum knarre ich doch nicht irische rede (d. ich kann immerhin so viel
1) Stowasser und Zimmer fassen diesen satz als frage, was möglich, aber
nicht notwendig ist.
2) excusant ms. und Stowasser.
3) Oder als frage: „Bin ich nicht ein guter lateiner?"
ÜBER ZIStMER, NENNIUS VINDICATDS 111
lateiu sprechen , um zmii essen einzuladen) . . . Mögen die gütigen herrschaften
geruhen, das karge mahl unter freiem himmel einzunehmen" usw. Zimmer fasst
scottigeiiuvi cidogium „irische wolredenheit" als „latein, wie es die Iren sprechen";
der Verfasser blicke verächtlich auf dasselbe herab, sei also selber kein Ire.
Näher liegt die annähme, dass scottigenum eulogium nach art dieser latinisten ein-
fach für scotticum eloquium gesetzt ist. Darauf scheint mir auch die stelle in kap. 2
zu weisen, aus welcher der ausdruck ausonica catena entlehnt ist. Dort wandelt
die schaar der gelehrten prächtig einher, als plötzlich ein abscheulicher rüpel (eigent-
lich „drache", horrendus chelidrus) ihnen naht und spricht: Novello temporei globa-
minis cyclo hisjiericum arripere tonui sceptrum; ob hoc rudern stemico log um ac
exiguus serpit per ora rivus. Quod si amplo temporalis aevi studio ausonica
me alligasset catena, sonoreus fandnis per guttura popularet haustus ac inmen-
sus urbani tenoris manasset faucibus tolliis, d. h. „erst seit kurzem habe ich latein
zu lernen unternommen; deshalb ist meine rede rauh und fliesst kärglich. Hätte mich
die ausonische kette schon lange zeit gefesselt, so würde sie wolküngend und voll
hervorströmen. " Er wird nach einigem hin- und herraten als gewesener schafhirte
erkannt und ihm der rat erteilt, aufs land zu seiner mutter und zur alten beschäf-
tigung zurückzukehren (kap. 3). — Also auch hier steht der „ausonischen kette" die
Sprache der weniger gebildeten desselben landes, nicht eines ausländers gegenüber.
Die andere stelle findet sich in dem bericht über die genossene mahlzeit in
kap. 11, ende: Farriosas sennosis motibus corrosimus crustellas, quibus Uta scot-
tigeni pidulavit conditura olei „mit zahnbewegungen zernagten wir die mehligen
kuchen (die brote), denen die aufgestrichene brühe irischen Öles entquoll." Zimmer
meint, die Hisp. Farn, seien in einem brittischen kloster, das auch irische mönche
enthalten habe, verfasst. „Dass einzelne irische confratres das einheimische öl gele-
gentlich rühmten, ist doch auch ganz gut denkbar" (s. 294); und er sieht in der
erwähnung des irischen Öles einen — mir in diesem Zusammenhang unverständ-
lichen — spott brittischer mönche. Das sind aber doch nur ausfluchte; die werte
weisen eben auch nach seinem gef ühle auf einen Iren , sagen wir doch geradezu nach
Irland. Dass übrigens scottigenum oleum wirkliches öl bedeute, halte ich für aus-
geschlossen; es verstösst gegen die grundsätze dieser latinisten, öl „öl" zu nennen.
Ob damit butter oder dickmilch oder sonst etwas gemeint sei, was man aufs brot
streichen kann, lasse ich gerne dahingestellt.
Stowasser hat Archiv 3, 168 nachgewiesen, dass sich kap. 5 der Hisp. Farn,
aus Charisius erklären lasse. Zimmer macht wahrscheinlich, dass das recept für
diese ganze latinität bei Martianus CapeUa zu suchen sei (s. 330 fgg.). Aber dem
umstand, dass uns keine in Irland geschriebene handschrift des CapeUa erhalten ist,
ein argTiment gegen den irischen ui-sprung der Hisp. Fam. zu entnehmen, halte ich
für zu kühn. Zum mindesten der abschnitt kap. 6 — 13, vermutlich aber das ganze
stammt aus Irland. Gerade die vielfältige berührung irischer und bretonischer
mönche macht begi'eiüich, wie glossen dieser litteratur ins bretonische übersetzt wer-
den konnten. —
Der htjmnus loricae sodann ist bis jetzt nach 4 hss. veröffentlicht; erstlich
mehrfach nach hs. K, einer Kölner hs. des 9. Jahrhunderts, zuletzt nach neuer kol-
lation von Zimmer s. 337 fgg.; ferner nach hs. C, einer Cambridger hs. (Bibl. Publ.
Cantab. LI. 1. 10 fol. 43), die der ersten hälfte des 9. jahrh. anzugehören scheint \
1) S. Sweet, Oldest English Texts, s. 171. Auf die beiden englischen
handschi-iften , die Zimmer entgangen sind, hat mich Stokes aufmerksam gemacht.
112 THURNEYSEN
nebst den altenglischen glossen abgedruckt beiCockayne, Leechdoms etc. of early
England I, LXVI fgg. ; ebenda die Varianten der (daraus kopierten?) hs. H (Brit.
mus., Harl. 585 fol. 152); endlich nach hs i3, dem irischen Lebor Brecc (14. jahrh.),
nebst den irischen glossen bei Stokes, Irish Glosses s. 133 fgg. Die Unterschrift in
K lautet: Explieit liymnus quem Lathacan scotigena fecit; die Überschrift in C:
Hanc luricam Loding cantavit ter in omne die; dagegen in B: Oillns hane lori-
eam fecit ad demoties expellendos eos qui adver saverunt Uli. Perv[enit] angelus
ad illum et dixit Uli angelus: Si quis honio frequentavei-it illam, addetur ei
seefulumj septimm annis usw. Laidcend niac Büithbannaig venu ab eo in inso-
ta?n Hiberniam, transtulit et portavit super altare sancti Patricii episcopi. SaflJ-
vos nos facere. Amen. Dieser Gillus ist Gildas sapiens (f um 570), Laidcenn
(Laidgenn) mac Baith-Bannaig ein bekannter irischer kleriker, der am 12. januar
661 gestorben ist (Zimmer s. 302); gewiss ist er auch mit Lathacan und Loding der
andern hss. gemeint. Unter diesen nachrichten schenkt nun Zimmer der letzten, in
der jüngsten hs. enthaltenen glauben, und zwar deshalb, weil es im Hymnus vers 5 fg.
heisst: ut non secuni trahat nie mortalitas \ hnjus anni neque mundi vanitas.
Eine der grossen mortalitates , die Irland a. 664 und 683/684 verheerten, habe Laid-
cenn nicht erlebt, wol aber Gildas das „grosse sterben" in Britannien a. 547; also
sei dieser wirklich der Verfasser. Dass Laidcenn nicht ab eo (von Gildas) nach Irland
kommen konnte, indem er ein Jahrhundert später gelebt hat, stört Zimmer nicht; er
beseitigt es durch conjectur (inveniani ab co, s. 305). Aber muss denn die mor-
talitas gleich eine solche gewesen sein, die ganze länder verheerte? Die vorrede
des Lebor Brecc trägt so deutlich den Stempel junger erfindung, indem sie den Hym-
nus so heilig und wirksam als möglich erscheinen lassen möchte, dass die grössere
glaubwürdigkeit der kürzeren und älteren notizen mir nicht zweifelhaft ist. Demnach
hat der Ire Laidcenn im 7. Jahrhundert die lorica gedichtet.
Dagegen das alphabetische gedieht von St. Omer, in dorn jede Strophe,
so weit tunlich, mit einem griechischen werte beginnt, wird brittischen Ursprungs
sein nicht nur wegen der brittischen glossen , die ja gleichfalls übersetzt sein könnten,
sondern namentlich auch wegen des metrums; vgl. meine anzeige Archiv 6, 593,
auch Rev. Celt. 11, 86 fgg.
Nach Zimmer sind dagegen alle diese werke um die wende des 5. zum 6. jh.
aus der berühmten schule Iltuts in LlaniUtyd fawr (Glamorgan) hervorgegangen, als
dessen bedeutendster schüler eben Gildas erscheint. Dass eine nahe verwantschaft
diese spätlateinischen produkte verbindet, verkenne ich nicht; aber dass man sie zeit-
lich und örtlich so eng beschränken dürfe oder gar müsse, halte ich für unerwiesen
und unwahrscheinlich. Man vergleiche etwa des Iren Muirchu niaccu Machtheni im
7. Jahrhundert geschriebene vorrede zu Patricks leben (Stokes, a. a. o. s. 269) oder
die angeblichen verse des Nennius (San-Marte s. 22), die, mögen sie echt oder
unecht sein, ja sicher viel später als das 6. jahi-hundert fallen; ist es nicht fast
genau dieselbe technik und derselbe geschmack, wie sie bei Gildas oder in den oben
besprochenen werken hervortreten? Die ähnlichen „kunstwerke" in irischer spräche,
die mich in erster linie zur beschäftigung mit dieser an sich unerquicklichen litteratur
geführt haben, hängen meines erachtens aufs engste mit den lateinischen zusammen
und setzen gleichfalls eine lange dauer dieser geschmacksrichtung voi'aus. Der schluss-
abschnitt Zimmers hat mich also nichts weniger als überzeugt.
[Korrekturnote. Inzwischen ist Mommsens ausgäbe der Historia Britto-
num erschienen (Monumenta Germaniae Historica, Auctorum antiquissi-
I
ÜBER ZIMMER, NENNIUS VINDICATUS 113
inorurn t. XIII p. I, Chronica minora III, 1). Sie scheint mir die obigen auf-
stelluugen, von kleinigkeiten abgesehen, nur zu bestätigen, wenn auch Mommsen sel-
ber in der Schätzung der iiischen bearbeitung der ansieht Zimmers folgt. Insbeson-
dere zeigt Mommsen s. 168, dass Isidors Chronica in der tat benutzt sind, und zwar
schon in der Harleianrecension § 29; diese ist also sicher von Nennius verfasst (s. oben
s. 95). Ferner ergibt sich, dass die hss. DE (Mommsens PQ) imd ihre verwandten
aufs engste zur gekürzten recension gehören (oben s. 103), nicht nur in bezug
auf die kürzuDg, sondern auch auf die textgestalt; sie stellen also des Nennius
„definitive ausgäbe" ohne die secundären zusätze dar.]
FREIBURG I. B. B. THUKNEYSEN.
Herders persönlichkeit in seiner Weltanschauung. Ein beitrag zur begrün-
dung der biologie des geistes. Von dr. Eug-eu Kühnemaun. Berlin , F. Dümm-
1er. 1893. XVI und 269 s. 5 m.
Nachdem die Herderforschung lange im Interesse der litterarhistoriker in den
hintergrund getreten war, hat sie in den beiden lezten decennien einen höchst erfreu-
lichen aufschwung genommen. 1871 schrieb der pfarrer A. Werner sein durch freie
auffassung und anziehende darstellung ausgezeichnetes buch „Herder als theologe";
1877 begann das nun nahezu vollendete monumentalwerk der kritischen gesamtaus-
gabe von Suphan; die 80er jähre brachten uns endlich in der umfangreichen mono-
graphie Hayms eine musterleistung emsigen bienenfleisses , tiefeindringenden Ver-
ständnisses und sichern urteiles. Durch diese bedeutenden arbeiten ist das vorhandene
material ausgeschöpft und zukünftigen Herder - Studien eine feste grundlage gegeben.
Wenn nun eine neue darstellung von Herders geistesentwicklung neben die erwähn-
ten werke tritt, so wü-d sie zunächst durch erschliessung neuer quellen oder durch
einführung neuer gesichtspunkte ihre daseinsberechtigung zu erweisen haben.
Unter den Jüngern kräften , die sich neuerdings der erforschung Herders zugewant
- haben , begegnet der name des Verfassers nicht zum ersten male. Schon früher hat er
in Küi'schners Deutscher national -litteratur die Humanitätsbriefe (band 77, II) und die
Ideen (77, I) herausgegeben und mit sehr eingehenden einleitungen begleitet; ausserdem
enthalten die Michael Bernays gewidmeten „Studien zur litteraturgeschichte" (Hamburg
und Leipzig 1893) auf s. 135 — 155 von ihm eine abhandlung „Herders lezter kämpf
gegen Kant." Lassen sich diese Publikationen als Vorstudien zum zweiten buche des
vorliegenden Werkes fassen, so erfahren wir aus der kurzen Vorbemerkung weiter, dass
das erste buch von der philosophischen fakultät der Universität Berlin mit einem
preise gekrönt ist. Diesen vorlautem und der mehrjährigen Versenkung in Herders
philosophische schritten verdankt das vorliegende buch augenscheinlich die ungemeine
knappheit der darstellung, durch die es möglich wurde, auf weniger als 250 Seiten
den gesamten philosophischen entwicklungsgang Herders darzulegen und kritisch zu
beleuchten. Gleichwol ist es von den frühern arbeiten des Verfassers durchaus ver-
schieden: jene wollen die einzelnen schritten Herders möglichst erschöpfend in ihrer
Innern struktur erklären, aus den psychischen motiven des denkers ableiten und
danach die Stellung jeder schrift in der geschichte Herders wie der Wissenschaft
bestimmen ; dagegen ist hier das Interesse durchaus der gesamtrichtung und -entwick-
lung Herders zugewandt, und von den einzelnen werken wird nur dasjenige in betracht
gezogen, was für die erkenntnis dieser gesamtentwicklung wichtig ist.
ZEITSCHRIFT F. DEUTSCHE PHILOLOaiE. BD. XXVUI. "
114 MEYER
Damit ist zum teil schon angedeutet, was den Inhalt und wert des buches
ausmacht. Unbekanntes material ist darin nirgends mitgeteilt oder verarbeitet. Wer
also den wert eines buches nur nach dem stofflich neuen, das es enthält, abwägt,
der kann es getrost ungelesen lassen; er wird wedöl' neuen funden noch tatsächlichen
berichtigungen begegnen. Wer aber sinn hat für eine eigenartige und urpersönliche
art. die dinge zu sehen, der wird das buch nicht ohne reichen genuss und tiefgehende
anregung aas der band legen. Allerdings mühelos wird dieser genuss nicht sein,
zumal für leser, die dem Verfasser zum ersten male begegnen. Vielleicht wer-
den solche gut tun, sich zunächst durch die ei-wähnten frühern schi'iften, die
leichter verständlich sind, mit der art des Verfassers vertraut zu machen, um
dann aus dem jezt vorliegenden abschliessenden werke den vollen gewinn ziehen zu
können.
Es kann hier nicht meine aufgäbe sein, ein endgiltiges urteil zu fällen oder
gar einzelheiten herauszugreifen und zu kritisieren; vielmehr will ich nur versuchen
in kurzem zu zeigen, worin das eigentümliche der methode des Verfassers besteht und
welcher gewinn der Wissenschaft aus ihr erwachsen kann.
Über sein Verhältnis zu Haym, das uns zunächst interessiert, äussert sich
der Verfasser selbst in einer anmerkung auf s. 35 fg.: .,Haym bespricht bei den ein-
zelnen werken die gedanken, weist die abhängigkeit dieser von anderen denkern im
einzelnen nach, bemerkt die keime späterer arbeiten Herders und berührt endlich den
Zusammenhang der gedanken mit Herders lebensstellung und sonstigen beschäftigun-
gen. Er ist beschreibender anatom, für den jeder körper etwas abgeschlossenes, fer-
tiges, seiendes ist, der also die entwicklungsgeschichte nur insofern mit vertritt, als
die einzeln präparierten stücke sich als glieder einer entwicklungsreihe aufweisen las-
sen. Mir kommt es darauf an, die treibenden motive in den arbeiten Herders
zu erkennen, danach die gedanken im Verhältnis zu seinem gesamtlebensgefühl zu
begreifen, zu begreifen, wie er das einzelne im ganzen seines lebensbaues fühlt, die
ganze gedankenbildung also auf die ursprünglichen lebensrichtungen seiner persön-
lichkeit zurückzuführen und so das immer feste, den gedanken, als ein ewig flies-
sendes, nämlich als ein element psychologischer entwicklung zu erweisen. Ich treibe
also diese arbeit als psycholog, oder, um den vergleich zu ende zu fühi'en, als
biolog."
Weiter entwickelt und begnindet wird diese beti-achtungsweise in der kurzen
einleitung (s. 1 — .3). Auch die angeblich rein objektive forschung scheint im zusam-
menhange zu stehen mit dem ethischen lebensideale einer zeit. Die ethische grund-
überzeugung der modernen weit ist die von dem unendlichen und einzigen werte des
Individuums. Daraus ergibt sich für die Wissenschaft die forderung, in allen geistes-
ei'zeugnissen die persönlichkeit des erzeugers zu fassen , sie als erleben der individuel-
len seele zu verstehen. Sind jene aber lebendige geburteu einer lebendigen seele, so
ist es nicht genug und unstatthaft, in ihnen nur die einzelnen gedanken und züge zu
untersuchen und sie danach in zusammenhänge zu ordnen; sie müssen vielmehr als
Organismen eben aus ihrer psychologischen entstehung erklärt werden. Ja, die ganze
Weltanschauung des denkers muss verstanden werden aus den innern motiven, die sie
aus seiner seele hervortreiben, aus der eigenart seines geistigen erlebens. Mit der
durchgeführten jjsychologischeu analyse der Herderschen philosophie ist aber zugleich
ihre kritik gegeben, indem sich zeigt, inwieweit die Seelenvorgänge des denkers zu
reiner entwicklung hinstreben, inwieweit die ait seines denkens zur erzeugung der
Wissenschaft tauglich ist.
ÜBER KÜHNEMANN, HERDER 115
Wir wollen nun sehen , wie weit der Verfasser den so formulierten forderungen
genügt hat, indem wir mit flüchtigem blicke den Inhalt des buches durchmustern.
Das erste buch verfolgt die „entwicklung der geschichtsphilosophie und Welt-
anschauung Herders" von 1767 — 1784 und zerfällt in zwei kapitel: 1. entstehung und
ausbreitiing der grundanschauungen (1767 — 1770); 2. religiöse begründung der Welt-
anschauung Herders (bis 1784). Schon der erste abschnitt, die besprechung der Frag-
mente, zeigt das verfahren des Verfassers. Er lässt den ganzen bunten reichtum
des Werkes zur seite liegen und greift nur ein stück als eigentümlich Herderisch
heraus, den roman ^Von den lebensaltern einer spräche", um daran Herders grund-
anschauung von der spräche festzulegen, ihm sein Verhältnis zu Hamann, Winckel-
mann und Kant zu bestimmen und endlich die art, wie sich Herders anschauungen
bilden, zu untersuchen. Als urphänomen w^ird die ästhetische feinfühligkeit
gefunden, „welche das Sprachkunstwerk als ein ganzes in dem tone, in der eigenart
seiner empündung begreift, darum den seelenzustand des dichters, des volkes in ihm
deutet lind so aus dem ästhetischen genusse heraus in psychologischer betrachtung
dichter, völker, zeiten verstehen lernt." Aber diese anschauung, im innersten erle-
ben wurzelnd, will nun wider ins leben hinüberströmen ; sie strebt fort zu pädago-
gischer Wirkung in einer reform der deutschen dichtung, und sogleich offenbart sie
ihre schwäche: den man gel an abgrenzung und an einem einheitlich belebenden
mittelpunkte , an einem bestirnten ideal, das ihr als ziel der entwicklung vorschwebt.
— Unter ganz denselben gesichtspunkten, wie die spräche, sucht Herder an der
band der Hebräer die religion als ausdruck nationaler kultur zu erfassen.
Die folgenden werke zeigen die fortschreitende ausbreitung der grundanschau-
ungen. In der Archäologie des morgenlandes erweitert sich Herders ansieht von
der poesie zu einer lebensanschauung: „Die ursprünglichen leidenschaften verflüch-
tigen sich in gemachter kunst." Indem er die mo.saische Urkunde als gedieht, aus der
natui-empfindung des morgenlandes heraus, deutet, befreit er sich von den dogma-
tischen schranken; derselbe sinn, der die eigenart der alten dichtung versteht, tritt
fiir das eigeurecht moderner denkweise und wissenschaftlicher forschimg ein. Aber
das wort „natur", mit dem Herder die werke der griechischen kunst, wie der
hebräischen htteratur bezeichnet, verleiht dieser dichtung einen heiligen glänz , „einen
Schimmer von Jugend, von glück und fülle, von goldener zeit"; es drückt sein ver-
langen nach ursprünglichem leben aus, es trägt seine Stimmung des menschlichen in
sie hinein.
Das Vierte kritische Wäldchen versucht eine theoretische begründung die-
ser interpretationsweise auf psychologischer grundlage. Aber die mängel der theorie,
das fehlen scharfer, grenzbestimmender begriffe und das abstrakte schematisieren
verraten uns seine geheime absieht: nicht Spekulation, sondern belebung des ästhe-
tischen genusses; den ui'sprüngiichen quellen des menschlichen lebens ist der ästhe-
tiker wie der pädagoge zugewant.
Im Eeisetagebuche von 1770 haben sich Herders anschauimgen in die ganze
breite des historischen problems ausgedehnt: das ziel einer geschichtsphilosophie als
einer Universalgeschichte der bildung der menschheit steht fest, die grundlage bilden
die naturgesetze , die methode ist die psychologisch -genetische deutung, die gesin-
nung die eines erziehers der menschheit (s. 29).
Mit der betrachtung der spräche begann, mit der reifen frucht dieser Studien
„Über den Ursprung der spräche" schliesst die erste periode der Herderschen ent-
wicklung, deren Inhalt die ausweitung der grundanschauung in die historischen pro-
116 MEYER
bleme bildet. Diese, ausgehend vom ästhetischen geniessen, gefärbt in der festste-
henden grundstimmung der humanität, verleugnet nicht ihr entstehen aus der per-
sönlichkeit des denkers. So empfindet er diese ganze, reiche weit, so noch die psy-
chologische theorie als ein element persönlichen lebens. Aber die theoretischen
gedanken, als die letzten ausläufer dieses Vorganges, haben nicht mehr die kraft zu
methodischem durcharbeiten der probleme; so münden sie in entwürfen und einfal-
len, die die voreilige hast sogleich für ausätze zur reform der Wissenschaft nimmt; so
zeiüattern sie in unruhigen lichtblitzen in der weite des alls.
Die zweite periode begint mit rein litterarischen arbeiten, die noch einmal
den keim der Herderschen gedankenbildung, das reizbare ästhetische gefühl, vor äugen
führen, und zwar jezt an dem beispiele der volkspoesie und Shakespeares. Wider
wird die dichtung als spräche der natur, als natur bezeichnet; wider begegnet (wie
bei Sprache und plastik) das bild der seele, die sich einen körper schafft; aber es
zeigt sich, dass es mehr als bild ist: „Die ahnung taucht auf von der natur als
einheitlicher erscheinungsweise eines geistes in wirkenden kräften ...
Eine metaphysische gesamtanschauung scheint herauszuwachsen aus Herders art,
geistige erscheinungen zu deuten" (s. 39).
In überraschender mächtigkeit und grossartigkeit erscheint diese ausgebildet in
den theologischen Schriften der nächsten jähre. Auch hier begint Herder mit |
der ästhetischen interpretation : er erklärt die Genesis als ein morgenländisches gedieht, i
Aber indem er das Verständnis dieses gedichtes aus seiner eignen natui-anschauung
belebt, trägt er sein eignes selbst in dasselbe hinein, findet er in ihm die gedanken,
die er als sein eigenstes empfand. Es ist nur ein ausdruck dieses den gedanken
anhaftenden lebensgefühls, wenn er sie auf göttliche Offenbarung zurückführt. Dieser
geheime sinn, dieser psychologische gehalt des gottesbegriffes bildet den centralpunkt
für das Verständnis Herders; er komt daher in jedem abschnitt zur spräche. (Vgl.
s. 56. 57. 59. 85. 99. 150 fgg. 198.) Gott ist in Wahrheit nur der objektivierte aus-
druck seiner gedankenbildung; er gibt seinen gedanken einheit und schwung, er erhält
ihnen die lebenswärme, aus der sie geboren wurden; er stempelt sie für Herder als
eignen besitz und schliesst sie ihm ab gegen seine zeit. Auch der pädagogische
drang komt nun in gott zur ruhe: die ganze geschichte erscheint als eine direkte
göttliche erziehung des menschengeschlechts; diese aber spiegelt nur das ideal einer
erziehlichen Wirksamkeit, wie sie Herder selbst als höchstes lebensziel vorschwebte. —
Da aber diese einheit lediglich in Herders gemüte besteht, nicht im systematischen
zusammenhange der gedanken unter sich, so tut sich hier die grosse gefahr für Her-
ders denken auf,' die in der letzten anläge seiner persönlichkeit wurzelt. „ Gibt
gott als name für ihr innerstes wollen ihr schwung und kraft, so bezeichnet er auch
als name ihi-er wilkür und schwäche den ort, an dem ihr Verständnis endet" (s. 59).
Die religiösen gedanken treten nun aus ihrer absonderung heraus und strömen
über in die benachbarten gebiete der geschichte ;uid psychologie. Beide werden
in die religiöse Weltanschauung Herders eingeordnet, mit seinem lebensgefühle durch-
drungen und tragen nun das gepräge seiner persönlichkeit. Wenn dann jene gedan-
ken in den 80er jähren sich wider in besondern Schriften sammeln, so zeigen sie
einen wesentlich veräuderten Charakter. Das überkühne , jugendliche ungestüm der '
ersten entdeckerwonne ist verflogen; sie sprechen sich ruhiger, abgeklärter aus. Sie
sperren nicht mehr ein besonderes gebiet der forschung füi* Herder ab und beengen
seinen gesichtskreis; in die ganze breite der weit haben sie sich ergossen und, indem
ÜBER KÜHNEMANN, HERDER 117
sie seiner forschung überall freien lauf lassen , sie ihm als persönliches leben zugeeig-
net und zum gottesdienste geweiht.
Mit dieser beruhigung der gedanken und ausbreitung der religiösen grundstim-
muDg hat Herders geist seine reife erreicht. Die vier preisschi-iften der jähre 1775 —
1781 bestcätigen diese auf litterarhistorischem gebiete. So sind die für Herders ge-
schichtsphilosophie konstituierenden momente nun alle in ihi'er endgiltigen form zusam-
mengeschossen, imd es schliesst die erste, gleichsam aufsteigende hälfte von Herders
entwicklung.
Das zweite buch stellt uns die Vollendung der geschichtsphilosophie
und Weltanschauung Herders, den höhepunkt seines Schaffens in den „Ideen",
vor äugen, deren analyse den hauptteil des vorliegenden buches bildet (s. 105 — 216).
Der erste abschnitt gibt eine „genetische entwicklung des werks",
er erklärt dessen struktur in ihrem herauswachsen aus der geistesform des Schöpfers.
Drei paragraphen behandeln Herders weit-, menschheits- und geschichtsbild. In dem
ersten wird besonders das entwerfen im steten hinbück auf den menschen, das huma-
nisieren der gesamten natur hervorgehoben; im zweiten die Unsicherheit des ansatzes
der geschichte und die schwankende bedeutung der begriffe , welche den Übergang zu
ihr bilden imd ihr weg und ziel bestimmen sollen, wie tradition und humanität.
Die erste z. b. erscheint in dreifachem sinne: „erst besagt sie einfach das weiter-
geben der bildung durch erziehimg und spräche, dann kann sie als starre tradition
das stagnieren des historischeu lebens bezeichnen, schliesslich wird sie im gegeuteil
die fortbildende kraft der geschichte, und als solche ist sie die stimme gottes" (s. 125).
In den historischen teilen der „Ideen" sehen wir endlich, wie nach der ruhenden
beschreibung der asiatischen kultui-en bei der darsteUung des Griechentums im 13. buche
und wider bei der entstehung des neueren Eui'opas der entwicklungsgedanke,
der die kultur eines volkes in ihrer gesamtheit aus dem nationalen leben und erleben
verstehen lehrt, durchbricht, aber nicht stark genug ist, um auch im bewustsein
des denkers und in den principieUen erörterungen der theoretischen bücher klar erfasst
zu werden, sondern hier in abstrakter metaphysik untergeht. "Wie wenig formende
kraft diese grundgedanken haben, erhellt auch daraus, dass einzelne stücke aus frü-
heren Perioden Herders, die mit seiner gereiften auschauung im Widerspruch stehen,
wie die lehre vom unterrichte der Elohim, unverändert in die „Ideen" herübergenom-
men sind, ohne daes er diesen Widerspruch empfunden hat.
Das hauptstück des ganzen buches ist der zweite abschnitt: „Das werk
und der mensch. Die entstehung der Wissenschaft aus der persönlich-
keit." Zwei hauptf ragen werden aufgestellt: 1. „Wie lebt die Persönlichkeit sich aus
in ihrem werke?" 2. „Entstehen in den gedankenformen der persönlichkeit die gedan-
ken der wissenschaftlichen geschichtsphilosophie?" Aus der ästhetischen empfindung
giengen die gebilde der Herderschen geistesweit hervor; indem aber jene sich mit die-
sen zugleich überliefern will, erhalten diese ein Selbstgefühl und werden gleichsam
lebendige wesen. Erst wenn sie durch das gefühl der glückseligkeit in sich abgeschlos-
sen und zu künstlerischen gestalten abgerundet sind, genügen sie den bedürfnissen
dieser reizbaren seele; „sie predigen nun deutlich das ideal der Herderschen seelen-
vollen düng, dessen tätige darstellungen sie stufenweis waren." Die theoretischen
begriffe widerholen nur in allgemeinen ausdrücken den Vorgang der gedankenbildung.
In gott endlich schliessen sich die gedanken zu einer einheit zusammen (vgl. o.);
„Gott ist die ganze Herdersche seele lebendig in ihi-em werke" (s. 169).
118 MEYER
Aber wie nicht das reine streben nach erkenntnis, sondern ein ästhetisches
interesse diese weit hervorgetrieben hat, so vermag sie auch den ansprüchen der
Wissenschaft nicht zu genügen. Indem die gedanken ihrem Urheber etwas anderes
scheinen (tatsachen, in gott gegründete Objekte), als was sie sind (bewustseinszustand
des Subjekts), sind die „Ideen" kein selbstbewustsein in gedanken. Wol erreicht der
gedanke, überall den Ursprüngen zugewandt, die entwickluugsgeschichte, ja er ver-
mag selbst die durchgehende entwicklung zum europäischen Staatensystem zu fassen;
aber das begleitende Stimmungsmoment bricht ihm stücke aus dem geschichtlichen
gesamtbilde (staat, verstandeskultur) , und indem es sich auch in den theoretischen
begriffen durchsetzt, bringt es die lebendige entwicklung der gedanken zum stehen.
Der sieg der metaphysik bezeichnet das erlahmen der lebenskraft in den gedanken.
Diese theoretischen begriffe, nur der Stimmung zum ausdruck verhelfend, sind keine
zeugungskräftigen leitgedanken zur erforschung der probleme, wie sie andrerseits
auf die gestaltung der lebensvollen bilder keinen einfluss haben. Wie sie sich nicht
in lebendigem fortwachsen in den Zusammenhang der probleme ausbreiten und zu
einem Organismus der arbeit auswachsen, so sind sie „der zustand einer in ihrem
gefühl beharrenden, in ihrem gefühl isolierten person, ein gefühlszustand , der als
gedanke sich überliefern wiU, aber nicht zur reinen erkenntnis sich entwickelt" (s. 189).
Indem endhch die begriffe lebendige personen werden, bauen sie jenseits der wirk-
lichen eine geistige, transscendente weit. So findet der naive realismus, der die dinge
als fertig gegeben nimmt, seine ergänzung in der metaphysik. — Wenn also das werk
als erkenntnis morsch ist, so liegt die erste Ursache in der starren, nihenden Stim-
mungssittlichkeit, die nur dem einzelnen ein abstraktes ideal bietet, ohne Verständnis
für die erzeugung der kultur in der Zusammenarbeit aller. Die abneigung Herders
gegen den staat wurzelt in der gegen den staat seiner zeit. So ist sein denken dui-ch
eine tiefe kluft getrennt von der praktischen berufsarbeit ; es geht ihm nur am hori-
zonte seines wirklichen daseins auf. Der theoretische maugel erweist sich als eine
sittliche schwäche: der gedanke ist lahm, weil nicht Herders ganzes leben gedanke
wird.
So führt die genaue analyse des einzelnen denkers selbst zu dem ideale der
reinen denkerpersönlichkeit, die in klarem selbstbewustsein ihr leben in gedanken aus-
prägt; die, indem sie den menschen in seiner geschichtlichen bedingtheit erfasst und
die kulturtaten auf seelische bewegungen zurückführt, auch die geschichtsphilosophie
erzeugt als ein glied im complex der Wissenschaften, auf alle gestützt, allen zu ihrer
Vollendung notwendig, und so in der reinen ausbildung des gedankens als ihres sitt-
lichen berufes selbst ein stück idealer kultur verwirklicht.
Das folgende kapitel behandelt den „verfall der geistesform Herders."
Alle den „ Ideen " gleichzeitigen oder späteren schritten sind nur auswickelungeu aus
dem Inhalt des hauptwerkes, entstanden, indem die hier zu einem Weltbilde zusam-
mengefassten elemente sich sondern und zerbi'öckeLn , mit immer deutlichem zeichen
des Verfalls. Zurückschreitend nimmt Herder die bestrebungen seiner Jugend wider
auf, und vor allen problemen versagt seine kraft; es bleibt nur der drang, erzieh-
lich zu wirken. In diesem dränge aber offenbart sich uns Herders eigenster, ursprüng-
licher beruf. Mit diesem dränge von seiner zeit abgewiesen, gestaltet er sein ideal
jenseits der Wirklichkeit in dem plane der göttlichen erziehung des menschen-
geschlechtes; die gedanken selbst, aus seinem lebensgefühle zu personen belebt
und nach einem feststehenden ethischen ideale gerichtet, sind gleichsam seine zög-
Imge. So ist sein ganzes denken nur abgelenkter beruf. Zugleich erscheint aber
ÜBER KÜHNEMANN, HERDER 119
seine un Vollkommenheit in ihrer sozialen bedingtheit: er fällt ein opfer der zeit, die
seinem wirkungsdrange niclit das rechte feld bot, die ihm nicht gestattete, seine per-
sönlichkeit rein in taten auszuprägen. Reine darstellungen der persönlichkeit aber
waren die werke der männer, die er nicht mehr verstand und in denen die zeit über
ihn hinausschritt, die philosophie Kants und die kunst Goethes.
Der Schlussabschnitt „Zur biologie des geistes" (s. 248 — 269) zieht aus
der ganzen früheren Untersuchung den methodischen gewinn; er ist für den, der sich
über das vorliegende buch und die Stellung seines Verfassers ein urteil bilden will,
der wichtigste. Indes muss ich mir hier eine eingehende Zergliederung versagen;
wie ja auch die vorstehenden bemerkungen in keiner weise den reichen Inhalt des
Werkes erschöpfen konnten, vielmehr nur das verfahren des Verfassers und die rich-
tuug, in der sein forschen sich bewegt, zu charakterisieren suchten.
Kühnemann fühlt sich im gegensatze zu einer geschichtschreibung der philo-
sophie (und natürlich auch der litteratur) , welche die einzelnen gedanken und Systeme
als etwas für sich bestehendes und als fertig gegebenes hinnimt, den bestand registriert
und nach äusserlichen merkmalen ordnet. Dagegen gilt es für ihn, den gedanken
zu fassen als erleben, als Seelenbewegung der deukerpersönlichkeit in seiner psycho-
logischen und sozialen bedingiheit, und so an stelle des naiven realismus, der die
dinge als gegeben voraussetzt, den Idealismus zu setzen, der allein der wahre realis-
mus ist, insofern als nur er die wahre realität ergreift, „den psychischen process, in
dem die weit, sei es in Wissenschaft, in sittlichem leben oder in kunst, als reine
darstellung der persönlichkeit lebenskräftig erzeugt wird" (s. 260).
Man sieht, der gegensatz ist derselbe, welcher vorhin zwischen Herder einer-
seits und jenen Vorbildern reinen erlebens und kulturschaffens , Kant und Goethe,
andrerseits festgestellt wurde. So ist denn die arbeit des Verfassers ein baustein zu
der gewaltigen kulturarbeit , die uns jene grossen genien als ihr kostbarstes Vermächt-
nis hinterlassen haben: sie ist die begründimg der geistesgeschichte im Kantischen
sinne, gegründet auf das sichere fundament einer transscendentalen kritik, d. h. der
Untersuchung der bedingungen ihrer möglichkeit, der gesetze ihrer erzeugung. Dies
ist der sinn jener einleitenden programmsätze. Nun wii'd auch das zusammenwirken
philosophisch - systematischer und psychologisch -historischer forschung klar: soll der
einzelne nach der art, wie seine persönlichkeit sich rein in kulturtaten darstellt, ver-
standen und gewertet werden, so bedürfen wir des Ideals der rein entwickelten per-
sönlichkeit als massstab; andrerseits kann nur die genaueste analyse des einzelfalles
uns die bedingungen für die Verwirklichung jenes Ideals lehren.
Dieses schauen des innersten lebens in den äusseren werken der menschen,
dieses aufspüren der inneren treibenden motive ist eine künstlertugend. Heinrich
V. Kleist redet einmal (Briefe au seine Schwester Ulrike hsg. v. A. Koberstein s. 49)
von einer ihm von der natur verliehenen klarheit, .die ihm zu jeder miene den
gedanken, zu jedem worte den sinn, zu jeder handlung den gi'und nennt, und bezeich-
net damit ein hauptgeheimnis des dichterischen schaifens. In der tat, um in dies
innerste heiligtura der dichter- und denker- Werkstatt einzudringen, und die natur in
ihrer geheimsten arbeit zu belauschen, dazu bedarf es des künstlerischen schauens,
das vermag nur, wer in sich selbst die wunder schöpferischen erlebens erfahren hat.
„Wir bedürfen mehr als den gliedernden Scharfsinn des Verstandes, wir verlangen
die sittlich erlebende, die anschauende Vernunft" (s. 259).
Künstlerisch ist denn auch der eindruck des ganzen buches. Wie eine gewal-
tige tragödie rollt sich dies merkwürdige denkerschicksal vor uns ab mit scharf mar-
120 METER, ÜBER KÜHNEMÄNN . HERDER
kierten einschnitten. Drei akte bilden den aufsteigenden teil: das erobei-ungslustige
sichausbreiten in die weit, dann das finden des eignen selbst, endlich die gestaltung
der weit zu einem abdrucke der eignen persönlichkeit. Dann aber, nachdem der
höhepunkt überschritten, folgen verfall und katastrophe in immer schnellerem tempo,
mit not wendigkeit sich ergebend aus der ersten anläge des Herd ersehen geistes und
den umständen und Verhältnissen, die ihn umgaben. Auch im einzelnen spüii man
diese dramatische anläge: so in den häufigen hindeutungen auf das, was nun kom-
men muss; in der tragischen Ironie (vgl. s. CO); in starken kontrasten, wie s. 139:
„fiebernd vor erwartung greifen wir nach den philosophischen abschnitten des dritten
teils, welche die principien der geschichtsphilosophie vorlegen. — Welche enttäu-
schung! Nichts als die alten bekannten abstraktionen!" Hierher gehört auch der
analytische auf bau des buches, wo zugleich mit dem foitschreiten der handlung die
erkenntnis rückschreitend in die ersten Ursachen eindringt. Es geht uns beim lesen
desselben wie bei einer bergbesteigung: je höher wir aufwärts gelangen, um so wei-
ter dehnt sich der horizont, um so vollständiger erhellt sieh der zurückgelegte weg.
Künstlerisch wirkt endlich auch der stil des buches. Eine ungefähre Vorstel-
lung von der Schreibart des Verfassers kann der leser schon aus meiner Inhaltsangabe
entnehmen, die ich vielfach mit den Worten des buches selbst gegeben habe. Nir-
gends verfällt der Verfasser in leere Schönrednerei; kein woi"t steht lediglich als klin-
gende phrase da, vielmehr erfordert und erträgt jedes die genaueste prüfung und
wägung seines Inhaltes. Die künstlerische gestaltung der gedanken, die sich oft zu
grosser Wirkung erhebt, ist in der anläge und dem zwecke des buches begründet,
welches nicht nur dem verstände des lesers objektive erkenntnis übermitteln, sondern
ihm in den gedanken das Seelenleben der schaffenden persönlichkeit zu fühlen geben
und in ihrer kritik ein ideal der Wissenschaft und des lebens predigen wiU. Dieser
lebensgehalt der gedanken verlangt nach künstlerischem ausdruck, um als leben
empfunden zu werden. Am Schlüsse des buches, wo die arbeit der erkenntnis getan
ist, sammelt sich das begleitende gefühl zu selbständigem ausdruck in einer stim-
mungsvollen Zukunftsphantasie, wie in volltönenden Schlussakkorden.
Aber wie viele künstlerische momente auch in dem buche zusammenwü'ken,
der zweck und plan des ganzen ist nicht ästhetisch, sondern wissenschaftlich.
Nicht, um das geschaute im bilde festzuhalten und das gefühl des lesers in ästhe-
tischem geniessen ruhen zu lassen, versenkt sich der Verfasser in Herders Seelen-
leben, sondern um an diesem einen so tief und umfassend durchforschten beispiele
die gesetze des geisteslebens überhaupt zu studieren, und um aus üini die methoden
reinen, wissenschaftlichen denkens abzuleiten.
Die äussere ausstattung des buches verdient uneingeschränktes lob; auch
die korrektur ist sehr sorgfältig. Sehr erwünscht ist das ausführliche Inhaltsverzeich-
nis. "Was den ausdruck betrifft, so sind einige auffallende Wortbildungen zu erwäh-
nen: wesenbar (s. 87), naturgemässig (s. 127), „Griechenheit" statt des uns aus Schü-
ler geläufigen „Griechheit" (s. 137), entgegensatz (s. 252). Bisweilen finden sich
weniger geschickte oder unklare satzbüdungen; so s. 75: Die bedeutung innerer
volkommenheit ist Schönheit; s. 90: kämpf um sich selbst; s. 137: der staat als das
sittliche klima, der das werk des günstigen physischen fortsetzt; s. 268: Wie anders
ihr (der Wissenschaft) sprachlicher bruder, die poesie!; Tgl. noch s. 181. 196 oben.
Dass die methode des Verfassers allgemein angenommen werden, dass sie schule
machen werde, glaube ich natürlich nicht; dazu ist sie zu sehr persönlich, zu sehr
ein produkt von selten vereinigten faktoren. Aber die mahnung wird die litteratur-
GERING, ÜBER BüGGE, BIDRAG TIL SKALDEDIGTNINGENS HIST. 121
geschichte allerdings daraus entnehmon köunen — und dies scheint ihr heute beson-
ders not zu tun — , dass es mit dem feststellen und ordnen von sogenannten tatsachen
nicht getan ist, sondern dass es die aufgäbe der geistes- so gut wie der naturwissen-
schaft ist, die verwirrende fülle der erscheinungen, die sich den beobachtenden sin-
nen und dem forschenden verstände bieten, aufzulösen in ein spiel von gesetzen, und
so „was in schwankender erscheinung schwebt, zu festigen mit dauernden gedanken."
Als ein schritt zu diesem ziele sei die vorliegende schritt hier di'ingend empfohlen.
GÖTTINGEN. HEINRICH MEYER.
Bidrag til den jeldste skaldedigtnings historie af Sophus Biig^ge. Christia-
nia, H. Aschehoug & Co. 1894. (VIII), 184 s. 3,50 kr. (= 3,95 m.).
Das vorliegende buch, das von neuem die ausgebreitete belesenheit und das
ungemeine kombinationstalent des ausgezeichneten norwegischen gelehrten auf das
glänzendste betätigt, ist der eingehenden Untersuchung der unter dem namen Bragis
des alten überlieferten fragmente und des dem norwegischen dichter f'j6{)olfr or Hvini
zugeschriebenen Ynglingatals gewidmet. Bugge sucht den (bereits Beitr. 13, 201
angekündigten) beweis zu führen, dass diese dichtungen, die man bisher in das 9. Jahr-
hundert zu setzen pflegte, einer so frühen zeit nicht angehören können, und will sie
der 2. hälfte des 10. Jahrhunderts zuweisen.
Seine behaujjtung sucht Bugge zunächst durch sprachhistorische deductionen
zu erhärten. Ein hauptargument des Verfassers ist, dass die Synkope der schlusssil-
ben vokale, zum mindesten die syukope des «a, im 9. Jahrhundert in Norwegen noch,
nicht eingetreten sein könne, da noch in der runeninschrift des schwedischen Eök-
steines, die or um 900 ansetzt, die formen sfrandu, sufni, fiaru, karuR sich finden,
in der dänischen Inschrift von nelmies, die dem 9. Jahrhundert angehören soll, ebenfalls
sunu (acc. sg.) begegnet u.a.m.; durch einsetzung der unsynkopierten formen in die
Strophen Bragis (ich spreche zunächst nui' von diesen) würde aber ihr metrischer bau
zerstört. Ich will hierauf nicht entgegnen , dass keine einzige norwegische Inschrift^
die erhaltung des ic auch für das westskandinavische bezeugt, da die spracheutwick-
lung doch wol im ganzen norden im wesentlichen gleichraässig vor sich gieug. Auch
den einwand, dass mir — bei aller achtung vor den glänzenden ergebnissen der
modernen runenforschung — die datierungen der einzelnen denkmäler noch keines-
wegs sicher erscheinen , will ich nicht erheben , sondörn einfach annehmen , dass Bugge
mit seiner behauptung, u sei im 9. Jahrhundert noch nicht synkopiert worden, im
rechte ist. Wenn er aber daraus den schluss zieht, das die gedichte von Bragi die-
sem Jahrhundert nicht angehören können, so muss ich gegen die zulässigkeit einer
solchen beweisführung protest erheben. Nur soviel liesse sich behaupten, dass die
1) Von norwegischen Inschriften aus dem Jahrhundert, das der besiedelung
Islands vorauf gieng, haben sich — wenn die datierung richtig ist — nur zwei erhal-
ten, die von Valby und Gimsö, und auf beiden sind formen, die für die Streitfrage
entscheidend wären, nicht anzutreiTen (auf dem steine von Gimsö steht zwar NafRsun,
aber Bugge behauptet, dass indem enklitisch an den genetiv eines eigennamens ange-
hängten stinuR die synkope weit früher vollzogen sei als in dem isoliert stehenden
werte). Überhaupt glaube ich, dass im 9. Jahrhundert die sitte, zum andenken an
verstorbene runensteine aufzurichten, in Norwegen aus der mode gekommen war,
denn sonst hätten die isländischen kolonisten, die so zäh an den alten gebrauchen
hiengen, auch diesen in der neuen heimat sicherlich beibehalten. Bekanntlich aber
weiss keine Isleudinga saga von runensteiueu etwas zu erzählen.
122 GERING
form, in der wir heute diese gedichte lesen, nicht die des 9. Jahrhunderts ist, weil
sie es eben nicht sein kann, da in den vier Jahrhunderten, die zwischen der entste-
hung jener Strophen und unseren handschriften liegen, nicht bloss die sprachformen
sich geändert haben, sondern möglicherweise auch die metra eine Umwandlung erlit-
ten. Wenn es der zufall gewollt hätte, dass sich von dem goldenen hörne und der
auf ihm eingeritzten inschrift eine künde bis in die litterarische zeit erhalten hätte,
so würde diese inschrift in einem codex des 13. Jahrhunderts wahrscheinlich lauten*:
Hlegestr Hyltingr hörn pat ortah (oder gorpak).
Bugge würde von seinem Standpunkte aus die nachricht, dass diese zeile in m'alter
zeit, lange vor der besiedelung Islands abgefasst sei, für erfunden und die inschrift
für unecht erklären, da das metrum des fornyrdislag-verses durch die widerherstel-
lung der ursprünglichen sprachformen zerstört würde. Dies wäre jedoch ein fehl-
schluss, denn der auf dem goldenen home stehende vers:
Ek HlewagastiR HoltüigaR horna tawido, d. i.
X] -jJlX^X I ^XX II _iX I ^s.x.
war zu seiner zeit eine vollkommen korrekte laugzeile im „förnyrdislag" ^, das eben
damals auftakte und mehrsilbige Senkungen noch gestattete. Ob dem „drottkvaett",
falls es vor der durchführung der synkopierungsgesetze schon bestand, nicht diesel-
ben freiheiten eingeräumt waren, können wir nicht wissen; jedesfalls aber wäre es
voreilig diese möglichkeit zu läugnen.
Auch die tatsache, dass bei Bragi bereits einzelne keltische lehnwörter^ sich
finden, kann meines erachtens nicht beweisen, dass die gedichte erst im 10. Jahrhun-
dert abgefasst sind. "Wir wissen, dass schon gegen ende des 8. Jahrhunderts (795)
die nordischen wikinger an den irischen küsten erschienen, und es ist daher zweifel-
los, dass sie den weg zu den nordschottischen inselgruppen , die auf ihren zügen
nach Westen eine natürliche etappe bildeten, weit früher müssen gefunden haben.
Nehmen wir an, dass dies um 7,oO geschehen sei*, so lag fast ein voUes Jahrhundert
zwischen den ersten berührungen der Normannen mit den Kelten und der zeit, in
1) Vgl. Bugge , Tidskr. for phil. VI (1865) s. 317.
2) Ihr lassen sich z. b. altsächsische verse wie
lithocdspiin bilücan (Hei. 2724)
an die seite stellen, die ich nicht mit Sievers für „erweiterte" A, sondern für alter-
tümliche A ansehe. In einer fornyrdislag- Strophe der Röksteininschrift steht neben
4 silbigen halbzeilen, die genau den regeln der späteren altn. metrik entsprechen,
auch eine 5 silbige:
Strandu HrcBiämarar,
also ein „erweitertes" D, das durch die synkopierung des u zu einem regelmässigen
D werden inusste. Vgl. ferner verse mit auftakt wie: in wange märir, ek Wncar
after (Bugge, Norges inskrifter med de aeldre runer, s. 24).
3) Bugge meint, dass in Bragis fragmenten auch ein französisches lehnwoii
enthalten ist, nämlich rosta „lärm'', obgleich ein verbum rusta „lärmen" noch heute
im schwedischen und norwegischen lebendig ist. Allerdings ist es bedenklich, dieses
neunordische wort zu rosto in beziehung zu setzen, da der Übergang von o zu m
sonst nur in der proklise erfolgt zu sein scheint (z. b. norweg. gu'dag <. god dag\
aber nicht minder unwahrscheinlich ist die annähme, dass dasselbe, kaum sehr
gebräuchliche wort zu zwei verschiedenen zeiten nach dem norden importiert sein
sollte.
4) Schon um 725 mussten sich die irischen anacljoreten infolge der angriffe
nordischer piraten von den Fagröern zurückziehen (Zimmer, Ztschr. f. d. a. 32, 231).
ÜBER BUGGE, BIDRAG TIL SKALDEDIGTNINGENS HIST. 123
welcher Bragi nach der gewöhnlichen annähme seine drapas verfasste, und dieser
Zeitraum war lang genug, dass „die Impulse von den keltischen Völkern selbständige
formen sich schaffen konnten."
Ferner meine ich, dass die konsequenzen der Buggischen hypothese, nach der
die fragmente Bragis eine fälschung des 10. Jahrhunderts sein sollen, eine reihe von
unWahrscheinlichkeiten ergeben. Dass ein dichter Bragi um die mitte des 9. Jahr-
hunderts wirklich im westlichen Norwegen gelebt hat, gibt Bugge selber zu. Er
räumt ferner ein, dass Eagnarr lodbrök (dessen person allerdings von der sage mit
einem üppigen gewinde fabelhafter erzählungen umrankt und zu einem typus des
wikingertums ausgestaltet ist) möglicherweise mit dem dänischen piratenführer (dux')
Eagneri identisch ist, der um 845 in Frankreich brandschatzte und bald darauf aji
der pest starb. Er meint endlich, dass wir den schwedischen könig, den die islän-
dischen quellen BJQrn at Haugi nennen, in dem „rex Bern" widerfinden, mit dem
nach der Vita Anskari von Eimbert der apostel des nordens kurz vor 830 in Schwe-
den zusammentraf. Die beiden fürsten und der dichter waren also Zeitgenossen, und
es erapfienge mithin die isländische tradition, nach welcher Bragi zu Eagnarr und
BJQrn in beziehungen stand, einen rückhalt in der beglaubigten geschichte. Nun
glaubt Bugge überdies den beweis führen zu können, dass in Bragis Strophe, die
die sage von Gylfi und Gefjon behandelt, suecismen sich erhalten haben! Wenn
das wahr ist (ich hege meine bescheidenen zweifei), so würde jeder vorurteilsfreie
mensch darin eine hestätigung der nachricht finden, dass Bragi sich tatsächlich in
Schweden bei Bjgrn at Haugi aufgehalten und dort seine Strophe verfasst hat. Stammt
diese dagegen erst aus dem 10. Jahrhundert, so ist sie das werk eines fälschers, der
so raffiniert war, dass er absichtlich, um seinem falsificate den schein der echtheit
zu geben, schwedische formen einflickte! Und dieser raffinierte falscher war zugleich
so geistesarm, so vollständig aller eigenen gedanken bar, dass er seine produkte müh-
sam aus dem material, das ihm ältere gedieh te darboten, zusammenleimen musste:
er hat — als ein wahrer skdldaspillir ! — die Ham|)ism(jl und Härbar{)slj6{), die Atla-
kvi{)a und Helgakvi|)a geplündert, nicht minder Haraldskv8e{)i und Ynglingatal, die
Arinbjarnarkvi|)a und andere gedichte von Egill Skallagrimsson , den Einarr skäla-
glamm, Vetrli|)i und forbJQrn disarsk;ild! Mir scheint es wahrscheinlicher, dass die
parallelen, welche Bugge aus diesen dichtungen zu den fragmenten Bragis beibringt,
aus reminiscenzen an den alten skalden sich erklären, wie ich dies z. b. (Arkiv VII,
66) für I'j6{)olfs Haustlgng naclizuweiseu versuchte-.
Bei dem Ynglingatal (um nun zu diesem mich zu wenden) kann man frei-
lich nicht den einwand erheben, dass das metrum im laufe der zeit geändert sein
1) Nach Bugges ansieht kann der Verfasser unserer fragmente nicht jenen
historischen dux besungen haben, da das prädikat pengill, das er ihm beilegt, im
altn. nur den „könig" bezeichne. Aber' die bedeutung des wertes kann sich in spä-
terer zeit verengert haben; ags. pen^el bedeutet nur „princeps, dominus".
2) Ich bin weit davon entfernt, heute noch alles aufrecht zu erhalten, was
ich in meiner kleinen, schnell hingeworfenen gelegenheitsschrift (Kvfe{)abrot Braga
ens gamla, Halle 188ö) gesagt habe, und gebe gerne zu, dass manches darin „ver-
fehlt" und übereilt ist. Wenn aber Bugge meint, dass in der halbstro])he Nema svät
gop usw. (nr. 2 meiner ausgäbe) die lesart des Eegius und Wormianus durch Haust-
iQng 1 gestützt werde, so glaube ich doch darauf aufmerksam macheu zu müssen,
dass der text dieser Haustlc^ng-strophe, wie Bugge ihn citiert, ohne allen zweifei
corrumpiert ist, und dass ich die gründe, die ich im Arkiv a. a. o. für meine her-
stellung derselben beigebracht habe, noch immer für stichhaltig ansehe.
124 GERIN&
könne, denn hier hat selbstverständlich schon in dem original des dichters der regel-
mässige Wechsel zwischen drei- und viersilbigen versen bestanden. Wenn aberBugge
aus dem umstände, dass die einsetzung unsynkopierter formen in das gedieht das
metrum zerstört, den beweis herleitet, dass das Tnglingatal erst im 10. Jahrhundert
entstanden sein könne, so geht er dabei von der durchaus unwahrscheinlichen — wir
können geradezu sagen: unmöglichen — voraussetzring aus, dass uns die Strophen
fjöfjolfs in ihrer echten und unverfälschten gestalt, wie sie aus dem munde des
dichters kamen, erhalten seien. "Wer kann die möglichkeit läugnen, dass verse, die
durch den eintritt der synkope unkorrekt geworden waren, durch die abschi'eiber
geändert sind^ und dass an anderen stellen unabsichtliche modifikationen der ursprüng-
lichen lesart eindrangen? Bugges beweis stützt sich auf drei (ganze drei!) Averse.
Der erste ist Tngl. 28": hmfis hjqj-r. Das habe im 9. Jahrhundert nach Bugge noch
lauten müssen: hoefis heruR, was einen unmöglichen vers ergäbe. Setzen wir aber
die beiden Wörter um (was herausgeber aus metrischen gründen unzählige male getan
haben), so erhalten wir: hertiR hoefis, einen vers, der genau ebenso richtig ist wie
magar poris in Egils Arinbjarnarkvi^a 14^ (Sievers, Altgerm, metrik §71, 4 e).
Ebenso lässt sich bragnings buraR (überliefert ist burs) 32^ umstellen zu buraR
bragnings , vgl. hqfiip heiptrakt 49'. Somit bliebe als einziger vers, der sich nicht
ohne weiteres emendieren lässt, vip foldar prqm 52^ übrig, und auf diesen vers
allein eine hypothese zu begründen, dürfte doch etwas verwegen sein. Wer kann
beweisen, dass nicht prqm an stelle eines anderen wortes getreten ist, das schon im
9. Jahrhundert einsilbig war? Vgl. z. b. jarpar skaut, Sn. E. I, 328.
Die sprachliche form des Ynglingatals kann also kaum beweisen, dass das
gedieht erst im 10. Jahrhundert entstanden ist. Ebensowenig kann dies aber aus dem
vorkommen des wortes flmmingr geschlossen werden, das Bugge wol mit recht als
„flämisches schwert" erklärt. Denn daraus, dass die Norweger erst um 820 an den
küsten Flanderns zu beeren versuchten, folgt nicht, dass sie in Flandern verfertigte
Waffen damals zuerst kennen lernten; diese können ja auf dem handelswege weit frü-
her nach dem norden importiert worden sein, wie ja auch die Damascener klingen
lange vor den kreuzzügen in Europa bekannt waren. Beweisend ist es auch nicht,
dass bei fjofjolfr poetische formein- und eigennamen sich finden, die auch in den
eddischen gedichten vorkommen, denn die ersten waren zum grossen teile altes erb-
gut und die letzten beweisen doch höchstens, dass die mythen, in denen die träger
der namen auftreten, dem T'j6J)olfr sowol wie den dichtem der Edda geläufig waren.
Erst dann könnte von einem beweise die rede sein, wenn es sich erhärten liesse,
dass jene mythen im 9. Jahrhundert noch nicht entstanden waren. Bugge ist ja
allerdings dieser ansieht, aber die zum teil halsbrecheuden etymologien, die den
1) Dass ältere dichtungen umgearbeitet wurden, um den anforderungen einer
moderneren technik zu genügen, ist aus der mhd. litteratur bekannt. Und in unserem
falle war das eine kleiuigkeit. Wir dürfen nicht vergessen, dass „die sprachform in
den ältesten isländischen und norwegischen handschriften in allem wesentlichen
dieselbe ist, wie die in der spräche der ruueninschriften von 800 — 1000" (Wimmer,
Die runenschrift s. 341).
2) Kenntnis der VqIuspq soll durch Tngl. 21 : Pas brccp?- tveir \ at bqnum
urpiisk (vgl. Vsp. 54: brocpr munu berjask \ ok at bquum verpask) bewiesen werden!
Aber verpa at bona ist eine uralte, gemeingermanische formel (vgl. Hildebrands-
lied 54, Beow. .587. 2203, Hei. 644), die jedem dichter, der davon zu berichten
hatte, dass jemand seines kindes oder seines bruders mörder wurde, sich von selbst
aufdrängen musste.
ÜBER BUGGE, BIDRAG TIL SKALDEDIGTNINGENS HIST. 125
fremden Ursprung der heidnischen götterlehre erweisen sollen [Byleistr <; Beelzebub,
Fornjotr <. Pkoroneus , Garmr < Cerbenis u. a. m.), werden ausserhalb des nordens
wenige gläubige finden. Dass Ve der heilige geist sei , hat schon E. H. Meyer in sei-
nem buche über die eddische kosmogonie behauptet und Bugge spricht es nach; wir
dürfen aber wol fordern, dass er zunächst den beweis liefert, dass das dem got. iceihs
entsprechende adjectiv noch zur zeit der wikingerzüge in den skandinavischen spra-
chen existierte^: in den htterarischen denkmälern ist es ebensowenig wie in runen-
inschiiften gefunden worden, und auch die ags. spräche kennt es nicht ^. Dass der
götter- (und zwergen-) name Vili (wofür bei Egill die nebenform Vilir begegnet)
mit vtli „voluntas" identisch sei, soll auch erst bewiesen werden. Vorläufig beharre
ich bei der ansieht, dass die Skandinavier (ebenso wie die Inder, Griechen und Li-
tauer) selbständig darauf gekommen sind, eine trias an die spitze ihres götterstaates
zu stellen , und nicht erst durch die heilige trinität der christlichen kirchenlehre dazu
angeregt wurden.
Gewichtiger sind zweifellos die historischen gründe, die Bugge für die spä-
tere datieioing des Tnglingatals ins feld führt. Nach der angäbe Suorris in der vor-
rede zur Heimskiingla wäi'e l'j6{)olfr or Hvini dichter des königs Haraldr schönhaar
gewesen und habe auch auf könig RQgnvaldr hei{)umh8eri, einen söhn des Olafr geir-
sta{)aälfr und brudersohn Halfdans des schwarzen, das Ynglingatal gedichtet. Diese
nachricht, die in anderen quellen widerholt wird, sucht Bugge als falsch zu erwei-
sen. Er meint, dass sie nur- aus miss verstandenen angaben im Ynglingatal selbst
construiert ist und dass ein könig E(?gnvaldr von Vestfold oder Grönland, der ein
Zeitgenosse von Haraldr schönhaai' gewesen sein soll, gar nicht existieii hat, da
diese Landschaften von anfang an zu Haralds reiche gehörten und nur während seiner
abwesenheit sein oheim Guttormr in der Vik als Stellvertreter die regierung führte.
Daher glaubt Bugge, dass das Ynglingatal einen britannischen könig nordischer
abkunft gefeiert habe, wenn er es auch nicht wagt, einen bestimmten Eognvaldr aus
dem 10. Jahrhundert (die quellen kennen aus jener zeit mehrere „könige" dieses
namens) als denjenigen zu bezeichnen, dem das gedieht gewidmet ist. Diese mei-
nimg ist deshalb nicht unwahrscheinlich, weil auch die norwegischen könige in Dublin
ihr geschlecht von den Ynglingern ableiteten, und sie gewinnt an glaubwürdigkeit
durch den von Bugge geführten nachweis, dass irische gedichte aus dem 10. Jahr-
hundert und noch fräherer zeit nach form und Inhalt so genau mit dem Ynglingatal
übereinstimmen , dass sie geradezu als Vorbilder desselben betrachtet werden müssen ^.
Endlich macht Bugge darauf aufmerksam, dass in der zweiten hälfte des 10. Jahr-
hunderts tatsächlich ein Norweger mit dem namen i*j6{)olfr or Hvini gelebt hat, da
unter den beiden Olaf Tryggvasons, die mit ihm auf dem „langen drachen" in der
Schlacht bei Svoldi- kämpften, ein forgrimr or Hvini l'j6|)olfsson erscheint, nach
1) Zu iceihs stellt man das st. n. ve „tempeP (ags. wih, weoh; alts. wth) und
das pl. tantum vear „götter"; aber das adjectiv selbst hat sich nur in den alten
eigennamen auf -ver erhalten, falls die deutung Bugges (Xorges indski-ifter med de
seldre runer s. 12) richtig ist.
2) Vgl. meine ausführungen in der Theol. litt, zeitung XVII (1892) sp. 42.
3) Ich möchte mir aber doch erlauben, einen ganz bescheidenen zweifei zu
äussern, ob die keltische philologie (die doch noch tief in den kinderschuhen stecken
muss, wenn einer ihrer bedeutendsten Vertreter es sich nicht zutraut, eine vollständige
Übersetzung von einem schwierigeren texte zu geben) wirklich schon soweit vorgesuhrit-
ten ist, dass sie eine genaue datierung der alten denkmäler vornehmen kann"? Mir wird
126 GERINO, ÜBER BUG&E, BIDRAG TIL SKALDEDIGTNINGENS HIST.
Bugge eiu söhn des Verfassers des Yngiingatals, den man also mit einem älteren dich-
ter gleiches namens, der zu Harald scbönhaars zeiten gelebt haben mag, verwechselt
hat. Dieser jüngere t'jö|)olfr or Hvini kann dann auch, wie die isLändischen quellen
berichten, auf den dänischen jaii Strutharald (f um 985) gedichtet und für l'orleifr
spaki, den Zeitgenossen von Olaf Tryggvason und Eiriki- jarl, die Haustlgng verfasst
haben, während es für ausgeschlossen gelten muss, dass ein skalde Harald schön-
haar's noch gegen ende des 10. Jahrhunderts am leben war.
Ich meine also, das wir — nicht aus sprachlichen und metrischen gründen
(diese versagen, wie ich oben erwiesen zu haben glaube, den dienst) — wol aber auf
grund historischer und litterarhistorischer indicien das Tnglingatal mit Bugge in das
10. Jahrhundert werden versetzen müssen. Aber ich sehe nicht, dass wir dadurch
genötigt sind, auch für die fragmente Bragis eine spätere entstehungszeit anzuneh-
men, zumal da einzelne spuren altertümlicher sprach- und versformen in ihnen noch
deutlich sichtbar sind^ Dass in den eddischen liedern eine einfachere und schmuck-
losere darstellung herrscht"-, beweist gar nichts, da diese lieder und die skaldischen
drottkvsettstrophen ganz incommensurable grossen sind und beide dichtweisen noch lange
neben einander herlaufen. Übrigens hege ich schon seit längerer zeit ernste zweifei,
ob man nicht neuerdings die älteren schichten der eddischen lieder zu spät datiert.
Die frage würde erledigt sein, wenn die behauptung Zimmers, dass die Nibelimgen-
sage in ihrer jüngeren gestalt bereits gegen ende des 9. Jahrhunderts durch nor-
wegische Wikinger nach Irland verpflanzt worden sei, als richtig sicherwiese. Aber
die parallelen zwischen irischer und nordischer heldensage, auf welche Zimmer auf-
merksam macht, sind nicht zahlreich und nicht charakteristisch genug, um beweis-
kräftig zu sein: auch schiesst er augenscheinlich in seinem eifer, möglichst viel im
ii'ischen leben und dichten auf nordischen einiluss zurückzuführen, über das ziel
es schwer daran zu glauben, dass eine so rohe, barbarische, phrasenhafte und geistlose,
von den gröbsten zoten wimmelnde poesie befruchtend auf die skandinavische sollte
eingewirkt haben. Die.se kann keine bessere folie empfangen, als die irischen „helden-
sagen" des „älteren kreises" (man vergleiche z. b. die schöne geschichte von den köni-
ginnen (!), die sich dadurch unterhalten, dass sie einen Schneehaufen mingendo zum
schmelzen bringen, und auf diejenige, die in diesem geistreichen sport den sieg davon
ti'äg-t, so eifersüchtig werden, dass sie sie töten: Ztschr. f. d. alt. 32, 218). Die viel-
gerähmte „kultur'^ des volkes wird ausserhalb des bereiches der klöster nicht gross
gewesen sein; offenbar war das pygmäengeschlecht der Iren körperlich und geistig den
Germanen nicht gewachsen, eine inferiore, für fremdherrschaft und geistige knech-
tung prädestinierte rasse.
1) S. Kvfejjabrot Braga ens gamla s. 8. Gegen zwei von den dort aufgestell-
ten behauptungen hat Bugge widersprach erhoben: das von mir aus dem handschrift-
lichen aptr hergestelte ajü, das ihm 1888 noch plausibel erschien (Om runeindskriften
pan Rökstenen og paa Fonnaasspasnden s. 6), beanstandet er jetzt wol mit recht auf
grund der von Hj. Falk gemachten einwendungen, und Ermenrekr betrachtet er als
eine unnordische namensform, die schon bekann tschaft mit der südgermanischen sage
verrate (?).
2) Gegen die auch von Bugge (s. 111) citierte äusserung von Steenstrup, der
sich daräber wundeii, dass schon um 850 die norwegische poesie so schwerfällige
bilder solle gekannt und bei den zuhörern eine so grosse gelehrsamkeit solle voraus-
gesetzt haben, hat schon Gust. Storni (Kritiske bidrag til vikingetidens historie s. 45)
mit recht eingewandt, dass mau nicht a priori die einfachere poesie für die ältere
erklären dürfe. Sollte das ein kritisches princip werden, so behauptet vielleicht ein
gelehrter des 3. Jahrtausends, dass Goethe und Heine vor Hoifmannswaldau gelebt
haben.
MÖGE, ÜBER WOLFSKEHL, GERMANISCHE WERBUNGSSAGEN 127
hinaus*, und die etymologischen partien verraten liier und da eine ungenügende kennt-
nis der nordischen spräche'-. Es wäre aber interessant zu erfahren, wie Bugge zu
der hypothese Zimmers sich stellt.
Bugges ausfiihrungen haben mich also nur- teilweise überzeugt. Gleichwol
stehe ich nicht an, sein buch zu den bedeutendsten werken zu rechnen, die auf dem
gebiete der altnordischen litteraturgeschichte erschienen sind, da er eigentlich zuerst
die frage nach der echtheit der ältesten norwegischen skaldendichtungen in fluss
gebracht hat. Die zweifei, die andere vor ihm geäussert liaben, wollen wenig besa-
gen gegenüber diesem mit der ganzen wucht solider gelehrsamkeit und kritischen
Scharfsinns unternommenen angriffe. Dass die gelegentlichen bemerkungen über ein-
zelne schwierigere stellen in den werken altnordischer dichter sehr vieles richtige
und treffende enthalten und das Verständnis dieser poesie erheblich fördern, sei zum
Schlüsse noch besonders hervorgehoben^.
1) Zu streichen ist z. b., was Zimmer (Ztschr. f. d. a. 32, 332) über nord-
germanische züge in der irischen Ercoilsage vorträgt: das isländische hestavig war
etwas ganz anderes, als was Weinhold im Altu. leben (auf das Zimmer sich beruft)
daraus macht.
2) So operiert er z. b. in seinem versuche, ir. fiann aus altn. fjändi herzu-
leiten (Ztschr. f. d. a. 32, 92) mit der lediglich neuisländischen pluralform fendr;
für Ifpgäir, Imgda (ebda s. 152) wäre lagäir, lagSta zu setzen, was dem ir. Icegda
rücht mehr genau entspräche.
3) Ich freue mich konstatieren zu können, dass die s. 126 anm. gegebene erklä-
rung von Strophe 6 der Arinbjarnarkvi|)a im wesentlichen mit der kürzlich (Sagabibl.
m, 310) von mir vorgeschlagenen zusammentrifft. Dass die stelle eine anspielung
auf den mythos von Q{)iun und GunnlgJ) enthält, dürfte wol nicht mehr bezweifelt
werden. Nur in der erklärung des wertes niaki weichen wir von einander ab: ich
würde Bugges auffassuug (als der einfacheren) den Vorzug geben, wenn maki in der
bedeutung „codjux" schon im altn. nachweisbar wäre.
KIEL, 16. DECBR. 1894. HUGO GERING.
Germanische werbungssagen. Von K. Wolfskehl. I. Hugdietrich. Jarl Apol-
lonius. Darmstadt, A. Bergsträsser. 1893. 33 s. 1 m.
Die vorliegende arbeit ist zunächst nur ein aus zwei teilen bestehendes frag-
inent, das jedoch bereits das endziel des angekündigten werkes ahnen lässt: der Ver-
fasser will die germanischen werbungssagen aus einem altgermanischen naturmythus
erklären und in engsten Zusammenhang mit dem nahanarvalischen Dioskurenpaare des
Tacitus bringen. Im ersten teile, in dem ganz am Schlüsse die Werbung Hugdietrichs
verarbeitet wird, soll der riese Vasolt, wie er uns im Eckenliede und bei Caspar von
der Ron entgegentritt, als sturmdämon erwiesen werden, dessen kraft in seinem
haupthaare liegt, in dem die sturmgebärende, flatternde wölke symbolisch dargestelt
sei; durch sein „weibliches" haar sei Vasolt das mythische paraUelstück zu dem
priester jener Dioskm-en, der tnuliebri ornatu geschmückt war. Mit Vasolt deckt
sich der sturmgott Odinn, nur dass dieser nirgends mit weiblichem haare erscheint.
Aber auch dies wird aus der Überlieferung herausconjiciert: Odinn ist bei Rindr erst
zum ziele gelangt, als er in weibsgestalt zu ihr getreten war; diese frauengestalt ist
aber das jüngere, ursprünglich waren es nur die weiblichen haare, durch die er zu
seinem ziele kam (s. 23). An Odins stelle ist in der süddeutschen sage Hugdietrich
getreten, der die Hildeburg gewint, indem er als Jungfrau verkleidet bei ihr eindringt.
Natürlich wird auch die Hartungensage mit verarbeitet. Hier baut Wolfskehl blind-
128 JIRICZEK
lings auf MüUenhoffs deutung. — Der Verfasser ist unstreitig in der litteratur seines
themas ■wol bewandert, allein ihm fehlt ein weiterer blick und mit ihm die wün-
schenswerte kritik der quellen und der litteratui-. Seiner metbode vermag ich eben-
sowenig beizustimmen wie dem resultate seiner forschuug.
Im zw^eiten stück (Jarl Apollonius) wird das gedieht „vom Weltweib'' (Hoff-
mann, Hör. belg. 11 nr. 14) mit der ApoUoniussage in der I^idrikssaga zusammen-
gebracht. Ich halte diesen beweis für gelungen. Die tatsache lässt sich auch
geschichtlich leicht erklären : das niederdeutsche lied oder die sage , aus der es geflos-
sen, kam mit anderen Stoffen nach Norwegen, wo sie der sagaschreiber an die Iron-
sage angeknüpft hat. Dagegen mythischen hintergrund hier zu wittern, halte ich für
ebensowenig angebracht wie in der Hugdietrichsage.
LEIPZIG. E. MÖGE.
Die spräche der skalden auf grund der binnen- und endreime, verbunden mit
einem rimarium von Bernhard Kahle. Strassburg, Karl J. Trübner. 1892. VKI
und 303 s. 7 m.
Das buch Kahles zerfällt in zwei teile: einen darstellenden, 'der nach einem
einleitenden kapitel über die reimtechnik der skalden in drei abschnitten vokalismus,
konsonantismus und einigte punkte der formenlehre behandelt und dann auf zwei sel-
ten die ergebnisse zieht, und einen statistischen, das rimarium, das von seite 93 bis
zum Schlüsse des buches reicht. In dem kapitel über die reimtechnik konstatiert
Kahle zunächst auf grund statistischer tabellen das allmähliche seltenerwerden der
vollreime in den ungeraden verszeilen und analysiert dann die reimbindungen der
konsonanten, zunächst nach der zahl der gebundenen konsonanten (einfacher konso-
nant: einfachem konsonanten, einfacher konsonant: erstem konsonanten einer gruppe,
usw.), dann nach der art der konsonanten (muta: muta -f- liqu. , usw.), woran sich
belege für die bindung tonloser und tönender konsonanten schliessen. Die dankens-
werten und fleissigen Zusammenstellungen leiden nur daran, dass das mduktionsma-
terial nicht vollständig ist; eine auswahl von fünf skalden aus dem 11. bis 14. Jahr-
hundert, wae sie z. b. Kahle bei der imtersuchung über das abnehmen des voUreimes
an ungeraden stellen zu gründe legt, gewährt doch wol nui' unsichere Schlüsse. Auch
die druck- oder rechenfehler sind störend, die in den statistischen tabeUen schlimm
gehaust haben; so z. b. ergibt die Zusammenstellung unter 1) in der tabelle auf
Seite 6 nicht 560, sondern 554, wodurch die procentzahl von 10,71 auf 10,83 steigt;
die summe 80 unter 1) auf seite 12 oben stimmt weder mit den einzelnotierungen
des Verfassers, denn diese geben addiert 75, noch mit der wirklichen zahl der fälle,
denn bei pjöpölfr hvinverski ist 10 zu 14 zu korrigieren und die gesammtsumme
beträgt alsdann 79; und dergleichen noch öfter. Wer also in die läge kommt, sich
dieser statistischen tabellen bei einer arbeit zu bedienen, der wird nicht umhin kön-
nen, fleissig nachzuaddieren und procente zu berechnen, was füi' einen philologeu
nicht immer die angenehmste arbeit sein dürfte. Auch die citatenziffern sind von
di'uckfehlern nicht frei; so begegnen z. b. unter den wenigen citaten aus Wisen in
tabelle XI (s. 23) die fehler flo (sie): tiva pjöß hv. Wis. 19 statt 9, seite 24 zeile 2
14 für 15, und auch andere druckfehler haben sich eingeschlichen: Brage, Ragu. dr.
2, 3 heisst es bei Wisen mcere, nicht niceve; leißißir 1. leißipir (im zweitnächsten
citat); für Skdl. in zeile 2 der tabeUe (sub a) muss Skül. stehen, wie überhaupt mit
den abbreviaturen Ein. Skdl. [Einarr skälaglamm] und Ein. Skül. [Einarr Skülason]
tJBER KÄHLF., SPRACHE DEK SKALDEN 129
der druckfehlertoufel seiü böses spiel getrieben liat; ich notiere nur aus dem ersten
kapitel, dass s. 16 Skid, für Skäl. steht, ebenso s. 18 z. 5, umgekehrt Skdl. für
Skid. s. 19 oben, s. 21 sub IX a [wo es übrigens Wis. 58 heissen muss], s. 23, s. 27
z. 9 und 13. — Die unioiTektheit des dructes betiifft übrigens gleichmässig das
ganze buch, und es darf in dieser beziehung fast als ominös angesehen werden, dass
dem leser gleich auf einer der ersten selten unter anderen kleinen fehlem die merk-
würdige gleichung „Yg = erste hälfte" entgegentritt! Die Unsicherheit, die den
benutzer des buches zwingt, jedes citat nachzuschlagen, ist bei einem werke, dessen
grösster teil als nachschlagebuch dienen soll, unangenehm, und im Interesse des Ver-
fassers, von dessen fleiss und ehrhchem streben die ganze mühsame arbeit zeugt,
muss man diese äusseren mängel, die sich bei genauer korrektur hätten vermeiden
lassen, beklagen. Um biUig zu sein, darf man allerdings nicht vergessen, welche
Schwierigkeiten die korrektur einer aus tausenden von citaten bestehenden arbeit
bereitet.
Die Kapitel II — IV beschäftigen sich mit den folgerungen, die sich für die
grammatik, specieU die lautlehre aus den reimen ergeben; Kahle geht ausführlich
auf die fragen des ic- und «'-Umlaufes ein, und gibt ein (allerdings kaum ganz hin-
reichendes) resume über die schwankenden und widerstreitenden erkhü-ungen und
Untersuchungen des problems, wobei er sich hauptsächhch Wadstein anschliesst. Es
folgt die behau dlung der brechung und einiger anderer vokaüscher probleme, wobei —
wie überhaupt in diesem tapitel — das durcheinander historisch -polemischer betrach-
tungen und der darstelhmg des in skaldenreimen gegebenen materials vielleicht imver-
meidlich war, aber die Übersicht über die tatsächlichen Verhältnisse etwas unbequem
macht. Kürzer und übersichtlicher ist der konsonantismus behandelt, auffallend kurz
das „Aus der formenlehre" überschriebene kapitel. Gerade an diesem letzten zeigt
sich, dass die spräche der skalden nicht auf grand der binnen- und endreime allein
dargestellt werden kann, sondern zum mindesten auch die Zeugnisse der metrik ein-
gezogen werden müssen; und damit ist der schwache punkt in der anläge des ganzen
Werkes berührt: die allzu kleine basis, auf der sich das gebäude einer darsteUung
der skaldensprache , mit andern worten der norwegisch - isländischen sprachentwick-
lung in einer zeit, für die uns die skaldenfragmente (und Eddagedichte) fast allein
auskimft geben, erheben soll. Und ist diese enge basis (die der Verfasser übrigens
noch enger gezogen hat als es wünschenswert wäre , denn er berücksichtigt ohne ersicht-
lichen giaind nicht das ganze überheferte material) auch ausreichend gesichert? Bei
Untersuchungen, wie die in Kahles buche angestellten sindl, muss die textkritik eine
vollkommen gesicherte grundlage bereits geliefert haben, ehe eine auf formelle beob-
achtung gegiiindete ableitung sprachhistorischer resultate beginnen kann. Wisens
Carmina Norr«na sowie die Unger'schen ausgaben der Heimskringla imd Konunga-
sögur können diesen ansprach nicht erheben; ehe aber eine ausgäbe der skalden mit
vollständigem kritischen apparat vorliegt, ist es überhaupt fraglich, ob ein ver-
such, die spräche der skalden darzustellen ,- zu abschliessenden resultaten führen
kann. Die antwort wird wol im allgemeinen verneinend ausfallen, und damit ergibt
sich auch ein billiges urteil über die schwachen selten von Kahles versuch; der dar-
stellende teil muss schon wegen der beschaffenheit des benutzten materials an wert
hinter dem Rimarium zurückstehen, und die beständige bezugnahme auf sprachhisto-
rische theoreme, die in ihi-em umfange weit über das gebiet der skaldensprache hin-
ausreichen, zeigt am deutlichsten, dass die meisten der hier berühi-ten probleme ihre
lösung nicht auf diesem engbegrenzten gebiete finden können. Unbillig wäre es,
ZEITSCHRIFT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XXVIH. 9
130 feERiJHAtlt)*
darüber die anerkennung für den fleiss und die ehrliche mühe, die sich der Verfas-
ser gegeben hat, zu vergessen, und den nutzen unbetont zu lassen, den das Eimarium
für grammatische und metrische zwecke bietet ; ganz leicht zu heben sind freilich
seine schätze nicht, denn auch hier muss der benutzer erst die nachprüfung der
citate und richtigstellung der nicht seltenen druckfehler vornehmen , und kein register
hilft dem benutzer, der aus der menge gleichgiltiger belege diejenigen hervorsuchen
will, die etwa über das vorkommen von doppelformen (wie z. b. fr am und franim,
fyräar und firäar usw.) auskunft geben, oder sonstwie wert für die beleuchtung
einer wortform oder grammatischen erscheinung besitzen. Ein solches Wortregister,
das die stellen anführte, an denen ein wort nach seinen verschiedenen grammatischen
Seiten behandelt ist, würde viel dazu beitragen, die wertvollen belege und erörte-
terungen, die sich zu einzelnen formen und glossen in dem buche finden, hervorzu-
heben und leichter zugänglich zu machen; es wüi'de vielleicht auch bei der arbeit
selbst den Verfasser auf manche versehen aufmerksam gemacht haben, die sich bei
der isolierten betrachtung der einzelnen verszeilen eingeschlichen haben (vgl. z. b.
die bemerkungen Finnur Jonssons Ark. f. nord. fil. IX, 384), ihn manches haben
scheiden lassen, was nach der reimrubrik jetzt zusammengeworfen steht (so z. b.
vermindert sich die zahl der beweissteilen für J als spirans auf s. 69 um die fälle,
wo g intervokalisch vor palatalen vokalen steht; sowol die Schreibungen isländischer
handschriften (z. b. seiir) als auch die moderne ausspräche, die ein so feiner pho-
netiker wie Henry Sweet in diesen fällen konstant als halbvokal, nicht als spirans
notiert — vgl. z. b. die Specimens of Icelandic in seinem Handbook of Phonetics —
machen rätlich, diese fälle von den übrigen abzusondern) u. dgl. m. Seit dem
erscheinen des buches sind teils direkt durch recensionen berufenerer fachmänuer,
als referent es ist, teils indirekt durch verschiedene abhandlungen und werke, von
denen besonders Gislasons Udvalg af oldnordiske skjaldekvad zu nennen ist, ver-
schiedene einzelheiten im darstellenden teile korrigiert und überholt worden; dieser
umstand verwehrt mir, der ich erst in letzter stunde als ersatzmann die anzeige des
buches ühernommen habe, vom heutigen bereicherten Standpunkte unsres wisscns
aus ein vor di'ei jähren erschienenes buch in einzelheiten zu kritisieren, über die der
Verfasser selbst inzwischen seine meinung berichtigt haben dürfte. Es liegt in der
art eines solchen grammatisch -statistischen Werkes, dass seine mängel mehr ins äuge
fallen als der nutzen, den es gewährt. Dieser nutzen wäre noch grösser gewesen,
wenn der Verfasser das ganze material in sein Eimarium aufgenommen hätte; doch
auch so bleibt neben dem verfrühten und unzulänghchen in der arbeit der wert der
tatsächlichen beobachtungen und belege bestehen und gibt dem Verfasser das anrecht
auf dankbare anerkennung seiner mühe.
BRESLAU. 0. JIRICZEK.
über den einfluss des hauptsatzes auf den modus des nebensatzes im
gotischen. Von prof. dr. V. E. Mourek. Aus den Sitzungsberichten der königl.
böhmischen gesellschaft der Wissenschaften; vorgelegt am 5. december 1892 (s. 263
bis 296).
In meiner abhandlung „Der gotische Optativ" (Ztschr. YIII, 1 — 38) habe ich
in bezug auf deL einfluss des hauptsatzes auf den modus des nebensatzes folgende
regeln aufgestellt:
1. (Bedingungssatz.) Fällt die bedingung in die zukunft, oder widerholt sich
dieselbe in gegenwart und zukunft, und enthält der hauptsatz den imperativ oder den
ÜBER M0URE6, GOt. MODÜSLEHRE l3l
adliortativus, oder ist er selbst ein fmalsatz im Optativ, so schien dem Goten auch
die bedingung, von der jener abhängt, in die spliäre des gedachten zu gehören, und
der Sprachgebrauch erforderte den Optativ. Dasselbe gesetz gilt von den relativ- und
temporalsätzen und ist auch im ahd. in kraft (s. 26).
2. (Relativsatz.) Häufiger findet sich, wie im ahd., der Optativ in solchen
relativsätzen, die einen künftigen oder in gegenwart und Zukunft sich widerholenden
fall bezeichnen, an den, wie an eine bedingung, das eintreten der handlung des
hauptsatzes geknüpft ist; an die stelle des saei könnte jabal has treten, und im
griechischen steht oder müsste doch nach dem klassischen sprachgebrauche «V mit
dem conjunctiv stehen. Auf diese relativsätze also findet die regel der bedingungssätze
anwendung: sie stehen bei nachfolgendem (richtiger „übergeordnetem") imperativ,
adhortativus und bei übergeordnetem finalsatze im optativ. Doch ist wahrzunehmen,
dass die regel nicht ganz so streng durchgeführt ist, wie bei den bedingungssätzen
(s. 33).
3. Der optativ steht ferner ausnahmelos im relativsätze, wie im ahd., wenn
die existenz des im relativsätze umschriebenen begriifes durch eine negation im
hauptsatze geleugnet oder durch die fragende (hypothetische) form desselben als
unsicher hingestellt wird (s. 35).
4. (Temporalsatz.) Ganz wie im bedingungs- und relativsätze steht der opta-
tiv bei bipe und pan, wenn der hauptsatz eine aufforderung enthält oder ein finalsatz
übergeordnet ist und der nebensatz ein einzelnes künftiges oder in gegenwart und
Zukunft sich widerholendes ereignis bezeichnet (s. 37).
Ganz ähnliche sprachliche erscheinungen hat 0. Erdmann bei Otfrid und ande-
ren ahd. Schriftstellern, auch im mhd., teilweise sogar im nhd. nachgewiesen, s. Unter-
suchungen über die syntax Otfrids § 232 fgg. ; Grundzüge der deutschen sjTitax § 192
fgg. Vgl. auch für das mhd. Bock, QF. 27 (Strassburg 1878); Weingartner,
Programm Troppau 1881, sowie die eingehenden Untersuchungen von Ullsperger,
Programme des staatsgymnasiums in Smichow 1884 — 1886.
Gegen meine aufstellungen wendet sich der in der Überschrift bezeichnete auf-
satz Moureks. Monrek leugnet zwar die „assimilierende" kraft des Optativs im
hauptsatze nicht ganz, schreibt ihr aber geringe Wirksamkeit zu; zur erklärung des
Optativs im nebensatze komme man überall mit dessen eignen umständen aus. Dem
imperativ im hauptsatze erkennt er eine einwirkung auf den modus des hauptsatzes
gar nicht zu, der negation nur eine beschränkte.
Seine darlegung hat mich nicht überzeugt, und es liegt mir ob, das, was ich
vor 17 Jahren behauptet habe und noch für richtig halte, zu verteidigen. Zuvörderst
ein Zugeständnis: um möglichen misverständnissen vorzubeugen, hätte ich auf s. 26
vielleicht das dort aufgestellte gesetz so fassen sollen: Fällt die bedingung in eine
noch nicht gewisse Zukunft oder widerholt sich dieselbe in gegenwart und Zukunft,
und enthält der hauptsatz den imperativ oder den adhortativus, oder ist er selbst ein
finalsatz im optativ, so pflegt der Gote im nebensatz, wenn dessen Inhalt es
gestattet, den optativ zu setzen. Dass ich nicht meinte, der optativ stehe auch im
widerspruclie mit der beschaffenheit des nebensatzes und mit der logik, ergibt sich
übrigens aus meiner darstellung auf s. 27 von selbst.
Eine erklärung der erscheinung versucht Erdmann in den Grundzügeu § 196.
Ich möchte noch einen versuch zur erwägung geben. Wilmanns gibt in seiner Deut-
schen grammatik s. 194 folgende erklärung des Timlauts: Das i wurde in der weise
in die Stammsilbe aufgenommen, dass die zuuge, noch ehe sie den trennenden konso-
9 *
132 BERNHARDT
nanten artikulierte, schon die Stellung, die das * verlangte, einzunehmen trachtete.
"Was hier auf phonetischem gebiete vorgieng, könnte sich auch auf dem logischen
ereignet haben; nämlich der dem gebiete des vorgestellten angehörige, fast immer
nachfolgende hauptsatz könnte den nebensatz in dies gebiet hineingezogen haben.
Freilich darf man sich den Vorgang nicht als ganz unbewusst denken; das beweisen
die wol überlegten, von mir auf s. 27. 34 angeführten ausnahmen.
Mourek handelt zuerst von den bedingungssätzen. Den s. 36 von mir
angeführten belegen für das aufgestellte gesetz habe ich 11 ausnahmen gegenüber-
gestellt, die teils darauf beruhen, dass die bedingung zweifellos tatsächlich ist (z. b.
Joh. XVIII, 8 jahai nu mik sokeip, let/'ß paus gaggan ü — LrinTTt), wohin die fäUe
mit dem Präteritum gehören (z. b. Eöm. XI, 17 jabai simiai pize aste usbrnknode-
dun, ip pu intrusgips tcarst — ni Ivop ana paus astans), oder dass sie, entspre-
chend der ansieht des angeredeten, für den augenblick als tatsächlich angenommen
wird (hierher auch das von mir übersehene Mt. XXVII, 42), teils, wie ich damals
annahm, auf nachlässigkeit des Übersetzers oder unrichtiger Überlieferung zurückzu-
führen sind (Eöm. Xni, 4. I. Kor. VII, 12 gatcilja ist. 11. Kor. X, 7; bei über-
geordnetem finalsatze IL Kor. IX, 4). Mourek hat noch drei weitere, von mir über-
sehene stellen dieser art nachgewiesen (I. Kor. VII, 15. 21. Gal. V, 15). Sehen wir
von den fällen wirklicher oder angenommener tatsächlichkeit ab, so stehen den 36
von mir gegebenen belegen 7 ausnahmen gegenüber; meine behauptung (s. 27) „die
ausnahmen sind selten" dürfte demnach unanfechtbar sein. Über einige von Mourek
falsch ausgelegte stellen s. unten.
Über die ausnahmen darf man sich nicht wundem; sie stehen in gleicher reihe
mit manchen anderen grammatischen Unregelmässigkeiten der gotischen Übersetzung.
Wulfila fand keine litteraiisch durchgebildete und gefestigte spräche vor; wenn er
nicht überall mit strenger folgerichtigkeit verfährt, so ist sein werk im ganzen darum
mcht weniger der bewunderung wert. Vielleicht ist daher der verdacht imrichtiger
Überlieferung für jene stellen unbegründet.
Neben diesen ausnahmen fühi't Mourek als beweis gegen das von mir aufge-
stellte gesetz ferner an, dass der modus des nebensatzes neben imperativischem haupt-
satze bisweilen wechsele, welche fälle ich auf s. 27 einzeln erklärt habe; ferner, dass
sich der optativ des nebensatzes auch bei indicativ im hauptsatze finde (s. meine
abhandlung s. 24), was niemand als beweis gegen meine ausführungen ansehen wird;
endlich, dass der optativ des nebensatzes in allen fällen aus dessen eigner beschaf-
fenheit erklärbar sei: er sei entweder euktiv (d. h. er drücke, neben der bedingung,
den wünsch des redenden aus), oder dubitativ (d. h. er stelle die bedingung als
zweifelhaft hin), oder potential. Die beiden letzten kategorien fallen im gründe
zusammen; die erste erkenne ich nicht an: ich glaube nicht, dass ein bedingimgssatz
seiner form nach so gestaltet werden könne, dass daraus der wünsch des reden-
den, die bedingung )nöge sich verwirklichen, zu erkennen sei. „Euktiv" soll z. b.
sein Mc. IX, 22 Jabai mageis, hilj:) unsara; wenn ich Mourek recht verstehe, soU
also jabai mageis dort bedeuten: „wenn du kannst — und, dass du könnest, wünschen
wir." Dies halte ich für undenkbar. Auf solche weise erkläi't Moui-ek Joh. XII, 26,
eine stelle, die ich als deutlichen beweis für den einfluss des adhoiiativus her-
vorgehoben hatte: y, jabai niis Ivas andbahtjai (und das wünsche ich), mik laist-
jai — jah jabai has mis andbahteip (ob er's tut oder nicht, ist seine Sache,
ich will es nicht entscheiden, aber sicher ist:) swcraip ina atta.'^ Ist das artd-
bahtjan an zweiter stelle wemger wünschenswert, als au der ersten? Woher denn
ÜBER MOUREK, GOT. MODÜSLEHEE 133
die verschiedene Wendung des gedankens, wenn nicht der einfluss der verschieden
gestalteten hauptsätze siö hervorrief?
Potential, d. h. subjektive annähme und ungewissheit über das eintreten der
bedingung ausdrückend, ist der optativ des nebensatzes in allen diesen fällen. Ob
er auch „ironisch potential" sein könne [jabai has habai ausona hausjandona
„wenn jemand etwa obren hat zum hören — und er düi'fte sie wol haben" s. 272)
ist mir sehr zweifelhaft.
Drei stellen, die Mourek unter den ausnahmen aufführt, hat er entschieden
falsch aufgefasst. Zu Joh. IX, 22 gaqepun sis Judaieis, ei, jabai has ina and-
haihaiti Xristu, titana synagogais wairpai bemerkt er, jabai has andhaihaiti sei ein
irrealer Vordersatz, was undenkbar ist; in direkter rede würde es heissen: jabai has
ina andhaitai — wairpai. ü. Kor. XI, 20 {uspulaip, jabai has i^vvis gapiwaip
gehört nicht unter die ausnahmen von meiner regel, denn uspulaip ist, wie das
griechische uvs/tadt yÜQ beweist, indicativ. II. Kor. XIII, 5 gehört ebenso wenig
dazu; der satz mit nibai (nisi forte — ) ist von den imperativen fraisip und kauseip
durch einen Zwischensatz getrennt, so dass jene keinen einfluss üben konnten.
Auf s. 271 'snrft mir Mourek Widerspruch vor; y^jabai mit optativ", sagte ich
s. 24, „bezeichnet die becUngung als rein gedacht; ob sie sich verwirklichen kann
oder nicht, kommt nicht in betracht." Dies soll sich mit s. 2 nicht vereinigen: „Es
findet (beim optativ) ein subjektiver anteil des redenden von grösserer oder geringe-
rer stärke statt, durch welchen sich die aussage als wünsch, geheiss, Vermutung
oder annähme darstellt." Unter „annähme" verstand und verstehe ich, was ich s. 24
als „rein gedacht" bezeichnete, z. b. ti tu tihqu rolg ülloig eiSeirjg xuxk, äa/xevoe
t^oig iiv, NixoqGiv, il vOv f/tt,g (denken wir uns einmal, nehmen wir an, dass — ).
Über den unterschied dieser satzart von jabai = ti mit indicativ (eines haupttempus)
möge sich Mourek aus einer beliebigen schulgrammatik , z. b. der griechischen von
Curtius § 536. 546, oder aus meiner gotischen § 182 unterrichten. Bei seiner defini-
tion der letztgenannten satzform (s. 268) vermisse ich klarheit.
Ich gebe noch folgende zalilen zur erwägung: jabai mit indicativ des präsens
findet sich nach Schulze Glossar 136 mal, teils giiechischem al mit indicativ des prae-
sens, teils idv mit conjunctiv des praesens oder aorists entsprechend. Mit dem opta-
tiv des praesens steht jabai 48 mal; danmter 36 mal so, dass imperativ oder adJior-
tativus oder ein finalsatz im optativ übergeordnet ist; da ist doch wol der schluss
gerechtfertigt, dass nicht zufall gewaltet hat, sondern ein sprachliches gesetz vorliegt.
Im zweiten abschnitt redet Mourek von den relativsätzen. Wie ich auf
s. 32 deutlich gesagt habe, handelt es sich dabei mn die relativsätze , die einen künf-
tigen oder in gegenwart und Zukunft sich widerholenden fall bezeichnen und durch
einen bedingungssatz ersetzt werden können. Den unterschied zwischen Sätzen, wie
„wer gestohlen hat, ist ehrlos" und „dieser mann, der gestohlen hat, ist ehrlos"
scheint aber Mourek nicht anzuerkennen; indem er es unternimmt meine regel, dass
jene hj^othetischen relativsätze im optativ stehen, wenn ein imperativ oder adhorta-
tivus oder finaler optativ übergeordnet sei, zu widerlegen („von einer solchen regel
kann gar nicht die rede sein"), führt er eine menge von beispielen an, die gar nicht
hierhin gehören, weil der relativsatz teils tatsächliches aus der gegenwart enthält,
teils sogar vergangenes bezeichnet; diese stellen soUen beweisen, dass der modus des
hauptsatzes ohne einfluss sei! Schon sein erster beleg gehört nicht hierher: in Mt. X, 27
patei qipa izwis in riqi%a, qipaip in liuhada (o Hym, nicht « uv h'yw) bedeutet
patei qipa ixtcis „das, was ich euch (jetzt tatsächlich) sage", nicht „was ich euch
134 BERNHARDT
künftig etwa sagen werde." Ebenso unrichtig ist das zweite beispiel gewählt, mit
dem praeteritum : Mc. I, 44 athair fravi gahraineinai peiiiai patei anabau]) Moses.
Moureks auf solche belege begriindete beweisfühi'ung ist daher durchaus hinfällig.
Dass das gesetz nicht ohne ausnähme durchgeführt ist, dass zuweilen, wo man den
Optativ erwartet, der futurische indicativ des praesens steht, habe ich selbst s. 34
anerkannt.
Auch dass bei übergeordnetem finalsatze im relativsatze der optativ stehe,
leugnet Mourek; aber auch hier hat er seine belege zum teil übel gewählt. In
Joh. V, 36 {po waurstwa, poei atgaf viis atta, ei ik iattjau po) ist nicht der final-
satz, sondern der relativsatz übergeordnet. In Kol. IV, 16 (aipistaule) poei ist us
Laudeilcaion {ei) jus iissiggivaid liegt kein hypothetischer relativsatz vor; ebenso
wenig Mc. X, 35. II. Kor. XII, 6. I. Thess. IV, 12. Mehrere belege waren am
praeteritum als nicht hierher gehörig auf den ersten blick zu erkennen.
Bei Moureks eigener erklärung der optative wird der euktiv wider mit heran-
gezogen, z. b. Phil. 3, 15 swa managai sive sijaima fullawitans, pata hugjaitna
(also „aUe, die wir vollkommen sind", mit dem nebengedanken „dass wir es doch
alle wären?"). In I. Thess. V, 21 pata gop sijai gahabaip soll sijai potential, in
Eph. V, 10 galciiisandans patei sijai ^cailagaleikaip fraujin dubitativ sein; ich ver-
mag keinen unterschied zu erkennen.
Noch auffallender als in deu bisher besprochenen abschnitten tritt Unklarheit
des grammatischen wissens und denkens in dem hervor, was Mourek über den opta-
tiv nach negativem hauptsatze sagt. In dem satze Luc. I, 61 ni ainshun ist in
kunja peinanima saei haitaidau panuiia namin trifft die negatiou den Inhalt des
nebensatzes: das nennen mit diesem namen findet nicht statt. Dagegen Mt. X, 37
saei frijop attan seinana aippau aipein seina ufar mik, nist meina tvairps trifft
sie ihn nicht: es sind ja fälle vorhanden, in deuen das mehr -lieben stattfindet, vgl.
Joh. XII, 35 saei gaggip in riqixa, ni wait hvap gaggip usw. Nur auf jene erste
gattung von sätzen bezieht sich meine regel, dass hier der optativ stehe; sie erleidet
keine ausnähme; die von Mourek zur Widerlegung angeführten beispiele gehören
sämtlich der zweiten an, soweit sie nicht — ein ebenso auffallender Irrtum — indi-
rekte fragesätze, nicht relativsatze, sind, wie Joh. VII, 27 Xristus bipe qimip, ni
manna wait, hapro ist.
Bei übergeordneter frage ist zu unterscheiden , ob die frage negativen sinn hat
und rhetorisch ist, und ob die darin liegende negatiou sich auf den nebensatz erstreckt;
in diesem falle ist der optativ erforderlich, z. b. IL Kor. XII, 13 Jua ist pizei icanai
weseip „ihr habt nichts entbehrt"; II, 2 hvas ist saei gailjai mik „niemand erfreut
mich." Ganz anders geartet sind fälle, wie Lc. XX, 2 has ist saei gaf pus pata
tcaldufni, denn das geben hat stattgefunden; vgl. Lc VI, 3 niu pata ussnggtvud
patei gatatcida Daveid usw. Auch hier wirft Mourek die verschiedenen arten durch
einander; doch hat er eine von mir übersehene ausnähme von meiner regel ange-
führt: I. Kor. IV, 7 ha habais patei ni namt, wo man nemeis erwartete
Ebenso wenig glück wie mit den relativsätzen hat Mourek mit den tempo-
ralsätzen gehabt. Meine behauptung ging dahin, dass temporalsätze der zukunft
mit pan und hipe bei übergeordnetem imperativ, adhortativus, finalsatze im optativ
1) In meiner abhandlung hätte ich die anders gearteten sätze Lc. VII, 49 has
ist sa saei fratvaurhtins afletai und Mc. XIV, 14 ](;ar sind salipivos parei paska
— matjau unterscheiden sollen; afletai drückt, wie Mourek richtig sagt, den zweifei
der pharisäer aus; parei matjau „wo ich essen könnte".
ÜBER MOUREK, GOT. MODUSLEHRE 135
stehen. Dass bei unte und und patei der Sprachgebrauch zwischen optativ und
(fiiturischem) praesens schwankt, habe ich selbst konstatiert. In einem falle I. Kor.
XIV, 26 Jva nu ist, pan satnap garinnaip? nahm ich eiufluss des fragenden haupt-
satzes an^. Von einer einwirkung der negation im hauptsatze habe ich überhaupt
nichts gesagt; sie könnte bei temporalsätzen nur in Verbindungen wie griechisch ovx
fOTiv önÖTi eintreten, und solche kommen nicht vor.
Mourek will zuerst beispiele des indicativs nach hortativem hauptsatze anfüh-
ren; mit pan ist nur ein von mir erwähntes zu finden: Mc. XIII, 29 swah jah jus,
pan yasaUvip pata icairpan, Imnneip, wo Mourek erklärt: „gesetzt den fall, ihr
sehet dies werden", eine hypothetische bedeutung, die pan nicht hat; vielmehr
scheint der indicativ des praesens das zweifellos in zukunft zu erwartende zu bezeich-
nen, wie Mc. XII, 23 in pixai tisstassai, pan tisstandand , harjamma ixe icairpip
qens und sonst. Sodann folgen beispiele des indicativs neben fragendem hauptsatze,
die wider zum teil ein praeteritum enthalten, also gar nicht hierher gehören; dann
eine aufzählung von temporalsätzen im indicativ nach negativem hauptsatze, dessen
„negation offenbar auch den Inhalt des nebensatzes trifft"; hierbei herscht dieselbe
Unklarheit, wie bei den relativsäten, vgl. Mc. XII, 25 pan tisstandand, ni liugand
ni liufjamla. Mt. XXVII, 12 mippanei ivrohips vas, ni waiht andhof. Wie Mou-
rek meinen konnte, der nebensatz werde hier von der negation des hauptsatzes be-
troffen, ist mir unverständlich. Dass die von finalsätzen abhängigen temporalsätze
im optativ .stehen, wofür ich neun belege angab, „ist gewiss nur zufall".
Bei Moureks eigener erklärung des optativs in temporalsätzen tritt auch hier
der „euktiv" mit auf, z. b. Lc. I, 20 sijais pahands und pana dag ei wairpai pata,
bei dem worte des engeis an Zacharias: er würde also sagen: „sei stumm bis
auf den tag, da dies geschieht, und dass es geschehe, wünsche ich." Das heisst
zwischen den zeilen lesen.
Ich kann auch bei diesem abschnitte nicht finden , dass das von mir behauptete
von Mourek irgendwie widerlegt wäre.
Es folgen nun die aussagesätze-, d.h. die von einem verbum der rede, der
Wahrnehmung, des wissens und meinens abhängigen nebensätze mit ei, patei und die
sogenannten indirekten fragen. Mourek erklärt hier den optativ „in den meisten fäl-
len" für dubitativ, indem der redende seine zweifei über die richtigkeit der aussage
andeute (s. 289); in anderen fällen sei er „eher potential" (s. 291), wie Mt. IX, 28
ga-u-laubjats patei magjaio pata taujan? Nach den verben des woUens und der
willensäusserung soll er „euktiv (hortativ, final)" sein; fallen diese drei kategorien
zusammen? Als final betrachtet Mourek eigentümlicher weise (s. 292) auch die Opta-
tive, wie Mc. VT TT, 2 ni haband hra matjaina. Was die von verben der rede, der
Wahrnehmung, des wissens und meinens abhängigen Sätze betrifft, so stimmt Moureks
ansieht mit der meinigen (s. 12. 13) und der Erdmanns (Grandzüge § 198, nicht 194,
1) Ich glaube jetzt eher, dass hier ein Schreibfehler (für garinnip vorliegt;
den Optativ weiss ich nicht zu erklären. Gelegentlich bemerke ich gegen Mourek,
dass pande(i) stets causal, nicht zeitpartikel ist; Job. XII, 35. 36, wo es für *ws zu
stehen schien, haben die besten handschriften und namentlich der Alexandrinus , der
dem gotischen texte am nächsten steht, <h;, wonach meine ausgäbe zu berichtigen ist.
2) Der begriff „aussagesatz" ist hier über das ihm dem Wortlaut nach zukom-
mende gebiet ausgedehnt, eine ungenauigkeit, deren ich mich selbst (s. 12) schuldig
gemacht habe. Mourek rechnet hierher auch die nebensätze nach verben des wollens und
der willensäusserung, wie befehlen, bitten u. dgl. Auf keinen fall durfte er Lei, 43
hvapro mis pata, ei qemi aipei fraujins meinis at misY hierher rechnen (s. 289).
136 BERNHARDT
■wie Mom-ek s. 285 citiert. 196. 197) überein; das Verhältnis des redenden zu der von ihm
berichteten aussage oder meinung, seiu fürwahrhalten oder sein zweifei und seine
Verwerfung sind es, die den modus bestimmen. Nur in wenigen fällen (s. 14) glaubte
ich den optativ aus dem Verhältnis grammatischer abhängigkeit an sich, und in der
indirekten frage (s. 17) durch den einfluss eines übergeordneten Optativs erklären zu
müssen. Man sieht unter diesen umständen nicht, welchen gegner Mourek (s. 285
,die regel (welche?) wird vollkommen hinfällig") zu widerlegen sucht, indem er eine
lange reihe von aussagesätzen und indirekten fragen im indicativ neben adhortativem,
fragendem, finalem, hypothetischem hauptsatze aufzählt; die indicativischen aiissage-
sätze nach negativem hauptsatze will er nur anführen, ohne viel gewicht darauf zu
legen, da man überall darauf hinweisen könne, dass die negation den Inhalt des
hauptsatze s nicht direkt treffe. Ich will noch bemerken, dass er die deliberativen fra-
gen von den in seinem sinne dubitativen hätte scheiden sollen: Phü. I, 22 hapar
waljau, ni kann enthält einen anderen optativ als Mt. XXVII, 49 Ict ei sailvam
qimaiii Helias nasjan ina.
Im letzten abschnitt handelt Mourek von den folgesätzen und sucht auch
hier nachzuweisen, dass kein erufluss des hauptsatzes stattfinde und der modus sich
ausschliesslich nach dem inhalt des nebensatzes selbst richte. In der tat ist ein sol-
cher einfluss kaum wahrnehmbar und der indicativ überwiegend; einige fäUe des
Optativs nach sivaei, sivasice glaubte und glaube ich jedoch durch das Verhältnis gram-
matischer abhängigkeit erklären zu müssen (s. 22) und kann Moureks auslegung nicht
billigen; IL Kor. VIII, 5. 6 z. b. kann der optativ sicaei bedeima unmöglich final
sein. II. Kor. I, 8 ufarassau kauridai wesum ufar mäht, stvasive skaniaidedeivia
uns jah liban erklärt er „so dass wir uns bald (d. h. beinahe) geschämt hätten";
der ausdruck des „beinahe" dürfte dann nicht fehlen. Eher kann ich mich mit seinen
bemerkungen zu Eöm. VII, 6 (sicaei skalkinoma beabsichtigte folge) und II. Kor. III, 7
{sicaei ni mahtedeina sunjus Israelis fairiveitjan „so dass — nicht im stände gewe-
sen wären") befreunden.
Zum schluss werden die elliptischen sätze mit ni patei (peei) besprochen, die
Mourek als causal betrachtet. Unzweifelhaft ist Joh. VI, 26 causal, wo der indicativ
steht; nicht wol denkbar aber z. b. Phil. IV, 11. 17. Ich glaube nach wie vor, dass
diese sätze eine irrige ansieht ablehnen sollen und dass man sie sich durch qipa oder
skal ahjan (man muss annehmen) vervollständigt zu denken hat.
Am Schlüsse meiner beurteilung angelangt, fasse ich meine meinung dahin
zusammen: was Mourek in betreff der bedingungs-, relativ- und temporalsätze hat
beweisen wollen, hat er nicht bewiesen; seine ansichten über aussage- und folgesätze
enthalten nichts wesentlich neues.
Die erneute beschäftigung mit der frage, inwiefern im deutschen der haupt-
satz auf den modus des nebensatzes einwirke, hat mich veranlasst die gedichte "Wal-
thers von der Vogelweide daraufhin durchzusehen^; ich glaubte schon längst
bemerkt zu haben, dass im mhd. wesentlich derselbe Sprachgebrauch hersche, wie
im gotischen und ahd. Dies hat sich bestätigt, und es sei mir gestattet für die Über-
einstimmung einige belege zu geben. Die stellen eitlere ich nach Lachmanns ausgäbe.
Bedingungssätze, die einem imperativ untergeordnet sind, stehen im optativ:
50, 33 sich nider an inmen fuoz,, so du ba§ enmügest. 85, 34 froice'n lät iueh
[1) Vgl. auch die dissertation von Knepper, Tempora imd modi bei Walther
von der Vogelweide. Münster 1889. Nicht alle hierher gehörige fälle sind dort
genügend erwogen. o. e.]
ÜBER MOUREK, GOT. MODUSLEHRE 137
niht verdrießen mtner rede, ob si gefüege st. 69, 16 iceliest du mir helfen, so
hilf an der xtt; si abe ich dir gar immaxe, daz, sprich endeliche.
Ebenso neben adhortativem optativ: 74, 6 st mir ienian lieber, viaget oder
wtp, diu helle müe^e mir gezemen.
Neben optativischem nebensatze: 28, 24 st abe er so here, daß er däzuo sitze,
so tv ansehe ich, daz, stn ungetriuive zunge müeße erlamen.
Relativsätze neben imperativ stehen im optativ: 55, 6 nü tuo mir, stvie du
ivellest. 19, 37 iiol üf, siver tanzen welle nach der gtgen!
Ebenso nach wünschendem oder aufforderndem optativ: 19, 2 siver nu des
rtches irre ge, der schouwe, tcem der tveise ob stme nacke ste. 20, 4 der in den
oren siech von tingesühte st — daß ist tnin rät — der laß den hof xe Dürengen
fri. 11, 13 siver dich segene, si gesegent; siver dir fluoche, st verfluochet. Recht
bezeichnend ist 42, 15 siver verholne sorge trage, der gedenke an guotiu ivip: er
ivirt erlöst, verglichen mit 93, 17 siver guotes ivibes minne hat., der schämt sich
aller missetät.
Bei übergeordnetem optativischem nebensatze: 5, 15 nü bite in, daß er uns
geicer durch dich, des unser dürfte ger.
Wie im gotischen, so wechseln auch bei Walther zuweilen die modi neben
einem hauptsatze: 71, 14 der min ze friunde ger, und icil er mich gewinnen , der
laß alselhe unstcetekcit. Vgl. 29, 34,
Besonders auffallend sind einige stellen, in denen der optativ, infolge der
abhüngigkeit von einem imperativ oder optativ, über sein gebiet hinausgreifend, un-
zweifelhaft tatsächliches bezeichnet. So in dem gebet an Christus 24, 24 als ir
(der jimgfrau Maria) der hcilic enget pflcege — als pflig ouch min, und sogar in
einem causalsatze: 70, 35 so ich in underwilen gerne scehe, so ist er von mir
andersicä; stt er da also gerne st, so st oitch da. Vgl. die anmerkungen von Wil-
raanns in seiner ausgäbe zu 29, 26. 51, 22. Auch elliptischer ausruf pflegt den
optativ nach sich zu ziehen, selbst wenn er nicht, wie das oben angeführte wol üf,
swer tanzen welle nach der gtgen, eine auffordemng enthält. So 28, 21 er schale,
in swelhem leben er st, der dankes triege; 22, 31 er gouch, der für diu zicei ein
anderß kiese.
Die angeführten beispiele sind aus einer weit grösseren zahl ausgewählt. Aus-
serhalb solcher Satzgefüge ist der optativ des praesens im bedingungs- und relativ-
satze zwar nicht unerhört, aber selten; 41, 25 rüemcere-imid lügencsre, swd die sin,
den verbiute ich mtnen sanc, und ist äne minen danc, obs also vil genießen min.
29, 22 beltbe er dort, so lachent ir; kom er uns friunden wider hein, so lachen
wir. Unverständlich ist mir der optativ 5, 27 daß üß dem worte erwahsen st (Chri-
stus aus der verkündigimg), daß ist von kindes sinnen frt [s. Erdmann, Grundzüge
§ 203].
Unbedingt notwendig ist freilich der optativ des bedingungs- oder relativsatzes
nach übergeordneter aufforderung oder finalem optativ nicht, ebenso wenig wie er im
gotischen folgerichtig durchgeführt ist. Nicht häufig sind jedoch bedingungssätze, die
sich der regel entziehen, wie 95, 33 spotte er niht dariimhe min, ob im sin liep
iht liebes tuot. Relativsätze solcher art sind häufiger: 110, 22 daß müeße uns bei-
den wol werdeti vollendet, swes ich getar an ir hulde gemuoten. Wilmanns s. 135
swer küssen hie ze mir gewerben wil, der loerbe ab eß mit fuoge. Auch das go-
tische hat bei den retalivsätzen mehr ausnahmen,
138 SIEBS
Beim rückblick auf die gauze abhandlung erkenne ich an, dass Mourek auf
seine arbeit grossen fleiss verwant hat; aber es ist ihm, wie mir scheint, nicht gelun-
gen zu beweisen, dass im gotischen der modus des hypothetischen, relativen und
temporalen nebensatzes von dem des hauptsatzes ganz unabhängig sei, und seine
beweisfühiTiDg selbst verrät bisweilen unzureichende gi'ammatische Schulung.
Von demselben Verfasser liegt mir, ein beweis eifriger und fleissiger fortsetzung
seiner Studien, ein stattlicher quartband vor, betitelt: Syntaxis slozenych vet v
gotstine, erschienen in den Schriften der kgl. böhmischen gesellschaft der Wissen-
schaften, Prag 1893. IX und 334 s. 4. Ein auszug in deutscher spräche (Syntax
der mehrfachen sätze im gotischen) ist s. 287 — 334 angehängt, aus dem ich
hier nur entnehme, dass der Verfasser (s. 312 u. a.) die anschauungen der oben
besprochenen monographie im wesentlichen festhält. Auf s. 301 — 304 werden die
merkwürdigen gotischen beispiele von moduswechsel in beigeordneten sätzen scharf-
sinnig besprochen. Genauer auf das einzelne einzugehen muss ich mir hier versagen,
namentlich wegen meiner Unkenntnis der böhmischen spräche, in welcher der haupt-
teil des Werkes geschrieben ist. Doch bemerke ich, dass die gotischen belegstellen
in dem hauptwerke durchweg völlig ausgedruckt sind, so dass ein ungefährer über-
blick über den gedankengaug des Verfassers auch dem der böhmischen spräche unkun-
digen leser möglich wird. [Eben gieng mir noch zu: Mourek, zur syntax des ahd.
Tatian. Sitzungsber. der k. böhm. akad. vom 12. oktbr. und 17. decbr. 1894. Prag,
in comm. bei Fr. Eivnäc. 28 und 51 s. o. e.]
ERFURT IM OKTOBER 1894. E. BERNHARDT.
MISCELLEK
Zur altsächsisehen bibeldichtuii!?.'
Im folgenden will ich zu der in so vortrefflicher ausgäbe erschienenen altsäch-
sischen Genesis einige bemerkungen macheu, wie sie sich mir bei der Interpretation
und quellenforschung ergeben haben.
I. bruchstück.
Vers 10. Die handschrift hat thc: das abkürzungszeichen (meistens erscheint
es ja deutlicher, vgl. z. b. v. 305) glaube ich noch zu erkennen. Es liegt kein grund
vor, them in thes zu ändern, weil es von dem ags. Übersetzer missverstanden ist.
so7-ogon for thcvt siäa bedeutet „angst haben vor dem Schicksal". Dass s?(f auch im
as. in diesem sinne gebraucht werden konnte, dazu mussten Wendungen wie vers 1/2
uhilo gimarakot unkaro selbaro std führen; for mit dem dativ findet sich in der
gleichen bedeutung auch Hei. 4757 dröbde for themu döde.
Vers 12 fgg. In der Vulgata, der sich ja der dichter hauptsächlich anschliesst,
wird über die folgen des sündenfalles, von denen das erste bruchstück handelt, gar
nichts gesagt; ebensowenig in den lateinischen kommentaren zur Genesis. Gedanken,
1) Vgl. meine Übersetzung und abhandlung in der beilage zur AI lg. zeitung
vom 23. febr. 1895. — Ferner haben inzwischen über die as. Genesis gehandelt,
konnten aber im folgenden nicht mehr berücksichtigt werden: Koegel, E. , Gesch. d.
deutschen htteratur, ergänzungsheft. Strassburg 1895; Sijmons (Versl. en mededeel.
der kgl. akad. van wetensch. III. r. XI, 149 fgg. — mir leider noch nicht zugäng-
lich); Holthausen und Jellinek (Zs. f. d. a. 39, 52 fgg.; 151). Betreffs v. 10
ti-effe ich mit Koegel und — wie die red. mir gütigst mitteilt — • mit Sijmons, betreffs
v. 22 mit Koegel und Holthausen zusammen.
ZUR ALTSÄCHSISCHEN BIBELDICHTUNG 139
wie sie der Schilderung der hölle (v. 2 — 5) zu gründe liegen, mochten dem dich-
ter vielleicht aus manchen homilien geläufig sein, man vgl. z. b. den Homiliarius
des Paulus Diacouus nr. LX,LXn (Migne, Patrol. 95, 1206. 1209). Anders aber ist die
komposition in vers 14 bis 23 zu beurteilen: da ist doch gewiss eine in sich abge-
rundete dichterische vorläge anzunehmen. Sievers hat diese bekanntlich in den versen
des Alcimus Avitus III (de sententia Dei), 323 fgg. erkennen wollen, s. Mon. Germ,
auct. ant. VI, 2 pag. 233. Da heisst es: „Die elemente brechen ihre fesseln. Das
meer erregt der stürm, und es schwellen die wogen. Vom schwarzen himmel herab,
zur strafe für die undankbare menschheit, giessen die wölken hagelschauer, und
der himmel neidet der erde das griin. Ja die erde selbst erbebt und will trügerisch,
was auf ihr herrlich erwuchs, vernichten. Das war damals beschieden dem ersten
menschenpaare." Demgegenüber lässt der altsächsiche dichter den Adam klagen über
hunger und durst, über stürme von allen himmelsrichtungen , über hagelschauer und
kälte, über hitze, die sie nackt ertragen müssen, und über den mangel an allem
lebensunterhalt. Das einzige gemeinsame motiv sind also die hagelschauer. Ferner:
hätte der Sachse hier den Avitus benutzt, so würde er sich gewiss bei der Schilde-
rung der hölle (vers 2 fgg.) ebenfalls an ihn angeschlossen haben, vgl. v. 204 fgg.
Angusfatur Immus strietutnque gementibus orbem
Terrarum finis non cernitur et tarnen instat.
Squalet et ipse dies, caiisantur sole sub ipso
Subduetam lucem, caelo suspensa remoto
Astra gemunt tactusque prius vix eernitur axis.
Ich möchte vielmehr eine beeinflussung durch das gedieht i?i Genesin ad Leoneni
papam annehmen, welches im 5. jalirhundert von einem gewissen Hilarius* ver-
fasst ist. Es heisst da (ed. Peiper, Corp. Script, ecclesiast. XXIII, 237) v. 164 fgg.:
culpa comes sequitur, peccato obnoxia vita
debilitat vires, caelo venientia dona,
acthere demissus paulatini deficit ignis.
frigore peccati torpentia corda rigescunt:
cura cibi ventrisque subit et ciira legendi
corporis, et saeruyn subeunt mortalia pectus.
Ferner v. 175 fgg.
tum primiim venti coepere incunihere terris,
intempestivus descendere nubibics imber:
fulvmia tum pritnum caelo deieeta sereno^
horrida tum grando turbatos verberat agros.
tonitrua altisono infractus murmurat aether.
Vers 22. Ich vermute ni te skadowe ni te seüra, also einen vers nach
dem typus A; vgl. 231a, 272a. In zeile 9 der band schrift glaube ich hinter biuoran
drei m- striche und dann die reste eines t zu erkennen; das dann folgende deutliche
e und sk sowie meine weiteren ergänzungen stimmen zu Braunes angaben (s. 43).
Der sinn ist: „und wir haben hier keinerlei schütz, weder schatten (gegen die sonne)
noch schirm dach (gegen das Unwetter), und es sind uns hier keinerlei Vorräte zum
mahle gegeben, scür bedeutet, wie noch heute in ndd. gegenden, „schauer = schirm-
dach" und ist bereits von dem ags. Übersetzer misverstanden worden; scat fasse ich
nicht mit Braune als „geld", sondern allgemeiner als „besitz, verrat".
1) Keineswegs ist es Hilarius von Poitiers, wahrscheinlich auch nicht Hilarius
von Aiies (429 — 449); es hat im 5. Jahrhundert viele Hilarii in Gallien gegeben.
140 SIEBS
II. bruchstück.
Vers 32 — 42. Mit recht meint Braune (s. 33), dass es wenig nützen würde,
einzelne kleine gedanken des dichters als gelehrte reminiscenzen nachzuweisen. Ich
tue es hier auch nur, um zu zeigen, dass, wie der Verfasser des Heliand die expo-
sitiones zu den evaogelien, so der dichter des alten testamentes die Genesiskommen-
tare (etwa des Isidor, Beda, Alkuin, Hraban und Angelom) benutzt hat. Welche
von diesen erklärungen ihm vorgelegen haben, wissen wir natürlich nicht; wir sehen
nur, dass ihm die in jenen kommentaren stets aufs neue widerholten deutungen
bekannt waren. So wird die frage Gottes (v. 32/33) durch den zorn motiviert, vgl.
z. b. interrofjat Dens Cain non tamquam ignarus eum^ a quo discat^ sed tam-
quam iudex reum ^ quem ptmiat (Beda, Alkuin und Hraban , Migne 91 , 66; 100, 525;
107, 504). Ebenso vgl. zu v. 40 — 42 z. b. Isidor (a. a. o. 83, 224) fallax enim Cain
inierrogatio oder Beda's Hexaemeron (91, 66) {responsio) stuUa, cum illum falli
posse piäabat oder Alkuin, Interr. et respp. in Genesiu (100, 525) cui Cain ad
cumuluni peccati sui fallaciter ae süperbe respondit ; vgl. Angelom, Migne 115, 148.
Es ist nun auch begreiflich, dass der dichter gerade solche stellen der Vulgata,
die den kommentatoren Schwierigkeiten machten, fortgelassen hat, vgl. unten v. 164 fgg.
277 fgg.
Vers 72 fgg. Höchst auffällig ist die fassung des urteils: dem mörder,
der zur strafe friedlos, also doch flüchtig (\gl. ags. fli/ma) sein müsste, wird friede
gesetzt, und in frieden (an treuiva) mag er leben; dann aber heisst es fluhtik scalt
tim endi freäig libbian. Eine solche Inkonsequenz sollte man dem dichter, der sich
im Heliand mit den schwersten Widersprüchen gewant auseinandersetzt, nicht zu-
trauen! Auch der ganze folgende abschnitt fällt gegen das übrige werk bedeutend
ab: die übermässig breiten klagen v. 87b bis 95a könnte man ohne schaden entbeh-
ren, und die langweiligen widerholungen (v. 103 fgg. und v. 115 fgg.) sind ebenso
unbegreiflich wie die plumpe anknüpfung v. 140.
III. bruchstück.
Vers 160 fgg. Dass — wie Braune meint — die auffassung des wertes
tabernaculuni im kirchlichen sinne zu der Schilderung des opfers geführt habe, ist
nicht notwendig: der dichter hat wahrscheinlich an die erwähnung des altars in Mamre
(Gen. 13, 8) angeknüpft.
Vers 164 fgg. Abraham erbhckt die drei engel und geht ihnen entgegen,
verneigt sich aber vor Gott allein. Die göttliche einheit gegenüber der dreiheit
(bekantüch wird diese stelle von den kommentatoren mystisch auf die dreieinigkeit
gedeutet) ist schon v. 158 hervorgehoben worden. Eine parallele dazu bietet Clau-
dius Marius Victor in seiner Alethia III, 644 fgg. (ed. Schenkl, Corp. Script, eccles.
XVI, 431): itixta aedes quippe scdenti
Tres subito adstiterimt augusta luee mieantes.
Abraham tanti stimidatus imagine uisus
procurrit dominumque solo prostratus adorat
tmurn, cwn tres miretur
Mit Cl. Marius Victor hat unser dichter ferner gemein, dass er die Verhandlungen
zwischen Gott und Abraham bedeutend abkürzt, vgl. 673 fgg. :
ultro ausus doininum scitari, an perderet nrbem
errantis populi per erimina cuncta noeentum,
quinquaginta probos ciues si forte tidisset.
ZUR ALTSÄCHSISCHEN BIBELDICHTUNG 141
„non perdani'^ dixit. dehinc percunctatio blanda
deducens sensini nuvierimi ueyiimnque lacessens
suppliciter simimasque ipsis minuente reeursu
ttsque decem meruit responsum auferre parentis,
et ne se totam domini dementia mitis
proderet, in medio famulum sermone reliquit
tendentem ulterius seque in sua regna recepit.
Yers 180. feivardaft als „priester" oder „männer des rechtes" aufzufas-
sen, gibt gar keinen sinn. Einmal wären doch diese , gerechten" der strafe nicht mit
verfallen gewesen, dann aber sind es auch nach der allgemeinen auffassung die sün-
digen Sodomiten, deren geschrei zum himmel dringt, vgl. z. b. Alkuin, Interr.
et respp. in Genesin (Migne 100, 542): quaeritur quare de coelo vindicta data est
super habitatores impios civitatum illarutn? Quia clarnor peccantium in
coehim ascendisse dicitnr; idcirco de coelo puniendi erant. Ich halte nun zweier-
lei für möglich: entweder ceuuardas steht für euuua^-das und ist adverbialer genitiv
wie fonlwardas „immerzu"; oder — und damit wäre auch die Schwierigkeit der
alliteration gelöst — in der vorläge stand divarda, nom. plur. part. praet. zu
äiverdian, also „die verderbten". Das accentuierte d konnte leicht als ^e verlesen
werden (vgl. amnierdit v. 125 und Braunes anmerkung dazu), und damit lag das mis-
verständnis nahe. — Erwähnt sei nebenbei, dass bei Bosworth- Toller s. 25 im ags.
m-iverd verzeichnet und als „gesetzbrecher" gedeutet ist; ein citat fehlt leider.
Yers 277 fgg. Hier ist ebensowenig wie in vers 167 fgg. von der bewirtung
der engel die rede (Gen. 18, 4 fgg. 19, 3 fgg.). Das scheint auf den einfluss der
kommeutare zurückzugehen, die sich zu erklären mühen, was immer der göttlichen
natur zu widerstreiten scheint. So fehlt auch die erwäliniuig Segors als einer ocea-
sio infidelitatis (Alkuin, Interr. et respp. 100, 542) u. a. m. Ich darf es mir ver-
sagen, die einschlagenden stellen der kommentare hier alle anzugeben.
Vers 287. Gemäss der forderung des typus C lese ich fora daga hicoani
„vor tage der hahn." Die handschrift widerspricht dem durchaus nicht, es kann
hier mit demselben rechte hiioani gelesen werden wie etwa vers 240 tehani. Das
tioa statt 0 macht keine Schwierigkeit, vgl. diioas diioan v. 19ß. 233. Und dass
man das neutrale hon (gen. comm.) „huhn (hahn, henne)" mit dem maskuliusuffix der
y«- stamme versah, um mit honi den hahn zu bezeichnen, ist doch nicht minder begreif-
lich als wenn z. b. ahd. kalba für vitula gebraucht wird. Übrigens scheint im Har-
lingischen Ostfriesisch ein ganz ähnlicher fall vorzuliegen, wenn bei Cadovius - Müller
heijne „die henne" heisst (auf altes Vwnjo- zurückweisend). — Mit der ansieht GaUee's
dass hier dem sinne nach ein wort für hahn nicht am platze sei, kann ich mich
ebensowenig befreunden wie mit der gewaltsamen konjektur liomon (Tijdschrift v.
nederl. taal- en letterkunde, letztes heft). Die Umschreibung üldfugal verlaugt
meinem gefühl nach geradezu die aufnähme jenes begriffes durch die geläufigere
bezeichnung.
Yers 321 fgg. lese ich:
al tcard farspildit
Sodomartki, that is seggfijo enig
theg nigienas; ac tkus bidodit
an doäseu, so it noh te daga stendit
fluodas gifullit.
142 ß. Meyer, zur allit. doppelkonsonaKz m heliand
d. h. „ganz Sodom ward zerstört, dass von seinen männern keiner irgendwo erwuchs,
sondern so ertötet im toten meere, wie es noch heute dahegt, flutengefüllt." Ob
segg(i)o oder sunfijo ergänzt wird, ist gleichgültig; in dem theg praet. sg. zu tJühan
(plur. thigun v. 104. 118) macht das ^r keine Schwierigkeit; nigienas kani; als adver-
bialer genitiv oder auch, falls man su7i(i)o statt seggfijo ergänzt, als possessiver
genitiv aufgefasst werden. Dass der des Stabreims unkundige Schreiber jene verderbte
stelle der vorläge schliesslich (vgl. die rasur) nicht durch thus — so, sondern
durch das ihm geläufigere so — so ergänzte, kann nicht wunder nehmen; so in der
aüiteration findet sich auch v. 218.
Vers 335 fgg. Dass das weib des Lot versteinert heute noch dastehe und
in ewigkeit stehen werde, ist die auffassung der kirchenväter (schon Clemens Rom. ad
Cor. I, 11; Irenaeus u. a.). Eine parallele bieten auch die verse 121/22 eines unbe-
kannten autors „de Sodoma "■ (Corp. Script, eccl. XXIII, 218):
durat enini adhuc nuda statione sub aethra^
nee pluuiis dilapsa situ nee diruta uentis.
Zum Schlüsse noch ein wort über die heimat der handschrift. Aus den auf Mag-
debui'g bezüglichen eintragen scheint mir — gegen Zangemeister s. 207 — mit Sicher-
heit hervorzugehen, dass gerade dieses nicht in frage kommt; auch braucht nicht
an ein benachbartes kloster gedacht zu werden. Aus den uekrologischen uotizen
lässt sich schwerlich etwas gewinnen. Von den beiden ndd. namensformen vermag
ich Wolfhedan nicht nachzuweisen*; Ibet erscheint zweimal in den Traditiones Cor-
beienses (ed. "Wigand, Leipzig 1843), und zwar als Ibet § 197, als Ibed § 188. Dass
das kloster Corvey im 9. Jahrhundert viele mönche aus den edelsten geschlechtern der
Sachsen zählte, lehrt uns die Translatio Sancti Viti: „augebatur tarnen qiiotidie
numerus monachorum ex nobilissimo Saxommi genere" (Jaffe, Mon. rer. germ.
I, 10); auch in den Annales Corbeienses ist, wie in so vielen ndd. nekrologien, der
todestag des königs Heinrich verzeichnet; und eine beziehung des klosters Corvey zu
Magdeburg ist durch die Übertragung der reliquien des heiligen Justinus gegeben
(Annal. Corb. z. j. 949).
GREIFSWALD, 30. JANUAR 1895. THEODOR SIEBS.
Zur alliterierendeu doppelkonsouauz im Heliand.
Durch Behaghels scharfsinnige argumentatiou in dieser Zeitschrift XXVII, 563
scheinen mir meine ausführuugen keineswegs widerlegt. Es bildet sich durch sva-
rabhakti ja nicht immer gleich eine voUe silbe, und im vorliegenden falle ist gewiss
nur ein leichter vorklang anzunehmen, grade genügend, um den anlaut von frotoro
dem von ferahes anzunähern; fero bleibt deshalb doch metrisch eine silbe. Ohne
einen leisen zwischenvokal sprechen wir überhaupt solche gruppen kaum je aus. ^
"Wie man übrigens immer über die alliterierende doppelkonsonanz denken mag —
die tatsache, dass die alten dichter fr nicht gern auf /"reimten, glaube ich erwiesen
zu haben, und wenn ein spiel vorliegt, so haben sie es gespielt, nicht ich.
BERLIN, 3. JAN. 1895. RICHARD MEYER.
1) Der fränkische Wolfhetan (Droncke, Cod. dipl. Fuld. nr. 220. 221) kommt
natürlich nicht in betracht.
NEUR ERSCHEINUNGEN 143
NEUE ERSCHEINUNGEN.
Bischoff, Tli., und Schmidt , A., Festschrift zur 250jährigeü Jubelfeier des
Pegnesischen blunienordens. Mit vielen abbilduugen. Nürnberg, J. L. Schräg.
1894. XVI und 532 s. 8 m.
Die acht aufsätze dieses bandes beziehen sich hauptsächlich auf Harsdör-
fers leben, wirken und Schriften.
Breul, K., a handy bibliographical guide to the study of the German
language and literature. For the use of students and teachers of German.
London, Hachette & Co. 1895. XVI und 133 s.
Diese praktisch angelegte bibliographie ist ein neuer beweis für den ernst
und die grüudlichkeit, mit welcher in jüngster zeit auch in England germanistische
Studien betrieben werden.
Egils sag'ii Slialla^rimssouar nebst den grösseren gedichten Egils herausgegeben von
Finnur Jönsson. Halle, Niemeyer 1894. (Altnordische saga-bibliothek, heft 3.)
XXXIX, 334 s. 9 m.
Förster, Karl, Der gebrauch der modi im ahd. Tatian. Kiel, diss. 1895.
IV und 62 s.
Graz, Friedr., Die metrik der sog. Caedmonschen dichtungen mit berück-
sichtigung der verfasserfrage. "Weimar, Emil Felber. 1894. VIII, 109 s. (A. u.
d. t.: Studien zum germanischen alliterationsvers , hrsg. von M. Kaluza, heft III.)
Hauffeil, A., Die deutsche Sprachinsel Gottschee. Geschichte und muudart;
lebens Verhältnisse, sitten und gebrcäuche ; sagen, märchen und liedei-.
Quellen und forschungen zur geschichte , litteratur und spräche Österreichs III.
Mit 4 abbildungen und einer sprachkarte. Graz, Verlagsbuchhandlung „Styria"
1895. XVI und 466 s.
Holthausen, Ferd. , Altisländisches elementarbuch. "Weimar, Emil Felber.
1895. XV, 197 s. 4 m.
A. u. d. t. : Lehrbuch der altisländischen spräche, I. teü. Derselbe enthält
eine kurzgefasste laut- und formeulehre, sowie auch einen abriss der wortbilduugs-
lehre und syntas. Der II. teil soll altnordische lesestücke nebst einem glossar
bringen.
Leitzmaiiii , jA. , Tagebuch "Wilhelms von Humboldt von seiner reise nach
Norddeutschland im jähre 1796. [Quellenschriften zur neueren deutschen littei-a-
tur und geistesgeschichte III.] "Weimar, E. Felber. 1894. X und 163 s. 3 m.
Die Sammlung — welche mit briefen "Wilhelms von Humboldt an Nicolo-
vius, herausgegeben von E. Hayni, eröffnet wurde — wird durch dieses tagebuch
(aus Humboldts nachlass in Tegel) über eine reise von Berlin nach Stettin, Stral-
sund, Rügen, Rostock, Lübeck, Eutin, Hamburg um ein nach vielen selten hin
interessantes stück bereichert. Unter den zahlreichen berichten über persönliche
begegnungen und gespräche sind die auf Eoseg arten, Voss und Klopstock
bezüglichen hervorzuheben. Die erläuterungen des herausgebers s. 119 — 152 sind
vielfach belehrend; im anhange s. 155 fg. ist ein. gedieht von Sophie Reimarus
aus dem jähre 1793 {„Unser theetisch'') veröffentlicht. Die ausstattung ist gut;
dennoch wäre ein niedrigerer preis des buches wünschenswert gewesen. o. e.
Müller -Fraureuth, Karl, Die ritter- uud räuberromane. Ein beitrag zur bildungs-
geschichte des deutschen volkes. Halle, Niemeyer. 1894. IV und 112 s. 2,60 m.
Wie in einer schon 1881 erschienenen Schrift die lügendichtungen bis
auf den „Münchhausen", so charakterisiert der Verfasser hier die umfangreiche
144 NACHRICHTEN
litteratur der ritter- und räuberromane, die seit etwa 1775 bis in unser Jahrhundert
hinein ihr grosses publikum fanden. Ihr anschluss an bedeutende anregungen der
genieperiodo und der romantik wird klar dargestellt; charakteristische stilproben
sind in ausreichendem masse mitgeteilt.
Musculus, Andreas, Vom Hosenteufel. Herausgegeben von Max Osborn.
[Neudrucke des IG. und 17. Jahrhunderts 125.] Halle, Niemeyer. 1894. XXX
und 27 s. 0,60 m.
Die scharfe und derbe Schrift des generalsuperintendenten der mark Bran-
denburg gegen den unfug der pluderhosen ist nach der ersten ausgäbe (Frank-
furt a. 0. 1555) abgedruckt; über bemerkenswerte Varianten späterer ausgaben,
sowie der niederdeutschen Übersetzung gibt die einleitung s. XXIH — XXX aus-
kunft. Die einleitung enthält ausserdem sehr lehrreiche kulturhistorische und bio-
graphisclie angaben.
Pipping-, Hug'O, Zur lehre von den vokalklängen. Neue Untersuchungen mit
Hensen's Sprachzeichner. Separatabdruck aus der Zeitschrift für biologie 31,
524 — 583. München 1894.
— — Über die theorie der vokale. Ans den Acta societatis scientiarum Finni-
cae XX, 2. 68 s. 4'° und 6 tafeln. Helsingfors 1894.
NACHRICHTEN.
Die ausserordentlichen professoren dr. Rudolf Henning in Strassburg und
dr. Philipp Strauch in Halle sind zu Ordinarien ernannt. An die Universität
Rostock ist als nachfolger R. Bechsteius di". Wolfgang Golther, bisher privatdocent
in München, berufen.
An der Universität Basel hat sich dr. Gustav Binz für englische philologie
habilitiert.
Dem privatdocenten dr. Johannes Stosch in Marburg ist der titel eines Pro-
fessors verliehen. Derselbe ist sodann nach Kiel übergesiedelt als mitarbeiter an
band XI des Deutscheu Wörterbuches. Er hat auch dort in der philosophischen fakul-
tät die venia legendi erhalten. — Die weiterführung von band IV, 1, 2 des DWb.
ist nach dem tode Hildebrands von lieferung 12 an dem prof. dr. H. Wunderlich
in Heidelberg übertragen.
Am 17. febr. verstarb zu Halle a. S. der gymnasialprofessor a. d. dr. Julius
Opel, der, besonders durch seine forschungen zur geschichte des 30jährigen kiieges
bekannt, gelegentlich auch das gebiet der deutschen litteraturgeschichte berührte und
einen schätzenswerten beitrag zur Waltherforschung geliefert hat {Mm guoter klöse-
ncBre^ Halle 1866). Unsere Zeitschrift, zu der er mehrere durch Sachkenntnis aus-
gezeichnete recensionen beisteuerte, betrauert in ihm einen ihrer ältesten mitarbeiter.
Berichtigung'. Auf s. 32 z. 28 ist zu lesen: Übersetzung des niederlän-
dischen; s. 33 z. 8 und 10: Isegrim (statt Reinke).
Hallo a. S., Buctidnickerei des Waiseahausos.
ZUE ALTSÄCHSISCHEN GENESIS.
Die folgenden anspruchslosen bemerkungen sind zum teil wider-
holt aus einer in der letzten oktobersitzung der kgl. niederländischen
akademie der Wissenschaften gelesenen und in den Sitzungsberichten
derselben abgedruckten ^ abhandlung über Zangemeisters fund in der
Vaticana. "Während es nicht in meiner absieht liegen konnte, die
eigentliche wesentlich referierende und — mit einer einzigen aus-
nähme — Braunes sorgfältigen erörterungen durchweg zustimmende
abhandlung in deutscher bearbeitung zu erneuern, glaubte ich aller-
dings mit einer widerholung der hinzugefügten kritischen anmerkungen
an einer für die deutschen fachgenossen weniger entlegenen stelle keine
überflüssige arbeit zu verrichten. Inzwischen haben nun auch andere
ihre beobachtungen veröffentlicht 2, und, wie sich nicht anders erwarten
liess, trafen sie mit den meinigen in vielen punkten zusammen. Indem
ich nun einerseits mit rücksicht auf die in der note angeführten arbei-
ten manches nicht mehr oder doch nur kurz zu berülu-en brauche,
geben mir dieselben andererseits veranlassung zu einigen neuen bemer-
kungen, die, wie die älteren, dem verehrten herausgeber füi" eine neu-
ausgabe des textes zur erwägung empfohlen sein mögen. In bezug
auf die hauptfrage, die, von dem neuen funde angeregt, noch der ent-
scheidung harrt, die beziehung der alttestam entlichen bruchstücke zum
Heiland, bin ich zwar vorläufig anderer ansieht als Braune und Koe-
gel (s. meine angeführte abh. s. 145 — 148). Da aber Siev^ers (diese
ztschr. XXVII, 534) eine besondere abhandlung darüber in aussieht
gestellt hat, scheint es geraten derselben nicht vorzugreifen und auf
eine erörterung dieses punktes bis nach ihrem erscheinen zu verzichten.
1) Verslagen en mededeelingen der kon. akademie vau wetenschappen , afdee-
ling Letterkunde, 3«^ reeks, XI, 123 — 154.
2) Folgende beitrage zur as. Genesis sind mir bekannt geworden: E. Koegel,
Geschichte der deutschen litteratui- bis zum ausgange des mittelalters. Ergänzungs-
heft zu bandl: Die altsächsische Genesis. Strassburg 1895; die recensiou der Zange-
meister-Braune'schen publication von E. Sievers in dieser ztschr. XXVII, 534 f gg.;
F. Holthausen, Zeitschr. f. d. a. XXXIX, 52 fgg.; M. H. Jellinek, ebd. 151;
J. H. Gallee, Tijdschr. voor nederl. taal- en letterk. XHI, 303 fgg. [nach abschluss
des manuscr. erhalte ich Gallee' s recension in Taal en letteren V, 123].
ZEITSCHRIFT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XXVIU. 10
146 STMONS
Y. 9 fg.: Nu uuit hriuuig mugun
sorogon for thes sicta.
Dass das the siäa der hs. nicht mit dem herausgeber zu thes s., son-
dern zu them siäa za ergänzen ist, hat auch Koegel s. 9 erkannt.
Braune ist denn auch zu seinem thes nur durch ein leicht begreif-
liches versehen gelangt, indem er bei der constituierung des textes
die ältere lesart for his siäe in dem enstprechenden verse der ags.
Genesis (800)^ zur richtschnur nahm, dann aber, als er für den druck
den ags. text nach Wülkers neuer collation aufnahm und damit for
pis siäe herstellte, die discrepanz mit dem alts. texte nicht weiter
beachtete. Einer brieflichen mitteilung Braunes entnehme ich, dass er
jetzt über dem the in der originalphotographie noch einen schwachen
rest des geschwungenen stiichs über dem e zu erkennen glaubt; im
lichtdruck ist der strich zu einem punkte reduciert. Damit wäre them
auch handschriftlich gesichert. Der sinn der stelle ist also nicht:
„besorgt sein wegen dessen (Gottes) ankunft", aber auch wol kaum
mit Koegel „bei dieser Sachlage, unter diesen umständen." Dass „die
Ursache der sorge sowol im altsächs. wie im althochd. und mittelhochd.
mit umbi oder bi ausgedrückt wird", ist im allgemeinen wol richtig,
doch auch for findet sich in dieser Verwendung, so Hei. 1880 2, Otfr.
IV, 7, 21, auch im ags. Gudl. 209. Adam und Eva dürfen in sorge
sein wegen ihres Schicksals, das Eva's wankelmut ihnen beiden bestimmt
hat (vgl. V. 1 fg.). Bemerkenswert ist allerdings, dass das as. siä sonst
in der bedeutung „sors, fortuna, conditio", die im ags. geläufig ist
(Grein II, 444), nicht kennt, allein auch für v. 2 unserer bruchstücke
ist diese bedeutung anzusetzen.
Y. 14. Zu diesem verse bemerkt Braune s. 56: „Die ags. ände-
rung on pys lande ist weniger gut, da on thesum liohta uuesan syno-
nym mit libbian ist und thit Höht immer „dieses leben" bedeutet."
Der Vorwurf gegen den ags. bearbeiter ist aber unberechtigt, denn thit
Höht heisst sowol in unseren fragmenten (s. namentlich 128 them thitt
Höht giscuop = Hei. 3058. 5086), als im Hei. regelmässig „diese weit"
und ist verschiedentlich mit thit land völlig identisch: vgl. z. b. Gen. 76
Hbbea?i an thesum latida, \ su lango so ihu thit Hallt utiaros^ wo Koe-
1) Danach erkläit denn auch Grein die stelle im Sprachschatz II, 444 als
„ejus (Gottes) adventus."
2) Die stelle lautet: far thiu gi sorgon sculun^ \\ that iu thea man ni mu-
gin I mödgethähti , \\ uuillean aimardien. Far thiu kann dem zusammenhange nach
nicht „deswegen" bedeuten; es ist von sorgon abhängig und wird durch den satz
mit tliat näher bestimmt: „dafür sollt ihr sorgen, dass usw."
ZUR ALTSÄCHS. GENESIS 147
gel s. 12 den ausdriick misversteht (s. u. zu V. 30). 333. Hei. 1683 und
Sievers Hei. s. 406 unter erde. Das ags. on pys lande tvesan ist somit
ebenso wol eine Variation von Ubban, wie der entsprechende ausdruck
im as. texte.
V. 17: kuTnit haglas skion himile oitengi.
liaglas skion (im ags. dafür hce^les scilr 808) ist offenbar „hagelwetter"
(Braune s. 56. Koegel s. 9). Aber für hüeyigi kommen wir hier mit
der von Braune angesetzten bedeutung „nahe an etwas heranreichend"
kaum durch. Passend ist sie für v. 311, bei der Zerstörung Sodoms:
thuo uuarä thär gihlii7in mikil \ himile bitengi: das gewaltige getöse
dringt zum himmel, wie in den beiden Otfridstellen, wo sich himilo
gixengi, himile gixango findet (I, 20, 10. IV, 26, 27), das laute wei-
nen der frauen. Aber ein „nahe an den himmel heranreichendes hagel-
wetter" ist wunderlich. Aus der ursprünglichen bedeutung des adjek-
tivs „conjunctus, propinquus" {sibbeon bite?igea Hei. 1440, vgl. ags.
^eten^e bei Grein I, 463, sowie an. tengja „zusammenbinden", te7igäir
„verschwägerung" usw.) entwickelt sich im räumlichen sinne sowoi der
begriff des heranreichens an als des lastens auf Letzterer findet sich
z. b. im Beow. 2759 ^eseah ^old ^litinia?i ^rimde ^eie)i^e „auf
dem boden" und ist auch hier anzunehmen: „das den himmel be-
deckende hagelwetter." In übertragenem sinne vgl. auch Hei. 4624,
wo Satan dem Judas sero bite7igi ... umbi is herta wird (introivit in
eum Satanas Joh. 13, 27).
Y. 22. Wie ich in dem angefülirten artikel s. 150, haben auch
Koegel s. 9 fg. und Holthausen Ztschr. f. d. a. XXXIX, 52 fg. hervor-
gehoben, dass scür in dem leider zerstörten halbverse 22'' nicht „wei-
ter" heissen kann, wie der herausgeber es im glossar fasst, sondern
„schütz, schirm", eine im as. bisher unbelegte, aber sowol aus dem
ahd. und mhd. wie aus dem mnd. genügend bekannte bedeutung. Grade
iiuf sächsischem gebiete sind schür und schüre noch heutzutage sehr
geläufige bezeichnungen für die allerprimitivste Schutzvorrichtung gegen
das wetter: vier pfähle mit einem dache darüber sind eine schür.
Der Zusammenhang der stelle fordert diese bedeutung entschieden:
Adam und Eva haben keine kleidung (iimmerid miä giuuädi), keinen
schütz gegen frost und hitze (iiuiht te scüra) , keine speise {scat-
tas uuiht te meti). Holthausens ergänzung, welche sich den spuren
der hs. genau anschliesst, [ni l]e skfadouua ni] te scilra, ist gewiss
richtig. Wenn das ags. dafür tö scürsccade hat, so dachte der Über-
setzer vermutlich an das ihm allein bekannte scür „tempestas", traf
aber trotzdem den sinn der stelle.
10*
148 STMONS
V. 30 fg.: legarhedd uuaran
guman an griata.
Auch in der auffassung dieser stelle treffen meine ausführungen s. 150 fg.
mit denen Holthausens s. 53 zusammen; s. auch Koegel s. 12. Unstrei-
tig ist uuaran inf. = uuaron^ guma7i acc, noch abhängig von liet
28; hgarbedd uuaran heisst „die lagerstätte, das totenlager hüten."
Ergänzend sei zu Holthausens erörterung der stelle noch folgendes hin-
zugefügt. Mit hgarbedd uuaran lässt sich völlig vergleichen die ags.
forme! ivcelreste ivimian Beow. 2902, mit unmittelbar vorangehendem
deäähedde fcest = le^erbedde fcest 1007; le^erbedd ist also „toten-
lager", anderswo sogar „grab" (Rede der seele 158), dagegen legarbedd
Hei. 1852 „krankheit", eigentlich „ krankenlager " (das simplex legar
zeigt die gleiche entwicklung).
Waran c. acc. in der bedeutung „teuere" findet sich in unseren
fragmenten noch dreimal: 76 so Icmgo so thu thit liaht uuai'os „so
lange du auf dieser weit weilst"^, 161 thuo fundun sia Äbrahama
.... uuaran myia uuthstedi „bei einem tempel stehen" (durchaus
identisch dem sinne nach mit bi eniim ala standan 160") 2, endlich
216 that kmd uuaran „im lande bleiben" (vgl. 237 fg.). Braune hat
also ganz recht daran getan, „die verschiedenen uuaran uuarön'''' (Koegel
s. 12) nicht zu trennen, da sie eben nicht verschieden sind; nur muss
die Verbindung legarbedd uuarari im glossar hinzugefügt werden.
Über griat sei noch . bemerkt, dass nur die bedeutung „sand,
kies", nicht „ufer" (trotz 97) zu belegen ist; vgl. ausser den Heliand-
stellen: glarea. id est arena. g7'at (1. griat) in den Oxforder Yergilglos-
sen (Ahd. gl. II, 725 ^ Gallee, Alts, sprachdenkm. s. 157). Doch heisst
an griata an unserer stelle vielleicht „im staube", wofür Hei. 1373
sprechen könnte: than it te uuihti ni dög, \\ ac it firiho barn^\ fötun
spurnat, \\ gumon an greote (ad nihilum valet ultra nisi ut proiciatur
foras et conculcetur ab hominibus Mt. 5, 13).
Y. 33 fg.: frägoda huuär he habdi is bröäar thuo,
kindiungan kuman.
1) Koegels Übersetzung „so lange als du dieses licht schauest" {uuaron zu
gr. fopäcj) ist nicht zu biUigea, da thit liaht eben „diese weit" bedeutet (s. oben
zu V. 14). [Über -an neben -on s. jetzt van Helten Idg. Forsch. V, 351].
2) Auch hier ist Koegels erinuerung an die Cyuicari kaum am platze; freilich
seine Übersetzung „im begrLEfe die heilige statte zu besuchen" stimmt nicht dazu. Es
ist doch Mar, dass 161* nur epische Variation ist von 160'' und keinen neuen gedan-
ken enthält.
ZUR ALTSÄCHS. GENESIS 149
Holthaiisens bedenken (s. 53 fg.) gegen die von Braune angenom-
mene transitive Verwendung von kuman teile ich vollständig, nament-
lich auch seine ablehnung der analogie der altn. construction koma ein-
hverjutn. Auch seine Vermutung, dass in kuman ein acc. sing, guman
stecke als epische Variation zu brüäar, halte ich, wie die Interpunktion
andeutet, für richtig. Es ist aber wol nicht einmal nötig einen eigent-
lichen Schreibfehler anzunehmen; es genügt in kuman eine allerdings
seltene, aber nicht beispiellose Orthographie zu sehen. Will man cu-
mono „senatorum", cumiski „senatum" und verschiedene formen mit
inl. c, k in den Düsseldorfer Prudentiusglossen (neben gumiskias
„senatus", gusmiki [1. gumiski] „senatum" u. a.)^ nicht gelten lassen,
so darf doch an sleka „occisioni" im Essener Evangeliar (Gallee, Alts,
sprachdenkm. s. 34), suikle Hei. 3577 M, und an die ausl. gutturalen
explosivae in Y selber erinnert werden, die Eoegel s. 15 fg. unter den
beweisen für die angehörigkeit des Schreibers der hs. zum hochdeut-
schen Sprachgebiete anführt.
Y. 77. Anlässlich der anmerkung Braunes über forhiiätan (s. 58),
dessen anlaut durch den Stabreim an unserer stelle gesichert wird,
weist mich Cosijn auf die möglichkeit, dass auch in ahivet (= äJiwcett'i)
der ags. Gen. 406 ein as. forhuätid stecken könnte. In der phrase
dhivet hie from his hyldo fordert der Zusammenhang die bedeutung „ver-
treiben, Verstössen", während ags. ähwettan „anregen" heisst (Grein I,
25; vgl. das simplex hwettan „acuere, instigare, excitare" II, 118).
Den hier geforderten sinn dagegen gewährt ahd. firuuäzxan „recusare"
(s. die belege bei Graff I, 1087 fg.). Yielleicht hat also der ags. bear-
beiter in seinem original etwa forliuätid (im is huldij gefunden und
die ihm nicht verständliche wendung umgebildet zu dem lautlich an-
klingenden dhtvetft) usw.
Y. 114 — 116. In der herstellung dieser verse bin ich (a. a. o.
s. 151 fg.) mit Sievers (diese ztschr. XXYII, 535 fg.) zusammengetrof-
fen. Sie sind abzuteilen:
hie Idboda thuo mest liodio harnun,
godas huldi gumun: thanan quämun guoda mann,
uuordun uutsa usw.
Holthausens ergänzungsvorschläge (a. a. o. s. 54) werden durch diese
einfache remedur überflüssig.
1) AUe vier formen (Ahd. gl. II, 581«*. 583". 587 '^ 589") von derselben,
sächsischen, hand (s. Gallee, Alts, sprachdenkm. s. 128 fg.). Möglicherweise stammen
die mit c aber doch aus einer hochd. vorläge.
150 SYMONS
V. 154 fg.: habdun im so uüu fiunda harn
lumimas geuuisid.
Braune (s. 60) versteht flmida barn von den Gott feindlich gesinnten
Sodomleiiten und ist dadurch genötigt, uuisian als „zeigen, beweisen"
aufzufassen, in einem sinne also, den das wort in den altgerm. spra-
chen und speciell im as. nicht hat. Ähnlich übersetzt Koegel (s. 4)):
„es hatten die teufelskinder sehr viel böses getan." Dass aber mit
fiunda bani nicht die Sodomiten, sondern die teufel gemeint sind, wie
Hei. 3604, wird durch die nähere ausmalung in Y. 256 fgg. über allen
zweifei erhoben: iiuas thär ßundo gimang , || uureäaro uuihteo, \ thea
an that uuam habdun, \\ thea liudi farledid, wozu man halte Hei. 2502.
2989 fg. 3356 fgg.; fiund und uuihti sind Synonyma. — An der drit-
ten stelle freilich, wo unsere fragmente den plural fiiind bieten (294),
liiuss man darunter die Sodomiten verstehen", wol als die feinde Loths. —
Zu übersetzen ist V. 154 fg. demnach: „es hatten die teufel sie so viel
böses gelehrt."
y. 177 fg.: ^^Ni uuilli ik is tht mithan nu,^'' quad he,
^^helan Jioldan man, hü inin hugi gcngit^''
Mit recht bemerkt der herausgeber (s. 61): „Im Hei. helau und com-
pos. stets c. dat. pers. und acc. rei verbunden"; so auch himläan an
der einzigen stelle, wo es in der bedeutimg '„verbergen" erscheint
(3803). Man darf also die frage erheben, ob nicht auch hier thi
holdan man als dativ zu fassen sei; die schwache form des adjektivs
nach dem pron. pers. bedürfte keiner rechtfertigung, und is in it zu
ändern wäre auch einfach genug. Im ags. freilich ist der gen. rei bei
miäan keineswegs unerhört, sogar bei persönlichem object, z. b. for-
äon ic min mäd Cura Fast. (Sweet) 23, 11: es könnte also auch eine
mischconstruction vorliegen.
V. 180'': nu hruopat the ceimardas te mi.
Holthausen (s. 54 fg.) hat sich, wie ich (a. a. o. s. 152 fg.), um die
beseitigung der ceuuardas bemüht. Der metrische anstoss war natür-
lich an erster stelle bestimmend: die allitteration von ce-unärdas auf
dem zweiten compositionsgliede ist nicht nur „auffällig" (Braune s. 61),
sondern geradezu unduldbar. Gelegentliche tonverrückungen, wie itn-
undnda uuini Hei. 70 u. ä. (s. Rieger Ztsclir. f. d. ph. YII, 18 anm.),
uueroltrehtuiäson Musp. 37, können diese abnormität, noch dazu im
hauptstabe, nicht rechtfertigen. Dazu kommt, dass sich mit den „prie-
stern", die tag und nacht dem herrn die sünden der Sodomiten klagen,
doch auch nicht viel anfangen lässt. Indem ich ihece uuardas abteilte,
glaubte ich darunter die engel verstehen zu dürfen, die im Hei. 2599
ZUR ALTSÄCHS. GENESIS 151
helaga hehanuuardos , in unseren fragmenten 306 Jielega uuardos ge-
nannt worden; vgl. noch Hei. 1088. 2481. Ähnlich Holthausen, der
thefsJcD uuardas lesen will , mit bestimmter beziehung auf die gott
begleitenden engel. Der Orthographie wegen sind die formen sicB, sie
303. 254 zu vergleichen.
Koegel bemerkt s. 71, durch meine besserung werde dem verse
allerdings geholfen, „nur wollen leider die engel nicht recht in den
Zusammenhang passen." Jedesfalls besser als die priester; doch muss
zugegeben werden, dass auch die engel etwas fremdartig auftreten.
Die verse 180 — ^184 sind offenbar hervorgerufen durch Gen. XVIII, 20:
clamor Sodomorum et Gomorrhae multiplicatus est et peccatum eorum
aggravatum est nimis. Descendam et videbo, utrum clamorem, qui
venit ad me, opere compleverint. Der alts. dichter scheint den clamor
in der weise gedeutet zu haben, dass das gerücht von den freveltaten
der Sodomiten dem herrn durch seine engel vermittelt wird. Eben
deshalb denke ich auch lieber an die engel überhaupt, als an die bei-
den gott begleitenden engel, wde Holthausen wilU.
V. 182 fgg. : Nu uilli ic sclbo uuitan,
ef thia mann imder hini sulic inen fremmiat,
uueros uuayyidädi.
Die notwendigkeit , hier ein verbum uuitan „sehen, zusehen" anzu-
setzen (Braune s. 61), das der Holland nicht kennt und dessen existenz-
berechtigung im germ. überhaupt mindestens zweifelhaft ist, muss trotz
dem videbo der quelle in abrede gestellt werden. Es genügt uuitan,
„wissen, in erfahrung bringen" völlig. Auch mit dem „einzigen beleg
in der ags. poesie" (Gen. 511) steht es bedenklich: nach Junius und
Wülker hat die hs. an der betreffenden stelle sited, und diese lesart
gibt einen trefflichen sinn. Bequemlichkeitshalber (vgl. v. 513 fg.),
meint Satan, bleibt gott ruhig sitzen und bedient sich eines boten;
vgl. auch V. 667 hivcer he sylf siteä.
V. 209": thanna uuilli ik iro ferah fargeban.
Mit rücksicht auf die paralielstelle 236 (vgl. auch 221*"), sowie auf die
bedeutung von fargeban, das nicht „schonen", sondern „schenken"
heisst, wird zwischen ik und iro noch im einzuschalten sein. — Dass
auch V. 236, nach beseitigung des interpolierten ferahtera manno, als
zweiter halbvers zu 235* zu fassen sei, vermuten Braune s. 62 und
1) Au die vou befreundeter seite mir angedeutete möglichkeit, dass der dich-
ter durch misverständniss des elamor Sodomorum unter uuardas die bürger von
Sodom verstanden habe, deren geschrei zum ohr des herrn dringe (vgl. ags. hurli-
weardas Exod. 39 und dazu Cosijn Beitr. 19, 458), mag ich doch nicht glauben.
152 SYMONS
Sievers a. a. o. s. 536 gewiss mit recht. Meinen ergänzungsversuch
(a. a. 0. s. 153) nehme ich zurück, und Koegels annähme (s. 31) eines
„paroemiacus" leuchtet mir hier so wenig wie anderwärts ein.
V. 254. kmin hier und v. 314, von Braune zu ahd. queran
„seufzen", von Koegel s. 12 zu ahd. cliara „klage" gestellt, ist nach
Braune s. 62 „bisher in keiner germ. spräche belegt." Das wort ist
aber doch wol identisch mit ags. cirm, cyrm „lärm, geschrei" (^-stamm?
oder, wahrscheinlicher, nach dem abgeleiteten verbum cirman, cyrman
vokalisiert, da das germ. ein suffix -mi- für derartige bildungen
nicht kennt: s. Kluge, Nom. stammbildungslehre § 152), vgl. mnl. nnl.
Carmen, kermen, auch mnd. und in rheinischen quellen (Lexer I, 1520)
belegt. Der ausdruck fegero karm bedeutet nicht sowol das „seufzen"
der todgeweihten, als ihr schreien oder jammern.
V. 258 fg.: that Ion imas thuo (h)at handum
mikil miä 7norähu, that sia oft men dribun.
Koegels Übersetzung der stelle: „da nahte die gewaltige Vergeltung
band in band mit dem tode, Vergeltung dafür usw." (s. 7) ist gewiss
unrichtig, at handum heisst „nahe bevorstehend", wie altn. fijr(ir)
hqndum (z. b. Grip. 26^. 36^), nnl. ophanden (mnl. in gleicher bedeu-
tung auch an hant, te hande, voor hande Yerdam III, 106), und miä
moräu ist mit ld7i zu verbinden; die gewaltige Vergeltung tritt auf
als morä.
Y. 264''. Das metrisch unzulängliche adalknöslas {adain knoHas
hs.) bessert Holthausen s. 55, wie ich (a. a. o. s. 153 fg.), in adaliknos-
las, unter Verweisung auf adaligebiirdeo Hei. 2985 M {ediligiburdeo C).
Koegel s. 29 nimmt wider ohne genügenden grund einen „paroemia-
cus" an.
V. 275. luokoian (ags. löcian) „schauen" findet sich zwar nicht
im Heliand, war aber bereits belegt in den Strassburger glossen (Gal-
lee, Alts, sprachdenkm. 275): so siu (columba) umbüocod^.
Y. 287 fg.: an allara seliäa gihuuem ühtfugal sang,
fora daga ^huoam.
Das deutlich überlieferte, aber verderbte hiioani hat bereits verschie-
dene besserungsversuche hervorgerufen. Der herausgeber ist s. 63 ge-
neigt, nach einer Vermutung Kluges, hiwoi darin zu suchen, indem er
1) Dass auch as. freäig ,, flüchtig" schon iu den Düsseldorfer Prudentiusglos-
sen belegt war, bemerkt Holthausen s. 56. Er hätte hinzufügen können, dass sich
an der betreffenden stelle {fluhtiyun endi frethiün „defugas" Ahd. gl. 11, 583*^.
GaUee s. 141) sogar dieselbe allitterierende Verbindung findet, wie Gen. 75.
ZUR ALTSÄCHS. GENESIS 153
an Otfrids singendes huhn (lY, 13, 36. 18, 34) erinnert, das ebenso
als episclie Variation des den morgen verkündenden hahnes erscheint,
wie es hier der fall sein würde. Allein, abgesehen von dem metrisch
anstössigen halbverse, welcher, wie Bramie natürlich nicht entgangen
ist, durch einsetzung von huon entstünde, wäre die corruptel eines
so gewöhnlichen wertes schwer begreiflich, und das singende huhn
scheint mir wenigstens nach dem schönen ühtfugal recht ernüchternd
zu wirken und besser für Otfrid zu passen als für unseren dichter.
Koegels eiufall huona (ags. hivene) s. 29 wird vermutlich wenig bewun-
derer finden. Der sinn des halbverses kann allerdings kaum ein ande-
rer gewesen sein als „vor tagesaubruch". Holthausen sucht diesen zu
gewinnen (s. 55) durch änderung von huoam in friioimn; die änderung
ist jedoch ziemlich gewaltsam, und „vor früliem tage" wird der Alt-
sachse wol so wenig gesagt haben wie wir. Beachtenswerter ist Gal-
lee's conjectur fora dagaliornan (Tijdschr. voor nederl. taal- en letterk.
XIII, 303 fgg.), die sich nach seinen ausführungen graphisch wol ver-
teidigen lässt und dem sinne voll genüge leistet. Freilich ist das com-
positum bisher nicht nachgewiesen, das von G. aus Cleasby-Vigfüsson
beigebrachte nord. dagsljömi ist keine alte bildung.
In der anm. teilt Braune eine zweite Vermutung Kluges mit, der
auf ags. dcegivöma, dcegredicöma „das rauschen des anbrechenden tages",
zu ivöma „lärm" hinwies: s. die belege bei Grein I, 184 fg. und we-
gen der zu gründe liegenden mythischen Vorstellung J. Grimm, Andr.
und El. s. XXX fg. Der gedanke, dass das von J. Grimm vermisste
as. uiiömo in dem rätselhaften huoam stecke, scheint in der tat aller
erwägung wert. Stand in der vorläge etwa fora dagafuuomä^^ so
konnte, worauf mich mein College van Holten aufmerksam macht, der
Schreiber in dem ihm nicht mehr bekannten werte fuu leicht als hu
verlesen, und die anticipierung des a entspräche durchaus seinen ge-
Avohnheiten. So sei foi^a dagas uuoman nach Kluges Vorgang aufs
neue der erwägung empfohlen.
Bedenken eiTOgt auch Holthausens verschlag, wegen der auf
allara im gegensatz zu v. 255 und den von Behaghel Germ. 21, 147
angeführten Heliandstellen ruhenden alliteration (s. Braune z. st.), in
V. 287*' umzustellen sang ühtfugal. Dass das verbum den hauptstab
trüge, liesse sich allerdings in der Schilderung verteidigen. H. ver-
weist selbst auf den unmittelbar vorangehenden zweiten halbvers nä-
1) Der strich über dem vocal als abkürziing eines n auch in sctdü 232, gi-
sagdü 285.
154 SYMONS
hida moragan und auf Sievers Altgerm, metrik § 24, 3; s. auch Koe-
gel a. a. o. s. 32. Aber die Umstellung zerstört den rhythmus, wie
jeder sich beim lauten lesen überzeugen wird. Die zeile hat gekreuz-
ten Stabreim mit der gewöhnlichen reimstellung ah ab (vgl. auch v. 153.
293), wodurch auch Braunes bedenken sich erledigt.
V. 321 fgg. Diese schwierigste stelle unserer fragmente lautet in
der hs. aluuard farspüdit sodouiariki that is .... enig theg nig&nas
ac sohl dödit andoäseu; Braune gibt sie im texte folgendermassen :
al uuard farspüdit
Sodomariki : that is enig
*thcg nigiejias, ac so bidödit
an dodseii, usw.
In der anm. s. 64 meint er, indem er sich über die ausfüllung der
lücke der Vermutungen enthält, 323^ könne durch eiufügung von uuard
nach bidödit hergestellt werden, wenn nicht etwa ac so bidödit mit
zu 324" zu ziehen sei. Dem letzteren vorschlage pflichtet Sievers
(diese zeitschr. XXVII, 536) mit der einschränkung bei, dass die lücke
nach ac so anzusetzen sei, also: ac so .... [uuard], || bidödit an dod-
seu. Auch Koegel s. 29 entscheidet sich in ähnlicher weise. Mit Sie-
vers trifft in der trennung zwischen v. 323 und 324 Jellinek Ztschr. f.
d. a. XXXIX, 151 zusammen; er ergänzt ac so [bitkuimgan uuard] ,\\
bidödit an dodseu.
Was zunächst v. 322 ^ 323°' (nach Braunes Zählung) anbetrifft,
so hat Jellinek erkannt, wie ich (a. a. o. s. 154), dass in dem hand-
schriftlichen lautcomplexe nig&nas nicht mit dem herausgeber nigenas,
sondern ni ginas (das übergeschriebene i soll wol besserung des e sein)
zu suchen ist. Die parallelstelle des Heliand, wo die Zerstörung So-
doms geschildert wird, tliat tliär enig guinono ni ginas (4369), erhebt
diese auffassung fast zur evidenz. Auch die „ergänzung" von segg
(.•Sodomariki) scheint sicher. Die einfachste annähme ist nun aber,
dass dieses segg verschrieben in theg wirklich vorliegt und die lücke in
Y nach is bedeutunglos ist; d. h. der auch sonst voreilige Schreiber
hatte segg vermutlich zu früh geschrieben und fuhr dann nach e7iig
gedankenlos fort mit dem synonymum thegfan], bemerkte aber später
seinen irrtum, tilgte das anticipierte segg, vergass jedoch theg in segg
zu ändern. Bei dieser annähme erhalten wir die tadellose langzeile:
Sodomariki, that is enig segg ni ginas.^
1) Diese fassung der zeile verdanlie ich Cosijn.
ZUR ALTSÄCHS. GENESIS 155
Für das folgende ac so bidödit an doäseu bleibt dann nur der
räum einer halbzeile übrig, wenn man nicht eine durch nichts indi-
cierte lücke in der Überlieferung annehmen will. Er genügt auch völ-
lig, wenn man mit Cosijn (in meiner oben citierten abhandlung s. 154)
und Holthausen s. 55 btdod it liest. Ein verbum hi-dödian „töten",
in seiner bedeutung nicht abweichend vom simplex, ist ja immerhin
denkbar (vgl. hibrengean, bifelleafi u. a.), aber unbelegt. Und der
ausdruck, ein ?iJd oder eine stadt „töten", ist äusserst seltsam. Mit
der lesart bidod it entgeht man sowol diesen Schwierigkeiten als der
notwendigkeit einer einfügung von uuard. Allerdings muss man den
accent von bidödit für falsch erklären, doch der fall steht nicht allein
(s. Holthausen a. a. o. und Braune s. 22). bido7i „harren, bleiben"
findet sich im Hei. 4947 M = bidmi C, wozu Holthausen mit recht
auf altfries. bidia verweist. Zur Verwendung ist zu erinnern an den
ags. Phoenix 47 se cedela ivon^ . . . bided sivä ^eblöwen od bceles cyme,
wo bklan synonym ist mit seomian v. 19 und ivunicm v. 82.
Die ganze stelle würde also lauten:
cd uuard farspildit
Sodomariki, that is enig segg ni giiias,
ac so bidod it an doäseu^ so it noh te daga stendit
puodas gifidlit;
(1. h. „ganz Sodom ward zerstört, dass kein mann mit dem leben davon
kam, aber so verharrt es im toten meer, wie es noch heute dasteht
mit flut erfüllt." — Metrisch wäre dann v. 323" aufzufassen als ein
vers vom typus C mit einfacher allitteration und sechssil biger eingangs-
senkung (belege für diese rhythmische form aus dem Hei. s. Beitr.
12, 328).
GEONINGEN, 30. MÄRZ 1895. B. SYMONS.
Nachtrag.
Nachdem die vorstehenden bemerkiingen sich bereits in den bän-
den der redaction befanden, erhielt ich durch die gute derselben einen
correcturabzug des [im ersten hefte dieses bandes s. 138 — 142 abge-
druckten] aufsatzes von Th. Siebs: „Zur altsächsischen bibeldichtung",
welcher neben schätzenswerten nachweisen von quellen- und parallel-
stellen auch textkritische beitrage enthält. Mit dem oben vorgebrach-
ten berühren sich seine bemerkungen zu v. 10 — wo aber mit unrecht
behauptet wird, der ags. Übersetzer habe das them der vorläge miss-
verstauden, während er doch nur durchaus sachgemäss den as. dativ
156 TVILKEN
durch den ags. instrumentalis ersetzte — und zu v. 22. In anderer
richtung dagegen wie die oben mitgeteilten bewegen sich Siebs' bes-
serungs- resp. ergänzungsvorsehläge zu v. 180. 288 und 322 fgg. : es
möge an dieser stelle die bemerkung genügen, dass sie mich nicht
überzeugt und mir demnach keine veranlassung geboten haben, ände-
rungen im vorstehenden vorzunehmen.
GRONINGEN, 9. APEm 1895. B. S.
DEE FENEISWOLF.
Eine mythologische untersucliung.
I.
Begriff, umfang, einteilung der mythologie; methode der
forschung.
1. „Unter mythologie verstehen wir die summe der bilder und
dichtungen, in denen ein volk seine religiös -poetischen anschauungen
von der es umgebenden natur und den in ihr wirkenden kräften, die
es als persönliche wesen auffasste, ausgeprägt hat; wir verstehen
darunter auch die Wissenschaft, die bestrebt ist den gehalt, gang und
umfang der in diesen dichtungen enthaltenen, inneren geistigen ent-
wickelung darzulegen und deren aufgäbe daher notAvendig eine histo-
rische ist." (Müllenhoff, Deutsche altertumsk. Y, 157.) — Der in den
vorstehenden werten ausgesprochenen ansieht des um die deutsche
mythologie hochverdienten forschers kann ich mich zunächst darin an-
schliessen, dass auch ich den ausdruck mythus, der ursprünglich
überhaupt nur wort, erzählung bedeutete, aber schon im griechischen
altertum oft den nebensinn des erdichteten, der Wahrheit nur ähnlichen
Wortes annahm (= Xöyog ifj&vdrjg sIkoviLojv dXrjd-eLav) in der wissen-
schaftlichen spräche auf die darstellung der von erscheinungen der
natur im menschengemüt veranlassten eindrücke, welche namentlich
in der urzeit mancherlei täuschungen und ungenauigkeiten in sich
schloss, einschränken möchte; jeder echte mythus ist mir also ursprüng-
lich ein „naturmythus" \
1) Einige forscher reden auch von einem historischen , einem religiösen mythus,
noch andere glauben die darstellung des Seelenlebens, welche für mich im weiteren
sinne zum naturleben selbst gehört (vgl. §§2, 12 und 19) von letzterem trennen zu
müssen. Ob die sog. kultusmythen sich auf natui-mythen zurückführen lassen, ist
für die german. mythologie eine frage von untergeordneter bedeutung.
DER FENRISWOLF 157
2. Gehen wir nun zu einer näheren betrachtung der an die spitze
dieses kapitels gestellten definition, so fragt es sich zunächst: welcher
art sind die von Müllenhoff erwähnten bilder? Ziemlich in demsel-
ben sinne gebraucht Wislicenus (Symbolik von sonne imd tag s. 14)
das wort symbol („das s. ist ein bild"); namentlich lässt sich die von
Wishcenus als „niedere" Symbolik bezeichnete stufe (s. 20), auf der
nur gegenstände der unbelebten natur nebst einfachen geraten des
menschen, welche letzteren auch ich als anhang des naturgebietes
betrachten möchte (heisst doch z. b. der obere mühlstein dem Griechen
üVog), den „bildern" Müllenhoffs vergleichen, Avährend die „höhere"
Symbolik, die belebte wesen, namentlich den menschen selbst zur ver-
anschaulichung gebraucht und der sich daraus entwickelnde „mythus"
(Wisl. s. 85, 88) den „dichtungen" in der definition Müllenhoffs ent-
spricht. — Während aber Müllenhoff durch nichts andeutet, dass zwi-
schen „bild" und „dichtung" in diesem falle neben der verwantschaft
auch eine disharmonie besteht, so hebt diese Wislicenus ausdrücklich
hervor: „bei der bildung'des mythus wird das symbol umgewandelt
und als solches aufgelöst" (s. 85). Auf den grund^ weist eine frühere
stelle hin (s. 14), wo es heisst: „das symbol ist ein bild. Erzeugen
von blossen bildern aber ist nicht die absieht des geistes bei der sym-
bolbildung. Nicht aus dem streben phantastische Vorstellungen ohne
realität zu schaffen, sondern aus dem streben der versinnlichung wirk-
lich bestehender Verhältnisse ist das symbol hervorgegangen. Der
geist meint im symbol wirklich das innerste wesen des angeschauten
gegenständes zu erfassen. So kann man sagen, das symbol entsteht
aus der absieht zu erkennen . . . jedes symbol schliesst auch urteile
in sich, denn es wird von denselben, die es geschaffen haben, für
wahr gehalten."
3. Ist diese auffassung richtig-, so werden wir, auch wenn wir
die von Müllenhoff gewählten ausdrücke „bilder und dichtungen" bei-
1) Genauer darüber handle ich noch in § 15. — Die terminologie der einzel-
nen forscher ist bez. dieser fi-agen eine yerschiedene : Laistner (Nebelsagen s. 116)
unterscheidet gleichnis (= symbol Wisl.) und mythus; Mannhardt (Götterwelt der
deutschen und nord. Völker s. 17 fg.) mythische anschauung (s. 22) oder naturbild
(s. 17, 24, 25) und wirklichen mythus; symbol verwendet Mannhardt in anderem
sinne (s. 25) als Wislicenus. — Baer (Germ. 33, 9 fg.) geht vom primitiven mythus
aus imd dann zu fabel, sage, cyklus weiter. Seine scharfsinnige auffassung lei-
det nur daran, dass sie mehr auf widerkehrende als auf ruhende erscheinungen im
naturleben anwendung findet.
2) Derselben ähnlich ist z. b. die von Laistner (a. a. o. 236) im anschluss an
den meteorologen Kämptz vorgetragene. Auch hat schon W. Müller (Mythologie der
158 WILKEN
behalten, sie doch so zu sagen im sinne von Wislicenus interpretie-
ren müssen. — • "Wie steht es ferner mit der erklärung, wonach in
diesen bildern usw. die „religiös-poetischen" anschauungen eines
Volkes von der natur ausgeprägt sind? Da hier schritt für schritt
zu gehen ist, blicke ich zunächst nur auf das attribut poetisch
hin. Meine meinung darüber ist teilweise schon durch das vorher-
gehende klar gelegt. Poetische anschauungen liegen in den mythen ja
zweifellos vor, aber gerade in den ältesten mythenkeimen ist doch die
poesie im ganzen nicht nur eine niecbige, teilweise selbst grobsinn-
liche, sondern es werden uns diese eigenschaften gerade dadurch ver-
ständlich, dass diese mythen nicht als gedieh te in unserem sinne, son-
dern als erste versuche einer naturerklärung sich darstellen i. Soll
aber der ausdruck „poetische" anschauungen zunächst nur besagen,
dass diese anschauungen von objektivem anschauen und begreifen der
natur noch weit entfernt waren, in diesen urteilen mehr dichtuug als
Wahrheit sich zeigte, soll somit in dem attribut „poetisch" eher ein
mangel als ein vermögen hervorgehoben werden, so kann der ausdruck
auch für die älteste zeit übernommen werden, der für die spätere in
etwas anderem sinne zutrifft 2.
4. Was ferner das attribut „religiöse" betrifft, so ist hier, wo
Avir es lediglich mit naturreligionen zu tun haben, nicht etwa zweifel-
haft, dass wir in den mythen eine der wichtigsten quellen unserer
deutschen heldensage s. 8) insofern bedenken gegen die definition Müllenhoffs geäusseii,
als die dichterische behandlung oft gerade die Veränderungen des mythus bedingt.
„Es ist ein verhängnisvoller irrtum, wenn einige dichtung und mythus nicht von
einander scheiden." Auch Baer (Germ. a. a. 0.) betonte mit recht, dass die mehr
passive poesie des mythus von der eigenthchen (mehr aktiven) poesie zu trennen sei.
Irreführend scheint mir dagegen der ausspruch desselben (a. a. 0. s. 5): nicht der
erkenntniswert, der gefühlswert bestimmt die mytheu-, wie jede begriifsbildung,
so gern ich anerkenne, dass die am meisten auf das gemüt einwirkenden erschei-
nungen die wirksamsten faktoren der mythenbildung wurden. Dass aber eine „auf-
fassung des unbegreiflichen nach analogie des begriffenen" nur stattfinden konnte,
wenn ein tiefer eindruck das gemüt aufregte, wird durch die w. u. § 5 fg. ausfüh-
rungen widerlegt werden.
1) Auf die rohheit der ältesten mythischen anschauungen hat namentlich
W. Schwartz widerholt (z. b. Ursprung der mythol. s. 11) hingewiesen; dass in die-
sen ältesten mythen doch auch der erste versuch eines naturer kennens vorhegt, deu-
tet derselbe mehr gelegentlich an (z. b. a. a. 0. s. 13).
2) Vgl. M. Müller, Vorlesungen über den Ursprung und die entwickelung der
rel. s. 316: vieles, was für uns poesie ist, war für sie prosa; was uns wie ein über-
mass von phantasie erscheint, war wirklich mehr folge einer unbeholfenheit in der
auffassung usw.
DER FENRISWOLF 159
keuntnis von der religion eines Volkes besitzen, wol aber, ob alle
mythen von vorn herein religiösen Charakter hatten. Auch in jenem
weiteren sinne, in dem die lehre von den dämonen schon der religion
zugerechnet wird, glaube ich doch die frage nicht unbedingt bejahen
zu dürfen. Können wir nach den Systemen, in die später die mythen
gebracht sind, auch jeden mythus an die gestalt eines gottes oder
heros^ oder riesen oder an elbische geister anknüpfen, so fehlt es
andererseits doch nicht an anzeichen, dass es in alter zeit auch eine
naiv -poetische naturbetrachtung ohne eigentlich religiösen Charakter
gab. Man braucht dabei nicht an das kaum bemerkliche religiöse ele-
ment in dem leben einiger naturvölker (namentlich in Australien) zu
erinnern; da überall auch rückfälle in der kultur vorkommen-, sind
derartige beispiele nicht ohne weiteres entscheidend, um so mehr als
auch ein verschiedener grad religiöser Veranlagung bei verschiedenen
Völkerrassen mehr als wahrscheinlich ist. Man muss also die Urkunden
des betreffenden volkes selbst prüfen, dessen religiöse entwickelung
man begreifen will. Auf nordischem gebiet bietet eines der deut-
lichsten beispiele für eine noch nicht durchweg religiös accentuierte
naturbetrachtung eine allerdings mehrfach misdeutete stelle der Her-
vararsaga.
5. Die dieser sage eingefügten, teilweise viel älteren rätseP geben
eine zwar nicht im modernen sinne, doch relativ objective, rein äusser-
liche naturbetrachtung wider, welche erscheinungen der belebten wie
unbelebten natur, ja erzeugnisse des menschlichen fleisses dicht neben
einander stellt und nur nach äusseren ähnlichkeiten beurteilt. Da wer-
den so nach einander der trank mungdt nach seinen Wirkungen, der
gang über eine brücke, der nachttau als mittel gegen den durst, der
hammer des goldschmiedes, der nebel, der anker, der rabe, der lauch,
die blasebälge, der hagel, der mistkäfer usw. vorgeführt und die art
der betrachtung ist weder unpoetischer noch weniger volkstümlich als
manche Strophe der Edda-^. Hier wollen wir nur die Strophe über den
nebel (Herv. saga ed. Bugge 238) betrachten. Sie lautet in Übersetzung:
1) Mit diesem nauien bezeichne ich den holden, der als Umgestaltung eines
gottes anzusehen ist.
2) So bezeug-t es z. b. für die Tupende in Süd -Afrika "Wissmaun (Unter deut-
scher flagge quer durch Afrika, kleine ausg. s. 60), vgl. im allg. Max Müller Über
den urspr. u. die entw. der rel. s. 74.
3) Im Grundriss der german. phil. II, 1, 133 hebt Mogk hervor, dass dieser
sage ältere Lieder zu gründe liegen, vgl. auch die folgende anm.
4) Mogk a. a. o. s. 80: „eine rätselsammlung, die sich in jeder bezichung
neben die Vaf{)r. stellen kann."
160 VriLKEN
„"Wer ist der mächtige,
Der die marken durchfährt?
Seen und sümpfe verschlingt er.
Den wind er fürchtet,
Doch wenig den menschen.
Dem Schimmer der sonne er schadet." ^
Dann folgt die antwort: ,,Das ist der nebel; vor ihm sieht man die
see nicht, aber er verschwindet gleich, wenn der wind kommt, men-
schen können ihm nichts anhaben; er lähmt den schein der sonne." ^ —
Wenn Uhland in seiner gelegentlichen besprechung des rätseis (Germ.
4, 85) sagt, dass hier kein (eigentlicher, zur Personifikation fortge-
schrittener) mythüs vom nebel vorliegt, so ist dies zweifellos richtig,
aber die werte: „mit der ausgesprochenen lösung des rätseis schwin-
det die scheinbare persönlichkeit des finstern ungenannten" werden
durch die errungenschaften jüngerer forscher glänzend widerlegt. Bei
diesen hat der „finstere ungenannte" glücklich einen mythologischen
namen gefunden. Es ist der Fenriswolf, von dem. es ja yaf|)r. 46, 4
(Sijmons) heisst, dass er die sonne verschlingen solP. — Da nun auch
der nebel dann und wann als fuchs oder wolf aufgefasst wird, so
stimmt die erklärung zu dem quellenzeugniss ja „in jedem zuge."
6. "Wer entweder selbst sieht oder durch Uhland sich daran erin-
nern lässt, dass hier noch kein mythus, sondern nur ein spielender
ansatz dazu sich findet, dem werden leicht ähnliche „mythenkeime"
auch sonst in der litteratur aufstossen, wenn auch in unseren „alten"
quellen, die schon sämtlich einen geordneten götterstaat voraussetzen,
1) Der von Uhland (vgl. im text das folg.) benutzte text (Herv. saga 1785,
s. 150 fg.) bietet die Varianten enn myrkvi („der dunkle") statt enn mikli („der
grosse").
2) In der antwort erhält der von Uhland benutzte text noch die angäbe: „Der
finstere nebel steigi auf aus Gymis (des meergottes) sitzen und verschhesst des him-
mels anbhck."
3) Einer gelegentlichen bemerkuug F. Magnussens (Den seldi-e Edda IV, 228),
wonach das rätsei der Herv. auf Fenrir zu beziehen sein möchte, ist leider auch
Laistner (Nebels, s. 30) gefolgt. Aber wenn dieser gelehrte, durch Mannhardt (Rog-
genwoK 61) bestimmt, bei F. zunächst „an den gewitter stürm, der den hinimel
mit finsternis umhüllt" dachte, dann aber lieber an ,, winterliche mächte der finster-
nis" denken woUte, so stimmt keine dieser erklärungen zu einem wesen, das bis
zum Weltuntergange in festen gewahrsam gebracht, auch vorher nichts furchtbares
verübt hat. Man vergesse nicht, dass der wolf unter umständen sogar woltätige
wesen bezeichnet (vgl. § 14). Auch das von Laistner citierte „wolfsalter" hat mit
dem Fenriswolfe nichts zu tun, vgl. kap. in, § 7 gegen ende.
DER FENRISWOLF 161
oft etwas binweggedacht werden miiss. Betrachten wir z. b. Gylfagin-
ning 10 die angäbe über nacht und tag, so ist von der auffassung,
dass sie allvater an den himmel gesetzt habe, leicht abzusehen; dass
sie die erde mit einem gespann in bestimmter widerkehr umkreisen,
kann ursprünglich ohne jede beziehung auf die götter geglaubt sein.
Auch die weitere angäbe, dass vom gebiss des pferdes der nacht der
sogenannte nachttau herabtrieft, von der leuchtenden mahne des tages-
rosses aber luft und erde erleuchtet werden, lässt noch keine deutliche
beziehung auf freundliches oder feindliches Verhältnis zur menschen-
weit erkennen. Da die meisten naturerscheinungen aber nach einer
dieser beiden selten betrachtet werden können, so wurde jene einfach
physikalisch-mythische auffassung, welche die erhabeneren naturvor-
gäuge, z. b. die am himmel mit anderen, dem menschen näher liegen-
den erscheinungen einfach verglich, meist bald durch eine mitbetei-
ligung des menschlichen gemütes in furcht oder frommer Verehrung
zu einer betrachtung gewandelt, von der aus man die naturgebiete als
Wirkungskreise dem menschen an macht überlegener, bald woltätiger
bald schädlicher dämonen betrachtete, was endlich unschwer dazu
führte, diese geister auch als sittlich bestimmte, gute oder böse mächte,
anzusehen, mit welcher Unterscheidung die Verehrung der götter in
dem sinne des späteren heidentums im principe gegeben war^ Muss
mau sich auch davor hüten, die entwickelung des menschlichen be-
wusstseins der natur gegenüber nach einer toten formel oder Schablone
behandeln zu wollen , liegt dem besonnenen urteil vielmehr das geständ-
nis nahe, dass keime der scheinbar höheren auffassung schon in der
„niederen" liegen müssen und dass günstige umstände oft einen keim
sehr rasch zur triebkraft bringen, dass somit die eben angedeuteten drei
stufen der naturbetrachtung nicht notwendig immer als chronologisch
1) Es wird leicht erkannt werden, dass diese betrachtungsweise mehr in den
ausgangs - , als in den endpunkten der von "Wislicenus entspricht. Dieser findet s. 88
in der individualisieruug der Persönlichkeit das für den niythus charakteristische,
während die ., wahre hesonderheit'- innerhalb der Sphäre des Symbols nicht erreicht
werden könne. Aber gerade der satz ,,das Symbol betrachtet die persönlichkeit als
gattimgsbegrifT " ist sehr anfechtbar. Mit triftigen gründen hat AY. Scliwartz (Poet,
naturansch. I, 154 fg.) zu beweisen gesucht, dass in der urzeit die sonne des neuen
tages oder die nach dem unwetter neu erscheinende als ein ganz neues wesen betrach-
tet sei, wozu auch Vaf|)r. 47 deutlich stimmt; erst allmählich lernte man die Identität
der in deu verschiedenen liypostasen der sonne, des mondes usw. sich zeigenden
wesen erkennen. — Nur in dQm freieren sinne also, dass eine ethische indivi-
dualisierung', ein moralischer Charakter dem Symbole noch nicht zukommt, kann ich
jener auffassung von Wislicenus beipflichten.
ZEITSCHRIFT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XXVIII. 11
162 WILKEN
scharf geschiedene perioden gelten müssen (vgl. u. n. 4 und § 13), so wird
andererseits doch für eine methodische mythenerforschung kaum ein
anderer weg offen stehen als der in jenen drei stufen sich darstellende,
wobei leicht zu bemerken ist, dass zwar die älteste zeit allen
gegenständen, auch den für uns toten, eine art von beseeltheit zuge-
stand \ die volle menschenähnliche persönlichkeit den naturmächten
aber erst zugleich mit der sittlichen bestiramtheit geliehen werden
konnte.
7. Um die angenommenen drei stufen an einigen nahe liegenden
beispielen zu erläutern, so stellt sich zu der naiv physikalischen be-
trachtung des neb eis, die wir in dem rätsei der Hervararsage (vgl. § 5)
fanden, eine art von dämonischer auffassung desselben phänomens in
jenen sagen vom „nebelmännlein", die zuerst ühland mitgeteilt hat,
während sie jetzt in reicherer fülle vorliegen; zu einer ethischen be-
stimmtheit konnte der nebel nur in unsicheren ansätzen gelangen 2. —
Dass auch bei dem gewitter nicht etwa die dämonische auffassung
die älteste war, geht einmal aus den Zeugnissen über die auffassung
der naturvölker hervor 3, andererseits wird es auch durch die erwägung
bekräftigt, dass erst mit der gewinnnng fester w^ohnsitze und geregel-
tem anbau der felder der blitzschlag (nebst dem hagel) seine verderb-
lichste Wirkung zeigen konnte; doch hatte eine höhere kultur auch die
woltätigen folgen solcher erscheinungen kennen gelehrt, so dass wir
den donnerkeil allmählich aus der band dämonischer wildgesellen in die
der höchsten , die menschenweit schirmend umwaltenden gottheiten w^an-
dern sehen^. — Wählen wir das dem blitze so nahe stehende feuer,
1) Mau ueimt diese Weltanschauung jetzt gewöhnlich auimismus. Über die
poetische berechtigung derselben handelt Grirani Myth.^ 539; von ihr aus werden
manche verwandeliingssagen , z. b. die von menschen in steine fw. u. § 16) eher ver-
ständlich.
2) Uhland, Genn. 4, 82 — 87; seitdem hat L. Laistuer in seinem gehaltvollen
buche Nebelsagen (Stuttg. 1879) sehr viel neues hinzugefügt, vgl. namentlich s. 184
fg. — Insofern der nebel im hochgebirge und an der see auch eine unheimlich finstere
macht werden kann, sind auffassungen erklärlich wie die von Laistner s. 235 belegte,
wo man im nebel den teufel verborgen glaubte.
3) So weit diese Völker von einer richtigen erklärung dieser Vorgänge natür-
lich auch entfernt sind, so betrachten sie donner und blitz doch zunächst nur als
auffällige, gelegentlich sogar zum scherz auffordernde phänomene, vgl. Schwartz
Poet, naturansch. II, 123 fg. Dazu stimmt die angäbe Wissmanns (vgl. oben s. 159
n. 2): ein gefühl der furcht beim leuchten des blitzes und groUen des donners kennt
der söhn der wildnis nicht (a. a. 0. s. 57).
4) Das angeführte ist nicht so zu verstehen, als ob immer eine frist von Jahr-
hunderten zu dieser entwickelung nötig gewesen sei. Vielmehr sind geistig regsamere
DER FENRISWOLF 163
SO zeigt es sich einfach als verzehrendes dement aufgefasst in dem
Logi der Gylfag. (c. 46); als dämonisches, die weit schliesslich ver-
nichtendes wesen in Surtr (Gylf. 51); als ethisch bestimmte, in diesem
falle fast diabolische persönlichkeit in Äsa-Loki (Gylf 33). Verglei-
chen wir diese drei gestalten näher, so ergibt sich folgendes: in Snrtr
ist die in Logi nur eben angedeutete personificierung so weit gediehen,
dass nun das dement von ihm selbst unterschieden werden kann (kann
hefir logauda sverä — ok muri brenna allem heim 7neä eldi, vgl. auch
Wisl. s. 89); in Loki endlich ist die persönlichkeit so durchgebildet
wie bei wenig anderen erscheinungen der nordischen mythologie^; er
tritt (in Lokasenna) allein dem ganzen götterstaat entgegen, weiss Baldrs
tod herbeizuführen usw. — ■ Aber diese entwickelung nach der geistig-
sittlichen Seite bedingt zugleich eine entfernung von der natürlichen
basis der mythischen Vorstellung, die ihre alte bedeutung nie ganz ein-
büsst: so sehen wir nicht nur im letzten kämpfe Loki von dem
noch mehr physisch gehaltenen Surtr, der die weit in flammen setzt,
überragt , sondern selbst bei dem mehr scherzhaften wettkampfe im
essen (Gylf. 46) erliegt Loki seinem rein elementaren nebenbuhler
Logi-. — Während die sonne, rein physikalisch betrachtet, von der
Urzeit als ein eher mit goldenen borsten (= strahlen) aufgefasst wer-
den konnte 3, ist ihre für den menschen woltätige macht ganz besonders
in dem gotte Freyr ausgeprägt (Gylf. 24, Yngls. c. 12), welchem die
spätere mythologie dann jenen eher als attribut beigab, vgl. Skälda
c. 35. — Fehlt es diesem gotte an sittlicher bestimmtheit auch nicht
völlig, so tritt diese widerum doch weit deutlicher in dem eddischen
Völker z. b. durch die gewittervorgiluge sehr früli zur vorstelhing dämonischer uud
(gleichzeitig vielleicht) auch göttlicher mächte gelangt. Denu indem die finsteren wöl-
ken, die den regen zurückzuhalten schienen, dämonisch gefasst wurden, sah man in
dem die wölken teilenden blitz das schwert eines göttlichen wesens; vgl. z. b.
Schwartz, Urspr. der myth. 181 — 190, 282 fg. ; das brüllen des donners wird meist
den wolkenuDgetümen zugeschrieben. Seltener wird in unseren quellen der blitz
selbst einem dämonischen wesen beigelegt, wie z. b. dem Geirrgdr in der erzählung
der Skälda c. 18 (Pros. Edda 108, 6 fg.).
1) Vgl. den warmen liinweis auf Loki und Sigyn als objokt für eine künst-
lerische darstellung (die seitdem mehrfach, z. b. von Märten Eskil Vinge, versucht
ist) bei N. M. Petersen am schluss seiner Nordisk mythologi.
2) Über das Verhältnis von Loki zu Surtr vgl. aucli meine Untersuch, zur
Snon-a Edda s. 121.
3) Diese deutung des ebers Gullinbursti geben F. Magnussen (Lex. mythoL);
Schwartz, Poet, naturansch. I, 122; Kuhn, Über die entwickelungsstufen der mythol.
s. 136 u. a.
11*
164 WILKEN
Baldr hervor, der aber gerade wegen dieser betonung des ethischen
Charakters (z. b. Gylf. 22) zu den jüngsten Schöpfungen des altnor-
dischen götterglaubens gehört haben muss; spuren von einer wirklichen
geltung desselben im Volksleben finden sich nicht ^. ■ — Diese beispiele
dürften vorläufig genügen, um statt der neuerdings beliebten und in
einigen fällen auch ausreichenden Unterscheidung „niederer" von „hö-
herer" mythologie, welche doch das verurteil erwecken kann, als ot
die geistigere auffassung so zu sagen nur ein komparativ der natür-
lichen gewesen sei-, die oben angenommenen drei stufen der mytheu-
bildung soweit zu empfehlen, dass sie als die einfachste, dem gewöhn-
lichen entwickelungsgange wirklich entsprechende bezeichnung gelten
können^. Ist aber erst auf der dritten stufe, die von sittlich bestimm-
ten wesen handelt, ein eigentlicher götterglaube möglich, so ergibt sich
daraus, dass ich Müllenhoffs fassuug „religiös -poetische anschauungen"
doch auch nur in dem sinne adoptieren kann, dass ein gewisser keim
religiöser naturbetrachtung der ältesten mythischen zeit schon angehört'^;
dasselbe Verhältnis ergibt sich bez. des ausdrucks „den in ihr wirken-
den kräften, die es als persönliche wesen auffasste", vgl. oben § 6
gegen ende.
8. Noch richtiger wäre es vielleicht der ersten stufe (der des
mythischen symbols oder der physikalischen) nur eine äussere verglei-
chung fernerliegender mit alltäglichen erscheinungen zuzusprechen, die
1) Dass von niäunlicheu gottheiten (ausser Tyr) eigentlicli nur I*6rr, Odiun
und Freyr (nebst Nj^rdr) eine altbegründete , festgewurzelte Verehrung im norden
genossen haben, hat H. Petersen überzeugend nachgewiesen; vgl. Om nordboernes
gudedyri. s. 98. — Über Baldr vgl. auch Mogk in Pauls grundriss I, 1062 fg. Dass
dieser sittlich höchststehende zugleich als der physisch schwächste gott gedacht wurde,
geht aus Gylf. 49 deutlich hervor.
2) Vgl. oben s. 157 anm. 1.
3) In teilweise ähnlicher weise hat Henne (Die deutsche volkssage s. 3) drei
stufen (tiergestalt , dämonen, menscliengestalt) unterschieden, doch sind die abwei-
chungen schon auf der ersten stufe, die ich keinesweges auf tiergestalten beschränke,
deutlich und treten auch sonst vielfach hervor, vgl. u. s. 166 anm. 2.
4) Dass andererseits die religion nicht lediglich aus der naturbetrachtung abzu-
leiten sei, betont mit recht Manuhardt (a. a. o. 37): „Ein gewöhnlicher Irrtum,
dem wir entgegentreten müssen, ist es, dass mythologie und religion schlechthin
eines seien." Über die allmähliche Vermischung beider handelt Mogk im Anz. für
indog. sprach- u. altk. III, s.' 23. Vgl. übrigens auch Wislicenus, Loki s. 2,
"W. Schwartz, Poet, naturansch. II, VIII fg. und die beachtenswerten 'ausführungen
M. Müllers Über Ursprung und entwickelung der i'eligion, besonders in der 2., 4., 5.
und 6. Vorlesung. — Eine völlige Scheidung religiöser (hieratischer) und volkstüm-
licher mythen hat 0. Gruppe versucht. (Die griech. culte u. mytheu, vgl. Mogk in
Pauls Grundriss I, 993.)
DER FENRISWOLP 165
beide auch im machtbereiche des menschen liegen können (vgl. für
letztern fall z. b. die in § 5 angeführten beispiele aus der Hervararsaga
ausser dem hagel, nebel, nachttan); derartige Symbole kann jedes Jahr-
hundert neu bilden, vgl. das „schnaubende dampfross", das „elastische
stahlross" unserer zeit. Aber von diesen mythenkeimen sind nur die
zu höherer, persönlicher auffassung gelangt, die sich auf objekte bezie-
hen, welche wenigstens nicht ganz oder überhaupt gar nicht in den
Avillen des menschen gegeben sind und demnach auch als nach belie-
ben dem menschen freundlich oder feindlich gegenübertretend gedacht
werden konnten, so z. b. das feuer, der wind und ziemlich alle in den
Edden berührten mythenstofte. Hier entwickelte sich, durch bereits
früher wirksame momente des gemütslebens (auf die n. '^ s. 164 zu anfang
kurz hinweisen wollte) unterstützt, bald die dämonische resp. religiöse
auffassung der naturobjekte, wobei ich nicht zu irren glaube, wenn
ich den anfangen dieser „höheren" stufe nur für die menschenweit im
ganzen bedeutsame erscheinungen als „gehobene" mythenstoffe zuge-
stehe (vgl. § 11 gegen ende), während jede berücksichtigung rein loka-
ler erscheinungen, weil nicht geeignet ohne weiteres auf das gemüt
jedes hörers zu wirken, einer jüngeren, mehr subjektiv gerichteten zeit
gehören wird. Dabei ist meist eine irgendwie auffällige lokalität mit
schon vorhandenen mythen in beziehung gebracht, vgl. für das gebiet
der heldensage z. b. Beiger, Die my kenische lokalsage, Berl. 1893,
s. 3 fg. Während auch Hirschfeld in den Untersuchungen zur
Lokasenna (Acta germ. I, 1 fg.) gelegentlich (s. 57) die verliebe der jün-
geren Eddalieder für „geographische, wirkliche namen" betont, ist er
doch selbst mehrfach beflissen eddische mythen auf Island zu lokali-
sieren. Wer aber in dieser weise sucht, findet leicht mehr als genügt
9. Konnte ich so, wenn auch nicht ohne verschiedene vorbehalte
der von Müllenhoff gegebenen deünition der mythologie im ganzen
mich anschliessen, so bedarf dieselbe doch im Interesse der nachfolgen-
den Untersuchung noch einer mehrfachen ergänzung. — Zunächst möchte
1) So hat H. a. a. o. s. 23 glücklich die HMarnämur aufgefunden: „zwölf
grosse, in einer doppelten reihe geordnete kessel voll kochenden schaunies, welche
brüllend und spritzend imermessliche säulen eines dichten dampfes in die luft aus-
senden, die sich dann ausbreiten und die strahlen der sonne verdunkeln." — AYenn
es dann heissi: „jeder dieser kessel gibt ein bild des Fenrisulfr", so fragt man sich
doch: warum berichten die Edden dann nicht gleich von einem dutzend solcher
Wölfe? — Wie alt die zeugnise für allgemeine Verbreitung des betr. mythus im nor-
den sind, habe ich s. 182 anm. 4 hervorgehoben; auch das stimmt nicht recht zu
isländischem Ursprünge desselben.
166 WILKEN
ich den aiisdruck „bilder" oder „symbole", den ich zur Unterscheidung
der stufe physikalisch -mythischer betrachtung von dem ausgebildeten
(dämonischen, resp. religiös -ethischen) mythus für unentbehrlich halte,
gegen die bedenken verteidigen, die W. Schwartz (ürspr. der myth.
s. 12) wenigstens gegen den ausdruck „s3^mbolik" erhebt; der hochver-
diente gelehrte meint z. b. in den tieren der ältesten mythenkeime
nicht etwa symbole göttlicher kraft, sondern für den glauben jener zeit
wirklich existierende wesen erblicken zu müssen i. Diesem Standpunkte
trete ich insofern unbedenklich bei, als einmal jene ältere „symbo-
lische" mythenerklärung, die jedem durch einfache vergleichung sich
leicht erklärenden zuge des mythus einen verborgenen sinn unter-
schiebt-, auch an mir keinen anwalt findet, andererseits auch zugegeben
werden muss, dass die vergleichung zweier wesen in der älteren zeit
etwas mehr als eine poetische metapher war, vielmehr momentane
gleichsetzung in vielen fällen voraussetzt. Immerhin lässt schon der
reiche Wechsel der gewählten bilder (vgl. z. b. für die sonne, den mond,
die Sterne, die wölke das register bei Schwartz a. a. o.) erkennen, dass
eine gieichsetzung dieser art doch sehr leicht wider aufgehoben werden
konnte, um einer andern platz zu machen, so dass mehr ausnahms-
weise für eine naturcrscheinung auch nur eine bilderreihe in gebrauch
kam^ Man wird also ebenso dem historischen Standpunkte gerecht,
wie man sich den leichten Übergang der bilder in die eigentlichen
mythen hinreichend erläutert, wenn man die bildersprache der altmy-
thischen zeit als eine ungemein lebendige, zu wirklicher gleichsetzung
in manchen föllen leicht führende vergleichung sich klar macht.
10. Zunächst beschäftigt uns nun die doppelfrage : Avelche objekte
sollten durch jene bildersprache so zu sagen übersetzt werden und
welche bilder standen der nrzeit als allbekannte werte und somit als
1) A. a. 0. s. VI: ,, stürm, blitz usw. sind symptooie der wesen und des trei-
bens einer andern weit."
2) Vgl. dar. Schwartz, Poet, uaturanscli. I, 221 auin. Mehrfach neigt zu die-
ser art von Symbolik unter den neuern forschem auch Henne (vgl. oben s. 164 n. >3),
wenn er z. b. s. 3 von den tieren sagt: ,, dieser umstände wegen glaubte man höhere
wesen in ihnen vei'borgen und verehrte daher solche unter der gestalt der tiere." —
Dieser für einige völker des Ostens vielleicht passende satz lässt sich aus deutscher
volkssage nur in jenem beschränkten umfange ei'weisen , in dem z. b. auch E. H. Meyer
(Germ. myth. s. 93) für eine ähnliche ansieht einzutreten geneigt ist.
3) So werden sonnen- iind mondfinsternisse wol lediglich als durch räuberische
tiere (wölfe, drachen) verursachte Schwächungen des sonnen- oder mondlichtes auf-
gefasst. — Über den Wechsel der bilder für dasselbe phänomen sogar in einem
mythus vgl. z. b. Manuhardt, Götterwelt s. 204.
DER FENRISWOLF 167
mittel zum doluietscherdienste zur Verfügung? die letztere frage beant-
wortet sich fast von selbst: wie uns jede europäische spräche noch
jetzt manche belege dafür bietet, dass man neue erscheinungen (nament-
lich tiere und pflanzen der fremde) nicht etwa mit einem ganz neuen,
für viele unverständlichen namen zu bezeichnen, sondern an bekann-
tere Avesen der heimat durch die benennung anzureihen suchte, ganz
unbekümmert um wissenschaftliche gruppierung i, so wurden auch die
erscheinungen der mythischen welt^ mit den bekannteren grossen ver-
glichen, welche den menschen täglich umgaben. Am häufigsten wur-
den die höher entwickelten, teils zahmen, teils wilden tiere ^ zu die-
sem dolmetscherdienste herangezogen, doch auch die menschengestalt,
pflanzen, steine, einfaches hausgerät Avaren keinesweges ausgeschlossen.
Unter derartigen Symbolen noch eine historische Stufenfolge, etwa vom
unbelebten zum belebten (zunächst tierischen) symbol anzunehmen,
erscheint bei schärferer betrachtung ziemlich Avertlos^, da die lebendige,
ganz oder halb animistische auffassung der urzeit solche Unterscheidung
kaum gestattet, auch andere gründe noch dagegen sprechen^. — Nur
soviel ist nicht zu verkennen, dass auf den stufen dämonischer und
1) Vgl. ausdrücke wie hippopotamus (nilpferd), camelopardalis (giraffe), stru-
thocamelus (strauss), walross, seeliuud, seelöwe usw. Die bekannte bezeichnung des
elephanten als bos Luca oder Lucanus seitens der Eömer zur zeit des PyiThus lässt
die von einigen forschem vorgeschlagene ableitung von elephas aus dem semit. aleph
(= rind) sehr natürlich erscheinen. Auf elephas geht dann wider got. ulbandus
(^ kamel) zurück. Bez. der pflanzenweit genügen wol folgende beispiele: baum-
woUe, butterbaum, deutscher kaffee, türkischer weizen, erdapfel, kartoffel (für tar-
tuifel = trüffel, vgl. Grimm, D. wb. s. v.). S. auch Beer, Germ. 33, 11.
2) Vgl. § 11 zu anfang.
3) Eine Übersicht der für die mythologischen Vorstellungen wichtigeren tiere
gibt ausser Grimm, Mji;h.* 546 fg. z. b. Mannhardt, Korndämonen s. 1. Ygl. auch
Ang. de Gubematis, Die tiere in der indogerm. mythologie, E. H. Meyer, Germ,
myth. 93. Wenn aber dieser namhafte gelehrte a. a. o. behauptet: „nicht die tie-
rischen Urbilder der Wirklichkeit, sondern ihre überirdischen "abbilder waren die
massgebenden figui'en der mythischen fauna", so möchte ich mich vielmehr mit der
bemerkung begnügen, dass die irdische tierweit nicht immer ausreichte zur Interpre-
tation mythischer Vorgänge, daher die häufige Verwendung des drachen, d. h. der
geflügelten schlänge, des flügel-pferdes, -riudes usw. Solche gestalten lassen sich
zusammengesetzten schriftzeichen, die doch niu' einen laut bezeichnen sollen, ver-
gleichen. Der flügel bezeichnet diese wesen als dem luftreiche oder dem himmels-
raume angehörig.
4) Dazu neigt Wislicenus, Symb. s. 20fg. , 66 fg. und in seiner weise auch
Schwartz (Poet. nat. I, XIX); vgl. aber Mannhardt, Korndäm. s. VII sub II mid s. 19.
5) So hebt Schwartz selbst hervor, dass als unbelebte symbole oft Werkzeuge
des menschen erscheinen, die historisch doch nicht der allerältesten zeit angehören.
168 WILKEN
ethischer betrachtung ursprünglicher naturphänomene man sich der ver-
menschlichung, resp. Vergötterung immer mehr näherte: für die dämo-
nische auffassung genügte oft noch eine tiergestalt, neben welche aber
die halbmenschliche ^ immer häufiger hintrat; für die ethisch -religiöse
auffassung war die menschliche das minimum, während nicht selten
auch die übermenschliche, d. h. idealisiert menschliche eintrat.
11. Prägen wir weiter nach den Objekten der vergleichung, so ist
als die eigentlich „mythische" weit zwar mit W. Seh war tz (Ursp. s. 11)
„eine den menschen geheimnisvoll umgebende, andere weit, die nur mit
ihren Symptomen in diese hineinragte" anzuerkennen, aber ich möchte
doch nicht gerade sagen „der glaube an diese weit war der urquell der
mythologie", denn es handelte sich bei jenen Symptomen doch um
sichtbare oder sonst leicht zu konstatierende dinge und die bilder-
sprache des mythus^ ist zunächst als erklärungsversuch dieser zum
guten teil ganz unbestreitbar vorhandenen weit zu betrachten, vgl. oben
§ 2, Wisl. Symb. s. 14. — Dagegen stimme ich A. Kuhn und
W. Schwartz Aviderum darin zu, dass sie mit nachdruck die erschei-
nungen am himmel als diejenigen betont haben, die als der erste und
wichtigste weitteil der mythischen weit sich uns darstellen 3. Ist aber
der von A. Kuhn zur begründung dieses Standpunktes vorgebrachte
hin weis darauf, dass „das indogermanische urvolk in seinen Stamm-
sitzen schwerlich ein grösseres meer kannte", nicht durch andere
gründe zu verstärken, resp. zu ersetzen?* Dürfen wir nicht sagen,
dass der himmel 1) durch die menge der hier sich darbietenden
erscheinungen, die zu direkter wie indirekter (vgl. § 13) vergleichung
auffordern, 2) aber auch durch ihre grosse verschiedenartigkeit
hinsichtlich teils periodischer, teils momentaner bewegimg und Verän-
derung, teils wider scheinbarer ruhe und Stetigkeit^, 3) endlich im
1) Halbmenscblicli nenne icli niclit nur niischuugeu von tier- und menschen-
gestalt, sondern aucli die auffassung der menschlichen gestalt in vergröbertem oder
verkleinertem massstabe (riesen, zwerge).
2) Passend vergleicht L. Laistner (a. a. o. 208) die spräche des mythus der
hieroglyphen Schrift.
3) So behandelt Schwartz in seinen „Poetischen naturausch." zunächst nur
die mythischen bezeichnungen für die am himmel sich zeigenden phänomene, von
denen aber die übrigen sich als abgeleitet ergeben.
4) Herabkunft des feuers- s. 25. — Bekanntlich nehmen heut zu tage viele
forscher nicht mehr das innere Asien als Urheimat der Indogermanen an.
5) Mit recht hebt W. Schwartz a. a. o. I, XVII fg. hervor, dass sonne und
gestime weit weniger selbständig die mythologischen Vorstellungen bedingten, als die
Veränderungen, welche mit ihnen vorzugehen schienen, die zunächst die aufmerk-
DER FKNRISWOLF 169
hinblick darauf, dass den Wirkungen der am himmel vorgehenden
dinge kein erdbewohner auch nur auf 24 stunden sich völlig entziehen
kann, millionen von menschen aber von regen und Sonnenschein bez.
ihrer existenz direkt abhängig sind, eine ganz unbestreitbare präpon-
deranz geniesst? Alle anderen gebiete der mythischen weit stehen
nicht nur zurück, sondern finden sozusagen ihre vorspiele in erschei-
nungen der luft und des Weltraumes: so die unterweit im wolkenschat-
ten und nachtgrauen, die meeres- oder flussüberschwemmung im wol-
kenbruch, das gebirge der erde im wolkenberg usw. ^
Auf den dritten der oben genannten gründe aber lege ich das
grösste gewicht: 2 so sind denn auch nur die in allen gegenden bedeut-
sam hervortretenden phänomene des luftraumes als primäre mythen-
stoffe zu betrachten, während allerdings auch dieser mythische weitteil
einige secundäre mythenbildungen aufweist 3.
12. Diese Unterscheidung primärer und secundärer erzeugnisse der
mythenweit legt vielleicht die weitere frage nahe: „ist nicht auch eine
Scheidung zwischen eigentlichen naturmythen und solchen mythen nötig,
die aus dem seelenglauben hervorgegangen sind?" (vgl. s. 156 anm. 1). —
So verdienstlich nun auch die schärfere beachtung des seelenglaubens,
wie sie in den letzten decennien sich zeigte, zweifellos ist, so ist doch
weder die historische priorität des seelenglaubens irgendwie erwiesen^
samkeit fesselten, wozu Seneca, Quaest. uat. VII (zu anfang) verglichen wird. • — Aber
nachdem die an so vielen himmelsköi'iJern bemerkbaren Veränderungen die auffassung
gereizt und geschärft hatten, konnte es doch nicht fehlen, dass nun aucli bei schein-
bar unbeweglichen körpern gefragt wurde: „werden diese niemals ihren Standort
ändern? Gibt es wirklich eine dauer im Wechsel?"
1) Natürlich ist dies nicht auf die form zu beziehen, die man von der erde
her kannte, aber darauf, dass die möglichkeit eines öffnens der berge und des gewin-
nens goldener schätze aus ihrem schösse zuerst am himmel sich darstellte. Der ein-
förmigen Wildnis der ursprünglichen erde gegenüber war der himmel gewissermassen
das, was für einen landbewohner unserer tage die grossstadt mit ihren immer neuen,
zum staunen oder nachdenken reizenden eindrücken.
2) Ygl. Schwartz a. a. o. II, XIV: ,,der mensch huldigte nur dem, den er zu
fürchten Veranlassung zu haben glaubte." Dieser gedanke wird durch das dort citierte
wallachische märchen sehr lebendig erläutert.
3) Laistner, der mit so gi'ossem erfolge den nebelsagen nachgeforscht hat, ver-
kennt darum nicht, dass der grösste teil dieser sagen nicht der ältesten zeit angehört,
vielmehr teilweise wenigstens eine Umbildung aus astralen sagen sich wahrscheinlich
machen lässt, vgl. s. 105, 128, 209.
4) Vgl. Mogk in Pauls Grundriss I, 998; nach dieser Seite neigt ausser Vods-
kow (Rigveda og Edda 1890) neuerdings auch E. H. Meyer (Germ. myth. 1891) und
Golther (Götterglaiibe und göttersagen der Germanen 1894). Scheinbar einleuchtend
sagt letzterer s. 3: „vom glauben an seelengeister ist es nur ein schritt zur natur-
170 WILKEN
noch selbst eine Scheidung des stofies iii „dämonische" (d. h. hier dem
natiirgebiet entnommene) und „dem seelenglaubon angehörende" mythen
als innerlich berechtigt zu betrachten i. — Dass an die gestorbenen
eher gedacht sei als an die lebenden, kann niemand behaupten; die
seele des lebenden aber steht dem naturgebiet nicht nur nahe, sondern
ist an das atmen geknüpft. Dieses ist ein natürlicher Vorgang; er wird
zeitweise sogar hörbar und (bei einigen kältegraden) deutlich sichtbar.
Dies atemwölkchen ergibt bei gehöriger Verstärkung den von Laistner
sog. „seelennebel" 2, ebenso wie der hörbare hauch, ähnlich verstärkt,
zu jenem Sturmwinde passt, in dem ein seelenheer vorüberstürmen
sollte; auch die auffassung des Schattens als eines so zu sagen see-
lischen begleiters des körpers stimmt zu der ansieht, dass der seelen-
glaiibe der urzeit (in ausgleichung der sog. animistischen auffassung
des für uns unbelebten) in der seele nur eine feinere art von materie
sah, die nach dem tode des menschen neue, aber auch dann dem
naturbereich nicht entnommene Verbindungen eingieng^.
13. Dagegen erscheint mir ausser der trennung primärer und secun-
därer mythenstoffe noch eine art der Unterscheidung notwendig: die
des direkten und indirekten Symbols '^. Das erste findet sich, wenn
ich die sonne z. b. einem goldenen balle vergleiche; das zweite, wenn
ich eine Sonnenfinsternis dem angriff eines wolfes zuschreibe. Dort
wird ein deutlich sichtbares objekt mit einem anderen, näher liegenden
verglichen; hier handelt es sich um verdeutliciiung von vergangen, die
zwar mit den sinnen wahrgenommen werden, so jedoch, dass diese
beseelung." — Aber war dieser scliritt nicht längt geriiacht? Gilt nicht der satz:
„der mensch ist das mass aller dinge" am allermeisten gerade für das kindesalter
der menschheit? Der mensch lebt, so vermutet er überall lebensspuren ; die bewe-
gung des windes, des wassers, mancher gestirne bestärkt ihn in seiner raeinung.
Selbst wo die natur ganz starr erscheint, liegt ihm der gedanke des Schlummers
näher als der des todes, vgl. noch Chamisso: „die schätze, die schlummernden alle,
die unter der erde sind." Oder die leblosen massen sind wenigstens wohuungeni
werke lebendiger wesen — „von geistern der tiefe erbaut" u. ähnl.
1) Diese Scheidung versucht Mogk a. a. o.
2) Gemeint ist ein nebelstreifen oder eine nebelwolke, die als andeutung einer
seelenschar aufgefasst wurde (L. neb. s. 118).
3) Immerhin darf man mit M. MüUer (a. a. o. s. 100) anerkennen, dass mit
der beobachtung des Schattens und des atems sich die idee von einem etwas, das
vom körper verschieden ist und doch eine art von leben besitzt, langsam hervor-
arbeitet, dass hier die Übergänge vom materiellen zum immateriellen sich finden.
4) Auch bei den von mir vorgeschlagenen treunungen handelt es sich nicht
um unverrückbar feste grenzbestimmungen , nur um mittel, die Orientierung auf dem
mythologischen gebiete zu erleichtern.
DER FENRISWOLF 171
Wahrnehmung zunächst nur die Wirkung, nicht die Ursache mitteilte
Den Übergang von der einen zu der anderen klasse bildeten vielleicht
die gewitterphäuomene, die in ihrer raschen und für unsere Wahrneh-
mung etwas verschobenen reihenfolge eine auch nur annähernd objek-
tive auffassung ungemein erschwerten. Zu den eigentlich indirekten
S}anbolen aber rechne ich z. b. die bezeichnung des windes als eines
adlers, die des echos als zwergrede (dvergamäl), die erklärung von Son-
nenfinsternissen in der bekannten weise (vgl. oben); hierher gehört auch
die auffassung der nacht als einer realen, bald auch persönlich gefass
ten grosse. Nur mit dem indirekten symbol zu messen w^ar ferner das
verhalten der seele im täglichen leben, im schlaf, im träum, nach dem
tode des menschen usw. Man sieht aus dieser kurzen aufzählung,
dass es sich hier um die wichtigsten aller fragen handelt, und ist
man auch theoretisch geneigt der urzeit zunächst mehr ein interesse
an den deutlich sichtbaren erscheinungen der lebeweit zuzutrauen, so
liegt doch selbst für ein kindliches gemüt die frage zu nahe: wie ist
der Wechsel von tag und nacht, schlaf und wachen, leben und tod zu
erklären? um annehmen zu können, dass irgend ein menschenalter sie
gänzlich vernachlässigt habe; gerade die Schwierigkeit des problems
pflegt ja auch den reiz zu erhöhen 2. — Die priori tat der direkten
1) M. Müller (a. a. 0. 4. voiies.) unterscheidet unter den Objekten der mythi-
schen uaturbetrachtiing greifbare, halbgreifbare und ungreifbare gegenstände; letztere
aber müssten nach dem grade der deutlichkeit, den sie für gesiebt oder gehör dar-
bieten, eigentlich wider gesondert werden. Für die zwecke dieser abhandlung genügt
jedesfalls die oben vorgeschlagene teilung.
2) So ist die frage : wer ist der schnellste ? auch in volkstümlichen kreisen eine
beliebte und von alters her eifrig erörterte (vgl. Laistner a. a. 0. 187, 322). — Be-
merken möchte ich hier auch, dass es ausser jener direkten naturbetrachtung, die
am reinsten iu den Symbolen der m'zeit sich ausprägte, auch in dieser zeit an indi-
rekten Schlüssen nicht gefehlt haben kann , die etwas tiefer in den urgrand des sicht-
baren einzudringen bemüht waren. Erinnert sei hier an die schöne darlegung M. Mül-
lers, der ausführt, wie mit der Wahrnehmung des endlichen gleichzeitig auch eine
gewisse (ich würde sagen indirekte) auffassung des unendlichen gegeben sei, vgl.
a. a. 0. s. 40, 41, sowie über die bezeichnung des übernatürlichen bei den Melanesiern
s. 59 fg. Hier erhebt sich die frage : gab es monotheistische glaubenskeime schon bei
den heidnischen ISTordgermanen ? Allerdings sind die betreifenden stellen der Vatns-
dsela saga, z. b. c. 37 (FornsQgur ed. Mob. u. Vigf. s. 59) „mi vil ek heita a [)ann,
er solina hehr skapat, |)viat ek trüi hann mättkastan" vielfach als in christlicher zeit
entstanden betrachtet (die lit. s. bei E. H. Meyer, Germ. myth. s. 295) imd die
späte aufzeichnung der betreffenden saga ist bekannt, doch versuchte Döring, Über
typus und stil der isl. saga s. 23, eine vermittelung zwischen heideutum und Chri-
stentum als tendenz des Verfassers wahrscheinlich zu machen. Ohne zweifei christ-
lich beeintlusst sind stellen wie Gylf. c. 3 und 5 , vgl. Untersuch, s. 70 fg.
172 WILKEN
Symbole möchte ich daher auch nur in dem sinne verti'eten, dass
wenigstens die umgekelirte folge "wenig glaublich ist, dann auch im
hinblicke darauf, dass eine jüngere form der mythenbildung, die my-
thische allegorie, sich vom indirekten symbol abzuleiten scheint, vgl.
§ 17.
14. Kehren wir aber zunächst zu den oben in § 10 besprochenen
mittein der vergleichnng zurück, so konnte aus dem an und für sich ziem-
lich beschränkten kreise von wesen oder dingen, die der urzeit dafür
geignet schienen, einerseits jedes einzelne auf verschiedene objekte
angewandt werden^; andererseits konnte dasselbe objekt durch ver-
schiedene bilder bezeichnet werden, je nachdem die eine oder andere
Seite ins äuge gefasst war-. Erwägt man ferner, dass jede vergleichung
mit lebenden wesen insofern eine dreifache sein kann, als sie sich
entweder nur auf das äussere oder nur auf das innere (den Charakter)
oder endlich auf beides zugleich richten kann, so wird die möglichkeit
des fehlgreifens bei der erklärung noch deutlicher sein. Wol darf man
sagen, dass die erste jener drei arten in der urzeit bevorzugt war,
aber bei jedem indirekten symbol fehlt ja auf der seite des Objektes
das sichtbare äussere; hier muss man sich an die wirkimg halten und
diese ist gewissermassen als symptom innerer, geistiger eigenschaften
zu fassen, man denke an die „Schnelligkeit" des Avindes, die zu einer
vergleichung mit dem adler führte. Darnach ist es erklärlich, wenn
W. Schwartz a. a. o. 11, XIV von „einem gewissen chaos gläubiger
Vorstellungen" redet, wenn A. Kuhn (Entwickel. der myth. s. 123) in
Übereinstimmung mit M. Müller von der „polyonjmiie und metony-
mie" als einem nicht unwesentlichen faktor der mythenbildung redet,
indem die ältere zeit sich oft selbst in der richtigen auffassung der
Symbole verirrte^. "Wie eine grosse anzahl grammatischer formen heut-
zutage als „nach falscher analogie" gebildet betrachtet Averden, so haben
einige mythische demente nicht etwa nur andere zurückgedrängt, son-
dern ebenso oft sie sich selbst assimiliert und so ihre deutimg beein-
1) Der Speer als bild des lichtstrahles konnte z. b. sich ebensogut aiif den
blitz-, wie auf den Sonnenstrahl beziehen, und so wird der Speer Gungnir von den
forschern verschieden gedeutet.
2) Sollte der blitz als waffe erscheinen, so wurde er speer oder zahn eines
ebers genannt; sollte vor allem die Schnelligkeit betont werden, so hiess er geflügelt,
ein pfeil, ein dahin schiessender fisch. Schwartz, Poet, naturansch. II, 90, 96 fg. —
Vgl. auch s. 166 anm. 3 gegen ende.
3) Es scheint mir auch keinen wesentlichen unterschied in der auffassung zu
ergeben, wenn Beer (Germ. 33, 7) wol mit recht die homouymie nicht eigentlich als
mythenbildendcs, nur als mythenfort- oder umbildendes dement anerkennen will.
DER FENRISWOLF 173
fliisst. Je häufiger und beliebter ein symbol war (wie z. b. wolf, fuchs,
vügel, Speer), um so stärker ist die gefahr des irrtums bei der aus-
legung^ Hier handelt es sich nicht etwa darum, einen weg nur zu
finden, sondern aus einem wirrsal sich kreuzender pfade den richtigen
ausfindig zu machen und ihn bis ans ziel zu verfolgen.
15. Nicht zu vergessen ist ferner, dass die entwickelung nie in
ganz gerader linie verlief^ da der urzeit wol nur mythische symbole
im sinne einer naiven naturdeutung zukamen, während der poetiscli
abgerundete mythus, wenn nicht geradezu ein misverständnis, so doch
eine freiere fortbildung des kernes in einer veränderten richtung auf-
weist 2. Dieser entwickelungsgang ist nur insofern ein natürlicher zu
nennen, als die alte symbolsprache ihi-en zweck einer deutuug der
naturvorgänge bald nicht mehr erfüllte, da die längere gewöhnung und
schärfere beobachtung den menschen bald eine mehr prosaische und
nüchterne auffassung der naturerscheinungen lehrte. Entweder konnte
nun neben den bildlichen allmählich der unbildliche ausdruck als der
geläutigere treten, bis der erstere ganz verdrängt war^, oder es erhielt
sich der bildliche ausdruck und gewann sogar an selbständiger bedeu-
tuug, vgl. im allgemeinen Wislicenus, Symb. s. 85 fg.; Loki s. 2, 3.
In diesem falle aber verlor oder lockerte sich die feste beziehung zu
den naturobjekten und so konnte er nur um so freier von mensch-
lichen Vorstellungen erfüllt werden. Erst in dieser zeit kam die poe-
tische ausgestaltung zu ihrem vollen rechte, vgl. den in n. 2 be-
sprochenen Phaetonmythus. — Bemerkenswert ist aber, dass jenes
verstand esmässige dement, jene richtung auf das erkennen, die Avir
in den alten Symbolen fanden, in der späteren zeit sich doch nicht
1) Aug. de Gubernatis, desseu Standpunkt ich freilich uur iu eiuzelheiten teile,
wies schon darauf hin, dass der wolf in der sage keinesweges immer eine den göt-
teru und heroen feindliche natur zeigt: Die tiere in der indog. myth. s. 450. — Vgl.
auch w. u. cap. III , § 8 und 9.
2) In dem Sisyphosmythus der späteren zeit ist gänzlich verkannt, dass der
gewälzte stein eigentlich die sonne (so, und wol am richtigsten Kuhn, Entwickel.
s. 147) oder eine uebelmasse (so Laistner, Nebelsagen 41 fg. , vgl. aber 209) bedeu-
tete; in dem Phaethonmythus ist das physikalische phänomen des (scheinbaren) ver-
sinkens der sonne ins meer durch poetische ausschniückuug und ethische färbung
zwar nicht ganz von dem alten gründe losgerissen, aber doch in eine ganz andere
beleuchtung gesetzt; vgl. Mannhardt, Götterwelt 29, 30, 86.
3) Der schon s. 168, anm. 2 citierte vergleich Laistners (Nebels. 208) Hesse sich
wol noch passender so verwenden, dass wir die eigentliche bildersprache des mythus
mit der hieroglyphenschrift, die unbildliche, doch in poetischer spräche vorgebrachte
natui'scliilderuug als transscription desselben gedankens nebeneinander halten. Dazu
gibt namentlich die Vgluspä mehrfach gelegenheit, vgl. cap. VII, § 10.
174 WILKEN
völlig verflüchtigt hat; es musste sich aber jetzt mit der aufgäbe be-
gnügen, in dem „chaos" der alten Symbole gewissermassen Ordnung
zu schafien und wenigstens die gröbsten Widersprüche des unmerklich
gebildeten Systems auszugleichen. Und gerade weil die abhängigkeit
der alten symbole von den naturvorgängen halb oder auch ganz ver-
gessen war, mussten nun andere Verknüpfungen gesucht werden: genea-
logieen, eben und bundesbrüderschaften wurden angenommen, die für
den forscher oft auf den ersten blick, teilweise erst allmählich als
das werk der „konstruierenden" oder mythen- ordnenden periode sich
zu erkennen geben und nicht selten auf falsche fährte gelockt haben.
In die urzeit reichen sie selten zurück, weil diese sich meist begnügt
die einzelnen Vorgänge als solche aufzufassen i. Nur wo Übergänge
wie die von nacht zu tag, von Sonnenlicht zu wolkendunkel sich dar-
boten, lag es von jeher nahe einen Zusammenhang zwischen beiden
potenzen anzunehmen, und so mag schon die urzeit die nacht als mut-
ter des tages betrachtet haben 2. Sicher ist, dass solche Vorgänge das
mythische „denken" mehr noch anregten als ruhende erscheinungen
und um so mehr, je rascherund auffälliger sie sich ablösen 2. Daher ist
es nicht abzuweisen, mit W. Schwartz (vgl. s. 168 anm. 5) in den erschei-
nungen des Sturmes, des gewitters und des w^olkenhimmels die frucht-
barsten keime mythischer Vorstellungen anzuerkennen; diese Vorgänge
legen jedoch den gedanken eines kampfes weit näher als den an
friedliche Verhältnisse. Mau darf daher im ganzen in polemischen
1) Vgl. ^Y. Müller, Zur mythol. der griech. und deutschen heldensage s. 161,
der auch seinerseits dem von Beer (Beitr. von Paul u. Braune XIII, 1 fg.: Der stoff
des spielniannsgedichtes Orendel) ausgesprochenen grundsatze, dass jede genealogie
in der göttersage accessorisch sei, im wesentlichen beistimmt. Diesen Standpunkt
verfolgte Beer weiter Germ. 33, 12 fg. Im ganzen ähnlich ru'teilt schon Wisliceuus,
Loki s. 23, 27.
2) Vgl. Gylf. c. 10, wo das myth. grimdmotiv freilich schon mit jüngeren Zu-
sätzen vermengt ist. — Ähnlich aiich bei den Griechen (Hesiod, Theogonie 124 fg.).
3) Mächtiger noch als das gewöhnliche abenddimkel musste die luunachtung
des himmels mitten am tage, die das gewitter meist zeigt, die gemüter ergreifen,
namentlich in Verbindung mit stürm, blitz, donner, hagel, regen und regenbogen.
Dies alles und die widerkehr der sonne oft in einem massigen bruchteil einer
stunde! — Gleich wol mochte ich nicht unbedingt mit Beer (a. a. 0. 11) behaupten:
„mit atmosphärischen mythen (betr. wölken, wetter, nebel) hat die mythik begon-
nen" oder mit E. H. Meyer nur gewitter-, wind_- und wolkengottheiteu als altmy-
thische mächte anerkennen, so geistvoll diese theorie auch verfochten ist. Gründliche
kenner der indischen mytheuwelt wie Hillebrandt und Oldenberg (Ved. myth. 112)
betonen neuerdings, dass gerade die „mistete uatur des blitzes seiner eutwickelung
zu einer gottheit nicht günstig sei."
DER FENRISWOLF 175
Verhältnissen weit eher als in genealogischen angaben spuren einer
alten tradition vermuten; nur bedarf es bei der nordischen mj^thologie
doch auch nach der ersten seite besonderer vorsieht, da namentlich die
ragnarok-mythen zu einer Vervielfältigung und Steigerung einfacher
kampfesmotive vielfach anlass gegeben haben i. — Fast alle diese teils
freundlichen, teils feindlichen beziehungen, durch die der poetische
reiz eines mythus oft nicht wenig gewonnen hat, müssen als beiwerk
erkannt und bei seite geschoben werden, soll der kern der mythischen
Vorstellung uns deutlich entgegentreten.
16. In diesem zusammenhange mag auch an die neigung mythischer
naturbetrachtung erinnert werden, auffällige erscheinungen (z. b. in der
tierweit) auf ein bestimmtes datum innerhalb der geschichtlichen ent-
wickelung und einen bestimmten anlass ziu'ückzuführen. Beispiele die-
ser historisch - aetiologischen darstellung geben ausser den cap. V,
angeführten stellen aus Gylf. z. b. auch Grimms Märchen nr. 171 — 173
(zaunkünig, schölle usw.) und Grundtvig, Dänische volksm., übersetzt
von Strodtmann , 2. samml. s. 16. Hierhin gehören auch viele ver-
waudlungssagen -.
17. Doch nicht bloss in jener Ordnung und äusseren Verknüpfung
(§ 15) oder dieser hinneigimg zu historischer datierung (§ 16) erwies
sich das verstandesmässige dement in der mythologie weiterhin tätig:
bei der reicheren entfaltung des geisteslebens lag es nahe genug, nun
auch phänomene dieser geistesweit in ähnlicher weise vergleichend
darzustellen wie fi'üher die naturvorgänge. Diese geistesmythen mag
man mythische „allegorien" nennen, um sie von den eigentlichen natur-
mythen scheiden zu können, aber der unterschied beider darf nicht
so scharf, so gegensätzlich gefasst werden, wie dies von dem sonst so
1) Dass die ragnarökmytlieu in der uns vorliegenden gestalt ein produkt der
Wikingerzeit seien, hat schon Hammerich (Om raguarokrnythen s. 39 fg.) wahrschein-
lich gemacht; einzelne züge begegnen überhaupt nur in der darstellung der pros.
Edda. Vgl. Simrock, D. rayth.^ s. 114; meine Untersuch, s. 106; Müllenhoff, D. alt.
V, 152; Beer a. a. o. 13.
2) Von diesen sind in der germ. mythol. die versteinerungssagen (Grimm,
myth."* s. 457 u. nachtr.) wol die wichtigsten sowie die nahestehenden verwüstiuigs-
sagen (zur strafe für ein unrecht, vgl. z. b. Wolf, Niederl. sagen m-. 21, 22;
"W. Müller und Schambach, Niedersächs. sagen nr. 70), während die verwaudelung
in pflanzen uud tiere (vgl. die dichterische behandlung in Ovids Metamorphosen) bei
uns seltener begegnet, abgesehen von den (anders zu beurteilenden) temporären ver-
wandeluugen in wölfe, katzen, baren usw., Grimm, Myth.'' 915 fg. — Ganz verein-
zelt stehen angaben wie diese: „alle tiere sind verwünschte menschen" (Haas, Eü-
gensche sagen und märchen s. 135 (vgl. s. 146).
176 -WILKEN
besounenen Wisliceniis (Symb. s. 16 fg.) geschehen ist^ — Das wort
dlXrjyoQia bedeutet eigentlich nur „vergieichung, bildlichen ausdruck" und
nicht die Schönheit ist das erste oder einzige ziel allegorischer darstel-
lung, sondern das bedürfnis der Verdeutlichung, der Verkörperung eines
gedankens legt ihr die wähl sinnlicher bilder nahe; das bewusste ver-
fahren darf ihr dabei auch nicht zum vorwürfe gemacht werden, da
dies mit der fortschreitenden geistesbildung von selbst gegeben war-. —
Das wort dllTjyoQia ward aber neben dem oben erwähnten allge-
meinen sinne speciell auch so gebraucht, dass man eine mythendeu-
tung so nannte, die sich nicht mit dem zunächst liegenden sinne
begnügte. Mag man die widerholten misgriffe „allegorischer" erklärung
verurteilen, historisch ist es, da man es bei jenem allegorisieren meist
auf abstrakte oder geistige potenzen abgesehen hatte 3, jedenfalls gerecht-
fertigt, nun auch auf mythischem gebiet solche Schöpfungen allegorien
zu nennen, die nach einem sinnlichen ausdruck für etwas unsinnliches
suchen; dieser auffassung neigt sich auch Wislicenus seinerseits zu^.
Wenn nun auch eine solche allegorie (wie z. b. die von Hercules am
Scheidewege) gewissermassen das widerspiel des mythischen Symbols
darstellt, das ja, von dem naturvorgang ausgehend, mehr und mehr
vergeistigt zu werden pflegt, so stellt doch die betrachtung der indi-
1) Derselbe sclieint mehr an die ullegorie als poetisches oder rhetorisches
kuustmittel als an das gedacht zu haben, was auf mythologischem gebiete passend
so genannt wird. Die unleugbaren bedenken gegen die künstlerische Verwendung der
allegorie sollen hier nicht bestritten werden.
2) "Wenn Wislicenus a. a. o. sagt: „der geist kann nie meinen, dass er durch
ein sinnliches bild das innerste wesen einer unsinnlichen Vorstellung ergriifeu habe . .
darum kann hier die absieht nicht auf die erkenntnis, sondern nur auf bildliche dar-
stellung gerichtet sein" — so wird, glaube ich, übersehen, dass einzelne selten einer
Vorstellung recht wol durch ein sinnliches bild deutlicher werden können; darauf
beruht ja die Berechtigung des gleichnisses wad der paramythie.
3) So wurde noch in der reformationszeit die Lea und Rahel der Genesis von
Flacius auf die philosophie und theologie bezogen, vgl. Zöckler, Haudb. der theol.
wiss. I, 657.
4) Dagegen ist eine schon bei Cicero (Orator 27, § 93 , 94 Jahn) belegte an-
wendung, wonach allegorie für eine in längerem zusammenhange durchgeführte meto-
nymie (oder metapher) gebraucht wird, für den niythologen wertlos, da ihm die
weiter durchgeführte metapher (= Symbol) zum eigentlichen mythus wird. — Die
grammatischen abJiaudlungeu der Snorra-Edda fassen als metaphora auch die von mir
als allegorie bezeichnete ausdrucksweise; mit letzterem namen belegen sie nur solche
bildliche ausdrücke, deren wahrer sinn erst durch schärferes nachdenken gefunden
wird, z. b. die Ironie und das rätsei (Kph. II, 158 fg. 178 fg.) — Als quellen der
abhandlung sind des Donatus Ars minor sowie das 3. buch der Ars maior zu betrach-
ten, s. Olsens ausg. s. XXXVIII.
DER FE^fRIS■WOLF 177
rekten Symbole schon eine innere Verbindung beider gebiete vor äugen.
Indem ich von der an der Oberfläche des wassers, an den blättern der
bäume, in Staubwirbeln usw. sichtbaren, raschen bewegung auf einen
Urheber derselben schliesse und ihm (nach dem raschen fortschreiten
jener bewegung) vor allem die eigenschaft der Schnelligkeit zuschreibe,
so steht dieser, zwar durch sinnliche eindrücke spürbare, aber sonst
den sinnen unbekannte urheber schon auf dem übergange zu den
gedankenwesen, welchen die allegorie sinnliches leben zu leihen ver-
sucht ^
18. Sind wir somit keinesweges berechtigt der allegorie das so
lange genossene gastrecht in den grenzen der mythologie plötzlich zu
kündigen, können wir anerkennen, dass einzelne allegorien relativ alter-
tümliches gepräge zeigen, auch nicht ohne jeden poetischen reiz sind 2,
so ist andererseits doch festzuhalten, dass wir bei einem mythischen
gebilde jeder art dann die geltung als allegorie uns gefallen lassen dür-
fen, wenn eine erklär ung im sinne des naturmythus sich ungezwungen
nicht durchführen lässt. Wo aber, wie z. b. bei dem Fenriswolfe, nur
eine gewisse Schwierigkeit des nachweises vorliegt, ist dieser fall noch
nicht gegeben, lun so weniger, weil alle das gemüt mächtiger bewe-
genden und weite kreise durchdringenden mythischen momente irgend-
wie in der sichtbaren Schöpfung zu wurzeln pflegen, vgl. s. 163 den
der n. 2 vorangehenden text. Nicht einmal bei dem schiffe Naglfar
ist es geraten, entweder der mislungenen etymologie in Gylf. c. 51 zu
liebe an ein schiff aus nageln verstorbener menschen zu denken, da
ein solches fahrzeug nur als allegorie eine art von sinn hätte' oder
nach der geistreicheren deutuug eines jetzt lebenden forschers an ein
1) Auch ist zu beachten: da jede erkenntiiis von der uatur ausgeht (uihil est
iu intellectu, quod non fuerit iu seusibus), so stellt die zui'ückbeziehuiig geistiger
begriife auf ein der sinnenwelt entuomnienes bild gewissermasseu einen natürlichen
„kreislauf des erkenneus" dar. In etwas anderem sinne gebrauchte einen ähnlichen
ausdruck E. H. Meyer, Germ. myth. s. 11.
2) You allegorien auf dem gebiete der altnord. mytbol. nenne ich ausser Dagr
und Nott, die noch als indirekte Symbole gelten können, namentlich EIK und Hugi
in Gylf. 46 und 47 {Hugi — pat var hugr minn). Ferner gehören hierher die in
Gylf. 35 als gefolge der Frigg genannten weiblichen gottheiten wie Sjofu, Lofu, Vär
usw. Aber auch gestalten wie der urriese Tmir dürfen als allegorien gelten, da die-
ser z. b. den gedanken eines gemeinsamen Ursprunges der riesenweit von eiuem ein-
zigen wesen in einem der sinnenweit entlehnten bilde ausdrückt, Gylf. c. 5.
3) Dieser sinn könnte nur der sein, das sehr langsame heranrücken des Welt-
unterganges zu verdeutlichen (Grimm, Myth.-* s. 679); ein solcher gedanke liegt den
ragnarok-mythen sonst jedoch ganz fern.
ZEITSCHRIFT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XXVIU. 12
178 WILKEN
„totenschiff" im allegorischen sinne zu denkend Dass auch dieses
schiff auf ein mythisches symbol aus alter zeit hinweist, ist mehrfach
schon mit recht, wenn auch noch nicht mit ausreichender begründung
beliauptet worden; genaueres darüber siehe cap. VIII, § 3.
19. An dieser stelle mag (vgl. n. 1) noch einmal betont wer-
den, dass die animistische auffassung der urzeit ebensowenig einen
specifischen unterschied von leben und tod (vgl. § 12), wie einen sol-
chen zwischen natur und geist kannte. Wie so mancher naturkörper
als „geschmiede" der zwerge galt (Skälda c. 35; w. u. c. V), so
bildete umgekehrt das ganze gebiet geistiger tätigkeit gewissermassen
eine „zweite natur", nur gewissermassen aus einem etwas ferner lie-
genden erdteil stammend. Erst da, wo einem volke speciell angehörige,
also nationale erlebnisse von der volkssage aufgefasst werden, tritt
uns ein von dem wirklich mythischen zwar keines weges immer scharf
unterschiedenes, aber bei schärferer betrachtimg wenigstens unterscheid-
bares gebiet entgegen, dem dann auch das der religiösen entwicke-
lung, sofern dieselbe mehr durch historische als physikalische momente
bestimmt war, als verwantes sich anreiht.
20. Sollen hier zum schluss die wichtigsten richtungen mytholo-
gischer forschung kurz skizziert werden, so liegt es nahe nach der
schule J. Grimms 2 zunächst der vergleichenden mythologie zu
gedenken, deren unleugbare Verdienste um die „erweiterung unseres
blickes für mythische dinge" nie vergessen werden sollen. Auf das
bedenklichere in dieser richtung, die überhaupt mehr zum vergleichen
und verknüpfen, als zum sondern und unterscheiden anläge zeigte
teilweise auch in „etymologischen" mythendeutungen sich mit einer
gewissen verliebe versuchte, ist in den letzten decennien mehrfach und
nicht ohne Wirkung hingewiesen: ihre blütezeit scheint jetzt vorüber
zu sein. Gerade deshalb aber und weil die jetzt mit recht das grösste
ansehen geniessende historisch -philologische methode MüUen-
1) Freilich ist aus der kurzen bemerkuug bei Noreen, Altuord. grammat. -
§ 2.Ö1, S nicht zu ersehen, ob der gelehrte Verfasser an eine allegorie oder ein Sym-
bol dabei gedacht hat. Da der unterschied von natur und geist (oder kunst) für die
urzeit nicht existierte, konnte nicht nur (wie jetzt noch die lokomotive als „danipf-
ross" gilt) ein schiff als wassertier mit flügelu, schnabel usw. angesehen, sondern
auch ein naturkörpei-, z. b. eine wölke, allenfalls als „schiff der toten" bezeichnet,
d. h. zunächst (der schnellen bewegung halber) einem schiffe verglichen und den
toten als fahrzeug zugeschrieben werden. Ist eine allegorie gemeint, so kann man
sich das fahrzeug aus beliebigem stoffe und beliebig gross denken, doch muss es dann
als wirkliches schiff angesehen werden ohne eine andere grundbedeutung (z. b. wölke).
2) Vgl. über diese Mogk in Pauls Grundriss I, 988 fg.
DER FENRISWOLF 179
lioffs II. a. ^ geeignet ist den beregten mangeln ausgleichend gegen-
überzutreten, halte ich es heute nicht mehr für geboten die Warnungen
früherer jähre zu widerholen 2. Ohne in meinem misstrauen gegen
eine vorwiegend etymologische mjthendeutung anderen sinnes gewor-
den zu sein; ohne zu meinen, dass direkte vergleichung von mythen
verschiedener Völker im ganzen wertvollere resultate liefern wird als
eine genaue philologisch -historische prüfung des einzelmythus, der an
anderem orte gefunden, doch nicht mehr ganz derselbe ist, so kann
andererseits diese philologische erkläruugsweise doch, glaube ich, in-
direkt aus den gesicherten resultaten der vergleichenden forschung
insofern nutzen ziehen, als die kenntnis und beachtung einiger allge-
meiner gesetze der mythen -bildung und fortpflanzung unserer kombi-
nation, wo wir auf diese angewiesen sind, engere schranken zu ziehen
und für uns somit die möglichkeit des irrens zu verringern geeig-
net ist^.
21. Yon einigen selten glaube ich die frage zu hören: gibt es
auf diesem gebiete allgemeine gesetze, die zweifellos anerkannt sind?
Vielleicht nicht; aber was ich nicht im sinne eines axioms anwenden
darf, lässt sich doch, wenn es durch manche beispiele gestützt ist'^,
1) Ausser dem 5. bände der Deutsclien altertumskunde und verschiedenen
abhandlungeu kommen für genaueres Studium auch die vorreden zu W. Mannhardts
Mythol. forschungen (Strassb. 1884) in betracht, deren eine von MüUeuhoff selbst,
die andere von Scherer herrührt.
2) Vgl. namentlich meine anzeige von Cox, Mythology of the Aryan Nations
in den G. G. A. 1872, st. 3. — Wenn Scherer in seiner vorrede zu Mannh. Forsch.
(vgl. die vor. n.) s. XIV bemerkt, dass diese anzeige MüUenhoffs vollen beifall hatte,
andererseits berichtet, dass M. „Benfeys beratende stimme hinter ihr vermutete",
so scheint letzteres eine gelegentliche erklärucg von meiner seite nahe zu legen.
Seine gründe, weshalb er selbst die anzeige nicht gerne schriebe, hatte Benfey mir
ausgesprochen und mich so zur Übernahme aufgefordert, für die einzelheiten der aus-
führung bin ich allein verantwortlich. Die wenigen ausnahmen sind in der anzeige
selbst (z. b. die ablehnung der Daphne-etymologie M. Müllers durch „kompetente
autoritäten") genügend angedeutet (s. 85).
3) Von einem ähnlichen Standpunkte hat vor einigen jähren Beer (Germ. 33, 3)
darauf hingewiesen, „dass man anfängt über Schwartz' einseitigkeit und kritischen ver-
iiTungen zu vergessen, wieviel man ihm verdankt", wozu neuerdings die äusserimg
H. Oldenbergs (Relig. des veda s. 34) stimmt. — Dass auch der Standpunkt der histo-
risch-kritischen erforschung eines Specialgebietes nicht ohne weiteres von der gefahr
aUzugrosser kühnheit in den korabinationen entbindet, haben „berühmte muster" auch
bereits bewiesen. Vgl. Mogk a. a. 0. s. 993, § 12.
4) Ich rede hier von solchen gesetzen, wie sie z. b. Mannhardt im 2. cap.
seiner „Göttervvelt" oder Schwartz in verschiedenen Schriften, besonders im „Ursprünge
der mythologie" aussprachen. Allerdings dürfen diese gesetze (z. b. das von der
12*
180 WILKEN
sozusagen probeweise als regulativ verwenden, und gelangt man so zu
befriedigenden resultaten, d. h. zu erklärungen, die ungezwungen die
ganze entwickelung des mythus klar legen i, so ist wider ein Aveisser
stein gewonnen, der den angefochtenen grundsatz verteidigt; anderes-
falls \vürde auch ich bald einem solchen grundsatze meine folge ver-
sagen. — In dieser weise sozusagen eine gegenseitige koutrolle des
vergleichenden Standpunktes und desjenigen der Specialforschung anzu-
streben scheint mir die aufgäbe der nächsten zeit zu sein^.
22. Ähnlich aber, wie zu der vergleichenden, linguistischen stellt
sich die philologische richtung auch zu der anthropologischen und ver-
wandten, richtungen der mythenforschung. Sind in neuerer zeit manche
forscher geneigt gewesen dem „seelenkult" eine dominierende Stellung
in der mythologie einzuräumen, so ist einiger schönen ergebnisse
dieser forschungsweise ungeachtet daran festzuhalten, dass die beseeit-
heit der natur erst von dem kult der abgeschiedenen seelen abzuleiten,
ein hysteronproteron ist, das, unerkannt bleibend, noch zu groben
irrtümern anlass geben könnte^.
IL
Litteratur, Zeugnisse.
1. Der mythische Fenriswolf wird auch dem oberflächlichsten
kenner der nordischen göttersage nicht unbekannt sein; dass die deu-
prioi'ität der himmlischeu gewässer vor den irdischen) uielit in so mechanischer weise
angewandt werden, wie in dem sonst vielfach dankenswerten buche von Henne (Die
deutsche volkssage 1874), wo es s. 374 heisst: „dem gegenüber (d. h. den sagen von
opfern, die ein gewässer jährlich verlangt) steht die heilkraft vieler wasser; denn
der himmel, der sich im wasser spiegelt, bringt sowol leben als tod." — Am wenig-
sten gesichert waren die gesetze, welche A.Kuhn u. a. über die perioden der mythen-
bildung aufzustellen versuchten.
1) Mit rocht meinte MüUenhoff (Scherers vorrede zu Mannhardts Forsch, s. XIII),
deutung sei überhaupt nicht so wichtig, als geschichte des mythus.
2) Von einem ähnlichen Standpunkte scheint auch Laistner in seinen „Nebel-
sagen" ausgegangen zu sein (vgl. sein nach wort s. 207 fg.); ja, schon Mannhardt
strebte von der komparativen methode immer mehr der philologisch - historischeu zu.
Wähi'end aber diese beiden forscher von der vergleichenden richtimg ausgieugeu,
empfiehlt sich für die gegenwart, glaube ich, das ausgehen von dem philologischen
Standpunkte.
3) Vgl. s. 169 aum. 4. — Um hier zum scbluss noch ein werk zu nennen, in dem
besonnene Verwertung aller bisherigen Systeme mythologischer forschung sich zeigt,
so bekenne ich, dass die „Vedische mythologie von H. Oldenberg" noch häufiger
von mir citiert sein würde, wenn das gehaltvolle werk mir nicht erst kurz vor
abschluss dieser abhandlung zugegangen wäre.
DER FENRISWOLF 181
tiing sehr verschiedene wege eiugeschhigen hat, ist gelegentlich schon
s. 160 n. 3 berührt worden. Kaum irgend eine möglichkeit ist unver-
sucht geblieben. Den einen ist Fenrir ein sturmdämon (W. Schwartz,
Ursprung der mythol. s. 66, vgl. W. Mannhardt, Gernian. mythen
I, 198 und El. H. Meyer, VqI. 201 und German. mythol. 107, wel-
cher letztere aber auch an Apokal. 13, 2; 19, 5; Jes. 63, 3 denkt),
den andern ein wasserdämon (Weinhold, Die riesen des german.
mythus s. 249; Mogk im Grundriss der german. phil. von H. Paul
I, 1045). Finn Magnussen (Lex. myth. 68, 69; Mdre Edda IV, 227)
dachte teils an den abgrund, teils an das unterirdische feuer; auch
Bergmann (Fascin. de Gulli s. 288) wollte in Fenrir eine bezeich-
nung der „feux souterrains, qui sont lances au ciel par les volcans"
erblicken (ähnlich Wislicenus, Loki s. 27 sowie neuerdings Hirsch-
feld, vgl. cap. I, § 8), während N. M. Petersen (Nord, mythol. ^ 392)
sich mit dem „irdischen feuer, welches das menscherüebcn in allen
seinen richtungen in bewegung gesetzt hat", begnügte. Auch. J. Grimm
(Myth.-^ s. 202) war geneigt Fenrir als „widergeburt " des ihm als
feuergott (s. 200) geltenden Loki zu fassen, ähnlich wie neuerdings
S. Bugge (Studien über die entstehung der nord. götter- und helden-
sagen s. 414) die gefangenschaft des wolfes Fenrir nur eine „differen-
zierung von Lokis gefangenschaft" nennt, welcher letztere ihm freilich
einfach = Lucifer ist. J. Grimm gegenüber haben W. Müller (Altd.
relig. s. 173) und neuerdings K. Mülle nhoff (D. alterturaskunde V,
139) den wolf als dämon oder „urwolf" der finsternis gefasst. Spe-
cieller als „dämonisches wesen der nächtlichen finsternis" fasst ihn
Mannhardt 1860 in seiner „Götterwelt der deutschen und nordischen
Völker" s. 264. Später variierte er diese ansieht wider, vgl. s. 160
n. 3), wo auch die deutung „nebel" erwähnt ist. — Einigen forschem
mochte die natürliche grün d läge des mythus nicht mehr erkennbar
scheinen; an allegorische deutung streift z. b. die erklärung von Sim-
rock (D. mythol.^ s. 97): „indem Fenrir zum verderben der götter
bestimmt ist und später selbst den weltenvater verschlingt, ist das ver-
derben der weit, ihr Untergang selbst in ihm dargestellt." In ettvas
bündigerer fassung des gedankens nennt Fr. Kauffmann (Deutsche
mythol. 2 s. 112) Fenrir den „schauererregenden wolf, dem die götter
beim letzten kämpfe unterliegen."
2. Diesen ansichten Hessen sich als Variationen noch einige
andere, z. b. der von mir (Untersuch, zur Snorra-Edda s. 121) vorge-
tragene erklärungs versuch anreihen, wenn ich nicht im begriöe wäre
diesen letzteren durch eine neue erklärungsweise zu ersetzen, die den
182 WILKEN
kern des mythus in methodischer weise zu ermitteln, die erweiterun-
gen festzustellen, in den bisherigen erklärungen, soweit sie mir bekannt
geworden, das richtige von dem unrichtigen zu sondern versucht hat;
ich gehe aus von einer kurzen betrachtung der quellenzeuguisse.
3. Schlägt man das namenregister einer ausgäbe der Lieder-
Edda^ auf, so findet man s. v. Fenrir und Fenrisulfr meistens 5 stel-
len aufgeführt, von denen die erste (VqI. 40, 2) dunkel und zweideutig
ist, die andere (Yaf|)r. 46, 4 = 47, 2) nur eine nebenströmung der
tradition aufweist, die ähnlich auch in dem sehr späten, in den neueren
ausgaben meist fehlenden Hrafnag. Odins 23, 4 zu erkennen ist 2.
Deutlicher und im ganzen der haupttradition gemäss sind die anspie-
lungen in Lokas. (prosa vor str. 1, z. 6; str. 38, 4). Zu diesen 4 — 5
stellen kommen dann allerdings noch etwa doppelt so viele, in denen
der wolf Fenrir nur als ulfr bezeichnet ist (YqI. 53, 2; Vafpr. 53, 1;
Hym. 24, 4; Lokas. 10, 1; 39, 3; 41, 1; 58, 3; Hyndl. 42, 1; 45, 4);
ausserdem das wahrscheinlich verderbte viä ulf vega Vol. 55, 4 nach
R. Doch geben auch diese stellen nur kurze andeutungen über den
offenbar als allgemein bekannt vorausgesetzten mythus 3.
4. Die prosaische Edda gibt neben stellen von geringerem
belang wie Gylf c. 25; 38 (ulfrinn = 48, 4 Wk); Eptirm. Eddu; Skäldsk.
c. 9; 11; 16; Fenrir als riesenname c. 75 == Kph. I, 555; als wolfsname
Kph. I, 591; II, 455; Hätt. 56, 7; zu Kph. II, 431 — 32, 515 vgl.
excurs II) doch auch die einzigen zusammenhängenden berichte über
den Fenriswolf, namentlich in Gylf c. 34 und 51; in ersterem cap.
wird die fesselung, in letzterem befrei ung, kämpf und tod des wolfes
berichtet^. Diese beiden cap. haben unschätzbaren Avert, doch rauss
man, des kompilatorischen Charakters der Gylf eingedenk, sich der
1) Bei den citaten ist die ausgäbe von B. Sijmoas (Halle 1888), für die dort
nicht enthaltenen lieder die von Th. Möbius (Lpz. 1860), bei citaten aus der pro-
saischen oder Snorra-Edda und dort citierten skaldenliedern die grosse Kopenhagener
ausgäbe (Kph.), bei citaten nach Zeilen meine ausgäbe (Paderb. 1877) daneben zu
gninde gelegt.
2) Über diese nebenströmung vgl. cap. VII, § 11.
3) Das wort ulfr wird an manchen der angeführten stellen (z. b. Lokas. 10, 1)
beinahe zum eigennamen, was nordische herausgeber teilweise auch durch wähl der
majuskel anerkannt haben; andererseits wird in Helg. Hund. I, 39, 2 mit recht fen-
risulfr geschrieben, da das wort hier nur „bezeichnung eines gefährlichen wolfes
überhaupt" ist. (H. Gering.) Nach beiden selten aber belegt der Sprachgebrauch
die weite Verbreitung des betr. mythus.
4) Zu jenem hauptbericht in Gylf. und den kurzen anspielungeu in beiden
Edden kommen aus der übrigen altuord. litteratur noch einige Zeugnisse, durch
DER FENRISWOLF 183
mühe scharfer nachprüfuug im eiiizelueii nicht überhüben wähnen. Ehe
ich jedoch (in c. V) eine kritische sonderung jener berichte versuche,
sind noch einige Vorfragen zu erledigen.
IIL
Namen und beinamen.
1. Von den erwähnten Vorfragen sind zunächst drei in diesem
cap. zu besprechen: ist Fenrir der name des wolfes selbst? können
wir diesen mit einiger Sicherheit erklären? können wir aus den bei-
namen des wolfes irgendwelche aufschlüsse über sein wesen gewinnen?
2. Die erste frage wird vielleicht überraschen. Da an den in
c. II, § 3 citierten stellen der Lieder-Edda (mit ausnähme des prosa-
eingangs zu Lokas.) das einfache Fenrir begegnet und zweifellos den
wolf F. bezeichnet, scheint die frage kaum berechtigt zu sein; sie wird
in einer neueren, sehr verdienstlichen darstellung der nord. mytholo-
gie^ auch nur gestreift mit den worten „Fenrir oder der Fenrisulfr,
wie ihn skaldische tautologie nennt."' Aber gerade in echt skaldischen
ausdrücken wie Ulfs föstri (Sk. 9), Ulfs bägi (Sonart. 24, 2), Ulfs
leifr (= leifar) Kph. I, 266 n. 7 und den ähnlich gebildeten Ulfs factir
Lokas. 10, 1, Ulfs hnübröäir Hym. 24, 4 zeigt sich der kürzeste aus-
druck, welcher möglich war, der zunächst nur als abkürzung von Fen-
risulfr eine erklärung findet; dasselbe ulfr begünstigt auch die Lie-
der-Edda (vgl. c. II, 3) entschieden mehr als -Ferner. Beiläufig bemer-
kend, dass mir von skald. tautologie in dem sinne, dass zu einem
vielleicht nicht ganz deutlichen ausdruck (Avie Fenrir) ein zweiter in
erläuterndem sinne (wie hier ulfi') hinzuträte, kein beispiel bekannt
ist 2, lege ich mehr gewicht darauf, dass eine solche „tautologie" in
die nur einzelne teile des mythus beleuchtet werden, unter ihnen ist von höchstem
alter und gewicht die 6. strophe der Eiriksmäl (bald nach 935) sowie die 20. strophe
der Hakouarmäl (bald nach 955 verfasst); von blossen anspielungen auf den mythus
von zum teil noch höherem alter nenne ich die strophe des Eyvindr in Kph. III, 460;
Ynglingatal Vm (Vigf. Corp. poet. U; Yngls. c. 20); HaustlQug 8 (Vigf.; Eph. I, 310);
Sonartoi-rek 24, 2; 25, 2 nach Egilss. ed. Jonsson s. 367; Eaguarsdräpa 4 (Vigf.; Kph.
I, 436); ferner Kph. II, 630. Einige weitere belege aus den versen der sagas siehe
bei Egilsson Lex. poet. s. v. Fenrir, endlich Merlinusspä U, 118 (Vigf. Corp. poet.
II, 376) und aus der rimurpoesie I'rymlur ed. Mob. I, 2.
1) Vgl. Mogk in Pauls grundr. I, 1045.
2) Wenn der skaldische ausdruck zur breite neigt, so geschieht es gerade in
dem umgekehrten bestreben für den einfachen, als trivial geltenden ausdruck einen
künstlich gebildeten zu wählen, der das nachdenken etwas mehr beschäftigt, z. b.
184 WILEEN
diesem falle auch eine äusserst selten belegte abweichung von dem
altgermanischen sprachgebrauche darstellen würde. In eigentlicher kom-
position kann die species durch das genus expliciert werden (vgl. eich-
baum, Walfisch u. ä., Grimm IP, 440 fg.), nicht in uueigentlicher,
genetivischer; hier kennen die germanischen sprachen einen explica-
tiven genetiv von alters her nicht. Ganz besonders gilt dies von der
nordischen, mit hilfe des gen. subiect. oder obiect. ausgeführten ken-
ning oder Umschreibung (vgl. u. a. Vigf, Corp. poet. II, 447 fg., meine
Unters, zur Sn. Edda s. 190 anm. 117); ebensowenig wie Mänagarmr
jemals bedeuten könnte „ein hund Mäni", ebensowenig wol auch Fenris-
ulfr „ein wolf Fenrir". — Man hat die anomalie zwar gelegentlich
durch hin weis auf Yggdrasill (Vol. 19, 1 nach den meisten hss.) =
Yggdrasils askr zu erledigen gesucht^, das in demselben sinne VqI.
47, 1 sowie in den Grm. (str. 29 fg.) siebenmal, auch in der Prosa -
Edda stets begegnet, wo nicht das einfache askr genügend schien. Mit
diesem nur an einer stelle und nicht ohne widersprach einer der
ältesten hss. belegten Yggdrasill hat es demnach nicht eben viel auf
sich gegenüber dem sonst völlig konstanten Sprachgebrauch 2. Gleich-
wol Avill ich die analogie dieses wertes nicht ganz von der band wei-
sen, da nach drei selten sich eine gewisse ähnlichkeit mit unserm
Fenrii" zeigt. Einmal begegnet der anomal verkürzte ausdruck in bei-
den fällen niemals in prosa, wo nur der vollständige oder der normal
verkürzte ausdruck [askr, resp. ulfr) sich findet. Zweitens ist der
anomal verkürzte auch nur da in der poesie zu treffen, wo ein gewis-
ser zwang des metrnms mitzuwirken scheint^. Drittens endlich ist
diese anomale Verkürzung hier ohne gefahr für das richtige verständ-
•wenu statt des einfachen J)6rr gesagt wird fellir fornjöts goäa flugstalla = pro-
stratorem praeruptorum montium antistitis. (Kph. I, 291, III, 24.)
1) [Dass Yggdrasill der name der esche sei, "wird neuerdings von Eirikr
Maguüsson (Cambridge university reporter 1895, febr. 5) geleugnet. Y. wäre nach
E. M. eine poetische kenning für Sleipnir. H. G.]
2) Auch hat Sijmous an der betreffenden stelle mit cod. r Yggdrasils {-eis)
geschrieben der allgemeinen analogie gemäss.
3) So würde V9I. 40, 2 eine laugzeile wie
ok focddi par Fenrisiilfs kindir
metrisch überladen sein, das einfache idfs würde aber dem Stabreime und dem
metrum nicht genügen. Wol ist nun in VqL 19, 1 der gen. Yggdrasils, da er
nicht neben seinem nomen regens steht, etwas auffälhg (Bugge, Stud. s. 421), aber
nach der analogie der freien skaldischen Wortstellung, an welche anklänge auch sonst
in der Lieder -Edda sich finden (nam. YqI. 35, 1 — 2 nach H) darf mau doch auch
hier wol die freiere Stellung mit cod. r aufrecht erhalten.
DER FENRISWOLF 185
nis, da Yggdrasill wie Fenrir nur noch in der Verbindung mit askr,
resp. ^ilfr vorkamen, nach ihrer besonderen bedeutung aber wol schon
unverständlich geworden waren i. Ich glaube also die Verwendung von
Fenrir = Fenriswolf nur als eine aus den angeführten gründen erklär-
liche licenz des poetischen Sprachgebrauches namentlich der Lieder -
Edda, seltener der skalden (z. b. Kph. III, 460) ansehen zu dürfen 2.
3. Wie steht es nun mit der erklärung des schon frühe unver-
ständlich gewordenen wortes seitens der neueren forscher? Weder
J. Grimms noch Bergmanns deuteversuch hat beifall gefunden'^; die
mehrzahl der heutigen mythologen scheint zu einer anknüpfung an
fen, n. (= sumpf, meer) geneigt zu sein. Allerdings ist schon die
grammatische ableitung nicht ganz gesichert; nach dieser seite hat
neuerdings Hellquist der sache aufm erksamkeit geschenkt, ohne jedoch
zu ganz gesicherten resultaten gelangt zu sein''. Weit schwieriger
noch scheint mir die sachliche begründung. Da Fenrir bei jener
annähme mit Feiisalir und wol auch mit Fenja verwant sein müsste,
deren ableitung von fen n. jedenfalls einfacher wäre, so wiU ich eine
kurze betrachtung dieser beiden worte vorausschicken.
4. Bei Fensalir, der wohnung der göttin Frigg, wird fen bald
im sinne des skaldischen Sprachgebrauches mit „meer" (Bugge, Mogk,
Golther), bald dem gewöhnlichen usus gemäss mit „sumpf" oder „teich"
(so namentlich Edzardi, Germ. 27, 330 fg. und neuerdings Hoffory, Edda-
1) Dieser umstand ist nicht ohne gewicht. "Während im nhd. z. b. niemand
für königssohn einfach könig sagen darf, wird das ganz analoge vetter (= vetters-
sohn oder kleiner vetter) unbedenklich gebraucht, da vetter im ursprünglichen sinne
{= vaterbruder) veraltet ist.
2) Auch die beiden von Schullerus in Pauls Beitr. XU, 226 noch angeführten
beispiele stellen die sache nicht anders dar. Die schwierige strophe Grm. 21 (vgl.
dazu Lüning und Müllenhoff, D. alt. V, 116) wird nur noch dunkler, wenn man
Pjoävitnir für den namen des fisches selbst hält und nicht vitnir sonstiger aualogie
gemäss = wolf , zauberwesen fasst. — Glasir (Skalsk. 32 und 34) ist nicht ohne wei-
teres = Glasislimdr, sondern die lusprüngliche bedeutung von Glasir (= der glanz-
reiche, glasähnliche, eine bezeichnung des himmels ähnlich dem „glasberg" unserer
märchen) ist der Sn. Edda nicht mehr deutlich; so konnte auch hier Glasir wider
als abkürzung für Glasislundr stehen, zimial andere composita von Glasir (wie Gla-
sisvellir) dem sprachgebrauche der Prosa -Edda fremd sind.
3) Der erstere (Myth. "* s. 202 hatte gefragt: got. f anareis? doch nicht fahnen-
träger, pannifer? Bergmann hatte (Fase, de Gulfi s. 288) an ags. fcem, ahd. feim
erinnert.
4) Im Arkiv för nord. filol. 7, s. 24 und 173. Der an ersterer stelle gegebenen
deutung {Fenrir = Fenjarr, wie Viärir, Sridrir = Viäurr, Sviäiirr) möchte ich
lieber mich anschliessen als der s. 173 nach Grimms Vorgänge wider versuchten
gleichsetzung von -rir mit got. -areis.
186 WILKEN
stud. I, 26), gelegeutlich auch mit „marschland" (N. M. Petersen, N".
myth. 187) übersetzt. Diesem schwanken gegenüber konstatiere ich
zunächst, dass keine der vorgeschlagenen deutungen für eine Woh-
nung der himmelsgöttin recht passen will, wie denn auch Edzardi
a. a. 0. 335 ehrlich einräumt, „wenn auch in unseren eddischen quellen
diese auffassung (einer unterirdischen teichwohnung der göttin Frigg-
Idun-Hel) nicht mehr hervortritt" und bestimmter noch 338 so sich
äussert „da der dichter sich Fensalir "wol als himmlischen Wohn-
sitz dachte" usw. — Veränderungen der mythischen auffassung im
laufe der zeit sind ja nun freilich ausserordentlich häufig, aber diese
fülle der beispiele gestattet doch auch eine art regel für den gang der
Veränderung aufzustellen. Wer den Schriften von A. Kuhn, W. Schwartz
und ihrer nachfolger mit besonnener kritik gefolgt ist, dem wird der
satz — trotz mancher Überspannung im einzelnen — im ganzen doch
als bewiesen gelten, dass der gang der lokalen Veränderung auf echt-
mythischem gebiet von oben nach unten, von den himmlischen w^ol-
kenbeigen zu den irdischen bergen, von den „oberen" wassern zu den
gewässern der erde führt und nicht umgekehrte Dass die unterwelts-
göttin Hei ursprünglich die „verhüllende" wölke am himmel bedeutete,
ist leicht zu sehen; ihre Identität mit Frigg lasse ich hier dahingestellt;
die annähme eines „älteren" unterirdischen Wohnsitzes der Frigg aber,
wo unsere quellen einen himmlischen im sinne haben, verstösst gegen
die eben angeführte „analogia mythica" ^. Gerade w-er Fensalir für
eineji älteren mythischen ausdruck hält, wofür mehrere gründe spre-
chen^, wird zu der von Edzardi vorgeschlagenen lokalverlegung sich
1) A^gl. z. h. Schwartz, Poet, naturansch. 11, s. 9 oben, 200. — Es handelt
sich hier nicht um erzähhingen , welclie historische erkläruug eines auffälligen phäno-
mens bezwecken wie die Gyli 11 (= 14, 19; 15, 4 Wk) berichteten, vgl. cap. I, 16,
während uns Gylf. 10 ein beispiel liefert, wie dinge, die „zwischen erde und him-
mel" sich zeigten, z. b. das tag- und nachtwerden, gerne und im ganzen mit recht
auf einen himmlischen Ursprung zurückgeführt werden. Ähnlich liegt es, wedn die
äugen des getöteten stui'mrieseu fjazi von den göttern als sterne zum himmel erho-
ben werden (Brag. 56 = 96, 9 Wk.).
2) Ob der wohnsitz der götter, von wo aus sie uacli der darstellung von
GyK. 34 die Hei nach Niflheim und den miägaräsormr in die tiefe see warfen, der
himmel war, darüber wird c. V. 3, c. VI und exe. I weiter gehandelt werden. Dass
Tcastaäi in jenem bericht (38, 2, 5 Wk.) =^ herabwarf zu verstehen sei, erken-
nen auch die Übersetzer au (deiecit Eg. , ähnlich Simrock). Nicht ganz unähnlich
ist die gj-iechische sage vom stürze der Titanen in den Tartaros (Hes. Theog. 617 fg.)
vgl. exe. I.
3) Vereinzeltes vorkommen in verschiedenen quellou (VqI. , Gylf., Skalda 19)
deutet meist auf höheres alter; ebenso scheint mir das fehlen des namens in dem so
DER FENRISWOLF 187
nicht berechtigt fühlen; dasselbe gilt auch von der ansieht, Fensalir
sei = meersäle. — E. H. Meyers ansieht aber (Germ. myth. 189, 269),
der an die feuchten „wolkensäle" denkt, ist mit der von mir vertre-
tenen eher zu vereinigen.
5. Ein ähnliches resultat ergibt sich deutlicher noch aus der
betrachtnng des wertes Fetija. Es ist der name jenes riesenmädchens,
das zusammen mit der befreundeten Menja dem grausamen könig
Frödi gold mahlen soll, schliesslich aber dem unersättlichen zwingherrn
Unheil mahlt. Von dem seekönig Mysingr auf ein schiff gebracht, sol-
len beide salz mahlen; als auch dieser sich unersättlich zeigt, versinkt das
schiff im meer; seitdem ist die see salzig (Skäldsk. c. 43). — Wenn man
bedenkt, dass geschwisterwesen (vgl. s. 188 n. 1) im mythus, nament-
lich wenn es sich nicht um hervorragende göttergestalten handelt (vgl.
für diese cap. IV, 1) meist nur Vervielfältigungen derselben Vorstellung
sind^, so können wir bei der erklärung von Menja wol ebensogut
ausgehen wie von Fenja\ ersterer name wird von „men" haisschmuck,
geschmeide abgeleitet, was zu dem goldmahlen vortrefflich passt^. Auf
das wasser deutet eigentlich nichts, wenn man den mythus ohne ein
etymologisches verurteil zu gunsten von fen n. betrachtet. Allerdings
versinkt die mühle schliesslich im meer, aber erst nach gewaltsamen
katastrophen, nicht wie A. Kuhn 1847 (bei Haupt VI, 134) noch an-
gab: die mühle, welche gold mahlt, steht ja auf dem gründe des mee-
res. Die auffassung beider mädchen als ursprünglicher meerjungfrauen
(Uhland, Mogk) erscheint mir darnach ebensowenig gerechtfertigt als
die erklärnng „gold, das im sumpfe verborgen liegt", die Grimm (Myth.-^
440 u. nachtr.) jenem mehrbesprochenen fen zu liebe für das von bei-
den mägden gemahlene gold gab. Das richtigere sah A. Kuhn 1858
in seiner „Herabkunft des feuers" (vgl. zweiter abdr. 1886 s. 90, 102)
und im anschluss an ihn Simrock (D. myth. ^ 317), welche in der gold-
und glücksmühle die so oft als rad, scheibe, stein vorgestellte sonne
erkannten; die mahlenden mägde vervollständigen dann das bild der
viel jüngeres machwerk enthaltendea Verzeichnis der götterwohnungen in Grm. eher
zu gunsten dieser ansieht als gegen sie zu sprechen.
1) Während z. b. Gylf. 35 als tochter der Freyja nur Hnoss genannt wird,
sind ihr Yugliugas. 13 zwei töchter (Hn. und Gersimi) zugewiesen, deren namen
ziemlich dasselbe bedeuten. Bekannt sind ferner die neun Schwestern, welche müt-
ter des gottes Heimdallr sind (Gylf. 27), also sich sehr nahe stehen müssen und die
töchter des meergottes -iEgir, welche nieereswogen bedeuten. (Kph. II, 493.) — An
die Nereiden, Danaiden usw. der griechischen sage sei nur kurz erinnert.
2) Zu Menja stellen sich als etymologisch verwante auch Menglqd und andere
bildungen (Vigf. s. v. men)^ in denen men stets = gold oder goldschmuck ist.
188 WILKEN
sonnenmühle wol nur ebenso wie die rosselenkerin Söl mit den bei-
den sonnenrossen (Gylf. 11) das bild des leuchtenden sonneuwagens
ergänzt^. — Unter den neueren forschern ist Laistner (Nebelsagen.
s. 323 — 331) geneigt die mühle Grotti zunäclist als schneemühle (salz =
schnee) zu fassen, die als wettermühle im weiteren sinne freilich auch
zu Zeiten sonnengold zu mahlen im stände gewesen, sei. Dass der
mythus nicht ursprünglich dem meere angehörte, dass man „den namen
die beziehung auf die see angebildet habe" wird s. 330 mit recht
betont; über die s. 324 versuchte Zusammenstellung von Fenja mit
fqiin = schnee entscheide ich nicht. An die gewitterwolke als hand-
mühle denkt E. H. Meyer Germ. myth. 90, Fcjija und Menja fasst
derselbe als sturmriesinnen s. 155, wo auch die etymologische frage
berührt ist.
6. Selbst wer den ausführungen in § 3 — -5 nicht in jeder ein-
zelheit beipflichtet, wird doch soviel zugestehen müssen, dass jenes
Fen- in den besprochenen mythischen namen nicht mit irgendwelcher
Sicherheit auf fen = sumpf oder meer zurückzuführen ist und bei
dem an fen vielleicht nur anklingenden werte Feiirir sich diese ver-
wantschaft in einem noch viel zweifelhafteren lichte darstellt. — Zum
glücke ist die etymologie nicht die einzige pfadfinderin der mythologie;
wer sich hier zu einem ehrlichen „non liquet" bequemt, der hat
wenigstens Irrwege vermieden und sich die mögiichkeit offen behalten
auf anderem wege sein ziel zu finden-
7. Auch von den beinamen dürfen Avir nicht allzuviel ausbeute
hoffen. Zunächst scheiden alle die von selbst aus, die nur genea-
logische beziehungen aussprechen, vgl. darüber c. lY. Die meisten der
1) Da 'sich iu der Charakteristik der beiden mägde nirgends ein unterschied
zeigt, da sie nach str. 11 langjährige gespielinnen und nach str. 9 auch verwante
sind, so durften sie oben wol als geschwisterwesen bezeichnet werden. Vielleicht
sind nur darum zwei mahleude genannt, weil wol auch im norden an der handmühle
nicht selten von zwei mägden zusammen gearbeitet wurde (vgl. für das morgenland
Matth. 24, 41 und Eiehm, Haudwb. des bibl. alt." s. 1042).
2) Vgl. W. Schwartz, Urspr. der mythol. XXI. — Beiläufig sei hier übrigens
bemerkt, dass für jenes fen n. selbst die augeführten deutungen noch nicht er-
schöpfend zu sein scheinen. Dem verwanten sanskr. worte paüka wird auch die
bedeutung „staub" beigelegt (Schade, Altd. wb. s. v. fenni)] diese würde luis jeden-
falls vom wasserdämon entfernen, vielleicht sogar zu gemahlenem goldstaube füh-
ren. — Andererseits wäre eine entfernte verwantschaft mit g. fon, n. funa = feuer
nicht ganz undenkbar, wird doch z. b. auch mhd.' vewen oder v'dwen (Lexer s. v.
vetven) zu derselben wiirzel (skr. inl = reinigen Fick- 126) gestellt. — Unter eine
andere beleuchtung wird die frage noch in cap. VIII, 1 gestellt werden.
DER FENRISWOLF 189
Übrigen beinamen können auch andere Avölfe bezeichnen, so zunächst
vitnir (Vaf|)r. 53, 4; Grm. 23, 4) nebst Hröävitnir, das Lokas. 39, 1
deutlich, etwas weniger bestimmt Grm. 39, 3 auf unseren wolf weist;
der Grm. 21, 1 genannte pjöävihiir ist zwar etwas rätselhaft, aber
mehrfach, z. b. von MüUenhoff (D. altert. Y, 116) als „Fenrir oder
einer seiner grossen söhne" gedeutet. — Während jenes vitnir (und
kompos.) der VqI. fremd sind, kommt dort von andern beinamen des
Wolfes zunächst valdijr Vol. 54, 2 sicher in betracht; in zweifei
sind die herausgeber bei jqtium VqI. 47, 2 und dem der hs. H ent-
nommenen Surtar sefi 47, 4; das erste beziehe ich auf Loki, vgl.
c. IV, 2; über das zweite ist ebendort gehandelt. Es bleibt noch ein
kleeblatt zweifelhafter benennuugen aus der VqI. übrig: freki, Garmr
und vargr. Das erste dieser werte ist einer der bekanntesten wolfs-
nanien^; die beziehung auf den Fenriswolf ist VqI. 51, 3 sicher, dar-
nach auch 44, 2 und sonst in der stefstrophe (vgl. darüber Sijmons
zu sh'. 44) Avahrscheinlich. Dagegen ist der in derselben str. 44, 1
genannte Garmr ebensowenig wie der in Grm. 44, 4 bezeugte. Garmr
auf Fenrir zu beziehen; die gründe hat MüUenhoff a. a. o. 138 mit
nachdruck hervorgehoben; hinzufügen Hesse sich, dass Fenrir wegen
der rachensperre nicht bellen oder heulen kann, so lange er gefesselt
ist, wenn auch Gylf. c. 34 (= 42, 5) das gre?ijar illiliga ungenau erst
nach erwähnung der maulsperre bietet; die worte fyr Gnipahelli müss-
ten aber, von Fenrir verstanden, die fortdauer der fesselung bezeich-
nen, da er, ft*ei geworden, sofort losbricht (Häkonarmäl 20). Der
vargr in VqI. 39, 5 wird am einfachsten auf den im vorhergehenden
verse genannten drachen NWiqggr bezogen (so auch MüUenhoff); der-
selbe gelehrte deutet in 44, 5 wegen des dabei stehenden vindqld die
vargqld wol mit recht auf die zeit der „sonnenwölfe" oder (eschatolo-
gisch gefassten) Sonnenfinsternisse. Eine beziehung auf den Fenriswolf
wäre wol höchstens in dem vargs der nur teilweise noch lesbaren
str. 55 (nach H) zur not denkbar, vgl. die fassung der betreffenden str.
(= 61) bei Grundtvig, Saem. Edda 1874 sowie die ältere Vermutung
F. Magnussens im Lex. myth. 859. — Dass die zur vertauschung so
geneigte skaldische technik unter den vargs heiti (Kph. I, 591) auch
Fenrir bietet, bedeutet so gut wie nichts.
8. Der grund, weshalb ich dies negative resultat bezüglich des
beinamens vargr so bestimmt hervorhebe, ist folgender. Neben ulfr
1) Bekanntlich beissen auch Ocüns wölfe GeH und Freki. (Gylf. 38 nach
Grm. 19.)
190 WILKEN
ist vargt^ nach aiisweis der wbb. der verbreitetste name für den wolf
im norden. Wenn auch beide werte im sprachgebrauche sich nicht
selten so nahe stehen, wie das Sprichwort: raäa rargar meä ulfutn
erkennen lässt, so ist andererseits die Scheidung doch unschwer auf-
zufinden: vargr ist das gefrässige, unheimliche raubtier, daher auch
von menschlichen Verbrechern, sofern sie ruchlose raubtierart zeigten,
gebraucht [vargr i veuin), aber nie als familienname verwandt. Dage-
gen bezeichnet ulfr, zwar auch das raubtier, aber mehr von selten der
kühnheit und stärke betrachtet, so dass man sich nicht verwundern
darf, sehr zahlreiche familiennamen davon abgeleitet zu finden i; man
könnte vargr mit raubwolf, ulfr mit edelwolf übersetzen. ISTun ist es
höchst bemerkenswert, dass zwar die der sonne und dem monde nach-
stellenden wölfe häufig genug vargar genannt werden 2, aber der nach
späterer genealogischer Verknüpfung (vgl. c. lY) mit ihnen nahe ver-
wante Fenriswolf in prosaischen texten stets, in der poesie ziemlich
ebenso konstant ulfr und zwar oft ohne jede weitere bezeichnung ge-
nannt wird, so dass er gerade hierdurch von den in der nord. mytho-
logie eben so bekannten sonnenwölfen, den vargar, unterschieden
wurde. Dieser umstand verbietet allein schon in dem Fenriswolf ein
von anfang an als unhold oder götterfeind aufgefasstes wesen zu
erblicken; es ist vielmehr zu erwarten, dass ulfr entweder auch die
edleren selten der wolfsnatur ausdrücken sollte oder dass hier über-
haupt nur ein äusserlicher vergleich (s. c. I, § 14) mit einem wolfe
beabsichtigt war. — Wenn dieser wolf in den Eiriksmäl str. 6 ulfr inn
hqsvi (der graue wolf) genannt wird, so ist entweder nur ein poetisch -
lebendigerer ausdruck gewählt, da der wolf in poetischem ausdruck
sehr häufig so genannt wird 3, oder es kann das wort für die Symbolik
selbst bedeutung haben, so dass bei einer „äusserlichen" vergleichung
1) Vigf. 8. V. idfr III führt etwa 30 von diesem werte abgeleitete eigeuuameu
auf, darunter königsnamen wie Hrödulfr = Hrolfr. So mag auch das köuigsge-
geschlecht der Ylfingar (Hyndl. 11, 4) von ulfr abzuleiten sein.
2) So Gylf. 12 (= 15, 23) in gamla gygr fcRÖLir at sonum marga jqtna ok
alla i vargs likjum, vgl. auch c. 50 (= 80, 10); deutlicher noch spricht die Her-
vararsaga (ed. Bugge s. 246) ok kap'pask um pat vargar dvalt — pat er söl, en Sk.
ok H. heita vargar, pat eru idfar usw. — Aus Ihre Dial. lex. 105 wies Grimm,
Myth.* 588 die ausdrücke solvarg, sohtlf für die nebensonne nach; an den angeführ-
ten stellen scheint der vargr der eigentlich bezeichnende ausdruck zu sein, zu dem
teilweise ulfr als der noch allgemeiner bekannte wolfsname hinzutritt.
3) Belege aus verschiedenen sjjrachen gab schon J. Grimm, vorrede zu Reinh.
Fuchs XXXV, ausserdem vgl. die uord. wbb. — Als graihjri bezeichnen den wolf
die Nafna|)ulur, Kph. I, 591.
DER FENRISWOLF 191
jedesfalls auch die färbe in betracht käme. Doch auch in diesem falle
darf man bei „grau" nicht gleich an die düsterste färbung denken,
wird doch z. b. auch eine eisen- oder stahlrüstung und von dem skal-
den Sküli (Kph. I, 330 grdnserlcs Mdna) sogar das mondlicht „grau"
genannt. — Auch dies attribut macht also den wolf Fenrir noch nicht
ohne weiteres zu einem dänion der finsternis^.
9. Der einzige dem Fenriswolf allein zukommende öbiname Vä-
nai'gandr begegnet selbst nur in der spräche der skalden, ist aber
insofern nicht ohne bedeutung, als der aus dem munde des gefesselten
wolfes hervorbrechende schäum- oder geiferfluss Van in der skaldischen
tradition feststand und als besonders charakteristisches kennzeichen galt
(vgl. c. Y ^ VI, § 9 gegen ende; exe. II); übrigens ist diese be-
zeichnung wol derjenigen der weltscMange, dem älteren und reicher
bezeugten ausdruck Jqrmungandr (z. b. Vol. 50, 2) nachgebildet ^ und
soll die verwantschaft der beiden angeblichen söhne Lokis, die ihm die
riesin Angrboda geboren, auch lautlich darstellen. Das wort gandr
selbst wird jetzt meist als „zauberwesen" gefasst und scheint so dem
sinne nach mit dem oben erwähnten vitnir verwant zu sein. Da diese
etwas dämonisch gefärbten beiworte aber neben dem einfachen idfr
oder Fcnrisidfr entschieden zurücktreten, teilweise auch als skaldisches
beiwerk sich verraten, berechtigen sie uns nicht in dem „wolfe" ein
von anfang an dämonisch aufgefasstes ungeheuer zu erblicken.
IV.
Genealogische und polemische beziehungen.
1. Schon in cap. I, § 14 ward hervorgehoben, dass es zwar in
den urmythen an verwantschaftlichen beziehungen göttlicher wesen
nicht vöUig fehlt, der grössere teil aber der genealogien auf mytholo-
gischem fehle nicht der naiven, sondern der konstruktiven mythen-
periode angehört, eine in unseren quellen sich findende genealogische
Verknüpfung also sehr leicht eine irrige sein kann. Übereilt würde
auch die annähme sein, dass gemeinsame zurückführung mehrerer
1) Wer an die Gräen der griechischen sage sich erinuern sollte, darf nicht
den leuchtenden zahn vergessen, der eine andere seite dieser gewitterwesen darstellt,
vgl. W. Schwartz. Urspr. der myth. s. 192 fg.
2) Vgl. auch Vigf. Corp. poet. bor. II, 471: the Wolf, the mighty mouster —
is less mentioned by the poets than the serpent. — Doch vgl. s. 194, anm. 1. — Die
bemerkuug im Gloss. der Pros. Edda s. v. Jqrmungandr, wonach diese bezeichnung
ursprünglich vielleicht dem Fenrir gebühre, ist zu streichen.
192 WILKEN
mythischer wesen auf einen gemeinsamen „vater" in dieser konstr.
periode notwendig den sinn einer Wesensgemeinschaft ausdrücke, sei
es der kinder mit dem vater, sei es der geschwister unter sich. Mögen
nicht selten geschwister, namentlich Schwestern dieselbe mythische
Vorstellung nur mit der nuance der Vervielfältigung ausdrücken, vgl.
c. III, § 5; mindestens ebenso oft ist — in der griechisch-römischen
wie in der deutschen mythologie — das geschwisterverhältnis der typi-
sche ausdruck geworden für die gemeinsame Unterordnung unter einen
höheren, welcher einer aus älterer zeit noch lange fortwirkenden patri-
archalischen auffassung gemäss als „vater" dieser wesen bezeichnet
wird^ An den homerischen Zevg TtarrjQ und den römischen Jupiter
als „divom pater" (z. b. iEneis I, 65) nur kurz erinnernd, weise ich
hier namentlich auf die Stellung, welche Oitinn allmählich im nordeu
gewonnen hatte, hin. Die einst mächtigeren götter Tyr und förr fin-
den wir in unseren quellen ihm untergeordnet-; der zweite wird nun
immer, der erste wenigstens gelegentlich zu den söhnen Odins gerech-
net 3. Dieser patriarchalisch gefassten gruppierung der äsen um den
aUvater Öctinn, wie sie Gylf. 20 so anschaulich schildert: ok svä sem
qnmir giiMn eru mdting, Jm pjöna liänmn qll svä \sem hqrn fqänr,
entspricht nun in unseren quellen offenbar die gegengruppierung der
den göttern feindlichen wesen um Loki, der namentlich als vater der
Hei, der weltschlange und des Fenriswolfes gefasst wurde, vgl. Gylf. 34
anf., wozu viele stellen der Lieder- Edda sowie auch der älteren skal-
den stimmen*. Ihrem wesen nach zeigen jene drei wesen wenig Ver-
wandtschaft mit dem verschlagenen Loki, so dass F. Magnussen einmal
bemerkte, ihr vater sei wol eher Ütgarda-Loki als Äsa-Loki gewesen.
Aber der erstere hätte zu einem führer im kämpfe wider die götter
1) Solcher typischen ausdrucksweisen finden sich mehrere; die Verschmelzung
des äsen- und vanen-kultes stellt Yngls. 4 und Bragar. 57 als einen friedensschluss
mit geiselstelluug dar; vielleicht ist ähnlich zu beurteilen die blutmischung (Loks. 9)
oder die heirat zweier göttlicher wesen (Gylf. 23).
2) Ein genauerer uachweis für das ältere Verhältnis wird nach den arbeiten
von H. Petersen, K. Weinhold u. a. wol unnötig sein, vgl. übrigens neben Untersuch,
zur Snorra-Edda s. 101 a. 148 und s. 295 hier w. u. s. 197 anm. 1. Mit recht hält
an dem früheren vorrang des gottes Tyr auch "W". Golther, Götterglaube und götter-
sagen der Germanen s. 18 fg. fest.
3) Vgl. Untersuch, s. 115, a. 212. — Wo die betr. wesen von so untergeord-
neter art sind wie menschliche beiden oder valkyrjen im vergleich zu Odinn, kennt
die nord. spräche den ausdruck oskasynir (adoptivsöhne) , öskniey. (vgl. die wbb.).
"Wir könnten hier von „im dienste" Odins stehenden menschen reden.
4) Gewöhnlich wird aber hier nur eines der kinder mit dem vater genannt
oder zwei geschwister (ohne den vater), vgl. s. 194 anm. 1.
DER FENRISWOLF 193
schlecht getaugt, also auch nicht zum „vater" des wolfes im sinne
der konstr. periode. Doch vergisst diese im vorliegenden falle nicht
den drei „idealen" geschwistern wenigsten eine mutter zu geben,
deren name schon ausdrückt, welche Vorstellung mit dazu führte, jene
drei wesen als geschwister aufzufassen: es ist die riesln Angt'boda, die
furcht -bieterin oder - erweck erin^.
2. Im anschluss an die besprechung der genealogischen Ver-
knüpfung des wolfes mit Loki möchte ich hier die schon im vorigen
cap. § 7 berührten ausdrücke in YqI. 47, in denen es zweifelhaft war,
ob sie auf Loki oder Fenrir sich beziehen, kurz erörtern. Zunächst
47, 2: eu johinn losnar. Müllenhoff hat D. alterk. V, 146 beide auf-
fassungen für zulässig erklärt, die deutung auf Fenrir jedoch bevor-
zugt. Aber Loki, der söhn des riesen Färbauti und ursprünglich w^ol
identisch mit dem echt riesischen Ütgarda-Loki, hat jedenfalls noch
näheren anspruch auf den namen jqtunn als Fenrir, der allenfalls auch
so heissen könnte'^. Doch wird letzterer in der VqI. (auch nach Mül-
lenhoff) sonst als frekl bezeichnet (cap. IV, 7); auch war die fesselung
Lokis in str. 35 ausdrücklich erwähnt, so dass wir- auch sein freiwer-
den hier wol eher zu finden berechtigt sind. Endlich entspricht einer-
seits der ausdruck renna, der Vol. 44, 2 von freld gebraucht ist, genau
dem fara (vom wolfe Fenrir in Häkonarm. 20 gebraucht) und die
besondere hervorhebung der fessel in jeuer strophe lässt an die berühm-
teste aller fesseln, Gleipuir, mit recht denken; andererseits entspricht
das dem loskommen des „riesen" in str. 47 vorangehende erschüttern
des weltbaumes ganz der Schilderung, die Gylf. 50 von dem gefessel-
ten Loki macht: seine krampfhaften Zuckungen rufen erdbeben hervor.
3. Bei Vol. 47, 4 kann sogar der zweifei entstehen, ob nicht
vielleicht der 40, 4; 41, 1 erwähnte tungls tjiigari hier gemeint sei;
da der schluss von 47 aber nur in der hs. H überliefert und wol
1) Nach diesen ausführungea wird klar seiu, wie weit ich der ansieht von
Mogk (im Grundr. der germ. phil. I, 1045) „junge fabelei hat sie (die weltschlange)
in die sippe Lokis gebracht — auch Fenrir ist später in Lokis sippe gekommen" zu-
stimmen kann, wie weit nicht.
2) Es wird der weitere gang der Untersuchung noch deutlicher zeigen, nament-
lich in cap. V, VI, dass erst die Verdunkelung und dämonische auffassung des nlfr
ihn zu einem vitnir, gandr, vargr machte und so, da vargr in der skaldischeu
spräche etwa -= troll ist {Jwndr er vargr eäa troll beina Kph. 11, 513), schliess-
lich auch als troll oder JQtium bezeichnen Hess; den umgekehrten Standpunkt, wonach
Fenrir nur gelegentlich in „wolfsgestalt" auftritt, nimmt z. b. Schade im Altd. wb.
s. V. Fenrir ein. Vgl. s. 194 .n. 1. — Meine auffassung Lokis kann hier nicht ein-
gehend begründet werden.
ZEITSCimiFT F. DEUTSCHE PlIILOLOGIK. BD. XXVIII. 13
194 WILKEN
irgendwie verderbt ist, fällt die entscheidiing der frage nicht ganz
leicht. Der ausdriick Surtar sefi kann jeden riesen oder riesenverwan-
ten unhold bezeichnen; bezieht man den aiisdruck auf Fenrir, dann ist
die auch von Sijmons recipierte konjektur Müllenhoffs hleypir für gley-
pir und die erklärung pami = pari allerdings ansprechend und dieses
of hleypir entspräche dann wider dem in § 2 besprochenen rejina der
Str. 44, im andern falle möchte ich gleypir behalten, aber für fiann
mit Munch und Möbius Jm (auf aUir bezogen) lesen. [Vgl. aber auch
Rud. Much, Zeitschr. f. deutsches alt. 37, 417 fg. H. G-.] AUir ä hel-
vegmn aber fasse ich nicht als „die in den regionen der Hei" (Müllenh.
Y, 147), sondern = „die auf dem wege zur Hei sind", vgl. troäa halir
helveg 52, 4 nebst 56, 2 und 41, 1. — Ist diese ältere auffassung nicht
am ende die einfachere?
4. Während die in § 1 dieses capitels besprochene genealogische
Verknüpfung des wolfes mit Loki zwar un ursprünglich ist, aber schon
in der skaldischen wie eddischen tradition fest begründet, somit relativ
alt erscheint \ ist eine andere genealogische Verknüpfung, die Yol. 40, 2
vorführt, nicht so konsequent durchgeführt worden. Der ausdruck
Fenris kindir kann (vgl. Müllenhoff a. a. o. 124) entweder „wesen von
der art" oder „kinder imd abkömmlinge" des Fenrir bezeichnen —
„auf jeden fall wölfe". Da nun zu den bekanntesten wölfen der nor-
dischen mythologie Skoll und Hau gehören, letzterer aber Gnu. 39, 3
als söhn des Hröävitnir, welchen namen wir cap. HI, 7 als beinamen
des wolfes Fenrir kennen gelernt haben, erscheint, so lässt sich aller-
dings eine entscheidung im sinne der Vaterschaft des Fenrir beiden
1) Für die skaldisclie tradition vgl. jetzt Finuur Jönsson im Arkiv. f. nord.
fil. IX, 9. — Hier wird hervorgelioben , dass die weltsclilange bei den ältesten skal-
den mehrfach erwähnt, aber nicht ausdrücklich als Lokis kiud bezeichnet wird; die
belege für Fenrir und Hei in dieser beziehung sind ebenda gesammelt. — In der
Lieder -Edda scheint nur für den wolf die genealogische yerbindung mit Loki direkt
bezeugt zu sein (Lokas. 10, 1), indirekt geht dieselbe für die weltschlange aus
Hymkv. 24, 4 hervor. — Die nahe liegende wahruehmung, dass in jener genealogi-
schen Verbindung mit Loki der grund liegt, weshalb Fenrir auch einmal (in einem
nachtrage zum hauptregister ziemlich an letzter stelle!) unter den riesen aufgeführt
wird, Kph. I, 555 hätte, zumal bei dem geringen mythologischen werte der Nafna-
{)ulur, davor bewahren sollen, den wolf zu einem dämon zu machen, der in wolfs-
gestalt den mond oder die sonne verschlingen soll (Schade, Mogk). Und E. H. Meyer,
der Germ, mythol. 144 (entsprechend seinem Systeme, wonach den dämonen in tier-
gestalt die in menschengestalt, d. h. unter andern die riesen, historisch folgen) von
dem tierdämouischen prototyp des riesen Ymir redet, hätte s. 142 besser den zwei-
deutigen ausdruck vermieden: elben erscheinen selten, riesen oft als ticrdämonen,
wobei u. a. der Fenriswolf als beispiel angeführt wird.
DER FENEISWOLF 195
Wölfen gegenüber kaum anfechten und die zweite der obigen erklärun-
gen von Fenris kindir scheint somit näher zu liegen. Der einwand,
dass von einer Vaterschaft bei einem wesen, welches nach Gylf. 34 in
jungen jähren bereits gefesselt wurde und so bis zum weltende verhar-
ren sollte, nicht wol die rede sein könne, verliert sein gewicht, wenn
wir auch hier an jene ideale Vaterschaft denken, die wir in § 1
dieses capitels bei Loki besprochen; die alte im eisenwalde darf dann
zwar nicht mit Angrboda gleichgesetzt werden, aber doch wol als nach
ihrem vorbilde konstruiert gelten. Zu der „idealen" Vaterschaft stimmt
auch der umstand, dass diese Fenris kindir, die ziemlich zahlreich
gewesen sein müssen {verdr af J)cim qllum Yq\. 40 , 3) , in ihrer haupt-
masse jenen fifJmegir zu entsprechen scheinen, welche VqI. 51, 8 auch
im gefolge des wolfes (freki)^ aber ohne besondere betonung einer ver-
wantschaft mit ihm anführt^; sie scheinen den wolf in ähnlicher weise
zum letzten kämpfe zu begleiten wie die einJierjar den Ödinn^.
5. Wenn auch die Fenris kindir sich deutlich bezeugt nur in der
YqI. finden, so fehlt es doch nicht an anzeichen noch kühnerer kom-
binationen in der bezüglichen richtung. Während als verschlinger der
sonne nach dem zeuguiss beider Edden (Grm. 39, 1; Gylf. 12 vgl. mit
51) sowie der Hervararsaga (s. 246 Bugge) der wolf Skoll (Skalli Herv.)
genannt wird, legt Vaf[)r. 46 und 47 dieselbe rolle dem wolfe Fenrir
bei; vgl. auch Hrafnag. 23, 4. Dass hier wol nur eine freiere fortbil-
dung der in § 4 bereits besprochenen genealogischen Verhältnisse, jeden-
falls keine allgemein recipierte auffassung zu tage tritt, wird schon
daraus deuthch, dass in Gylf 53 die letztere jener beiden Strophen
citiert, aber nur bezüglich der tochter, welche die sonne vor ihrem
tode gewonnen haben soll, als Zeugnis benutzt wird, während der Ver-
fasser in cap. 51 den sonnenwolf ganz deutlich von dem Fenriswolfe
unterscheidet (vgl. 81, 11 mit 82, 5 fg. Wk.); zu demselben ergebnis
führt jede besonnene sagenkritische Untersuchung''^.
1) Da Loki nach VqI. 51, 4 fahrtgenosse des wolfes ist, so mag der ausdruck
HeJjar smnar, den Gylf. 51 (83, 4 Wk.) für das gefolge des Loki gebraucht, jene
fiflmegir mit einschliessen sollen. Bei letzterem werte halte ich eine Übersetzung
nach analogie des ags. fifel (riese) um so berechtigter, als das wort etymologisch
zunächst auf körperliche gi'össe hinweist (vgl. Fick s. v. femfla) und auch der gewöhn-
liche nordische Sprachgebrauch (= tölpel) sich leicht erläutert im hinblicke auf das
ungeschlachte wesen der meisten riesen, vgl. Vigf. und Gering s. v. api.
2) Da die einherjar als oskasynir des gottes gelten (vgl. s. 192 anm. 3), so ist
die analogie zu den Fenris kindir um so einleuchtender.
3) Grimms versuch (Myth."*, nachtr. s. 83) in älfrqäull den moud zu sehen,
scheitert au Kph. I, 593; würde überdies die mythologische Schwierigkeit nicht heben.
13*
196 WILlvEN
6. Nur dies darf zugegeben werden, dass die gleiche bezeich-
nung als wölfe — mag sie auch bei den sonnenwölfen auf indirektem,
bei dem Fenriswolf (vgl. c. Y, VI) wahrscheinlich auf direktem ver-
gleiche beruhen (diese termini sind erläutert c. I, 13), sobald auch der
Fenriswolf aus irgendwelchem gründe eine dämonische auffassung erfahr,
die Versuchung sehr nahe legte, diese verschiedenen wölfe nicht nur
genealogisch zu verknüpfen (wie den Fenriswolf mit Loki) , sondern sie
auch sozusagen als mythologische konknrrenten und zu gelegentlicher
vertauschung geeignete wesen erscheinen su lassen, ohne die schweren
bedenken gegen einen solchen Synkretismus in die wagschale des urteils
fallen zu lassen. Doch kann hiervon, da die vertauschung weder all-
gemein noch auch nur in dazu neigenden kreisen mit konsequenter
schärfe auftritt, erst in cap. YII, 6 weiter gehandelt werden.
7. Schon in cap. I, 14 wurde darauf hingewiesen, dass pole-
mische Verbindungen zum teil echt mythischen wert haben können,
sofern sie nämlich nicht etwa nur die kehrseite idealer genealogieen und
Verbrüderungen darstellen. Dies letztere trifft nun auch bei dem Fen-
riswolfe teilweise zu, bei dem ich die feindschaft gegen götter und
menschen, welche unsere quellen widerholt (namentlich Gylf. 51) bezeu-
gen, teils auf rechnung des leicht irreführenden namens „wolf" (vgl.
§ 6), teils auf die der genealogischen Verbindung mit Loki setzen muss^
Zwar bezeugt sich diese feindliche Stellung andeutungsweise schon in
den ältesten unserer quellen; aber diese alle kennen auch bereits die
Verbindung mit Loki. Etwas anders ist es mit der rolle des gottes Tfr,
wie sie in dem berichte von der fesselung des wolfes in Gylf. 34 sich
findet. Diese gestalt tritt dem wolfe in einer weise gegenüber, dass
man den gedanken zunächst ansprechend finden kann, in Tfr gewis-
Diese liegt darin, dass die sonueiiwölfe (resp. der sonnen- und mondwolf) nach den
oben goüannten Zeugnissen als rastlose Verfolger die sonne oder den mond bedrohen,
während der Fenriswolf hilflos gefesselt liegt und seine eigene freiheit erst vom Welt-
untergänge erwartet. — Eher Hesse sich noch mit Mülleuhoff und Simrock daran
denken, in Vaf|)r. 46 nur eine poetische freiheit des ausdrucks zu finden, so dass
unter dem nanien Fenrir hier der sonnenwolf Sk. zu verstehen sei; doch sind derar-
tige einfache namensvertauschuugen (wie Nanna oder lorun für Miinu Hrafn. 8, 2;
15, 1) der älteren, auch skaldischeu dichtung keineswegs geläufig, vgl. Untersuch.
s. 209, 296. — Die an letzterer stelle im anschluss an Gislason geäusserte ansieht
halte ich auch jetzt fest gegenüber der etwas freiereu von E. H. Meyer, Germ,
myth. s. 34.
1) Mag auch mit dem losbrechen des wolfes der Weltuntergang beginnen (vgl.
0. VI, 10 gegen ende), so fassen die nordischen quellen doch nicht ihn, sondern Loki
als den eigentlichen götterfeind (Gylf. 33, Sk. 16).
DER FENRISWOLF 197
sermasseii das mythische komplement, den geborenen gegensatz des wol-
fes Fenrir zu finden. Von diesem Standpunkte aus sind hervorragende
forscher (vgl. cap. II, 1) dazu gekommen, in dem gegner des gottes Tyr
einen dämon der finsterniss zu finden. Wird nun auch neuerdings die
geltung des gottes Tyr als eines Vorgängers von Ödinn im principat der
götter, teilweise sogar seine geltung als himmelsgott überhaupt bestritten^,
so kaim ich diesen letzteren Standpunkt, der für meine auffassung des
Fenriswolfes eigentlich der bequemste wäre, doch durchaus nicht adoptie-
ren. Es genügt mit die dreifache forderung: 1) Unterscheidung des späte-
ren kriegsgottes T^r von dem älteren himmelsgotte Tfr auch in Gylf. 34;
2) anerkennung, dass himmlische lichtgötter ursprünglich stets tages-
götter sind 2 und 3) dass der gegensatz zwischen Tyr und Fenrir ein
mehr äusserlicher als innerlicher ist, da die fesselung des wolfes nur
als notwendige Vorbeugung künftiger gefahren, nicht wegen schon ver-
1) Bedenken gegen die etymologische gleichsetzung des' gottes Tyr mit Ztvq
sowie gegen die annähme, Tyr habe in älterer zeit im norden die rolle gespielt,
welche später Odinn einnahm, sind neuerdings namentlich von Beer (Germ. 33, 4 fg.),
E. H. Meyer (Germ. myth. 220) und 0. Bremer (Indogerm. forschungen III, 301;
dieses letzte citat verdanke ich einem gütigen winke H. Gerings) nicht ohne nachdruck
voi'gebracht; die begründung ist für mich aber nur eine teilweise überzeugende. Die
etymol. gleichsetzuiig mit Ztvq mag gerne dahinfahren; es mag auch ohne weiteres
zugegeben werden, dass eine so einheitliche Zusammenfassung des götterstaates , wie
sie die „odiiinische" zeit kannte, früheren perioden fremd war — aber wer wie Beer
den uameu Tyr „der leuchtende" erklärt und fortfährt (s. 5), „dass auf indogerman.
stufe den göttern die eigenschaft des leuchtens, glänzens als wesentlich zugeschrie-
ben wurde, mithin ihre atmosphäiische natur dominierte", der scheint mir nicht
berechtigt zu sein aus gründen strengerer etymologie wenige zeilen verlier zu sagen,
dass „von einem deutschen himmelsgott Tiv keine rede sein könne". — Ähnlich
scheint mir auch bei Bremer der unterschied von der älteren auffassung mehr in
Worten urgiert, als sachlich begründet zu sein. Wie wenig zutreffend die bemerkung
ist, nur die etymologie Tyr = Ztv^ habe die annähme einer älteren, höheren rolle
des gottes hervorgerufen, geht aus W. Müller, Altd. rel. 222 hervor: Schon Suhm,
om Odin 188, 189 erkannte, dass der kultus dieses gottes im norden älter sei als
der des Odinn. Wenn es in der griech. röm. germ. mythologie keine kriegsgötter
gibt, die nicht luft- oder himmelsgötter gewesen sind (vgl. Ares und Athene, Ma-
mers-Mars, Jupiter; ausser Tyr auch Odinn). so wird es bei Tyi", dessen name nicht
widerstrebt, sich w'ol ähnlich verhalten, und wenn Tyr „im besonderen den gottes-
namen trägt", den im weitereu sinne auch andere götter (tivar) führen, so scheint
mir der schluss näher zu liegen, dass dieser gott eine hervorragende rolle unter
ihnen wenigstens in alter zeit besessen haben muss , als dass gerade hierin ein beweis
für seine rolle als (ursprünglicher) kriegsgott zu finden wäre. — "Vgl. s. 192 anm. 2.
2) Dass die macht der himmlischen an den tag gebunden ist, geht schon aus
dem bekannten sagenzuge hervor, dass ihre geguer bei anbruch des tageslichtes in
ihre gewalt fallen , versteinert werden (Vigf. s. v. dmja).
198 SCHÖNBÄCH
übter gewalttat, ja nicht einmal wegen grausamer oder sonst „wöl-
fischer" Sinnesart erfolgte Wird dies, das im einzelnen in den folgen-
den capiteln näher zu begründen ist, vorläufig zugegeben, so ergibt
sich als resultat der bisherigen Untersuchung (in cap. III und lY), dass
eine dämonische auffassuiig des Avolfes aus seinen beinamen mit unrecht
gefolgert wird (cap. III, 8), aus den genealogischen Verbindungen nur
scheinbar und aus der gegenüberstellung mit T}^r nur soweit wirklich
sich begründen lässt, dass eine gewisse beziehung des wolfes zur nacht
wol nicht bestritten werden darf. Aber zeigt die nacht etwa bloss
schrecken, dunkel und finsterniss?^
1) Man vgl. z. b. diesen bericlit mit dem von dem schmiede, der sonne und
mond für sich verlangt (Gylf. 44) oder mit der erzähhmg von Hrungnir.
2) Vgl. Grimm, Myth.* 614: beide, tag und nacht, sind hehre wesen.
(Schluss folgt.)
ZUM FEAUENDIENST ULEICHS VON LIECHTENSTEIN.
Die Vorbereitungen zur zweiten aufläge meines buches Über Wal-
ther von der Yogelweide sowie die zurüstung meines anteiles an der
„Geschichte der stadt Wien'' haben es mir nahe gelegt, die dichtungen
Ulrichs von Liechtenstein neuerdings genau durchzunehmen. Ich hatte
das schon widerholt getan: 1882 vgl. Zeitschr. f. d. a. 26, 307 fg., 1888
zum behufe der recension von Bechsteins ausgäbe, DLZ. 1888 s. 1112 fg.
Dort hatte ich bereits einen aufsatz über den dichter versprochen, diese
zusage jedoch im Anz. f. d. a. 15, 378 wider zurückgenommen, weil
damals die Veröffentlichung einer historischen studio über den Liechten-
steiner durch meinen freund, herrn Alfred von Siegenfeld, in naher
aussieht stand. Seither erfahre ich, dass diese publikation sobald nicht
erfolgen wird, und zögere nun nicht mehr, meine arbeit den fachgenos-
sen vorzulegen. Ich beabsichtige damit keineswegs die in jedem be-
trachte unzureichende ausgäbe des „Frauendienstes" durch Bechstein
durchweg zu berichtigen: das mag jeder philologische leser unschwer
fü]- sich besorgen. Auch will ich nicht erschöpfendes über die vor-
kommenden persönlichkeiten mitteilen: ich vermöchte das gar nicht,
und meine, es genüge einmalige urkundliche Sicherung eines namens
für die zwecke unseres faches. Darum habe ich mich bei der aus-
nutzung des materiales beruhigt, das ich zur hand hatte. Mit StU.
sind die zwei bände des Steirischen Urkuudenbuches gemeint, die
1875 und 1879 zu Graz erschienen sind. Siegel citiere ich nach den
zu ULRICH VON LIFX'HTENSTEIN 199
prächtigen tafeln, die herr von Siegenfeld (Nürnberg 1893), der Stei-
risclie Uradel (als lY, 7 des „Neuen Siebmacher") herausgegeben hat,
zur zeit noch leider ohne kommentar^ — Jedesfalls wünsche ich, dass,
was ich auf diesen blättern biete, zum verständis des seltsamen man-
nes und seines werkes etwas beitragen möge.
10, 16. Will man mit Bechstein die lesung der hs. festhalten, dann
verlangt es der natürliche satzton, dass ich (wie gleich dann 10, 29 u. ö.)
inkliniert werde und auf ir die hebung falle. — 18, 18 vgl. Walther
69, 26. — Aus 21, 13 fgg. ersieht man deutlich, dass dieses Verhält-
nis eine ivänminne ist; der höhe muot 21, 17. 19 vgl. 18, 26. 19, 4.
11. 22, 20 usw., um dessentwillen es unternommen wird, ist dafür
bezeichnend. — 22, 29 Lachmauns einschaltung doch beweist, dass er
die notwendigkeit fühlte, den satz mit der vorhergehenden Strophe in
bezug zu setzen. Vielleicht wird derselbe zweck besser erreicht durch:
so ivil des ich niht wesen bot. — 24, 5 fgg. Die Weigerung des arztes,
vor dem monat mai zu operieren erklärt sich aus dem in aderlass-
und planetenbüchern verzeichneten glauben, dass jedes Siechtum im
monat mai am besten heile. Ygl. schon Wilhelm von Conches, De
philosophia mimdi üb. 2, cap. 26. 27 (Migne, Patrol. lat. 172, 67 fgg.). —
24, 32 Der knappe bekreuzt sich, weil er Ulrich für verrückt (25, 10)
oder bezaubert hält. Wenn man den zustand der damaligen Chirurgie
in Deutschland (besser war es damit in Italien) bedenkt, und dass jeder
einfache kuochenbruch oft zum tode führte (vgl. das ende herzog Leo-
pold y. am 31. december 1194 in Graz), so darf die besorgnis des
knappen 25, 11 fg. nicht verwundern. Ein magister Chunradus phi-
sicus von Graz ist im 2. bände des Steir. Urkdb. mehrfach bezeugt
und erhält (s. 541) 1213 einen zehnthof bei Hitzendorf vom erzbischof
Eberhard IL von Salzburg zum geschenk. — 26, 16 Es ist gar
kein grund vorhanden, mit Bechstein an der richtigkeit der lesart
sleijjal zu zweifeln: die modernen vergleiche in solchen fällen (eine
faust, ein kindskopf, eine kegelkugel) sind um nichts geschmackvoller
und treffender. — 28, 2 fgg. Bechstein mag wol recht haben, wenn
er diese grüne salbe für pappelsalbe hält, denn das Xlosterneuburger
arzneibuch des 12. Jahrhunderts sagt 1. buch, b. XIY. (meiner abschrift):
von den päppeln: papeln sint ehalt und veuht an dem ersten gradu
und brcchcnt diu geswer diu von hliiot sint und macJient daz ivarch
(eiter). Vgl. Konrad v. Megenberg, Buch der natur 340, 5 fgg., wo
es von der pappelsalbe heisst: dax ist gar guot xuo vil dingen und
1) Die Steir. reimchronik wii'd natürlich nach Seemüllers trefflicher ausgäbe
angeführt.
200 SCHÖN BACH
haixt -xe latein diapopyUon. — und ivaz auxwendiger ivunden ist an
dem leib, die hailt ex gar krefticieich. Sie war damals schon in apo-
theken zu kaufen, vgl. Megenberg 5, 23 fgg. Nimmt man das an,
dann findet sich noch ein weiterer grund, weshalb der arzt den Liech-
tensteiner auf den monat mai bestellt, denn Megenberg sagt von der
bereitung der salbe aus dem „pappelharz" 339, 32 fgg.: aber der ist
der pest, de7i man in dem maien sament und macht man den harz
also: man nimt die probsen oder diu knögerlein, diu xe laub sollen
sein tvorden, und sendet die in ungesalzenr initern, diu ncur von
rindermilch kümt und die in dem maien geynacht ist, und daz sendet
man mitenandcr, unx ex %emäl grüen ivirt. dar nach seiht man ex
durch ain tuoch und tuot ex in erdein häfen. — 30, 23 1. (so mich
besexen) nahtes habent die sorge alsamt die schar. — 31, 20 6^^ der
Muor, also wol in Murau, oberhalb dessen die Frauenburg lag, nach
der sich Ulrich in den nächsten versen begibt, vgl. 159, 14. 210, 24 i. —
32, 12 Die bedeutung hüs = bürg ist nicht so selten, wie Bechsteins
anm. meint, und sogar heute noch verschiedentlich zu belegen. Wel-
ches der markt ist, der 19 erwähnt wird, lässt sich bei den verschie-
denen mögiichkeiten, die das Murtal darbietet, nicht ausmachen; die
stat 38, 5 ist Avahrscheinlich Judenburg, die einzige civitas in der
nähe, ein platz, der schon am anfang des 12. Jahrhunderts markt-,
maut-, zoll- und stapelrecht besass (Steir. Urkundenb. 1, 111) und am
ende des 12. Jahrhunderts zur stadt erhoben war (v. Muchar, Gesch.
d. herzogt. Steiermark 2, 134. 3, 131 fg.). — 33, 17. 25 Wol eine
■missa bassa, privata oder specialis (Du Gange 5, 414. 417 fg.), wie
sie auf reisen üblich war und noch ist. Dass dabei von singen gere-
det wird 33, 10. 18. 23, hindert diese auffassung nicht, weil das nur
ein formelhafter ausdruck ist. — 44, 6 (57, 8. 59, 14) Deutsche gebet-
bücher gab es damals noch nicht, die frau verstand also latein. Da
der empfehlung des buehes die werte beigegeben sind gegen der tiaht,
so ist es nicht als ein gewöhnliches psalterium täuschend aufgefasst,
sondern als ein tagzeitenbuch, das ja auch ungefähr dem umfange von
Ulrichs gedieht entsprach. — 44, 27 Bechsteins komma ist unberech-
tigt, denn 28 stehen gen., nicht dat. — 52, 24 Der vers hat nicht
drei hebungen, wie Bechstein meint, denn der sinn fordert die beto-
nung ein herxe und ein llp. — 52, 32; 53, 1 Die Umstellung Lach-
manns scheint mir bei der oft so gewundenen ausdrucksweise Ulrichs
1) Es kann übrigens nach den Zeugnissen des Steir. TJrkdbuchs ebensogut ein
dorf Mure, Mtira bei dem benachbarten Judenburg gemeint sein.
zu ULRICH VON LIECHTENSTKIN 201
nicht binreichend begründet; auch passt die wideraufuabnie durch des,
die den entgegenstellenden satz einleitet, besser zur handschriftlichen
Ordnung. — 53, 8 fg. Wie sich Bechstein den Zusammenhang der stelle
denkt, wenn die beiden verse fehlen, ist mir unklar. — 53, 26 Viel-
leicht nur icax schadet der riehen beide? das passt zum folgenden:
bluomen mag durch den Schreiber hereingekommen sein. Es scheint
mir merkwürdig, dass heide, dieses lieblingswort der minnesänger, nur
an dieser stelle des Frauendienstes im reim steht. — 53, 30 Lachmann
hat nicht bloss aus metrischen gründen abe hinzugesetzt, sondern aus
dem richtigen gefühle, dass bluomen brechen hier eben nicht in der
gewöhnlichen formelhaften weise verwendet ist. — 54, 32 vertreten ist
hier ein ausdruck der rechtssprache aus dem verhältniss des defensor,
patronus, vgl. Haltaus 1906 fg. — 59, 21 ist er dem si ie an gesiget. —
60, 25 fgg. übersetze ich: „mancher spricht, was ihn sein herz nicht
(anders) zu lehren weiss, ausser dass es durch fremden einfluss sich
bemüht, klug zu werden." Diese werte werfen dem Liechtensteiner
torheit vor und zugleich trauen sie ihm zu, er lasse seine neigung
nicht durch inneren antrieb, sondern durch äussere einwirkungen,
raode u. dgl. bestimmen. — 61, 28 Wie vorsichtig man eine mhd.
altersbestimmung durch Idut beurteilen muss, lehrt dieser vers: sivie
Idnd ich von den jären st — der Liechtensteiner war damals 24 — 25
jähre alt. — 62, 13 fgg. Das furnier zu Friesach ist ein historisches
ereigniss, wenngleich Ulrich manche Irrtümer in bezug auf die von
ihm erwähnte anwesenlieit bestimmter personen begangen hat. Das
datum ist 63, 12 deutlich angegeben, denn Philippus ist der apostel
(1. raai), wenn er ohne zusatz genannt wird, und dann allein gemeint.
Von den kirchenfürsten, die Ulrich beim furnier erwähnt, hat Eber-
hard II. von Salzburg (Frauend. 68, 13) am 2. mai 1224 in Friesach
eine Schenkung herzog Leopolds VI. von Österreich an das kloster Ad-
mont bestätigt, Steir. Urkdb. 2, 308 fg. Am 22. april 1224, also acht
tage vor dem tiu-nier beurkundet herzog Leopold zu Graz seine Ver-
mittlung im streite zwischen Wulfing von Stubenberg und dem spitale
am Semmering. (Am 24. april urkundet er zu Judenburg, Steir. Urkdb.
2, 307 fg., befand sich also auf dem wege nach Friesach.) Dabei sind
als ausfertiger mit unterzeichnet Eberhard von Salzburg und bischof
Ekbert von Bamberg (Frauend. 77, 27), als zeugen die bischöfe von
Chiemsee und von Seckau, die also wol zu den 68, 13 fg. erwähnten
zehn gehört haben Averden, ferner Heinriciis marchio Ystrie (65, 6),
Diepoldus marchio de Hohenhjirch (65, 11, auch von Vohburg genannt),
Meinhardus senior et Meinliardus junior comites de Gorx (65, 15),
202 SCHÖNBACH
Eberliardus nohilis de Sluxübercli (65, 27), Heinricus et Weriihardiis
nobiles de Schoiimberch (65, 31), Liutoldus nobilis de Pekah (66, 4.
72, 19?), Cholo de Truhsen et Cholo fdius suus (67, 1), ReimbeHus
de Mureke et Beinbcrtus filius suus (66, 19), Hademarus de Chun-
ringen (67, 17), Herniamius de Chranchberc (66, 29), Hartnidus de
Orte (66, 18), Liutoldus et UoJricns de Wildonia (66, 15?), Heinricus
et Offo patres de Puten [QQ^ 31), Otto et Ortolfus fratres de Oraez
(67, 3 fg.). Aus der vergleichung dieser und anderer Urkunden (z. b.
der kaiser Friedrichs II. vom februar 1237 — Steir. Urkdb. 2, 454 fgg.,
auch von Karajan schon erwähnt s. 667— wo noch stehen: comes Ul-
ricus de Phannenberc 65, 25 fg.; Hademarus et Rapoto de ScJioenen-
berc 67, 28; comes Willeheimus de Hunenberc 65, 19; comes Hermmi-
nus de Ortcnburc 65, 24) ergibt sich erstens: Ulrich hat die leute
keineswegs zufällig an einander gereiht, wie sie ihm etwa einfielen,
sondern im ganzen nacli ihren rangverhältnissen und ihrer bedeutung
(66, 9 fgg.); zweitens, und das trifft teilweise mit dem ersten zusam-
men, er hat — anders lässt es sich nicht erklären — als er einund-
dreissig jähre nach dem furnier zu Friesach es unternahm, die damals
dort anwesenden aufzuzählen, wahrscheinlich eine wichtigere Urkunde
jener zeit zur band gehabt und durch ihre zeugen, die er sich vor-
lesen liess, sein gedächtniss aufgefrischt, allerdings hat er dabei auch
fehler (vgl. noch zu 66, 5. 78, 3) mit aufgenommen. Aus blossem ver-
hören bei solcher gelegenheit versteht sich der Liutolt von Peitach,
Petach 66, 4. 72, 19. Zwar gibt es auch einen Liutoldus von Pettau,
der mit seinem bruder Perhtoldus eine Urkunde von 1224 bezeugt (Steir.
Urkdb. 2, 316), allein niemals lautet der name des geschlechtes und
der Stadt Pettau urkundlich auf ach aus, wie das hier zweimal durch
den reim bezeugt ist. Daher hat v. d. Hagen recht, der MSH. 4, 329,
anm. 2 meint, das heutige Peggau oberhalb Graz sei hier zu verste-
hen. Neben dem selteneren auslaut auf a ist in den Urkunden die
zweite silbe gewöhnlich ccacli, kkali, ccah, kah , cchac geschrieben.
Der name Leutolds von Peggau kommt im 1. imd 2. bände des Steir.
Urkdb. von 1188^ — 1240 vor, wahrscheinlich sind das zwei personen,
vater und söhn. Da nun Liidoldus et Rapoto pueri de Pekah 1223
vorkommen (sein Siegel von 1234 tafel 6), so wird der von Ulrich
erwähnte deren vater Leutold sein. Ein zweiter Verstoss in der liste
ist bekanntlich von Kummer (Das ministerialengeschlecbt von Wil-
donie s. 32 fg.) aufgedeckt worden. Darnach ist der 66, 15 genannte
Hertntt von Wildon 1224 bereits verstorben, und war ein Wildonier
anfangs mai in Priesach, dann wird es einer von den beiden in der
zu ULRICH VON LIECHTENSTEIN 203
Grazer iirkimde vorkommenden gewesen sein. Ich schliesse daraus, dass
die von Ulrich bei seiner darstellung benutzte Urkunde noch vor 1224
ausgefertigt war. Ist meine auffassung richtig, dann entfallen die
an diese sache geknüpften folgerungen von Kummer und Bechstein
(s. XXV). — 66, 1 fgg. Im Steir. Urkdb. ist Otto de Lengenbach
(in Niederösterreich), ecdesiae mojoris tiimadvocatus von 1220 — 1236
bezeugt. — 66, 5 Auch hier liegt wahrscheinlich ein irrtum vor: Ul-
rich wird nach dem gehör einen sehr wol bezeugten Konrad von San-
eck bei Cilli für einen edlen von Schoeneck bei Scmriach oberhalb
Graz gehalten haben; unter den vielen wirkliclien Schreibungen für
Saneck kommt ein Schoeneck niemals vor. Ich bemerke übrigens aus-
drücklich, dass der fehler auch auf dem wege von Ulrichs diktat zur
niederschrift seines Sekretärs begangen worden sein kann. — 66, 6
Dieser Kärntner edle ist wahrscheinlich Engelbert von Auersberg, der
am 4. juni 1217 zu Friesach eine Schenkung herzog Leopolds an das
steirische cisterzienserkloster Reun unterfertigt: v. Muchar, Gesch. d. her-
zogt. Steiermark 5, 78. Ein Herbord von Auersberg urkundet für das-
selbe Stift 1256: Muchar 5, 263. — 66, 8 das Siegel des herrn Diet-
mar von Potenstein tafel 7. — 66, 13 Das ist jedesfalls der ältere
Hart7iidus de Ort (in Oberösterreich am Traunsee), der nach den Zeug-
nissen des Steir. Urkdb. (von 1170 bis zu seinem tode 1229) das von
Ulrich ihm gespendete lob verdiente. Sein söhn Hertnidus beginnt
von 1229 ab (Steir. Urkdb. 2, 359) zu Urkunden und war nach dem
Steir. Urkdb. 2, 484 fgg. ein besonderer freund Ulrichs. — 66, 17Wülvinc
von Stubenberg ist im Steir. Urkdb. von 1210 bezeugt bis 1230, wo
er starb. Sein sehn Wülvinc urkundet noch 1240 als puer. — 66, 21
Buodolf von Ras = Rosegg bei Villach in Kärnten findet sich von
1195 ab häufig unter den steirischen ministerialen. — 66, 29 Dieser
Heimann von Kranichsberg hatte seine bürg in Niederösterreich, öst-
lich bei Glocknitz, war also dort ein unmittelbarer nachbar von Ulrichs
österreichischen besitzungen. Er zeugt im Steir. Urkdb. von 1220 —
1235. — Dasselbe gilt von den Püttnern bei Neunkirchen NÖst. 66, 31,
die oft in steirischen Urkunden vorkommen. — 67, 1 Die beiden sind
Kärntner (Trixen bei Völkermarkt), söhne eines altern Cholo, und bezeugen
oftmals steir. Urkunden. — 67, 3 fg. Diese Otto und Ortolph von Graz
sind söhne des burghauptmanns Otakar; doch ist dieser Ortolph, der
im Steir. Urkdb. bis etwa 1240 bezeugt ist, zu unterscheiden von dem
Ortolph, der nach Muchar 4, 528 in den achtziger jähren des 12. Jahr-
hunderts in das kloster Admont eingetreten ist. — 67, 7 Ofacher de
Wolchenstain (im Ennstal bei Liezen) ist im Steir. Urkdb. bezeugt von
204 SCHÖNBACH
1208 — 1222 und als offidaUs ducisse (Tlieodora) noch 1228.— 67, 11
Ekchardus de Thanne, ein Salzburger, ist im Steir. Urkdb. bezeugt von
1195—1245, sein siegel von 1245 tafel 12 vgl. Steir. Reirachr. 36223.
68815. — 67, 15 Ein Kärntner, bei St. Veit ansiissig. — 67, 19 Ist
das Gorizen (urkundlich Gorisin) in den Windischen Bücheln in ün-
tersteiermark? ein Widving ist 1245 bezeugt, St. Urkdb. 2, 541, vgl.
aber v. Karajan s. 675. — 67, 25 Das wird Ulricus Stvx de Trout-
7nancstorf sein, von dem zwei siegel von 1240 tafel 9 stehen. — 67, 26
Otto von Ottenstein (in Niederöst., pfarre Allentsteig), zeugt 1243 bei
einer Urkunde herzog Friedrichs IL für Seckau. — 67, 28 Schönberg
bei Langenlois, Niederöst., bei Muchar ist Hatmar bezeugt von 1224 —
1269, Siegel von 1245 tafel 13. — 67, 30 Heinrich von Hackenberg
(bei Stinkenbrunn, Niederöst.), bei Muchar bezeugt von 1224 — 42.
Das adj. karc hier versteht Sprenger, Germania 37, 174 fg. richtig, vgl.
Frauend. 609, 31, wo Lachmanns verschlag überflüssig ist, und die heu-
tige inneröst. bedeutung von „klug" = geizig. Dagegen ist 268, 22
an giiote icis nicht zu ändern, denn das heisst eben „sparsam" in
tadelndem sinne. — 67, 31 Sollte damit lüenach bei Irdning, Oberst,
gemeint sein? ein Ulricus de Chienoii kommt 1201 im Steir. Urkdb.
2, 73 vor. — 68, 3 Nur die so reich waren, dass sie ritterliche genos-
sen mitbrachten, sind mit namen aufgezählt worden; die anderen kamen
allein, d. h. jeder nur mit einem knecht. Die angäbe ist so vag, weil
sie nur verdecken soll, dass Ulrich ausser den namen, an die seine
Urkunde ihn erinnerte, keine wusste. Vgl. übrigens John Meier, Beitr.
15, 327. — 68, 10 Darnach doppelpunkt. — 70, 1 Die zahlen sind in
der ganzen darstellung nur paradigmatisch, zu wahren angaben reichte
das gedächtniss nicht aus. — 70, 13 1. derx e da tet vil ritterlich. —
72, 1 Das handschriftliche frö uut vrno ist zwar ganz modern einpfunden,
aber eben deshalb unbrauchbar. — 72, 23 Es könnte immerhin Stainz,
heute ein blühender markt bei Preding sw. von Graz, gemeint sein;
die Schreibung Steunx, kommt vor und bei Muchar finden sich im
13. Jahrhundert zwei genannte von diesem orte. Vgl. aber die bemer-
kung im register 8, 405 über die verschiedenen Ortschaften dieses
namens. — 73, 25 Das siegel Hugonis de Tufers von 1212 tafel 2. —
74, 1 fgg. An der erzählung merkt man die bedeutung Hadamars von
Kuenring. — 75, 8 Lengenhiirc , heute Lemberg bei Cilli, gehörte denen
von Saneck, deren viele im Steir. Urkdb. und bei Muchar vorkommen:
ein Liupolt ist nicht darunter. — 76, 30 Man halte diese stelle zu
Bechsteins bemerkung 215, 1 seiner ausgäbe. — 77, 14 da der hs.
(Bechst.) muss fortbleiben. — 77, 25 Berthold von Andechs war patriarch
zu ULRICH VON LIECHTENSTEIN 205
von Aqiüleja vom 27. märz 1218 bis 23. mai 1251. — 78, 2 Auch hier
liegt ein versehen Ulrichs vor. Gremeint ist Heinrich III. von Taufers.
Bischof von Brixen war jedoch bis zum 17. juli 1224 Berthokl I. von
JSTeifen, erst dami Heinrich bis zum 18. november 1239, der also wie
der nächstangeführte kirchenfürst gleichfalls mit seinem Vorgänger ver-
wechselt ist. — 78, 3 von Pazzouive hischof Rüedegcr. Gemeint ist,
wie schon Lachmann zeigte, Gebhard L, graf von Bleien und Mittersill,
der von 1222 — 1231 bischof von Bassau war; er ist hier mit seinem
nachfolger Rüedeger von Radeck verwechselt (vorher nicht „bischof",
wie V. d. Hagen meint 4, 332 anm. 3; sondern „propst" von Chiem-
see), der diesen bischofstuhl 1233—1250 inne hatte. Da auch er zur
zeit der abfassung des Frauendienstes bereits verstorben war, ist der
irrtum wol erklärlich. — 78, 23 Mit einem bedeutungsübergange, der
bei mlat. campus seine vollständige analogie findet (Du Gange 2, 67 fg.)
heisst velt hier: „kämpf an sich. — 79, 21 1. siis ximirt diser sich,
joter so. — 79, 29 Ob das nicht schon ein zeugnis ist für den späteren
„ehrenhold" (Lexer unter erhalt)., dessen stelle ja in älterer zeit ein
vornehmer mann einnahm? Das würde erklären, warum der markgraf
hier zuerst genannt wird. — 81, 16 Die Vermutung Bechs (bei Bech-
stein) wird bestätigt durch 551, 26 fgg.: sin Up niuox, in der eren tor
Tnit hohem lobe e komen sin, e sin lax i?i ir herzen schrin. — 81, 26
rehte gehört zu gar, nicht zu roten. — 82, 14 und 16 wird man viel-
leicht einklammern dürfen. Die trauen hatten also boten geschickt,
um baldigst von den taten ihrer minner zu erfahren, wol auch, um
mit ihnen in beziehung zu bleiben. — 82, 26 Ob die vromen nicht
hier wie 81, 16. 167, 2 eine art terminus technicus ist: die anerkannt
wackeren, bei denen adel und tüchtigkeit sich verbinden? Waitz zählt
Verfgsch. 5 - ed. Zeumer s. 434 fgg. verschiedene lateinische titulaturen
dieses inhaltes auf. — 84, 31 Zu Sprengers bemerkung (Germ. 37, 175)
vgl. 94, 25: da ivas von dringen ungemach. — 86, 9 fg. Nur ein Winther
de Tozenbach (bei Kirchstetten Nied.-Öst.) ist im Steir. Urkdb. 1228
belegt. — 86, 20 Ist das niclit Yigaun, der ort des bekannten Zuchthau-
ses für weiber? — 89, 26 Heinrich von Lienz (im Bustertal) scheidet
1234 als einer der vier ernannten richter einen streit zwischen seinem
herrn, dem grafen Meinhard von Görz, und dessen oheim, dem Patriar-
chen Berthold von Aquileja, Steir. Urkdb. 2, 419 fg. Er ist ohne zwei-
fei identisch mit dem burggrafen (castellanus) von Lienz, einem der
angesehensten ministerialen des grafen Meinhard. — 90, 8 Heinriciis
camerarius de Triba^iswinchel (bei Baden, Nied.-Öst.) kommt seit 1209
im Steir. Urkdb. vor. Doch kann die Urkunde, die er am 10. mai 1224
206 SCHÖNBACH
ZU Gleink in Ober- Österreich (Steir. Urkdb. 2, 309 fg.) soll unterzeich-
net haben, nicht richtig datiert sein, wie schon der herausgeber an-
merkte, denn eben damals weilte er nach Ulrichs zeugniss in Friesach,
das weit davon liegt. Dieser umstand wäre freilich nicht entscheidend,
aber die Urkunde sagt ausdrücklich A^istrie et Styrie secnndo Liupoldo
jjrcsidcnte und der herzog war damals gewiss in Friesach. Da Hein-
i'ich von Tribuswinkel identisch ist mit Heinrich von Wasserberg
(v. Siegenfeld, tafel 5), ist er der schwager Ulrichs. — 91, 25 Ulrich
von Murberg ist ein steirischer edler, sein sitz lag bei Radkersburg
(und nicht, wie v. Karajan meint, in Nied.-Öst.). Er kommt im Steir.
Urkdb. 1218 und 1232 vor, bei Muchar 1216 — 1252. Er gehörte zu
den angeseheneren ministerialen und wol auch zu den persönlichen
freunden Ulrichs, da er 1232 die Schlichtung eines Streites zwischen
den Liechtensteiner brüdern und dem kloster S. Lambrecht durch die
herzogin witwe Theodora bezeugt, Steir. Urkdb. 2, 397 fg. Darum wird
er auch wol hier so gelobt. — 92, 16 Ist daduiTh nicht dieser Wol-
kensteiner als ein minnesänger bezeichnet? Das Wtäre dann der dritte
von Uh'ich erwähnte neben Gottfried von Totzenbach und Zachäus von
Himmelberg. — 92, 17 Otto de Wascn ist im Steir, Urkdb. von 1209 —
1233 nachgewiesen, er war ein bruder des propstes Dietrich von Gurk,
pfarrers zu Adriach. Er gehört wol sicher nach Steiermark, vielleicht
sogar in die nachbarschaft Ulrichs. — 93, 1 Otto von Meissau (bei
Hörn in Nied.-Öst), ein angesehener herr, dessen geschlecht später
mehrfach mit steirischen edlen sich verschwägerte, ist bei Muchar von
1224 — 1265 bezeugt. Er wird auch später von Ulrich stark hervor-
gehoben. Sein name gehört in den text; ein „wagniss" darin zu finden,
ist kindisch. — 93, 9 Hier ist nicht das steirische, sondern das be-
kanntere kärntner Osterwitz gemeint oberhalb S. Yeit (jetzt die herr-
liche bürg der KhevenhüUer auf dem isolierten bergkegel); in dem
geschlechte war das schenkeuamt von Kärnten erblich. Das Steir. Urk.
kennt aus dieser zeit nur Palduivinus und Bcinherus. bei Muchar ist
auch Hermann belegt. Das Siegel seines bruders Ortolf von 1233
(Frauend. 203, 14 fg.) tafel 6. — 93, 25 Fridberc ist ein fehler, es ist,
wie Lachmann schon im namensverzeichniss anmerkte, Vriberc gemeint,
heute Freiberg bei S. Yeit in Kärnten. Hadoldus et Chimo fdius ejus
de Vrieherg bezeugen im St. Urkdb. 2, 20 eine Urkunde herzog Ulrichs
von Kärnten für S. Paul 1192, vgl. Steir. Reimchr. 60604 fg. — 94, 1
Die Vermutung v. Karajans, diese herren gehörten nach Tirol, ist irrig:
das heutige Pux ist gemeint zwischen Murau und Scheifling in Ober-
steiermark. Das St. Urkdb. 2, 390 führt sie beide zusammen in einer
zu ULRICH VON LIECHTENSTEIN 207
S. Lambrechter Urkunde als zeugen an, dann Otto noch 1234, Dietrich
1239, vgl. Muchar 2, 95. 5, 224. Die brüder waren nachbarn Ulrichs,
scheinen sich aber nach seinem urteile hier und 207, 13 fg. mit ihm
ebenso wenig vertragen zu haben wie die noch näher gelegenen Kat-
scher. — 95, 6 fgg. Nach 6 doppelpunkt, nach 7 komma. — 96, 3 fgg.
Über die starken und zahlreichen niedorlassungen der Juden in Steier-
mark und Innerösterreich überhaupt, vgl. Muchar bes. 3, 136 fgg. 362 fg.
Bei Friesach scheinen sie ziemlich häufig gewesen zu sein, gab es doch
schon um 1130 in der nähe eine via judeorum, Steir. Urkdb. 1, 135.
Wie sehr sich die Verschuldung des steirischen adels später steigerte
bis im 15. Jahrhundert ein grosser teil von ihnen Juden zu gläubigem
hatte, ist eine den historikern wolbekannte tatsache. — 96, 15 Das
komma darf nicht fehlen. — 96, 30 fg. Darnach kann die herrin doch
nicht sehr weit gewesen zu sein, vgl. 99, 9. — Ich bemerke noch,
dass nach Muchars vermerk 5, 101, der sich dabei auf eine Urkunde
aus S. Paul beruft, die Versammlung von Friesach am 15. mai 1224
auseinander gegangen ist. — 98, 2 Die emendation Lachmanns war
sehr wol überlegt: dax ich iveinent {weinens L, ivancs C) iht erwache
und durchaus sachgemäss. Denn erivaclieii mit dem gen. kann nach gr. 4,
672 und den von den Wörterbüchern gesammelten stellen heissen: aus
etwas erwachen, släfes, troumes; oder über etwas, d. h. in folge von
etwas. So bei Ebernand von Erfurt 232: der kunec erwahte der ge-
schikt = in folge des geträumten. MSH. 3, 173a: des muoz sin scelde
erwachen. Nun aber findet keines von beiden statt: weder soll der
Sänger aus noch in folge des weinens erwachen. Der träum, ivän,
gewährt ihm viel mehr freude und er wünscht, dass er nicht daraus
zum weinen, weinend erwachen, nicht weinen, sondern lachen (98, 3)
möge. Der Schreiber von C, der ivänes einsetzte, hat die stelle rich-
tiger beurteilt als Bechstein. — 98, 8 Ygi. Paul, Mhd. gr.^ § 339.
„Deshalb wird mir ihr trost nicht fehlen, dass sie (nämlich) mich bei
ihr lasse usw." = 98, 12 dax ich scelic mimer si? — 99, 27 fg. 1.
si las in gar. du dax geschach, 7iu milget ir hceren tvie er sprach. —
Wie formelhaft das alles ist, mag man sehen, wenn man die wörtliche
Übereinstimmung zwischen dieser stelle und 57, 17 fgg. vergleicht. Dass
Ulrichs herrin, diese vornehme dame, von dem furnier zu Friesach
nicht sollte gewusst haben (100, 5 fg.), ist unglaublich; in der tat war
sie sehr wol unterrichtet, wie 101, 19 fg. zeigt, wenn man 95, 9 fgg.
dazu nimmt. Ich denke, beide frauenzimmer haben schon damals den
Liechtensteiner zum narren gehalten. — 101, 4 Nach dem 1. und 2.
bände des Steir. Urkdb. ist die in älterer zeit (bis ins 14. jahrh.) allein
208 SCHÖNBACH
giltige form des sla vischen Ortsnamens Libenz (heute Leibuitz, südlich
von Graz); daher ist das durch v. Karajan wider die hs. vorgeschla-
gene Leibenz unrichtig. — 102, 20 Auch daraus (der ritt im winter)
ergibt sich, dass es von Ulrichs Frauenburg zur niftel nicht sehr weit
war. Die hohe Stellung der frau bezeichnen wider 102, 29 fgg. Zu
ihr scheint es weit 103, 17, immerhin aber war es keine reise und
doch so nahe, dass man den boten des Liechtensteiners kannte. Es
soll daher 103, 23 fg. ein anderer böte gewählt werden, dessen prove-
nienz man nicht weiss. 105, 23. 118, 6 fgg. zeigen sich die Schwierig-
keiten, einen solchen zu finden. — 106, 25 Auch jetzt noch wird in
Österreich oft Tncst gesprochen. — 107, 11 Dieses feld diu Merre ist
heute die Mahr, mit einer kleinen Ortschaft, nicht ganz eine stunde
von Brixen. Vgl. Staffier, Tirol und Yoraiiberg II, 2 s. 103 fg. (das
gasthaus „in der Mahr" ist der Schauplatz von Roseggers roman.) Fer-
ner Zingerle, Sitzber. der Wiener ak., phil.-hist. kl. 55, 608. — 108, 28
Die summe ist natürlich eine poetische hyperbel. — 109, 20 In der
ärgerlichen droliung ist besniden = kastrieren ganz am platz. (Viel-
leicht war der „meister" auch nur ein viehdoktor, der solche geschälte
selbst besorgte.) besmiden wäre ohne zusatz nicht verständlich, und
das hätte Ulrich nicht durch goi zu laxen brauchen. — Man sieht
übrigens aus der ganzen geschichte, wie verhältnissmässig selten schwere
Verletzungen bei diesen furnieren vorkamen. — 110, 5 fgg. Es ist lehr-
reich zu sehen, dass von Ulrichs betrübter Stimmung auf dem ritt nach
Bozen in diesem liede nichts zu merken ist. — 112, 2 1. init triuwe
in dienstes undertän.. — 117, 14 der i'e/Z muss da technischer ausdruck
sein. — 118, 4 plüeten ist mundartliche form. — 122, 13 fgg. Zwi-
schen dieser stelle und 126, 12 fgg. besteht schon das enge Verhältnis,
das für lied und erzähkmg in den späteren partien des Frauendienstes
bezeichnend ist. — 124, 1 fgg. Damit überschreitet der knecht seinen
auftrag, aber vielleicht im anschluss an das lied. — 124, 13 daz =
du ex. Ulrich wird wider auf standesgemässe minne verwiesen. Da er
ein dienstmann war, so ist darnach die herrin, wie sich von selbst ver-
steht, adelig gewesen. — 124, 19 tmnjJ und IfjJ dürfen wegen ain
nicht zusammengeschrieben werden. — 124, 30 = 119, 20. — 127, 26
Der ausdruck lässt keine Schlüsse auf den stand der herrin zu, weil er
offenbar übertrieben ist. — 128, 17 fgg. Der knecht gibt die botschaft
ungenau wider und spricht viel weniger nachdrücklich als die herrin.
Das kann durch die forderungen der poetischen technik nur teilweise
entschuldigt werden. - — 129, 12 1. so ivil ich gerne ir dienen bax. —
130, 6 fgg. War Ulrich damals schon verheiratet? — 130, 15 Darnach
zu ULRICH VON LIECHTENSTEIN 209
hat sich Ulrich zwei monate in Rom aufgehalten, die ganze fahrt hat
entsprechend länger gedauert. Seh Averlich ist sein zug als wallfahrt
aufzufassen. — 131, 9 Da Ulrich 32 mal e .- e reimt, so ist das kein
grund, das allerdings auch sonst unbequeme liehet etwa in slrebet zu
verändern. — 131, 21 fgg. Diese darlegung passt nur, wenn Ulrich das
lied auf der fahrt nach Rom oder in Rom selbst dichtete. Nach 130,
17 fgg. 131, 29. 132, 2 ist es auf dem rückwege entstanden. Solche
inliongruenzen bedeuten an sich nicht viel, verdienen jedoch wegen
anderer ähnlicher fälle angemerkt zu werden. — 132, 1 Man könnte
denken an ckix ichs iht scmclir hi im in, wofern ausser diesem nicht
noch fünfmal m : n nach i im Frauend. reimte, durch in wäre neu-
hochdeutsch. — 132, 8 Was soll das heissen? Tiirniergegner wurden
nicht vüide genannt, kriegerische Unternehmungen können aber nach
der darstellung 132, 2—13. 133, 18—20. 29 — 31 unmöglich gemeint
sein. Ich vermute bt den Winden, d. h. im windischen Untersteier-
mark. Ortsnamen Winden, Weiiden gibt er inner- und ausserhalb Steier-
marks genug, da wäre jedoch der artikel unpassend. — 132, 23 Lach-
manns Vermutung niiviii liet möchte ich in den text setzen. Nicht
bloss wegen 134, 1, sondern besonders weil das beigesetzte aber nach-
drucksvoll gebraucht wird, um die leistuugsfähigkeit Ulrichs in neuen
liedern zu bezeichnen. • — 135, 30 Wenn man es mit dem Inhalte so
künstlicher lieder überhaupt genau nehmen dürfte, wäre der satz so
laxe mich vrt, hier wenig passend, denn die herrin will ja ohnedies
nichts von Ulrich wissen. — 137, 16 mengen ist hier nicht gut, denn
man kann dem boten nicht vorwerfen, dass er den frieden durch zwi-
schenträgerei gestört habe. Aus demselben gründe ist Sprengers ver-
schlag (CTerm. 37, 176) meine unzweckmässig. Vielleicht megenen =
vergrössern, weil der böte den schaden an Ulrichs finger übertrieben
hatte. — 137, 23 fg. er habet da mit vil ivol nach ger in iiverm die-
nest grdxiu sper? — 139, 3 fg. Hasendorf bei Leibnitz gehört später
zu den Stubenbergschen gütern, einen genannten Ulrich finde ich nicht.
Vgl. V. Zahn, Ortsnamenbuch s. v. Hasendorf. — 140, 7 Warum geht der
böte heimlich zu Ulrich? Er steht doch in seinem dienst, und wurde
der finger heimlich abgeschlagen, so brauchte doch deswegen der knecht
nicht verholen zu kommen. Vielleicht xno ir? Ebenso wird 140, 14
und anderwärts durch das einfache personalpronomen die herrin bezeich-
net. — 140, 23 Eine botschaft rilltet, der sie meldet, aber nicht der
den boten beauftragt. Daher wird es bei Lachmanns tihten bleiben
müssen. — 141, 10 Dass „die gliedmassen früher schlanker waren als
heute", wie Bechstein meint, glaube ich nicht. Desgleichen nicht, dass
ZEITSCHRIFT F. DEUTSCHE PHILOLOaiE. BD. XXVHI. 14
210 SCHÖNBACH
der abgeschlagene finger der kleine der rechten hand gewesen sei,
denn der hätte als krummer das führen der waffen nicht erschwert (138,
28), was bei einem der drei mittleren sicher der fall war; auch hätte
von ihm nicht 108, 1. 150, 29. 151, 11. 17. 155, 17 gesagt werden
können, er sei üz der haut. — 143, 20 komma, 21 in klammer. —
144, 3 1. und venvurht in »lanigeu sjwt, fälschlich zum spott umge-
bildet, gedeutet. — 145, 6 fgg. Es zeigt sich (vgl. 129, 17 fgg.), dass
dieses büchlein und der text von Ulrichs erzählung so zu einander
stehen, wie später lieder und coutext. — 145, 28 1. in 7ninen seneden
dingen? — 147, 6 1. zum teil mit Scherer, Anz. f. d. a. 1, 252: zer-
irerbenne ir werde ininne. — 149, 17 Vielleicht hatte Ulrich damals
geheiratet. — 155, 11 Darnach komma, nach 12 Strichpunkt mit einem
Übergang, der gar nicht so selten ist. — 155, 24 fgg. Ich bleibe bei
meiner Ztsohr. f. d. a. 26, 317 geäusserten ansieht. Nach Ulrichs be-
richt s. 140 fg. ist der finger nicht einbalsamiert worden; ein solches
faulendes oder vertrocknetes ghed wird aber der empfindung des 13.
Jahrhunderts wie unserer heutigen nicht anders denn widerwärtig vor-
gekommen sein. — 156, 29 fgg. Nun fällt ihm nach der geschichte mit
dem finger der ganze plan der Venusfahrt ein: es ist deutlich dass die
dinge in der erzählung enger zusammenhängen als im wirklichen ver-
lauf. Der einfall 157, 9. 160, 11 fgg., den schein einer pilgerfahrt nach
Kom anzunehmen, ist nicht glücklich, weil Ulrich doch eben ostern
1226 (130, 15) eine solche wirklich durchgeführt hatte. — 157, 18 Die
Vermutung Bechsteins, es sei Oregorien statt Georien tage zu schrei-
ben, ist, abgesehen von 162, 30. 164, 27, an sich falsch: der termin-
tag Gregor fällt auf den 12. märz, nicht auf den 29. april, und der
grosse termintag Georg, der in den erzdiöcesen Salzburg und Aquileja
am 24. april gefeiert wurde, ist wirklich als der anfang des sommers
angesehen worden. Vgl. Grotefend, Zeitrechnung 2, 1,73. 77. — 158, 29
auch hier lässt die ausdrucksweise schliessen, dass Ulrichs herrin nicht
allzuweit von ihm wohnte. — Die dame scheint 159, 5 fgg. wie eine
aristokratin von heute freude am sport gehabt zu haben. — 160, 13 fg.
Um tasche und stab zu bekommen, braucht er einen priester. Bei der
früheren wirklichen Romfahrt war das nicht nötig. — 161, 4 Der aus-
druck darf nicht verwundern: Venedig war im mittelalter der erste
perlenmarkt der weit. — 163, 5 fgg. Es ist durchaus nicht nötig anzu-
nehmen, dass die ringe steine hatten: sie kommen von Venus, die
gottinne über die minne ist, und werden von ihr mit wunderbarer
kraft begabt. — Die bedingungen des ausschreibens zeigen, dass es
mit dem ganzen für alle verständigen auf ein heiteres spiel abgesehen
zu ULRICH VON LIECHTENSTEIN 211
war. Denn wurde Ulrich = Yeniis am ersten tage geworfen, so war
die fahrt zu ende. Und mochte Ulrich auch noch so stark sein, sicher
war er nicht, das sieht man aus der affaire zu Brixen. Er musste also
von vornherein auf die rücksicht seiner standesgenossen rechnen, damit
ihm sein spiel nicht verdorben werde. — • 165, 7 Yielleicht der husü-
nen blasen litte erhal, vgl. 192, 8. Lachmanns erhal wirt bleiben müs-
sen, vgl. 215, 23. 257, 27. 452, 29. 454, 11. 459, 3. 460, 5. 487, 7. —
165, 18 Bechsteins noch nie wäre neuhochdeutsch; vielleicht e nie? —
166, 1 Natürlich auch verkleidete knechte. — 166, 17 fgg. Diese stelle,
zusammengehalten mit (176, 26 fgg.) 161, 2. 201, 7. 218, 26 fgg.
scheint mir zu beweisen, dass 172, 13 fgg. nicht gemeint ist, die zöpfe
seien in einem netz getragen worden (was ganz wider ihre art wäre),
sondern dass darunter nur das bewinden der zöpfe mit perlen zu ver-
stehen ist, durch die das haar hervorsieht. — 168, 9 fgg. Das gespräch
zwischen dem grafen und dem podestä ist wol zu beurteilen wie die
reden in der historie des Thukydides. Die Weigerung des podestä wird
auf politischen gründen beruht haben. Dass sein name nicht beson-
ders genannt wird, hat nichts auffallendes: der titel bezeichnet ihn
hinlänglich, wie etwa kirchenfürsten. — 170, 13 Gegenüber der anm.
V. Karajans s. 671 ist festzustellen, dass Lernt friclus de Eppcnstain im
Steir. Urkdb. von 1202 — 1227 nachgewiesen ist, 1242 wird er von
seinen Wildoner verwanten als lange verstorben bezeichnet. Nun
kommt in einer S. Lambrechter Urkunde von 1232 (Steir. Urkdb. 2, 390)
wirklich ein Lmtfridus de Eppenstain vor; es wäre also ganz wol
möglich, dass in der tat die beiden nicht zusammenfallen. — • Dem Ep-
pensteiner wird nur ein speerstechen bewilligt, weil der so viel mäch-
tigere graf von Görz nicht mehr als zwei Speere brechen darf. —
170, 32 fgg. Ich bemerke zu dieser beschreibung der helmzier und
allen späteren, dass Ulrich bei der abfassung seines gedichtes höchst
wahrscheinlich Siegel der herren, die er erwähnt, vor sich hatte. Denn
seine Schilderungen sind heraldisch ganz genau, die sachgemässen
technischen ausdrücke werden angewendet und, soweit die siege! uns
erhalten sind, können wir ihre völlige Übereinstimmung mit Ulrichs
Worten feststellen. Auch das erklärt sich am besten, wenn er Urkun-
den vor sich hatte, an denen die siegel befestigt waren; einzelne sie-
gelstöcke oder abdrücke sind ihm schwerlich zur Verfügung gestanden.
So half er also seiner erinnerung nach, anderesfalls wäre seine genauig-
keit gar nicht zu verstehen. — Dagegen sind die kleiderbeschreibungen
natürlich idealisiert. — 173, 4 Er liess das ross courbettieren , vgl.
208, 23. — 173, 17 Die brücke zu Treviso geht über den Sile. —
14*
212 SCHÖNBACH
174, 8 Hier werden sechs Speere verstochen, 170, 10 hatte der podestä
nur zwei erlaubt. Mit dem grafen von Görz zu stechen, war offenbar
für Ulrich eine grosse ehre: deshalb wird das ausführlich beschrieben.
Hingegen wird die tjoste mit dem Eppensteiner sehr kurz abgetan; die
Sache wäre da beinahe ernst abgelaufen 174, 29 fgg, auch erhält Ul-
richs gegner keinen ring. • — 174, 10 Vielleicht erklärt sich die lücke
durch ein versehen aus ich sant %ehant. — 177, 17 An den morgend-
lichen buhurt von 500 rittern zu ehren Ulrichs glaube ich nicht: das ist
mit dem verbot des podestä ganz unvereinbar. — 178, 17 fgg. Der tag
muss eine kirchliche feier gehabt haben, scTnst wäre keine niissa solemnis
gesungen worden, bei der allein opfergang und darreichung des pace
stattfindet. Es war montag 26. april 1227; der sonntag vorher, Mise-
ricordia domini, war dieses jähr in der erzdiöcese Aquileja mit dem
Marcusfeste (duplex) und der Letania major zusammengefallen. Der feier-
liche bittgang wurde daher von sonntag auf montag verschoben und so
erklärt sich das hochamt des 26. und das zusammenströmen von men-
schen, das Ulrich erwähnt (179, 28 fgg.), die an der prozession teil-
nehmen wollten. — 178, 21 Die darstellung ist ganz formelhaft, vgl.
194, 23 fg. 279, 29 fgg. 282, 27 fgg. — 180, 29 Nach dem Steir. Urkdb.
waren die Murecker (südöstlich von Leibnitz) ein sehr starkes geschlecht,
auf einer urkuDde von 1212 sind ihrer vier unterzeichnet. Ein Hein-
hertus de Mureke starb 1212, dessen söhn Rehnbertus, Reghihertiis
ist von 1212 ab nachgewiesen, war 1224 landrichter der Steiermark
und vor 1240 gestorben. In der oben besprochenen Urkunde von 1224
stehn vater und söhn Reinbert neben einander, der jüngere wird der
hier von Ulrich erwähnte sein. Siegel von 1150. 1198. 1212. 1229.
1231 tafel 1. 2. 4. 5. — 181, 21 1. sin sper er durch den schilt mir
stach. -- 181, 30 Fälschlich bei v. d. Hagen 4, 340 Flintenberg. Es
ist wol Plintenboch in der Pettauer mark gemeint, Steir. Urkdb. 1, 143
von 1130. Mucliar 2, 42; jetzt eine gemeinde im bezirk Langenbach
zwischen Mur und Drau. — 181, 31 Von den Avälschen rittern wusste
Ulrich wol schon damals die naraen nicht, vgl. 182, 19 fg. 191, 6 fg. —
182, 18 Das ist natürlich der graf Meinhard von Görz von 167, 24. —
183, 16 wird zum nächsten absatz gehören, denn dass in Sacile unge-
fähr hundert ritter beisammen sind, ist, da nur der graf von Görz und
seine zwölf mit Ulrich tjostieren, allerdings bemerkenswert. — 184, 9
Spengenberg (heute Spilimbergo) am Tagliamento. Vgl. v. Zahn, Deut-
sche bürgen in Eriaul s. 56 fgg. und die zierlichen bilder dazu. —
184, 27 fgg. Da scheint Ulrich ein kunststück gemacht zu haben. —
185, 12 Wenn Ulrich den heim abbindet, ist das immer ein zeichen,
zu ULRICH VON LIECHTENSTEIN 213
(lass er genug hat. Es mochte ihn nach einem zweiten zusammenstoss
mit dem gefährlichen Spengenberger nicht gelüsten. — 185, 20 fgg.
Wirklich ein mädchen als botin? Das wäre wie in den Artusroma-
nen. — 186, 25 Wie hier, auch schon 184, 19: frauenritter haben eine
rise als zeichen. — 188, 14 fgg. Die reflexion steht in Zusammenhang
damit, dass königin Venus dem ritterspiel zusieht, vgl. 194, 1 fgg.
Solche allgemeine sätze sind bei ÜMch sehr selten. — 189, 12 fg.
Jedesfalls eine missa privata. — 191, 30 Vielleicht wegen des 1. mai. —
193, 19 Finkenstein unterhalb Villach, das sieget tafel 3. — 195, 1 fgg.
Warum ist Ulrich so erzürnt? Fürchtete er Störung seines Unterneh-
mens, wenn seine leute durch fremde beeinflusst wurden? — 196, 29
Steir. Urkdb. kennt nur einen Offo von Frauenstein (in Kärnten bei
St. Veit) von 1231, Muchar aus dem 13. Jahrhundert nur einen Gun-
daker von 1261. — 197, 6 Das ist schwerlich der bei Muchar und im
Steir. Urkdb. von 1194 — 1224 nachgewiesene Rudolf von Ras (so auf
dem Siegel von 1216 — 1220, tafel 3, das mit dem von Finkenstein
identisch ist), sonder dessen söhn. Eine Gertrud von Mm-eck vermählt
sich 1253 einem Rudolf v. R., Muchar 5, 255. 269. — 197, 19 Nach
leit Strichpunkt. — 199, 3. 5 Gotefrkliis de Havcrierhurc (heute Ha-
fenberg neben St. Ulrich bei Feldkirchen in Kärnten) ist im St. Urkdb.
von 1220 — 1239 bezeugt, sein siege! von 1230 tafel 5, zusammen mit
seinem bruder Arnold in einer St. Veiter Urkunde vom 10. Januar 1220.
Die Schreibung -burch, -burc ist urkundlich belegt und daif daher
nicht angetastet werden. — 199, 7 AVenn man cjar statt vil ergänzt,
so erklärt sich das versehen. — 199, 8 Treffen in Kärnten bei Villach
von dem in Krain zu unterscheiden. Das Steir. Urkdb. weist 1192
einen Willehelmtis de Tr. nach, Cholo nicht. — 199, 10 Zachaeus de
Hymelberch (bei Feldkirchen in Kärnten), urkundlich 1239, St. Urkdb.
2, 490. — 199, 16 Die Verspottung hat in dem kopfputz gelegen, der
als helmzier angebracht war, vgl. 204, 26 f. 205, 4. — Auch der dritte
mai ist übrigens ein halber feiertag gewesen: Inventio crucis. — 200, 11
Lachmann ändert mit recht der in des^ weil es sich auf den ganzen
satz — leit tuon beziehen muss, nicht auf leit allein. — Vielleicht war
Ulrich so erzürnt, weil der Himmelberger, ein konkurrent im minne-
sang, ihn nicht blos verspotten, sondern auch werfen wollte. — 200, 28
miiotes (jert der hs. ist widersinnig. — ■ 201, 11 dciz heisst hier: wenn,
wofern, gesetzt dass. — 201, 26 Ckiim-adus de Lebenach (südlich von
St. Veit in Kärnten) ist im Steir. Urkdb. von 1203 — 1231, stets mit
anderen Kärntnern zusammen belegt. — 202, 1 von dem Berge Jacob.
Der durch v. Karajan in der anm. nachgewiesene Adulbertus ist ein
214 SCHÖNBACH
Oberösterreicher (heutige bezirkshauptmannschaft Perg). Ich dachte
zuerst, es wäre vielleicht ein Vriherger gemeint, weil ein Jacohus (der
name ist selten) de Friberch 1236 in einer St. Veiter Urkunde vor-
kommt, aber eine Urkunde von 1214 Steir. Urkdb. 2, 20 bietet Otto
und Friedrich de Perge unter steirischen und kärntischen edlen (v. d.
Hagen 4, 344 anm. 1 verwechselt die geschlechter); auch ist Fridarich
de Perge in der Urkunde unterzeichnet, deren faksimile dem 4. bände
Muchars beigegeben ist. — 202, 4 Teinach westl. von Klagenfurt, östl.
von Völkerraarkt. Nur ein Heinricus de T. ist 1239 nachgewiesen Steir.
Urkdb. 2, 481 in einer Urkunde von Unterdrauburg. — 202, 5 vgl.
67, 15. Un diese zeit wird im Steir. Urkdb. nur Leo und Chunradus
f/e i\''. erwälint. Hat vielleicht Ulrich ein versehen begangen? — 202, 10
Ein Siegel Henrici de Grifenfels von 1246 tafel 14. Eine Mechtildis
V. Gr. von 1251 Muchar 5, 238. — 202, 13 Giiruetx. an der Gurk,
östl. von Klagenfurt, westl. von Grafenstein. Ältere angehörige des
geschlechtes im Steir. Urkdb. von li61 — 1185. Ein siegel von 1235
des Henricus de Guruz = dem Greifenfelser tafel 7, siegel des OfFo
de G. von 1217 und 1238 tafel 3 und 8. — 202, 16 Grafenstein etwas
oberhalb Gurnitz an der Gurk. — Henricus de Gravenstaine im Steir.
Urkdb. von 1222 — 1240. Grafensteiner siegel von 1239. 1248 tafel 9.
15, Henricus 1240, tafel 10. — 203, 9 nach tjoste geriide? — 203, 21
ist (wie schon v. d. Hagen 4, 344 anm. 9 vermutete) der jüngere Wi-
chardus de Karlisperch (südöstl. von St. Yeit in Kärnten), der im Steir.
Urkdb. von 1214—1239, bei Muchar 5 bis 1248 bezeugt ist. Sein
Siegel von 1214 tafel 2, von 1248 als marschall tafel 15, (Heinricus
von 1245 tafel 12). — 203, 25 Herr Engelram ums de Straxpurch ist
in sieben stücken des Steir. Urkdb. von 1225 — 1235, darunter viermal
mit einem bruder EngcJhertus bezeugt. Welchem von beiden das Sie-
gel tafel 10 (ein älterer Harhvicus tafel 3) gehört, ist aus der beschä-
digten legende nicht zu ersehen. — 213, 32 Angehörige dieses geschlech-
tes sind im Steir. Urkdb. von 1187 — 1234 bezeugt, ein Siegfried ist
nicht darunter. — 204, 7 1. vil gerne ivol haben bejaget. — 205, 16
Darin sehe ich nichts von der „edlen grossmut Ulrichs", die Bechstein
hervorhebt: der Himmelberger hatte seinen speer ritterlich verstochen
205, 6, also gebührte ihm der ring gemäss Ulrichs ausschreiben. —
206, 17 gar tverdefi in dem hier geforderten sinne ist unmöglich, Lach-
manns tvert muss deshalb bleiben. — 206, 18 Hs. scheume var. Lach-
mann: schiumevar, schaumfarbig. Bechstein meint im glossar: „etwa:
schaumbedeckt". Das liegt aber nicht in dem werte var. Und warum
gerade hier „schaumbedeckt" und sonst bei keinem buhurt? Zudem,
zu ULRICH VON LIECHTENSTEIN 215
bei der Umhüllung der pferde hätte man ja den schäum (noch dazu
in abendlicher dämmerung) nicht sehen können. Die sache liegt anders.
Der buhurt in Friesach beginnt spät, bereits nach Ulrichs tagereise.
Das spiel iverte iinx an den äbent gar — der tac was vil nach zer-
gän: dö muosten st ir huhiirt lern. Sie haben also bis in die däm-
merung tjostiert. Da mochten die rosse leicht schcmenvar geworden
sein: aussehend wie schatten, gespenster. Vgl. Lexer unter scheme,
der citiert Ges. Abent. 2, 598, 131: ich wil mich macheit als ein schein
gevar; 608, 373: ez ist gestalt als ein schem. — 206, 30 Das heutige
Neudeck mit der bürg liegt zwischen Neumarkt und Friesach auf stei-
rischem boden. Um 1227 sind im Steir. Urkdb. ein Ootscalcus, Wul-
vingus und Arnoldus nachweisbar, kein Kourad. Vielleicht hat sich
Ulrich geirrt. — 208, 17 In einer St. Lambrechter Urkunde vom 9. juni
1232 (Steir. Urkdb. 2, 390) sind Heinricus de Schövlich und Ilsungus
de Schövlich hinter einander (nach ihnen Dietrich und Otto von Puchs)
als zeugen genannt. Er scheint ein freund des dichters gewesen zu
sein. Seiner ausstaffierung nach hat wenigstens er wol gewusst, wer
die königin Venus war. Aber war das überhaupt geheimnis? — 209,
31 fgg. Warum diese einschaltung gerade hier? Die hat doch nur
sinn, wofern die herrin sich in oder bei Judenburg aufhielt. Vgl. 210,
24. 28. Da beeilt er sich, nennt keine ritter mit namen. Damit die
herrin nicht erkannt werde? — 211, 23 Der Gundaker von Steier-
Stamhemberg, der im Steir. Urkdb. von 1190 bis 1218 belegt wird, ist
jedesfalls ein älterer als der 67, 9. 260, 31. 261, 22 und offenbar der
bei Muchar 5, 148 im jähre 1236 vorkommende, dessen Siegel von
1240 sich tafel 10 findet. — 211, 29 Sifridus de Torsul (heute ein
bauernhof im Paltental) bezeugt am 27. juni 1214 eine Urkunde auf
bürg Steier unter anderen obersteirischen herren. — 212, 30 Dieser
Wtdvinc (I.) de Stubinherc ist im Steir. Urkdb. 1210 — 1230 (seine
witwe Gertrud 1230) bezeugt. Sein söhn Wulvinc (IL) heisst 1240
noch puer. Dieser Stubenberger auf Kapfenberg wird sehr gelobt, hier
und 215, 8 fgg., wol insbesondere wegen seiner macht und seines reich-
tumes. Auch er wird wol 213, 3 gewusst haben, wer hinter frau Ve-
nus steckte: darum seine gastfreundschaft. — 216, 14 Kinnenberc ist
schon im 13. Jahrhundert eine veraltete form, die Urkunden schreiben
ausschliesslich ml. — 216, 17 und 220, 16 Wie das register Lachmanns
schon vermutet, ist an beiden stellen derselbe gemeint. In einer Ur-
kunde eben des Jahres 1227 bestätigt herzog Leopold (VI. von Öster-
reich, III. von Steiermark) den brüdern Otto et Hermaimus de Chind-
berch (auf Kindberg sitzt Otto, wie Ulrich 216, 14 sagt), die er proprii
216 SCHÖNBACH
lioinines nostri nennt, dass sie auf güteransprüche wider das kloster
Admont verzichten. Yielleicht waren sie vögte von Kindberg, die ans
Buchau stammten, welches bei Admont liegt. Ulrich mochte sich die
spässe 217, 5 fgg. erlauben, weil Otto von Buchau niedrigeren ranges
war (ein Buchbach liegt in Niederosterreich bei Neunkirchen, vgl. Nie-
derösterr. Weist, ed. Gustav Winter 1, 276 fgg.). — 219, 24 Nicht Ot-
iackcr, aber Otto der Trage (vielleicht ein Irrtum Ulrichs) erscheint
1216 als zeuge in einer Stubenbergischen Urkunde an das kloster Kenn,
worin es sich auch um hufen bei Kindberg handelt, unter anderen
herren aus dem Mürztal. Ausserdem noch ein Chunradus de Trage
in einer Urkunde von 1232 unter Mur- und Ennstaler herren und 1242
Otto Trage plehanus de SiiivercJiirchen. — 220, 9 Einen Friedrich von
Reichenfels (ob er aber zu diesem hier gehört?) citiert Muchar 6, 91
aus einer Urkunde von 1293. — Man wird sich bei der Schwierigkeit,
diese namen aus dem Mürztale nachzuweisen (vgl. v. Karajan s. 674),
an die worte Ottos von Buchau 216, 29 fgg. erinnern müssen: min
munt V071 ivärheit in des giht: in disem tal ist rittcr niht gesezxen
di der tjoste pflegen. Es worden also kleine leute sein, die Ulrich
nennt, die deshalb in Urkunden nicht oder sehr selten vorkommen.
Die Ursache davon mag in der Verteilung des besitzes im Mürztal
gelegen sein. — 221, 29 fgg. Dieser ganze sonst so schwer zu erklä-
rende besuch Ulrichs bei seiner frau verliert alles wunderbare durch
den schönen nachweis herrn Alfreds von Siegenfeld, dass der Liechten-
steiner zugleich in Niederösterreich ansässig war und auf der bürg Tern-
berg, fünf kilometer von Glocknitz, hauste. Da stimmt nun seine
erzählung aufs beste mit den umständen des ortes und der zeit. Die
rast daheim ist also ungefähr in die mitte der Venusfahrt gelegt wor-
den. — 225, 3 Eine niedliche Übertreibung. — 225, 21 Im Steir.
Urkdb. 2 ist Perhtoldus de Emherherch, dapifer, seneschalcus von 1197
— 1246 bezeugt. Sein siegel, das mit der beschreibung des wappens
225, 17 fgg. genau stimmt, tafel 14. 15 von 1247. 1249. Es ist der
zeit nach ausgeschlossen, dass nach v. Karajans Vermutung dieser Bert-
hold der beim tode Ottokars von Böhmen erwähnte sei. — 226, 11
Wenn man die Verletzungen Ulrichs auf dieser fahrt zusammenrechnet,
muss er am ende ziemlich verhauen gewesen sein. — 228, 14 Weil er
fürchtete, in den verdacht der untreue zu kommen. Vgl. 230, 28 und
jenen verfall zu Villach 195, 1 fgg. — 231, 4 Sie gibt ihm ja nichts. —
231, 10 Etwa: ivan xornic munt niht lachen ivil, vgl. 475, 11. 519,
30 fg. 520, 13. 548, 13 fgg. — In der Neustädter episode ist nicht
alles klar. Ich sehe allerdings keinen ausreichenden grund, an ihrer
zu ULRICH VON LIECHTENSTEIN 217
Wahrheit zu zweifeln, obgleich sie eine Steigerung derVillacher geschichte
bezeichnet und die „treue" Ulrichs in das beste licht setzt. Einzelnes
mag die lokalhistorie genauer zu bestimmen gestatten, z. b. die läge
des badehauses ausserhalb der stadt 226, 32. Die verse 228, 10 fgg.
nehmen den Inhalt des briefes vorweg. 228, 12 er ziehe ich auf den
brief; wie sollte der knappe das durch gebärden ausdrücken? Dagegen
ist 230, 5 Bechsteins auffassung von gefriunt richtig, die Sprengers
(Germ. 37, 176) falsch. Auf eine ganz vornehme dame als Urheberin
der ehrung deutet schon der aufwand, den das verursachte: AViener
Neustadt war lange ein hauptsitz der Babenbergischen hofhaltung. Dass
rosen ins bad gestreut wurden, ist nichts ungewöhnliches. Der käm-
merer spricht jedesfalls hier die gedanken. aus, die Ulrich bewogen,
über das ganze vorkonimniss vorsichtig zu schweigen. — 235, 23 Es
ist dem ritterlichen stände gemäss, tut ihm keinen abtrag, ein hofamt
bei der königin Yenus zu übernehmen. — 236, 23 riten = tjoste rei-
ten, der herr kommt nächstens selbst. — 238, 32 iviz ist hier „glän-
zend", weil der hämisch gefegt wurde. — 241, 10 Man sieht, wie vor-
sichtig Ulrich sein musste. — 241, 17 tg. 242, 1 Der böte nimmt noch
Walthers werte auf. Das folgende ist ganz formelhaft dargestellt: zu
241, 19 fgg. vgl. 325, 25 fgg., zu 241, 31 fg. 326, 7 fg. 353, 5 fg. —
241, 25 1. er sprach: nu stet iif, Ult sin gniioc. Tgl. 21 , 29. —
242, 21 Bechsteins anmerkung ist in der tat unbegreiflich (vgl. Meier,
Beitr. 15, 331). Ulrich war bei der herrin page gewesen, sie wirft
ihm 41, 25 fgg. seine jugeud vor, eine anzahl von jähren dient er
schon um ihre minne: sie muss mindestens in den ersten dreissigen
gewesen sein. Allem anscheine nach war sie eine sehr kluge dame,
ihren hohen rang bezeugt auch hier wider Ulrichs freude über das
geringe unverbindliche geschenk. — 244, 17 fgg. Der knecht spricht
mit diesen ausdrücken den verdacht eines zärtlichen abenteuers aus. —
244, 25 fgg. Hier ist die Situation ganz unklar. Wo ist das? Vor
Möllersdoif oder hinter Möllersdorf? Vgl. 239, 26. 243, 27. 246, 4.
Man weiss nicht, wo die ritter warten. Ulrich hat über die botschaft
den faden verloren. — 247, 22 fgg. Der domvogt war also ein rechter
frauenritter, vgl. 276, 15 fg. — 250, 4 1. — undencinden ; filegt e%
sich, — . Der ausdruck von iu 7 versteht sich daraus, dass der dom-
vogt marschall der königin Venus ist und also in ihrem namen die
ritter einlädt. Vermutlich hat aber er die kosten getragen. — 251, 9 fgg.
ist eine ganz vortreffliche bemerkung über die frauen, die den kenner
beweist. Den nächsten gedanken 17 fgg. nimmt Ulrich im Frauenbuch
weitläuftig auf. — 252, 17 fgg. Die erzählung wird hier ganz formel-
218 SCHÖNBACH
haft, der dichter gerät immer wider auf die früheren reimbindungen
und gedanken: vgl. 253, 28 — 32 = 242, 4 fg. 15 fg.; .254, 2 = 242, 24;
254, 5 fgg. = 242, 18 fgg.; 254, 10 fgg. = 242, 14 fgg. Jedesfalls
kann die herrin jetzt nicht auf ihrem steirischen schloss nahe bei Juden-
burg gewesen sein. Ulrich lässt sich die botschaft von dem knappen
in Umschreibung widerholen. Das tiu'nier stand schon in der ausschrei-
bung, zur pracht des aufzuges entschliesst sich aber Ulrich erst jetzt. —
256, 25 fgg. Formel des reisesegens. — 257, 1 fgg. Man ersieht daraus,
dass das unternehmen in Wien ernster war. — ■ 259, 1 fgg. Hier erfährt
man nichts über Ulrichs plan von 255, 1 fgg., sondern erst 288, 28 fgg.
— 262,10 Iwrt kann gewiss niemals „niederreiten" bedeuten, auch
hier nicht, sondern ein solches gedränge (261, 25 fgg.) und stossen,
dass dabei, ohne eigentliches tjostieren, arge Verletzungen vorkamen.
Ulrich musste also sehr geschickt reiten, um unter der menge seine
tjoste ausführen zu können. 267, 5 sieht man das ganz genau. —
263, 16 Heute noch „stürz und stuche" als bestandteile alter frauen-
tracht im Montavon, Yorarlberg. — 266, 4 fgg. Daran ist sicher etwas
gewesen, denn tatsächlich tjnstiert der Kuenringer nicht mit Ulrich,
sondern stellt einen andern 269, 17 fgg. Ygl. auch die gegensätzliche
hervorhebung 266, 22 fgg. 268, 6 fgg. — 271, 11 Bbsinperge, Pu-
sinherge liegt in Niederösterreich, Yiertel unter dem Wiener Wald,
Ckunradus de B. ist im Steir. Urkdb. 1, 298. 356 circa 1150 — 1155
bezeugt; ein Ekkhard von Piischinberge Muchar 4, 532. Merkwürdig
ist, dass ein Poppo von Pusenbach 1195 (im Steir. Urkdb. 2, 35 fg.) in
einer Admonter Urkunde erscheint. Der name ist so selten, dass die
Übereinstimmung auffällt. — 271, 19 Anschau in Niederösterreich.
Müllers Babenberger regesten weisen Rudigerus de Anschowe, Ant-
schoive, Anshawe, Ansclrnive in fünf Urkunden von 1209 — 1230 als
zeugen auf. Der in einer Urkunde von 1263 erwähnte llugeri ist wol
noch zu jung, um mit dem hier erwähnten zusammenzufallen. Vgl.
den Liber fundationum monasterii Zwetleusis, Fontes rerum Austria-
carum 3, 398 fg. Dort auch ein Giindacharus de Anshaive, ministe-
rialis Austriae. — Es hängt also der name nicht mit Anjou zusam-
men, wie V. d. Hagen 4, 354 anm. 2 will, obzwar das auftreten bei
Wolfram und die Verbindung mit Steiermark dort sehr zum nachden-
ken auffordert. — 273, 9 fg. Das siegel des Adalhero dapifer de Vels-
herch von 1244 — 46 tafel 11. — 273, 21 1. da s. 23. — 274, 20 fgg.
Ulrich tjostiert nicht mit seinem bruder Dietmar, sondern schickt den
kämmerer. Da rauss es ja dem, der es noch nicht wusste, offenbar
geworden sein, wer die königin Venus war. — 275, 25 fgg. Warum
zu ULRICH VON LIECHTENSTEIN ^ 219
in Feldsberg eine besondere bekanntmachimg? — 276, 4 Entweder
schcener, woran Bechstein denkt, oder: da manc schoeniu vroive die-
nest vant. Dann hätte den 5 guten bezug. — 276, 9 fgg. Der ritter
wird gelobt in der art wie der domvogt von Regensburg. Das ist der
Sifrit Weise, den Seeiuüllers anm. zum Reimschr. 6910 vormisst. —
281, 32 Gerade die folgende strophe beweist, dass Lachmanns emendation
richtig ist. — 282, 14 1. bvx da% manz eivangelje las. Icli weiss nicht,
weshalb an diesem samstag ein hochamt sollte gehalten worden sein,
es wäre denn wegen der festlichen Versammlung. Er liegt allerdings
in der oktav von Christi hinimelfahrt und im kalender der Passauer
diöcese ist Helena besonders ausgesetzt, aber das genügt nicht. —
282, 29 fg. Ulrich wollte auch dadurch sein benehmen als frauenhaft
bezeichnen. — 288, 21 Cltolo de Vronhofen (es gibt mehrere Frauen-
hofer in Niederösterreich) findet sich als zeuge in zwei Urkunden her-
zog Friedrichs IL vom 12. juli 1242, ausgestellt zu Tobel in Steier-
mark. — 291, 1 fgg. Sein lob lässt Ulrich durch andere verkündigen.
Das arrangement der scene zeugt von künstlerischem geschick. Der
kämmerer war natürlich der rechnungsführer. — 293, 4 des künde mir
lieber niht gesin? — 297, 4 Ich glaube, das ist die einzige stelle, wo
Ulrich sich gegen die widerholung einer beschreibung sträubt, er ist
sonst gar nicht heikel darin. — 300, 29 Die teilnähme des boten ist
wol, ebenso wie an früheren stellen seine mitfreude, ein künstlerisches
mittel. — ■ 303, 28 Wenn iht ergänzt werden soll (vgl. 306, 30), dann
möchte ich es zwischen hat und iu setzen, weil sich dann ein verlesen
des Schreibers leichter erklären liesse. Ygi. 304, 1. 305, 4. — 307,
21 fgg. Es fällt auf, dass der eigene Schwager, von dem dieses zeug-
niss für Ulrich ausgeht, erst 304, 30 fgg. als anwesend bezeichnet
wird und nicht früher erwähnt. — 308, 4 1. dir si des pfant diu scelde
min. Ygl. 18. — 311, 25 Auch iPise spricht für Lachmanns guote im
nächsten vers. Vgl. 268, 22. — 312, 26 in, glaube ich, ist pron.
pers., erst 27 steht i)i. Das ganze muss mit den Kuenringern vorher
verabredet worden sein, vielleicht sollte durch das turnier eine aussöh-
nung bewirkt werden. Es liegt jedesfalls vieles zwischen den von Ul-
rich erzählten dingen, was nicht mitgeteilt wird. — 313, 12 Da hat
also wahrscheinlich Heinrich von Kuenringen die schaar Ulrichs durch-
brochen. — 316, 13 fgg. Das ist dem boten erst eingefallen, nachdem
der Wasserberger 307, 31 fgg. den gedanken gehabt hatte. — 318, 22 fgg.
Jedesfalls wider nach Ternberg, von da 319, 1 nach dem steirischen
Liechtenstein. — 319, 21 fgg. Woher weiss der böte das alles? Diese
äusserungen waren doch in seiner abwesenheit gefallen. Man sieht die
220 SCHÖNBACH
poetische erfindiiug. Ebenso 320, 7 fgg. Es sind überhaupt verschie-
dene inconcinnitäten vorhanden: nach 321, 25 fgg. scheint die dame
fast verliebt, was weder mit dem früheren noch dem späteren stimmt. —
323, 24 fgg. Das würde schwerlich so einfach berichtet werden, wenn
es wahr wäre. — 328, 17 fgg. Die äusserungen des boten sind hier in
der Sache nicht wesentlich verschieden von denen 327, 17 fgg., er sieht
das unternehmen auch dort als unmöglich an. Nur wird hier die
Schwierigkeit mehr hervorgehoben, um das Interesse an der sache zu
steigern. — 331, 22 holer? vgl. aber Sprenger, Germ. 37, 177. —
335, 20 fgg. Ist ebensowenig glaublich, wie dass ihm das bedenken
336, 21 fgg. erst hinterdrein kommt. — • 338, 1 Zu xll vgl. mein glos-
sar zu den Steir. Eärnt. Taidingen s. 666 unter xeiUach. — 339, 12
Diesmal ist er also mit ihnen. — 340, 9 Es ist nur an lause zu den-
ken, vgl. 31 fg. 342, 7 fgg. wo natürlich Ungeziefer gemeint ist (man
denke an Thomas Platters Selbstbiographie) und der wälhisch man (wie
ScJioUen usw.) nur den fremden fahrenden bezeichnet. — 342, 13 fgg.
Die reflexionen werden um so häufiger, je weniger historisch die erzäh-
lung wird. — 345, 15 fgg. Das ist eine ganz unwahrscheinliche Über-
treibung, um das Interesse an dem beiden zu steigern. — 347, 14 Ohne
zweifei ist Lachmanns Verbesserung richtig. "Wenn twimjen intransitiv
sein sollte, dann müsste es doch heissen rotem m. und was wäre es mit
dem a7i des folgenden verses? Yielleicht ist mir statt mit der hs. zu
lesen? — 347, 29 fgg. Die beschreibung ist so weitläuftig, weil alle
pracht bis zur undeutlichkeit hier gehäuft werden soll. — 351, 2 fgg.
vgl. 355, 25. Das ist heute nicht so. Man bedenke, dass die Zusam-
menkunft in gegenwart aller frauen der herrin vor sich geht. — Der
wünsch 351, 11. 31 scheint mir ebenso formelhaft wie 349, 22. Ulrich
erhält 352, 20. 32 bestimmte Zusicherungen; vielleicht will man ihn
damit bloss wegschaffen. — 353, 18 relüe heisst „in richtiger weise",
von r eilte = „von rechts wegen", nur dieses ist hier möglich. Der
Schreiber hat von dem n in mcui auf das in von sich versehen. Vgl.
Sprenger a. a. o. 178. — 354, 28 1. tuot mir %vie iicer gemide sf. —
355, 18 fgg. Sind sie im Speisezimmer allein? — 358, 21 fgg. Er fürch-
tet die „schände" des misserfolges. Man sieht, wie formelhaft das alles
ist. — 365, 21 Die risc (Bechsteins erklärung im glossar ist falsch)
könnte als auffällige lokalbestimmung die mögliclikeit gewähren, diese
bürg noch ausfindig zu machen. Freilich, Vischers schlösserbuch reicht
dazu nicht hin. — 366, 13 fgg. 27. 374, 9 Die auffassung des Selbst-
mordes ist lehrreich. — 368, 1 Jetzt, nach ein paar tagen, wird er
erst an den knecht mit den pferden denken! — 368, 13 fgg. Lachmann
zu ULRICH VON LIECHTENSTEIN 221
hat im gesetzt, hauptsächlich wegen der nächsten verse 15 fgg., nicht
wegen der vorhergehenden, und hat daran recht getan. — 370, 17
diu ivcere ir alle zft gehax? vgl. 374, 1 fg. — 371, 31 fg. Er hat also
den Worten des knechtes nicht geglaubt, was bei der Unverschämtheit
der lüge, besonders 370, 25, nicht zu wundern war. — 375, 9 fgg.
Wenn die bürg so bewacht war, wie sind die früheren scenen bei der
line möglich gewesen? — 377, 22 Ich habe mich Ztschr. f. d. a. 26, 313
geirrt: es ist gewiss das niederösterreichische Wasserberg gemeint. Vgl.
oben zu 90, 8. — 383 nach 9 lese ich: sage allen mtuen danc der
lieben werden vrowen min — davon sind die genetive 12 abhängig. —
Die grosse lobpreisung der dame steht im 3. büchlein unmittelbar vor
dem abbruch des Verhältnisses. Das bedenken des knappen 379, 5 fgg.
ist wol nur das künstlerische Vorspiel dazu. — 393, 14 fgg. Der wünsch
geht also weiter. Mit dem 3. büchlein ist die sache eigentlich aus,
lied XII steht dazu in derselben beziehung wie die spätesten lieder zu
den sie umgebenden epischen versen. — 395, 9 Die stelle ist merk-
würdig. Fällt das einem jungen dichter ein? — 397, 1 fgg. ist eigent-
lich schon eine absage. Ygl. 403, 6. Die menge der hier aufgehäuf-
ten lieder ist ein zeichen, dass es nichts mehr zu erzählen gibt. —
409, 12 fg. fasse ich durchaus nicht so wie Bechstein. Es stimmen ja
auch die lieder nicht damit, in denen doch eine solche gunst zuerst
zum Vorschein kommen müsste. — 409, 19 fgg. ist ein klagelied, das
zur tanzweise schlecht passt und ebensowenig zu den versen 410, 26 fgg.
411, 27 fgg. Kann man sich wol denken, dass ein bisher so genau in
seinem verlaufe geschildertes verhältniss, Avie das erste Ulrichs, plötz-
lich so gar nichts zu berichten gibt, wie das hier der fall ist? —
411, 27 Die absage ist da schon vollzogen. — 413, 11 fgg. vgl. 415,
31 fgg. Wahrscheinlich hatte die dame das missglückte rendezvous
Ulrichs erzählt. — 418, 27 fgg. Ich denke, dass hier zuerst im Frauen-
dienst die epischen Strophen ausdrücklich den inhalt des nächsten lie-
des angeben. — Es wird dann bei den folgenden liedern allem anscheine
nach auf das technische mehr gewicht gelegt. Ein Zusammenhang zwi-
schen den erlebnissen des erzählers und dem Inhalte seiner lieder ist
nicht mehr sichtbar. — 434, 11 fgg. Also ist wol auch das Frauenbuch
aus gesprächen mit ihr entstanden. Vgl. 442, 24 fgg. — 438, 10 fg.
Immer ist ein treibendes motiv für Ulrich das couventionelle, das ge-
sellschaftliche ansehen, dass man nämlich tut, was guter brauch ist. —
439, 6 fgg. Die ganze Überlegung zeigt, dass da von wirklicher neigung
keine rede ist. — 452, 19 Bezeugt sind im Steir. Urkdb.: Ortolfus de
Stretivich (heute Stretweg bei Judenburg) 1220 — 45, Albertus 1220 —
222 SCHÖNBACH
1227, frater ejus Otto 1227. Dann Ditimarus et Chimradus fratres
de Streüvich als zeugen für einen vergleich zwischen den brüdern von
Liechtenstein und dem kloster St. Lambrecht am 4. September 1232
(2, 398). Ortolf, Dietmar, Konrad am 2. nov. 1245 in Kraubath. Es
waren die nächsten nachbarn des Liechtensteiners. — 453, 18 In der-
selben Urkunde von 1245 auch Cltunradus de Sovrow, östlich von
Murau an der Mar. — 454, 4 Es ist, wie schon v. Karajan vermutete
und V. d. Hagen 4, 367 anm. 4 annahm, Priks aus Puhs verschrieben,
welches dem gange der darstellung angemessen ein wenig östlich von
Saurau gegen Scheifling zu liegt. Cristän ist freilich im Steir. Urkdb.
nicht zu belegen, auch bei Muchar nicht. Aber es ist hier die unmit-
telbare nachbarschaft Ulrichs angeführt. Auch der 454, 17 genannte
Eppensteiner ist einer der nächsten nachbarn. — Im allgemeinen wird
jeder leser wahrnehmen, um wie vieles weniger lebendig die Artusfahrt
beschrieben ist als die Venusfahrt. Ein guter spass darf eben nicht
widerholt werden. — 455, 15 Kraubath liegt ungefähr in der mitte
des weges zwischen Knittelfeld und Leoben. — 456, 9 fgg. Das ist wol
nur eine entschuldigung aus Verlegenheit. Ulrich verzichtet sonst und
auch später nicht auf die beschreibung seiner siege. — 458, 18 Brück
an der Leitha, das Bechstein meint, liegt wol nicht auf der steirischen
Strasse, die hier über Brück an der Mur geht. — 458, 26 Hermanmis
de Chrotendorf (oberhalb Kapfenberg an der Mürz) ist in der schon
erwähnten Kraubather Urkunde von 1245 als zeuge angeführt, Steir.
Urkdb. 2, 575. — 458, 28 Ich zweifle, ob, wie v. Karajan will, der
Spiegelberger Heinrich, der 459, 20 fg. vorkommt und im Steir. Urkdb.
1218 — 1245 zu belegen ist, mit dem hier genannten Diefnidr von
MÜ7'e einem hause angehört. Spiegelberg liegt nordwestlich oberhalb
Knittelfeld. Ulrich nennt ritter mit namen aus der tafeirunde (z. b.
den Eppensteiner 454, 21), von denen er nicht sagt, dass sie die be-
dingung erfüllt haben. — 459, 9 noch bezieht sich hier auf Brück. —
460, 20 Ortolf von Kapfenherc schon richtig bei v. d. Hagen 4, 368
anm. 4. Er ist Steir. Urkdb. 2, 368 im jähre 1230 bezeugt, dann aus
dem jähre der Artusfahrt 1240 (s. 493. 495) am 15. juli zu Passail als
einer der vier Schiedsrichter über eine zehentsache, die der herr
von Stubenberg milites sitos nennt. — 461, 9 Landsee in Ungarn,
nördlich von Pinkafeld. Erchengerus de Landesere ist von 1197 ab
bezeugt, etwa bis 1250, wofern es derselbe ist. Zwei siegel von ihm
aus den jähren 1249 und 1250 tafel 16. Sein bruder ist Rudolf von
Stadeck. — 461, 11 Es gibt zwei Hohenwang, links und rechts von
der Mürz zwischen Krieglach und Langenwang. Gemeint ist sicher das
zu ULRICH VON LIECHTENSTEIN 223
am rechten iifer der Mürz, eine bürg, dessen ruine noch steht. — 461, 27
Arnstein liegt in Niederösterreich, westlich von Wiener Neustadt. Im
Steir. Urkdb. ist nur ein Wichardus nachgewiesen von 1233 — 1237,
sein Siegel tafel 7. Urkundlich heisst es Arensteine, vielleicht auch so
im vers. v. d. Hagen 4, 368 anm. 9 vermutet, ein söhn Ottos von A.,
Albero, sei hier gemeint, der um 1270 bezeugt ist. — 462, 28 wart?
Ygl. Sprenger a. a. o. 178. — 465, 21 vgl. Steir. Reimchr. 6129. —
468, 25 Henricus mncerna de Hcmchspach (Hausbach in Niederöster-
reich östlich bei Grlocknitz) ist im Steir. Urkdb. von 1241 — 46 nach-
gewiesen, Siegel von 1244 tafel 11. — 469, 9 fgg. Die stelle des liedes
442, 3 fgg. ist also aufgefallen, das erklärt auch die parodierung durch
Steinmar. — 469, 22 fg. Die historische Stellung der beiden brüder
(nach 26 fgg. besondere günstlinge herzog Friedrichs H.), vornehmlich
Heinrichs in der steirischen Reimchronik (7202 fgg.), ist bekannt ge-
nug. — 472, 9 Zu V. Karajans anm. vgl., dass im Steir. Urkdb. 2, 112
in einer Urkunde von 1204 ein Meinhardus de Vroberch nachgewiesen
ist, der wol zu alt für diesen hier wäre. — 472, 25 Ein Ditricus
Possho findet sich 1233 im Steir. Urkdb. 2, 414; er gehört aber nach
Kärnten, somit schwerlich zu diesem geschlecht, vgl. v. d. Hagen 4, 372
anm. 1. — 472, 27 Ditricus j^nceriia de Dobra (Niederösterreich bei
Waldreichs) ist im Steir. Urkdb. dreimal von 1243 — 45 bezeugt. —
473, 5 Das Steir. Urkdb. liat einen Ulricus 'inareschalcus de Valchen-
stclne 1217. 18 und Bernhardus frater ejus 1217. — 473, 15 Pott-
schach oberhalb Neunkirchen, Niederösterreich. Falsch bei v. d. Hagen
4, 373 anm. 4. ~ 474, 13 Ygl. Steir. Reimchr. 1321 fgg. — 474, 25
Ein Bapoto de Valchenherch (Niederösterreich bei Zwettl) ist im Steir.
Urkdb. 2, 95 im jähre 1202 bezeugt, somit wol der vater des hier
erwähnten. Drei Rapotos kommen in der Steir. Reimchr. vor. Ich
bemerke, dass die beschreibung der Yenusfahrt von der des Artuszugs
sich auch dadurch unterscheidet, dass dieser häufig bei der ersten
erwähnung der ritter Charakterschilderungen beigegeben werden, die
dort fehlen. Yielleicht sollte dadurch das Interesse an den vergangen
selbst ersetzt werden, das diesmal mangelte. — 477, 2 Chadoldus Waiso
Steir. Urkdb. 2, 406 von 1233. v. Krones, Österr. Gesch. 1, 629. —
482, 3 Das muss in dem fehlenden stehen, dass Dietmar von Liechten-
stein den namen Gäwdn gewonnen hat. — 494, 8 Im juni 1240 wurde
der herzog durch den päpstlichen legaten Albert Beham mit bann und
interdict belegt, am 13. juli erfolgte das bündniss des herzogs mit den
kaiserlich gesinnten bischöfen wider Baiern. — 495, 7 fgg. Die stelle
ist nicht aufzufassen wie Bechstein tut: die teiliing geschieht nach dem
224 SCHÖNBACH
ränge. Allerdings mag nebenher noch Avie beim turnier zu Friesach
gleichheit der kämpfer angestrebt worden sein. — 497, 11 fgg. Die
früher am meisten gelobten finden sich jetzt in Ulrichs schar, umge-
kehrt in der anderen die getadelten gegner. — 499, 27 Das wird kaum
das oberösterreichische geschlecht sein, aus dem Steir. Urkdb. 2, 210
um 1215 ein ülricus nachgewiesen ist. — 510, 7 fgg. Die stelle ist
ungemein bezeichnend für die poetisierung des wäcliters im tageliede. —
510, 14 magct wird nämlich schon durch das geschlecht gehoben und
geadelt. — 528, 4 Der Henricus Scriba (landschreiber) Styriae war
von Marein und ein söhn Eeinberts von Mureck, später pfarrer von
Gratwein bei Graz. Er ist von 1222 — 1243 bezeugt. Aber der ist
wahrscheinlich hier nicht gemeint, sondern der notarius Heinricus
Faba, der mit dem notarius Gotscalcus am 1. märz 1246 eine Urkunde
herzog Friedrichs IL zu Himberg ausfertigt, Steir. Urkdb. 2, 581 fg. —
544, 7 (gotes) lichimnf iienien heisst: kommunizieren. Vgl. über solche
kommunion in extremis Sattler, Die religiösen anschauungen Wolframs
von Eschenbach (1895) s. 82 fg. — 589, 27 fgg. Das scheint doch ein
sehr beachtenswertes selbstbekenntniss Ulrichs. — 593, 5 getihtet heisst
also hier nur: ritterliche taten in eigener person von sich erzählt hat.
Es sei mir gestattet, nocli ein paar bemerkungen zum „Fraueu-
buch" anzuschliossen. 601, 27 Wenngleich das gewand der frau kost-
bar ist, braucht es doch nicht gleich ein Überwurf von zobel zu sein.
zohel ist damals schon allgemeines wort für pelzwerk geworden , beson-
ders für schwarzes, das nach 31 fg. gemeint ist. — 603, 1 (601, 9) an
beiden stellen ist jedesfalls, wie Lachmann annahm, dasselbe wort ge-
raeint. Aber Haupts emendation fülen (Ztschr. f. d. a. 15, 247) ist
unrichtig, weil die stelle der Litanei, auf die sie sich stützt, falsch
aufgefasst ist. Und Lexers bloss auf die erste der beiden stellen sich
beziehende erklärung von füllen = „bedecken, bekleiden" 3, 563 steht
ganz vereinzelt. Desgleichen kann ich an Sprengers ivüen (Germ. 37,
180 fg.) nicht glauben. Etwa das verbum velwen? iLmUenen, wollene
trauergewänder anlegen, würde gut passen, wenn es belegt wäre. —
605, 29 Witwen wählen oft das geistliche leben, d. h. sie nehmen den
Schleier einer nicht zu strengen religiösen genossenschaft statt ein zwei-
tes mal zu heiraten. Das ist auch ein rat der kirche. — G06, 15 da
wird wol in die zu ändern sein. — 612, 2 1. tmd ez ie man da veile
hänt. — 612, 21 Die etymologie beruht darauf, dass Ideine schon haupt-
sächlich „klein, gering" heisst, nicht mehr „zierlich". Ähnlich steht
es heute mit den fällen, wo nur blumen geschenkt werden dürfen.
Vgl. Wälsch. gast 1338 fgg. — 613, 1 Lachmanns änderung ist mir
zu ULRICH VON LIECHTENSTEIN 225
Avenig wahrscheinlich: tut die frau den schrein ihres herzens auf, dann
gibt sie ihrem liebhaber etwas, ihre minne, heraus, nicht drin; 1. iincl
(ßt im reine minnc, so kann sie trotz 612, 24 heissen, vgl. 613, 12. —
613, 8 trthen = forttreiben, austreiben, wie einen leprosen. Vgl. Du
Gange 5, 67: Leprosi. Vielleicht ist dabei auch an das femininum trihe
gedacht, das Berthold von Regensburg braucht. — 613, 21 sivachen
mannen wäre möglich trotz des Singulars im folgenden verse. Jedes-
falls sind hier beziehungen der ritterfrauen zu hausdienern und knech-
ten gemeint. Sie scheuten bei ritterlichen freunden die gefahren der
huote 615, 27 fgg. — 614, 31 1. g. iu ziio g. — 615, 8 1. ie minner. —
616, 18 fgg. Vgl. Wilda, Strafrecht 858 fg., wo allerdings die hier an-
gegebenen strafen nicht vorkommen. Aber Osenbrügger hat im Alam.
Strafrecht die entsprechenden sätze beigebracht. — 618, 11 fgg. Die
vierte kategorie ledegiu wip sind nach 620, 7 fgg. 626, 27 fgg. 628, 14
unverheiratete ihrem vermögen nach selbständige trauen, die über sich
selbst verfügen dürfen, unter keiner Vormundschaft stehen. Auch die
fünfte gruppe friundin scheinen unverheiratet, maitressen 620, 13 fgg.
628, 31 fgg. mit 17 von rehtc sind huren ausgeschlossen. — 618, 32
man der hs. kann bleiben. — 619, 11 Vielleicht wa?i er%. — Zu 622,
7. 9. 11. 13. 17 ist zu vergleichen Freidauk 60, 13. 88, 26. 90, 5. 26;
84, 14. 90, 7; 90, 1. 88, 25; 89, 3. — 622, 16 I. des lop im üf da
hohe gät. — 624, 7 fgg. Der unterschied zwischen dem ersten und
zweiten falle liegt in der grösseren dringlichkeit, mit der hier der rat
gegeben wird. — 625, 19 1. füegt sich — . — 629, 13. 15 1. wil si
sin ah niht xe koneman (Lexer 1, 1673) — so sols doch lös mit im
ie sin. Vgl. 632, 3 lös = kokett. Denn das adj. mitlös wäre in einer
weise gebildet, wie sie rahd. sonst nicht vorkommt; mitesam ist nicht
zu vergleichen. — 630, 20 1. dax er st xe — . — 634, 1 1. und lät
in ir libes e. phl. — 634, 6 1. daz hat man für u. n. — 636, 2 1.
ivan gejeit, so jage, so jage öt dar. — 636, 13 1. dax beivärni. —
638, 20 Vielleicht von der h. lt., denn die ewige Seligkeit vor gott zu
pfände setzen, wäre doch wunderlich. — 638, 29 guot vor tvip wird
das reimwort des fehlenden verses sein. Vgl. 639, 9. 16. — 640,22 fgg.
Vgl. MSF. 23, 11 fg. — 642, 1 siht einzuschalten ist bei der beschaf-
fenheit von Ulrichs versen überflüssig. — 644, 3 fgg. Die rollen sind
vertauscht, die koraposition geht in die brüche.
GRAZ, FASTNACHT 1895. A^s^TON E. SCHÖXBACH.
ZEITSCURIFT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XXVIII.
15
226
ZUM GOETHETEXT.
1. Band 26 der "Weimarer ausgäbe enthält den ersten teil von
„Dichtung und Wahrheit" und am Schlüsse den abdruck eines hand-
schriftlichen auszuges von „Manon Lescaut", der von Kiemers hand,
vermutlich unter Goethes diktat, geschrieben und von Goethe mit blei-
stift durchkorrigiert, schliesslich aber doch nicht in die biographie auf-
genommen worden ist. Den schluss desselben bilden (s. 381) die worte:
„ Der mittelmässigste Roman ist noch immer besser als die mittel-
mässigen Leser; ja der schlechteste participirt etwas von der Vortreff-
lichkeit des ganzen Genies."
Die kurze bemerkung über den Zusammenhang habe ich im
Interesse des lesers vorausgeschickt, und füge nun noch hinzu, dass
man das Riemersche blatt getrost noch einmal prüfen möge, um die
richtige lesung zu finden. Denn „des ganzen Genies" ist unverständ-
lich, aber Riemer hat zweifellos geschrieben: „des ganzen Genres".
2. Ich habe den eindruck, dass die schritten der Goethe-geseU-
schaft sehr sorgfältig korrigiert werden und erinnere mich nicht, sinn-
störenden druckfehlern begegnet zu sein. Darum sei kurz bemerkt, dass
bd. 2 s. 166 oben es natürlich heissen muss:
„Der sumpfige Theil ist mit einem Wassergras bewachsen und
muss sich auch dadurch nach und nach heben, obgleich Ebbe und
Fluth beständig daran rupfen und wühlen und der Vegetation keine
Ruhe lassen."
Im druck steht haben statt heben.
3. Dagegen will ich noch auf ein unliebsames versehen aufmerk-
sam machen, das zwar nicht einen Goethischen text selbst geschädigt
hat, aber doch einen auf den dichter bezüglichen bericht ärgerlich
entstellt.
Im Goethe -Jahrbuch bd. 14, 1893 hat 0. Günther briefe von
Lotte Kestner und ihrer tochter Clara veröffentlicht, welche über ihren
besuch in Weimar im jähre 1816 und über ihre persönlichen beziehun-
gen mit Goethe nachricht geben. Leider fehlt jede nähere angäbe über
diese briefe, und es ist nicht einmal gesagt, wo und in welcher Samm-
lung sie sich befinden.
Auf s. 286 (mitte) schreibt Clara Kestner über einen besuch bei
Goethe unter anderem folgendes:
„Nach Tisch fragte ich nach einer sehr schönen Zeichnung die
immer meine Augen auf sich zog, er Hess sie mir herunter nehmen
ZUM GOETIIETEXT 227
und erzählte mir sehr artig die Geschichte davon, sie war von einer
dame, Julien dachte er mit grosser Auszeichnung und besonders ihres
Talents."
So steht gedruckt, und es liegt auf der liand, dass der satz durch
eine lücke hinter dem werte Julien unverständlich geworden ist.
Möglich wäre, dass in der druckerei eine zeile ausgefallen ist; aber
wahrscheinlicher ist, dass der fehler im manuskript begangen wurde.
Nach „Julien" ergänzt sich mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit: „von
Egloffstein", und sehr viel mehr als etwa: „dieser dame" wird im fol-
genden schwerlich ausgefallen sein, so dass wahrscheinlich eine zeile
übersprungen worden ist, als man von dem Originalbriefe abschrift
nahm. Vermutungsweise wird man also ergänzen können:
. . . „sie war von einer Dame, Julien (von Egloffstein. Dieser
Dame ge-) dachte er mit grosser Auszeichnung" usw.
Vielleicht ist es der mühe ^vert, noch auf eine kleinigkeit hinzu-
weisen, welche als ein gutes beispiel für die wandelungen des Sprach-
gebrauchs gelten kann.
Am Schlüsse jenes aufsatzes (s. 289) v/inl aus einem briefe von
Clara Kestner noch eine äusserung ihrer mutter mitgeteilt: In Weimar
falle ihr besonders noch eins auf: „man hat hier so fatale Vorurtheile
gegen den Adel, viel ärger als bei uns."
Erwägt man den Zusammenhang, die persönlichkeiten von mutter
und tochter Kestner und vor allem die bekannten damaligen gesell-
schaftlichen zustände von Weimar wie von Hannover, so können diese
werte unmöglich etwas anderes, als verurteile zu gunsten des adels,
bevorzugung des adels bedeuten.
Heutzutage dagegen würde der ausdruck verurteile gegen den
adel in keinem anderen als im feindseligen sinne verstanden ^verden
können.
KffiL, APRIL 1895. A. SCHÖNE.
15^
228
OSKAE ERDMANN.
(Gedächtuisworte, gesprochen am 17. juni 1895 in der aula der Universität zu Kiel.)
Hocliausebuliche Versammlung! Während unsere stadt die letzte band anlegt,
um sich zu dem grossen, nahe bevorstehenden feste zu schmücken, und überall fröh-
lich die flaggen und wimpel flattern, hat unsere Universität ihre fabne auf halbmast
gehisst, um einem ihrer mitglieder die letzte ehre zu erweisen. Zuni zweiten male
innerhalb weniger nionden hat die philosophische fakultät und mit ihr die gesammte
bocbschule den tod eines hochverdienten und hochgeachteten gelebi-ten zu beklagen,
und der frische Verlust ruft noch einmal die erinnerung an den vorausgegange-
nen coUegen wach , zumal da das leben und das Schicksal der beiden, die so schnell
sich gefolgt sind, in so merkwürdiger weise übereinstimmen. Beide sind der deut-
schen Ostmark entsprossen, die in grauer vorzeit die heimat des reichbegabtesten und
zugleich unglücklichsten germanischen Stammes gewesen ist, dann aber für Jahrhun-
derte von Litauern und Slaveu überschwemmt wai', bis das schwort der Ordensritter
den altgermanischen boden für Deutschland und die deutsche cultur zurückgewann;
beider wiegen standen in protestantischen pfarrhäusern , die unserem volke schon so
viele hervorragende männer erzogen haben; beide, die auf der Berliner Universität
als studierende gemeinsame ziele verfolgten und hier auch persönlich sich nahe traten,
haben, nachdem sie längere zeit im schulfache tätig w'aren, durch opfer und entbeh-
rungeu mit eiserner energie den weg zu der akademischen lauf bahn sich eröffnet, sie
sind dann endlich hier wider zusammengetroffen, um noch eine kurze reihe von jäh-
ren segensreich neben einander zu wirken — und beide, die fast noch auf der mit-
tagshöhe des lebens standen, bat nun kurz hintereinander ein jäher tod ereilt:
Gustav Glogau, nachdem ei' kaum den geheiligten boden Attikas, das land seiner
Sehnsucht, betreten, wird dort das opfer eines grausamen missgeschickes , und Oskar
Er d mann kehrt aus dem deutschen Athen, wo jetzt alljährlich in der lieblichen
pfingstzeit die Goethegemeinde dem andenken an den grössten genius unseres volkes
pietätvoll huldigt, aus den idyllischen tälern Thüringens, in denen er erholuug zu
finden hoffte, zu dem häuslichen herde nur zurück, um hier zu sterben.
Die lebensgeschichte unseres verewigten coUegen ist einfach , wie dies bei deut-
schen gelehrten zu sein pflegt. Hermann Oskar Theodor Erdmann wurde am
14. februar 1846 zu Thorn geboren, der altehrwürdigen Weichselstadt, von der
ja gegenwärtig, seit Gustav Freytag sie so anschaulich geschildert, alle gebil-
deten ein greifbares bild vor äugen haben. Sein vater\ aus einem alten prediger-
geschlechte stammend — schon der grossvater und der urgrossvater unseres freundes
waren geistliche gewesen — wirkte dort seit mehreren jähren als pfarrer au der neu-
städtischen kirche, wurde aber schon 1855 nach Altfelde im Marienburger werder
versetzt. Von ihm empfieng der knabe den ersten Unterricht, bis er 1859, für die
secunda reif, das Thorner gymnasium bezog. Hier wird Wilhelm Arthur Passow
(der söhn des Breslauer philologen), der erst vor kurzem als direkter an die etwas
verwahrlcste austalt berufen Avar und sie schnell zur blute brachte, in Erdmann die
liebe zur altertumswissenschaft geweckt oder die von dem geistig bedeutenden vater
gelegten keime durch die macht seiner persönlichkeit, die auf keinen der begabteren
Schüler ihre Wirkung verfehlte, gefördert haben. Nach glänzend bestandenem matu-
ritätsexamen gieng Erdmanu im herbst 1863 nach Leipzig, um klassische und
NEKROLOG 229
germanisclie philologie zu studieren. Von den professoren , die damals dort lehrten,
scheinen ihn Zarncke durch die sprudelnde lebendigkeit seines geistvollen Vortrages
und Georg Curtius durch seine ruhige klarheit besonders angezogen zu haben, da
er keine Vorlesung, die von diesen beiden angekündigt wurde, versäumte; dass aber
der ideal angelegte jüngling sich nicht dai'auf beschränkte, das zu hören, was für
examen und amt unbedingt nötig war, versteht sich von selbst: so Hess er von
Joh. Overbeck das Verständnis für die herrlichkeit der hellenischen kunst sich eröff-
nen und erstreckte auf dem gei-manistischen gebiete seine Studien auch auf das damals
infolge der unzureichenden hilfsniittel noch schwer zugängliche altnordische. An
der Berliner hochschule, die er im herbst 1865 bezog, waren Müllenhoff, der
bedeutenden einfluss auf ihn gewann, Mor. Haupt, Kirchhoff, Trendelenburg
und Stein thal seine lehrer. Ihren abschluss fanden seine akademischen studicn
auf der Universität der heimatlichen provinz, an der er die letzten beiden semester
(herbst 66 bis herbst 67) verbrachte: hier hat Oskar Schade, der in seinen semi-
naiübungen mit besonderer vorliebe Otfrid zu interpretieren pflegte, Erdmanns
Interesse für die ahd. Messiade erregt, der er später eine so erfolgreiche tätigkeit
zugewendet hat; ausserdem hörte er nur noch Lehrs, Friedländer und den histo-
riker Nitzsch, einst auch die zierde unserer Christiana- Albertiua, mit dem er von
mütterlicher seite verwandt war^ Im herbst 1867 promovierte er zu Königsberg mit
einer abhandlung über die syntax des Pindar^ — die wähl des Stoffes ist symptoma-
tisch , da syntaktische Untersuchungen das hauptgebiet seiner forschung geblieben sind.
Zu derselben zeit bestand er auch das examen pro facultate docendi, unterrichtete
während seines probejahrs am Friedrichscollegium zu Königsberg und ward 1868 am
gymnasium zu Graudenz angestellt, wo er wenige jähre darauf (1871) auch einen
eigenen hausstand begi'ündete.
Hier in Graudenz kam ihm — es war eine fügung, die für sein späteres Schick-
sal entscheidend sein soUte — das Preisausschreiben der Wiener akademie vom 28. mai
1869 in die bände, die eine testamentarisch gestiftete summe von 500 gülden für eine
darstellung von Otfrids syutax aussetzte'*. Erdmann, der kurz vorher schon eine
kleine studie über Otfrid veröffentlicht hatte*, war sofort entschlossen sich um die-
sen preis zu bewerben, und es gelang ihm, trotz der vielfachen arbeit, die das
schulamt ihm auferlegte, mit aufbietung aller seiner kräfte das werk rechtzeitig zu
vollenden und einzuschicken. Der erfolg war mehr als zweifelhaft — denn es war
vorauszusehen, dass anerkannte kenuer Otfrids an der concurrenz sich beteiligen wür-
den. Um so grösser war die freude, als im sommer 1871 von "Wien die nachricht
eintraf, dass Erdmann, der imbekannte gymnasiallehrer, die palme errungen habe.
Die „Untersuchungen über die syntax der spräche Otfrids", welche 1874 — 76 in
2 bänden zu HaUe erschienen und von der kritik mit einstimmigem lobe begrüsst
wurden", lenkten dann die aufmerksamkeit weiterer kreise auf den jungen Verfasser.
Professor Julius Zacher in Halle, der kurz zuvor eine Sammlung commentierter
ausgaben von altdeutschen litteraturdenkmälern ins leben gerufen hatte , übertrug ihm
für diese „Germanistische handbibliothek" die bearbeitung des Otfrid. Um diese aus-
zuführen, war eine nochmalige vergleichung der handschriften unbedingt, erforderlich.
Erdmann, der iuswischen (1874) an das neubegrüudete Wilhelms -gymnasium in Kö-
nigsberg berufen war, wo er bald zum Oberlehrer aufrückte, unternahm deshalb im
Sommer 1879 eine reise nach "Wien, wo er die dort befindliche, wahrscheinlich von
Otfrid eigeubäudig- corrigierte handschrift genau untersuchte und im am-egenden ver-
kehr mit den dortigen gelehrten geuussreiche wochen, die er selbst immer zu den
230 GERING
schönsten seines lebens gerechnet hat, verbrachte. Die Heidelberger handschrift durfte
er diu-ch die dankenswerte liberalität der grossherzogl. bibliotheksverwaltung in Kö-
nigsberg selbst benutzen. Die ergebnisse dieser neuen coUationen stellte Erdmann in
seiner Schrift „Über die Wiener und Heidelberger handschrift des Otfrid" zusammen,
die infolge eines gutachtens von MüUenhoff 1880 in den abhandlimgen der königl.
akademie der Wissenschaften zu Berlin veröffentlicht ward'. Zwei jähre später erschien
dann bereits die grosse, mit Variantenapparat, ausführlicher einleituug und reichhal-
tigem commentar versehene ausgäbe in der „Germauist. handbibliothek" (Halle 1882),
und fast gleichzeitig auch ein kleiner, für den gebi-auch in Vorlesungen bestimmter
abdruck des textes mit kurzem glossar^.
Der erfolg, den diese wissenschaftlichen publicationen hatten, und der glück-
liche umstand, dass Erdmaun in einer Universitätsstadt angestellt war, hatten ihn
inzwischen zu dem entschlusse bewogen, seine kräfte und fähigkeiten auch der stu-
dierenden Jugend nutzbar zu machen. Er habilitierte sich daher im sonimer 1883 in
Königsberg und eröffnete seine akademische tätigkeit am 20. juni mit einer antritts-
vorlesung über die geschichtliche entwickelung der deutschen syntax. Aber die lasten,
die der doppelte beruf ihm auferlegte, machten sich bald fühlbar, und er begrüsste
es daher als eine erlösung, als er im sommer 1885 als ausserordentlicher professor
nach Breslau berufen ward, wenn auch seine materielle läge dadurch nicht uner-
heblich sich verschlechterte. Zunächst aber machte, nachdem die Übersiedelung
erfolgt war, der gesundheitszustand Erdmanns einen längeren aufenthalt in einem
schlesischen kurorte notwendig, der ihn anscheinend wider herstellte, aber ein ver-
borgenes übel nicht mehr vollständig beseitigen konnte. Schon ehe er der kur sich
unterzog, war trotz der körperlichen leiden der erste band seiner Grundzüge der deut-
schen Syntax zum abschlusse gebracht worden; er erschien 1886 zu Stuttgart^. Der
zweite band ist, obgleich die vorarbeiten dazu längst vollendet sind — die Samm-
lungen für das werk liatte er bereits als gymnasiallehrer begonnen — leider nicht
erschienen, doch ist aussieht vorhanden, dass ein schüler des verstorbenen aufgrund
des nachgelassenen handschriftlichen materials das werk vollenden wird^". — Diese
Grundzüge sind das letzte buch, das Erdmann veröffentlichte: weder in seinen Bres-
lauer Jahren, wo er, um seine einnahmen zu vermehren, die leitung einer belletri-
stischen monatsschriff übernommen hatte, noch hier in Kiel, wo er als nachfolger
Vogts, nachdem er schon früher einmal vorgeschlagen war, seit dem herbst 1889
als ordentlicher professor gewirkt hat, hat er Sammlung und müsse zu andauern-
der produktiver arbeit finden können — die berufsgeschäfte, neue Vorlesungen, exa-
mina, hier in Kiel dann auch die leitung der Zeitschrift für deutsche philolo-
gie, in deren redaction er auf meine bitte unmittelbar nach seiner Übersiedelung
hierher eintrat und für die er mit unermüdlichem eifer und seltenem organisato-
rischem geschick tätig war, wie er auch durch eigene kleine aufsätze und recensioneu sie
förderte*- — alles dies war vollauf genügend, seine kräfte zunächst ganz in ansprach
zu nehmen. Als er sich in den neuen Verhältnissen eingerichtet hatte und freier zu
atmen begann, fasste er den plan zu einer ausgäbe des Hartmannschen Gi'egorius, in
welcher die neuentdeckten handschriften, die er bereits copiert oder verglichen hatte,
zur herstellung eines kritischen textes verwendet werden sollten, gab das unterneh-
men aber auf, sobald er erfuhr, dass ein anderer gelehrter für dasselbe werk bereits
umfangreiche vorarbeiten gemacht habe^''. Da wurde inr vorigen jähre von der lei-
tenden stelle aus die anfrage an ihn gerichtet, ob er bereit sei, au dem grossen
nationalwerke mitzuwirken, das die begründer unserer Wissenschaft, die gebrüder
NEKROLOG 231
Grimm, begonnen haben und das noch immer der Vollendung harrt — und nach kur-
zem schwanken sagte er zu. Mit grösster begeisterung nahm er sogleich die arbeit
an dem Deutschen wörterbuche auf, für das er den von Lexer noch nicht erledigten
rest des T und das U übernommen hatte, und wir durften hoffen, zumal ihm auf
seinen wünsch eine jüngere kraft als helfer und mitarbeiter an die seite gesetzt wor-
den war, dass die ersten lieferungen von seiner band uns bald vorliegen würden.
Auch diese hoffnuug hat sein vorzeitiger tod vereitelt, und der abschluss des riesen-
werkes, an dem nun schon fast ein halbes Jahrhundert hindurch eine generation nach
der anderen arbeitet, ist wider weiter in unabsehbare ferne gerückt.
AVar somit die wissenschaftliche tätigkeit Erdmanns in seinen letzten lebens-
jahren eine beschränkte, so hat er mit um so grösserem eifer und erfolg seines aka-
demischen lehramtes gewaltet. Schon in Breslau erfreuten sich seine Vorlesungen
eines lebhaften Zuspruches. Er las dort nicht nur über altdeutsche grammatik und
metrik und über hervorragende werke der alt- und mittelhochdeutschen zeit (Otfrid,
Hartmann, Gudrun"), sondern er behandelte in seinen coUegien auch mit besonderer
verliebe die heroen der zweiten blütenepoche unserer litteratur. Lessing, Goethe ^^
und Schiller; und dass er hier seinem auditorium reiche am'egungeu bot, beweist die
immer steigende zahl der commilitonen, die um sein katheder sich scharten und keines-
wegs der philosophischen fakultät allein angehörten. Hier in Kiel hat er dann den kreis
seiner Vorlesungen noch beträchtlich erweitert. Vor allem sind hier zu nennen die
grösseren litteraturgeschichtlichen collegia über die ältere periode bis zui' reformation
und über das 18. Jahrhundert, das ihm durch Specialstudien besonders vertraut war —
er gehörte zu den wenigen, die Klopstock'® nicht nur gelesen, sondern gründlich
studiert haben und von seiner genauen bekauntschaft mit der epoche der Stürmer und
dränger zeugen zwei kleine noch in Königsberg verfasste abhandlungen über Klin-
ger*' sowie mehrere recensionen in gelehi'ten Zeitschriften'^ — ferner eine ausführ-
liche Vorlesung über das Nibelungenlied*^ und ein publicum über stoff und methode
des deutschen Unterrichts, einen gegenständ, über den er infolge seiner langjährigen
tätigkeit als praktischer Schulmann seinen zuhörern die reichsten erfahruugen und die
fruchtbarsten winke für ihren späteren beruf mitzuteilen im stände war-°.
Auch in diesem semester hatte er wider einen verhältnismässig grossen kreis
lernbegieriger und dankbarer schüler um sich versammelt, denen er den entwicke-
lungsgang unserer litteratur im vorigen Jahrhundert schilderte und in seinem seminar
das vollendetste werk des Hebenswürdigen Hartmann von Aue erklärte, an dem seit
den tagen Karl Laehmanns schon unzählige jünger der nationalen Wissenschaft die
silberhelle mhd. spräche und die regeln ihres fein durchgebildeten versbaus gelernt
imd in der methode der textkiitik sich geübt haben. Waren die Vorbereitungen für
diese Vorlesungen und die redactionsgeschäfte erledigt, so sass Erdmann bis tief in
die nacht in emsiger arbeit an dem wörterbuche. Nach so angestrengter tätigkeit
hatte er das bedürfnis, sobald ferien eintraten, dui'ch kleinere reisen sich zu erho-
len und aufzufrischen. So begrüsste er denn auch diesmal das herannahen des
pfingstfestes mit freuden. Er wollte die wenigen tage dazu benutzen, um in Berlin
und Halle liebe veiwandte und freunde zu besuchen, einen kurzen ausflug in das
romantische tal der Schw'arza zu machen und schliesslich in Weimar an der general-
versammlung der Goethe -■ gesellschaft teilzunehmen. Fröhlichen herzens trat er die
reise an und führte sie seinem plane entsprechend aus. Noch in Weimar war er
anscheinend völlig gesund imd verkehrte heiter mit den freunden imd fachgenossen,
die er dort vorfand. Aber auf der heimfahrt stellte sich ein heftiges übelbefinden
232 GERINQ
eiu, und als er in der naclit vom 10. zum 11. hier angelangt war, fand der am
niorgen herbeigerufene hausarzt den zustand schon so bedenklich, dass er den bei-
rat eines älteren coUegen glaubte in auspruch nehmen zu müssen. AUe angewandten
mittel erwiesen sich als erfolglos, und am mittwoch ward es den behandelnden ärzten
klar, dass, wenn eine rettung überhaupt noch möglich sei, diese nur dui-ch eine
Operation herbeigeführt werden könne. Mit männlicher ruhe und kaltblütigkeit gab
der kranke seine ein willigung zu diesem letzten, verzweifelten versuche, der leider
vergeblich war. Am abend des 13. ist er sauft entschlafen, nachdem er vor wenigen
monaten das 49. lebeusjahr vollendet hatte.
Dieses vorzeitig abgeschlossene leben hätte noch schöne fruchte zeitigen kön-
nen, aber es ist, so kurz es war, schon ein reiches und gesegnetes gewesen. Auf
eine ehrende erwähnung in den Jahrbüchern der germanischen philologie würde Erd-
maunschon ansprach machen können, wenn er nichts als seine Untersuchung über die
handschrlften des Ütfrid veröifentHcht hätte, über deren gegenseitiges Verhältnis vor-
her verschiedene meüiungen bestanden hatten, wenn auch Lachmanns genialer Intui-
tion die Priorität des Wiener codex bereits klar geworden war und auch Kelle schon
mit gewichtigen gründen behauptet hatte, dass dieselbe handschrift die quelle der
übrigen gewesen sei. Das richtige ist hier durch Erdmann, der die verschiedenen
in den beiden Codices erkennbaren schreiberhäude zuerst genau unterschied, mit vol-
ler evidenz endgiltig festgestellt worden. Als ein geradezu bahnbrechendes werk ist
sodann seine Otfridsyntax zu bezeichnen, in der auf einem lange vernachlässigten
gebiete, das bekanntlich auch Jacob Grimm in seiner Deutschen grammatik nicht
vollständig durchmessen hatte, eine musterleistung schuf, an die nachher zahlreiche
uacbfolger, berufene uud unberufene, angeknüpft haben, — und ebenso musterliaft
ist seine grosse Otfridausgabe durch die liebevolle Versenkung in den geist des alten
elsassischen dichters, die sorgfältige beobachtung seines spi'achgebrauches und seiner
verskunst, und die nach Weisung der mitunter schwer zu ermittelnden queUen. Sodann
hat Erdmann in seinen Grundzügen zum ersten male seit Jac. Grimm wider eine
comparative behandlung der deutschen syntax versucht, freilich, da er nur das goti-
sche und die drei perioden des hochdeutschen in den kreis seiner betrachtung zog, in
weit engeren grenzen, als sie des grossen meisters weitschauender blick umspannte —
dafür aber auch mit eingehenderer erörterung der details.
Unsere Universität, an der er kaum sechs jähre gelehrt hat, wird dem dahinge-
schiedenen ein dankbares andenken bewahren, imd allen, die ihn kannten und schätz-
ten, wird der treue freund, der gerade uud furchtlose manu, der aus seinen antipa-
thieu kein hehl machte, aber auch mit warmer anerkennung des guten und tüchtigen
nicht kargte, der ehrliche, besonnene, zuverlässige forscher unvergesslich sein. Nicht
vergebens hat er gelebt, und ich möchte glauben, dass er dem finsteren Schnitter,
dessen band er über sich sah, deswegen so fest ins äuge blickte, weil dieser tröstende
gedanke ilm umschwebte. Denn wenn es etwas gibt, das uns mit der nichtigkeit
und Vergänglichkeit des lebens zu versöhnen im stände ist, so ist es das bewusstseiu
treu erfüllter pflicht und die hoffnung, dass von den Samenkörnern, die wir aus-
gestreut, das eine oder das andere aufgehe und fruchte trage.
Anmerkungen.
1) Hans Hermann Siegfried Albert Erdmann, geb. 30. december 1815 zu Alt-
felde, 1842 predigcr der St. Georgeugemeinde zu Thorn, 1849 nach Altfelde versetzt,
NEKKOLOG 233
1855 superinteudeüt daselbst, dann iu Pr. Holland, schliesslich (seit 1873) in Tilsit,
wo er am 27. febr. 1882 stai'b. Vgl. den neki'olog im (Köuigsberger) Evangelischen
gememdeblatt XXXVE (1882) nr. 11.
2) Erdmann gehört zu der nachkommenschaft des Wittenberger general-
snperintendenten Karl Ludwig Nitzsch (1751 — 1831), die eine als raanuscript für
die familie gedruckte „Übersicht" von G. Stier (3. ausg. , Zerbst 1884) verzeichnet.
Eine verhältnissmässig grosse zahl namhafter gelehrten ist diesem geschlechte ent-
sprossen: ausser dem im texte genannten historiker Mtzsch der zoologe Chr. Lud-
wig Nitzsch in Halle (1782 — 1837), die theologen Karl Imm. Nitzsch (1787 —
1868; prof. in Berhn) und Friedr. Aug. Berthold Nitzsch (prof. in Kiel); der
Philologe Greg. Wilh. Nitzsch (1790 — 1861, prof. in Leipzig); der kürzhch ver-
storbene gymnasialdirektor vmd schulrat Gottl. Stier in Dessau (1825 — 95); der
physiolog Felix Hoppe-Seyler (prof. in Strassburg); der germauist Friedr. Vogt
(prof. in Breslau) u. a.
3) De Pindari usu sj-ntactico. Halle 1867. 8.
4) S. Ztsch. VI, 252.
5) Bemerkungen zu Otfrid. Ztschr. I, 437 — 42.
6) Vgl L. Tobler, Ztschi-. VI, 243 — 48; E. Windisch, JLZ 1874 nr. 45; 1876
nr. 49; P. Piper, Germania XIX, 437 — 43; Holzmann, Ztschr. f. völkerpsychol. VHI, 4;
E. Kölbing, Litt, centr. -bl. 1877 nr. 3; Eevue critique 1876 nr. 22.
7) Vgl. J. Zacher, Ztschr. XII, 496 — 500.
8) Ein ausschnitt aus dem Otfridcommeutar war bereits in den Beiträgen ziu"
deutschen phüologie (Halle 1880) s. 85— 118 mitgeteilt worden. Die übrigen publi-
cationen Erdmanns zur Otfridphilologie stelle ich nachstehend kurz zusammen: Über
Otfrid n, 1, 1 — 38 (Progi-. des gymnasiums zu Graudenz 1873). Zur erklärang Ot-
frids, Ztschr. V, 338 — 49. VI, 446 — 49. Zur ab wehr iu Sachen Otfrids , Litt, centr. -
bl. 1882, sp. 982 nnd Litt, blatt f. germ. u. rem. phil. 1882, sp. 293 fg. Anzeige von:
Otfrids Evangelienbuch hsg. von P.Piper, Ztschr. XI, 80 — 126. Anzeige von Kelle,
Glossar zu Otfrids Evangehenbuch, Ztschr. XI, 238 — 39. Kleine nachtrage zu Otfrid,
Ztschr. XVI, 70. Anzeige von: P. Schütze, Beiträge zur poetik Otfrids, Ztschr. XX,
380 — 81. Anzeige von: Loeck, Die homilien- Sammlung des Paulus Dlaconus die
unmittelbare vorläge Otfrids, Ztschr. XXIU, 474 — 75. Anzeige von: Tesch, Zur
entstehungsgeschichte des Evangelienbuches von Otfrid, Ztschr. XXIV, 120 — 122.
Anzeige von: Ingenbleek, Der einfluss des reimes auf Otfrids spräche, Anz. f. d. alt.
VI, 219 — 21. Anzeige von: Sobel, Die accente in Otfrids Evangehenbuch, Anz. f. d.
alt. IX, 239 — 41.
9^ Die ungünstigen Verhältnisse, die während der ausarbeitung des buches
obwalteten, haben leider den Verfasser verhindert, seine materialsammlungen zu ver-
vollständigen (wie denn das niederdeutsche und die litteratur des 15. Jahrhunderts
gänzlich unberücksichtigt geblieben sind) und verschiedene kleine Unebenheiten ver-
anlasst. Gleichwol sind die scharfen angriffe, die einzelne kritiker gegen das werk
richteten, zum grösseren teile unberechtigt. Vgl. H. Paul, Litt, centr. -bl. 1886, nr. 5;
0. Behaghel, Litt. bl. f. germ. u. roraan. phil. 1887, nr. 5; John Eies, Deutsche lit.
ztg. 1887, nr. 20; K. Tomanetz, Anz. f. d. alt. XIV, 1 — 32 imd Ztschr. f. d. österr.
gymnasien XXXLS, 72 — 76; H. KHnghardt, Ztschr. f. d. phil XXI, 110—116;
E. Maiiin, Ztschr. f. d. deutschen Unterricht I, 562 fgg. Auf zwei dieser recensionen
hat Erdmann sich veranlasst gesehen zu antworten: s. Litt. bl. f. germ. u. rom. phi-
lo! 1887, sp. 328 — 29 und Deutsche litt. -ztg. 1887 nr."26.
234 GERING
10) Wie eifrig Erdniaun alle neucrca orscheinungen auf dem gebiete der deut-
schen Syntax verfolgte, beweist die stattliche reihe von recensioneu, die er in unsere
Zeitschrift und m den Anzeiger für deutsches altertum lieferte: Anzeige von: Biu'ck-
hardt, Der gotische conjimctiv, Ztschr. IV, 455 — 59; von: A. Köhler, Der syntaktische
gebrauch des Optativs im gotischen, Ztschr. V, 212 — 216; von: Piper, Über den
gebrauch des dativs im Ulfilas, Heliaud und Otfrid — MoUer, Über den instrumen-
tal im Heliand und das homerische suflix y;* — Arndt, Versuch einer Zusammenstel-
lung der altsächs. declination und coujugation und der wichtigsten regeln der syntax,
Ztschr. VI, 120 — 126; von: Apelt, Bemerkungen über den acc. c. inf. im ahd. und
mhd., Ztschr. VII, 244 — 46: von: Kynast, Die temporalen adverbialsätze bei Hart-
manu von Aue, Ztschr. XIII, 128; von: Eoetteken, Der zi;sammengesetzte satz bei
Berthold von ßegensburg, Ztschr. XVII, 128; von: UUsperger, Über den modusge-
brauch in mhd. relativsätzen; von: Wunderlich, über den satzbau Luthers, Ztschi".
XXII, 491 — 93; von: Schachinger, Die congruenz in der mhd. spräche, Ztschr.
XXni, 378 — 79; von: WunderUch, Der deutsche satzbau, Ztschr. XXVI, 275 — 77;
von: Poeschel: Die Stellung des Zeitwortes nach «.«rZ, Ztschr. XXVII, 266 — 72; von:
Behaghel: Die modi im Heliaud, Anz. f. d. alt. III, 79 — 86; von: Bock, Über einige
fäUe des conjunctivs, Anz. f. d. alt. IV, 342 — 51; von: Behaghel, Die Zeitfolge der
abhängigen rede im deutscheu, Anz. f. d. alt. V, 364 — 71; von: Tomanetz, Die rela-
tivsätze bei den ahd. Übersetzern des 8. und 9. Jahrhunderts, Anz. f. d. alt. V, 371 —
373; von: Rost, Die syntax des dativus im ahd. und in den geistlichen dichtungen
der Übergangsperiode zum mhd., Anz. f. d. alt. VI, 87 — 88; von: Maurer, Die wider-
holuug als priucip der bildung von relativsätzen im ahd., Anz. f. d. alt. VII , 195 — 96;
von: Eies, Subject und praedicatsverbum im Heliand, Anz. f. d. alt. VII, 191 — 95;
von: Hittmair, Die partikel he in der mittel- und neuhochd. verbalcomposition , Anz.
f. d. alt. IX, 165 — 67; von: Kern, Die deutsche Satzlehre, Anz. f. d. alt. IX, 305 —
306; von: Starker, Die Wortstellung der nachsätze in den ahd. Übersetzungen, Anz.
f. d. alt. IX, 308 — 309; von; Dorfeid, Die fuuction des praefixes ^-e in der compositiou
mit verbis, Anz. f. d. alt. XII, 178 — 79; von: UUsperger, Der modusgebrauch iu
mhd. relativsätzen, Anz. f. d. alt. XII, 352. Dazu kommen noch einige kleinere selb-
ständige aufsätze über syntaktische fragen: Übei' got. ei und ahd. thax, Ztschr. VIK,
43 — 53; Über eiuteilung und benennung der nebensätze in der deutschen gramma-
tik, Zs. f. d. deutschen Unterricht I, 157 — 172; Zur geschichthchen betrachtuug der
deutschen syntax, Ztschr. f. völkerpsychol. XV, 387 — 413; Particip des praeteritums
in passivischer bedeutung mit haben statt mit sein verbunden, Ztschr. XX, 226;
Über eine conjectur iii der neuen Lutherausgabe (bespricht den gebrauch von tat
im nachsätze) , Ztschr. XXIII, 41 — 43; Noch einmaHäie im bedingungssatze, Ztschi-.
XXV, 431. Syntaktisches behandelt auch Erdmanns uachtrag zu Fränkels besprechimg
der Festschriften für E. Hildebraud (Ztschr. XXVII, 415 — 16), und ebenso sind seine
recensionen von Sievers' ausgäbe der Murbacher hymuen (Ztschr. VI, 236 — 42)
und von dem Ergänzungsbande zur Ztschr. f. deutsche philol. (Wissensch. monatsbU.
1875, s. 54 — 60) zum grösseren teile syntaktischen Inhalts.
11) Nord imd süd, wo er auch später noch kurze besprechungen über werke
der schönen litteratur veröffentlichte.
12) Ich stelle die recensionen, soweit sie nicht an anderer stelle erwähnt sind,
hier zusammen. Anzeige von: H. Eoetteken, Die epische kunst Heinrichs v. Vel-
deke und Hartmanns von Aue, Ztschr. XXIII, 354; von: Heyne, Deutsches Wörter-
buch, Ztschr. XXIII, 362 — 64 und XXVI, 132 — 34: von: Eberhard -Lyon, Syno-
NEKROLOCr 235
nym. handwörterbuch clor deutscheu spräche, Ztschr. XXIII, 364 — 65; von: Kelle,
Uatersuchungen zur Überlieferung, Übersetzung und grammatik der psalmen Notkers,
Ztschr. XXIII, 380 — 81; von: Wustmann, Allerhand sprachdummheiteu , Ztschr.
XXIV, 560—62; von: Kelle, Geschichte der deutsch, litteratur, Ztschr. XXVI, 113—19;
von: Lachmanns briefe an Haupt hsg. von Vahlen, Ztschr. XXVI, 267 — 68; von
"Wackernagel - Martin , Geschichte der deutschen litteratur, Ztschr. XXVII , 264 — 66.
13) Die vorarbeiten zu der ausgäbe sind z. t. verwertet in dem aufsatze: Zur
textkritik von Hartmanns Gregorius, Ztschr. XXVIII, 47 — 49, dem ein zweiter aiii-
kel noch folgen sollte; vgl. auch die anzeige von Schönbachs buch über Hartmann
von Aue, Litt, centr.-bl. 1895, sp. 130 — 32.
14) Zeugnisse eingehenderer beschäftigung mit der Gudrun sind die beiden
aufsatze: Lamprechts Alexander und die Hilde- Gudrun -dichtung (Ztschr. XVII, 223 —
226) und: Zur Kudrun (ebda 127 — 28).
15) Vgl. Erdmanns anzeigen von Breitmaiers Goethecult und Goethephilologie
(Ztschr XXV, 287 — 88) und von Blumes ausgäbe der Goethischen gedichte (Ztschr.
XXVI, 277 — 80).
16) Vgl. Erdmanns aufsatz: Zum einfluss Klopstocks auf Goethe , Ztschr. XXIII,
108 — 109 und die anzeigen von Hamels Klopstockstudien (Ztschr. XI, 371 — 72.
Xn, 380 — 81) und von Munckers und Pawels ausgäbe der Oden (Ztschr. XXU,
497 — 99).
17) Über F. M. Klingers dramatische dichtungen (Progr. des kgl. "Wilhelms -
gymnasiums) Königsberg 1877 (vgl. M. Eieger, Ztschr. IX, 493 — 96); über Klingers
Verhältnis zu Kant, Altpreussische monatsschrift , XV, 57 — -66.
18) Anzeigen von: Eieger, Klinger in der stiu'in- und drangperiode, Ztschr.
XII, 382; von: Klingers Otto ed. Seuffert, Ztschr. XIE, 127 — 28; von: Lenz, Die
siciliauische vesper ed. "W'einhold, Ztschr. XX, 255; von: Pfeiffer, Klingers Faust.
Ztschr. XXIII, 381—82 und Anz. f. d. a. XIV, 93 — 94; von: Lenz, Gedichte ed.
"Weinhold, Ztschr. XXIV, 410—11; von: E. Schmidt, Lenz und Klinger, Anz. f. d.
alt. V, 375 — 80; von: E. Schmidt', H. L. "Wagner, Anz. f. d. alt. V, 374 — 75. —
Die ältere epoche des 18. Jahrhunderts behandeln die anzeigen von G. Krause, Frie-
drich der grosse und die deutsche litteratur- (Ztschr. XVII, 127 — 28) und von Reiche,
Zu Gottscheds lehrjahren in Königsberg (Ztschr. XXV, 565 — 66).
19) In der handschriftenfrage stand er auf Lachmauus Standpunkt, war aber
weit davon entfernt, seine kühnen hypothesen und athetesen sänimtlich zu bilhgen.
20) Vgl. den aufsatz: Betrachtungen über handbüchor zur litteraturkunde mit
besonderer beziehung auf Kluge, Auswahl deutscher gedichte (Ztschr. f. d. deutschen
Unterricht H, 210 — 218), sowie die besprechungen von E. Lehmanns buch Über den
deutschon Unterricht (Ztschr. XXIV, 411 — 19); von Kerns Methodik des deutschen
untenichts (Anz. f. d. alt. X, 297-98 und XIV, 284); von G. Gerber, Die spräche
als kunst (Ztschr. f. d. deutschen Unterricht I, 363 fgg.) und von desselben Verfassers
buch: Die spräche und das erkennen, (ebda I, 372).
KIEL. HUGO GERINa.
236 GERING
LITTEEATUE.
NEUERE SCHRIFTEN ZUR RUNENKUNDE.
1) Söiiderjyllands historisko runemindesinsierker af dr. Liidv. F. A. Wim-
raer. Kjobenhavn 1892. (Festskrift fra Kjöbeuhavns universitet i auledning af
deres majesta^ter kong Christian IX" og dronning Louises guldbryllup den 26. maj
1892.) 55 s. gr. 4. (Nicht im buchhandel.)
2) De tyske runemindesmDerker af Ludv. F. A. Winniier. Kjobenhavn 1894.
(Sfertryk af Arboger for nordisk oldkyudighed og historie.) 82 s.
3) Norges indskrifter med de a?ldre runer. Udgivue for det Norske historiske
kildeskriftfond ved Soplms Bugsre. 1 ste og 2 det hefte. Christiania 1891 — 93.
152 s. 4.
1) Die unter 1) genannte festschrift ist (wie die im jähre 1887 erschienene
mouographie über den taufstein von Akirkeby auf Bornholm — vgl. Zs. 21, 487 fgg. — )
ein Vorläufer des von "Wimmer seit langen jähren vorbereiteten und jetzt im drucke
befindlichen^ grossen corpus der dänischen runenschriften. Sie behandelt 4 runen-
steine, welche sämtlich in der nähe der ehemaligen südgrenze des dänischen reiches,
am Danevirke bei Schleswig, gefunden sind und vor den meisten denkmälern der-
selben art sich dadurch unterscheiden, dass sie von historisch bekannten personen
errichtet sind oder historisch bekannte personen nennen und somit die möglichkeit
einer datierung bieten, die nicht lediglich auf sprachliche indicien sich stützt und
daher eine weit grössere Sicherheit gewährt.
Zwei von diesen steinen, der 1767 im Selker noer gefundene ., Wedelspang-
stein" (jetzt im Schlossparke von Luisenlund) und der 1887 entdeckte „Gottorpstein
(jetzt im museum schleswig-holsteinischer altertümer zu Kiel) hat eine und dieselbe
person ai;fstellcn lassen, Asfrittr, die tochter eines dänischen fürsten Octinkarr, welche
mit einem könige Gnüpa verheiratet war und diesem einen söhn namens Sigtryggr
gebar, der nach des vaters tode ebenfalls den königstitel führte. Dem andenken an
diesen söhn sind beide steine geweiht, deren Inschriften 'nach Wimmers lesung fol-
gendermassen lauten :
a) Asfripr karpi kumbl pann aß Sildriku sun sin q ui Knuhu, d. i. Asfrid
erriclitete dies deuknial nach (zum gedächtnisse) ihrem söhne Sigtrygg auf dem hei-
ligtume (der geweihten grabstätte) Gnupas;
b) Ui-Jsfn'pr karpi kühl pausi futir Upinkars qft Siktriuk kunuk siin sin
Ciuk Knubii, d. i. Wi- Asfrid errichtete dieses denkmal, Odinkars tochter, nach (zum
gedächtnisse) könig Sigtrygg, ihrem und Gmipas söhne.
Von den uamen, die diese beiden inschriften enthalten, werden Gnupa und
Sigtryggi- auch in historischen Schriften des mittelalters genannt. Den Gnüpa
erwähnt zuerst der bekannte sächsische chronist Widukind von Corvey, welcher
in seinen Ees gestae Saxonicae I, 40 berichtet, dass der deutsche könig Heinrich I.
nach dem glücklichen feldzuge gegen die Ungara (933) seine waffen gegen die Dänen
gewandt habe, um ihren raubzügen nach den friesischen küsten ein ziel zu setzen;
er habe sie besiegt, zur Zahlung eines tributs gezwungen und ihren könig Chnuba
genötigt, sich taufen zu lassen. Diese von einem Zeitgenossen der könige Heinrich I.
und Otto I. herrührende nachricht ist unbedingt zuverlässig; sie wird auch durch
1) [Der erste halbband, die historischen denkmäler umfassend, ist soeben
erschienen. Juni 1895. H. G.]
NEUERE SCHRIFTEN ZUR RUNENKÜNDE 237
eine notiz der Corveyer anoalen, dass Heinrich im jähre 934 die Dänen unterworfen
habe, bestätigt. Sodann finden wir Gnupa bei Adam von Bremen wider. Dieser
autor, der ein Jahrhundert nach Widukind die Gesta pontificum ecclesiae Hammabur-
gensis schi-ieb und für seine berichte über dänische geschichte mündliche mitteihmgen
des li;öuigs Sven Estridssou benutzen durfte, erzählt (I, 50), dass nach der „norman-
nischen niederlage" (d. h. nach der Löwener schlacht vom jähre 891) ein könig
„Heüigo'' in Dänemark geherrscht habe; diesem sei ein könig schwedischer abkunft,
namens Olaf, gefolgt, der das dänische reich unterworfen und die kröne auf seine
söhne Chnob und Gurd vererbt habe. An einer anderen stelle (I, 54) berichtet
Adam ferner, dass auf Olaf , der mit seinen söhnen in Dänemark geherrscht habe,
ein könig namens Sigerich gefolgt sei; dieser sei aber nach kurzer zeit von „Har-
degon'^, dem söhne Svens, der aus „ Nortmannia " kam, des reiches beraubt wor-
den. — Die dritte quelle ist die grössere Olafs saga Tryggvasonar (geschrieben um
1300), welche cap. Ü3 (FMS I, 116) folgende notiz enthält: „König Gorni zog mit
seinem beere in das reich in Dänemark, welches Reidgotaland genannt ward, gegen-
wärtig aber Jütland heisst, gegen den könig, der dort herrschte und den namen
Gni'ipa führte; sie kämpften in mehreren schlachten mit einander und das ende
war, dass Gorm jenen könig erschlug und sein reich sich unterwarf; darauf wandte
sich Gorm gegen den könig, der Silfraskalli hiess und kämpfte mit ihm, und Gorm
war allezeit siegreich und fällte schliesslich auch diesen könig. Dann gieng er nach
Jütland hinauf und fuhr so gewaltig mit dem heerschilde drein, dass er alle könige
südüch bis zur- Schlei vernichtete."
Durch combination dieser nachrichten mit den Inschriften der beiden steine
gelaugt Wimmer zu dem Schlüsse, dass gegen anfang des 10. Jahrhunderts, während
Gorm der alte über Dänemark herrschte, ein schwedischer mkiug, namens Olaf, bei
Heidaby (Schleswig) sich festgesetzt und eine herrschaft begründet habe, die er auf
seinen söhn Gnüpa vererbte. Dieser verstärkte seine macht durch seine Vermählung
mit Asfrid, der tochter eines jütischen häuptlings Odinkar, wui'de aber von Hein-
rich I. besiegt und zur- taufe genötigt (934). Als er dann (durch die Deutscheu
unterstützt?) sein reich nach norden auszubreiten versuchte , geriet er mit dem Dänen-
könige Gorm in kämpf und fand in diesem seinen Untergang. S ine herrschaft war
jedoch nicht vernichtet. Die witwe liess ihm, als protest gegen die erzwungene
taufe, nach heidnischer sitte ein prächtiges grabdenkmal errichten und regierte wei-
ter, zusammen mit ihrem söhne Sigtrygg. Dieser fiel jedoch (um 950) im kämpfe
gegen Harald blauzahn. Die mutter liess auf der geheiligten grabstätte (ui) des
vaters, nach der sie selbst den namen "Wi- Asfrid fiUirte, nun auch dem söhne die
ruhestätte bereiten und zu seinem andenken zwei ruueusteine errichten, einen mit
schwedischer (a) und einen mit dänischer Inschrift (b).
Dass diese darstellung im wesentlichen richtig ist, unterliegt keinem zweifei.
Die von Hermann MöUer erhobenen einwendungen ^ sind — von einem gleich näher
zu berührenden punkte abgesehen — belanglos und erledigen sich durch die höchst
wahrscheinliche annähme, dass Adam von Bremen den tod des Sigerich (d. i. Sig-
1) Anzeiger f. deutsches altert. 19 (1893) s. 11 — 32. Diese anzeige MöUers
hat eine kleine litterarische fehde zwischen ihm und AVimmer zur folge gehabt, die
in den Verhandlungen der kgl. dänischen gesellschaft der Wissenschaften sich abge-
spielt hat. Auf Wimmers erwiderung (Oversigt over det kgl. dauske videnskabs sel-
skabs forhandhnger 1893 s. 112 — 133) erfolgte eine replik Möllers (ebda s. 205 — 273)
und eine duphk Wimmers (ebda 275 — 284), auf welche Müller noch eimal (ebda
s. 370 — 403) antwortete.
238 GERING
tiyggr), der nach seiner Chronologie bald nach 911 erfolgt wäre, mindestens um ein
menschenalter zu früh angesetzt hat. Wie ungenau Sven Estridssons mitteilungen
gewesen sind, ergibt sich aus Adams bekenntnis, „dass er nicht wisse, ob alle die von
ihm genannten dänischen könige oder tyrannen gleichzeitig oder nach einander regiert
hätten." "Wir liaben also durchaus nicht nötig, den Gniipa, von dem Widukind und
die Olafs saga erzählen, für einen jüngeren nachkommen oder verwandten des von
Adam erwähnten gleichnamigen mannes zu halten, vielmehr sind beide ohne alle
frage identisch. Zweifelhaft ist meines erachtens nur, ob Wimmers hypothese, dass
Sig-trygg durch Harald blauzahn (c. 935 — 85) gefallen sei, richtig ist. Diese hypothese
ist nämlich nur möglich, wenn wir mit "Winimer annehmen, dass Adams bericht
von „Hardegon" einen doppelten fehler enthält: „Hardegon" ist nach "Wimmer eine Ver-
derbnis aus „Haraldus" und statt „filius Svein" müsste „pater Svein" eingesetzt wer-
den; Northmaunia endlich wäre als Norwegen zu verstehen und die woiie „veniens
a Northmannia" bezögen sich auf Harald blauzahns heerfahii unmittelbar nach dem
tode des norwegischen königs Harald graupelz (um 965), auf der er sich in Norwe-
gen huldigen liess und Hakon jarl als Statthalter einsetzte. Ich möchte eher glauben,
dass (wie Möller und neuerdings Gustav Storm^ annehmen), Hardegon eine entstellung
von Hardaknut ist, und dass mit diesem wirkhch der vater Gorms des alten gemeint
ist; dass dieser Hardaknut als gegner Sigtiyggs genannt wird, bemlit aber auf der
willkürlichen Chronologie Adams, der die schwedischen kleinfürsten in Schleswig,
welche tatsächlich Zeitgenossen von Gorm und Harald waren, zu Vorgängern dieser
könige gemacht hat. Storm (in dem unten angeführten artikel) sucht Winmiers hypo-
these direkt zu widerlegen: aber seine behauptung, dass der Sigtiygg unsrer beiden
steine mit dem könige Setricus identisch sei, der nach Flodoard von Reims im jähre
943 im kämpfe gegen den westfränkischen könig Ludwig fiel, ist doch schliesslich auch
nur eine hypothese , für die ein zwingender beweis nicht erbracht werden kann , obwol
ich ihre möghchkeit oder Wahrscheinlichkeit nicht in abrede stelle. Wäre Storms
annähme richtig, so stände ja für die errichtung der beiden steine ein sicheres datum
fest, das sich von Wimmers aus runologischen gründen gefolgerter datierung (um 950)
nur sehr wenig entfernte. Zu einem in jeder beziehung sichern resultat werden wir
aber bei der dürftigkeit und unzuverlässigkeit der quellen schwerlich je gelangen.
Günstiger steht die sache mit den beiden anderen steinen, dem von Hedeby
(c), welcher bereits 1796 gefunden wurde und gegenwärtig ebenfalls im parke zu
Luisenliind sich befindet, und dem Danevirkestein (d), der seit 1857 bekannt ist
und auf der spitze des Tvebergs bei Bustrup (sw. von Schleswig) auf seinem alten
platze jüngst wider aufgerichtet wurde. Die Inschriften der beiden steine lauten nach
Wimmers lesung:
c) J)urlf rispi stin pansi himpigi Svins eftir Erik ßlaga sin ias uarp taußr
pa trehkir satu twi Haipa bu ian han nas stiiri niatr tregR harpa hipr, d. i.
forolf, der gefolgsmann Svens, errichtete diesen stein nach (zum gedächtnis) seinem
genossen Erik, welcher starb, als die männer um Hedeby sassen (H. belagerten); er
aber war Steuermann (schiffskapitän) , ein ausserordentlich braver mann;
d) Suin hunnkr sati stin uftir Skarpa sin himpiga ias tias farin uestr
iqn nii uarp taupr at Hipa hu, d. i. könig Sven errichtete diesen stein nach (zum
gedächtnis) seinem gefolgsmanne Skai-Jii, der westwärts (nach England) gefaliren war,
jetzt aber bei Hedeby starb.
1) To nmestene fra Sonderjylland og deres historiske betydning in (Norsk)
Hist. tidskr. 1894.
NEUERE SCHRIFTEN ZUR RUNENKÜNDE 239
Die beiden zweifellos gleichzeitigen denkmäler, die nach ausweis der schrift
(es werden bereits punktierte runen angewendet) und der spräche um das jähr 1000
datiert werden müssen, beziehen sich, wie Wimmer ausführt, sicher auf dasselbe
ereigniss, eine belagerung von Schleswig, und der „Sven" in c ist ohne frage mit
dem „könige Sven" von d identisch. Dieser köuig Sven kann kein anderer sein, als
Sven gabelbart (c. 985 — 1014), der 994 und 995 in England kämpfte. Während
seiner abwesenheit wurde Schleswig von dem Schwedenkönig Erik dem siegreichen, der
sich an den Dänen, die seiner zeit seinen neffen StyrbiQrn unterstützt hatten, rächen
wollte, erobert und geplündert. Die Schweden setzten sich in der stadt fest, und
die erste aufgäbe, die Sven nach seiner heimkehr zu vollbringen hatte, war, die
fremden eindringlinge zu vertreiben, was ihm nach dem Zeugnisse unserer steine
auch gelang. Einem seiner gefolgsleute , der während der belagerung gefallen war,
SkarJ)i — vielleicht demselben manne, dernach Snorres Heimskringla (Ol. saga Tryggv.
c. 46) an dem unglücklichen zuge der Jomsvikinger nach Norwegen teilgenommen
hatte — weihte der könig selber auf dem steine d einen ehrenden nachruf; einem
anderen manne in gleicher Stellung, Erik, -wurde von seinem kameradeu T'orolf der
denkstein c gesetzt. Anhangsweise macht dann Wimmer noch darauf aufmerksam,
dass einem dritten krieger Svens, der ebenfalls bei Hedeby fiel, wahrscheinlich der
kleinere stein von Aarhus, dessen Inschrift nur verstümmelt erhalten ist, als denkmal
gestiftet ward: sie besagt, dass ein dänischer krieger, dessen namen bis auf das
schliesseude E zerstört ist, seinem kameraden Amundi, der bei Hedeby starb, den stein
errichtet habe — der grössere stein von Aarhus enthält dagegen, wie es scheint, eine
erinnerung an die sagenberühmte Schlacht von Svoldr, denn ihn weihten vier über-
lebende kämpfer ihrem genossen Ful, der „draussen im osten" fiel, als „die könige
mit einander kämpften". — Man sieht also, dass diese steine neben dem sprachlichen
(sie bezeugen als älteste denkmäler die aus dem urnordischen entwickelte ostskandi-
navische mundart) auch ein sehr bedeutendes historisches Interesse besitzen.
2) Die zweite schrift Wimmers müssen wir Deutsche mit ganz besonderer
freude begrüssen, weil sie sich ausschliesslich mit unseren heimischen runendenkmälern
beschäftigt und das leider so sehr dürftige material durch zwei überaus wertvolle
stücke, die bisher noch nirgends publiciort waren, bereichert. Es sind dies zwei sil-
berne Spangen, die 1885 bei Bezenye (3 meilen so. von Pressburg) auf einem grossen
begräbnissplatze aus der zeit der Völkerwanderung in einem frauengrabe gefunden
wurden. Dass beide spangen Inschriften tragen, ward jedoch erst 1893 von prof.
Hampel in Buda-Pesth entdeckt, der mit rühmenswerter Selbstlosigkeit die Veröffent-
lichung dem bewährtesten runologen überliess. Die Schmuckstücke entstammen augen-
scheinlich derselben werkstätte, und die runen, die sich auf ihnen finden, sind, wie
Wimnier vermutet, von derselben person eingeritzt. Auf der ersten spange (a) steht
öodahid unja, was Wimmer zweifellos richtig zu Oodahilcl icunja ergänzt; auf der
zweiten (b) Arsipoda segun. Somit bestehen die Inschriften nur aus je zwei werten:
aus einem weiblichen eigennamen und einem segenswort. Godahild ist ein sehr
bekannter name; Arsipoda dagegen ist bisher noch nicht nachgewiesen, wol aber kom-
men die beiden glieder, aus denen das compositum zusammengesetzt ist, auch ander-
wärts in frauennamen vor: ahd. -i^oda st. -hoäa in Siboda (d. i. Sigiboda?) und
Liupota (d. i. Liudboda?), altn. in Angrboda und Aurboda; Arsi- freilich nur ein-
mal in ahd. Arsirid, das Förstemann aus dem verbrüderungsbuch von St. Peter in
Salzburg belegt. Der a-rune in Arsipoda geht noch ein eigentümliches zeichen vor-
240 GERING
aus, das wie ein circumflex (A) aussieht und von Wimmer auch als ein solcher
erklärt wird, ob mit recht, ist mir zweifelhaft, da die Verwendung von accenteu in
runeninschriften sonst nirgends sich findet. Dagegen steht dasselbe zeichen am
Schlüsse der Inschrift des Braunschweiger reliquienkästchens (Stephens I, 381; Bugge,
Norges indskrifter med de asldre runer s. 119), also gewissermassen als Interpunktion,
und es dürfte möglich sein, dass es in ähnlichem sinne, nämlich als anfangszeichen,
auch auf der ungarischen spange b zu fassen ist, was bereits Sievers als Vermutung
aussprach. Wimmer dagegen ablehnt. Die beiden frauennameu bezeichnen nach Wim-
mer nicht die besitzerinnen, sondern die schenkerinnen der spangen, die viel-
leicht nennen in dem mn das jähr 700 gegründeten St. Peters - kloster zu Salzbui'g
gewesen seien und einer neugetauften Schwester im osten die kostbaren schmiick-
gegenstäude mit einem frommen wünsche übersandt hätten. Auf Baiern weist ja
unzweideutig das anlautende p in -jjoda, und nur in Salzburg ist bisher das noch
unerklärte dement Arsi- in einem namenbuche des 8. Jahrhunderts bezeugt; in die
ersten beiden deceunien desselben setzt aber Wimmer aus runologischen gründen die
spangeninschriften.
In dem übrigen teile seiner schrift behandelt Wimmer die wichtigsten der
schon früher bekannten deutschen runendenkmäler, von denen er vier (die spangen
von Osthofen, Freilaubersheim, Engers und Kerlich) aufs neue in Kopenhagen selbst
sorgfältig untersucht hat, und ergreift dabei natürlich die gelegenheit, sich mit Hen-
nings buche auseinander zu setzen. In der ablehnung mehrerer von Henning vor-
geschlagener deutungen trifft er mit mir (vgl. Zeitschr. 23, 354 fgg.) zusammen, im
allgemeinen aber lässt meines erachtens seine kritik dem verdienstlichen werke, das
Bugge günstiger und billiger beurteilt, nicht genügende gerechtigkeit widerfahren.
Über die resultate seiner forschungen sei im folgenden kurz referiert.
Die Inschrift der spange von Engers ist nach Wimmer von Henning mit unrecht
für eine fälschung erklärt, und man wird nach den aussagen der beamteu des Worm-
ser museums an der echtheit nicht zweifeln dürfen, zumal da auch einige augen-
scheinlich alte risse erst nach dem einritzen der schrift entstanden sein können. Die
inschrift leitb betrachtet Wimmer (wie seguii und icunja auf den spangen von Be-
zenye) als einen Segenswunsch und in der tat kann leub sehr wol „heil" oder „segen"
bedeuten (vgl. z. b. Hei. 497 liudiun te leoba). — Auf der spange von Freilau-
bersheim erklärt Wimmer natürlich die ersten drei werte {Boso icraet riina) ebenso
wie die deutscheu gelehrten, die sich mit diesem deukmal bescliäftigt haben (nur
sieht er runa wol mit recht für den acc. plur. an); die drei letzten werte liest er,
von Eieger (Ztschr. 5, 37.5 fgg.) und Henuing abweichend: pk dalina godd, was er
zu pik Dalina godda „te Dalinam donavit" ergänzt. Henning hatte zwischen go[l]d[a]
und gofdjdfa] geschwankt und Daßma statt Dalina gelesen, nach Wimmer sind
jedoch die beiden d in godd mit Sicherheit erkennbar, und die dritte rune in dem
weiblichen namen ist deutlich ein Z, wenn auch der Schrägstrich nicht von der spitze
des senkrechten ausgeht, sondern etwas tiefer steht. Der name Dalina (d. i. Dal-
linna) ist zwar fast nirgends bezeugt, erregt aber keine bedenken, da im ahd. der
männliche eigenname Tallo sich findet und die endung -iniia (< injö) in weiblichen
namen mehrfach vorkommt {Walahinna, Eörstemann 1231, Zaigina 1365, Zeivina
136G usw.). Über die casusform Dalina liat Wimmer sich nicht ausgesprochen:
natürlicii kann es nur der acc. sein, nicht der nom. (voc), welcher Valiin lauten
müsste. Auch eine datierung der inschrift hat Wimmer nicht gegeben : dass sie älter
ist als unsere litterarischen denkmäler, beweist das anlautende w in wraet^ das schon
NEUERE SCHBIFTEN ZUR EUNENKUNDE 241
im 8. Jahrhundert geschwunden war, und das unverschobene t in demselben worte:
wir werden sie wol in das 6. Jahrhundert zu stellen haben. — Zu einer sicheren
deutung der Inschriften auf den spangen von Osthofen und Charnay zu gelangen,
hält "Wimmer für hoffnungslos: auf der ersten fehlt wahrscheinlich der anfang, der
auf dem verlorenen teile der fibula gestanden haben dürfte, uud aus den erhaltenen
Wörtern {go . . : furad . . de: ofileg) lässt sich ein sinn nicht gewinnen — imd auch
für die legende der zweiten {upfnpai : iddan : liano) ^ die bisher allen erklärungsver-
suchen trotz bot, scheint er weitere bemühuugen für fruchtlos anzusehen. Dennoch
möchte ich, auf die gefahr hin, die zahl der verfehlten hypothesen um eine zu ver-
mehren, eine Vermutung nicht zurückhalten. In upfnpai suchte Henning (und neuer-
dings Bugge, Norges indskrifter s. 140 — s. u. s. 244) den opt. praes. eines compo-
situms von fmpan; es ist jedoch auch eine andere annähme möglich, nämlich das
wort als dat. sg. zu erklären, und zwar als dat. sg. eines männliclien «-stammos.
Dass diese stamme ihren dat. einmal wie die feminina mit der cndung -ai bildeten,
also *balgai wie anstai, ist heute allgemein anerkannt. Nehmen wir nun mit Bugge
a. a. 0. an, dass in upfnpai das n an eine falsche stelle gekommen ist (wie das r
in purlf statt pidfr auf dem steine von Hedeby), und dass es eigentlich hinter dem u
hätte stehen müssen , so liesse sich iinpfpai zu [hjunpjajfaßai ergänzen. Der abfaU
des h im anlaute hat auch in Iddan stattgefunden, da dieses wort (dat. sing.) doch
wol mit Henning als koseform eines mit Hildi- zusammengesetzten namens erklärt
werden muss, und auch das p als bezeichnung der tönenden Spirans (für die das
gotische bereits d venvendet) findet bestätigung in der Schreibung Burgunxiones
(Wackernagel, Kl. Schriften III, 339). Liano ist mit Bugge als nom. sing, eines weib-
lichen eigennamens zu fassen, dessen etymologie allerdings Schwierigkeiten macht.
Der von Bugge verglichene, aus viel späterer zeit bezeugte name Lianhabn bringt
uns nicht weiter, da im 6. Jahrhundert der diphthong ia in einem germanischen
werte kaum möglich ist. Wenn man also nicht annehmen will, dass zwischen den
beiden vokalen ein konsonant ausgelassen ist (uud welcher?), so bleibt kaum etwas
anderes übrig, als Liano für eine germanisierang des lat. Leaena (gr. vltiavu) zu
erklären, das bekanntlich als eigenname verwendet ist; übrigens könnte ja auch Idda
eine romanische geliebte gehabt haben. Die Übersetzung würde also lauten: „Liano
dem centurionen Idda", was. sich zum mindesten durch seine einfachheit empfiehlt. —
Was man auf der spange von Hohenstadt früher als runen ansah, sind auch nach
Wimmer, der hierin mit Henning übereinstimmt, nur zufällige ritzen im silber;
ebensowenig sind auf den spangen von Gandersheim imd Flomborn schriftzüge
zu erkennen. — Unecht sind die iuschriften auf dem speerblatte von To reelle und
auf der Kerlicher spange, die auch Henning für fälschuugen hält. — Über die
Spange von Balingen äussert Wimmer nur, dass Söderbergs lesung der ersten 4 zei-
chen (cililf) nicht richtig ist, er verzichtet aber auf eine deutung der inschrift, welche
er um 700 ansetzt, da ihm das original selbst nicht vorgelegen hat. — Das Ber-
liner thonköpfcheu endlich ist aus der reihe der „deutschen" denkmäler zu streichen,
da die runenzeichen durchaus mit den jüngeren nordischen typen übereinstimmen;
deutbar ist die inschrift, welche dem 12. Jahrhundert angehört, nicht, da sie ver-
mutlich nur die anfangsbuchstaben von Wörtern enthält.
3) Bugges grosses werk, von dem erst 2 lieferungeu vorliegen, wird sämt-
liche norwegische runeninschriften behandeln, welche mit dem älteren (gemeiuger-
manischen) aiphabet von 24 zeichen geschrieben sind. Er ordnet diese Inschriften
ZEITSCHRIFT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XXVIII. 16
242 GERING
geograiiliisch, indem er im äussersten Südosten, in Smaalenene, beginnt und von
hier aus weiter nach nw. vorschreitet. In den beiden heften sind erst 6 denkmäler
besprochen: die runensteine von Tune , Einang und By, der brakteat von Fredriksstad,
die bronzefigur von Fi'oshov und die spange von Fonnaas. Ich beschränke mich auch
dem Buggischen buche gegenüber im wesentlichen auf ein referat.
Die inschrift des Tunesteines (nr. 1), welche Bugge in die erste hälfte des
G. jahrliunderts setzt, rührt von zwei verschiedeneu bänden her. Von der ersten
stammen die alliterierenden, ßovaTQO(fr]Söv geschriebenen langzeilen:
Ek WnvaR after Woduride
tvitadahalaiban icorahto rfunoRj
„ich Wiw machte diese runen nach (zum gedächtnisse) dem gefolgschaftsgeuossen
Wodurid." Die von dem zweiten steinhauer eingehauenen werte liest Bugge:
[aftejR Woduride staina [■-.■] priJoR dohtriR dalidun (d. i. dailidun) ar-
hija sijostir (d. i. sibjostir) arbijauo
„nach (zum gedächtnis) dem Wodurid [bezeichneten] drei töchter den stein;
die nächstverwandten von den erben teilten das erbe."
Während der erste teil der inschrift (einschliesslich der ergäuzung) zweifellos
richtig gedeutet ist, erregt die erklärung des zweiten, für die Bugge selbst eist nach
mehrfachem schwanken' sich entschieden hat, verschiedene bedenken. Zunächst ist
es auffallend, dass die 4 mal vorkommende rune (), welche sonst den lautwert eines
nasalierton n hat, auf unserem denkmal (was schon Gudbr. Yigfüsson in seinem Cor-
pus poet. bor. — natürlich ohne jede begründuug — behauptet hatte), j bedeuten
soll. Indessen lässt sich diese annähme durch die ähnliehkeit der beiden zeichen,
welche eine Verwechselung zur folge haben konnte, rechtfertigen, zumal da man auf
diesem wege zu leichter erklärbaren wortformen gelangt. Sodann ist die Wortstellung
in der ersten satzhälfte (adverbiale bestimmung, objekt, verbum, Subjekt) so seltsam,
dass sie in prosaisclier rede kaum wider so vorkommen dürfte. Sie lässt sich, meine
ich, nur erklären, wenn man annimmt, dass den runeuschreiber eine ganz besondere
absieht leitete, etwa die, dasselbe Subjekt für die beiden asyndetisch neben einander
gestellten sätze zu verwenden, sodass wir also ein ano xoivov zu statuieren hätten:
„nach Wodurid bezeichneten den stein (auch) die drei töchter, (sie) teilten als nächst-
verwandte unter den erben- das erbe". Die orwähnung der erbteilung auf einem
grabsteine (die Bugge übrigens auch aus späterer zeit belegt), lässt sich für unseren
fall vielleicht dadurch erklären, dass die drei töchter erst nach einem rechtsstreite mit
den übrigen erben in den besitz des nachlasses gelangten und nun den stein zugleich
zu einem denkmal des siegreich durchgeführten processes machten. Bugges meinung,
dass die sibjostir arbijano und die Jrrijor dohtrir verschiedene personen seien, halte
ich zum mindesten für höchst unwahrscheinlich.
1) Dieses schwanken hat sogar die drucklegung des ersten heftes überdauert.
Es macht einen seltsamen eindruck, dass auf dem T). (am 1. juli 1891 gedruckten)
bogen mehreres zui'ückgenonimen wird, was auf dem 4. (der am 13. juui die presse
verliess) behauptet war. Konnte der druck nicht so lange verschoben werden, bis
Bugge seine untci-suchungen über das erste denkmal abgeschlossen hatte? Wozu
diese überhastung? Bei einem werke von so monumentaler bedeutung war es doch
wahrhaftig kein unglück, wenn die 1. lieferung ein paar wochen später ausgegeben
wurde.
2) Erbe ist hier natürhch zu verstehen als „jemand der auf den nachlass
anspräche erhebt". Damit erledigen sich die einwendungen von Fr. Burg (Zs. f. d. a.
38, 174 fg.), deren gewicht durch ein paar deplacierte witzchen nicht verstärkt wird.
NEUERE SCHRIFTEN ZUR RUNENKUNDE 243
Nr. 2 und 3, den brakteaten von Fredrikstad und die bronzefigur von Froi-
hov können wir überspringen, da es zweifelhaft ist, ob die auf diesen gegenständen
eingegrabeneu zeichen wirklich runen sind, und eine sichere deutung völlig ausge-
schlossen scheint. — Nr. 4 ist die erst 1877 aufgefundene spange von Fonnaas,
welche Bugge bereits 1888 in den K. Vitterhets historie och antiqvitets handlingar
zusammen mit der Inschrift des Rökstens ausführlich behandelt hatte. Seine dort
gegebene deutung, welche hier im wesentlichen widerholt wird, gehört meines erach-
tens zu dem besten, was auf diesem schwierigen gebiete je geleistet ist; sie ist ein
neues ruhmeszeugnis für die glänzende divinatorische begabung des ausgezeichneten
gelehrten. Die erklärung war hier mit besonderen schwieligkeiten verknüpft, da die
Wörter der Inschrift stark verkürzt sind, mithin eine ganze anzahl von zeichen ergänzt
werden mussten. Auf der spange steht:
nglslxlR wJcshtc ingRsangsrhse ihspidultl,
was Bugge folgendei'massen herstellt:
[A]ng[i]l[a]sk[a]l[k]R W[a]k[r]s hu[s]m(jR sa [i]ng[i]s[a]rh[i]s[h]e
[a]ih spi[n]dul tfijl, d. h.
„Angelskalk, "VVab's bausgenosse von Ingesarv, besitzt die gute nadel."
Die Wahrscheinlichkeit, dass diese deutung das richtige getroffen hat, wird
durch den umstand bedeutend erhöht, dass Bugge nach dem abschlusse seiner
arbeit erfuhr, dass in der schwedischen laudschaft Dalarne, die mit dem norwegischen
Rendalen, wo die spange gefunden ward, grenzt, tatsächlich ein ort namens Ingisarff
existierte, wie auch derselbe name noch einmal in Helsingland (nicht aber in Norwe-
gen) sich widerfindet. Bugge schliesst daraus, dass der oigentümer der spange,
welche in das 7. Jahrhundert zu setzen ist, wahrscheinlich in Dalame oder doch im
nördlichen Schweden zu hause war.
Nr. 5, der runenstein von Einang, nach Bugge um die mitte des '5. Jahr-
hunderts zu datieren, enthält nur die 4 werte: DagaR paR runo failiido. Bugge
hält an seiner früheren deutung fest, nach welcher paR als acc. plur. des demonstra-
tivpronomens zu fassen ist (= altn. pcer) und rimo ebenfalls acc. pl. (= altn. runar).
er übersetzt also: „Dag schrieb diese runen." Wimmer dagegen hatte paR als adverb
erklärt und runo als acc. sg. bezeiclinet; demgemäss würde zu übersetzen sein: „Dag
schrieb dort die rune." Aber das adv. paR (das übei'dies, wie Bugge nachweist,
sonst stets mit >•, niemals mit R gescbrielien wird) scheint mir dem sinne nach unmög-
lich, da man vielmehr J/er erwai'ten sollte; auch wäre der collective Singular runo
auffallend. Ich halte daher die erklärung Bugges für die richtige, wenn man auch
genötigt ist, mit ihm hiutei' runo ein R zu ergänzen.
Das letzte in den beiden heften behandelte norwegische denkmal ist der seit
dem 18. Jahrhundert bekannte runenstein von By (nr. 6), den Bugge in die mitte des
7. Jahrhunderts setzt. Er liest seine inschrift:
eirilaR HroRaR HroReR orte pat ciRina nfpji Alcti[b]u dR (d. i. dohtuR)
rmp^ (d. i. runoR markide paR EhaR)
und übersetzt: „der kriegerhäuptling Hror Hrors söhn maclite diese Steinplatte nach
(zum gedächtuis) der (seiner) tochter Alaiv; diese runen schrieb Eh." — eirilaR (=
altn. jarl, ags. eorl) ist aus eriluR entstanden ; das ci der ersten silbe betrachtet
Bugge als bezeichnung des ursprünglichen kurzen e, das im begriffe war, sich dem i
der folgenden silbe zu assimilieren: in weiterer entwickelung musste erilaR zu *irill
werden, das jedoch ö,mch jarl (eine bildung nach der analogie der pluralformen) ver-
16*
244 GERING
drängt ward. — Hrorer ist ein pati'ouymicum mit dem suffix -ja , das in dem Eaeru-
tculafir des Istabysteines ein seitenstück hat, wie auch in anderen ar. sprachen der-
gleichen bildungen begegnen (gr. Ttlccuiövt-og, Kqövios usw.), während sie in dem
historischen altnordisch gänzlich mangeln. — ciRina (acc. sing, eines st. n.) ist —
von dem veränderten geschlecht abgesehen — dasselbe wort wie altn. arinn, m.
, Steinplatte, herd", ahd. arin, n. „altaro, templum", erin, m. „fussboden, tenne"
(noch heute in ober- und binnendeutschen diall. ehren, Öhren). — iq^t (wahrschein-
ich opt gesprochen) ist durch den einfluss der labialverbindung aus ept entstanden;
die Schreibung mit ti findet sich auch auf anderen runendeukmälern. — Alaibu ist
der acc. des frauennamens , der in dem historischen altnordisch Alof oder Ölof ge-
schrieben wird. — Die deutung der letzten vier runen kann natürlich nur eine hypo-
these sein, die jedoch im ganzen nicht unwahrscheinlich ist: dass der name des runen-
ritzers mit der der rune \ identisch gewesen sei, ist ein glücklicher gedanke; nur
möchte mau wünschen, dass die existenz dieses Wortes als eigenname besser beglau-
bigt werde, als durch die inschrift des brakteaten vonAasum, deren lesung mir doch
höchst problematisch erscheint. — Bemerkenswert ist es, dass in der inschrift zwei-
mal die rune R im inlaut erscheint (in HroIiaR — HroRiR und in ciRina; beide Wör-
ter haben also ursprünglich ein s enthalten; durch das erste erhält die von Kluge
aufgestellte etymologie von nhd. rühren (<^ got. hroxjan) bestätigung — der von ihm
vermisste „auswärtige" repräsentant der würzel kräs ist von Bugge in griech. y.tndv-
vvfxt <Ci *xeQcc(TPv/Lit gefunden — und aRina stellt er zu lat. ara <^ asa, osk. aso.
An die deutung der inschrift von By hat Bugge uoch zwei sehr wertvolle
exkurse angeschlossen, von denen jedoch nur der erste (über die rune \) in heft 2
vollständig enthalten ist. Er führt hier den m. e. vollständig gelungenen nachweis,
dass dies vielumstrittene zeichen den lautwert eines zwischen e und i in der mitte
liegenden vocales (also eines geschlosseneu e) repräsentiere, stimmt also hierm mit
Henning überein, dessen ansieht ich schon 1890 (Ztschr. 23, 359 anm. 1) beigepflich-
tet habe. Besonders schätzbar ist diesei' exkurs ferner dadurch, dass Bugge mehrere
unserer deutschen luneninschrifteu aufs neue behandelt hat. Die zweite hälfte der
Freilaubersheimer spangeninschrift liest er (von Henning und Wimmer gänzlich
abweichend) odipo mal ina yoim[i] „der Segnungen zeichen (d. h. das kreuz) behüte
ihn"; auf der spange von Osthofen glaubt er die werte: gocl furaä[i] mi Ofile
„gott sorge für mich Offil" zu erkennen; die zeichen auf der grösseren Nordendor-
fer Spange ergeben ihm die legende: Ao a[n] Leubtcinie „Ao an Leubwine"; die
der kleineren: Birilio eik „ich B. habe" (also bi'agarmäl auf deutschem boden?!);
auf der spange von Ems steht nach Bugge nicht Madan, sondern Madali. Endlich
wird auch für die inschrift der Charnay spange eine neue deutung vorgeschlagen:
UnPa fapi Iddan Liano eia „Es gönnte (d. h. schenkte) dem bräutigam Idda Liano
sie (nämlich die spange)". Alle diese deutungsversuche werden von Bugge luir unter
reserve ausgesprochen: er macht mit recht darauf aufmerksam, dass wir uns hier
auf einem weit schwankenderen gründe bewegen, als im norden und England, weil
das material so äusserst gering und die inschriften zum grossen teile sehr undeutlich
und schwer lesbar sind, und er warnt davor, mit den lesungen wie mit gesicherten
resultaten zu operieren. Ich muss denn auch gestehen, dass mir seine sämmtlichen
deutungen inehrfache bedenken erregen; namentlich muss ich gegen die erklärung der
inschrift von Charnay denselben einwand widerholen, den ich seiner zeit gegen Hen-
nings lesung geltend machte: für mich ist die möglichkeit, dass ein noch nicht
erwähnter gegenständ durch ein pronomen bezeichnet sein könnte, ausgeschlossen. Ein
NEUERE SCHRIFTEN ZUR RUNENKUNDE 245
eigener deutimgsversuch , der von Bugge die Umsetzung einzelner zeichen entlehnt,
die runen "t-m aber von der eigentlichen Inschrift ausschliesst, worin ich mit Wim-
mer zusammentreffe (vgl. Ztschr. 23, 359 und Wimmer, De tyske runemindesniserker
s. 78), ist oben s. 241 fg. mitgeteilt.
Auf die fortsetzung des 2. exkurses, der die gotländische Inschrift der spange
von Etelhera (mik Mdrila tvorta) behandeln wird, dürfen wir besonders gespannt
sein, da derselbe den nachweis zu bringen verspricht, dass der dialekt der insel
Gotland ursprünglich nicht ein skandinavischer, sondern ein gotischer gewesen ist.
Auch sonst wird das weiter fortschreitende werk, dem wir rüstige förderung wün-
schen, für die Wissenschaft sicherlich reiche ertrage liefern und viel neue resultate
zu tage schaffen: so dürfen wir z. b. wol erwarten, dass die auf s. 143 ausgesprochene
meinung, die runenschrift sei von einem gotischen stamme erfunden, nicht ohne ein-
gehende begründung bleiben werde. Dieselbe ansieht findet sich ja bekanntlich schon
bei Henning (Die deutschen runeudenkmäler s. 152).
Die äussere ausstattung des norwegischen runenwerkes könnte besser sein: es
wird in dieser beziehung hinter Hennings bnche und namentlich auch hinter dem im
drucke befindlichen Wimmerschen corpus der dänischen runeninschriften (von dem
ich einzelne aushängebogen bereits im vorigen herbste einsehen durfte) zurückstehen.
Namentlich ist es zu bedauern, dass verschiedene ältere Illustrationen einfach repro-
duciert wurden, obgleich Bugge ausdrücklich hervorhebt, dass sie ungenügend und
fehlerhaft sind (vgl. s. 92 anm. , s. 94 anm. 1 u. ö.). Diesem mangel wird auch durch
die dankenswerten zwei phototypien einzelner teile des Tunesteines, welche neu ange-
fertigt wurden, nicht genügend abgeholfen. Die correctur ist mit grosser Sorgfalt
ausgeführt, und es sind daher nur einzelne kleinigkeiten zu berichtigen. S. 3, z. 2
V. 0. lies: Pauls Grundriss II, 2; s. 22, z. 11 v. u. ist ein und derselbe beleg zwei-
mal angeführt, denn der stein vonHobro (Thorsen Jyll. nr. 40) ist mit Liljegr. nr. 1499
identisch; dasselbe ist zu s. 100, z. 20 v. o. zu bemerken, da die nr. 45 ** und 85 bei
Stephens einen und denselben brakteaten bezeichnen; .^. 26, z. 9 v. u. lies: sammen;
s. 27, z. 16 V. u. ist das citat Liljegr. 1099 falsch, doch war ich ausser stände es zu
verificieren ; s. 32, z. 4 v. o. lies: Brugmann; s. 65, z. 11 v. o. : Ghv. 16, 7; s. 66,
z. 7 V. u.: Skääng; s. 85, z. 8 v. o. : Run verser 164; s. 109, z. 17 v. u. hätte gesagt wer-
den müssen, dass das upländische BjörkÖ (Liljegr. nr. 334) gemeint ist, da orte dessel-
ben namens, bei denen ebenfalls runendenkmäler gefunden sind, auch in Söderman-
land und Smäland liegen; ebda z. 2 v. u. lies: faßtiR for fapur; s. 119, z. 6 v. o.:
Dyb. fol. I (bis); s. 129, z. 23 v. o. : Strärup; ebda z. 22 v. o. ist die typographische
widergabe der rune // gänzlich verunglückt; zu s. 1*47, z. 1 v. o. ist hinzuzufügen, dass
der in der Themse gefundene „gegenständ" auf s. 120 ausführlich behandelt ward.
KIEL, 5. MÄRZ 1895. HUGO GERING.
Germanische mythologie. Von Elard Hugo Meyer. Berlin, Mayer & Müller.
1891. [Lehrbücher der germanisclien philologie L] XI, 354 s. 5 m.
„Die herleitung der wichtigsten mythenmassen aus den eindrücken, die der tod,
der träum und der beherrschende dreiklang der drei hauptwettererscheinungeu her-
vorrufen, ist hier zum ersten male durchgeführt. Werden diese Vorgänge im ganzen
als die richtigen grundlagen der mythenbildung anerkannt, so bin ich zufrieden"
(Vorwort). Eingehender hat der Verfasser über begriff und aufgäbe der mythologie
246 KAUFFMANN
s. 9 fgg. gesprochen. Nur besonders eindrucksvolle Vorgänge des menschenlebens und
der natur seien im stände gewesen zur bildung lebensfähiger mythen anzuregen : gehurt,
ki'ankheit, tod, aipdruck, träum, gewitter, wind, Wolkenzug (sonne , mond und steme,
tag und nacht, himmel und erde spielen unbedeutende nebenroUen). Die aus diesen
„Weltgegenständen " zusammengesetzten mythen sind zu glaubensartikeln geworden
und haben die gruudlagen der religion gebildet. Der cultus ist ein Spiegelbild jener
mythen , doch überwiegt in ihm das sittliche wie in der mythologie das phantastische.
Das phantastische erscheint in einer niedern, den ansprächen des gemeinen volkcs
dienenden form als seelen glaube , marenglaube, naturdämonenglaube ; in einer aus
den höheren ständen hervorgegangenen priester- und aristokratenmythologie als dämo-
nenglaube, götterglauhe , heroenglaube.
Was zunächst diese sonderung zwischen volks- und aristokratenmythologie betrifft,
so setzt sie sich in Widerspruch mit den ergebnissen der geschichte unserer poesie.
Wir hahen uns an diese um so mehr zu halten, als nach Meyer (§ 11) unter mytho-
logie zu verstehen ist die summe der hilder und dichtungen, in denen die religiös-
poetischen anschauungen eines Volkes von gewissen vergangen des mensclienlebens
und der natur ausgeprägt sind. Die mythologie, wie auch Müllenhoff sie gefasst wis-
sen wollte (Maunhardt, Mythol. forsch, s. IX. DA. V, 157), war ein eigenartiger
bestandteil der dichtung. Folglich hätte sie mit der litteraturgeschichte in erster linie
fühluug zu behalten. Gerade Müllenhoff hat nun aber als festen ecksteiu seiner for-
schung aufgestellt, dass wir nur eine charakterform in allen äusserungen des ger-
manischen lebens sich darstellen sehen (DA I, VII) und wir wissen, dass es die
germanischen Volksdichtung ist, in der er jenen Charakter widerzufinden glaubte.
Es ist „die noch in ungetrennter einheit schaffende natm-kraft des geistes", der
wir unsere älteste poesie verdanken, die unter dem ganzen volke gelebt hat, ein
lebendiges buch, wahrer geschichte voll, erst im hohen mittelalter mit der einheit
der nation uns verloren gegangen. Liliencron, ein zweiter Vertreter dieser richtung,
sagt in der vorrede zu seinen Volksliedern: „die alte Volksdichtung war berufen, die
ganze religiöse, sittliche und geistige entwicklung des volkes während der frühen
stufen seines lehens zu umfassen, die summe der geistigen entwicklung ist in jenen
zelten noch ungeteiltes gesamtgut des ganzen volkes gewesen, d. h. mit andern Avor-
ten, in jenen alten zeiten war die Wechselwirkung zwischen den trägern der bildung
und der grossen masse in eben dem masse leichter, als der stoff, den es mitzuteilen
galt, einfacher gedacht imd geformt war. Es erscheint aber dieser stoff als eine tief-
sinnige, allen gemeinsame Volksbildung, welcher noch kein gegensatz einer
andern dichtung oder därstellungsart gegenübersteht."
AYol können wir heutzutage den begriff der Volksdichtung nicht mehr im sinne
von Herder und den Eomantikern vertreten , aber es ist bekanntlich das ergebuis einer
allseitigen Würdigung der alten kultur, dass wir sie als ein „ungeteiltes gesamtgut des
ganzen volkes" betrachten: folglich ist das Meyersche System unserem germani-
schen altertum nicht conform. Seine mythologie ist mit den grundlagen der deut-
schen Philologie unvereinbar.
Die heute so beliebte, aber meiner ansieht nach widersinnige Unterscheidung
zwischen niederer und höherer mythologie ist ja auch von einem manne ausgegan-
gen, dem altdeutsche kultur und poesie fremd war. Aber es ist bedauerlich, dass
sich innerhalb der deutschen philologie forscher gefunden haben, die sich von jenen
leeren Schlagwörtern Schwarzens haben irre leiten lassen. Nach dem, was ich aus
der geschichte unserer Wissenschaft und unserer kultur gelernt habe, ist es für
ÜBER E. H. MEYER, GERBLVNISCHE MYTHOLOGIE 247
einen methodisch ai'beiteuden philologen unmöglich, die mythologische Überlieferung
des altertums auf zwei bildungsschichten des volkes zu verteilen.
Fernerhin miiss ich entschiedensten einspruch erheben gegen die meteorolo-
gische und psychopathologische mythendeutung. MüUenhoff hat den unabänderlichen
grundsatz aufgestellt, dass es sich für die philologcn nicht um deutung, sondern um
geschieh te des mythus handle. Wenn Meyer diesen grundsatz preisgibt, ist er
widerum über die grenzen der deutschen philologie hinaus. Ausserhalb der deut-
schen Philologie gibt es aber keine deutsche mythologie. Es liegt in der beschatfen-
heit unseres materials begründet, dass nur ein philologe die mythologische Überlie-
ferung verarbeiten kann. Das ist ja wol auch die ansieht des Verfassers, denn er
hat seine germanische jnytliologie in einer serie von Lehrbüchern der philologie erschei-
nen lassen. Was Maunhardt leider so spät erkannt hat, ist Meyer noch nicht klar
geworden: dass erst im lichte der philologischen einzelerklärung die aufgäbe des
mythologen wissenschaftlich begrenzt erscheint. Nun sagt aber Meyer (§ 17), seine
auffassuug des begriffs mythologie berühre sich mit dem, was wir heute philosophie
nennen. Er gehört also noch zu denen, deren einseitigkeit W. Grimm vergebens
betont hat, so lange für sie die aufgäbe darin bestehe, „das verborgene philosophem
in der doppelten Überkleidung, in welcher es jetzt sich darstellt, aufzusuchen. Was
dahin sich deuten lässt, muss als der eigentliche inhalt hervorgehoben, alles andere
als nichtssagend zurückgelassen werden" (Hs^ 447). Dem forscher verschwindet dabei
jede besonderheit einer bestimmten zeit, eines bestimmten volks, einer bestimmten
kultur. Es ist bezeichnend, dass diese richtung heute nur noch in der vaterlauds-
losen sog. vergleichenden mythologie vertreten ist. Eine vergleichende mythologie hat
jedoch vorerst noch gar keine existenzberechtigung. Gerade die „vergleichende my-
thologie" hat aber bei uns germanisten am meisten unheil angerichtet. Das einzige
heil liegt darin, sich von ihr gänzlich los zu machen und sie als gar nicht vorhan-
den zu betrachten. So wird es in der klassischen und semitischen pliilologie gehal-
ten und das ist nachahmenswert. Es ist dringend erforderlich, dass wer über ger-
manische mythologie schreiben will, bei männern wie Wellhausen, Rohde^ Wilamo-
witz, Curtius anfrage und bei ihnen sich rats erhole. Mit welcher Überlegenheit
haben diese männer sich über den Standpunkt erlioben, auf dem Meyer, Rödiger u. a.
stehen geblieben sind! Es wäre vielleicht ganz nützlich, an dieser stelle die an-
schauungen eines Wellbausen zu skizzieren , aber ich erspare es mir und verweise auf
seine „Reste des arabischen heidentums". Den nagel auf den köpf getroffen hat Cur-
tius (Berl. Sitzungsber. 1890, 1141 fgg.), wenn er den grundfehler der neueren darin
erkennt, dass man die novellistischen tändeleien der poeten mit dem Inhalt volks-
tümlicher gottesideen zusaminengetan , die mythologie zu einem rätselspiel gemacht,
aber den menschlichen keim aller religiou ausser acht gelassen habe; noch niemand
habe erklärt, wie ein vernunftbegabtes volk dazu kommen konnte, z. b. aus dem
winde die idee einer gottheit zu gewinnen. Sehr klar ist die grundlegende formulie-
rung der pi'obleme bei Wilamowitz, Hippolytos s. 23 fgg. Ich berufe mich auf sie
mit besonderem nachdruck, weil ich nirgends sonst ebenso zutreffend meinen eignen
Standpunkt ausgesprochen gefunden habe. Er sagt: „Der beliebteste aber gänzlicli
falsche weg einen gott zu verstehen, geht von der von ihm erzählten geschichte aus.
Man betrachtet sie als eine art rätsei, sucht sie zu deuten mit einer Sicherheit, dass
man sich darüber wundert, weshalb die menschen der vorzeit so viele hübsche
1) Vgl. namentlich: Die religion der Griechen. Heidelberg 1895.
248 KAUFFMANN, ÜBER E. H. MEYER, GERMANISCHE MYTHOLOGIE
geschichteu für ein paar bauale dinge ausgedacht haben, wie dass es so sehr bequem
ist, götter zugleich zu fassen und zu verflüchtigen. Denn meistens dreht sichs ums
wetter. "Wir müssen unmittelbar und concret empfinden, wie die menschen, in deren
herzen die götter entstanden sind, dann erscheinen sie uns. Es ist mühsamer als das
mythologische rätselraten, aber an dem ergebnis findet auch unser herz befriediguug.
An die götter haben sich wie an heroen novellenstoffe geknüpft (fliegende motive).
Die träger der novellenmotivo sind überhaupt gleichgültig. Das der novelle zu gründe
liegende motiv ist von so allgemeiner gültigkeit, dass es so wenig auf einen aus-
gaugspunkt zurückgeführt werden darf, wie dem veilchen u^nd der nachtigall von
botanikern und Zoologen eine bestimmte heiniat zugewiesen werden kann" usw. Man
gehe von der lektüi'e des Hippolytos an die Idg. mythen oder die vorhegende germ.
mythologie oder etwa auch au Scherers poetik und man wird über die ganze arm-
seligkeit der modernen naturmythologie aufgeklärt sein.
Meyer geht nun keineswegs in derselben auf. Auch er berücksichtigt Vorgänge
des persönlichen menschenlebens. Aber seltsamerweise wählt er daraus nur träum
und tod. Warum nicht auch geburt? Gehört „geburt" etwa nicht zu dem gross-
artigen wechselleben der weltgegenstände? {§ 15 — doch vgl. § 12.) Aber Meyers
System fordert die ausschliessung. Denn bloss der gefühlswert bestimme die mythen.
Es handelt sich für ihn also nur um eine auswahl der erfahrungen einer einzelseele.
Für ihn ist mythologie Sache des Individuums und zwar nicht einmal des ganzen
Individuums. Die philosophische wie die völkerpsychologische ethik der gegenwart
steht auf ganz anderem boden. Sie geht von der nie bestrittenen tatsache aus, dass
religion zu allen zeiten nicht sache der einzelseele oder eiuzelphantasie gewesen ist,
sondern sache der gesellschaft, öffentliche angelegenheit. Aus dem gemeinschafts-
ieben der alten völker heraus ist die blaue blume der mythologie entsprossen; reli-
gion ist eine erscheiuung des praktischen lebens wie sitte und recht. Wer dürfte
ungesti'aft eine einzelüberlieferung der alten sitte oder des alten rechts auf blitz,
donner und wölken deuten? Warum lassen wir dem religionshistoriker und mytholo-
gen zu, was wir dem rechtshistoriker wehren? Bei aller anerkenuung für die im
buche aufgestapelten reichhaltigen materialsammlungen muss ich aus den im vorstehen-
den entwickelten gründen das Meyersche werk als verfehlt und unfruchtbar ablehnen.
JENA. FR. KAUFFMANN.
Die redaction glaubt es nicht ungerügt lassen zu sollen, dass der Verleger
diesem buche eine so elende ausstattung gegeben hat, wie dies bei wissenschaftlichen
werken in Deutschland, und besonders bei gennanistischen , bisher unerhört war. Ein
so blasser imd schmieriger druck auf so jämmerlichem papier — die officin, aus der
er hervorgegangen ist, hat sich vorsichtiger weise nicht genannt — ist uns noch
nicht vorgekommen. Sollten diesem 1. bände von „Lehrbüchern der germanischeu
Philologie" noch andere von gleicher äusserer beschaffenheit folgen, so wäre das eine
Versündigung gegen die äugen der Studenten, welche diese bücher benutzen sollen.
Neuhochdeutsche metrik. Ein handbuch von J. Minor. Strassburg, Trübuer.
1893. XVI und 490 s. 10 in.
Weit ausgreifend und tief eindringend fasst Minor seinen stoff an, und beinahe
scheint es, als ob unter dieser fülle des iuhaltes die kunst der darstellung not leide.
Eein äusserlich schon fällt es auf, dass abgesehen von dem Vorworte und einer kur-
zen einleitung die gliederung so ganz auf das princip der Unterordnung verzichtet.
WUNDERLICH, ÜBER MtXOR, NHD. METRIK 249
In 8 abschuitteu , die alle gleichen rang beanspruchen, werden fragen aufgeworfen, die
7.ur gruppeabildung eigentlich herausfordern. Die Untersuchung über das wesen des
rhythmus nimmt sich wie die gegebene einleitung in den stoff selbst aus; quantität
und accent, wie sie der Verfasser im zweiten und dritten abschnitt behandelt, führen
uns das sprachmaterial nach der Seite vor, an der die metrik einsetzt, während
der vierte abschnitt (der versfuss oder der tatt) die metrischen einwirkungen auf die-
ses material kennzeichnet. In den abschnitten V — VIII entfaltet sich dann recht
eigentlich die geschichte der neuhochdeutschen metrik: die entwicklung der versgat-
tungen, der reimkünste, der Strophenformen.
Freilich, so ungezwungen sich diese gliederung aus der tatsächlichen dai'stel-
lung des Verfassers ergibt, so wenig entspricht sie den theoretischen ausführungen,
die das etwas abstrakte vorwort darlegt. Indem wir ein band buch der metrik auf-
zuschlagen meinen, wird uns diese Wissenschaft dort vielmehr möglichst ferne gerückt
als eine lehre von den „ principien der verskunst " (s. XII). Ausdräcklich wird die
„einführung der metrischen formen in die dichtung" aus dem beobachtungsgebiet aus-
geschlossen; „das historische kommt daher hier erst in zweiter linie in betracht".
Nun scheint es uns, dass schon eine principienlehre der metrik den boden unter den
füssen verliert, wenn sie ihre einsieht in das wesen der metrischen formen nicht aus
den Schicksalen zieht, die diese in der geschichte der dichtung erlitten haben. Ein
handbuch aber der metrik wird schon durch seine auf das praktische gerichteten auf-
gaben an das geschichtlich gegebene gewiesen. Und ein handbuch der neuhoch-
deutschen metrik vollends hat durch den zeitlichen rahmen, den es in den titel
aufnahm, das ziel so bestimmt abgesteckt, dass für die allgemeine erörterung der
principien gegenüber der darstellung der entwicklung in der nhd. poesie höchstens
der Spielraum einer einleitung übrig bliebe. Minor hat diese folgerungen nicht gezo-
gen; ihn verlocken vielmelir dogmatische teudenzen, ihn reizt die naturwissenschaftliche
Seite seiner aufgäbe, aber trotzdem tritt der geschichtliche faden, der die tatsachen
verknüpft, immer wider zu tage. Das historische moment erzwingt sich sein recht
selber und nötigt den Verfasser in der tat die grenzünien zu überspringen, die er
sich grundsätzlich gezogen hatte. Vor allem gilt dies für die letzten vier abschnitte
des buches (s. 183 — 472), in denen ganz entschieden die einführung der metrischen
formen in die dichtung den vorrang behauptet. Dem gegenüber zeichnet sich aller-
dings der erste teil (s. 1 — 183) mehr durch principielle erörterungen aus, und auf ihm
beruht auch das Schwergewicht der wissenschaftlichen tat des Verfassers. Es ist
demgemäss auch nur natürlich, dass abweichende auffassungen vor allem au diesem
ersten teil ansetzen. Wir lesen (einleitung s. 1): „Aber wie verschieden wird nicht
ein und derselbe vers von verschiedenen gelesen und wie wenige verstehen verse
vorzutragen! Wie soll man sie überhaupt lesen: scandierend nach dem vers-
schema oder rocitierend nach dem sinn? Und wenn man nun auch die kunst des
richtigen Vortrags besässe, so könnte man doch nicht immer zugleich vortragender
und unbefangener zuhörer, beobachteter und beobachter, Subjekt und objekt der
Untersuchung sein. Vielleicht dass wir einmal in dem phonographen ein theoretisches
Werkzeug erhalten, um auch den kunstvollen vertrag von versen zu fixieren." Die
frage, die hier aufgeworfen wird, gehört mehr in die lehre vom vertrag als in
die metrik. Der metriker fragt nicht sowol „wie soll man die verse lesen?"
sondern „wie werden sie gelesen?" Er steuert nicht so sehr auf die zu errei-
chende norm zu als auf die erkemitnis, wie weit die absiebten des dichters gehen
und wie sie, von seinen Zeitgenossen und nachkommen crfasst worden sind. Minor
250 WUNDERLICH
selbst sagt an anderer stelle (vorwort 1): „"Die liauptfrage bleibt in der neuhoch-
deutschen metrik immer: ist der vom dichter beabsichtigte rhythmus auch wirklich
in den werten und Sätzen enthalten? oder wie verhält sich ihr natürlicher rhythmus
zu ihm?" Auf solche fragen bereitet sich aber die antwort vorwiegend im bereich
der litteraturgeschichte vor, für ihre lösung bieten sich philologische hilfsmittel dar,
die der Verfasser gerade geneigt ist, aus der metrik auszuweisen. Die naturwissen-
schaft, die er breit an deren stelle setzt, ohne freilich damit gewisse Spielereien
moderner philologie befürworten zu wollen, kann nur im dienst der philologischen
methode hier von nutzen werden. Und an stelle der exakten messungen des Instru-
mentes, die erst von fernerer Zukunft erhofft werden, könnten schon jetzt die unbe-
fangenen beobachtungen des litterarhistorikers gute dienste leisten. Minor selbst
bietet dafür das beste beispiel durch die belege, die er gelegentlich aus dem reichen
Schatze seiner erfahi'ung beibringt. Allerdings dürfte hier die freude an einer künst-
lerischen norm nicht gar zu beeinträchtigend vor den mannigfaltigkeiten stehen, die
das tägliche leben in Wirklichkeit bietet.
Der erste abschnitt (s. 7 — 42) behandelt den rhythmus und stellt recht eigent-
lich das Programm des buches auf, weshalb auch hier vor allem die audeutuugen
des Vorwortes erweiterung finden. So greift gleich die grenzlinie, die zwischen der
metrik und der musik gezogen wii'd, auf diese ausführungeu zurück. In dem bestre-
ben, die gebiete reinlich zu scheiden und keinerlei beiwerk zuzulasen, war dort
selbst die komposition als faktor in der metrischen beurteilung eines liedes rundweg
abgelehnt worden. Wir haben „nirgends die absolute gewissheit ", dass „der koni-
ponist auch wirklich dem natürlichen rhythmus treu geblieben" ist (s. YIII). Wol
aber vei'mag meines erachtens ein historischer sinn aus der Verschiedenheit der Wir-
kungen, die ein lied in mannigfaltigen kompositionen widerspiegelt, bedeutsame auf-
schlüsse über das wesen des rhythmus zu ziehen. Es wäre freilich verkehrt, wollten
wir nicht zugestehen, wie scharf schon Minor das wesen des rhythmus erfasst und
welch bündigen ausdruck er diesem gegeben hat (s. 7 fgg.). Treffend vor allem knnn-
zeichnet er ihn in der art, wie er sich im neuhochdeutschen verse geltend macht:
„Lese ich gute verse bloss nach dem sinn vor (s. 18), so entsteht das gefühl
für den rhythmus in mir, der in ihnen liegt. Das beharrungsvermögen macht sich
geltend und hält ihn fest. Lese ich weiter, so bringt mir der folgende satz nicht
nur denselben rhythmus wider in orinnei'ung, sondern ich habe auch das bedürfnis,
in dem angefangenen rhythmus fortzulesen, der rhythmus trägt jetzt auch den
satz." Die Voraussetzungen des rhythmus sind (s. 12) „die dauer und die stärke",
in der Vereinigung beider elemente entsteht erst die künstlerische Wirkung. Auf dem
gebiete der musik schaltet der rhythmus mit beiden werten, quantität und accent,
nach freiem ermessen, in der metrik hat er an der natürlichen quantität oder der
prosodie der silben und in dem natürlichen accent gegebene grossen, mit denen er
sich auseinandersetzen muss. An diese ausfülirungen knüpft sich eine darstellung
des Verhältnisses, in dem der antike vers zum deutschen verse steht. Diese dar-
stellung gehört in unseren Zusammenhang, weil aus dem gesagten folgt, dass die
bezeichnung quantitierender, accentuierendei' vers als einseitigkeit zurückgewiesen
werden muss. Die quantität behält im deutschen, der accent im griechischen verse
nicht so hartnäckig den in der prosa behaupteten wert, darum erzwingt sich die
quantität im griechischen, der accent im deutschen verse die grössere beachtung.
Diesen beiden Vorbedingungen des rhythmus ist nun der zweite und dritte abschnitt
gewidmet. Minor spricht (s. IX) von dem „in der theorie und in der praxis auf
ÜBER MINOR, NHD. METRIK 251
unbegreifliche weise misacbteten satzaccent". Diese klage dürfte jedoch — für die
theorie wenigstens — viel eher die „Quantität" betreffen. Auch bei Minor selbst ist
dieses kapitel vielleicht am wenigsten abgerundet, dagegen fast am reichsten bedacht
mit selbständigen äusserungen oder mit anregenden hinweisen auf eine litteratur,
der man nicht leiclit in äholichen werken begegnet. Einwendungen lassen sich
auch liier uatürhch leicht erheben. Es fragt sich schon, ob die quantität nicht bes-
ser erst nach dem accent abgehandelt worden wäre, weil sie doch sehr stark unter
den Schwankungen dieses faktors leidet. Die prosodische beschaffenheit der einsil-
bigen Wörter (s. 46) hätte dann sicherere und festere umrisse erzielt. Dass es „im uhd.
keine konsonantische laugen" mehr gebe (s. 44), diese anfstellung lässt jedenfalls die
mundarton ausser betracht. Von Interesse natürlich ist das lu'teil, das Minor (s. 53)
über das kinderlied und die auszählsprüche fällt. Ihm steht die „metrische kunst"
hier „auf ihrer tiefsten stufe". Nicht ganz objektiv jedoch ist es, wenn er behaup-
tet, man wolle diese formen neuerdings „als das ideal einer nationaldeutschen metrik
hinstellen." Die richtung, \m\ die es sich hier ernstlich handelt, ist doch in erster
liuie auf erkenntuis der Vergangenheit, nicht aber auf normen für die gegenwart
bedacht. Für den accent, sowol was den wortaccent als was den satzaccent betrifft,
lagen schon ergiebige vorarbeiten bereit. Minor hat das material durchgängig selb-
ständig verwertet und sowol daraus wie auch aus eigenen beobachtungen manches
neue zu tage gefördert. "Wie schon für die quantität oben (s. 44), so ist auch hier
für den accent die physiologische grundlage breit herausgearbeitet (vgl. s. 61 u. a.),
die auch zur versetzten betonung (s. 125) und später zum Verhältnis von wortfuss und
versfuss (s. 158), zur satzpause (s. 193) und zur caesur (vgl. s. 260) mancherlei auf-
schlüsse gibt. Namentlich auf den uebenaccent fäUt aus ihr helleres licht (s. 77):
„zwei expirationsstösse hinter einander bereiten uns Schwierigkeiten und verursachen
eine kleine Stockung; ein schwächerer druck vermag sich wol nach einem stärkeren
stoss, aber nicht vor ihm geltuug zu verschaffen." „Selten steht daher der neben-
accent unmittelbar nach dem hauptaccent, niemals unmittelbar vor dem haupt-
accent."
Bei der lehre vom satzaccent, die meines erachtens zum eigenen schaden erst
nach dem wortaccent abgehandelt wird \ nimmt Minor nur gegen Behaghel, nicht
aber auch gegen Reichel Stellung (s. 87) , mit dem er sich doch gerade in den grund-
fragen vielfach berührt. Er hebt mit recht die relative natur des satzaccentes her-
vor, die eine einseitige erklärung aus einem princip ausschliesse. Er unterscheidet
den logischen accent, den Behaghel in erster linie berücksichtigt hat, vom empha-
tischen, mit dem er sich an Moriz anlehnt (s. 64). Daneben wird aus dem gram-
matischen Verhältnisse der Satzteile nnter einander ein grammatischer accent erschlos-
sen. Es lässt sich nicht sagen, dass in diesen uamen oder dass in dieser dreifachen
gliederung das wesen des satzaccentes sich erschöpfe, vielmehr liegt der wert dieser
anfstellung mehr darin, dass der Verfasser belege und beobachtungen für sie beibringt,
die zu neuer gruppenbildung anregen. Namentlich mit einem sekundär zugelassenen
princip, nämlich der rhythmischen gewichtsverteilung des accentes ist er den abso-
luten regeln Reicheis gegenüber im vorteil. Denn wenn freilich auch dieser gelegent-
lich (s. 33) mit rhythmischer accentverrückung operiert, so hat er ihr doch wenig
einfluss auf seine theorien gestattet. Dagegen berührt sich sehr nahe mit ausführun-
1) Minor gesteht (s. 99) eigentlich nur dem wortaccent bedeutung für die
metrik zu. Warum behandelt er dann den satzaccent so eingehend? Weil in ihm
die entscheiduug für den wortaccent liegt; s. u.
252 WUNDERLICH
gen Eeichels (s. 27. 31j die kräftige hervorhebung der zusammenfassenden kraft
des accentes: „Ich glaube der accent hat die neigung aufzusteigen und bei mehreren
ziisammengehürigen Satzgliedern, auf dem letzten zu kulminieren (s. 93). Diese nei-
gung haben wir schon bei den uueigentlichen kompositionen beobachtet und sie erklärt
zahlreiche ersclieinungen, für die sich sonst kein einleuchtender grund anführen Hesse."
Am Schlüsse (s. 103) emi^fiehlt Minor praktisclie Übungen über den accent anzu-
stellen. Vier hauptarten werden unterschieden und dem entsprechend der eingang
des Wilhelm Meister mit accenten versehen, über die sich namentlich in bezug auf
den „grammatischen accent" streiten Hesse. "Wir erhalten aber damit für die Unter-
suchung ein litterariches material in geschlossenem zusammenhange, wie wir es schon
im vorhergehenden oft statt der willkürlich erfundenen belege gewünscht hätten.
Ausserdem enthält die reiheufolgo der beobachtungen, die dei' Verfasser empfiehlt, eine
gewisse kritik der reihenfolge, die er selbst eingehalten hat. Die festsetzung der
hauptaccente der Stammsilben in den mehrsilbigen Wörtern, mit der begonnen werden
soll, steht in der mitgeteilten probe ganz unter der Herrschaft des satzaccentes. Als
zweiter Vorgang folgt die accentbestimmung „der einsilbigen Wörter auf grund der
regeln für die Satzbetonung" und erst in dritter liuic kommt der wortaccent zur ent-
schoidung der nebenaccente in frage.
Vom natüi'Hchen accent geht die darstelluug zum versacceut über und erregt
besonderes interesse natürlich da, wo sie den widerstreit der beiden accente besjjricht.
Minor unterscheidet drei formen dieses Widerstreites. Die ersten beiden fallen unter
dem gesammtbegriff der versetzten betonung zusammen (vgl. 112 fgg.), bei der
ein accent den andern niederzwingt. Der versaccent siegt vor allem bei derjenigen
dichtung, die eine innigere fühlung mit der musik ^ sucht. So ist mit recht hervor-
gehoben, wie bei Arndt der dactylische rhythmus die prosaische betonung einfach
mit sich reisst, weshalb gerade dieser dichter sich nicht als beispiel für natürliche
betonungsverhältnisse verwerten lasse. Dagegen siegt der wortaccent am liäufigsteu
in derjenigen dichtung, die anlehnung an die prosa sucht, vor aUem im fünffüssigen
Jambus des drainas. Minor hat hier, wie auch sonst gelegentlich, gerade in den
freiheiten dieses verses überraschende ausblicke in die vergleichende metrik eröffnet,
in erster linie in das wesen des romanischen verses. Den häufigsten ausgieich bei
dem widerstreit der accente liefert nun der dritte fall, die schwebende betonung
(s. 116 fgg.). Minor stellt diese erscheinung klar und einfach dar. In „Freiheit
ruft die Vernunft, freiheit die wilde begierde" stossen versaccent und satz-
accent zusammen und halten die betonung in der schwebe, ein ausgieich tritt dadurch
ein, dass inan tonhöhe und tonstärke, die sonst an dem einen accente vereinigt haf-
ten, trennt und auf die beiden ebenbürtigen gegner nun verteilt. In der widerholung
erhält also freiheit die tonhöhe auf der ersten, die tonstärke auf der zweiten silbe.
Im vierten abschnitt (s. 132 fgg.), der den versfuss oder den takt behandelt,
wird in betreff der taktdauer eine sehr wichtige beobachtung gemacht, die die ein-
zelnen versgattungen strenge unterscheiden hilft. Vor allem das daktylische vers-
mass lässt erkennen, dass bei der regelmässigen widergabe des reinen Schemas die
taktdauer leichter verletzt werden kann, als wenn die spoudeen eingemischt sind.
In den gemischten versen kommt es auf strenge einhaltung der taktdauer an, wenn
der rhythmus deutlicli sich einprägen soll; hier also kommen die Senkungen recht
1) Für Hans Sachs, den der Verfasser hier neben Arndt nennt, hat schon
Braune (Litt, centi'alblatt 1894 nr. 1) darauf aufmerksam gemacht, dass seine accente
mehr vom äuge als vom ohr beeinfl.usst werden.
ÜBER MINOR, NHD. METRIK 253
eigeutlicli in betracht. Die mittel zui" herstellung einsilbiger Senkungen (s. 173 fgg).
sind nicht so ganz befriedigend dargestellt. Die frage der elision und der apokope
wenigstens wird zu wenig mit berücksichtigung der lautlichen Verhältnisse behandelt.
Dagegen fällt für die frage des hiatus (s. 178 fgg.), der allerdings auch in der litte-
ratur ergiebiger behandelt ist, eine reihe treffender bemerkungen ab.
Mit dem 5. abschnitt beginnt das litterarhistorische moment sich mehr in den
vordergrimd zu schieben, hier nimmt auch die darstellung immer mehr die form
einer abrundung und Zusammenfassung der vorarbeiten au. Die eigenart des Verfas-
sers prägt sich am deutlichsten in seinen beitragen zum „Enjambement" aus, in sei-
nem bemühen, den „versschluss" möglichst unabhängig von bisherigen anschauungen
zu erfassen. Schwierigkeiten häufen sich auf Schwierigkeiten unter der band Minors
und man könnte fast fragen, wem damit gedient sei?*
Die einzelnen versarten erfahren eine liebevolle und aufklärende darstellung.
Wir heben die gedrungene Übersicht auf s. 334 heraus. „Es ist aber wol festzuhal-
ten, dass der moderne knittelvers mit dem Hans Sachsischen vers nichts zu tun hat.
Wie man sich diesen auch zurechtlegen mag" (vgl. s. 323), „über jedem zweifei steht
allein die festbestimmte silbenzahl, gerade diese aber fehlt dem knittelverse. Von
den vierhebigen jambischen oder trochäischen versen unterscheidet er sich eben
dadurch , dass auftakt und Senkungen fehlen oder auch mehrsilbig sein können. Er
entspricht also wol dem altdeutschen vierhebigen reimvers, aber nicht dem vers des
Hans Sachs. Von diesen beiden aber unterscheidet er sich wider dadurch, dass die
reimstellung meistens frei ist."
Besonders warm nimmt sich Minor der freien rhji;hmen an, die er (wenn
auch in deutlicher anlehuuug an Goldbeck -Loewe) aus eigenen zutaten beleuchtet.
Manchem leser gegenüber ist es übrigens auch heute noch notwendig, diese rhyth-
men als formen der poesie zu verteidigen, wie ein blick in die tageskritik deutlich
dartut. Gelegentlich der Stabreime nimmt Minor auf Jordan bezug. Der vers Richard
Wagners, der meines erachtens wesen und anläge des Stabreims viel innerlicher
erfasst hat, scheint wegen seiner Verbindung mit der musik ausgeschlossen worden
zu sein.
Schöne beobachtungeu enthüllen sich bei der darstellung des endreimes. Vor
allem ist es das Verhältnis des reimes zum sinn, die gegenüberstellimg von bedeu-
tenden reimwörtern imd von reimfüllseln , die sinnliche kraft des reims, die hierzu
anregten. Zu der empfindungsskala der vokale (s. 358) hätte sich noch anziehen las-
sen, was Helmholtz über die eigentöne der vokale sagt'. Unter den Strophenformen
(s. 382 fgg.) kommt auch die Nibelungenstrophe (s. 409) zur besprechung, allerdings
ohne dass der gegenwäiiige stand dieser frage und die Stellung des Verfassers deut-
lich sich kennzeichneten. Merkwürdig ist es überhaupt und für unsere neuhoch-
deutsche metrik überaus bezeichnend, wie wenig der Verfasser auf den älteren deut-
schen vers bezug nimmt. Freilich ist er auch einer reihe von parallelen ausgewichen,
die sich eigentlich ungesucht ergeben hätten (s. 122. 149. 169. 219).
Beim Sonett ist wol in anlehnung an die reichhaltige litteratur dieser strophe
das Verhältnis zwischen form und Inhalt in die darstellung eingewoben, es legt uns
den wünsch nahe, dass die metrik überhaupt dieser frage mit neuen kräften nach-
spüre. Sie gehört zu den reizvollsten aufgaben in der geschichte der dichtung.
1) Vgl. hierzu noch den nachtrag auf s. 480.
2) Lehre von den tonempfinduugen s. 163 fgg. Braunschweig 1802.
254 WUNDERLICH
Wir siud um ende. Es ist kaum angebracht, darauf hinzuweisen, dass mit
den einwänden, die da und doit zu erheben waren, nicht alle bedenken und zweifei,
zu denen das buch anregt, ausgesprochen sind. Denn wo solch ein weites gebiet
umgepflügt worden, kann nicht jede schölle der anderen gleichwertig sein. Aber der
same, der darein gestreut wurde, ist keimkräftig und tragfähig; und die frucht, die
aus den guten stellen spriesst, ist so reich und dicht, dass sie auch den steinigen
boden überschattet.
HEIDELBERG, 30. DEC. 1894. H. WUNDERLICH.
Der althochdeutsche Isidor. Facsimile - ausgäbe des Pariser codex nebst kriti-
schem texte der Pariser und Monseer bruchstücke. Mit einleitung, gramma-
tischer darstellung und ausfühiiichem glossar. Von 0. A. Heiicli. [Quellen und
forschungen 72.] Strassburg, J. Trübner. 1893. XIX und 196 s. Mit 22 tafeln.
20 m.
Hench hat seiner ausgäbe der Monseer fragmente (vgl. Ztschr. XXV, 117),
in denen ja auch bruchstücke des althochdeutschen Isidor dargeboten waren, nun
eine gesammtausgabe der für Isidor vorliegenden texte folgen lassen. Die eigent-
liche arbeit hat sich hier natürlich dem Pariser codex zugewant, wenn auch für
die Monseer fragmente einige besserungen und ergänzungen zu bemerken sind (vgl.
XXXIII, 5). Aus dem Pariser codex hatte schon Kölbing (Germania XX, 378 fg.)
zahlreiche lesarten der ausgäbe von "Weinhold berichtigt; Hench bestätigt auf grund
neuer zweimaliger collationen eine reihe dieser besserungen (vgl. VI, 7; VII, 8;
Vin, 7; IX, 11 u. a.), andere werden von ihm zurückgewiesen (IV, 1). Durch die
beigäbe der photographischen abdrücke sind wir in den meisten fällen in stand
gesetzt, die richtigkeit dieser angaben zu prüfen, nur in II, 17 bei der lesung
himüfleugendem werden wir im stiche gelassen. Kölbing (s. 378) gibt au: „zn himi-
les bemerke ich, dass es über ü geschrieben und wol zu erkennen ist", während
Hench entgegnet, „keine spur von es über «7, Avie Holtzmaun und Kölbing be-
haupten, sicher nie geschrieben." In dem photographischen abdruck entzieht
uns ein tintentleck die möglichkeit, irgendwelche Vermutungen über diesen Wider-
spruch zu treffen, und der herausgeber stellt nicht einmal die erwäguug an, ob nicht
vielleicht gerade hier die lösung des rätseis ruht. Über Kölbing hinaus gehen andere
lesungen, so gleich I, 2. 3 himilo gara/vi frumida für himilo garaivida. Die
wichtigste entdeckung in der handschrift betrifft jedoch das lied auf den heiligen
Anianus (vgl. einl. s. XI), das sich als späteren zusatz erweist. Damit fällt
für die Vermutung Holtzmanns, dass die handschrift in Orleans entstanden sei,
die wichtigste stütze, und danach ist die anmerkung in Denkmäler^ 11, s. 350 zu
berichtigen.
Die selbständige betätigung des herausgebers am texte macht sich haupt-
sächlich in konservativer richtung geltend. Einige änderungen AV'einholds siud init
recht von ihm wider beseitigt (XXXIV, 9. 10; XXXV, 10), einige Irrtümer des Ori-
ginals hübsch auf die vermutliche Ursache zurückgeführt (IX, 13; XXIV, 5). Die
noten konnten, da der paläographische apparat in den phototypieu enthalten ist, auf
ein minimum beschi'änkt werden und geben vorwiegend mitteilungeu zum lateini-
schen texte.
Der löwenanteil fiel der grammatischen darstellung und dem glossar zu. Mit
recht beginnt die lautlehre gleich mit einer eingehenden Untersuchung über die sil-
ÜBER HENCH, ISIDOR 255
bentrennuag. Nur wirft der lierausgeber hier mehrere formen zusammen. Auf-
schlüsse für die ausspräche sind am sichersten am zeilenschlusse zu gewinnen ; hier ist
die Stellung des einfachen konsonanten im inlaut {hei legim XXVI, 14), die Zer-
legung der diphthouge (XV, 20 ghe ist) sicher von Interesse. Innerhalb der Zeilen
aber scheint mir das graphische momout zu überwiegen. Hier sind es in erster
linie die buchstabeu, die ein zusammenwirken, einen anschluss begünstigen oder
verhindern. In manchen ähnlichen fäUen, die Hench für die lautlehre ausnutzen
möchte, lässt sich überdies seine angäbe aus der phototypie berichtigen. In I, 21
daucgal finde ich keine bemerkenswerte Kicke, in XLIII, 1 tmrxa steht das % von
a gleich weit ab wie von r. In anderen belegen überwiegt das begriffliche resp.
etymologische moment, vgl. XXXVI, 4 his scof heit.
lu der lautlehre ist im allgemeinen ein entschiedener fortschritt gegen die
frühere ausgäbe hervorzuheben. Allerdings wird auch jetzt noch gar manches dar-
gelegt und ausgesprochen, was nicht eigentlich in den rahmen des Isidor gehört;
aber diese ausführungen bieten docli nicht mehr referat, sondern eigenes urteil, imd
sie knüpfen an schwebende fragen der litteratur an. In vielen fällen ergibt sich die-
ser Übergang ungezwungen aus der darstellung selbst. S. 63 fallen zu der von Sie-
vers beobachteten anwenduug der längenbezeichnung neue beobachtungen ab; s. 65
werden die Schwankungen der (juantität unter dem einfluss der tonschwankuug unter-
sucht, imd s. 68 fgg. treten die vokale der nichthaupttouigen silben in den Vorder-
grund der betrachtung. Auch hier widerum wird die quantität in frage gezogen und
die länge im allgemeinen als Seltenheit festgestellt. Synkope und assimilation ergeben
wenig bemerkenswertes. Bei der darstellung des consonantismus interessiert vor
allem die deutung der zeichen ch und gh. Für ch verteidigt Hench den charakter
der aspirata, den er auch — aber auf der Vorstufe der spirantisierung — für das
Isidorische gh in ansprach nimmt. Im allgemeinen berührt das bestreben woltuond,
die scheinbare regellosigkeit bestimmter Schreibungen zu entwirren. Bald auf phone-
tischer grundlage als einwirkung bestimmter artikulationsstellen [vgl. s. 81 die wider-
gabe des germanischen ^, das nach vokalen und r tönende Spirans geblieben (f//?),
nach l und n media geworden ist ((/)], bald auf graphischer grundlage als neiguugen
und Irrtümer der Schreiber lassen sich die meisten Widersprüche lösen, und Hench
hat recht, wenn er s. 111 "Weinholds auffassung der lautbezeichnung im Isidor als
einer „ mechanischen mischung des mitteldeutschen mit dem bairischen " zurück-
weist. Hench hat in etwas knappem berichte über die frühere litteratur als dialekt-
gebiet des ahd. Isidor das südliche Rheinfranken aufgestellt, dem nur wenige und
leicht zu bewältigende erscheiuuugen entgegenstehen.
Der ausdruck der darstellung ist flüssig und für einen ausländer auffällig cor-
rect. In den anmerkungen verrät sich der Amerikaner durch starke kürzungen wie in
der oben angeführten stelle; nur selten begegnen kleine Verstösse wie s. 13 anm.:
Wcinhold will den zweiten dhen streichen. Einige druckfehler wurden schon
im Litterar. central blatt (1894 s. 189) gerügt; störend sind sie vor allem bei citaten
(s. 59 1. 26, 14). Unrichtig ist es auch, wenn s. 61 von der umlautform nemin
angegeben ist, dass sie zweimal erscheine. Sie ist, wie auch das glossar bezeugt,
weit häufiger belegt.
HEILlELBERG, 12. JANUAR 1895. H. WUNDERLICH.
256 WUNDERLICH
Deutsche gedichte des 12. Jahrhunderts. Herausgegeben von Karl Kraus.
Halle, Niemeyer. 1894. X und 284 s. Im.
In der litteratur, die sich mit der dichtung des 12. Jahrhunderts beschäftigt,
ist der name des herausgebers nicht mehr fremd. Gründliche belesenlieit und abwä-
gende besonneuheit sind ihm aiich bei seinem neuen grösseren unternehmen treu
geblieben; dazu erfreut uns die iiuerschrockenheit, mit der Kraus allen fragen, die
irgendwie in den stolf einschlagen, entgegengeht und nachspürt. Kein problem wird
behutsam umgangen; auch abseits liegende gebiete werden gestreift und oft mit vie-
lem glück erschlossen. Solcher i'eichhaltigkeit gegenüber muss das urteil des refe-
renten auf gleichmässige prüfang des ganzen dargebotenen verzichten; Zustimmung
und abwehr müsseu an einzelnen punkten ansetzen und sich für das übrige in allge-
meinere formen kleiden.
Es sind ganz versehiedenwertige gedichte, die in unserer Sammlung zusam-
mentreten. Verschiedener herkunft, verschiedenen stils, tragen sie als gemeinsames
kennzeicheu nur die Zugehörigkeit zum 12. Jahrhundert und den Charakter kleinerer
geistlicher gedichte. Das war auch das entscheidende moment für die auswahl die-
ser au den orten ihrer Veröffentlichung teilweise vergrabenen sprachproben. So ist
die Sammlung wol geeignet, die züge, die das 12. Jahrhundert seiner geistlichen dich-
tung aufgeprägt hat, im Zusammenhang und in ihrer entwicklung deutlicher hervor-
treten zu lassen, als es bisher der fall war. Namentlich wenn wir aus den reich-
haltigen anmerkungen des herausgebers die färben entnehmen, die das bild beleben,
sind wir gar wol im stände, mittelst der 13 gebotenen texte uns ein bild jener dich-
tung zu machen.
Wo es irgend möglich war, hat der herausgeber die handschriften von neuem
eingesehen, was nicht ohne ergebuisse blieb und die verdienstlichkeit der coUation
auch gut edierter texte widerum bestätigt. In der widergabe des textes schliesst
sich der herausgeber ganz nahe an den diplomatischen abdruck an, ein verfali-
ren, für das neben den allgemeinen gründen hier noch die besonderen Verhält-
nisse des Inhaltes sprechen. Wenn Kraus (einleituug s. 5) es als wünschenswert be-
zeichnet, „dass der mitarbeitende leser in den stand gesetzt wird, die
gewohnheiten des Schreibers sowie das lautbild einzelner stellen auf
bequeme weise zu überschauen", so gilt dieser wimsch eigentlich für alle unsere
texte. Gerade die „ergänzungen" und „conjecturen" auch neuerer zeit lassen so viel-
fach die lebendige anschauung von der beschaffenheit unserer handschriften vermis-
sen, statt deren dann herausgeber und leser sich gerne eine „Sicherheit vortäu-
schen, wo sie nicht zu erreichen", eine „regelmässigkeit, wo sie nicht
vorhanden ist."
Bei den dichtungen aus unserer mhd. blütezeit wird dieser misstand immer
unvermeidlich sein. Denn hier wollen auch die geniessenden leser berücksichtigt wer-
den, und ihr äuge darf man nicht dui'ch das beleidigen, was nur dem „mitarbeiten-
den" leser frommt. Dagegen bei texten von so wenig künstlerischem werte, wie
den vorliegenden, war die eutscheidung leichter. Unter den änderungen, die der
herausgeber am texte vornimmt, empfiehlt sich die absetzuug der verszeilen, die bes-
serung verderbter stellen und die ergänzung von lücken — vor allem in der beschrän-
kung, die Kraus sich auferlegt hat. Mit erfreulicher konsequenz ist hier überall der
räum innegehalten, der nach genauester berechnung auch wirklich zur Verfügung
steht. In wie weit die einführung der interpunktion mehr der bequemlichkeit als der
mitarbeit des lesei'S entgegenkommt, ist eine frage für sich. Auch die „Umsetzung
ÜBER KRAUS, GEDICHTE DES 12. JAHRHUNDERTS 257
der dialektisch abweichenden formen der reimwörter in die dem dichter gemässen"
öffnet den hypothesen und der Unsicherheit eine hintertüre; freilich in der hesonne-
nen handhabung des herausgebers ist sie geeignet, den absiebten, die er dabei im
äuge hat, zu dienen. An die texte selbst schliessen sich „abhandlungen und anmer-
kungen". Die abhandlungen bringen den textkritischen apparat und die stoffgeschichte
des einzelnen denkmals in abgerundeter darstellung vor äugen, die anmerkungen
führen das grammatische und stilistische material vor; sie freilich lassen die ordnende
und sichtende band trotz aller Zugeständnisse, die man geneigt ist, an diese form der
darstellung zu machen, entschieden vermissen.
Die reihe wird eröffnet dui'ch das schon von Schönbach (Zs. f. d. a. XXXII,
350 — 373) veröffentlichte gedieht „von Christi geburt", bei dem sich Kraus im
wesentlichen auf die zugäbe der anmerkungen beschränkt hat. Zu dem verse 49 is
id als (lad buch quit, der an und für sich auch als hauptsatz gelesen werden könnte
trotz der Wortstellung, wäre es nicht unnützhch gewesen, die stelle aus Karlmeinet
484, 39 im Wortlaut anzuführen : 7s id als dat buch quyt, So ivas id an der vespir
xyt. Für das zweite stück, den ,Rheinauer Paulus" hatte sich Kraus mit der von
Rödiger herausgegebenen Milstätter sündenklage (Zs. f. d. a. XX) auseinanderzusetzen,
die einen teil unseres gedichtes in veränderter anordnung enthält. Von den beweis-
mitteln, die Rödiger für einen anderweitigen Verfasser eben dieses teils vorfühii, ist
Kraus im stände, einige zu entkräften. Er geht aber nicht so weit, nun die Unteil-
barkeit des Rheinauer Paulus zu behaupten, trotzdem er die lautlichen und ortho-
graphischen Verhältnisse des denkmals einheitlich darstellt. Es wird hiebei von einem
„fortleben des Notkerschen kanons" gesprochen „allerdings mit beschränkung auf die
dentalis", die belege zeigen aber auch für diese mehr die ausätze als die regelmässi-
gere ausführung. Unter den anmerkungen ragen hier die syntaktischen heiwor, so
zu vers 39/40 der begrabin ivas, undi du in isxe (Mexe) uffsten und zu vers 107,
der anlass gab, die bedmgungen, unter denen das pron. pers. fehlen darf, von s. 88
bis 98 zu behandeln. So verdienstlich diese syntaktischen exkurse sind, zu denen
Heinzel seine Sammlungen geöffnet hat, so hätten sie doch durch eine übersichtlichere
und knappere anordnung gewonnen. Gerade in der 10 selten umfassenden reihe von
belegen für die ellipse des Personalpronomens zeigt sich das deutlich. Allerdings ist
hier wenigstens eine gliederung versucht, aber sie geht mehr äusserlich von dem
Schema aus, in das sie die belege einpasst, statt dass aus den besonderen Verhältnis-
sen der einzelnen belege die Unterabteilungen gewonnen worden wären.
Besonders hübsche ergebnisse bietet die abhandlung zum Baumgartenberger
„Johannes Baptista" (XU). Zunächst werden die bemerkungen des früheren her-
ausgebers Vomberg auf grund von genauen messungen mit dem cirkel zuinickgewie-
sen, sodann ergeben sich interessante aufschlüsse über das interpunktionssystem der
handschrift, das die Zeilenschlüsse markiert und die Strophen zusammenschliesst,
ebenso wie die Sinnesabschnitte durch gi-osse anfangsbuchstaben abgehoben und durch
zahlen fortlaufend registriert werden. Auf der grundlage dieser einzelheiten baut nun
der herausgeber weiter. Er macht es wahrscheinlich, dass der abschreiber mit ihnen
ziemlich genau an die vorläge sich anschliesst, und somit werden rückschlüsse auf
die genauigkeit der abschritt möglich. Ausserdem entspringt daraus eine liandhabe,
um die Kicken zwischen den fragmenten auszumessen und von solcher kenntniss aus
die ansieht von Mone zu widerlegen (s. 105). Auch die ansichten, die bei anderen
ähnlichen gedichten über beabsichtigte Symmetrie der Sinnesabschnitte geäussert und
abgewehrt worden sind, erhalten aus diesen ausführimgen eine neue stütze. Nach
ZEITSCHRIFT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XXVIII. 1«
258 WUNDERLICH
feststellung der termini a quo (Ezzolied) und aute quem (Kaiserchrouik) lehnt Kraus
auch die yermutung Scherers (QF XII, 69) ab, dass das gedieht von Arnold, dem
dichter der Siebenzahl und der Juliana, herrühre. Unter den anmerkungen sind
einige exkurse zum stil und formelschatz hervorzuheben (vgl. zu z. 37. 51. 52), die
vielfache einblicke in die technik jener zeit gewähren.
Ein anderer Johannes ßaptista, der des Adelbreht, reiht sich als nr. lY
an und gibt, da die blätter jetzt verschollen sind, dem herausgeber gelegenheit, seine
textkritische methode an abschriften aus neuerer zeit zu erproben. Deshalb nehmen
hier auch die conjecturen in den aumerkungen einen breitereu räum ein als sonst.
Vor andern möchte ich hier die conjectur zu z. 32 hervorheben, die graphisch und
stilistisch mit vielem glück verteidigt wiixl. Dagegen treffen die aumerkungen zu
z. 7 und z. 65 nicht ganz das richtige. Im ersten falle, wo es sich um den stum-
men Zacharias handelt, der stumm bleiben soll unxe an den tack . . daz dax kint
iverde gehorn da%. got darxii hat erkorn da% er wrde ein erweites ua%, kann man
nicht von einer inkongruenz der modi sprechen, noch weniger diese aus den von
Kraus angezogenen fällen belegen; es ist der Wechsel der modi hier viebnehr ganz
natürlich und in der Verschiedenheit des Zusammenhanges begründet. Im zweiten
falle do dax die mage veriumien (z. 65) ist mir das von Kraus gegen Mone und
Yomberg eingeführte demonstrativ in dieser Stellung und als objekt auffällig; die
belege, die Kraus beibringt, zeigen es stets in anderer Stellung. Auch dass die
Schreibung den in z. 73 an den ahtoden tage mit belegen beleuchtet wird, in denen
es sich unzweifelhaft um die schwache flexion des adjectivs handelt, scheint mir
verfehlt. Andererseits habe ich zu z. 54 dax gebot im min trechtin oder besser
schon zu in z. 76 die belege vermisst, die zu VII, 102 gegeben werden. Ebenso
hätte die stelle 192 — 194 wol auch zu bemerkungen anlass geben können, wo Johan-
nes den henker ins gefängnis treten sieht und es dann weiter heisst: dax, houhet er
im neiete, die hende hinne breitte. den hals er itn abe sluoch. Zu dem kurzen
stück von S. Veit (V), dessen Verfasserschaft für den obengenannten Adelbreht offen
bleibt, hat Kraus an zeile 52 eine reihe von belegen für die mhd. parataxe ange-
knüpft s. 141 — 146. Auch hier hätte sich empfohlen, die einzelnen momente schär-
fer herauszuarbeiten. In dem Satzgefüge ein heiden hiex, hylas der saz in einem
land' gotes e niht erchand' handelt es sich einerseits um die asyndetische
satz Verknüpfung, die Grimm Gr. IV s. 950 behandelt, und andererseits um den sel-
teneren fall der subj ektellipse bei solcher asyndesis, den Grimm Gr. IV s. 216,
MüUeuhoff Denkm. XXXII, 1. 54 u. a. belegen. Bei den Maccabäern (VI) ver-
wirft Kraus zahlreiche ergänzungen von Bartsch auf grund seiner genauen abmessim-
gen der lücken. Der Patricius (VII) führt in erster linie zu einer Untersuchung
der vorläge, deren feststellung nun eine hübsche darlegung der technik des bearbei-
ters ermöglicht. „Von der zukunft nach dem tode" (VIII) und S. Paulus (IX)
werden von Kraus wider als ein einheitliches werk angesprochen, in dem nr. VIII
die rolle einer episode spielt. Für den Albanus (X) gewinnt Kraus auf grund einer
eingehenden quellenuntersuchung genauere Zeitbestimmungen. Er erkennt den Trans-
mundus als Verfasser der lateinischen vorläge und beweist dies aus rhythmischen
figuren, die in dem lateinischen stil des Trausmundus ebenso wie in der lateinischen
Albanuslegende am satzschlusse zu belegen sind. Damit kommen wir auf die jähre
nach 1178, genauer vielleicht nach 1186 und auf das kloster Clairveaux, zu dem
auch die moselfränkische heimat des deutschen gedichtos leicht in beziehungeu zu
setzen ist. Beim Tun dal us (XI) widersprechen sich nach Kraus die abschritt und
ÜBER KRAUS, GEDICHTE DES 12. JAHRHUNDERTS 259
die aus den reimen zu erscliliessende mundart des Originals, die auf Mittelfranken
weist, indess die erstere für Hessen spricht. Auch, hier wird die arbeitsweise des
dichters anschaulich geschildert. Christus und Pilatus (XII) und ein sehr frag-
mentarischer Andreas (XIII) machen den beschluss. Man sieht, dass höhere und
niedere kritik beim herausgeber in reichem masse zur geltuug gekommen ist; um so
erfreuhcher bei'ührt es, dass den texten gegenüber beide formen der kritik so behut-
sam auftreten, vor allem, dass die metrik in diesen texten eine sichere und unge-
trübte quelle für ihre Untersuchungen vorfindet.
HEIDELBERG, 31. JANUAR 1895. H. WUNDERLICH.
New high german. A comparative study by William Winston Taleiitiu, late
Professor of modern languages Eandolph-Macon coUege, Virginia. Edited by
A. H. Keane, b. a. late professor of hindustani university College, London.
2 volumes. London, Isbister & Co. 1894. XIV und 456, X und 444 s. Gebun-
den 30 sh.
Es ist sehr bemerkenswert, dass schon vor dem jüngsten grossen aufschwunge
der akademischen Sprachstudien in Amerika dort dräben jenseits des oceans ein werk
wie das vorliegende hat entworfen und der voUendung nahe gebracht werden können.
Der Verfasser, geboren 1828 in Eichmond, Virginia, betrieb schon als junger mann
eifrig grammatisch -philologische Studien, die er 1860 — 186.5 an europäischen bildungs-
stätten (Paris, Berlin, Florenz) fortsetzte. Von 1868 — 1871 wirkte er als professor
am Eandolph-Macon College; dann hat er ohne öffentliche lehrtätigkeit seine gelehr-
ten arbeiten weiter geführt. Als frucht derselben hinterliess er bei seinem tode
(17. febr. 1885) das vorliegende werk nahezu vollendet; der (vor dem erscheinen
ebenfalls verstorbene) Londoner herausgeber hat sich bei seinen Zusätzen beschrän-
kung auferlegt und im wesentlichen nur das zum druck gebracht, was den ansichten
und absiebten des Verfasser entsprach. Weitere sprachvergleichende arbeiten des
Verfassers sind unvollendet geblieben (vgl. das vorwort zum I. bände s. VI).
Das werk legt zeugnis davon ab, dass der Verfasser in mühevoller arbeit und
mit Verständnis die fortschritte der deutschen Sprachwissenschaft verfolgt hat. Merk-
lich blickt namentlich das Studium der älteren werke von J. Grimm, K. Heyse,
Schleicher, Kehrein, Vernaleken hindurch; aber auch die resultate späterer linguisti-
scher forschungen mit einschluss von „ Verner's laio " rmd der ai'beiten der „ neiv
grammarians"- sind verwertet. Auf grund solcher arbeiten bietet der Verfasser eine
vollständige dai'stellung der nhd. spräche für Engländer, in einer zum teil eigentüm-
lichen, stets übersichtlichen und praktischen anorduung (I: pJionology; IE: morpho-
logy ; III: syntax; die weitere gliederung des einzelnen ist aus den sorgfältig gear-
beiteten Inhaltsverzeichnissen zu ersehen. Fast überall zeigt sich gründliche kenntnis
des gegenwärtigen nhd., dabei auch beachtung der in der lebenden spräche vorkom-
menden Schwankungen, sowie des Unterschiedes zwischen gewähltem und volks-
tümlichem ausdruck. Sodann ist der Verfasser — freilich nicht in aUen teilen
gleichmässig — bemüht, den gegenwärtigen gebrauch historisch zu begründen diu'ch
zurückgehn auf die älteren periodeu der spräche. Ich kann hier und für die leser
dieser Zeitschrift nicht alle teile des umfangreichen Werkes genau durchgehen; doch
kann ich im allgemeinen mit anerkennung für die ernste, keiner Schwierigkeit aus-
weichende arbeit des Verfassers mein urteil dahin aussprechen, dass die darstellung
17*
260 EKDMANN, ÜBER VALENTIN, NEW HIGH GERAUN
gi'iindlicli, klar und lehrreich ist, und dass man kaum eine wichtigere frage der laut-
und formenlehre , der Wortbildung imd der syntax des nhd. unberücksichtigt finden
wird; nur die moduslehre ist auffallend kurz behandelt.
Dieser allgemeinen anerkennung muss ich freilich einzelne ausstellungen folgen
lassen. Bisweilen hat sein lehreifer den Verfasser zu weit geführt, indem er dinge
zu regeln versucht, die in unserer spräche entweder überhaupt nicht geregelt sind,
oder doch anders, als er angibt. Dies gilt z. b. von der declination der eigennamen
im Singular und plural I, s. 139 fg.; dort sind nicht nur die guten Karle und die
guten Luisen erbarmungslos durch alle casus abgewandelt (später steht als gen. sg.
der kleinen Luisen, was auf einem anglicismus beruht), sondern auch die berühm-
ten Schlegel und die geistreichen Vossen (so!). Unser alter Eutiner J. H. Yoss hätte
gegen das gewählte beiwort vielleicht ebenso lebhaften einsprach erhoben wie gegen
die schwache declination seines namens! Unnütz ist die zahleumässig gegebene Über-
sicht der ablautenden verba s. 257; die folgende einteilung derselben ist für den stu-
dierenden der historischen grammatik sogar gefährlich, denn sie ist ausschliesslich
nach den gegenwärtigen nhd. gestaltungen des vocales der Stammsilbe gegeben, wo-
durch au vielen stellen die zurückführung auf die alten ablautsreihen erschwert wird.
An manchen stellen finden sich fehlerhafte wortformen, die ein im lebendigen gebrauche
der correcten deutschen spräche sich bewegender Schriftsteller nicht hätte schreiben
oder unverbessert durchlassen können. Vielleicht nur druckfehler (obwol der druck
sonst recht sorgfältig ist) sind 2iütxhwmllerin I, 140; er hat gesch wollt ^ geschmolxt
II , 80 ; scJinittschuh laufen II , 343 ; aber sicher keine dnickfehler (wie sich aus dem
zusammenhange ergibt) liegen vor bei log als praet. von liegen I, 259; erschallen
als part. praet. I, 260; die mamaens (pl. zu maina I, 151); dazu erwähne ich das
litterarische versehen II, 343 Kleists öden (statt: Klopstocks) ^ sowie dass I, 9 Otfrid
zum 8. Jahrhundert gezogen wird. Solche fehler kommen freiüch nur vereinzelt vor;
aber sie rechtfertigen den wimsch , dass Engländer bei einem so eingehenden Studium
der deutschen spräche, wie dieses werk Valentins es voraussetzt, auch bücher
benutzen mögen, die in deutscher spräche von Deutschen geschrieben sind. — Die
berufung auf einzelne, bei gelehrten Schriftstellern vorgekommene „satz- ungeheuer"
II, 443 genügt nicht, um das deutsche gegenüber dem modernen englisch herab-
zusetzen.
Die ausstattuug des Werkes ist sehr gut; störend wirkt jedoch der umstand,
dass die angeführten deutschen Wörter mit denselben typen gedruckt sind, wie der
englische text. Für die in Deutschland noch immer weit verbreitete fracturschrift
lege ich kein wort ein; aber man hätte ja gesperrte oder cursive lettern anwenden
können.
KIEL. 0. ERDMANN, (-f)
Zwei altdeutsche rittermären (Moriz von Craon, Peter von Staufenberg),
neu herausgegeben von Edward Scbröder. Berlin, Weidmann. 1894. .LH und
103 s. 3 m.
Massmann und Haupt haben für Moriz von Craon, Jänicke für Peter von Stau-
fenberg noch mancherlei zu tun übrig gelassen: so ist es denn mit dank zu begrüssen,
dass Schröder uns eine reinliche und hübsche neuausgabe beider gedichte als eine
art „einführung in die ritterliche epik sowol der frühen blute wie des fortschreiten-
den Verfalls" (s. V) darbietet. Die einleitung, die über alle wesentlichen punkte
LEITZMANN, ÜBER SCHRÖDER, ZWEI RITTERMAREN 261
genaue auskuuft gibt, bietet vielerlei neues und anregendes: vor allem erfahren die
historischen grimdlagen beider erzählungen und die personalien der beiden und dich-
ter zum ersten male eingehende beleucbtung; die frage nach der vorläge der grossen
Ambraser sammelhandschrift wird fördernd behandelt; chronologisch ist nach Schrö-
ders blendender darlegung der Moriz von Craon zwischen Gottfrieds Tristan und Her-
borts Trojadichtung zu setzen, eine datierung die wol künftig als feststehend wird
betrachtet werden müssen; als dichter des Peter von Staufenberg wird ein Egeuolf
von Staufenberg mit grosser Wahrscheinlichkeit nachgewiesen, der, in umfassendem
Studium Konrads von Würzbui'g lebend, das gedieht um 1310 geschrieben hat. Zu
s. IX möchte ich bemerken, dass mir im Moriz von Craon aus vers 59. 861. 1097.
1701 eine reimbindung e .• en wahrscheinlich vorkommt, die den dort aufgeführten
reimerscheinungen beizufügen wäre. — Mit der gestaltung der texte, zu der Schrö-
der noch Zeitschr. f. d. a. 38, 95 eiiäuterungen gegeben hat, kann man durchweg
einverstanden sein, namentlich soweit principielle fragen in betracht kommen, ßoe-
the verdankt der herausgeber ein paar glänzende korrekturen im Moriz von Craon:
nur die zu 787 ist überflüssig. 261/62 und 396 wäre ich bei Haupts lesart geblie-
ben; 630 hätte die handschriftliche losung bewahrt bleiben sollen; die änderungen in
den versen 91. 617 674 haben mich trotz Schröders versuchten bcgründuugen nicht
überzeugt. Warum ist 1169 das handschriftliche bi-a. in unTi verändert, dagegen 466.
1332. 1379. 1515. 1631 stehen geblieben? Der text des Staufenbergers repräsentiert
einen ganz wesentlichen fortschritt gegen Jänicke. — Leider wird es immer mehr
inode die real- und stilerklärung, überhaupt alles im engeren sinne erläuternde bei
ausgaben mittelhochdeutscher dichtungen zu unterdrücken. Auch in dem vorliegen-
den bändchen sucht man vergeblich nach eigentlichen anmerkungen. Das muster
Lachmanns und Haupts in diesem punkte verdient keine nachahmung. — Im Moriz
von Craon fehlen 211. 433. 1288. 1565. 1574 schliessende anführungszeichen.
WEIMAR, 17. JANUAR 1895. ALBERT LEITZMANN.
Zum Rosengarten. Untersuchung des gedichtes H von dr. Georg" Holz. 2. aus-
gäbe. Halle, Niemeyer. 1893. 151 s. 3 m.
Die gedichte vom Rosengarten zu Worms, mit Unterstützung der königlich
sächsischen gesellschaft der Wissenschaften herausgegeben von dr. Georg Holz.
Halle, Niemeyer. 1893. CXIV und 274 s. 10 m.
Eine der schwierigsten und teilweise undankbarsten aufgaben der mittelhoch-
deutschen text- und sagengeschichte hat hier eine geradezu meisterhafte lösung ge-
fiinden. Es gibt kaum einen mittelalterlichen text, der uns fast in allen gesichts-
punkten der wissenschaftlichen betrachtung grössere und peinlichere rätsei aufgab,
als der Grosse rosengarten. Mit einer genialen Sicherheit, besonnenheit und gründ-
lichkeit geht Holz in seinen beiden bü ehern zu werke , die von einer eminenten bega-
bung für textkritische fragen zeugen. Niemand wird von dem Studium derselben ohne
reiche belehrung scheiden, niemand gewiss auch ohne den eindruck, von mustergültigen
arbeiten kenntnis genommen zu haben. Ich bekenne mich von allen aufstellungen
des Verfassers bis in die kleinsten einzelheiten hinein vollkommen überzeugt; manche
anfänglich aufsteigende zweifei schwinden gänzlich, je mehr man inue wird, wie alles,
was Holz auseinandersetzt, in einem festgeschlossenen strengen zusammenhange steht.
Meine besprechung kann daher bis auf geringe kleinigkeiten nur referierend sein.
262 LEITZMANN, ÜBER HOLZ, ROSENGARTEN
In der zuerst genannten schritt gruppiert das erste kapitel (§ 1 — 6) die
gesammte Überlieferung, die seit Pliilipps buch (Halle 1879) einige wertvolle bereiche-
rungon erfahren hat; das thema, das der Verfasser sich vorgenommen, ist die Unter-
suchung der Eosengartenredaktionen II*' (hauptsächlich vertreten durch die von Bartsch
Germania 4, 1 herausgegebene Pommersf eider handschrift imd die fragmente einer
czechischen Übersetzung, von der Holz in § 4 eine neue rückübersetzung gibt), /"(in der
von "Wilhelm Grimm 1836 herausgegebenen Frankfurter handschrift) und 11^ (aus
einer Heidelberger und einer Strassburger handschrift gednxckt in von der Hagens
Heldenbuch 1820), sowie ihres gegenseitigen Verhältnisses. Mit diesem Verhältnis
beschäftigt sich das zweite kapitel (§7 — -19), an dessen schluss wir die Überzeugung
gewinnen, dass der von Philipp näher untersuchte text I dem vorauszusetzenden
urgedichte am nächsten kommt, während U und III jüngere, von einander unab-
hängige bearbeitungen sind, und dass die redaktion /", die näher zu H" als zu 11'^
stimmt, aus I und H kontaminiert ist. Drei weitere kapitel bringen zur bestätigung
dieser auf Stellungen die einzeluntersuchung, die fast vers für vers durchgeführt wird.
Das dritte (§ 20 — 38) untersucht den text IP: er ist im wesentlichen eine kür-
zende bearbeitung des Originals im Hildebrandston, dessen überliefenmg jedoch leider
sehr lückenhaft ist. Kapitel 4 (§39 — 59) bespricht die redaktion /", eine wenig
verbreitete koutamination aus I und II auf grund älterer und besserer vorlagen,
kapitel 5 (§60 — 65) endlich die fassung II ^ Im Schlussparagraphen (s. 150) wird
dann der so gewonnene Stammbaum aller überliefemngen aufgestellt. — Der in der
czechischen Übersetzung erscheinende name von Volkers mutter Perchylia, zugleich
einer Schwester der Brunhild, soll nach s. 15 anmerkung 1 frei erfunden sein; er
beruht vielmehr auf verworrener kenntuis verwanter sagen: in der VQlsungasaga 23
erscheint eine Schwester Brunhilds mit dem namen Bekkhildr als gemahlin Heimirs
(vgl. Grimm, Heldensage s. 350). Die s. 30 angenommene entlehnung aus Alphart ist
mindestens zweifelhaft.
Die einleitung zur ausgäbe zerfällt in 6 kapitel, von denen vier (s. II —
XXXI die Überlieferung und ihre gruppierung, s. XXXI — LIII der kontaminierte
text C, s. LIII — LXIX die kürzende bearbeitung P, s. LXX — LXXIH fremde bear-
beitungen) textkritischen fragen gewidmet sind. Hier kehren im wesentlichen die
bekannten resultate wider, durch viele scharfsinnige einzelbeobachtungen erhärtet. Nur
die redaktion F wird mit recht, worauf schon Singer, Anz. f. d. altert. 17, 36 hin-
deutete, etwas weiter vom urgedichte entfernt und an D angenähert. Die verwir-
rende masse der einzelheiten wird in sehr klarer disposition und in gewandtem stil
zur darsteUung gebracht. Das fünfte kapitel (s. LXXIV — C) behandelt heimat, alter
und spätere geschichte des gedichts: der älteste Eosengarten ist entstanden im bai-
risch - österreichischen Sprachgebiet, D in Thüringen, C in Rheinfranken; keine der
redaktionen ist älter als 1250, keine jünger als 1325. Endlich wird im letzten kapi-
tel (s. C — CXIV) die sage behandelt: auch hier zeichnet sich die vergleichende dar-
stellimg wider durch besondere klarheit aus. — Es folgen dann die texte A (s. 1 — 67),
D (s. 69 — 215) und F (s. 217 — 233); kritische anmerkuugen (s. 234 — 255) und ein
sehr notwendiges namenverzeichnis (s. 256 — 274) machen den beschluss. Schmerz-
lich vermisse ich erklärende, auf spräche, stü und realien eingehende anmerkungeu,
die ein reiches feld von interessanten betrachtungen darbieten könnten: die realien-
kunde kann aus den Eosengärten reichhaltigen gewinn ziehen; ebenso hätte der zusam-
menfluss echt volksepischer und spielmannsmässiger erzählungskuust, ein interessantes
kapitel der stilgeschichte , näher beleuchtet werden können. Indess sind wir trotzdem
SARRAZIN, ÜBER FRÄNKEL, SHAKESrEARE UND DAS TAGELIED 263
Holz für die schöne, langersebate ausgäbe von herzen dankbar und hoffen ihm noch
öfter auf diesem seinem eigensten gebiete zu begegnen.
WEIMAR, 12. JANUAR 1895. ALBERT LEITZJIÄNN.
Shakespeare und das tagelied. Ein beitrag zur vergleichenden litteraturgeschichte
der germanischen völlier. Von dr. Ludwig Fräukel. Hannover, Helwing. 1893.
VI, 3, 132 s. 3 m.
Der Verfasser, der neuerdings noch viele bausteine zu einer geschieh te des
dramas und der fabel von Romeo und Julia beigebracht hat, sucht in dieser von aus-
gebreiteter und vielseitiger belesenhcit zeugenden schrift nachzuweisen, dass die soge-
nannte tagelied -scene (HI, 5) der tragödie Shakespeare's durch deutsche oder nieder-
ländische tagelieder beeinflusst oder angeregt worden ist.
Ich kann, wie wol die meisten beurteiler, den nach weis nicht als gelungen
ansehen.
Allerdings legen die mehrfachen Übereinstimmungen in poetischen motiven und
im ausdruck einen solchen schluss sehr nahe; nicht leicht wird sich ihm entziehen
können, wer frisch von der lectüre der entsprechenden lieder "Wolframs von Eschen-
bach oder "Walthers von der Vogelweide, vom Studium des mhd. minnesangs über-
haupt, oder älterer deutscher volksheder an jene scene Shakespeare's herantritt.
Dennoch scheint Fränkels annähme, der ich früher selbst zuneigte, mir jetzt irrig;
und gerade die ausführungen des Verfassers haben meine abweichende ansieht noch
befestigt.
Fränkel dehnt seine vergleichenden betrachtungen sehr weit, fast über die
ganze erde aus. Er zieht nicht bloss romanische, slawische, griechische, sondern
sogar ägyptische, indische, chinesische, malayische, afrikanische, neuseeländische
lieder oder fabeln heran; auf der einen seite (91) citiert er Aristophanes' „Vögel", auf
der folgenden: „Komm herab o madonna Theresa". So zeigt er selbst, dass vieles
von dem , was er gern als charakteristische Übereinstimmung zwischen Shakespeare und
dem deutscheu tagelied hinstellen möchte, gemeingut der poesie verschiedener zeiten
und Völker ist.
Er scheint nicht genügend beachtet zu haben , dass übereinstimmende poetische
motive, vergleiche, redewendungen sich oft auch, mehr psychologisch als litterar-
historisch, aus der übereinstimmenden Situation und Stimmung erklären lassen. Be-
sonders leicht werden aber stamm- und geistesverwandte dichter wegen ilu'er ähn-
lichen auffassungs- und fühlweise, auch unabhängig von einander zu einer ähnlichen
poetischen gestaltung desselben Stoffes kommen. Daher darf man wol auf paral-
lelen wie:
tlie day is broke — der tag bricht auf
it is not yet near day — ex, ist dem tage unndhen
tvilt thou he gone — tvar gähest also balde
kein gewicht legen. Dass der ritter aufbrechen will, die geliebte ihn zurückhält,
dass von tagesan brach gesprochen, dass tag, Sonnenschein, lerchensang verwünscht
werden, dass abschied genommen, nach der widerkehr gefragt, gott angerufen wird,
sind doch so selbstverständliche consequenzen der Situation, dass man wegen solcher
übereinstimmenden Wendungen keine nachahmung anzunehmen braucht.
264 SARRAZIN
Will man aber nach Vorbildern dieser scene suchen, so bietet sich wenigstens
eines in einer englischen dichtung, die Shakespeare nachweislich gekannt hat. Frän-
kel meint zwar (s. 31), dass die „Bailad of Two Lovers" in England der „einzige
tageliedmässiger Stimmung verwandte klang" vor Shakespeare sei. Er scheint aber
die tagelied - scene in Chaucer's Troilus and Creseide übersehen zu haben.
B. III, V. 1415 But tchan the cock, commune astrologer
Qan an Ins brest to beate, and after eroive,
And Lucifer, the daies messanger,
Gan to rise, aiul oiit his beames throive,
— ■ — — — than anone Creseide
With kerte sore, to Troilus thus seidc:
„Mine hertes life, my trust, all my pleasaunce,
That I tcas borne alas, that tue is wo,
That day of us mote make disceveratince,
For tiine it is to rise, and hence go,
Or elcs I am lost for ever tno :
. 0 night alas, ivhij n'ilt thou over tis hove,
As long as ivlian Alcmena lay by Jove"
This Troilus — — — — —
Oan there withall Ch-eseide his lady dere
In armes straine, and hold in lovely manere
„ 0 cruell day , accuser of the joy
That ?iight and love have stole, and fast yicrien,
Accursed be thy coming into Troie,
For every bowre hath one of thy bright eycn:
Envious day, tvhat list thee so to spien,
What hast thou lost, ivhy seekest thou this place?"
Da nun Shakespeare Chaucer's epische dichtung dramatisiert hat, da er schon
in einem jugenddrama, dem Kaufmann von Venedig (V, 1) darauf anspielt, so ist es
gar nicht unwahrscheinlich, dass er bei der abfassung der tageliedscene durch Chaucer
angeregt und beeinflusst wurde. JedesfaUs lag ihm diese heimische dichtung näher
als deutsche oder holländische lieder.
Allerdings dient bei Chaucer der hahn, nicht die lerche als wecker; und von
der nachtigall ist gar nicht die rede. Hatte Shakespeare aber wii-klich nötig diese
poetischen requisiten erst aus deutschen liedern zu borgen? Fränkel sagt (s. 92):
„Das auftreten der uachtigall bei Shakespeare ist also ein erbstück des tageliedes."
Dieser aussprach ist charakteristisch für den Stubengelehrten, der, ohne viel eigene
naturbeobachtung und phantasie, in jedem poetischen bilde litterarische beeinflussung
wittert.
Als der achtzehnjährige "William Shakespeare im sommer 1582 sein erstes,
verstohlenes liebesglück genoss, im dorfe Shottery bei Stratford, hat er gewiss von
deutschen oder holländischen tageliedern nichts gewusst; aber nachtigaUen - und 1er-
chensang hat er sicher oft genug gehört. Als er etwa 10 jähre später Komeo und
Jiilia dichtete, wird er sich ohne zweifei seiner eigenen Jugendliebe erinnert haben.
Der Zauber von Shakespeares dichtung beruht ja zum grossen teil auf ihrer natur-
frische und unmittelbarkeit. Moderne commentatoren , philologen und litterarhistori-
ker lassen sich aber oft dem kaiser von China in Andersen's märchen vergleichen,
ÜBER FRÄNKEL, SHAKESPEARE VKD DAS TAGELIED 265
der nur auf die musik der künstlichen nachtigall hören wollte, die sich wie ein uhr-
werk aufziehen Hess, und darüber den natürlichen gesang des unscheinbaren, grauen
vögleins vergass. Es kann indessen zugegeben werden, dass bei den dichtem der
spät - reuaissance , auch bei Shakespeare, die nachtigall mitunter eine conventioneUe
rolle spielt. Dann ist sie aber nicht ein erbstück des tageliedes, sondern vielmehr
antiker mythe, heisst Philomele und singt ihr trauriges lied von verlorner Unschuld.
Diese auffassung tritt in Shakespeares „Rape of Lucrece" hervor, au einer stelle, die
auch sonst eine grosse ähnlichkeit mit ixnserer scene hat, aber von Fränkel merk-
würdiger weise nicht beachtet worden ist.
Lucr. 1079 By this, lamenting Phüomel had ended
The tvell-tun'd loarble of her nightly sorroiv,
And solemn night ivith slow sad gait descended
To ugly hell, when, lo, the hlushing morroiv
Lends light to all fair eyes tkat light ivill borroio;
Biet cloudy Lacerece shatnes herseif to see
And thercfore still in night tvould cloister'd be.
Eevealing day through every cranny spies,
And seems to point her out where she sits weeping;
To whom she sobbing spealcs : „ 0 eye of eyes,
Why pry'st thoii through my ivindo7v? leave thy peeping:
Mock with thy tickling beams eyes that are sleeping:
Brand not my forehead ivith thy piercing light,
For day hath nottght to do what's done by 7iight."
The little birds that tune their morning's joy
Make her moans mad ivith their sweet melody
„You mocking birds" quoth she, „your tnnes entomb
Within your holloiv-sivelling feather'd breasts,
And in my hearing be you mute and dumb:
My restless discord loves no stops nor rests;
„ Conie, Phüomel, that sing' st of ravishment,
Make thy sad grove in m,y dishevell'd hair:
As the dank earth iveeps at thy languishment.
So I at eaeh sad strain tvill strain a tear.
And ivith deep groans the diapason bear;
For bnrden-tvise TU hum on Tarquin still,
White thoii on Tereus deseant'st better skill.
Wie ich in dem aufsatze „Zur Chronologie von Shakespeare's jugeuddrameu"
(Jahrb. d. deatschen Shakespeare -gesellschaft bd. XXIX) wahrscheinlich gemacht zu
haben glaube , wurde Lucretia kurz vor Romeo und Julia gedichtet. Wir dürfen daher
die citierte stelle als eine Vorstudie zu unserer scene ansehen. Die contrastierimg
von nachtigallen- und lerchensang, die Verwünschung des letzteren, die grelle disso-
nanz zwischen dem frohen morgenlied der vöglein und der verzweifelnden trauer der
frau — das alles ist in der Lucretia schon vorgebildet.
Hier hat aber die einführung der Philomele eine ganz prägnante bedeutung
und beruht auf einer sehr naheliegenden ideenassociation. Denn wie Lucretia von
266 SARRAZIN
Tarquinius, so war Philomelo vou Tereus geschändet worden. Shakesi^eare hatte
beide geschichten in Chaucer's legende von den guten frauen gelesen, ebenso wie die
von Dido, Cleopatra, Tbisbe, Medea, Ariadne, auf welche er ebenfalls mit verliebe
anspielt. Deutlicher noch als in Romeo und Julia steht Shakespeare in der epischen
dichtung von Lucretia imter dem banne Chaucer's. Er bat darin nicht nur die
7-zeilige „Chaucer"-strophe angewandt, in der Troilus and Creseide gedichtet ist,
sondern er ist auch in der darsteUungsweise und im ausdruck vielfach von Chaucer
beeinflusst'. Da nun Chaucer bekanntlich, von nachtigallen- und lerchensang beson-
ders gern schwärmt, so mag man diese motive auf ihn, eher als auf deutsche tage-
lieder zurückführen, wenn man durchaus ein litterarisches vorbild haben will.
Wie leicht sich übrigens auch die lerche der tagelied - Situation einfügt, geht
aus folgender stelle von Shakespeare's Venus und Adonis hervor, die Fränkel eben-
falls übersehen hat:
Ven. 853 Lo, Jiere the (jentle larh, tveary of rest,
From his moist cabinet 7nou7its up on high,
Allel ivakes the Morning, from whose silver breast
The suii ariseth in his majesty.
Die lerche weckt die schlafende Aurora, von deren busen sich der Sonnengott erhebt —
widerum ein antik -mythologisches bild. Hier und in dem bekannten liede aus Cymbe-
line ist die ein Wirkung Chaucers ganz deutlich:
Knightes Tale 1493 The bcsy larke, the messager of day,
Saleivith in hire sang the morwe gray;
And firy Phebus riseth top so bright
So lassen sich, alle poetischen motive der tagelied -scene, welche Fränkel auf
ein Wirkung deutscher tagelieder zurückführt, entweder aus eigenen erinnerungen imd
einfacher naturbeobachtung oder aus einheimischer tradition, in welche klassisch -
mythologische Vorstellungen hineinspielten, ungezwungen erklären.
Wenn ich so in der hauptsache die ergebnisse von Fränkels schläft ablehnen
muss, so erkenne ich gern an, dass er im einzelnen manches interessante material
zur geschichte des tagelieds, zur entwicklung des naturgefühls beigebracht hat.
Was der Verfasser s. 34 fgg. über litterarische beziehimgen zwischen Holland
und England, über die hypothese von Shakespeare's aufenthalt in Holland sagt, ist
dankens- und beachtenswert, genügt aber durchaus nicht um Shakespeares bekannt-
schaft mit holländischen oder deutschen liedern wahrscheinhch zu machen. Des dich-
ters geistige und litterarische Interessen gingen, dem zuge der zeit folgend, vielmehr
nach Frankreich und Italien als nach Deutschland. „Die füUe germanischen wesens,
die uns aus seinen werken entgegenströmt", ist oft genug hervorgehoben worden, und
soll hier keineswegs geläugnet werden. Aber sie ist durchaus dem heimatlichen,
englischen boden entsprossen, und nicht durch den einfluss deutscher poesie genährt
worden.
Gerade in der tagelied - scene kann ich wenig eigentümlich germanisches ent-
decken. Fränkel erwähnt selbst, dass in einigen punkten (gegeuübersteUung von nach-
1) Der oben citierte vers
Lucr. 1086 Revealing day through every cranny spies
ist z. b. gewiss eine erinnerung an
Troil. in, 1453 Envious day, ivhat list thee so to spien.
ÜBER FRÄNKEL, SHAKESPEARE UND DAS TAGELIED 267
tigall und lerche, Verwünschung des lerclieusanges) provenzalische, französische,
italienische tagelieder^ näher stehen (s. 93.96). Die kühne personification des tages,
der wölke, das „antlitz der Cynthia" ist mehr in romanischem als in germanischem
stil. Die ähnlichkeit einer scene aus Luigi Groto's Adiiana, welche Klein nachge-
wiesen, ist doch sehr auffallend und nicht ohne weiteres bei seite zu schieben, wie
Fränkel getan. Sie wird noch merkwürdiger durch den von Klein ausführlich dar-
gelegicn, von Fränkel ignorierten umstand, dass auch die in beiden dramen unmit-
telbar danach folgenden scenen sehr ähnlich sind.
Das lokalkolorit der scene ist in harmonie mit dem ganzen drama und stimmt
zu dem vorausgesetzten schauplatze. Der granatapfelbaum ist in Oberitalien gewiss
mehr zu hause als in England oder in Deutschland; dass die sonne über hohen
bergen aufgeht (staiids tiptoe on the viisty mountain-tops) trifft für Verona zu.
Manche Shakespeare - forscher (z. b. K. Elze, M. Koch, H. Isaac) mutmassen wegen
des überraschend getreuen lokalkolorits in den meisten italienischen dramen (beson-
ders Kaufmann von Venedig, Zähmung der widerspänstigen , Othello), wegen einiger be-
kanntschaft mit italienischer Umgangssprache, die Shakespeare besonders in der Zäh-
mung der widerspänstigen verrät, wegen der kenntnis Giulio Romano's und seiner
gemälde, dass der dichter (etwa in den jähren 1592 — 93) sich in Oberitalien auf-
gehalten. Ich gestehe, dass ich mich dieser ansieht zuneige, die ich an anderer
stelle mit neuen gründen zu stützen hoffe. Von dieser annähme aus würde sich die
vielbewunderie italienische atmosphäre der tragödie leichter erklären. Jedesfalls gehört
Romeo und Julia in die „ italianisierende " periode von Shakespeare's dichterischer
entwicklung und zeigt viel mekr italienische als deutsche geistesrichtung.
KIEL, DECEMBER 1894. G. SARRAZIN.
Der einfluss des reims auf die spräche Wolframs von Eschenbach. Von
WUly Hoffmanii. Strassburg, diss. 1894. 69 s.
Der Verfasser dieser lebhaft und anziehend geschriebenen dissertation legt nach
treffenden allgemeinen bemerkungen über die dichterische eigentümlichkeit "Wolframs
zunächst dar, dass der reim für den dichter keineswegs nur eine lästige und been-
gende fessel gewesen sei, vielmehr oft ihn zn neuen bildern und Wendungen angeregt
habe (Herder nennt einmal den reim die „Werbetrommel der gedanken"). Auch
bestimmte Stileigentümlichkeiten Wolframs sind durch den reim wesentlich gefördert.
Hierauf weist dr. Hoffmann für eine anzalü gut ausgewählter substantiva {zil^ site^
kraft, kür, schln u. a. ; eigennamen s. 22 fgg.), adjectiva {gemdl, gefcm, gevar u. a.),
verba {verbern, vermtden, vergexzen, bedenken, sieh bewegen u. a.), und adverbiale
bestimmungen (s. 52) gebrauch und Wirkung im reime nach. Aus der syntax wird
nur die Wortstellung s. 60 berührt.
1) Obwol ich an belesenheit nicht mit Fränkel wetteifern kann und will, möchte
ich doch noch eine paraUelsteUe aus einer spanischen romanze hinzufügen, die mir
zufällig aufgestossen ist:
Por el mes era de mayo^
cuando hace la calor
euando canta la calandria
y responde el ruysenor,
cuando los enamorados
van d servir al amor — —
(Primavera y Flor de Romances II, 16; nr. 114a.)
268 EEDMANN
Ihren vollen wert für die erkenntnis der eigentümlichkeit AVolframs würden
freilich diese einzelnen nachweise erst erhalten, wenn für jeden fall auch der gebrauch
anderer, sowol höfischer als volkstümlicher, dichtungen verglichen würde, was der
Verfasser meistens nicht getan hat. Mehrere der hervergehobenen substantiva, nament-
lich sin, scMn, llp, Jiant kommen ja überhaupt bei mhd. dichtem häufig im reime
vor. Für die s. 22 fg. gegebenen procentaugaben der eigennamen im reime hat
einer meiner zuhörer, herr R. Kraut bei einer an Hoffmanns arbeit angeknüpften
besprechung in unserem germanistischen Seminar einige ergänzungen dieser ai1; bei-
gebracht, die ich nebst einigen anderen von ihm gemachten bemerkungen über ein-
zelheiten der besprochenen arbeit mit seiner Zustimmung hier einfüge.
„Die procentangaben der eigennamen im reime mögen durch folgende zahlen
ergänzt werden: Der Arme Heinrich mit 24 eigennamen im reime, d. i. 1,6 7o ^11^^^
reime (mit dem procentsatz im Iwein übereinstimmend), Gregorius nur 0,84 % (34
eigennamen im reime), Walther von der Vogelwoide 0,8 % (36 eigennamen im reime),
Wolframs Titurel 4,7 % (32 eigennamen im reime). Die Zählung des Verfassers in
der „Küdrün" (3,9 %) variiert mit der meinigen (4,1 °/o = 281 eigennamen im reime)
um ein geringes. Natürhch wurden bei diesen Zählungen personificierte abstracta wie
froti, Scelde, fron Minne u. ä. nicht als eigennamen gerechnet, da eine solche per-
sonificierung die Stellung des wertes im reime wol kaum beeinflusst hat.
Um jedoch den gebrauch der namen im reime genau festzustellen, dürfte
meines erachtens eine derartige Zählung niclit vollständig genügen. Man soUte nicht
nur zählen, wie viel procent aller reimwörter namen sind, sondern auch, wie viel
procent aller fälle, in denen ein eigenname gebraucht wird , auf die reimsteUe treifen.
Das resultat für diese zweite art der Zählung wäre: Küdrün 281 : 2492 = 11,27 %
(wie oben sind auch hier die binnenreime unberücksichtigt geblieben), A. Heinrich
24 : 38 = 63,1 7o, Gregorius 34 : 72 = 47,2 7^, Titurel 32 : 189 = 17 7o.
Ferner seien mir noch folgende bemerkungen gestattet. Die reihenfolgo der
citatzahlen könnte an manchen stellen besser geordnet sein, z. b. s. 25, z. 3 v. u. :
P. 761, 8. 311, 6. 413, 17. S. 27, z. 9 v. u.: P. 224, 5. 212, 2. S. 55, z. 2
P. 752, 5. 640, 15. S. 55 z. 11 — 12: P. 781, 1. Wh. 117, 27 usw. — P. 712, 4
(im letzten falle mag ein druckfehler vorliegen). Wo nicht innere gründe eine andere
reihenfolge vorschreiben, sollte man doch die natüiliche folge der zahlen beobachten.
Ebenso würden die bemerkungen über einige Unklarheiten in der ausdrucks-
weise Wolframs zu anfang des abschnittes: H „Adjektiva" passender an einem andern
platze erwähnt worden sein, vielleicht unter den Schlussworten der abhandlung.
Übrigens beginnt der Verfasser mit recht bei aufzählung der stereotyp im reime
gebrauchten adjektiva mit dem echt Wolframischen genial. Die überzeugenden
Schlüsse, welche dr. Hoffmann s. 37 aus der anwendung dieses wertes auf die ent-
stehungszeit des Titui'el nach dem Parzival zieht, sind besonders wichtig.
Zum Schlüsse mögen einige druckversehen ihre berichtigung finden:
S. 20, z. 21: P. 644, 18 statt 17.
„ 27, „14: Wh. 27, 14 „ 13.
„ 28, „ 12: „ 151, 13 „ 14.
„ 32, „ 15: P. 358, 23 „ 22.
„ 37, „ 4 V. u.: P. 405, 17 statt 16.
55 9 • 119 11 1*?
55, „ 1 „ : Wh. 55; 23. 265, 2 statt P. 55, 23. 265, 2.
ÜBEE HOFFMANN, REIM UND SPRACHE WOLFRAMS 269
(Auch sind diese zahlen, ebenso wie z. 2 v. u. : P. 822, 9 statt 29 richtig einzu-
reihen.)
S. 56, z. 6: Wh. 285, 21 statt 22.
„ 56, „ 10 und 11: Wh. „ P."
Soweit herr Kraut. Im allgemeinen bilden die nachweise und eröiierungen des
heiTU dr. Hoffmann eine sehr willkommene ergänzung zu den früheren arbeiten (von
Bötticher, Kinzel, Kant u. a.) über AVolframs stil. Neu und eigentümlich ist der
am Schlüsse der arbeit s. 63 fgg. gemachte versuch, ein deutliches und anschauliches
bild von der entstehung der Wolframischen werke zu gewinnen. Hoffmann meint,
der des lesens und Schreibens unkundige dichter habe sich die französischen quellen
(widerholt? erst ganz, dann von neuem die einzelnen ihn gerade interessierenden teile?)
vorlesen lassen; er habe dann in ruhiger meditation den Inhalt des gehöiien ver-
arbeitet und in deutsche verse gegossen, die jeweilig entstandenen stücke aber einem
kreise begierig lauschender zuhörer am Eisenacher hofe persönlich vorgetragen, wobei
lebhafte anrede des hörerkreises sowie unmittelbare Improvisation vieler stellen in
ausgedehntem masse möglich war. Schliesslich seien die so entstandenen werke aus
der erinnerung diktiert und dadurch schriftlich fixiert worden. Diese Vermutungen
Hoffmanns haben viel ansprechendes und passen zu der ausdrucksweise und dem
Inhalte von Wolframs dichtungen.
Bedauerlich ist der mangel eines Inhaltsverzeichnisses, das doch sonst bei
Strassburger dissertationen nicht fehlte. Die sorgfältige anfertigung eines solchen
hätte dem Verfasser anlass geben können, manches an andere stelle zu bringen und
einige nur beiläufig gemachten erwälmungen zu besonderen abschnitten auszuarbeiten;
dadurch wäre nicht nur der bequenilichkeit des lesers gedient, sondern auch die arbeit
selbst vollkommener geworden. Hoffentlich lässt dr. Hoffmanu sich bei späteren
arbeiten eine solche Unterlassung nicht wider zu schulden kommen.
KIEL. 0. EEDMANN. (f)
Xystus Betulius, Susanna. Herausgegeben von Johannes Bolte. Mit einem
bilde und einer notenbeilage. [Lat. litteraturdenkmäler des 15. imd 16. Jahrhun-
derts, herausgegeben von Max HeiTmaiiu und 8ieg"Med Szamatolski , 8.] Ber-
lin, Weidmann. 1893. XVHI und 92 s. 2,20 m.
Sixt Birck, latinisiert Xystus Betulius oder Betuleius, war der erste Vertreter
der von Gnapheus geschaffenen neueren biblischen komödie in Deutschland, denn
seine 1537 erschienene Susanna, die er aus der 1532 erschienenen deutschen Susanna
ins lateinische übertrug, war die erste komödie dieser gattung in Deutschland. Nicht
nur aus diesem gesichtspunkte , sondern auch wegen der hohen bedeutung, die
die Susanna Bircks als dramatisches kunstwerk beanspruchen darf, hat sie in der
rüstig fortschreitenden Sammlung der Lat. litteraturdenkm. einen platz gefimden.
Bolte hat dem neudruck eine kurze lebeusskizze des Verfassers vorausgeschickt, in
der er den geburtstag Bircks (24. febr. 1501) feststellt und nachweist, dass Birck,
der seine humanistischen Studien in Erfurt und Tübingen gemacht, unter dem 31. de-
cember 1524 in der Baseler matrikel verzeichnet ist. In Basel lebte er dann als
famulus und koiTektor in den grossen druckereien Cratanders, Frobens und Bebeis,
ward 1530 Schulmeister an St. Theodor in Klein -Basel, wiu-de am 10. februar 1563
zum magister promoviert (es war die erste promotion seit der widereröffnung der
270 HOLSTEIN
Universität), in demselben jähre als rektor des neuen St. Annagyninasiums zu Augs-
burg, seiner Vaterstadt, berufen und starb am 19. juni 15.54.
Bekannt ist, dass Bircks dramatische tätigkeit in zwei Zeitabschnitte zerfällt,
einen Baseler und einen Augsburger-, aber unbekannt war bisher die von Bolte aus
des Nysäus biographie entnommene tatsache, dass der ersten ijeriode seine deut-
schen, der zweiten aber die lateinischen Schauspiele entstammen. Wir haben
6 deutsche und 7 lateinische Schauspiele, insofern man zwei stücke, die zwei seiner
Schüler, Martin Ostermincher und Johannes Entomius, aus dem deutschen original
ins lateinische übeiirugen, dazu rechnen darf.
Am Schlüsse der einleitung stellt Bolte eine vergieichung der deutschen mit
der lateinischen Susanna an, indem er die analysen beider gibt. S. IX folgt die
bibliographie. Es werden 9 verschiedene drucke der Susanna mit ihren Standorten
nachgewiesen und zwar aus den jähren 1.537 — 1564. Von der Kölner ausgäbe von
1539 ist ein exemplar auch in Göttingen. Dem neudrack ist die erste Augsburger
ausgäbe von 1587 zu gründe gelegt, aber auch die in der Oporinschen Sammlung
von 1547 vorliegende zweite bearbeitung des dichters mit herangezogen worden.
Auch die in dieser ausgäbe gegebenen scenenüberschriften sind abgedruckt worden.
Sehr wichtig ist Boltes bemerkung, dass, während Gnapheus eine grosse zahl
von Versen des Plautus und Terenz seinem Acolastus wörtlich einverleibt und seinen
Wortschatz im wesentlichen aus den genannten beiden dichtem entlehnt hat, Birck
selbständiger im lateinischen ausdruck verfährt und wirkliche entlehnungen aus den
komikern vermeidet. Dagegen hat er den zweiten akt vom Hippolytus des Seneca
benutzt, um die verbrecherische leidenschaft der beiden greise zu schildern.
Eine reihe benutzter stellen antiker autoren führt Bolte s. XII fgg. an und
beweist auch hier sich als guten kenner der litteratur.
Einen besonderen schmuck erhält die ausgäbe durch die beifügung der vier-
stimmigen melodie des eingangschores aus der Kölner ausgäbe von 1538, sowie eines
holzschnittes des Augsbui'ger maiers und formenschneiders Jörg Brem des Jüngern
aus dem jähre 1540, der mehrere bildliche darstellungen aus der geschichte der
Susauna bietet imd dessen original sich im königlichen kupferstichkabinet zu Berlin
befindet.
wilhelmsha\t:n. h. Holstein.
Philipp Melanchthon Declamationes. Ausgewählt und herausgegeben von Karl
Hartfelder. Zweites heft. [Lat. litteraturdenkmäler des 15. und 16. jaluiiunderts,
herausgegeben von Max Herrmaun, 9.] Berlin, Weidmann. 1894. XVI und
38 s. 1 m.
Schon bei der herausgäbe des ersten heftes (1891 ; vgl. diese Zeitschrift XXVI,
491 fg.) war die absieht ausgesprochen, noch andere aus den übrigen gebieten Me-
lanchthonischer declamationes ausgewählte stücke zu veröffentlichen. Der rastlos und
unablässig auf dem grossen felde der geschichte des humanismus und der reformation
mit hervorragendem erfolge tätige Hartfelder ist seinem schönen Wirkungskreise durch
einen frühzeitigen tod entrissen, und es war ihm nicht mehr vergönnt, die fortsetzung
der angefangenen arbeit zu sehen. In seinem nachlasse fand sich aber ein druck-
fertiges manuscript, das nun der herausgeber der Lat. litt.- denkm. als ein teures Ver-
mächtnis bekannt gibt. Es sind väer widerum schulfragen behandelnde reden. In
der ersten spricht Melanchthon von den akademischen graden (de gradibus discentium),
ÜBER LÄT. LITT. DKM. VUI. XX 271
deren aufrecbthaltung von ihm mit unerbittlicher strenge betont wiu'de, da er in
ihnen eine bürgschaft für ein geordnetes und methodisches lernen sah. Denn auch
an der Witteuberger hochschide war am anfang der zwanziger jähre die strenge stu-
dienordnung früherer zeit aufgelöst, wobei die artistenfakultät am meisten benach-
teiligt war. Die zweite bei gelegenheit einer magisterpromotion gehaltene rede han-
delt „de ordine discendi"; sie geht unter Crucigers namen, ist aber sicherlich von
Melanchthon verfasst woi'den. Ihre abfassung fällt etwa ins jähr 1531, wo Cruciger
docent der philosophischen fakultiit war. Auch diese rede zeigt, dass der grosse
misstand im Studienkreise der hochschule noch nicht gehoben war, und dass sich
auch jetzt noch die Studenten mit übergehung der artes inferiores d. i. der vorberei-
tenden Studien in der philosophischen fakultät möglichst schnell zu den artes supe-
riores d. i. den eigentlichen fachstudien der drei oberen fakultäten drängten. Die
dritte rede „de restituendis scholis" schrieb Melanchthon für den 1540 an die Univer-
sität Frankfurt a. 0. als lehrer berufeneu Schotten Alexander Alane (Alesius), der
mit ihr seine akademische tätigkeit daselbst eröffnete. In der vierten von Vitus
"Winshemius (Vitus Oertel aus Windsheim) vorgetragenen rede „de studiis linguae
Graecae" tritt die starke betonung des theologischen hervor, in der Melanchthon dem
zuge der zeit folgte, die im laufe des 16. Jahrhunderts sich mehr und mehr vom rei-
nen humanismus abwandte und der theologischen richtung grösseren Spielraum gönnte.
Am Schlüsse der die nötigen bemerkungen über den Inhalt und die persönlich-
keit der vortragenden enthaltenden einleitung gibt Hartfelder ausser den biblographi-
scheu bemerkungen, die übrigens von Max Herrmann durch die angäbe der versclüe-
denen lesarten vervollständigt worden sind, einige erklärende anmerkungen zum text.
Dieser selbst ist widerum sehr korrekt, nur ist mir die doppelte Schreibung exsilium
(14, 10) und exilio (17, lü) aufgefallen.
WILHELMSHAVEN. H. HOLSTEIN.
G. A. Bürger's werke herausgegeben von Eduard Gfi'iseliach. Mit einer biogra-
phischen einleitung und bibliographischem anhange. 5. vermehrte und verbesserte
aufläge. Berlin, G. Grote. 1894. LXXVm und 504 s. 4 m.
Diese ausgäbe (deren erste aufläge in unserer Zeitschrift 5 , 233 — 238 bespro-
chen wui'de) erhält einen besondem vorzug dadurch, dass auch dem prosaiker Bür-
ger sein recht geschieht. Seine kleineren schritten und abhandlungen sind jetzt von
Grisebach vollständiger, als in irgend einer früheren ausgäbe, und zwar jedesmal auf
grund des im anhange angegebenen ersten druckes, mitgeteilt. Sie haben, wie schon
neulich in dieser Zeitschrift 27, 414 mit recht hervorgehoben wurde, auch heute noch
daiiemden wert. Deutüch lassen sie erkennen, wie eifrig und erfolgreich Bürger
seine grosse natürliche begabung auch in den dienst der wissenschaftlichen erkeuntnis
der muttersprache zu stellen bemüht war, und wie ernst er es in seinen späteren
Göttinger jähren mit der aufgäbe nahm, durch lehre und beispiel auf die hebung des
deutschen stils und Versbaues zu wirken. Die in die vorhegende ausgäbe nicht auf-
genommenen prosaischen Übersetzungen und bearbeitungen fremder werke, welche
Bürger gemacht hat, verzeichnet der herausgeber mit dankenswerten bibliographischen
nachweisimgen s. 501 fg.; vom „Münchhausen" hat Grisebach bekanntlich selbst eine
von eingehenden Untersuchungen begleitete ausgäbe erscheinen lassen in der „collec-
tion Spemann", Stuttgart (1891).
272 ERDMANN, ÜBER BÜRGERS WEREE ED. GRISEBACH
Bürgers gedicbte sind schon in drei neuereu ausgaben gesammelt und kri-
tisch bearbeitet: von Sauer in Kürschners D. nat. litt. bd. 78 (1884), Von Grisebach
in der „jubelausgabe" (Berlin 1889) und von Berger, Leipzig, bibl. Institut (1891).
Jede dieser drei ausgaben hat ihre Vorzüge und dient den bedürfnissen des littera-
turforschers und des liebhabers der Bürgerschen dichtiing. In unserer für weitere
kreise bestimmten gesammtausgabe von Bürgers werken hat Grisebach die gedichto
neu geordnet: I. bal laden und romanzen, voran die drei glänzendsten balladeu-
schöpfungen Bürgers: Lenore — Der wilde Jäger — Des pfarrers tochter von Tau-
benhain (diese vom herausgeber besonders hochgestellt s. XXVI fg.) ; die übrigen im
allgemeinen in chronologischer folge, die jedoch mehrmals (wegen sachhcher oder
formeller berühruugen?) unterbrochen ist. 11. lieder an Molly, meist in chrono-
logischer folge. III. Sprüche und vermischte gedichte; hier gibt der heraus-
geber nur eine auswahl, die aber nichts bedeutendes und charakteristisches vermissen
lässt. Als „anhaug" folgen bearbeitungen fremder gedichte durch Bürger, von denen
die zwei letzten, wahrscheinlich zuerst von H. G. B. Fi'anke entworfenen, in sämmt-
lichen Göttinger gesammtausgaben (und auch bei Berger, nicht bei Sauer) fehlen.
Der zweck dieser anorduung der gedichte war offenbar, dem leser gleich am
anfange des bandes das anziehendste und bedeutendste zu bieten. In ähnlicher weise
beabsichtigte ja Schiller eine neuordnung seiner gedichte auszuführen, und unter sei-
nen neueren herausgebern hat Boxberger in Kürschners D. nat. litt. bd. 118 eine
solche versucht. Aber ohne Willkür und ohne unzuträglichkeiten geht es doch bei
einer solchen neuordnung nicht leicht ab, auch nicht bei Grisebach. Unter die „bal-
laden und romauzen" hat er auch rein lyrische gedichte eingereiht, z. b. 75. 76. 78.
79. Die „lieder an Molly" geben in ihrer folge eine deutliche und ergreifende ein-
sieht in den verlauf von Bürgers liebesleidenschaft und liebeslyiik ; aber eben um
diesen verlauf deutlich hervortreten zu lassen, hat der herausgeber hier auch dich-
tuugen eingereiht, die unter die Überschrift der abteiluug nach ihrem wortsinne nicht
lassen, wie die „ Männerkeuschheit " s. 97, die nicht an Molly gerichteten sonette
s. 118 und am Schlüsse das schöne sonett „An das herz" s. 137. Als gewissenhafter
recensent wollte ich diese kleinen Unebenheiten nicht verschweigen; besonderes gewicht
auf sie zu legen liegt mir fern, zumal einem manne gegenüber, der als feinsinniger
liebhaber und bewährter kenner der Bürgerschen dichtung sich schon ein gewisses
recht darauf erworben hatte, diese neue ausgäbe nach seinem sinne zu gestalten.
Die genannten eigenschaften bewährt Grisebach namentlich auch in der kurz
gehaltenen, aber sehr inhaltreichen (auch durch interessante beigaben aus Bürgers
briefen bereicherten) einleitung. Mit kundiger band hat er ein ansprechendes und
lebenswahres bild von dem menschen, dichter und Schriftsteller Bürger entworfen;
die schatten dieses bildes sind nicht vertuscht, aber sie sind nicht in den Vordergrund
gerückt, wie es bei anderen darstellern aus befangenheit oder Ungeschick geschehen ist.
Die Verlagshandlung hat die ausgäbe in papier und dnick gut ausgestattet und
dabei den preis sehr billig gestellt. Es ist ihr "eine günstige aufnähme zu wünschen
bei allen, die der bedeutsamen gestalt G. A. Bürgers teilnehmend näher treten wol-
len. An seinen besten Schöpfungen in poesie und pi-osa ist auch heute, mehr als
hundert jähre nach seinem tode, noch nichts veraltet, und gerade die vorliegende
ausgäbe ist sehr dazu geeignet, auch in weiteren kreisen das gefühl imd die erkennt-
nis von Bürges bedeutung lebendig zu erhalten.
KIEL. 0. ERDMANN, (f)
MATTHIAS, ÜBER HERRMANN, ALBRECHT V. EYB 273
Schriften zur germauischen philologie, herausgegeben von dr. Max Roediger.
VII. heft: Albrecht von Eyb und die frühzeit des deutschen humanis-
mus, von dr. Max Herrmanii. Berlin, Weidmann. 1893. VEI und 437 s. 10 m.
Der zweck des buches ist: einen beitrag zu bieten zur geschieh te der auf-
nähme des humanismus in Deutschland, insonderheit in Franken; ferner: den beweis
dafür zu bringen, dass nicht, wie sonst angenommen worden, Niclas von Wyle,
sondern Albrecht von Eyb der erste deutsche humanist gewesen; endlich, dass
humanistische tätigkeit in Deutschland schon unmittelbar nach beginn der zweiten
hälfte des 15. Jahrhunderts nachzuweisen ist. In Frauken begünstigen den humanis-
mus besonders die geistlichen fürstenhöfe. Er ist durchaus von Süden zu uns gekom-
men; unter den Deutschen, die sich ihm unabhängig von Aeneas Sylvius in Italien
in die arme geworfen haben, ist der bedeutendste Alb recht von Eyb, der zugleich
die fühlung mit dem volke nicht verlor und die schönste prosa schrieb, die wir vor
1500 haben.
Er ist auf schloss Sommersdorf in der nähe von Anspach am 24. august 1420
geboren, wo er seine Jugend verlebte und wo besonders seine mutter Margarete
lind sein vater Johann von Eyb einfluss auf seine erziehung ausübten. Die Uni-
versität Erfurt, die er 1436 mit seinem jüngeren brader bezogen hatte, musste er
anfang 1438 infolge des todes des vaters wider verlassen; nach dessen letztem wil-
len sollte Albrecht geistlich werden. Das familienöberhaupt war jetzt der älteste
söhn, Ludwig, bekannt als kanzler des markgrafen Albrecht AchUles mid als Ver-
fasser der HohenzoUerschcn denk Würdigkeiten. Der sparsame bruder, der die Über-
zeugung hatte, dass das „blosse sichumhertreiben" auf Universitäten keinen zweck
habe, sorgte zunächst dafür, dass die versäumte wissenschaftliche Vorbildung der
beiden jungen Studenten nachgeholt werde, und schickte sie 1439 auf die lateinische
schule nach Rothenburg a. d. Tauber. Als nach zweijährigem gemeinsamen
Schulbesuch der jüngere bruder Wilhelm infolge eines heftigen Streites mit Ludwig,
der die herausgäbe des väterlichen erbes weigerte , deutschritter geworden war, kehrte
Alb recht allein nach Rothenburg zurück. Besser ausgerüstet, als das erstemal, bezog
er 1444 abermals die Universität Erfurt, nachdem er die an wartschaft auf eine doni-
herrustelle in Eichst ätt erhalten hatte. Schon nach einem halben jähre vertauschte
er Erfurt mit Pavia, wo er bis 1447 verweilte. Der benihmteste lehrer der hoch-
schule war damals Balthasar Rasinus, dem Eyb namentlich bei seinem späteren
besuch der Universität nahe trat. Aus dem besonderen kapitel, welches dem manne
gewidmet wird (s. 56 fgg.), heben wir nur hervor, dass er nicht nur ein bedeutender
Jurist, sondern vor aUem ein vorzüglicher kenner und erklärer des Plautus war, von
dessen neuaufgefundenen 12 komödien er eine abschrift des archetypus besass, der
sich im besitze des cardinals Orsini befand. Damals hörte Eyb nur Terenz bei ihm.
Im august 47 verliess er, veranlasst durch die poUtischen w^irren, die nach dem
tode des protektors der hochschule, des herzogs Philippe Maria von Mailand, eintra-
ten, Pavia und begab sich nach Bologna. Im anschluss an die von Friedländer
und Malagola herausgegebenen Acta nationis germanicae uuiv. Bononiensis gibt der
Verfasser (s. 65 fgg.) eine statistische Zusammenstellung über den besuch der Univer-
sität von Seiten deutscher Studenten für die zeit von 1433 — 59, von denen der Nürn-
berger Joh. Pirkheimer, der vater WilUbalds, besonders hervorgehoben wird, der
nebst anderen landsleuten gleichzeitig mit Eyb, jedenfalls aus denselben gTÜnden,
Pavia verliess. Von den docenten hat namentUch einfiuss auf diesen ausgeübt Joh.
Lamola, dessen werk: De pudicicie sine castitatis laudibus jenem den anstoss zur
ZEITSCHRIFT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XXVUI. 18
274 MATTHIAS
abfassung seiner Schriften über ehe und frauen gegeben hat. Ende 48 wurde Eyb
mit vielen anderen von Bologna durch die pest vertrieben und wandte sich wahi--
scheinlich nach Padua. 1449 erhielt er ein Bamberger kanonikat, zunächst ohne
in den genuss der pfründe einzutreten, zugleich die einkünfte einer pfarre in Swanns
(= Schwanenstadt in Oberösterreich). 1450 — 51 finden wir Eyb zum zweiten male
in Bologna, von wo er im soramer des letzteren jahres notgedi'ungen nach hause
zurückkehrte, weil einerseits der bruder Ludwig sein geld nicht mehr nach Italien
schicken mochte, andrerseits Eyb in den genuss der Bamberger pfründe nur gelan-
gen konnte, wenn er gemäss einem paragraphen des Statutes mindestens ein jähr
lang persönlich an ort und stelle weilte. "Welchen umfang die humanistischen Stu-
dien Eybs während seines ersten aufenthaltes in Italien gehabt, lässt sich einiger-
massen aus der Zusammenstellung der in dieser zeit entweder von ihm selbst geschrie-
benen oder erworbenen handschrifteu ersehen, die jetzt zwar in verschiedenen biblio-
theken zerstreut sind, sich aber durch den eigentümlichen einband , durch das Eybsche
Wappen, endlich durch einzeichnungen als bestandteile seiner bücherei charakteri-
sieren.
Zu Bamberg tröstete sich Eyb über die unfreiwillige trennung von Italien
dadurch, dass er zur feder griff und damit, soweit unsere kenntnis reicht, das
früheste beispiel humanistischer schriftstellerei eines deiitschen auf
deutschem boden gab. Hier entstehen zuerst zwei kleine lateinische traktate: De
speciositate Barbare puellulae, seinem hauptteile nach vielleicht eine auf persönliche
erlebnisse zurückgehende beschreibung einer schönen Bambergerin im tone des hohen
liedes (s. 100 — 102); 2. Appellacio mulierum Bambergensium , eine überaus frivol
gehaltene, der Oratio Heliogabali des Leonhard Bruni nachgebildete klagerede der
Bamberger frauen über unwillfährigkeit der männer (s. 104 — 107); 3. eine abend-
mahlspredigt; 4. lobspruch auf Bamberg (z. t. abgedruckt s. 109 fgg.), auch diese in
lateinischer spräche. Wie unbehagUch sich Eyb in Bamberg fühlte, geht aus einem
an italienische freunde gerichteten , nach humanistischer weise für die Veröffentlichung
bestimmten briefe hervor (s. 111 — 114). Im Oktober trat er endlich in den genuss
der pfründe, deren einkünfte (s. 114 fg.) ihm die möglich keit gewährten , seine hiuna-
nistisohen Studien in Italien unabhängig von dem guten willen des braders fortzusetzen.
Zu anfang des jahres 1453 finden wir ihn abermals in Bologna, wo er zu einem
der procuratoren der deutschen natiou gewählt wurde. Unsicher ist, wie lange sein
aufenthalt währte; jedesfalls nicht bis zum Studienjahre 1455/56; denn sonst hätte
Eyb gewiss nicht versäumt, den in diesem jähre zuerst aiiftretenden lehi-er des grie-
chischen, Lianorus de Lianoris zuhören; des griechischen aber, sogar der schrift,
ist er, wie seine handschrifteu beweisen, vöUig unkundig geblieben. Von Bologna
aus trat er auch in htterarische Verbindung mit der zweiten statte, wo in Italien Deut-
sche sich zahlreich zusammenfanden, mit Eom, namentlich mit einem ihm befreun-
deten landsmanne, dem humanisten Joh. Rot. Durch grosse büchereinkäufe geriet
er in schulden; bruder Ludwig gewährte eine ausserordentliche bewilligung von 200
gülden erst dann, als Albrecht droht, falls der bruder sein verlangen nicht erfülle,
dem geistlichen stände überhaupt den rücken kehren zu wollen!
Die bibliothek umfasste namentlich juristische und humanistische handschrif-
teu; imter letzteren sind die wichtigsten zwei Plautuscodices, von denen der erste
die 8 schon längst bekannten, der zweite von den neuentdeckten komoedien die Bac-
chides, die Mcnaechmi und den Poenulus enthjilt. Ausser 20 namhaft gemachten
bänden muss die büchersammlung noch andere umfasst haben, wie aus erhaltenen
ÜBER HERRMANN, ALBRECHT VON KTB " 275
abschriften von der band des Nüi'nberger arztes Hart mann Schedel hervorgeht,
der 1485 in Eichstätt gewesen ist.
Im Vordergründe stehen während des zweiten anfenthaltes in Italien Eybs
Plautusstudien, die er namentlich in Pavia unter leitung des schon erwähnten
Rasinus machte. Die zahllosen rand- und zwischennotizen, welche die zweite Plau-
tushandschrift enthält, und in denen wir zum grössten teile erläuterungen jenes leh-
rers zu sehen haben, ermöglichen es, uns ein anschauliches büd von der art der
Plautiisinterpretation in den Vorlesungen der damaligen Universitätsprofessoren zu
machen (s. 161 fgg.). Neben humanistischen Studien betrieb Eyb auch juristische,
besonders in Pa-\-ia unter leitung des Catone Saccus, der auch humanistische
Interessen hatte (165 fgg.) und des Giacomo Ricci. Am 7. febr. 1459 erwarb er
sich die juristische doctorwürde ; in demselben jähre ernannte ihn auch der neue
pabst Pius II. (Aeneas Sylvius) zu seinem cubicularius. Im november dessel-
ben Jahres ist Eyb wider in Eichstätt, gleichzeitig hat er seine Margarita poetica
vollendet (s. 174).
Die betrachtung dieses werkes wird eingeleitet durch einen kurzen abriss der
geschichte der beredsamkeit, wobei die Praecepta des Aeneas Sylvius aus einem
besonderen gründe eine ausführhchere berücksichtigung finden. Die beiden ersten
traktate der Margarita poetica nämlich stimmen wörtlich mit den Praecepta überein;
an ein plagiat Eybs ist kaum zu denken, da der erzbischof von Trier, dem diese
gewidmet sind , auch am sclilusse der Margarita unter denen genannt wird , denen das
werk zugeeignet ist. Mit hUfe einer Berliner handschrift der Praecepta nun, in wel-
cher statt Eneas: Alberthus und Alb. Eyb als Verfasser bezeichnet wird, weist
Hernnann nach, dass diese überhaupt von Eyb heriühren und eine Jugendarbeit von
ihm sind (entstanden zwischen 1457 und 59), die, weil sich der Verfasser nur bei-
läufig im texte genannt hatte, von einem oberflächlichen humanisten fälschlich dem
Aeneas zugeschrieben und den werken desselben einverleibt worden sind; so dass
also Eyb, als er die beiden traktate der Marg. schiieb, nicht den Aeneas, sondern
seine eigne Jugendarbeit benutzte. Es folgt nun eine ausführliche analyse ihres inhal-
tes (185 — 195), aus welcher hei^vorgeht, dass der Verfasser zwar ein lehrbuch der
humanistischen rhetorik liefern woUte, dass er aber fort und fort in allgemein sti-
listische und sogar specieU epistolographische Vorschriften hineingerät; einen grossen
räum nehmen die musterbeispiele aus klassischen autoren ein, der mehrzahl nach
entnommen einem von Eyb während des ersten itaHeuischen anfenthaltes erworbenen
und von ihm selbst fortgeführten citatenbuche (s. 91 fgg.); den schluss bildet eine
Sammlung von umfangreicheren musterbeispielen humanistischer stilkunst, enthaltend
30 fast ausnahmslos gesprochene reden verschiedener Verfasser. Der epüog enthält
ausser anderem eine rechtfertigimg der neuen Wissenschaft, als deren erster verkün-
der Eyb in Deutschland auftritt, sodann eine widmung des dem bischof von Münster
zugeeigneten buches an noch 15 humanistisch gebildete männer; unter den 8 welt-
lichen befindet sich auch sein lehrer Rasinus. Aus der von Herrmann in Eichstätt
entdeckten Originalhandschrift geht deutlich hervor, dass das werk, welches ei*st
1472 gedruckt ist, bereits 1459 zum abschluss gebracht war. Aus den 15 verschie-
denen drucken, die der Verfasser am Schlüsse des kapitels aufzählt, ergibt sich,
welche Verbreitung das buch bis zur blute des humanismus gefanden: der erfolg ist
namentlich der auswahl klassischer texte, die es bot, zu danken; „als die glänzende
Vereinigung der phüologie und des buchdnickes den Deutschen die antiken autoren selbst
in die band gab, da war es mit der Wichtigkeit der Margarita für immer vorbei (s. 214).
18*
276 MATTHIAS
Nach Eichstätt zurückgekehrt, setzte Eyb durch, dass er, zuwider den Statu-
ten, welche keinem aufnähme in das kapitel gewährten, der schon 3 blutsverwandte
darin sitzen hatte, die vollen einkünfte eines domherrn, sowie sitz und stimme im
chor und kapitel bekam. Bischof war damals der hmnanistisch gebildete Johann EI.,
der buüdcsgenosse des benachbarten Alb recht Achilles, ein freund des Aeneas
Sylvius, dem eine ebenso eingehende betrachtung gewidmet wird, wie den seinem
genossenkreise angehörenden Job. v. Holdburg, Job. Mendel, Job. Heller,
"Wilh. V. Reichenau, endlich Hieronymus v. Eichstätt (eigentlich H. Roten-
beck), dem einzigen, der in humanistischem sinne schriftstellerisch tätig ist (s. 215 fgg.)-
Man würde aber irren, wenn man von diesem kleinen kreise litterarisch gebildeter
männer, in welchem Eyb verkehi-te, einen schluss machen wollte auf das geistige
niveau des übrigen klerus; die mehrzahl der geisthchen ist in trägheit und genuss-
sucht versunken, und selbst bessergesiunte sind auf äusserlichkeiten und materiellen
gewiunbedacht; auch Eyb gehört unter diese. In den kämpfen zwischen den Witteis-
bachern und den fränkischen Hohenzollern , in welche auch Eichstätt dadurch verwickelt
ward, dass bischof Johann als vermittler fungierte, finden wir Eyb als agenten des
markgrafen tätig. Dieser bemühte sich, um den einfluss, den durch Eyb auf das
Eichstätter und Bamberger kapitel hatte, auch auf Würzburg auszudehnen; ihm
die fetteste Würzburger pfründe, die erledigte pfarrei Hassfurt, zu verschaffen.
Eyb begab sich persönlich nach Rom (1464), um seine wähl auch wider den wülen
des zoUernfeindlichen Würzburger bischofs Johann durchzusetzen. Es gelang ihm
zwar nicht, da die pfründe ein anderer bekam, der ihm allerdings 100 gülden jähr-
lich abgäbe zahlen musste; dagegen erhielt er als ersatz das Würzburger archidia-
konat Ipphofen. Als er in Würzburg dem widerstrebenden bischof gegenüber sein
recht persönlich geltend zu machen suchte, wurde er, jedesfalls auf veranlassung
jenes gewalttätigen mannes, von zwei herren von der Tann auf deren schloss ent-
führt und gefangen gehalten. Es verwendeten sich für ihn sowol markgraf Albrecht,
als der bischof von Bamberg; besonders mit rücksicht auf den letzten wurde er zwar
freigelassen, doch nicht eher, als bis er aUes unterschrieben, was seine kerkermeister
verlangten, vor allem verzieht auf Ipphofen geleistet hatte. Da aber dieser not-
gedrungene verzieht trotz aller bemühungen nicht rückgängig gemacht werden konnte,
begab sich Eyb zum zweiten male nach Rom und nahm den ersten aufenthalt in
Mantua, an dem hofe der Gonzaga, wo er gute aufnähme fand durch vermittlimg
der nichte seines gönners, Albrecht Achilles, Barbara, markgräfin von Mantua,
deren lob er im Ehebüchlein verkündigt. In Rom setzte er zwar eine entscheidung
des pabstes zu seinen gunsten durch; die Würzburger aber kehrten sich nicht dai'an.
Auch die bemühungen Eybs, nach der wähl des domp rohstes Wilhelm von Reichenau
zum bischof von Eichstätt (nach Johanns tode, 1464) einige von dessen pf runden zu
erlangen, blieben erfolgios-
Weit weniger bedeutungsvoll, als Eybs politische tätigkeit, ist seine juristische
(s. 258 fgg.), die namentlich in der eiteilung von rechtsgutachten bestand; die
meisten davon sind in lateinischer, nur wenige in deutscher spräche abgefasst und
haben inhaltlich für unsere zeit geringes Interesse.
Mehr wert haben für uns seine in dieser zeit entstandenen lateinischen
Schriften über ehe und trauen, beides ein lieblingsthema Eybs: Clarissimarum
feminarum laudacio, die Niclas von Wyle in seinen Translationes stillschweigend
übertragen hat; Invectiva in lenam; An viro sapienti uxor sit ducenda, alle drei
ÜBER HERRMANN, ALBRECHT VON EYB 277
mosaikarbeiten, entstandeu diu-ch zusammenfügiing namentlich klassischer citate; die
letzte ist die vorläuferin seines Ehehüchleins.
Nachdem der Verfasser an 3 novellen (Guiscardus und Sigismunda, Marina,
Albauus) die in dem Ehebüchlein aufnähme fanden , und einem dialoge (De nobüitate),
der dem Spiegel der sitten einverleibt ist), die von Eyb in diesen stücken beobach-
teten principien der nacherzählung festgestellt hat (s. 287 fgg.), untersucht er an der
band der so gewonnenen resultate, mit welchem rechte neuerdings Strauch das ano-
nyme werk Griseldis jenem zugeschrieben habe. Er weist überzeugend nach, dass es
nicht von Eyb herrührt, dass dieser vielmehr, als er die novelle in seinem Ehebüch-
lein benutzte, ein plagiat an dem unbekannten Verfasser begangen hat.
Das Ehebüchlein, welches alle früheren arbeiten Eybs über frauen, ehe
u. dergl. zusammenfasst, und dem rate von Nürnberg gewidmet ist, gehört zu den
schönsten deutschen büchern der beginnenden neuzeit. Nach besprechung der auf-
fassungen, welche die ehe in jüdischen, griechischen, römischen und früh- christlich -
scholastischen Schriften gefunden hat, wird der Standpunkt, welchen der humanismus
in dieser frage einnimmt, aus Schriften des Franciscus Barbaras (De re uxoria) und
Poggios (An seni sit uxor ducenda) veranschaulicht. Die bedeutendste schrift über
diesen gegenständ jedoch ist Eybs Ehebüchlein, welches die ehe von rein mensch-
lichem Standpunkte aus betrachtet, ohne sich auf die damals so beliebten juristischen
ehefragen einzulassen. Es folgt sodann eine eingehende besprechung über entstehung,
kompositiou imd Inhalt des ganzen Werkes, das schliesslich (auf s. 345 — 355), wie
der Verfasser selbst sagt, sich eine „zerpüückung" gefallen lassen muss, d. h. einen
nachweis aller sätze und sätzchen, die Eyb seinen eignen früheren Schriften oder den
arbeiten anderer entlehnt hat.
Entgegen dem in streng humanistischem geiste gesckriebenen Ehebüchlein raht
der Spiegel der sitten entsprechend dem geschmacke der geistlichen Würdenträ-
ger, denen das buch gewidmet ist, wesentlich auf scholastisch - patristischer grund-
lage; die citate, aus denen auch dieses buch zum teil besteht, sind demnach der
mehrzahl nach den kirchenvätern und Scholastikern entnommen. Nach einer einge-
henden besprechung des Inhaltes folgt der beweis , dass der deutsche Spiegel der sitten
nichts ist, als eine Übertragung einer fremden lateinischen arbeit, die Eyb durch
einige Zusätze erweitert hat. Die dracklegung des Werkes, die er nicht mehr zu
bewirken vermochte, erfolgte erst 36 jähre nach seinem tode durch seinen neffen
Gabriel von Eyb. Beifall fand indes das werk auch jetzt nicht, eine neue aufläge
erlebte es nicht. Um so grössere Verbreitung fand der anhang des buches: Plautus
und ügolino Pisani in deutschem gewande.
Zu bedauern ist das späte erscheinen der dramenübertragungen. 1474, als
sie enstanden, kannte man aus dem lateinischen altertume in deutscher Übersetzung
nur den Boethius; 1511 dagegen waren bereits die meisten alten autoren übertragen,
noch dazu in schulbuchmässiger wörtlichkeit, im vergleich zu welcher Eybs freie
übertragungsweise anstoss erregte. Seine bearbeitmig ist ein gemisch von erzählung
und handluug, insofern dm'ch zahlreiche erläuternde bemerkungen der oft verwickelte
Zusammenhang klar gemacht wird. Auf des Rasinus erläuterungen gehen offenbar
die besonders in den Menaechmi und Bacchides vertretenen scenischen bemerkungen
zurück. Im anschluss an die lateinische vorläge sind in den Menaechmi und der
Philogenia vor beginn des dialoges jeder scene die namen der in ihr redenden per-
sonen genannt, wofür die Bacchides eine in zusammenhängender darstellung gegebene
Übersicht haben der „namen der personeu in disem püchlin genannt und gemeldet."
278 MATIUIAS
Akteinteilung ist nicht vorhanden. Nicht bloss die mehrzahl der namen ist durch
deutsche ersetzt (Heintz, Fritz, Kuntz; Barb, Metz, Ness); die ganzen stücke sind
germanisiert und darin besonders besteht Eybs verdienst und der wert seiner Über-
tragung. Die personen reden nicht nur deutsch, sondern empfinden auch deutsch;
so sind beispielsweise alle anspielungen auf antike Verhältnisse, namentlich auch die
heidnischen götter beseitigt; der reiche Sprichwörter- und Sentenzenschatz des Plau-
tus ist möglichst in deutsche münze umgeprägt. Das gab oft anlass zu Weiterungen
oder kürzungen; ebendazu führte das streben, allzu anstössiges zu beseitigen oder
zu verschleiern, ferner dunkelheiten des lateinischen textes aufzuhellen, endlich, die
epigrammatische kürze des römischen komikers durch die behagliche fülle zu ersetzen,
die dem deutschen stügefüge, zumal für die alltagsrede entsprechend ist. Diesen
vielfachen bemühungen entspricht der erfolg: die lektüi-e der dramenübertragungen
„ist noch heute ein genuss, welcher der beschäftigung mit den originalen beinahe
ebenbürtig an die seite tritt."
Das letzte (X.) kapitel (s. 398 fgg.) behandelt den lebensausgang Eybs. Es
ist aus seinen letzten lebensjahren nur wenig bekannt. Schon früher war erwähnt
worden, dass er in Bamberg dem heiligen Sebastian eine kapelle geweiht habe. Nun
weist der Verfasser auf einen Münchener codex hin, in welchem sich ge dichte als
erläuterungeu zu federzeichnungen besonders astrologischen Charakters finden. Wäh-
rend die meisten gedichte sich schon in älteren kalendern nachweisen lassen, sind 5
davon original und unzweifelhaft Eybs eigentum (s. 409 — 416); denn sie sind
nichts, als versificierte kernsätze des Spiegels der sitten und des Ehebüchleins; und
die Vermutung des Verfassers, dass bilder und verse die wandfläche jener Sebastian-
kapelle geziert haben, scheint mir das richtige zu treffen.
Am 24. juli 1475 ist Eyb im 55. lebensjahre gestorben. Eine sclilussbetrach-
tuug gibt nochmals in kürze einen überblick über die Stellung, die Eyb in der ge-
schichte der deutschen litteratur einnimmt, und erklärt, warum die nachweit bisher
sich gegen ihn so undankbar erwiesen hat.
Das ungefähr ist der inhalt des bandes, welcher zunächst als ergänzung und
erläuteruug zu den beiden ersten, dem Ehebüchlein und den Dramenübertragungen,
anzusehen ist: während diese viele dankbare leser finden werden, wird der dritte
und liauptteil ausserhalb des engsten kreises der fachgenossen im Zusammenhang
kaum von jemand gelesen werden. Zum teU liegt das ja am stoff. Eybs persönlich-
keit ist nichts weniger, als eine bedeutende; es fehlt überhaupt in der friihzeit des
deutschen humanismus an hervorragenden geistern. Die mit der grössten Sorgfalt
aufgesuchten und aufgehellten lebensschicksale des mannes sind im gi'ossen und gan-
zen uninteressant; ähnliches gilt von Joh. Eot und Balthasar Easinus. Verdient letzterer
wenigstens als erster ausleger des Plautus und als geistiger urheber von Eybs dra-
menübertragungen emiges interesse, so ist von den meisten anderen persönüclikeiten,
mit denen Eyb in berühmng gekommen oder in Verbindung getreten ist, kaum mehr
zu berichten, als dass sie in Italien studiert haben oder Verfasser von inhaltleeren
prunki'eden oder Schreiber von belanglosen briefen gewesen sind. Dafür, dass beson-
ders in der ersten hälfte des buches von so vielen untergeordneten persönlichkeiten
und von so vielen unwichtigen dingen die rede ist, dürfen wir natürlich den Verfas-
ser nicht zur Verantwortung ziehen. Aber das ist überaus zu bedauern, dass er
sich nicht grössere beschränkung auferlegt, dass er die vielen unwesentlichen dinge
und im wichtigen persönlichkeiten nicht kürzer behandelt, dass er nicht überhaupt
eine ganze menge stoff über bord geworfen oder wenigstens nur nebenbei in der
ÜBER HEREMANN, ALBRECHT VON EYB 279
anmerkung abgetan hat; der umfang des buches (über 400 Seiten) wäre dadurch ganz
erheblich beschränkt, seine lesbarkeit bedeutend erhöht worden. Erklärlich ist ja
diese ausf ührlichkeit ; in den meisten fällen hat es unsäglichen fleiss und unendliche
mühe gekostet, um über dieses so dunkle gebiet unsrer litteraturgeschichte einiges
licht zu verbreiten. Die freude des forschers, der es zum ersten male betritt, ist
wol begreiflich; aber er darf nicht vergessen, dass er in einer gegend wandelt, die
besondere reize nicht hat, und dai5s der bericht über die reise im höchsten grade
ermüdet, wenn über alles und jedes, was sich dem äuge dargeboten hat, mit glei-
cher gründlichkeit und- ausführlichkeit berichtet wird. Das ist aber leider geschehen;
man höre ein beispiel für viele: Von dem oben erwähnten Joh. Rot, dem der Ver-
fasser eine hervorragende begabung als hmnanist zuzuschreiben selbst weit entfernt
ist, wird zunächst, wie von vielen, eine ausführliche lebensbeschreibung gegeben
(s. 127 fgg.); sein lob wird verkündet durch einen brief des kaiserlichen kanzleibeam-
ten Joh. Tröster (den sein gönner, Aeneas Sylvius, einen homo subagrestis nennt)
an dessen kollegen Wolfg. Forchtenauer ; diesen Tröster fordert Rot auf, sich in einer
Schrift über das wesen der liebe zu äussern. Sodann behauptet er in einem anderen
schreiben an den angesehensten deutschen Juristen Gregor Heimburg unter anderem,
die „rhetorik" sei hoch erhaben über die Jurisprudenz. Heimburg, dessen Stellung
zum humanismus erörtert wird (s. 134 fg.), weist diese behauptung sehr entschieden
zurück (s. 135 fg.): Rots duplik ist eine förmliche abhandlung, die, wie der Verfasser
selbst sagt, nur von massigem Interesse ist und deren schwülstiges pathos abstösst
(s. 130); Rot rühmt sich seines angeblichen sieges über den Juristen in briefen an
seine freunde, unter denen auch Eyb ist (s. 137); der brief ist nicht erhalten; sein
Inhalt stammt aus einem schreiben des Andreas Bavarus, den Eyb als antwort auf
das diesem mitgeteilte schreiben Rots erhielt; nebenbei wird der Inhalt eines bitt-
schreibens des Bavarus an den Salzburger kanzler Beruh, v. Krayburg mitgeteilt;
s. 139 folgt jene antwort auf den Eybschen brief, in welcher „in unlogischer weise"
entwickelt wird, dass Rot überhaupt kein humanist sei — usw. usw.: 12 selten, durch
welche man sich mit seufzen hindurchwindet, und deren Inhalt auf eine seite zusam-
mengedrängt werden musste. Denn was soll die ganze auseinander Setzung? Erwei-
sen, dass die humanistische bildung bei männern vom schlage Rots in der kunst
besteht, in glänzenden phrasen über jedes, auch das nichtssagendste thema reden zu
können. Das war mit wenigen Worten gesagt und statt den Inhalt der langatmigen
briefe zu widerholen, hätte sich der Verfasser darauf beschränken sollen, kurz auf
die darin behandelten gegenstände hinzuweisen. Andre umfangreiche betrachtungen
liest man zwar mit grossem Interesse, z. b. die über die Verfassung der lateinischen
schule in Rothenburg a. d. Tauber, über die einrichtung der italienischen Universi-
täten, über die geschichte der rhetorik (als einleitung zur Margarita poetica), über
Schriften betreffend frauen und ehe (als einleitung zum Ehebüchlein) usw.: aber es
sind doch dinge, die mit Eybs Persönlichkeit und werken oder mit der frühzeit des
deutschen humanismus nur in losem zusammenhange stehen, deshalb nicht in solcher
ausdehnung behandelt werden durften, dass man das thema des buches zeitweise
ganz aus den äugen verliert. Die zerpflückung des Ehebüchleins möchte man über-
haupt an dieser stelle missen und lieber unter dem texte (heft 1) sehen; denn ohne
diesen weiss man hier mit den 10 selten citaten tatsächlich nichts anzufangen.
Was wir an dem buche auszusetzen haben, bezieht sich ausschliesslich auf
die art der darstelluug und die komposition, nicht auf den Inhalt. Dieser
berulit zum grossen teil auf solohoni material, welches — oft aus den entlegensten
280 HEINE
winkeln — herbeizuschaffen der Verfasser keine zeit und mühe, vermutlich auch keine
kosten gescheut hat. Auf gnmd dieses materials ist es ihm gelungen, nachzuweisen,
dass Eybs persönlichkeit und Schriften doch etwas mehr- heachtung verdienen, als
ihnen nach der bescheidenen rolle, die sie in den meisten litteraturgeschichten spie-
len, bisher zuzukommen schien. Kurz z. b. (Gesch. d. litt. I, 788) erwähnt in der
vita Eybs die dramenübertragungen gar nicht; an der stelle, wo er von ihnen redet
(ebda 715''), sagt er: Hans Nydhardt war der erste, welcher einen versuch der art
(der Übersetzung aus dem lateinischen) machte : er übersetzte den Eunuch des Terenz,
der zu Ulm im jähre 1486 im druck erschien. Ihm folgte ein unbekannter, der den
Terenz vollständig verdeutschte (Strassb. 1499); und im jähre 1511 übersetzte Al-
brecht von Eyb die Menächmen und die Bacchides des Plautus; Kui'z verwechselt
also die zeit des druckes mit der zeit der abfassung und weist damit Eyb in der
geschichte der übersetzungslitteratur eine ganz falsche stelle au.
Auch im einzelnen gelangt der Verfasser zu ganz neuen und oft überraschen-
den resultaten. Ich erinnere nur an den nachweis, dass die Praecepta, die bis jetzt
in den opera des Aeneas Syhäus stehen, Eybs eigentum sind (s. 179 fgg.), vor allem
aber an die Untersuchung über die deutsche Grisardis (301 — 311), deren ergebnis
dureh die entdeckung des wirklichen aiüors (Erh. Gross, einl. s. VI) eine glänzende
bestätigung gefunden hat.
BURG BEI MAGDEBURG. PROF. DR. MATTHIAS.
E. T. A. Hoff mann. Sein leben und seine werke. Von Georg Elliuger. Ham-
bui'g und Leipzig, Leopold Voss. 1894. XII und 230 s. 5 m.
Das interesse an Hoffmanns werken, das nie ganz erloschen war, ist seit
einem Jahrzehnt beständig im wachsen; das beweist die grosse zahl der neuen auf-
lagen, in denen Hoffmanns Schriften in deutscher, französischer, englischer imd
italienischer spräche alljährlich erscheinen. Die mssenschaft dagegen hat sich seit
einem halben Jahrhundert fast gar nicht mit diesem dichter beschäftigt. Hitzigs bio-
graphie ist 1823, die von Kunz 1836 erschienen, imd die spärlichen weiteren ergeb-
nisse der forschung haben Boxberger und Max Koch in ihren litterai"historischen ein-
leitungen zur Hempelschen Hoffmannausgabe und zum 147. bände der Deutschen natio-
nallitteratur aufgezählt und verwertet.
Das bedürfnis nach einer neuen, auf selbständiger forschung beruhenden bio-
graphie wai" also entschieden vorhanden, und im ganzen wird dieses bedürfnis durch
Ellingers buch in erfreulicher weise befriedigt.
In 22 kapiteln sind Hoffmanns werke im anschluss an seinen lebensgang, in
chronologischer Ordnung untersucht. Eine Zusammenfassung dieser zahkeichen kapi-
tel in 4 oder 5 grössere gruppen wäre der Übersichtlichkeit wegen vielleicht zu
empfehlen gewesen.
Ausser der ausführlichen und einsichtigen darlegung der einflüsse des ost-
preussischen volkscharakters auf Hoflmanu bringt EUinger über den lebensgang des
dichters nicht viel neues.
Die Pedanterie von Hitzig und Kunz kam der kenntnis von Hoffmanns lebens-
laui insofern zu gute, als sie wenig tatsächliches ausser acht Hess, während sie in
der beurteilung dieser tatsachen freUich häufig irre gieng. Diesen fehler hat EUinger
nun auszugleichen gesucht, indem er auch Hoffmanns schwächen in das licht einer
ÜBER ELLINGEK, E. T. A. HOFFMANN 281
einsichtigen und nachsichtigen beiiiieihing setzt. Neu sind in der lehensbescbreibung
der name der frau Hatt, einige dateu über Hoffmanns eitern und über die kraft-
genialische Pos euer zeit, für die EUinger in den Denkwürdigkeiten des Posener
Juristen J. L. Schwarz eine neue, freilich trübe quelle entdeckte (s. 26. 196 — 98).
Mit gutem kritischen urteil sind die autobiograi)hischen elemente aus Hoffmanns wer-
ken herausgeschält und geschickt in die lebensdarstellung verwoben. Die pflicht der
nachprüfung überlieferter daten (s. VII) hätte als selbstverständlich nicht betont Vter-
den dürfen.
Mit recht hat Ellinger das hauptaugenmerk auf die quellen gerichtet, aus
denen Hoffmaun schöpfte. Teilweise waren diese bereits bekannt, teilweise aber
bedurften sie wie bei Eameaus neffen (s. 80. 214) oder bei der figur des rats Krespel
(s. 130. 221) noch näherer Untersuchung; vielfach hat Ellinger sie neu aufgefunden.
Vor allem hat er nachgewiesen, dass der bisher überschätzte einfluss von
Jean Paul auf Hoffmann mir von kiu'zer dauer war. Er reicht bis zur Warschauer
zeit, in der Hoffmann den werken der romantiker näher trat. Aber auch bis dahin
gieng Jean Pauls einwirkung nicht bis zu Stoffentlehnungen, während Hoffmanns
abhängigkeit von TVackenroder, Tieck und Novalis in form und Inhalt seiner Schrif-
ten durch Ellinger mit Sicherheit nachgewiesen ist. Bei diesen quelleuuntersuchungen
zeigt sich Ellinger mit wenigen ausnahmen (z. b. s. 148 fg. Kater Murr) glückHch
und massvoU. Besonders gelungen scheinen mir die bemerkungen über die geistes-
verwandtschaft Callots mit Hoffmann (s. 75). — Gern wüsste man näheres darüber,
wie Rochlitz (s. 79) auf das seltsame thema kam, das zu der figur des Kreisler
führte.
Diese reichlichen quellennachweise rücken Hoffmanns Stellung in der litteratur-
geschichte in klareres licht, während man bisher ihn bald neben Jean Paul, Müllner,
Werner, ja neben Uhland und E. K. F. Schulz gestellt hat. Zugleich klären uns
diese quellenforschungen über Hoffmanns schaffensweise auf, bei der Ellinger mit recht
auf Otto Ludwigs Selbstbekenntnisse (s. 174. 187) hinweist. Wir sehen jetzt deut-
lich, wie Hoffmann Überlieferungen mit phantasiegebilden und eigenen erlebnissen
zu einem ganzen künstlerisch verband, das er dann durch das medium seiner unge-
wöhnlich scharfen beobachtuugsgabe uns menschlich nahe bringt. So erhalten selbst
die tollsten ausgeburten seiner phantasie ein gewisses reales leben.
Auch Ellingers urteilen über die einzelnen werke des dichters wird man meist
beipflichten. Das fräulein von Scudery (s. 139 fgg.) stellt er aber wol etwas zu hoch,
und das „Spielerglück" rechne ich nicht zu den „wolgelungenen" erzählungen (s. 142),
denn gerade die einkleidung, die EUinger lobt, halte ich für einen misgriff, weil
dui'ch die gleichförmigkeit der di'ei ineinander geschobenen spielergeschichten keine
zur vollen geltung kommt.
Ausser den fruchten einer gründlichen durcharbeitung des zugänglichen mate-
rials für Hoffmanus juristische tätigkeit, enthält Ellingers biographie nun endlich auch
die erste eingehendere wüi'digung des musikers Hoffmann.
Ellinger hat die zahlreichen kompositionen , die noch vorhanden sind, einer
genauen durchsieht unterworfen, sie geschmackvoll analysiert und ihnen einen be-
stimmten platz in der geschichte der musik angewiesen. Die mehrfach aufgetauchte
meinung, dass Hoffmann ein vorlauter Wagners gewesen sei (s. 193), wird durch
diese erörterungen auf das richtige mass beschränkt.
Wie wichtig Hoffmanns mixsik - ästhetische Wirksamkeit auch für seine litte-
rai'ischen schritten ist, beweist der von EUinger entdeckte aufsatz über „Alte und
282 BUEDFELDT
neue kircheumusik". Wie die bekannte besprechung der Beethovensclien C-dur-
niesse kehrt nümlicli auch dieser aufsatz teils wörtlich, teils in freierer bonutzung in
den Serapions-brüdern (s. 74. 201 — 13) wider. Ebenso hat EUinger die musikrecen-
sionen zum ersten male untersucht, deren wert für Hoffmanns Persönlichkeit und
seine allgemeinen kunstanschauungen äusserst bedeutend ist; einige davon hat er als
Hoffmanns eigentum erst nachgewiesen.
Der schluss des buches sammelt einige urteile über Hoffmann, unter denen
das von Carlyle (s. 181) fehlt; dann wird Hoffmanns einwirkung auf die poesie und
musik der ihm folgenden zeit kurz erörtert. Mit recht ist Willibald Alexis (s. 185)
trotz seines eigenen Widerspruches zu Hoffmanns Schülern gezählt; unter Hoffmanns
direkten nachfolgern scheint mir Weisflog (s. 36. 183) doch unterschätzt.
EUinger ist mit seiner biographie dem weitverzweigten schaffen Hoffmanns
entschieden gerecht geworden; die wärme, mit der er Hoffmann bewundert, artet
nirgends in blinde lobpreisung aus; nur in einem punkte ist uns meines erachtens
EUinger erhebliches schuldig geblieben: die wenigen aUgemeinen betrachtungen über
Hoffmanns stil sind nicht genügend. Ist er originell? Hat er Wandlungen erfahren?
Mir fällt da die s. 41 mitgeteilte anekdote auf. Bei Fouque, der dieselbe anekdote
erzählt, lauten Hoffmanns worte anders, weniger charakteristisch, während sie bei
EUinger durchaus das gepräge tragen, das später den schriftsteiler auszeichnete. Die
anekdote fällt noch vor die schriftstellerische tätigkeit Hoffmanns und ist deshalb mei-
ner ansieht nach in dieser hinsieht doppelt bedeutend,
EUingers buch ist trotz dieser geringen ausstellungeu mehr, als ein „erster
grösserer versuch" (s. VHI), auch die darstellungsweise ist mit einigen kleinen aus-
nahmen lobenswert.
LEIPZIG. CABL HEINE.
Eichcudorffs juge nddichtungeu. Von Eduard Höber. Berlin, C.Vogt. 1894.
80 s. 1,80 m.
Die jugenddiclitungen Eichendorffs, denen die vorliegende Untersuchung gewid-
met ist, lassen, wie der Verfasser am Schlüsse seiner arbeit (s. 77- — 80) im einzelnen
nachweist, fast schon den ganzen Eicheudorff erkennen. Das liat der Verfasser von
„Ahnung und gegonwart" mit dem Messiasdichter gemeinsam: beide stehn bald nach
ihrem ersten hervortreten so zu sagen als „fertig" und in sich abgeschlossen da; eine
tiefgehende innere entwicklung und umwandelung ihres wesens haben beide später
nicht mehr durchgemacht. Die thcmata ihrer Jugend bleiben während ihres ganzen
folgenden lebens die vorhersehenden und werden nur in einigen punkten modificiert
und variiert.
Daraus ergibt sich aber die Schwierigkeit, ihre poetische Wirksamkeit in scharf
geschiedene perioden zu sondern. Höber gesteht dies für Eicheudorff selber zu (Vor-
wort s. 3). Den schluss für dessen Jugendzeit setzt er in die jähre 1815 und 16, die
zeit der rückkehr Eichendorffs aus den befreiungskriegen und seines eintritts in den
preussischen Staatsdienst (dec. 1816). Man kann ihm darin zustimmen, wiewol man
auch z. b. schon das jähr 1811, in welchem der roinan „Ahnung und gegenwart"
beendigt wurde, als einen solchen grenzpunkt ansehen könnte.
Die ältesten erhaltenen pootisclien vorsuche Eichendorffs reichen bis in seine
Breslauer gymnasiastonzeit (1801 — 4) zurück. Den so begrenzten Zeitraum von 12
bis 15 Jahren hat Höber eingehend studiert und geschickt behandelt. Viel neues
ÜBER HÖBER, EICHENDOKFFS JÜGENDDICHTÜNGEN 283
freilich wird man kaum erwarten; Minors gründlicher aufsatz „Zum Jubiläum Eichen-
dorffs" Ztschr. XXI, 214 — 232 konnte nur im einzelnen ergänzt und weiter ausge-
baut werden.
Höber zerlegt seinen stoff in zwei teile: der erste (s. 7 — 47) handelt von den
Jugendgedichten (im engeren sinne!), der zweite (s. 49 — 75) von dem romane „Ähnung
und gegenwart". Im ersten teile scheint mir der Schwerpunkt der arbeit zu liegen,
wie denn ja auch Eichendorffs rühm und bedeutung hauptsächlich auf seiner lyrik
beruht. Nach einer kui'zen angäbe der ersten drucke der Jugendgedichte werden
diese in drei „perioden" geschieden, welche durch die jähre 1807, 1811 und 1815
begrenzt sind. Die poesie der schul- und Studienjahre (s. 9 — 19) bietet nicht
viel hervorragendes, enthält aber schon fruchtbare keime für die spätere entwicklung
natur, religion und der widerstreit von dichtung und leben bilden schon hier die
hauptthemata. In der zweiten periode 1808 bis 1811 (s. 19—39) haben der aufent-
halt in Heidelberg (Des knaben wunderhoru !) , die liebe und die Zeitverhältnisse Eichen-
dorff auf die höhe seines lyrischen Schaffens emporgehoben. Einige religiöse und
stimmungsUeder eilnnern freilich noch ganz an die vorige periode und wären darum
vielleicht besser gleich zu 'dieser gezogen worden (vgl. s. 22). Die hauptmasse der
gedichte dieser zeit ordnet Höber, im anschluss an eine offenbar zufällig getane
äusserung des dichters, nach folgenden gesichtspunkten (s. 24 fgg.): Sehnsucht, früh-
ling, liebe, heimat, Goethe. Eine wunderliche Zusammenstellung! Höber hätte sicher-
lich besser getan, wenn er die auordnung der zweiten Leipziger ausgäbe von 1864
befolgt hätte; sie entspricht doch wol Eichendorffs eigenen ansichten und absiebten,
vgl. Dietze in seiner ausgäbe Eichendorffs bd. 1, 405. Der abschnitt „Goethe" nimmt
sich neben den anderen doch gar eigentümlich aus; man könnte danach vermuten,
dass Goethe in einer anzahl von liedern gefeiert worden wäre. Im gegenteil, das ein-
zige, welches Höber anführt („Ach von dem weichen pfühle", vgl. s. 28) ist nur eine
parodie des Goetheschen gedichtes: „ Nachtgesang ". Wol hat der meister auf den
jungen lyriker mächtig gewirkt; aber das gehört doch mehr zur allgemeinen Cha-
rakteristik. Ausserdem könnte man gegen jene gruppierung einwenden, dass bei
Eichendorff — wie auch Höber selber zugeben muss (s. 25) — liebe, natur und früh-
ling sich häufig gar nicht von einander trennen lassen. Hieran reiht Höber sodann
noch zwei abteilungen : Romanzen und Zeitgedichte (s. 28 — 35). In dem sehr lesens-
werten abschnitte über die romanzen, von denen er manche lieber lieder nennen
möchte (s. 28), weist er für mehrere nicht ohne glück, aber auch nicht ohne Vor-
gänger (vgl. Dietze a. a. o. s. 404) die „quellen" nach; auch für „Das zerbrochene
ringlein", Eichendorffs bekannteste und berühmteste Schöpfung, findet er wol mit recht
mindestens eine sehr interessante parallele, wenn nicht die anregung in zwei Strophen
aus Des knaben wunderhorn (teil I. Heidelberg 1806, s. 103: „Des müUers abschied").
Unter den „ Zeitgedichten " hätte bei der besprechung von „Der Jäger abschied"
(s. 34 fg.) die durch Lyon in der Zeitschr. f. d. d . u. IV, 76 fgg. und Koch in dersel-
ben Zeitschrift VI, 348 fg. vertretene auffassung erwähnt werden können, obwol ihr
durch den umstand, dass das lied bereits 1810 gedichtet ist, der boden entzogen
wird. In der dritten periode (1812 bis 1815) stehen die zeitgedichte oben an.
"Wenn jedoch Höber die liebeslieder aus diesen jähren als „nichtssagend rmd flach -
bezeichnet und meint, dass sie gegen die früheren entschieden zurückständen, so ist
das doch wol ein zu hartes urteil gegenüber so tief empfundenen liedern wie „Neue
liebe" (Herz, mein herz, warum so fröhlich), „An Luise" (Ich wolt' in liedern oft
dich preisen) und „Glück" (Wie jauclizt meine seele). — Am Schlüsse einer jeden
284 SCHMEDES
dieser drei „perioden" ist ein abschnitt über „spräche und metrik" angehängt, der
aber wichtige fragen der eigentlichen metrik (z. b. den gebrauch zweisilbiger werte in
der Senkung) gar nicht berührt.
Die Charakteristik und ästhetische Würdigung, welche Höber von deüi romane
„Ahnung und gegenwart" gibt, muss als recht gelungen bezeichnet werden. Nur
hätte der Verfasser meines erachtens etwas näher auf die technik und Ökonomie des-
selben eingehen können. Sonst findet er den hauptmangel des romans mit recht in
dem fehlen der plastik bei darstellung der personen und Vorgänge (s. 61). Die zusam-
menhänge mit „Wilhelm Meister" und den romanen der romantiker werden eingehend
besprochen. Dabei scheint dem Verfasser das buch von Donner „Der eiufluss Wil-
helm Meisters auf den roman der romantiker", Berlin 1893 (211 selten!), angezeigt
von Minor DLZ XV, sp. 743 — 745 , entgangen zu sein. Eine direkte nachahmung des
Goethischen meisterwerks nimt Höber nicht an; Eichendorff habe seinen geist und
seine natur auch in dem ausgeprägt, was er von dort herübergenommen (s. 70). —
Im letzten abschnitte werden „biographische grundlagen zu dem romane" aufgedeckt
in bezug auf das lokal und auf die Charaktere. Hier wäre es vielleicht interessanter
gewesen, anstatt nach einem „modell" für den minister u. a. zu suchen, die frage
zu erörtern, ob Eichendorff bei der Zeichnung des cUchters Faber eine bestirnte per-
sönlichkeit im äuge gehabt habe.
Im ganzen wird man das buch Höbers nicht ohne genuss und belehruug lesen.
Sein Stil ist glatt und flüssig, wie die verse seines dichters Eichendorff selbst; auffal-
lend ist jedoch der ausdruck: „verfassungszeit des gedichtes" s. 43; vgl. s. 49 und 75.
Auch von drackfehlem ist das buch fast völlig frei. Ich habe nur notiert: „den"
statt „dem" (in einem citat!) (s. 43), „zweite" statt „dritte" (s. 31 z. 6 v. u.) und
zweimal (s. 7 anm. 1 und s. 71 anm. 1) „Herrmann" statt „Hermann".
KIEL. AUGUST BREDFELDT.
Die vaganten-strophe der mittellateinischen dichtung und das Verhält-
nis derselben zu mhd. strophenformen. Ein beitrag zur Carmina- Burana -
frage. Yen dr. J. Schreiber. Strassburg i. E., Schlesier. 1894. 2 bll. und
204 s. 5 m.
Das erste kapitel der unter gleichem titel teilweise schon als Strassburger dis-
sertation erschienenen schrift handelt vom bau der sogenannten Yagantenstrophe. Der
Verfasser sieht in ihr — wie mir scheint, mit recht — eine selbständige, in der latei-
nischen rhythmendichtung des 12. Jahrhunderts auf französischem Sprachgebiet ent-
standene form. Ob für die 13 silbige vagantenzeile ein vorbild in der quantitierenden
lateinischen poesie gesucht werden darf, will ich dahingestellt sein lassen: sicher ist
aber dies vorbild nicht der hexameter gewesen, wie Sckreiber zu glauben geneigt ist.
Dem, was über die verschiedene Verwendung von auftakt, zusatzsilben im versinueru,
taktwechsel, caesur- und versschluss, reim und caesurreim in der vagantenzeile bei
französischen, englischen und deutschen dichtem gesagt wird, kann ich im allgemei-
nen zustimmen. In den folgenden kapiteln untersucht Schreiber die gedichte der
Benedictbeui-er handschrift, deren form die vagantenstrophe in ihrer ursprünglichen
oder in modificierter gestalt ist, auf ihre technik, um auf die ergebnisse dieser Unter-
suchung gestützt zeit und ort ihrer entstehung nachzuweisen. Nun ist nicht zu
leugnen, dass neben inhalt und ausdnick, die übrigens auch Schreiber in der regel
gebührend in betracht zieht, besonderheiten der form für die bestimmung des dich-
ÜBER SCHREIBER, VAGANTENSTROPHE 285
ters oder mindestens seiner zeit von bedeutung sind. Es ist nur schlinim, dass bei
der entschieden oft recht mangelhaften Überlieferang der gedichte in der Benedict-
beurer handschrift für derartige Untersuchungen hier der sichere boden fehlt. Der
Verfasser ist sich dieser Schwierigkeit bewusst und hat in mehreren fällen versucht,
sich erst einen kritischen text als grundlage herzustellen. Dass ihm dies gelungen
sei, kann ich nicht zugeben. Ein lesbarer text, wie Schreiber ihn in solchen fällen
meist wol erhält, ist eben noch lange kein kritischer. Zudem leiden die teile des
buches, die sich mit textkritik befassen, an einer gewissen Unübersichtlichkeit. Der
Verfasser hätte besser getan, wenn er einfach seine recension abgedruckt und mit
einem ganz knappen kritischen apparat begleitet hätte. Jetzt ist nicht allemal klar
zu sehen, wie er denn eigentlich lesen will. So ist (s. 26) zu CB XIX, 17, 5 nichts
bemerkt; es scheint aber, dass Schreiber die lesart Schmellers beibehalten will: dann
aber hat er (s. 27) für dies gedieht einen taktwechsel zu wenig angegeben.
Für die meisten gedichte, die Schreiber in den kreis seiner rmtersuchung
gezogen hat, nimmt er französischen Ursprung an. Einige weist er, zum teil in
Übereinstimmung mit Giesebrecht, dem Walther von Chätillon zu, nicht ohne Wahr-
scheinlichkeit. Die annähme dagegen, dass dieser "Walther und der Archipoeta iden-
tisch seien, ist entschieden abzuweisen: was an giünden dafür vorgebracht wird, ist
nicht stichhaltig. Nur ein kleiner teil der gedichte, und entschieden nicht der bessere,
ist nach des Verfassers ansieht mit bestimmtheit auf deutsche vaganten zurückzufüh-
ren. In nicht wenigen fällen freilich kommt er über etwas zaghaft geäusserte Ver-
mutungen nicht hinaus; zuweilen sieht er sich sogar in einem dilemma, aus dem er
den ausweg nicht findet (vgl. z. b. s. 68 zu CB 50). Wie weit im einzelnen die auf-
stellungen des Verfassers berechtigt sind, kann mit rücksicht auf den beschränkten
räum hier nicht dargelegt werden.
Nur über seine auffassuug der beziehungen zwischen den lateinischen gedich-
teu und den ihnen beigegebenen deutschen Strophen ist noch ein wort zu sagen: soll
ja doch die schrift vor allem ein beitrag zur- lösung der frage sein, ob wir- in diesen
Strophen nachbildungen der lateinischen oder umgekehrt ihre Vorbilder zu sehen
haben! Der Verfasser verficht die Originalität der lateinischen gedichte. Ob seine
ausfühi'ungen im einzelnen geeignet sind, irgend jemand, der anderer ansieht ist, zu
bekehren, scheint mir zweifelhaft. Höchstens könnte man ihm hier und da zugeben,
dass die lateinischen Strophen nicht gut unmittelbar nach dem vorbilde der ihnen bei-
gegebenen einen deutschen entstanden sein können , womit denn aber doch das gegen-
teil noch nicht ohne weiteres erwiesen ist. Mii' scheint, die frage ist überhaupt
nicht so einfach zu fassen, wie Schreiber es tut. Es bleibt eine erklärung möglich,
die das Verhältnis zwischen lateinischem gedieht und deutscher Strophe überhaupt
nicht oder doch jedesfalls für einen teil der fälle nicht als das von Vorbild und nach-
ahmung ansieht. — Unangenehm sind mir in dem buche zahlreiche dnickfehler auf-
gefallen.
WANDSBECK, 28. FEBR. 1895. J. SCHMEDES.
Erklärung.
Kossinna macht mir (Beitr. 20, 259) den voi-wurf, dass ich den Verfasser
eines von ihm angegriffenen artikels, der unlängst in dieser Zeitschrift veröffentlicht
wurde, nicht auf seine „Unterlassungssünden" hingewiesen, d. h. auf die von ihm
nicht berticksichtigte , denselben gegenständ betreffende neueste litteratur ihn nicht
286 GERING, ERKLÄRUNG
aufmerksam gemacht habe. Ich muss diesen vorwarf als durchaus unberechtigt zu-
rückweiseu. Wenn K. meint, dass mir die gesammte fachlitteratur unmittelbar nach
ihrem erscheinen zugänglich sei, so ist das eine anschauung, die seine eigene gün-
stige läge, jederzeit aus den reichen schätzen der Berliner kgl. bibliothek schöpfen zu
können, auch bei anderen minder glücklichen sterblichen voraussetzt, und wenn er
mir zumutet, dass ich die ganze ungeheure masse, die jährlich produciert wird,
sofort lesen und verdauen müsse, so ist das einfach, eine lächerlichkeit. Weiter
wundert sich K. darüber, dass dem betr. artikel die spalten meines organs geöffnet
seien, obwol ich gleichzeitig in einer fussnote erklärt habe, dass die ausführungen
des Verfassers mich nicht überzeugt hätten; er verschweigt aber, dass die gründe,
weshalb die aufnähme erfolgte, in derselben fussnote ausdrücklich angegeben sind.
Im übrigen glaube ich, dass jeder herausgeber dagegen protestieren wird, dass man
ihn für alles, was er in seiner Zeitschrift veröffentlicht, für jede hypothese, die seine
mitarbeitor aussprechen, verantwortlich macht; die Verantwortung hat zunächst unbe-
dingt der autor zu tragen. Niemandem z. b. ist es eingefallen, die zahllosen Schnitzer,
die in Haupts ztschr. oder in Pfeiffers Germania auf nordischem gebiete begangen
wurden (man erinnere sich u. a. der dilettantischen runendeutungen Dietrichs oder
der durch Sachkenntnis durchaus ungetrübten erörterungen Jordans über den Oddiiinar-
gratr), den herausgebern , die nicht skandinavisten vom fach waren, zur last zu legen,
und ebensowenig hat — um ein beispiel aus der aUerjüngsten Vergangenheit zu wäh-
len — Eud. Much den redakteur der Beiträge darüber zur rede zu stellen sich
erdreistet, warum ein aufsatz, den jener als „schuft" bezeichnet, der „hinweg-
geräumt werden müsse", in diesem organ zur Veröffentlichung zugelassen sei.
KIEL, JULI 1895. HUGO GERING.
NEUE ERSCHEINUNGEN.
Albertus, Laurentius, Deutsche grammatik, [1573] herausg. von Carl MüUer-
Fraureuth. ötrassburg, Trübner. 1895. XXXIV (II), 159 s. 3 m. (A. u. d. t.
Ältere deutsche grammatiken in neudrucken, herausg. von John Meier. III.)
Berlit, Georg, Rudolf Hildebrand, ein erinnerungsbild. Leipzig, Teubner. 1895.
(Sonderabdruck aus den Neuen Jahrbüchern für klass. philol. und pädag.) 41 s.
1 m.
Bolte, J. , und Seelmaiui, W., Niederdeutsche Schauspiele älterer zeit.
(Dnicke des Vereins für nd. Sprachforschung IV.) Norden und Leipzig, D. Soltau.
1895. 48 und 164 s. 3 m.
Bruckiier, Willi., Die spräche der Langobarden. Strassburg, Trübner. 1895.
XVI, 338 s. (QF. 75.) 8 m.
Coek, Albert S., Exercises in Old English. Boston, Ginn & co. 1895". IV,
68 s. 1,60 m.
Übungsstücke zum übersetzen aus dem englischen ins angelsächsische.
Dimtzer, H. , Goethe, Karl August und Ottokar Lorenz. Dresden, V. W.
Esche. 1895. 126 s, m.
Gegen Lorenz, Goethes politische lehrjahre (Berlin, 1893).
Elster, E., Die aufgaben der litteraturgeschichte. Akademische antrittsrede.
Halle, Niemeyer. 1894. II und 22 s. 0,80 m.
NEUE ERSCHEINUNGEN 287
Fabritius, Hans, Das büchlein gleichstimmender würter aber ungleichs
Verstandes [1531] hsg. von John Meier. Strassburg, Trübner. 1895. XLII
(IV), 44 s. 2 m. (A. u. d. t. : Ältere deutsche grammatiken in neudrucken, hsg.
von John Meier. I.)
Härtung:, Oskar, Die deutschen altertümer des Nibelungenliedes und der
Kudrun. Cöthen, 0. Schulze. 1894. VEI, 551 s.
Hirt, Herrn., Der indogermanische akzent, ein handbuch. Strassburg, Trüb-
ner. 1895. XXIII, 356 s. 9 m.
Hübner, Rudolf, Jacob Grimm und das deutsche recht. Mit einem anhange:
ungedruckte briefc an J. Grimm. Göttingen, Dieterich. 1895. YIII und 187 s.
4 m.
Lichtenberger, H., Histoire de la langue allemande. Paris, A. Laisney. 1895.
XIV und 479 s. 7,50 frcs = 6 m.
Löher, Franz von. Das Kanarierbuch. Geschichte und gesittung der Germa-
nen auf den kanarischen inseln. Aus dem nachlasse herausgegeben. München,
J. Schweitzer. 1895. (IV), 663 s. 8 m.
Die aufsätze, die der Verfasser vor jähren in der Augsburger Allgem. zeitung
veröffentlichte , sind hier zu einem buche erweitert. Einer Widerlegung bedarf die
hypothese, dass die Giiandschen auf den kanarischen inseln reste der Vandalen
gewesen seien, für philologisch gebildete leser nicht.
Magnüssou, Eirikr, Odins horse Yggdrasill. London, Society for promoting
Christian knowledge, 1895. 64 s.
Meringer, Rud., und Mayer, Karl, Versprechen und verlesen, eine psycho-
logisch-linguistische Studie. Stuttgart, Göschen. 1895. XIV, 204 s. 4,50 m.
Reutscli, Job., Lucianstudien. Beilage zum gymn.-programm Plauen i.V. 1895.
44 s. 4.
I: Lucian und Voltaire, eine vergleichende Charakteristik (s. 1 — 14). —
II: das totengespräch in der litteratur (s. 15 — 40; s. 33 fgg. werden die nach-
wirkungen Lucians in Deutschland mit ausgebreiteter htteraturkenntnis verfolgt). —
Drei weitere Studien stellt der Verfasser in aussieht.
Reuter, F., Friedrich Rückert und Joseph Kopp. Beilage zum programm des
gymnasiums zu Altena. 1895. 48 s.
Diese fortsetzung der programm - abhandlungen von 1888 und 1893 enthält
17 briefe des dichters an seinen Erlanger freund Kopp aus den jähren 1837 — 42,
einige briefe an Karl von Raumer und mehrere gedichte Rückerts.
Ridderhoff, Euno, Sophie von La Roche, die Schülerin Richardsons und
Rousseaus. Göttingen, diss. in comm. bei Peppmüller. 1895. 109 s. 2 m.
Sander, Fredrik, Das Nibelungenlied, Siegfried der schlangentöter und
Hagen von Tronje. Eine mythologische und historische Untersuchung. Stock-
hohn, P. A. Norstedt & söner. 1895. (II), 124 s. 3,60 m.
Schläg'er, G., Studien über das tagelied. Ein beitrag zur litteraturgeschichte
des mittelalters. Jena, H. Pohle. 1895. IV und 89 s. 1,80 m.
Schmidt, B., Der vocalismus der Siegerländer mundart. HaUe, Niemeyer.
1894. 136 s. 3,60 m.
Schöne, A., Über die Alkestis des Euripides. Rede am 27. januar 1895.
Kiel, Universitätsbuchhandlung. 27 s.
S. 16. 25 — 27 über Wielands Singspiel und Goethes schwank „Götter, bei-
den und Wieland ", mit wertvollen nachweisen über die von Goethe benutzten quellen.
Zöb NEUE ERSCHEINUNGEN. NACHRICHTEN
Steiniueyer, E. und 8ievers, E. , Die althochdeutschen glosseu. 3. band:
Sachlich geordnete glossare bearb. von E. Steinmeyer. Berhn, Weidmann. 1895.
XII und 723 s.
Thoiuasius, Chr., Von nachahmung der Franzosen. Nach den ausgaben von
1687 und 1701. Herausgegeben von August Sauer. [Deutsche litteraturdenk-
male des 18. und 19. Jahrhunderts, nr. 51 (= neue folge nr. 1).] Stuttgart 1894.
IX und 50 s. 0,60 m.
J'orkelssoii , Jon, Islensk sagnord med |)alegri mynd i nütid (verba praete-
ritopraesentia). Eeykjavik 1895. IV luid 80 s.
Tyrol, Fritz, Lessings sprachliche revision seiner Jugenddramen. Ber-
lin, C. Vogt. 1893. 70 s. 1,80 m.
Der Verfasser vergleicht die revidierte ausgäbe von Lessings jugenddi'amen
im 1. imd 2. bände der Lustspiele (1767), sowie die „Miss Sara Sampson" von
1772 mit der ersten ausgäbe in den Schriften (1754 — 56). Die vergleichung
erstreckt sich auf alle einzellieiten der üexion, des Wortschatzes, der wortfiigung
und des Stiles. Die ergebnisse der Untersuchungen werden am Schlüsse (s. 70)
allgemein charakterisiert dui'ch den satz: Lessings princip bei der revision seiner
Jugenddramen war, mit möglichst eleganter form, aber unter wahrang des ganzen
Sprachreichtums, eine möglichst grosse knappheit und prägnanz des ausdrucks zu
verbinden.
Vetter, Ferd., Die neuentdeckte bibeldichtung des 9. Jahrhunderts. Mit
dem text und der Übersetzung der neuaufgefundenen vatikanischen bruchstücke.
Basel, B. Schwabe. 1895. 47 s. 1,50 m.
Warnatscli, 0., Beiträge zur germanischen mythologie. Gymn.-progr. Beu-
then 0. S. 1895. 20 s. 4».
1. Logi — Loki — Prometheus. 2. Odin Widiür — Wunderer. Anhang:
Altnordische sagen auf dem gymnasium.
Wimmer, Ludv. F. A. , De danske runemindesmjerker. Afbildningerne udforte
af J. Magnus Petersen. I. De historiske runemindesmaerker. Kobenhävn, Gyl-
deudal. 1895. 174 s. gr. 4. 25 kr. = 28,13 m.
NACHRICHTEN.
Am 13. juni verstarb zu Kiel der ordentl. professor der deutschen philologie,
dr. Oskar Erdmann (vgl. oben s. 228 fgg.); am 6. juli zu Berlin der ordentl. pro-
fessor der englischen spräche und litteratur, dr. Julius Zupitza (geb. 4. Januar
1844 zu Kerpen), der sich durch seine mittelhochdeutschen arbeiten auch um die
deutsche philologie bleibende Verdienste erworben hat und vor jähren auch unserer
Zeitschrift einzelne beitrage lieferte; am 9. august zu Kopenhagen der runolog George
Stephens (geb. 13. december 1813 zu Liverpool).
Der ausserordentl. professor dr. Th. Vetter in Züiich wurde zum Ordinarius
ernannt; der ordentl. professor dr. J. B acht cid in Zürich an die Universität Leipzig
berufen.
Habilitiert haben sich: für germanische philologie in München dr. Fr. Pan-
zer, für neuere litte raturgeschichte in Jena dr. R. Schlösser und in Münster dr.
F. Schwering.
Halle a. S. , Buchdruckorei des Waisenhauses.
DIE GÖTTIN NEETHUS UND DEE GOTT NIOEPE.
Wie bekannt, beschreibt Tacitus in seiner Germania kap. 40, wie
sieben kleinere stamme gemeinsam die göttin Nerthus „Terram matrem"
auf einer insel im ocean verehrten. Die sprachliche identität von Ner^-
thiis und Niqi'pr liegt offen zu tage, und dass Niqrpr eine art männ-
licher entsprechung zu Nerthus ist, hat man schon längst einge-
sehen.
Schon Munch hat in seinem buche „Det norske folks historie" I.
1. s. 57 betont, dass man eine männliche und eine weibliche gottheit
Nerthus gehabt habe: „Wenn es an einer stelle in unsern alten denk-
mälem heisst, dass Njord mit seiner Schwester verheiratet gewesen
sei, bevor er unter die Äsen aufgenommen worden, so wird damit
deutlich genug auf eine männliche und eine weibliche gottheit Nerthus
hingezielt, gleichwie man einen Frauja und eine Frcmjo hatte; mit
andern werten, der männliche Nerthus (Njord) und Frauja (Frey)
sind nur verschiedene namen für eine männliche, die weibliche Ner-
thus (Jord) und Ftrmjo nur verschiedene namen für eine weibliche
hauptgottheit, nämlich jene für Wodan (Odin), diese für „mutter erde"
(Frigg).^'- Wie Munch hier bemerkt, ist Freyr eigentlich mit Niqrpr
und Freijja eigentlich mit der weiblichen Nerthus identisch; seine auf-
fassung ist aber im übrigen nicht richtig.
Die nahe Verwandtschaft zwischen Freyr -Freyia und Nerthus -
Niqrpr^ ergibt sich unter anderm auch daraus, dass der upsalische
1) Die identität von Ni(jr{)r und Nerthus wird auch dadui'ch bekräftigt, dass
Niqrpr im Codex regius der Snorra Edda (I, 260, anm. 12) vagnaguä genannt wird.
Diese lesart ist nämhch sicher die ursprüngliche, und es muss hierbei beachtet wer-
den, dass nach der beschreibung des Tacitus der wagen im Nerthus - kultus eine
grosse rolle spielt (gleichwie der wagen in dem upsalischen Frey -kultus von
grosser bedeutung ist; vgl. die Flateyjarbok). Der Codex regius hat als antwort auf
die frage „Hvernig skal kenna Njqrä?" folgendes: Svä, at kalla kann vagna guä
eäa vana niä [nach Sn. E. I, 260 anm. 13 hat dort ursprünglich vapna nict gestan-
den] eäa van. Cod. "W. hat vanga guä, Cod. upsal. dagegen vana guä, was vom
herausgeber der 1848'='" ausgäbe in den text eingesetzt worden ist und von ihm als
die richtige lesart betrachtet wh'd. Das ursprüngliche vagna guä ist im Cod. upsal.
ZEITSCHRIFT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XXVUI. 19
I
290 KOCK
Frey-kultus, wie er in der Flateyjarbök I, 338 beschrieben wird, naiie
mit der beschreibung übereinstimmt, die Tacitas (kap. 40) vom Ner-
thus-kultus gibt. Darum hat auch kaum ein mytholog bezweifelt, dass
man es hier mit einunddemselben kultus zu tun hat.
In der (svensk) Historisk tidskrift 1895 s. 157 fgg. habe ich in
einem aufsatze „Om Ynglingar säsom namn pä en svensk konunga-
ätt" gelegenheit gehabt, diesen gegenständ nebst ein paar damit in Ver-
bindung stehenden fragen zu behandeln. Ich gebe zuerst ein kurzes
referat der resultate, zu denen ich dort gekommen bin. Freys benen-
nung Iiigunarfreyr ist aus einem älteren Ingima ärfreyr „Brnteherr
der Ingvinen" entstanden, wie Gutna aXping „der Goten althing" in
der geschichte Gotlands 2 Gutnalping (geschrieben giiti/al ping) gewor-
den ist. Vgl. mit ärfreyr, dass Freyr als gott des Wachstums und der
fruchtbarkeit verehrt wird, und besonders seine benennung drgup in
der Sn. E. I, 262. Die ältere form für Tjigvifreyr ist wahrscheinlich
Ingivinfrey?- „der Ingvinen -herr" gewesen (das n ist in unaccen-
tuierter silbe vor f verloren gegangen); vgl. ags. Ingivine, benennung
für Ost- Dänen (vielleicht auch Yngvin v. 1. zu Yngimi in der Heims-
kringla ed. Finnur Jönsson I, 33). Nach Tacitus (kap. 2) wohnten die
Ingsevones (Ingvceones) „proximi oceano", d. h. an der Ostsee oder an
der Nordsee oder an diesen beiden meeren , und es waren ingvseonische
(ingvinische) stamme, welche die Nerthus verehrten; vgl. Much, Bei-
träge XVII, 178 fgg. Im Beowulf haben wir eine andeutung, dass
die Ingvinen im östlichen Dänemark (Schonen) während einer etwas
späteren zeit einen hiermit verwandten kultus gehabt haben (vgl. Her-
mann Möller, Das altengl. epos 43, Much in der angef. abh. 197; Scyld
Scefmg = Sldold Skanunga goit, Flateyjarbök III, 246). Wie die
namen Iiigunarfreyr, Yngvifreyr andeuten, ist der upsalische Frey-
kultus aus dem lande der Ingvinen nach Schweden gebracht worden.
Ynglingar als name der alten Svea-könige ist darum völlig berechtigt
und beruht nicht auf einem missverständnisse der Isländer, wie Noreen
(Uppsalastudier 223) gemeint hat. Die Svea-könige betrachteten sich
durch beeinflussuug des folgenden vana niä eäa van zu vaiia guct verderbt wor-
den. Der Schreiber des Cod. W. hat vagna guä fälschlich als vanga guct aufgefasst
(vgl. neuschw. dial. väng bebautes stück land), weil er NiQr|)r als eine gottheit des
Wachstums kannte. Schon Rask betrachtete vagna guä als die richtige lesart. Gegen
diese auffassung haben die (s. 262) für Freyr angeführten epitheta Vana -guä ok
Vana-niär ok Vanr keine beweiskraft, und dies umsoweniger, als der Schreiber des
Cod. regius ursprünglich Vagnagvä als ein epitheton Freys geschrieben hat; vgl. s. 262
anm. 4. Auch im Frey-kultus spielte, wie erwähnt, der wagen eine wichtige rolle.
NBRTHUS UND NIOrI>R 291
als abkömmlinge von Yngvifreyr, Yngvi Freyr, von welchem namen
Ynglingar abgeleitet ist.
Bei diesem Sachverhalt fragt man sich aber: wie kommt es, dass
Tacitus nur von einer weiblichen Nerthus spricht, während die isl.
mvthologie nur einen männlichen NiQr})r kennt? Wie kommt es fer-
ner, dass der ingvaeonische (ingvinische) kultus der göttin Nerthus
in späteren zeiteu wesentlich als kultus des go tt es Frey r auftritt, wäh-
rend die göttin Freyja eine mehr untergeordnete Stellung einnimmt?
Und wie kommt es schliesslich, dass Freyr und Freyja jene wenig
charakteristischen namen „herr" und „herrin" erhalten haben?
Ich glaube, dass man für alle diese fragen eine gemeinschaft-
liche antwort finden kann, und dass es die Veränderung der
spräche gewesen ist, die hierbei eine wesentliche rolle gespielt hat.
Der name Nerthus (*Nerpu;:) ist, wie bekannt, ein weiblicher
M- stamm. Nun lehrt uns die gotische grammatik, dass schon zu Wul-
filas zeit diese stamme in der spräche sehr schwach repräsentiert waren.
"Während bei Wulfila eine menge männlicher «^-stamme sich finden,
gibt es nicht mehr als vier Wörter, von denen man mit gewissheit
weiss, dass es weibliche -z^- stamme sind {handus, icaddjus, asilus,
JäfuiHs: Braune, Got. gr. ^ § 105''). In den nordischen sprachen sind
die weiblichen «-stamme gänzlich ausgestorben, und schon in den
ältesten nordischen handschriften begegnen uns (neben dem neutralen
fc) nur männliche ?^- stamme; diese aber sind sehr zahlreich: fiqrpr,
sldqldr, hiqrtr, kiqlr, miqpr, hiqrn usw. usw.
Hiermit steht in Zusammenhang, dass gewisse alte weibliche
z-stämme im isländischen in männliche 2^-stämme übergegangen sind.
Dies ist der fall mit folgenden (siehe Tamm, Fornnordiska fem. afledda
pä U och pä ipa, s. 25 fgg.): got. mahts, ahd. altsächs. mäht, ags.
mealit f., altschw. vamncEt, aber isl. mättr m. — mnd. dracht, mhd.
traht, altschw. drcst f., aber isl. drättr m. — ahd. slaht, altschw. slcei
f., aber isl. slättr m.
Da diese alten weiblichen «-stamme im nom. sg. das lautgesetz-
liche -r beibehalten hatten (vgl. got. mahts usw.), während die meisten
feminina die nom.-endung -r nicht mehr hatten, und da die flexion
dieser weiblichen «'- stamme in mehreren kasus mit der flexion der
männl. «-stamme zusammenfiel, so nahmen niättr usw. dasselbe genus
und dieselbe flexion wie diese an.
Gleichwie diese Wörter auf grund ihrer form das genus (und ihre
deklination) verändert haben, so lassen sich auch beispiele anführen,
19*
292 KocK
welche zeigen, dass benennungen lebender oder als lebend gedachter
wesen aus demselben gründe aus masculinis feminina geworden sind.
Im lateinischen wurde, wie bekannt, Lima auf grund der form
des Wortes (vgl. nieiisa usw.) als göttin aufgefasst. Nach der nordischen
mythologie hingegen war Mäni der b rüder der sonne, natürlich weil
das wort eine maskul. form (vgl. hani usw.) hatte. Nachdem indessen
im älteren neuschwed. formen auf a (mäna) aus den obliquen kasus
teilweise in den nom. eingedrungen waren, findet man bei dichtem des
18. Jahrhunderts mäna als femininum aufgefasst. Ja, im direkten ge-
gensatze zu dem in der isl. mythologie vorliegenden Verhältnis nennt
der dichter Stagnelius den mond die Schwester der sonne. Hierbei
hat jedoch auch die einwirkung des lateinischen Lima, franz. la lune
eine rolle spielen können. Ygl. Tegn6r, Om genus i svenskan s. 139 fgg.
Beda, der name des gelehrten angelsächs. theologen, ist in Schwe-
den als taufname für frauen recht gebräuchlich geworden, weil Beda,
gleich den meisten schwedischen frauennamen, auf -a ausgeht [Anna,
Hilda, Greta usw.); vgl. ISTorrman in Sv. landsm. YI, nr. 7, s. 14; Teg-
ner a. a. o. 114.
Man hat im isl. mehrere beispiele dafür, dass weibliche ?'- stamme
ihre flexion als '«^'-stamme beibehalten haben, aber maskulina geworden
sind, weil sie die noni.-endung -r ungewöhnlich lange bewahrten,
z. b. got. (jabaürj>s, altschw. hyrpi. : isl. burpr m.; ahd. scurt, altschw.
skyrp f. : isl. sJairpr m.; altschw. styld f. : isl. stuldr m. (Tamm, a. a. o.
s. 26.)
Das Verhältnis ist in den jüngeren nordischen sprachen z. t. dasselbe
gewesen mit dem werte vceUr „a „wight", being; esp. of supernatural
beings.'' Dies ist im altisl. femininum (vgl. got. umhts f.). Da das
Wort aber die sonst für maskul. charakteristische nom.-endung -r hatte,
wurde es sowol im neuisl. (Erik Jonsson, Oldnordisk ordbog) als auch
im neuschw. maskulinum. Darum fasst man nunmehr in Schweden
671 vätter als ein männliches wesen auf. Rietz nimmt vätter oder
Vetter m. „erdgeist, waldgeist, Irrwisch, schutzgeist" in sein Wörterbuch
auf; im plur. ^"o/rZ - , hol-, skogs-vättar, aber auch vättrar.
Es scheint inir in sehr guter Übereinstimmung mit den hier an-
geführten genusentwickelungen und besonders mit der genusverände-
rung bei dem mythischen wesen en vätter zu stehen, wenn ich für
Nerthiis : Niqrpr : Freyja : Freyr folgende entwickelung annehme.
Tacitus spricht nur von einer göttin Nerthus. Da nun die weib-
lichen ^/- Stämme schon früh äusserst schwach vertreten oder gar im
aussterben waren, man aber eine menge männlicher z*- stamme hatte,
NKRTHÜS UND NI0R!>R 293
SO ist es möglich, dass dieser umstand es yeranlasste, dass man Ner-
thiis (*Nerpux) nicht nur als femininum, sondern auch als maskulinum
d. h. nicht nur als göttin, sondern auch als gott auffasste, so dass man
schon früh neben einer weiblichen Nerthiis auch einen männlichen
NertJms bekam. Aber wenn es auch vielleicht zu kühn wäre anzu-
nehmen, dass dieser umstand den ersten impuls zur bildung eines
männlichen Nerthus gegeben habe, so ist man doch wenigstens voll
berechtigt anzunehmen, dass man, ,da die volksphantasie sich eine männ-
liche entsprechung zur göttin Nerthus dachte, d. h. Ihren gatten und
bruder, diese männliche entsprechung denselben namen bekommen
Hess, den die göttin hatte, weil ihr uame der form nach männ-
lich (maskulinum) war.
Nun ist es indessen selbstverständlich, dass der glaube an einen
männlichen und eine weibliche Nerthus mit vollkommen identischen
namen es erforderte, dass man den gott Nerthus und die göttin Nerthus
in irgend einer weise von einander unterschied. Man tat dies dadurch,
dass man die erstere Nerthus (Niqrl^r} freyr „Nerthus, den herrn",
die letztere Nerthus (Niqrpr) freyja „Nerthus, die herrin" ^ nannte.
Da indessen die Wortklasse (der ?^- stamme), zu welcher Nerthus
gehörte, ihre feminina immer mehr verlor, während die männlichen
Worte weiter fortlebten, fasste man Nerthus immer deutlicher wesent-
lich als ein männliches wesen (einen gott) auf, während die weibliche
Nerthus (die göttin) immer mehr in den hintergrund trat. Indess spal-
tete sich, wie dies auch sonst bei der bildung mj^thischer persönlich-
keiten oft geschehen ist, Nerthus (Niqrpr) freijr in den gott Nerthus
(Niqrpr) und den gott Freyr; Nerthus (Niqrjyr) freyja hingegen in
die göttin Nerthus (Niqrpr) und die göttin Freyja. Bei dieser Spal-
tung war aber aus dem genannten gründe der gott zur hauptperson
geworden, während die göttin an bedeutung eingebüsst hatte. Und
1) Id der zeit, wo man erst anfing freyr und freyja dem namen als epitheta
beizulegen, hatten sie gewiss ältere formen; doch interessiert uns dies in diesem
zusammenhange nicht. — Es ist möglich, dass man in poryrimr porsteinssons bei-
namen freysgoßi eine erinnerung daran hat, dass freyr ursprünglich ein appellativum
„herr" ist. Eyrbyggja saga kap. 11 erzählt von diesem porgrimr: pann stein gaf
porsteinn pör, ok kvaä vera skyldu hofgoäa., ok kallar kann Porgrim. In Überein-
stimmung hiermit stand er als mann dem hof auf pörsnes vor. Henry Petersen:
0>n Nordboernes gudedyrkelse og gudetro i hedenold s. 34 mit anm. 1 will porgrims
namen freysgoäi daraus erklären, dass sich in dem tempel ausser tors bild vermut-
lich auch ein bild Freys befunden habe. Da indessen von einem derartigen bilde
Freys nirgends die rede ist, so dürfte man freysgoäi eher als „des herrn (d. h. hier
Tors) goäi'-'- deuten; vgl. „priester des herrn".
294 KOCK, NERTHtrS UND NIORfR
darum tritt also in der nordischen mjthologie der gott Freyr als einer
der meist verehrten götter in den Vordergrund, während die göttin
Freyja einen mehr untergeordneten platz einnimmt.
Nachdem aber Niqrjyr (Nerthus) freyr sich in. dieser weise in
Mqrpr (Nerthus) und Freyr, Niqrjyr (Nerthus) freyia in Niqrpr (Ner-
thus) und Freyia gespalten hatte, wurde Niqrpr allein sowol von
der männlichen als auch von der weiblichen gottheit gebraucht, ohne
die näher bestimmenden epitheta freyr und freyia, welche ja nun,
nomina propria geworden, andere gottheiten bezeichneten. Da aber,
wie erwähnt, in den nordischen sprachen sämtliche weiblichen
?<- stamme verloren gegangen, und die wie Niqrpr flektierten Wörter
fiqrpr, skiqldr, Jäqlr, biqrn(R) usw. alle männlich waren, so schwand
das bewusstsein davon, dass Niqrpr femin. sein (d. h. von einer göt-
tin gebraucht werden) könnte, ganz und gar, und es wurde aus-
schliesslich als mask. gebraucht, oder mit andern worten Niqrpr
ausschliesslich als gott aufgefasst.
Man könnte sich vielleicht versucht fühlen , in Skapi, welche nach
der isländischen mythologie Niqrjm gattin war, eine erinnerung an die
eutwickelung zu sehen, welcher die mythische persönlichkeit Nerthus-
Niqrjjr unterworfen gewesen ist. Der name Skajn (gen. Skapa) hat
nämlich eine maskuline form, obwol er der name einer göttin ist.
Man fragt darum: ist SkaJn während einer etwas früheren periode als
mann der Niqrp)r aufgefasst worden, welche damals noch als frau auf-
gefasst werden konnte? Als stütze hierfür liesse sich anführen, dass
Skapi nach der Suorra-Edda I, 212 in einer sehr mannhaften weise
auftritt und räche für ihren vater heischt (En Skaäi, döttir pjaza
jqtims, tök hjälm ok hrynjit, ok oll hervdpn, ok ferr til Äsgaräs, at
hefna fqäur slns) . In der Yolsunga saga wird von einem manne mit
dem namen Skapi gesprochen, was aber nach Symons (Beitr. III, 292)
und Müllenhoif (Zs. f d. a. XXIII, 11(3 fg.) auf einem misverständnis
beruhen soll. Vgl. auch Sievers, Ber. der kgl. sächs. gesellsch. d. wis-
sensch. 1894 s. 141.
Es ist jedoch nicht wahrscheinlich, dass diese frage nach der
ursprünglichen natur der Skapi bejahend beantwortet werden kann,
aber die oben aufgestellte theorie über Neipiis - Niqrpr und Freyr -
Freyja ist in keiner weise davon abhängig.
LUXD, IM MAI 1895. AXEL KOCK.
BECH, ZU DEM TON BÜWENBURO 295
ZU DEM VON BÜWENBUEC.
Ungenügend erklärt finde ich unter den liedern des von Buwen-
burg bei v. d. Hagen MS. U, 262=' (lY, 2) = Bartseh, Schweiz. MS.
XXni, 4 folgende strophe:
Ich ivände ein tvip vo7i tper haheyi vimden,
dö ich erst ersach die minneclichen :
nü swachet st an eren zallen stunden,
daz ich si xe hoye teil geltchen.
ez, ist übel umb ein schoene bilde,
daz im wont kein ivandel bl,
da$ si machet eren vr%;
doch sivie triuteloht si st,
sost ir ivtplich giiete tvorden ivilde.
Es fragt sich hier, wie man die ausdrücke iper und hoye aufzufassen
habe. "Weigand setzt in seinem D. wörterb.^ I, 864 an „die iper, die
kleinblätterige ulme", und denkt an das „franz. ipreau, span. ohne de
Ipre^'-\ ein n'ip von rper fasst er als „ein wolgewachsenes weib"; ihm
folgt in dieser auffassung Lexer I, 1448. Aber dem deutschen mittel-
alter war das wort in diesem sinne noch unbekannt. Noch mehr
Schwierigkeiten hat hoye gemacht. Oberlin I, 699 verstand darunter
foenum, hoei, heu, ähnlich v. d. Hagen in MS. HI, 705, wo er zu
hoye bemerkt: „undeutlich — etwa eppich oder heu", ebenso das Mhd.
wörtrb. I, 752 s. v. Iper. Bartsch nimt das Avort = heie, „eine ramme
womit man pfähle einschlägt", vgl. Schmeller- Fromm. I, 1021 und
Heyne im D. wörtrb. IV, 2, 1731 sowie Germanial8, 262 — 63. Sollte
die frau mit einer „ramme" verglichen worden sein, dann durfte wol
der artikel vor hoye nicht fehlen. Aber auch dann würde der aus-
druck, selbst wenn der dichter ein sivache^ oder boesez wip, wie es in
der vorhergehenden strophe heisst, im sinne hatte, zu stark an das
plebejische streifen. Das richtige hat offenbar v. d. Hagen schon ge-
sehen, wenn jer in MS. lY, 539 von unserer stelle sagt: „der wunder-
liche ausdruck gegen eine ihn (den sänger) abweisende schöne, „„er
wähnte ein weib von Iper gefunden zu haben"", geht doch wol auf die
niederländische stadt Ipern, welche damals schon durch ihre schönen
zeuge berühmt war; Hoye, dem der dichter die spröde vergleichen will,
müsste dann etwa schlechtere zeuge geliefert haben." Ebenso richtig
scheint mir^ was er dort in der anmerkung dazu sagt: Oberlins glos-
sar erklärt hoye durch heu, übergeht aber den gegensatz ^per." Dass
296 BECH, zu DEM VON BUWENBURC
die flandrische Stadt Hoye, das jetzige Huy an der Maas, hier im ge-
gensatz zu Iper steht, sowie dass die hier gewebten tuche einen gerin-
geren wert hatten als die, welche Ipern in den handel brachte, dafür
sprechen unter andern folgende stellen: nach dem stadtrecht von Mün-
chen-, herausg. von Fr. Auer, § 495 (s. 186) sollten, die underchaufel
von ai)ieni tuch von Eyper VI dn. und von ainem sicären tuoch von
Dorn oder von ainem von Hoy IUI dn. und von den andern II dn.
xe I6?i nemen; in den rechten und freiheiten der Stadt Wien herausg.
von Tomaschek s. 7 (13. jahrh.) heisst es: zivclf tuoch von Eypper ist
ein soum; sehzekniu von Hoy ist ein soum; ebenso in einer jüngeren
fassung daselbst s. 94. Sonst ist zu verweisen auf Ztschr. XXIV, 534,
wo pannum Hoiense erwähnt wird, und auf die Chroniken der frän-
kischen Städte I, 100 und 222, wo Hoye unter den städten erscheint,
in denen die Nürnberger zollfreiheit besassen. Über die tuche von Ipern
vgl. ausser Schultz, Höf. leben I, 255, 8 noch Strauch zu J. Enikels
Weltchronik 22473; Gauriel von Muntavel 2300 von Ipper hlä sin
schaprun; Cod. dipl. Silesiae III (= Henricus Pauper) s. 20' und 27'
pannus de Ipir; ebenso VIII, s. 7; s. 117 yperisch tüch; IE, s. 28
und 29 panni Yperenses; Ofener stadtrecht s. 275" de uno panno Ipri.
Dem zusammenhange nach könnte man auch versucht sein, tper und
hoije gleich wie arrax als metonymische bezeichnungen für die an den
betreffenden orten gefertigten stoffe zu nehmen. Jedesfalls ist der sinn
der vier ersten zeilen obiger Strophe: bei seinem ersten begegnen
glaubte der sänger ein weib so kostbar wie das tuch von Tpern gefun-
den zu haben; jetzt erscheine sie immer geringer an ehren, so dass
er sie mit dem stoffe von Hoye vergleichen wolle. Über die kürze
des ausdrucks %e Hoye vergleiche man die lesenswerte bemerkung bei
Kraus, Deutsche gedichte des 12. jahrh. XII, 45, s. 249. Ob die tücher
von Hoye denen von Tpern gegenüber noch ein besonderes merkmal
hatten, welches den spott des dichters deutlicher hervortreten liess, ist
mir unerfindlich geblieben.
ZEITZ, APEIL 1895. FEDOR BECH.
WILKEN, DER FENRISWOLF 297
DEE FENEISWOLF.
Eine mytliologiselie untersucliuiig.
(Schluss.)
V.
Der kern des mythns.
1. Den schon mehrfach kurz berührten hauptbericht der Gylf.
(cap. 34 und 51) haben wir hier genauer zu betrachten. "Während zu
dem letzteren cap. die Liederedda viele ausführliche parallelen liefert,
wenn nicht geradezu dem berichte zu gründe liegt, findet sich über
die fesselung des wolfes (cap. 34) bei ihr und den skalden nur hier
und da eine flüchtige notiz. Dies capitel ist also von besonderer Wich-
tigkeit, freilich auch von entsprechender Schwierigkeit. Dass der leben-
dig und frisch gehaltene bericht altes und jüngeres in ziemlich bunter
mischung darbietet, erkannte schon Bergmann, Fase. s. 288: le sujet
d'un conte populaire, d'une date relativement posterieure, mais qui est
remarquable, et pour le fond nwthologique et pour la forme de la
narration. — Mogk (bei Paul u. Braune, Beitr. VII, 270) unterscheidet
mit fug die genealogische einleitung, wenn auch noch nicht mit be-
stimmten gründen, von dem berichte der fesselung selbst: „ob die
beiden ersten berichte (geneal. art) auf alte Überlieferung zurückgehen,
oder nur von dem Verfasser der Gylf. aus dem bestehenden erschlossen
sind, wird sich nicht entscheiden lassen i; für die fesselung des Fen-
riswolfes jedoch müssen wir benutzung eines in galdralag verfassten
gedichtes annehmen." — Mir scheint es richtiger, die in Gylf 34 (so-
wie in Kph. II, 432, 515) teils direkt überlieferten, teils durchschim-
mernden Stabreime lediglich als schmuck der poetischen prosa zu
betrachten 2; sollte aber selbst die ganze fesselung des wolfes in ähn-
liclien memorialversen, wie wir sie Grm. 11 — 17, Alvissm. 10 fg. fin-
den, ihm vorgelegen haben, so würde der autor von Gylf. 34 das beste
(vom poetischen Standpunkte aus), die lebendige Schilderung der beiden
1) Meine ansieht s. oben c. IV, § 1; auch s. 193 anm. 1 und s. 194 anm. 1. —
Für das folgende vgl. Untersuch, s. 114.
2) Einen bericht, in dem sich vielleicht namen wie Wilhelm und Walter,
Hildegard und Hedwig beisammenfänden, würde ich selbst dann noch nicht „auf eine
poetische quelle in Stabreimen" zurückführen, wenn er nach „allmählich stärker wer-
dendem stui'me" das schiff schliesslich „mit mann und maus" verloren sein Hesse-
Dass volkstümliche erzählungen, märchen und schwanke gerne durch eingestreute
versa belebt werden, kann man schon aus dem ersten märchen in Grimms Sammlung
ersehen.
298 WILKEN
Parteien und die auch den leser „fesselnde" durchführung der intrigue
doch selbst hiuzugetan haben.
2. um den bericht im einzelnen zu prüfen, empfiehlt es sich von
ihm folgende fragen beantworten zu lassen:
1) wann und wo wurde der wolf gefesselt?
2) aus welchem gründe geschah es?
3) welche persönlichen mächte beteiligten sich dabei?
4) welche sachlichen mittel wurden benutzt?
5) darf der wolf je auf befreiung hoffen?
3. Bei der ersten frage lässt sich das wann? sehr leicht erle-
digen. Die genealogische Verknüpfung niit Loki und Angrboda hat die
Vorstellung veranlasst, dass die drei geschwister zunächst in Riesenheim
aufwachsen und von dort erst, um sie unschädlich zu machen, zu den
göttern geführt werden, bei denen der wolf verbleibt, während seine
geschwister einen andern wohnort erhalten. Erkennen wir jenen frü-
heren aufenthalt in Riesenheim als „konstruiert", so darf der aufent-
halt des wolfes bei den göttern als ursprünglich gelten; ja selbst seine
fesselung ist (nach dem in cap. I, 16 besprochenen gesetz) vielleicht
nur als künstlich historisierte, im gründe gleichfalls auf einen ursprüng-
lichen zustand zurückzuführende handkmg anzusehen. Ist die rolle des
gottes Tyr (vgl. weiter unten zu fr. 3) im sinne eines tagesgottes auf-
zufassen und der verlust der band als Schwächung seiner macht anzu-
sehen, so würde als einzige genauere Zeitbestimmung zu der eben
gegebenen noch „die nachtzeit" sich ergeben. — Auch bez. des wo?
würde die sache einfach liegen, wenn nicht der bericht in Gylf. durch
spätere zusätze getrübt wäre. Dieser bericht sagt zunächst (vgl. oben),
dass die götter den wolf heima, also in ihrer eigenen heimat^ aufge-
zogen hätten. Wo, wie hier mit nachdruck und im gegensatz zu meer
und unterweit von der „heimat der götter" geredet wird, kann wol
nur der himmel gemeint sein 2, und dafür scheint in diesem falle auch
der umstand zu sprechen, dass auf die heiligkeit des lokals, wo der
1) "Wol nur Hammerich (Om Ragn. mythen s. 133) hat diese angäbe soweit
verwertet, dass er den wolf ausdrücklich in Asgard gefesselt sein lässt. Aber dieser
ausdruck ist vielleicht absichtlich in Gylf. nicht gebraucht, weil der anklang an Asia
gerade jene zeit dann leicht an einen irdischen wohnsitz denken liess.
2) Als götterwohusitz im weiteren sinne kann freilich auch das hochgebirge
gelten, das in die wolkenregion hinein, teilweise noch über dieselbe hinausragt. Man
denke an die art, wie der Olymp bei den Griechen als götterwohusitz galt, vgl. Nä-
gelsbach, Homer, theol. ^ s. 18 — 20. Endlich gibt es auch irdische Wohnsitze der
götter ohne diese beschränkung, vgl. darüber weiter unten exe. I.
DEE FENBISWOLP 299
wolf gefesselt wurde, mit besonderem nachdrucke hingewiesen wird^.
Da nun diese stelle (42, 9 — 11 Wk) sich gerade am ende des ganzen
fesselberichtes findet, so scheint die sonst allerdings durch einige aus-
drücke nahegelegte Vermutung ausgeschlossen zu sein, dass mit heima
nur der erste aufenthaltsort, wo der wolf gefüttert wurde, gemeint
sei, während er später andernortes gefesselt sei 2. Für die Identität des
lokals spricht auch die erwägung, dass die genaue angäbe des aufent-
haltes der andern beiden geschwister eine solche auch bez. des wolfes
erwarten liesse, wenn der Verfasser nicht eben mit jenem heima schon
genug getan zu haben meinte 3. Ist endlich die Vermutung gegründet,
1) Mit der betreffenden Wendung {svä viikils viräii guäin ve sin oh grida-
staäi) vgl. Gylf. 49 (74, 22 Wk) die angäbe bei dem tode des himmlischen lichtgot-
tes Baldr: en engl mdtti liefna; ßar var svä mikill grktastcutr. — In beiden fäl-
len soll ungeachtet der annäherung der darsteUung an menschliche Verhältnisse daran
erinnert werden, dass die geschilderten Vorgänge einem andern gebiete als der men-
schenweit angehören.
2) Dazu könnte zunächst der satz 40, 12 verleiten: pd foru cBsirnir üt i
vatn ßat er Amsvartnir heitir, i holm pmm er Lyngvi er kallaär, weiterhin aber
41, 9—13 die angäbe, wonach die äsen den fesselhaft tief in der erde befestigt haben
sollen. — Kann nun auch sonst der himmel wol als eine „mythische landschaft"
(E. H. Meyer) mit berg, tal, flüssen usw. bezeichnet werden, so scheint mir diese
erklärung doch für die letzte stelle nicht ausreichend. In beiden fällen verrät
schon die fülle skaldisch gefärbt namen für leblose dinge, aus welcher quelle diese
erweiterungen geflossen sind; der skaldische Ursprung wird zweifellos durch verglei-
chung der beiden berichte in der Skälda (Kph. II, 41.3, 515), wo eine noch grössere
fülle solcher namen begegnet; s. auch § 6 und exe. II. — Über ärosi fyrir Lokas.
41, 1 vgl. §6.
3) Dass der autor von Gylf. durch den euhemeristischen Standpunkt, der mehr-
fach bei ihm durchblickt, allerdings gerade in solchen fragen leicht irregeführt wer-
den und einen mangel an konsequenz verschulden konnte, wird in exe. I, 2 c) noch
näher dargelegt werden. — Unter den neueren forscliern können die freunde des „meer-
dänion" Fenrir, abgesehen von der etymologischen Verknüpfung mit fen, die c. III,
3 — 5 beleuchtet ist, nur aus jüngeren nebenzügen eine stütze ihrer ansieht gewin-
nen, wonach ohne weiteres Fenrir mit sonnen- und mondwolf gleichgesetzt wird
(vgl. s. 195 anm. 3) und das (doch allabendlich in aller ruhe geschehende) versinken
der sonne im meere als ui'bild für das gewaltsame geschick der sonne am weltende
(Yaf|)r. 46) gefasst wird (Mogk im Grundriss I, 1045). Die anhänger des „sturm-
wolfes" stehen meiner ansieht schon näher, da sie die luft als sphaere des wolfes
ansehen. Aber mag der wolf auch oft genug den stürm bedeuten: ein bis zum Welt-
untergang gefesselter stürm hört doch auf stürm zu sein; infolge der maulsperre ist
ihm selbst das Iieulen verwehrt. Den Vertretern unterirdischer fesselung des wolfes
gegenüber betonte MüUenhoff (D. alt. V, 138, 150) mit recht, dass „der wolf kei-
neswegs in der unterweit und in ihrem bereiche gefesselt liegt." — Zur stütze mei-
ner ansieht sei noch an Eiriksmal str. 6 erinnert: „es sieht der graue wolf (drohend)
auf den wohnsitz der götter." Unterirdisch gefesselt ist er also gewiss nicht, der
300 WILKEN
dass jenes „füttern des wolfes" durch Tfr nur eine ungehörige hinein-
menguüg des jüngeren kriegsgottes Tyr in die rolle des älteren natur-
gottes verrät (vgl. weiter unten § 5), so könnte von einer Unterschei-
dung des lokals der fütterung von dem der fesselung erst recht keiue
rede sein.
4. Die zweite frage beantwortet unser bericht scheinbar so bün-
dig, dass sich Gangleri sogar darüber verwundert, warum sich die göt-
ter denn mit der fesselung eines so gefährlichen wesens begnügt, nicht
seine Vernichtung erstrebt hätten. Gleichwol ist die begründung der
fesselung, die cap. 34 gibt, eine rein äusserliche; im hinblicke auf den
Charakter, der dem wolfe geliehen wird, erscheint sie unmotiviert (vgl.
s. 198, anm. 1). Ein wesen, das nach glücklichem zerreissen zweier
fesseln bei dem dritten versuche, zu dem man ihn bereden will, ruhig
erwidert: ef per hindit milc svd at ek fce eigi leyst mik, pd munu-
per svd cetla, at 7ner mun seint vera at taka af yär hjälp; öfüss
em ek at lata petta band d mik leggja. En heldr en per fryit mer
hugar, pd leggi eiiihverr ydar hqnd sina i mumi mer at veäi, at
petta se falslaust gqi't — erinnert eher wol an den biblischen Simson
der Delila gegenüber oder den nordischen Sigurdr Reginn gegenüber,
als an einen trotzigen, prahlerischen riesen oder gar ein die weit be-
drohendes Ungetüm. Diese, bisher wenig beachtete, ideale Zeichnung
des wolfes darf um so weniger etwa als jüngere färbung verdächtigt
werden, als sie ganz im gegensatze zu der dämonischen auffassung
des wolfes steht, welcher der Verfasser von Gylf. sonst, so wol hinsicht-
lich der genealogischen Verknüpfung mit Loki als auch bez. des letzten
kampfes gegen die götter, volle rechnung trägt. Liegt so im Charakter
des wolfes^ keine spur einer erklärung für die handlung der götter, so
bleibt als grund nur die furcht vor dem später (d. h. am ende der
weit) zu erwartenden unheile. Dies besteht aber nach der auffassung von
Gylf. nicht im verschlingen der sonne, da ulfrinn, welcher nach 81, 11
die sonne verschlingt, schon wegen des annarr idfrinn 82, 1, der
den mond fasst, der sonnenwoK SkoU sein muss, nicht der erst später
(82, 5) ft-eiwerdende Fenrir. Es bleibt also nur (nach Gylf.) der kämpf
mit Ödinn übrig. Nun ist aber nicht zu vergessen, dass sämmtliche
einzelkämpfe der götter am weltende, soweit sie nicht als junge
wolinsitz der götter ist vielmehr auch als ort der fesselung zu betrachten, da ein
gefangener zunächst seinen kerker vor äugen hat.
1) Die reden kurz vor der fesselung sind nämlich die einzigen, welche dem
wolfe überhaupt beigelegt werden, aus ihnen allein können wir seinen Charakter
erkennen. — Über den freigewordenen wolf vgl. § 7.
DER FENRISWOLF 301
ersatzdichtung in Gylf. sich darstellen (so namentlich der des gottes
T<'r) nur auf einer fortschiebung älterer kampfesmythen beruhen (vgl.
s. 175, anm. 1). Die scheinbar einzige ausnähme (der kämpf Odins
und Yidars mit dem wolfe Fenrir) wird als ähnlich entstanden in
aap. YII nachgewiesen werden, nur mit dem unterschiede, dass dieser
kämpf sich eigentlich auf andere wölfe bezogt Dies alles erwogen,
bleibt als erklärung nur übrig, dass irgend ein äusserer umstand,
wie er die benennung „wolf" veranlasste, so auch — bei der kind-
lichen auffassung älterer zeit — eine besondere furcht drohenden Un-
heils zu rechtfertigen schien 2.
5. Auf die dritte frage gibt Gylf. 34 zwar reichliche auskunft,
aber die einzelnen angaben stehen nicht in vollem einklange. Nach
der art, wie Allfodr-Ödinn zunächst 38, 1 den beschluss veranlasst,
die drei gefährlichen wesen aus Riesenheim fortführen zu lassen, wie
er dann 39, 17 von den zwergen^ sich das geeignete band zur fes-
selung verschafft, befremdet es schon, wenn nun doch bei der fesse-
lung ein anderer gott, Tfr, die haup trolle spielt, indem er für die
Sache der götter geradezu eintritt, obwol ihm von denselben wenig ge-
dankt wird; die wendung ])ä hlögu allii' nema Tyr 42, 1 erinnert
schon an den spott in Lokas. 38. Nun ist gerade die aufopferung der
band des gottes Tfr, mit der einige neuere erklärer sich ziemlich leicht
abfinden^, eine der am besten bezeugten tatsachen in dem ganzen fes-
selakte, zu Gylf. (25 und 34) tritt Skälda 9, Lokas. 38, 39; prosa vor
str. 1. Am stärksten scheint mir jedoch der widersprach, sofern man
bei buchstäblicher auslegung stehen bleibt, wenn Tjrr zunächst den
wolf füttert, so lange er frei ist, während bei dem gefesselten, der erst
recht solches dienstes bedürfte, offenbar an ein füttern ebenso wenig
gedacht wie im geringsten davon gesprochen wird. Der autor von
1) Auch wer jener argumentatiou hier noch nicht folgen will, wird anerkennen,
dass in dem früheren leben des wolfes kein grund zu besorgnissen lag.
2) Diese furcht erscheint erkLärlicher, wenn räumliche nähe des gefesselten
die götter immer an das zeitlich allerdings noch weit entfernte unheil gemahnte;
vgl. s. 299 anm. 3 gegen ende. — Dass die götter den wolf täglich wachsen sahea , ist
wol mir aus der angäbe erschlossen, dass er bei den göttern aufwuchs; und da er
später Unheil anrichten soll, ist solches von ihm schon prophezeit worden. Vgl. die
trefflichen bemerkungen Beers über die gewöhnliche ausgestaltung eines mythus
Germ. 33 , 10 fg.
3) Da die zwerge hier für uns nur als verfertiger des bandes Gleipnir Interesse
haben, so will ich über sie § 6 handeln.
4) „Möglicher weise ist diese fabel erst erfindung späterer zeit" (F. Kauffmanu,
D. mythol. - s. 82).
302 WILKEN
Gylf. betrachtet beide angaben als beweise von der besonderen kühn-
heit des gottes Tfr, ohne sonst irgendwie die Wahrscheinlichkeit seines
berichtes zu prüfen; eine solche einseitigkeit des Standpunktes ist aber
nicht jedem beurteiler gegeben. Fasst man das füttern des wolfes im
bildlichen sinne \ so ist zwar der Widerspruch etwas gemildert, das
fremdartige des tones aber keineswegs beseitigt 2. Da mm T_\'r als idfs
föstri sich zwar in der prosaischen Edda mehrfach (ausser Gylf. 34 auch
Sk. 9), aber in der Liederedda nicht bezeugt findet, so tritt zu den
inneren doch auch ein äusserer grund hinzu, die betreffende angäbe
als einen jüngeren, ursprünglich in anderem sinne verstandenen zusatz
zu betrachten. Minder wichtig ist es, den speciellen anteil der beiden
götter Ödinn und Tyr an dem fesselwerke schon jetzt genauer festzu-
stellen 3; da beide zweifelsohne zu den himmels- und tagesgottheiten
gehörten*, so kann die beantwortung der dritten frage vorläufig so
lauten: dieselben götter, welche den wolf in ihr gebiet zogen, fessel-
ten ihn auch dort mit hilfe der zwerge — beide angaben sind (mit
rücksicht auf § 3) vielleicht sogar als ursprünglich identisch zu be-
trachten.
1) Den wolf, raben, adler füttern ist der nord. poesie ein sehr geläufiger aus-
druck = feinde fällen, vgl. Untersuch, s. 114. — Dass dies füttern des wolfes
durch Tyr die pflege des „widernatürlichen krieges" bedeute (Simrock, D. myth.^
s. 113) geht aus unseren quellen nicht hervor, W. Müller (Altd. rel. 224) wollte in
dem von dem wolfe der finsternis geschädigten ernährer desselben den der nacht vor-
angehenden, nun verdrängten tagesgott sehen, was in doch wol aUzukünstlicher fas-
sung einen nicht ganz unrichtigen gedanken enthält, vgl. cap. VII, § 2. — Die
versuche, auch den verlust der band auf den kriegsgott zu beziehen (einen derselben
beleuchtet W. Müller a. a. 0. s. 223), sind in neuerer zeit mit geringerem nachdruck
hervorgetreten: sie führen zu mehr oder minder S])ielenden erklärungsweisen des
mythus.
2) Während der ausdruck (38, 15) tilfinn fcedchi ccsir heima (in dem sclilich-
ten sinne = den wolf Hessen die götter bei sich aufwachsen) niemand befremden
wird, ist die angäbe, nur Tyr habe gewagt ihm seine speise zu geben, schon darum
wunderlich, weil die götter in dem weiteren bericht sich doch sogar in der absieht
den wolf zu fesseln an denselben heranwagen. Ist es bildlich gemeint, so passt
wider die angäbe nicht, weil dieser wolf nicht ai;f die Schlachtfelder der erde eilen
kann, sondern bei den göttern weilt; wäre der sinn ursprünglich ähnlich gemeint wie
bei den wölfen Odins Grm. 19, so sähe man aus Gylf. 34, wie eine einfache sache
auch sehr unglücklich ausgedrückt werden kann. Endlich ist noch zu bemerken,
dass der skald. ausdruck ulfs fostri nur bei freierer Interpretation zur stütze jener
angäbe in Gylf. dienen kann, denn föstri wird sonst nicht vom füttorer gebraucht,
sondern vom pflegevater; füttern wird durch seäja, gefa mat, gisting, undorn und
ähnlich ausgedi'ückt.
3) Vgl dazu cap. VH § 2. 4) Vgl. s. 197 text und anm. 1.
DER FENEISWOLP 303
6. Als wirklich bedeutendes mittel der fesselung stellt sich, um
zur beantwortung der vierten frage überzugehen, nur das band Gleip-
nir dar und für unmöglich halte ich es nicht, dass ursprünglich über-
haupt nur dies eine erwähnt war. Es Avar ein werk der zwerge und
von wunderbarer art^ Da jedoch auch die nanien Lseding und Dromi,
namentlich der erstere, altertümlichen klang haben 2, da auch die gute
des bandes Gleipnir dadurch in passender weise gehoben wird, dass
der wolf schon zwei starke fesseln gesprengt hatte, als er mit G. ge-
bunden wurde, so ist die Steigerung der bände von 1 auf 3 wol jeden-
falls für eine sehr alte, mit dem mythus völlig verwachsene erweiterung
zu halten^. Anders verhält es sich mit der angäbe: pd töku peir
festina or fjqtrhiunt, er Gelgja heitir oh drögu henni i gegniim hellu
rnikla, sii lieitir Gjqll, oh felldu helluna langt i jqrä nidr; pd töku
peir mihinn stein, er pviti lieitir ok skutu hdnimi cnn lengra i jqrct-
ina ok hqfäu pann stein fyrir festarhailiyin^. Hier lässt sich die
skaldische liebhaberei der namenhäufung nicht verkennen; in der sache
könnten diese weiteren vorsichtsmassregeln nur von der pedantischen
besorgnis ausgehen, der wolf könnte, auch wenn er das band Gleipnir
1) So häufig auch in den jüngeren sagas die zwerge als verfertiger von Waf-
fen und kostbarkeiten aller art erscheinen (Vigf. s. v. dvergr)^ so darf als die ältere
aiiffassung doch die gelten, wonach nur dem bereiche der natur angehörige „wun-
derbare" dinge, wie z. b. das Sonnenlicht, der blitz als von den zwergen geschmiedet
erscheinen; eine nicht vollständige, aber doch zu beachtende aufzählung von 6 beson-
ders berühmten werken dieser art gibt Skälda 35; hinzufügen liesse sich namentiich
das Brisinga men (nach der Olafss. Tryggvas. von zwergen verfertigt) und unser
band Gl. — Ist man nun mit E. H. Meyer (G. myth. 117) der ansieht, dass unter
allen elben die luftelben die ursprünglichsten und massgebenden sind und dass der
name dvergar, obwol vorzugsweise den berg- und erd- elben gehörig, doch auch
luftelben beigelegt wird (a. a. 0. 118), so werden wir durch dieses werk der „zwerge"
wol wider an himmel und luftraum gewiesen. Die scheinbar irdische natur der stoffe
des bandes spricht nicht dagegen, vgl. Untersuch, s. 114. Dass jene 6 stoffe sich
auf der erde nicht mehr finden, weil sie alle zu dem bände verbraucht sein sollen
(Kph. II, 431), ist analog jener neiguug, alles bestehende auf ein bestimmtes histo-
risches datura zurückzuführen, vgl. in Gylf. 15, 4 — 9; 76, 12; 80, 5 u. 0. cap. I, 16.
Dass dies band aus „unsichtbaren dingen" geflochten sei (Mogk), trifft ganz meine
meinung, nur möchte ich vom mythischen Standpunkte aus hinzusetzen „für den
menschen unsichtbaren dingen". — Wo aber fänden sich solche, die doch zugleich
im bereiche der götter liegen sollen, anders als am himmel?
2) Vgl. die betr. art. im Glossar zur pros. Edda.
3) Denkbar ist auch, dass die drei uamen ursprünglich nur Varianten für ein
band waren.
4) Vgl. s. 299 anm. 2; eine etwas genauere besprechimg der einzelheiten findet
sich in exe. II.
304 WILKEN
nicht zu zerreissen vermöge, es doch mit sich führen, wenn es nicht
gut in der erde versichert sei. Überdies ist dem gefesselten wolfe noch
der rächen durch ein schwort gesperrt! Da dieser zug alt zu sein
scheint 1, war um so weniger grund zu jener ängstlichen vorsieht, die
wol auf einer nachahmung der fesselung Lokis beruht, aber erst her-
vortreten konnte, als das ursprüngliche lokal für die fesselung des wol-
fes ganz oder halbweges vergessen war. Yon dem gefesselten Loki
unterscheidet sich Fenrir aber wie in anderer hinsieht, so auch beson-
ders durch die rachensperre und den fluss, in dem er gefesselt liegt
und durch den nach der auffassung von Gylf (40, 12 fg.) sein ent-
weichen wol noch mehr erschwert werden soll (vgl. ärösi fyri?^ Lokas.
41, 1)2. Ist dieser fluss Amsvartnir aber nicht vielmehr im gründe
nur der schaumfluss, nach welchem Fenrir den beinamen Vänar gandr
erhielt und der in skaldischen berichten schon zu zwei Aussen von
solcher fülle wurde, dass alle flüsse als „speichel Fenrirs" bezeichnet
werden können? (Kph. II, 515). — Vgl. cap. VI, § 9.
7. Auf die fünfte frage endlich erteilt Lokas. 39, 3 — 4 und
ähnlich Gylf 34 (= 42, 16) auskunft; wörtlich ebenso heisst es aber
auch vom gefesselten Loki in Gylf 50 (80, 20): jKir liggr hann (i hqn-
diim) tu ragnarekkrs. Dass er dann frei werden soll, wird vom wolfe
sogar mit noch grösserem nachdruck (so schon in Häkonm. 20) bezeugt
als vom götterfeinde Loki 3, aber den kämpf mit Ödinn lassen keines-
wegs alle Zeugnisse so bestimmt darauf folgen , wie wir es nach Gylf 51,
Vol. 53 fg. anzunehmen gewohnt sind^; und wenn Hyndl. 45, 3 — 4
1) Er wird durch die keuuing „sparri Fenris varra'' = seh wert bei Eyvändr
skäldasp. (Kph. III, 460) schon für das zehnte Jahrhundert belegt. — Die Überein-
stimmung mit einem bilde des Sachsenspiegels (Simrock, D. myth. ^99) halte ich für
zufällig; gerichtlich geächtet (vervestet) ist der Fenriswolf niemals. Damit fällt für
mich auch die deutung Simrocks fort.
2) Vgl. exe. n, 2. — Zunächst sei bemerkt, dass mich ausser den oben ge-
nannten noch folgende gründe verhindern in der gefangenschaft des Avolfes nur eine
„differenzierung von Lokis gefangenschaft" zu sehen (Bugge, Studien I, 414). Loki
wird gefesselt 1) unterirdisch, 2) mit sichtbaren fesseln, 3) wegen bereits begangener
Untaten. — 4) hass und liebe nimmt an seinem geschicke anteil (SkaSi, Sigj'n). —
Einzelne züge mögen in beiden fällen typisch sein für die populäre erzähluug einer
fesselung, vgl. ausser Bugge a. a. o. 412 fg. auch Simrock, D. myth. •' s. 96.
3) Nur in dieser fassung kann ich den gedanken Müllenhoffs (a. a. o. 150)
„das losbrechen des wolfes ist überhaupt die Vorbedingung zum allgemeinen aufbrach
der weitmächte und zu dem umstui'ze dieser weit" mir aneignen. — Die ähnlichkeit
mit den angaben über Loki fasse ich nur als äusserliche angleichung.
4) Zunächst ist zu beachten, dass Eiriksm. 6 nur ein (drohendes) hinblicken
des wolfes auf den göttersitz kennt, Häkonm. 20 nur ein losstiirmen des entfesselten
DER FENRISWOLF 305
ausdrücklich diesen kämpf als das letzte bezeichnet, worüber mau mit
einiger Sicherheit reden dürfe, so darf eine kritische betrachtung wol
noch einen schritt weitergehend auch diesen kämpf aus der gesicherten
Überlieferung ausscheiden. Befreiung von seiner fessel darf der wolf
nach allen Zeugnissen am weltende hoffen; ob mehr von ihm in alter
zeit geglaubt wurde, steht vorläufig nicht fest.
VI.
Erklärung des kernes.
1. Fassen wir die im vorigen capitel erhaltenen antworten auf
die fünf fragen kurz zusammen, so ergibt sich: ein wesen, das, sei es
nur die gestalt, sei es auch den Charakter eines „edelwolfes" (vgl.
cap. in, 8) besitzt, ist von den göttern seit alter zeit am himmel ge-
fesselt, weil sie von diesem wesen unheil für sich und die weit besor-
gen. Die götter vollbringen das schwierige werk nur mit hilfe der
Zwerge (der geheimen naturkräfte); diese liefern ihnen ein unsichtbares
band, welches bis zum weltende den Avolf gefesselt hält. — Einiges
spricht dafür, dass die fesselung bei nacht geschehen ist (vgl. cap. lY,
§ 7 gegen ende).
2. Wird nun gefragt: welches wesen ist gemeint? so bedarf es
vielleicht noch des ausdrücklichen hin weises, dass die persönliche auf-
fassung, an die wir uns gewöhnt haben, an und für sich nicht not-
wendig ist. Da wir gesehen, dass die genealogische Verknüpfung mit
Loki und Angrboda der konstruierenden periode angehört, da keine
andere Verwandtschaft sich als echter und ursprüiiglicher erwiesen hat,
was hindert uns anzunehmen, dass der „wolf" überhaupt nur äussere
ähnlichkeit mit einem lebewesen dieser species gehabt? Verschiedene
auf den "wohnsitz der menschen berichtet wird. Diese angäbe ist mit der eddischen
auffassung kaum zu vereinigen; diese schweigt von den menschen, weiss dafür aber
einen kämpf mit den göttern Odinn und Yidarr zu berichten. Den ersten dieser
kämpfe kennt von den älteren skalden wol nur Egill Skallagr. und der zeitliche unter-
schied zwischen den beiden zu anfang dieser anm. genannten gedichten und Egils Son-
nartorrek (975 nach Gudm. forläksson, Udsigt over de norsk-isl. skalde s. 24) ist nicht
erheblich; da jedoch bei Egill die isländische poesie sich zuerst selbständiger neben
die norwegische stellt, so könnten neben den zeitlichen hier lokale diiferenzen in
der auffassung in betracht kommen. Nicht zu übersehen ist ferner, dass der kämpf
des Wolfes mit VidaiT zwar Vgl. 54 bezeugt ist, aber gegen U H, und dass zu den
von Müllenhoff a. a. o. 152 angeführten gränden für die Streichung dieser str. sich
noch andere finden dürften. Für mich wichtigere gründe werde ich noch in cap. VII
entwickeln.
ZEITSCHRIFT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XXVIII. 20
306 WILKEN
gründe, welche für diese auffassung sprechen, sind schon oben (z. b.
cap. V, § 4 schl.) angefülirt. Dazu kommt, dass die bisherigen erklä-
rungsv ersuche schon alle klassen von lebewesen so zu sagen erschöpft
haben (vgl. cap. II, 1), ohne Überzeugungskraft zu besitzen. Dass es
sich eigentlich um ein lebloses geschöpf handelt, scheint aus einer
stelle unserer Überlieferung wenigstens indirekt hervorzugehen. Liest
man die werte in Gylf. 34 (= 42, 3, 4), welche die rachensperre mit
hilfe des Schwertes schildern, die bis zum Weltuntergang dauern soll,
so ist es um so schwerer hier an ein lebendes wesen zu denken, da
von keinem freund, keiner freundin die rede ist, welche die not des
gefangenen lindert i. Dass diesem einen mehrere züge gegenüberge-
stellt werden können, welche nur von einem lebenden wesen scheinen
verstanden werden zu können, ist richtig; aber wird bei einem so alten,
so beliebten und deshalb doch auch wol viel variierten mythus das
ursprüngliche anders als in schwachen spuren zu erkennen sein? —
Die auffassung als lebewesen musste natürlich vorangehen, ehe man an
eine genealogische Verknüpfung mit Loki usw. dachte.
3. Fragt man weiter nach den gebieten nicht lebender wesen, in
welchen entlehnungen von tiernamen sich etwas häufiger finden, so
lautet die antwort: in der pflanzenweit und am Sternenhimmel. In
unserem falle kann nur der letztere in betracht kommen, was durch
vergleichung mit § 1 unseres capitels sich von selbst ergibt. Die be-
treffende annähme lässt manche Schwierigkeit in neuem licht erschei-
nen: ein am himmel befindliches sternbild, das einem wolfe mit leuch-
tenden äugen und aufgesperrtem rächen glich, scheint die weit zu
bedrohen 2; aber mit unsichtbarer fessel wird es gehalten bis zum welt-
1) Vgl. Gylf. 50 die noch peinlichere läge des Loki, welche jedoch durch seine
gattin Sigyn gelindert wird. Ist es auch scheinbar pedantisch zu fragen: wer gibt
dem geknebelten wolf die nötige uahruug, um das leben zu erhalten, wenn er über-
haupt ein lebewesen ist? so glaube ich doch, dass der mythus auch hier ähnlich wie
in Gylf. 50 die möglichkeit der lebeuserhaltuug augedeutet hätte, wenn der wolf
ursprünglich lebend gedacht wäre. Dazu kommt noch , dass Loki sowol wie die mei-
sten in ähnlicher läge befindlichen (so z. b. Prometheus) wegen irgend einer schuld
gefesselt erscheinen; diese schuld ist hier aber entweder so gering, dass man den
wolf als unschuldigen ansehen muss, oder so gross, dass man mit Gangleri fragen
müsste: warum töteten die götter ein so gefährüches wesen nicht? vgl. c. V, § 4. —
Meine bedenken werden auch durch einen hinblick auf den gefesselten Ugarthilocus
bei Saxo (ed. Holder 294) nicht verringert, denn der autor trägt hier so stai'k auf,
dass er absichtlich jede milderung zu verschmähen scheint.
2) In der Schilderung des freigewordenen wolfes Gylf. 51 (= 82, 13 — 15) ist
zunächst die übertreibende darstellung des weit geöffneten rachens, der den Zwischen-
raum zwischen himmel und erde ausfüllen soll, auf das richtige mass zurückzufüh-
DER FENRISWOLF 307
Untergang: erst dann kann es herabstürzen auf die weit und schaden
stiften. — Hier ist namentlich die Schwierigkeit der zweiten frage (in
cap. V) ganz beseitigt; die zurückführung eines für unsere moderne
auffassung mit der weltschöpfung verknüpften aktes auf ein beliebiges
datuni in der geschichte der weit und der götter entspricht der cap. I,
ij 16 erwähnten neigung naiv-aetiologischer naturbetrachtung. Der
schaumfluss findet jetzt auch seine erklärung, vgl. w. u. § 9.
4. Gibt es aber neben inneren gründen auch irgend ein äusseres
Zeugnis zur stütze dieser ansieht? Dass es ein sternbild des wolfes
(Lupus, bestia) auch für unsere astronomie gibt, kann hier nicht ins
gewicht fallen; es gehört der südlichen halbkugel an und wird erst in
Südeuropa etwas deutlicher sichtbar. Es müsste also ein jetzt mit
anderem namen benanntes sternbild sein, an das wir zu denken hätten.
Bekanntlich sind aber die aus dem altertum übernommenen bezeich-
nuugen der Sternbilder mit dem Christentum und der lat. schrift auch
nach dem norden gedrungen und haben die einheimischen namen im
ganzen verdrängt i. Nur in wenigen fällen kennen wir alte und neue
bezeichnung des Sternbildes; bisweilen hat sich die alte zwar erhalten,
wir sind aber über die bedeutung im unklaren 2. Dass es ein stern-
bild des wolfes im norden gegeben habe, könnte aus Grm. 10, 3 schwer-
lich mit recht gefolgert werden 3; bessere gründe für die existenz von
Sternbildern mit dem namen des wolfes, adlers und raben mag die
schrift „Norroen stjornun^fn" enthalten haben, die wol nicht gedruckt
ist, aber von F. Magnussen ^Eldre Edda I, 208 erwähnt wurde.
5. Erst die letzten decennien haben stichhaltige belege für die
existenz eines Sternbildes „der Wolfsrachen" erbracht. 1860 teilte
K. Gislason in seinen bekannten „44 Prever af oldnordisk sprog og
literatur"^ s. 476 fg. einen von ihm „ StJQrnumQrk " bezeichneten ab-
schnitt aus der hs. 1812 der alten kön. Sammlung in Kopenhagen mit;
ren; dagegen kann der ausdruck eldar hrenna or augiim hans ok nqsuui ohne wei-
teres auf ein sternbild bezogen werden. — Wie gut passt nicht auch Eiiiksmal 6 ser
ulfr usw. auf ein sternbild, vgl. cap. III § 8 ex. , wo schon betont ist, dass „graues"
licht auch dem monde beigelegt wurde.
1) Vgl. die abschnitte über steme in Grimms Myth. * (reg. s. sterne) sowie
Kuhn und Schwartz, Nordd. sagen s. 457, Westfäl. sagen 11, s. 85 — 88.
2) So bez. der äugen des fjazi Brag. 56 (= 96, 9) und der zehe Orvandils
Skälda 17 (105, 15).
3) An die möglichkeit daclite F. Magnussen; vgl. die w. u. im text genannte
schrift desselben.
4) Dieselben sind auch unter dem titel „Synisbok isleukrar tungu — i fornöld"
erschienen.
20*
308 WILKEN
der betreffende teil der handschrift wird von dem kundigen herausgeber der
mitte des 14. Jahrhunderts zugewiesen. Hier heisst es s. 477 z. 23 fg.:
Andromeda , döttü Cephei, kona Persei, sitr i mjölkhriug ])ar sein v4r
kqllum Ulfs kjqpt i vn'lli fiska ok Cassiopeam ok „ariecenj" med prl-
hyrningi er hün hefir at haki ser usw. Leider lassen die worte: Jmr
sein ver kqllum iilfs kjqpt es nicht ganz deutlich erkennen, ob ein teil
der milchstrasse selbst oder ein Sternbild in der nähe derselben, das
dann entweder ganz oder teilweise dem antiken sternbilde Andromeda
entsprochen hat, im norden mit dem namen „Wolfsrachen" bezeichnet
wurde. Die an und für sich wol mehr sich empfehlende beziehung
auf ein sternbild wird auch durch eine zweite stelle derselben hand-
schrift, welche partie jedoch um vieles älter ist und um 1200 angesetzt
wird, bestätigt. In diesem älteren teile finden sich einige isländisch-
lateinische glossen, die zuerst für sich in der Ztschr. f. d. phil. IX,
385 fg., dann mit dem ganzen ältesten teile der hs. in der ausgäbe
von Larsson: Äldsta delen af cod. 1812 4'° gml. kgl. samling Koben-
havn 1883 (Samfund til udgiv. b. IX) ediert sind. Hier findet sich
s. 43 z. 30 als glosse für Hyades vlfs keptr, also = ulfs kjqptr^ bei
Gislason. Wenn ich gleich wol bedenken trage, das jüngere zeugnis
einfach nach diesem älteren zu korrigieren, so beruht das auf folgen-
dem gründe.
6. Nicht zu verschweigen ist zunächst, dass der erste abdruck
der glossen wie bei anderen werten so auch bei idfs keptr eine andere
lesung zeigte. Da jedoch H. Gering, dem wir die erste genauere kennt-
nis des interessanten denkmals verdanken, über die Schwierigkeit der
aufgäbe und die beschränkte zeit, die ihm selbst dafür zu geböte stand,
Ztschr. f. d. phil. IX, s. 392 eingehend berichtet, so dürfen diese ab-
weichungen nicht befremden und wird die ausgäbe von Larsson als die
neuere und allem anschein nach mit grösster Sorgfalt angefertigte hin-
sichtlich der lesung, wo dieselbe nicht ausdrücklich als zweifelhaft ange-
geben ist, vertrauen verdienen. Meine zweifei beziehen sich demnach
nicht auf die lesung, sondern auf die richtige beziehung des wortes
idfs kepitr, was durch einen abdruck der nicht umfangreichen stelle,
die von Sternbildern handelt, deutlich werden wird, wobei übrigens
nicht alle abweichungen des textes bei G. (Gering) von dem bei L.
(Larsson) aufgeführt sind. Die zeilen sind nach Ln. nicht in spalten,
sondern quer über die seite zu lesen.
1) Vigf. führt die formen keptr, kjaptr (älter kjqptr) und keyptr auf.
DER FENRISWOLF
elix
sinosura ^
oge 2
Ursa maior
Ui'sa minor
Aliriga
ulfs keptr^
VII St.... 4
arl ^
Hyades
Phjades
Orion
6
ide^
sul)rst
A7-cturus
Aramec ^
Tl'e^a
kyndil st
idem
...d.9
Jfa6aio
Canicula
solii
Sirius
Al...ph..
Elyos
Celum
309
Uranus'^''' Ether Aer
Nicht immer wird das lateinische wort durch ein isländisches glossiert;
gleich die erste zeile zeigt zwei abweichungen, vgl. auch w. o. sol
= Elyos. Gegen ende des denkmals finden sich isländische worte
gar nicht mehr, vgl. anm. 12; mögen auch einige dieser giossen ver-
blichen sein, so scheint doch, da neben 20 lateinischen jetzt nur 7 isl.
Worte lesbar sind^^, von anfang an wol kaum eine gleichmässige glos-
sierung beabsichtigt zu sein, vielmehr neben dem hauptgedanken ursprüng-
lich griechische oder arabische ausdrücke durch echt -lateinische zu
glossieren, der andere, auch einige isländische sternnamen aufzuzeich-
1) =r Cynosura Ln. (d. h. Larssons notea s. 51).
2) Walirscheinlicli vagntoge zu lesen Ln.
3) Nach G. VII ...
4) Nach G. VII st[ir]ni.
5) Nach G. fiosakarl.
6) Nach G. cuccyle (auch nach Ln. möglicherweise cuccyle {= suculae G.).
7) G. idein, nach Ln. vielleicht so.
8) G. Äranaec, nach Ln. Äramee wol identisch mit dem sternnamen Alamec
(in der Andromeda).
9) Nach Ln. wahrscheinlich hundstirne oder -stiarna.
10) Alaba = alba [daggryning Ln.).
11) An dieser stelle würde sol (so G.) das Island, wort für sonne sein, weil
ein accent in der handschrift sich nur bei Island, werten zu finden scheint, vgl. L.
s. VII; dagegen wird s. 39: sunna heiter sol (nach dem folgenden Fispena heiter
mars, Stilbon h. mercurms) sicher das lat. wort gemeint sein, und so wahrschein-
lich auch hier, da bei L. der accent fehlt.
12) Über Ur. hat nach Ln. keine Island, glosse gestanden, sondern das wort
ist als synonym mit Celum im vorhergehenden zu fassen.
13) Zu den lat. ist suculae (vgl. anm. 6) gerechnet, sol aber weder zu den
lat. noch zu den isl. gezählt (vgl. anm. 11). Übrigens sind einige dieser 7 namen
auch nur Übersetzungen aus dem lat. , vgl. die folgende anm.
310 WILKEN
neu sich in mehr sekundärer weise geltend gemacht zu haben. Diese
ansieht wird gestützt durch vergleichuug des jüngeren abschnittes der-
selben handschrift, den Gislason edierte (vgl. § 5). Hier finden sich
neben reichlich 50 lateinischen oder einfach aus dem lateinischen
übersetzten bezeichnungen von Sternbildern nur noch 3 oder 4 altnor-
dische^; dass die kenntnis derselben mit jedem Jahrhundert sich ver-
minderte, ist begreiflich, aber selbst um 1200 wird kaum ein islän-
discher gelehrter noch eine vollständige kenntnis der alten sternnamen
besessen habend — Die nur beiläufige einführung der nordischen
namen in dem jüngeren denkmal ergibt sich auch daraus, dass sich
dasselbe als Übersetzung aus einem lateinischen texte deutlich verrät 2;
für die secundäre geltung der isländischen glossen in dem älteren mag
die analogie der glossenähnlichen aufzählung der planetennamen in dem
älteren teile der hs. s. 39, z. 12 — 40, 2 sprechen. Hier steht zunächst
immer der aus dem griechischen entlehnte, daun der echt lateinische
name, endlich wird der nordische erwähnt, der aber in diesem falle
nur auf gelehrter konstruktion beruht: Mars = T^^r usw.
8. Was folgt aus diesen bemerkungen? Dass wir bei dem in
§ 7 wider abgedruckten glossenstücke allen grund haben, die bezie-
hung der einzelnen glossen sorgfältig zu prüfen; wie wenig konsequenz
in der anordnung herrscht, geht schon daraus hervor, dass bald das
schwierigere (griech.) wort über dem bekannteren lateinischen worte steht,
bald umgekehrt, z. b. sol ühev Elyos. — Dass suculae (vgl. s. 309, anm. 6),
als glosse zu dem darunter stehenden Arcturus gezogen, der astrono-
mie ins gesiebt schlägt, ist klar; verbindet man es mit dem darüber
stehenden Hyaclcs, so ist man in der sache jedenfalls im rechte, aber
1) So wii'd Ä^V?M<r, kerruffjetir, griäungr, rütr, vatnlcarl, steinyeit u. a. , aber
auch ornir (= draco) , ßnngälkn (--= sagittarius) und {h)msa = delphinus) Übersetzung
aus dem lat. sein, da überall, wo der altnordische ausdruck wirklich im volkc lebte,
ein seni ver kqllum hinzugefügt ist; freilich erregt selbst hier einiges den verdacht
der entlehnung, so breSramark neben gemini 477, 8 und cetu z. 15 (= etu^ auch
der läge nach zu dem krippchen im Sternbild des krebses stimmend). So bleiben im
gründe nur vagn, kvennavagn (476, 8) und iilfs kjqptr; denn auch VIT stirni ist
wol kaum für ursprünglich zu halten , da die angebliche siebenzahl der Plejaden
schon von den alten betont wird.
2) Neben den einheimischen scheinen aber auch die griechischen und arabischen
namen um 1350 minder bekannt zu sein als um 1200.
3) Während i milli bei nordischen Wörtern den gen. regiert, folgt bei solchen,
die aus dem lateinischen text übernommen sind, mehrfach (nicht immer) der acc,
von dem vorhergehenden inter des lateinischen gruudtextes abhängig, vgl. 477, 16
* milli krabba ok meyjar mit 19 i m. liram ok Cassio'peam , 24 i in. fisca ok Cas-
siopeam. ÄhnUch auch til Andromedani (= ad Andr. 478, 7).
DER FENRISWOLF 311
WOZU gehört nun ulfs keptr? — Liest mau die zeileu von liuks uach
rechts, so sind die beiden „idem" mir unverständlich; liest man umge-
kehrt, so ist nun wenigstens in dem einen falle geholfen: Sirius [hund-
stirnc, vgl. anm. 9); idem Canicula. — Auch die bezeichnung sup7--
sfjari/a^ würde dem am südlichen himmel sich zeigenden Sirius,
allenfalls dem Orion zukommen können; als glosse zu Wec/a gezogen,
scheint sie widerum nicht an ihrem platze. Mag einzelnes dieser art
auf verseilen des Schreibers beruhen, so scheint die ursprüngliche an-
ordnung des Stoffes schon durch die gelegentliche aufnähme einiger alt-
nordischer Worte in das griech. -lateinische glossar verdunkelt Avorden
zu sein.
9. Diese bedenken sollen jedoch den wert des schon durch sein
alter so merkwürdigen denkmals nur vor unkritischer Überschätzung
sichern; da namentlich die beiden ersten zeilen sonst durchaus richtige
angaben enthalten, sind wir nicht berechtigt ?dfs heptr als nordische
bezeichnung eines Sternbildes anzufechten; tritt dieser angäbe doch die
bei Gislason Prover s. 476, 24 bestätigend zur seite. Dass dort ein
anderes sternbild diesen namen erhält, beweist die Unabhängigkeit des
jüngeren berichtes. Für welche erklärung soll man sich aber entscheiden?
Beide angaben ganz zu vereinigen könnte nur in ganz gewaltsamer
weise versucht werden 2; sobald wir aber ulfs keptr als an. glosse zu
Hyades (lat. glossiert durch suculac) fassen und bei diesen auch an
Aldebaran und die zu den hörnern des stieres gerechneten Sterne den-
ken, so erhalten wir widerum ein die milchstrasse berührendes stern-
bild (köpf des stieres), nicht eben weit von der Andromeda entfernt^.
Da die nähe der milchstrasse in dem Jüngern denkmal so nach-
drücklich betont wird (vgl. § 5), ist dieser umstand sicher nicht ohne
1) Das wort über Wega ist nicht deutlicli zu lesen; scheint aber ungefähr so
gelautet zu haben.
2) Es müsste dann Äramec = Älamec gefasst (vgl. anm. 8) und mit ulfs
keptr verbunden und dieses als glosse zu dem fremden worte betrachtet werden.
3) Je näher die Sternbilder sich stehen, desto leichter ist natürlich die Über-
tragung des namens von dem einen auf das andere denkbar. Ist die ältere angäbe
die richtigere, so empfiehlt es sich wol die (nach späterer auffassung an den hörner-
spitzeu des stieres stehenden) sterne ß und C in dem sternbilde des stieres als die
bezeichnung der beständig gesperrt erscheinenden kiefern des „wolfes" zu fassen.
Der von den hörnern eingefasste räum kann füglich als ein gegen die milchstrasse
geöffneter rächen aufgefasst werden. Für unnötig halte ich es etwa auch nach dem
rachensperrenden Schwerte am himmel zu suchen; zeigt sich ein kiefer immer aufge-
gesperrt, so muss der zusammenschluss künstlich verhindert sein und so lässt sich
das sperrende Schwert leicht hinzudenken; dasselbe gilt von dem bände Gleipuh.
312 WILKEN
gewicht; die möglichkeit, dass der dem maule des gefesselten wolfes
entströmende scliaumfluss, nach dem er seinen charakteristischen bei-
namen Vänargandr erhielt i, nicht erst dem ausschmückenden eifer
skaldischer dichtung, sondern bereits dem kerne des mythus augehört
habe, darf hier nicht verschwiegen werden. AVir würden dann in dem
schaumfluss Van eine alte bezeichnung der milchstrasse vor uns haben,
älter wahrscheinlich, als die etwas abstrakt gefasste bezeichnung vetrar-
hraut (winterweg), um von noch jüngeren benenn ungen und der Über-
setzung aus dem lat. „lactea via" ganz zu schweigen. Dass die
nähe eines flusses immer als charakteristisch für den ort galt, wo Fen-
rir gefesselt lag, geht aus der kurzen andeutung der Lokas. 41, 1: ulf
ser liggja ärösi fyrir zweifellos hervor; der ursprüngliche schaumfluss
ist freilich mit der zeit nicht nur verdoppelt (vgl. cap. V, 6 und exe. IIj,
sondern hat wol auch die Vorstellung des flusses Amsvartnir erst ver-
anlasst.
10. Als völlig gesichert und wesentlich für unsere Untersuchung
betrachte ich jedoch nur die tatsache, dass der am himmel von den
göttern mit geheimnisvollem band gefesselte und zum beständigen auf-
sperren der kiefern genötigte wolf ursprünglich das Sternbild ulfs keptr
bedeutete. Das wort keptr selbst wird vom Fenriswolfe sowol 82, 13
wie 84, 6 und 11 (Gylf. 51) mit nachdruck gebraucht; wenn au diesen
stellen der sing, immer nur den einen halbkiefer bezeichnet, so darf
daraus ein einwurf gegen die gegebene erklärung nicht abgeleitet wer-
den. Dass auch der sing, den gesamt-kiefer (ober- und Unterkiefer)
bezeichnen konnte, geht aus stellen wie svä at rifnaäi kjaptrinn (Grett.
95. Vigf.), der redensart halda kjapü (= maul halten ebd.) und dem
komp. fjardarkji'pir (= the opening of a fjord) deutlich hervor; das
letzte belegt überdies, dass kjqpir recht wol auch den geöffneten rächen
(gesamtkiefer) bezeichnen konnte. — Es handelt sich nun darum, von
diesem so verstandenen kerne aus alle erweiterimgen der mythischen
tradition in ihrer sagen -historischen entwickelung zu verfolgen; hof-
fentlich zeigt es sich, dass von dem gewonnenen Standorte nicht nur
einzelne punkte, sondern alle selten der entwickelung sich befriedigend
erläutern lassen. Der kern des mythus ergibt strenggenommen nur ein
mythisches symbol (vgl. kap. I, § 2); als punctum saliens für die per-
sönliche auffassung des w^olfes und die entwickelung eines dämonisch
gefärbten mythus ist die schon dem kern angehörige Vorstellung von
dem fi-eiwerden des gefesselten wolfes (vgl. cap. V, § 7) zur zeit des
1) Vgl. c.III, §9.
DER FENRISWOLF 313
Weltunterganges anzusehen; konnte man ihn sich da nicht leicht als
nur gewaltsam der freien bewegung beraubt und nun von rachedurst
gegen die götter beseelt vorstellen?
VII.
Betrachtung der erweiterungen.
1. Hier ist vor allem die aufmersamkeit auf drei gebiete zu
richten: die teilnähme des gottes T^r an der fesselung, die beziehun-
gen des dämonisch aufgefassten wolfes zu Loki und dem sonnenwolfe,
der kämpf des befreiten götterfeindes mit Ödinn und Yictarr^. — Was
das erste gebiet betrifft, so ist, wie schon oben bemerkt^, Tfr als iilfs
föstri unvereinbar mit seiner rolle bei der fesselung; man könnte dar-
nach seine teilnähme an derselben entweder verwerfen oder auch hier
lediglich die kühnheit des kriegsgottes, der blindlings seine rechte
opfert, finden; letzteres ist etw^a der Standpunkt der Gylfag. Wer aber
den bericht in Gylf. 34 eingehend prüft, der -wird doch eher zu dem
umgekehrten resultate kommen. Jener höhn der götter über das be-
nehmen ihres opferfreudigen genossen, den 42, 1 auszudrücken scheint^,
verrät uns, dass eine jüngere zeit, welche im stillen dachte, wie sie
die götter offen ihre gesinnung ausdrücken liess, sich in die handlungs-
weise, welche Tyr zeigt, nicht mehr zu finden vermochte. Ähnlich
klingt der spott Lokis in Lokas. 38, 3 — 4; und demselben geiste ent-
sprungen ist auch der versuch, den mutigen kriegsgott beim letzten
kämpfe nicht ganz ohne gegner zu lassen, indem man ihn dem hunde
Garmr gegenüberstellte, während die ehre des kämpf es mit dem wolfe
vielmehr Ödinn zu teil ward. Während hier (in Gylf. 51) bei der jün-
geren Sagenbildung der ältere gott einfach die rolle übernehmen musste,
welche ihm der veränderte volksgeist noch gönnte, geriet bei dem in
seinen grundzügen älteren berichte in Gylf. 34 der ältere gott allmäh-
lich in eine schiefe Stellung neben dem jüngeren, der durch die beschaf-
fung des bandes Gleipnir seine geistige Überlegenheit an den tag zu
legen scheint. Hier ist älterer und jüngerer bestand so ineinander
1) Diese gebiete haben uns vorläufig schon in cap. IV, teilweise auch V beschäf-
tigt; musste das resultat dort meist ein negatives sein, so können wir jetzt nach dem
in cap. VI gewonnenen Standpunkte auch positive ergebnisse hoffen.
2) Vgl. cap. V § 5.
3) Vielleicht gilt der höhn zunächst dem wolfe, aber die götter scheinen doch
sehr gleichgiltig gegen den verlust ihres genossen zu sein.
3 1 4 WILKEN
gewirrt, dass eine Scheidung nur für die hauptpunkte wird gelingen
könnend
2. Der Schlüssel für die richtige erklärung liegt sagengeschichtlich
in dem yerständnisse des gottes T^r als eines älteren germanischen
himmelsgottes; philologisch -exegetisch in der richtigen auffassung des
ausdrucke« „zum ptande legen, als pfand setzen", der sowol Gylf. 25
wie 34 in einer weise hervortritt, dass es sich hier um keinen neben-
sächlichen zug handeln kann. Nach der ersteren seite bedarf es
hier nach der s. 197, anm. 1 gegebenen auseinandersetzung nur des
erneuerten hinweises, dass einst auch bei den Germanen Tfr eine ähn-
liche dominierende Stellung einnahm Avie Zevg lei den Griechen 2;
daraus ergibt sich ohne weiteres ein gewisses eintreten für die sache
der übrigen götter, ohne dass sich darin, wie es Gylf. 34 scheinen
könnte, ein blinder wagemut verrät; dass Tyr andererseits nicht etwa
im auftrage oder als untergeordnetes Werkzeug Odins handelt, ist selbst
aus dieser getrübten quelle noch ersichtlich. Noch mehr wird jener
Vorwurf der tollkühnheit widerlegt, w^enn man sich klar macht, was
der ausdruck „zum pfände setzen", wo er von einer gottheit gebraucht
wird, eigentlich bedeutet. Man erinnere sich zunächst der gewaltigen
ausdehnung der redensarten „ein pfand geben, nehmen" und ähnlicher
in allen germanischen sprachen des mittelalters, vgl. Grinnn, Rechtsalt.
618 fg., für das mhd. Sprachgebiet besonders Zarncke im Mhd. wb. II'',
477, Lexer s. v. phajit; für das nordische gebiet s. die wbb. s. v. veä,
veäja und pantr. Im sprachgebrauche der beiden Edden handelt es
sich namentlich um den unterschied, ob götter oder riesen eine wette
eingehen; diese wagen aufs geratewol selbst das haupt und verlieren
es, vgl. Vaf{)r. 19, 3; 55, 3. — Den Übergang zu den göttern zeigt
Loki, der zwar leichtsinnig wettet, sich aber durch gewandtheit zu
retten weiss ^. — So findet sich nun bei den göttern wol auch sonst
1) Aus diesem gründe ist die frage in diesem cap. noch einmal im zusammen-
hange aufgenommen worden.
2) Vgl. ausser älteren belegen (Grimm, Myth.* s. 162) namentlich Hoffory:
Der germanische himmelsgott (Eddastudien I, 145 fg.) und die dort citierten Schrif-
ten. Über die Schicksale des gottes bei verschiedenen indog. Völkern vgl. Kuhn,
Herabkunft 2 s. 6 fg.
3) In der erzählung Skälda 35 ist der schluss des cap. (von pd baä dvergrinn
112, 21 an) als spätere erweiterung zu betrachten. — Von einer leichtsinnigen wette
der hofleute könig Olafs berichtet Nornag. |);ittr c. II und III; beachte hier die War-
nung: veäiä ekk'i optar viä ökmma incnu usw.; diese art des wetteus war eben die
bei unverständigen übhche.
DER FENRISWOLF 315
ein wetten, das au die lauue der rieseu oder an menschliche Verhält-
nisse erinnert^; avo aber die betr. erzählung echt- mythischen Charakter
zeigt, da ist das zu „pfände setzen" der götter nicht nur ein formell
freiwilliges, sondern auch ein wolüberlegtes , bleibenden verlast aus-
schliesseudes handeln. Wie der einhändige Tyr am besten dem ein-
äugigen Ödinn sich vergleichen lässt, so bietet auch das verpfänden
des auges an Mimir die passendste parallele für die Verpfändung der
band an den Fenriswolf (W. Müller, Altd. rel. 224); wie jenes wahr-
scheinlich nur die momentane Verschleierung des sonnenauges durch
eine wölke bedeutet 2, die für den himmelsgott keine wirkliche einbusse
ist, ähnlich steht es auch mit dem verpfänden der band. Die tatsache,
dass Sternbilder von uns meist nur bei nacht erblickt werden, verschob
sich vor der naiv -physikalischen betrachtung der alten zeit dahin , dass
nur in der nachtzeit den göttern die befestigung der gestirne, speciell
des „Wolfsrachens" am himmel möglich gewesen sei, und da der himm-
lische lichtgott wesentlich tagesgott war^, so musste er zur nachtzeit
irgendwie geschwächt sich zeigen, so dass das verpfänden der band
ursprünglich avoI das zeitweise verschwinden des tageslichtes überhaupt
bezeichnet*. Denn diese band scheint eine ähnliche bedeutung zu haben
wie das schwert des gottes Freyr in dem Gerdr-mythus^; die gewöhn-
lich mit dem schwert bewaffnete band des gottes wird diesem Schwerte
selbst gleichgesetzt werden können; dies aber bedeutet den strahl des
1) Vgl. hier namentlich Skaldsk. c. 17 (101, 6) und prosaeiuleitung zu Grm.
z. 21 fg.
2) Während man meistens von dem Widerschein der sonne im wasser redet
(so auch Mogk im Grundr. der germ. phil. I, 1047), wobei wol gar nach ganz jun-
gen quellen (z. b. Rimur fi'ä Vglsungi I, 6). dieser Widerschein als ein zweites äuge
gefasst wird, ist der ursprüngliche sinn wenigstens beiläufig zum ausdruck gebracht
von demselben forscher s. 1079: „die im meer oder hinter den wölken verschwindende
sonne mag den mythus haben entstehen lassen." — An die wölke möchte ich vor-
läufig allein denken. (Kuhn, Herabkunft s. 117.)
3) Vgl. s. 197, anm. 2; schon Grimm, Myth.* 161 sagt: „an den begriff des
hinimels grenzt der des leuchtenden tages."
4) Soweit kann ich also der ansieht "W. Müllers, Mannhardts, Müllenhoffs,
Hofforys mich anschliessen , die aus der rolle des gottes Tyr dem wolle gegenüber
den schluss zogen, dass letzterer ein wolf der „finsterniss" sein müsse; vgl. c. IV, 7.
•5) Dieser ist von Simrock, D. myth. ^ s. 61 fg. im ganzen wol richtig gedeu-
tet; wie „dieser mythus mit dem von dem letzten kämpfe ursprünglich in keiner Ver-
bindung stand^, ebenso wenig trifft die auffassung der Lokas. (39, 1), wo der Ver-
lust des gottes Tyr als ein bleibender aufgefasst wird, den ursprünglichen sinn des
mythus.
316 WILKEN
lichtgottes, der hier kollektiv zu fassen ist. Ähnlich auch Schwartz
{Poet, naturansch. II, 102); doch ist ihm Tfr ein gewittergott.
3. Dürfen wir hiernach wol annehmen, dass ursprünglich bei der
fesselung des wolfes T^r etwa die rolle einnahm, welche später Ödinn
erhielt, so sind hier doch noch einige fragen zu erledigen. Zunächst
die: ist auch das zauberhafte band von diesem gotte beschafft? Dies
zu behaupten sind wir nicht berechtigt; wenn wir aber annehmen,
dass ursprünglich nur von einem bände die rede w^ar (vgl. cap. Y,
§ 6), so genügte auch völlig die angäbe, dass die götter, allgemeiner
gefasst, dies gefertigt oder von den zwergen sich beschafft hätten; in
Gylf 34 aber soll sich Odins Weisheit als die letzte Zuflucht der götter
darstellen. Ferner: ist die auf skaldische quellen, die hier aber volks-
tümlich gefärbt scheinen, zurückgehende angäbe, dass dieses band aus
6 (seitdem auf der erde angeblich nicht mehr vorkommenden) Stoffen
gefertigt sei^, als dem kerne angehörig zu nehmen und wie ist sie zu
erklären? Ohne die betr. angäbe in jeder einzelheit mit bestimmtheit
als ursprünglich in ansprach zu nehmen, glaube ich doch, dass wir im
ganzen hier auf sicherem boden stehen; auch die erklärung, dass ein
aus solchen stoöen gefertigtes band im gewöhnlichen Sprachgebrauch
als ein „unsichtbares" bezeichnet würde, wird kaum ernstlich gefähr-
det sein: ist hier doch das negative und abstrakte des prosaischen aus-
drucks in der spräche des mythus glücklich genug überwunden 2.
4. Vielleicht habe ich auf den einwurf noch zu antworten: kann
ein wolf , der für seine Sicherheit ein pfand begehrt und im verlauf des
berichtes auch die band des trügerischen gottes abbeisst, als ein ursprüng-
lich unpersönliches wesen gelten? Doch genügt es wol daran zu erin-
nern, dass eine gewisse spielende art der persönlichen auffassung auch
unbelebten mythischen Symbolen ' gegenüber zulässig ist^; wem aber
1) Vgl. ausser cap. V, 6 auch Untersuch, zur Sa. Edda s. 114, anm. 208.
2) Wem eine solche erklärung nach analogie des Augusteischen „ad Kai. Grae-
cas solvere" nicht in den sinn will, der muss entweder an einen nebelstreif, eine
bandähnliche reihe kleiner sterne (wie sich z. b. im sternbilde der Andromeda ein
sog. plauetarischer nebel findet, vgl. A. F. Möbius, Hauptsätze der astronomie 1890
s. 108) oder er müsste mit Schwartz (Ursprung der myth. s. 151) an den blitzfaden
denken, „mit dem der sturmeswolf gefesselt wird." — Aber weder kann ich ein
wesen, das erst bei dem untergange der weit loszustürmen beginnt, als sturmeswolf
anerkennen, noch ist die blitzesfessel, mit der auch Zeus (nach II. A, 400) nur gefes-
selt werden „sollte" und andere götter nur für beschränkte zeit gefesselt wurden,
besonders geeignet ein ungeheuer bis zum weltmitergange festzuhalten.
3). Vgl. s. 162 anm. 1. — Wie gross jedoch der unterschied zwischen bloss
poetischer Personifikation und wirklich lebend gedachten wesen ist, beweist ein ver-
DKR FENRISWOLF 317
das abbeissen der band des T;fr denn docb zu stark sein sollte, dem
steht es frei, in diesem ziige eine erst in der zeit der dämonischen
auffassnng des wolfes geschehene vergröberung- der älteren aussage zu
erblicken, welche den gott einfach seine band verpfänden Hess.
5. Zweifellos gehört dieser späteren zeit alles das an, was die
genealogische Verknüpfung mit Loki, der Hei und dem Midgardsormr
beti'ifft. Wie schon am schluss von cap. VI angedeutet wurde, gieng
die dämonische auffassung in diesem falle wol sicher von der Vorstel-
lung aus, dass der wolf am weltende seine fessel brechen werde. So
mochte die Weissagung schon Jahrhunderte lang gelautet haben, ohne
dass die gemüter besonders dadurch erregt wurden; erst als die Vor-
stellung vom Weltuntergange mehr und mehr in die form eines erbitter-
ten kampfes der götter und riesen umgeschmolzen wurde, welcher
Wechsel wahrscheinlich nicht sehr lange vor dem beginne der wikin-
gerzüge, teilweise noch während derselben sich vollzog, erst da wurde
der gefesselte wolf für den fall seines freiwerdens ein gefürchteter feind
der götter und der von diesen bisher beschützten menschheit. Diese
lebhaftere empfindung verlieh dem bisher nur im sinne des animismus
belebten wolfe eine etwas vollere, mythische persönlichkeit und so kam
man dazu, sich jetzt auch nach einem vater und nach geschwistern für
dieses enfant terrible umzusehen^; es war der augenblick gekommen,
„wo das mythische bild aus der anschauung übergeht in die tradition,
wo der loslösungsprocess von dem natürlichen hintergrunde anfängt
und es gleichsam zum freien eigentum des menschlichen geistes wird,
der die in demselben liegenden keime nun auf religiösem wie histo-
rischem boden verwertet." (Schwartz, Die poet. naturansch. b. II
s. XX.) — Jetzt konnte auch erzählt werden, dass dieser wolf in Kie-
senheim aufgewachsen, mit gewalt den göttern zugeführt sei usw.^
6. Aber neben der genealogischen Verknüpfung zeigte sich uns
bei genauerer betrachtung des mythus in cap. V, § 6 noch eine andere
Verbindung, ja beinahe Verschmelzung des wolfes mit Loki. So bald
gleich der Schilderung des gefesselten wolfes, um den niemand . weiter sich kümmert,
mit der des gebundenen Loki, um den hass und liebe nach wie vor sich bemühen
(vgl. cap. V, 6; VI, 2).
1) "Weshalb mau füglich an keinen anderen vater denken konnte als Loki, ist
cap. IV, 1 dargetan worden.
2) Zur „loslösung von dem natürlichen hintergrunde*^ trug in diesem falle auch
wol der so vieldeutige name „wolf' mit bei; selbst da, wo man die beziehung auf
ein Sternbild noch kannte, entstand albnähhch zweifei, welches sterabild gemeint sei
(vgl. cap. VI, 5).
318 WILKEN
nämlich die Vorstellung, dass das gefesselte tier am himrael zu suchen
sei, so weit verblasst war, dass man es nur noch von den göttern in
ihrem machtbereich ^ gefesselt wusste, so schwand die bestimmte Unter-
scheidung zwischen diesem gefesselten wolfe und dem von den göttern
in einer felshöhle gefesselten „vater" desselben mehr und mehr, so
grundverschieden auch Ursachen und sonstige umstände in beiden fäl-
len ursprünglich waren-. Nach einer seite trat eine gewisse ähnlich-
keit der behandlung ein: wie der wolf von dem unscheinbaren bände
Gleipnir, so wurde Loki mit den därmen seines sohnes Narfi gebun-
den; in beiden fällen erlangte das anfangs weiche band erst nach der
anlegung härte und festigkeit^. — Wenn diese ähnlichkeit sich viel-
leicht ohne entlehnung, nur durch anlehnung an populäre Vorstellun-
gen in beiden fällen erläutert*, so verhält es sich wol anders mit jener
fortsetzung der fesselung, die Gylf. 34 von den Worten pä töku peir
festina an (=41, 9 — 14) zur weiteren Sicherung des werkes noch
glaubte anfügen zu können. Hier erinnern wider die beiden steine
GjqU und I'viti in Gylf. 34 an die drei für das hindurchziehen der
därme dui'chbohrten eggsteina, die in Gylf. 50 zur Sicherung des gefes-
selten Loki dienen, wie denn auch in dem betreffenden satze in c. 34
(mehr noch in der parallel stelle Kph. II, s. 431) die lokalschilderung
der in cap. 50 (= 80, 7 — 13) sich nähert. Von welcher seite die
entlehnung ausgieng, kann nicht zweifelhaft sein: auch wer unsere auf-
fassung des am himmel befestigten wolfes nicht teilte, niüsste aus dem
umstände, dass in cap. 34 an das band Gleipnir noch eine andere fcstr
(bald Gelgja, bald Hraeda genannt) angeknüpft erscheint, ersehen, auf
welcher seite künstliche Verknüpfungen, wo die ursprünglichere fassung
vorliegt.
7. Wenn aber die Verknüpfung des „wolfes" mit Loki im wesent-
lichen nur im hinblick auf den dämonischen Charakter beider und die
rolle, welche beide im Weltuntergänge zu spielen hatten, sich vollzog,
so kann für eine andere Verbindung sogar eine gewisse lokale grund-
lage angegeben werden; vgl. cap. lY, § 6, Erinnerte man sich nämlich
bei dem wolfe noch daran, dass er am himmel zu suchen war, so
1) Vgl. über das heima ia Gylf. 34 oben cap. Y, 3.
2) Als verschieden nach grund, physischem lokal und ursprünglich auch den
niitteln der fesselung sind beide mythen schon in cap. V. 6 nachgewiesen.
3) Vgl. einerseits in G. 34 die worte: ok er hann spyrndi viä, pd haränaäi
bandit usw. (= 41, 15, 16); andererseits in c. 50 die worte: ok tiräu pau bqnd at
jdrni (= 80, 13).
4) Vgl. Simrock, D. myth.^ s. 96.
DER FENRISWOLF 319
musste er von dem augenblicke dämonischer auffassung an jenen Wöl-
fen bedeutend näher rücken, die man sich längst als der sonne und
dem monde feindliche ungeheuer des luftraumes gedacht hatte ^. Der
starke unterschied, der darin lag, dass der wolf des Feurir am himmel
befestigt war, jene wölfe dagegen widerholt gegen die sonne vorgin-
gen, ja nach jüngerer auffassung dieselbe unablässig verfolgten 2, konnte
insofern etwas an bedeutung verlieren, als der wolf des Fenrir wenig-
stens am ende der tage seine freiheit wider erlangen sollte. Für die-
sen Zeitpunkt ergab sich die Verschmelzung daher am einfachsten und
sie ist an dieser stelle in der nordischen mythologie unserer quellen
nach einer seite konsequent durchgeführt'^; für die früheren momente
begnügte man sich oft damit, eine genealogische Verbindung in der
weise anzunehmen, dass der wolf des Fenrir zu den sonnenwölfen in
ein ähnliches Verhältnis rückte, wie es Loki ihm gegenüber schon ein-
nahm. Scheint es gelegentlich so, als ob man auch für diese frühere
zeit eine identificierung des „Fenriswolfes" mit dem berühmtesten son-
nenwolfe, dem wolfe Skoll, versucht habe, so ist doch die fassung der
bez. angäbe wol nicht ohne grund recht dunkel und zweideutig ge-
halten.
1) Nach dem grundsatze „je weiter ein mythus (ohne den verdacht künst-
licher Übertragung) ausgebreitet sich zeigt, für desto älter ist er zu halten" ist der
mythus von den die sonne bedrohenden wölfen älter als die meisten göttennythen
des nordens, da er nicht nur für das südgermanische gebiet sichere Zeugnisse besitzt
(Grimm, MythoL* 203), sondern verwandte Vorstellungen bei den entferntesten Völ-
kern sich finden (ebenda 588 fg.). Andererseits pflegen diese ältesten Vorstellungen
im laufe der Jahrhunderte in den litterarisch tonangebenden kreisen entweder zurück-
gedrängt oder doch variiert zu werden: dies zeigt sich auch bei den sonnenwölfen
im nordischen gebiet. Die namen der beiden wölfe kennen wir nur noch aus je einer
erwähnung in der Liederedda (Grm 39), in Gylfag. 12 und in der Hervarars. (ed.
Bugge 246 : Skalli ok Hatti) ; die Skälda bietet die namen nur in den Nafna{)ulur Kph.
I, 591, in besserer fassung II, 484; in der skaldischen dichtung war zwar die Vor-
stellung nicht ganz verschollen (vgl. z. b. hvelsvelgr himins Vigf. s. v. svelgr, Mül-
louh. V, 147), aber offenbar veraltet. Volkstümliche ausdrücke wie solvarg, soliilv
wurden mehr und mehr zunächst auf die im norden ziemlich häufigen nebensonnen
bezogen, nicht auf die veranlasser der eigentlichen Sonnenfinsternisse. Dieses auffäl-
lige zurückweichen der ererbten Vorstellung lässt schon a priori eine teilweise Ver-
mischung mit jüngeren mythengebilden vennuten.
2) Seitdem man aufgehört hatte bei jeder Sonnenfinsternis oder nebensoone die
Vernichtung der sonne zu befürchten, hielt man diese phäuomene doch als vorzeiclien
künftiger ereignisse im Systeme fest und liess vorläufig sonne imd mond tag für tag
von jenen wölfen verfolgt werden, denen sie schliesslich unterliegen sollten, vgl.
Gylf. 12.
3) Die genaueren nachweisungen finden sich in den folgenden §§.
320 WILKEN
8. Dass in bezng auf die letzten kämpfe der götter eine Ver-
schmelzung des Fenriswolfes mit dem sonnenwolfe Skoll stattgefunden,
dass der erste hier an die stelle des zweiten getreten sei, scheint mir
aus folgenden gründen deutlich hervorzugehen. — Grylf. 51 unterschei-
det allerdings den Fenriswolf von den beiden Wolfen, die sonne und
mond verschlingen, was, historisch betrachtet, ganz richtig ist; aber
wie auffällig ist es doch, dass die götter den unholden nicht irgendwie
entgegentreten! Man vergleiche hier die art, wie Gylf. 42 der baumei-
ster, der sich sonne und mond als lohn ausbedungen hatte, von pörr
abgelohnt wurde (54, 14 W). — Der kämpf aber, welchen Ödinn und
Vidarr gegen den Fenriswolf kämpfen, streitet ganz gegen die analogie
der übrigen ragnarok- kämpfe. Überall sonst erliegt der gott ebensogut
wie sein dämonischer gegner^ und die sache der götter siegt nur inso-
fern, als in der erneuten weit die mächtigeren götter in ihren söhnen,
einige der minder mächtigen selbst wider erscheinen 2. Dass in dem
götterkampfe alle götter gefallen sein werden, wird Gylf. 52 zu anfang
mit grösster deutlichkeit gesagt. Aber wie? Nachdem Ödinn gefallen
ist, tritt ja sein söhn Vidarr „sofort darauf" [pegar eptir) an seine
stelle, bekämpft den wolf mit glück — und scheint die weit zu über-
dauern. Darnach heisst es in einer der neuesten behandlungen der
Deutschen mythologie^ anscheinend korrekt: „so wird denn Vidarr,
wenn die grossen götter gefallen sind, ihren thron einnehmen." —
Aber diese annähme ist voreilig. Die Vol. lässt allerdings Yidarr den
vater rächen (54, 4), deutet aber mit keiner zeile an, dass Yidarr auch
nur neben den str. 62 und 63 genannten göttern eine rolle in der
erneuten weit gespielt habe. In VatJ)r. 51, 1 — 2 wird freilich gesagt,
dass Yidarr und Yali die heiligen göttersitze bewohnen sollen, wenn
die flamme des Surtr erloschen ist; aber diese werte heben den Yidarr
nicht einmal vor dem sonst so wenig genannten Yali hervor; in der
zweiten hälfte der strophe werden dann noch Modi und Magni als in
der erneuten weit an die stelle ihres vaters I'orr tretend genannt; daraus
wird wahrscheinlich, dass wie bei Modi und Magni so auch bei Yidarr
1) Nur eine scbeiubare ausnähme Lüdet der im kämpfe gegen Freyr über-
lebende Surtr, der scbliesslich die weit in flammen vernichtet. Da er ein feuerdäraon
ist, so ist anzunehmen, dass er als mit der flamme selbst ersterbend gedacht wurde;
als die weit überlebend mag ihn nin* eine version aufgefasst haben, die Gylf. 52 in
der hs. U überliefert ist. (Vigf. s. v. Surtr.)
2) Auf die frage, weshalb nicht Ödinn, l'orr, Freyr selbst widererscheinon,
ist die antwort nicht schwer zu finden, doch berühii dies die vorliegende Unter-
suchung nicht.
3) Fr. Kauffmann, D. mythol.- s. 93.
DER FENRISWOLF 321
in Yafpr. nur an ein auftreten in Vertretung des gefallenen vaters zu
denken ist. Dass aber Vutarr nicht gerade als princeps deorum au
Odins stelle treten sollte, sondern vielmehr ein neuer, ungenannter
gott dies amt anzutreten hatte, geht aus einer vergleichung von Vol. 65
mit Hyndl. 45 ganz deutlich hervor. Nicht übersehe ich schliesslich
die bemerkung in Gylf. 53: VMarr ok Vali Ufa, svä at eigi hefir
scerimi ok Surtalogi grandat peim; aber diese werte sind entweder
einfaches misverständnis von Yafjr. 51 (F. ok V. hyggja vc go(7a, pä
er sloknor Surta logi)'^ oder sie suchen diese angäbe in einklang zu
bringen mit der aus der darstellung von c. 51 indirekt sich ergeben-
den tatsache, dass Vidarr im kämpfe nicht wie alle anderen götter ge-
fallen ist, ohne zu bedenken, dass der widersprach gegen c. 52 auf.
(er . . dauä qll ... guäin ok allir eiiilierjar ok allt mannfölk) nur um-
somehr ins gewicht fällt. Man wende nicht ein, dass ja auch Vali,
Modi, Magni, Hoenir am leben geblieben sein müssen; hier ist der
Widerspruch lange niciit so scharf, da die genannten götter nicht direkt
am kämpfe teilgenommen hatten. Wenn selbst ein menschenpaar dem
verderben entgangen sein soll (Vafpr. 45), warum nicht auch einige göt-
ter? Aber die am kämpfe beteiligten mussten doch wol alle am boden
liegen, ehe Surtr daran denken konnte, die weit durch feuer zu ver-
derben (Gylf. 51 = 84, 14). So widerstrebt der kämpf mit dem Fen-
riswolfe schon mit rücksicht auf die rolle Odins, aber weit mehr mit
hinsieht auf diejenige Vidars der analogie aller anderen kämpfe, die
Gylf. 51 berichtet; die dissonanz löst sich sofort, wenn wir anerkennen,
dass dieser kämpf ursprünglich eine Sonnenfinsternis meinte, und der
Fenriswolf mit dem wolfe SkoU die rolle getauscht hat. Für diese auf-
fassung sprechen namentlich folgende gründe: a) der ausdruck gleypir
(devorat) wird ebenso von dem wolfe gebraucht, der die sonne ver-
schlingt, wie von dem Fenriswolfe Ödinn gegenüber. Da bei allen
anderen göttern ein erliegen nach rühmlichem, zum teil nach sieg-
reichem kämpfe berichtet wird, so wäre das klägliche Schicksal des
höchsten gottes, der einfach verschlungen wird, recht auffällig, wenn
hier nicht eine alte vorläge benutzt ist, welche eigentUch nicht den
letzten kämpf im sinne hat. Dieses auffällige tritt noch etwas drasti-
scher in Lokas. 58, 4 hervor: ok svelgr allan Sigfqäur, doch darf diese
Wendung nicht lediglich aus der absieht des dichters, humoristische
1) Die angezogenen worto in Vaf{)V. enthalten nünilich gar keine aussage
über die teilnalime oder nichtteilnahme beider götter am letzten kämpfe oder ihre
Schicksale in demselben, sondern beziehen sich lediglich auf die zeit nach dem erlö-
schen des weltbrandes.
ZEITSCHRIFT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XXVIIT.
21
322 WILKEN
Wirkungen zu erzielen (Hirschfelcl, zur Lokas. 47), erklärt werden, da
sie sachlich dem besprochenen ausdruck der Gylf. gleichwertig ist.
ß) dass die räche für den getöteten vater trotz der analogie aller ande-
ren ragnarok- kämpfe sofort erfolgt, erklärt sich aus dem umstände,
dass eine Sonnenfinsternis nur einige stunden zu dauern und für den
menschen mit dem gedanken an die baldige widerkehr des lichtes ver-
bunden zu sein pflegt, y) das aufreissen des rachens durch Vidarr
erinnert Avider daran, dass die sonne gewissermassen einen freien aus-
weg gewinnen sollte, um ihrem gefängnisse zu entkommend
9. Nehmen wir an, dass jenes auffällige schweigen über ein ein-
treten der götter für sonne und mond sich dadurch erklärt, dass der
kämpf Odins und Vidars gegen den Fenriswolf im gründe eben ein
„kämpf um die sonne" war, so tritt als ö) noch ein anderes, für sich
allein freilich leichter wiegendes moment hinzu: bei der erwähnung des
Schuhes, mit dem Vfdarr in den rächen des wolfes tritt, heisst es
Gylf. 51: pvi shal Jicivt björum hrott kasfa sä maär, er at pvi vill
hyggja at Jioma äsummi at Udi. — AVas haben diese werte mit einer
Sonnenfinsternis zu tun? Doch soviel, dass auch hier der bei der
naiv -populären auffassung einer finsternis am himmel immer hervor-
tretende gedanke, dass man den kämpfenden, anscheinend unterliegen-
den lichtwesen da droben zu hilfe eilen solle-, in einer allerdings etwas
veränderten fassung widerkelirt.
10. Aber es lassen sich für die vorgeschlagene deutung''^ noch
andere Zeugnisse beibringen, deren gewicht dadurch kaum vermindert
1) Vgl. die belöge für ähnliche vorstellungeu bei Grimm, Mythol.* s. 588,
darunter die notiz: in alleu kalcndern werden die finsternisse so dargestellt, dass
zwei drachen sonne und mond im rächen haben.
2) Vgl. die in der vorigen anm. citierte stelle aus Grimm sowie Schwartz,
Poet, naturansch. I, 215, der übrigens die Verdunkelung der sonne im gewitter als
die eigentliche grundlage dieser Vorstellungen betrachtet. (Urspr. der myth. 78 fg.)
.3) Bei dieser deutung habe ich nur auf die hauptfragen gewicht gelegt. Dass
Udinn nicht nur luft- uud himmelsgott, sondern auch speciell Sonnengott war, ist
u. a. von Simrock, D. myth.-'' 205 fg. im ganzen richtig nachgewiesen, wenngleich
ich in manchen einzelheiten abweiche. — Sollte man mir vorhalten, dass nach der
gewöhnlichen finsternis ja dieselbe sonue sich wider zeige, nicht eine andere, so bil-
det die von Schwartz (Urspr. 72) besprochene ansieht, dass die sonne aus dem ge-
wittei'bad gleichsam „verjüngt" hervorgeht, den Übergang zu der nur wenig kühneren,
dass nach einer gewaltsamen katastrophe ein jüngeres sonnenwesen an die stelle des
älteren tritt, entweder nur im sinne der erneuerung wie Vaftr. 47, 1 {eina dottur
berr dlfrqCltdl usw.) oder mit dem nebengedanken der räche für das von feinden
besiegte sonnenwesen, so in dem mythus von Baldr und Vali nach Vegtamskvida 11
und Hyndl. 30. Dieser letztere mythus kommt dem von Odinn = Vidarr am nach-
DER FENRISWOLF 323
wird, dass sie nur in einem teile unserer quellen hervortreten; gerade
so wird es am deutlichsten, dass nicht etwa ursprüngliche Identität
oder auch nur nahe Verwandtschaft des Fenriswolfes und des sonnen-
wolfes bestand 1, sondern dass diese gleichsetzung, weil sie im gründe
auf missverständnis beruhte, nur langsam sich vollzog und niemals zu
harmonisclier durchbildung gelangen konnte. Die vulgatauffassung, die
wir in § 7 und 8 besprachen, blieb gewissermassen auf halbem wege
stehen: sie übertrug für den letzten kämpf die rolle des sonnenwolfes
auf den Fenriswolf, liess jenen aber als verschlinger der sonne an
seinem alten platze; kühner, aber durchaus konsequent verfährt Yaf|)r.
46 und 47 (und darnach Hrafnag. Odins 23), wo der Fenriswolf auch
als verderber der sonne genannt wird-. Nun war es möglich den
kämpf (3ctins mit dem Fenriswolfe als ein, wenn auch verspätetes ein-
treten für die gefährdete sonne aufzufassen; ein bedenken wurde in
jener späteren zeit darin nicht mehr gefunden, dasselbe mythische mo-
tiv in doppelter ausprägung sich folgen zu lassen^. Aber in volks-
kreisen musste die erinnerung an die alten sonnenwölfe doch fester
haften; der versuch, sie in den Fenriswolf aufgehen zu lassen, fand
auch wol darin eine Schwierigkeit, dass in den „nebensonnen" sich
dem äuge deutlich eine Vielheit von wölfen darbot*, die einem mytho-
logischen System zu liebe auf den einen Fenriswolf zu reducieren doch
nicht wol tunlich erschien. Ganz hat es freilich auch nicht an dem
versuche gefehlt in wesen gleicher art, den Fenris kincUr, den gefähr-
lichen wolf zu vervielfältigen.
11. Ehe wir auf diesen versuch näher eingehen, ist die frage zu
beantworten: kennt auch die Voluspä jene gleichsetzung des Fenriswol-
fes mit dem sonnenwölfe oder nicht? Str. 57, 1 scheint dagegen zu
sprechen; aber gerade diese strophe will richtig verstanden sein. Ihre
poetische Wirkung beruht zumeist darauf, dass, nachdem die einzelnen
mythen , welche als für den Weltuntergang bedeutende uns vorgeführt
wurden, an unserem äuge gleichsam vorübergezogen sind, zum schluss
sten. Über Vidarr vgl. noch Untersuch, s. 118 anm. 222; s. 132 fg. — Über Yaff)r.
47, 1 handelte in ähnlichem sinne schon Müllenhoff, D. alt. V, 127.
1) Ich denke hiei' an die auffassung des Fenriswolfes als eines sturniwolfes
oder eines die sonne verschlingenden wasserdämons u. ähnl.
2) Dass cUese darstellung nicht ursprünglich sein kann, wurde schon cap. IV, 5
dargetan.
3) Der kämpf mit dem sonnengotte Odinn ist natürlich im gründe gleich dem
mit der unpersönlich gefassten sonne. — Doch ähnliches findet sich sonst, vgl. Mann-
hardt, Götterwelt 204.
4) Vgl. s. 319 anm. 1.
21*
324 WILKEN
noch einmal das tliema des Weltuntergangs zwar mit poetischer kraft,
aber ohne mythische bildersprache, gleichsam als physikalisches gemälde
uns vorgeführt wird 1. Wenn hier also von der sonne nur gesagt wird,
dass sie sich verdunkelt, so darf dies doch nicht als beweis dafür gel-
ten, dass der VqI. eine gewaltsame Vernichtung der sonne, sei es durch
Skoll oder Fenrir ganz unbekannt sei; der ausdruck fer sortna erin-
nert zunächst sehr an die Wendungen er pä kallat so7"te ä solo (hs.
d hüigle) und verdr enn shindoyn, at sorta herr ä tnnglet, mit denen
im astronomischen abschnitte der hs. 1812 (ed. Larsson 37, 25; 38, 2)
die regelmässige Verfinsterung der sonne und des mondes bezeichnet
wird; vgl. auch MüUenhoff, D. alt. Y, 126 unten. Der ausdruck der
Vol. will also das Schicksal der sonne am weltende gewissermassen als
eine „chronische" Sonnenfinsternis bezeichnen, und wir dürfen erwar-
ten, dass in anderen partien, wo die mythische bildersprache vorherrscht,
auch die YqI. uns sei es einen bericht, sei es doch eine andeutung
gibt, wie nach dieser andern darstellungsweise sich das Schicksal der
sonne gestalten wird. MüUenhoff hat neuerdings vermutet-, dass in Yol.
40, 4 der betreffende bericht vorliege, wobei er jedoch gezwungen ist
tungl in dem für den norden ganz ungewöhnlichen sinne „gestirn" im
allgemeinen (hier = sonne) zu nehmen. Diesem Standpunkte kann ich
aus folgenden gründen mich nicht anschliessen : 1) das wort tungl
scheint ursprünglich die bei nacht sichtbaren fixsterne, namentlich die
von stärkerer leuchtkraft, zu bezeichnen^; 2) eine Zusammenfassung
dieser fixsterne mit der von uns ja auch als fixstern erkannten sonne
lag dem Standpunkt nicht nur des nordens, sondern der älteren zeit
überhaupt fern'^. 3) die Übertragung des wortes auf den mond hat
1) Die poetische kraft dieser und der als gegenstrophe zu ihr sich darstellen-
den Str. 59 hebt auch MüUenhoff, D. alt. V, 28 hervor, jedoch ohne den specifischen
unterschied von den meisten übrigen Strophen zu beleuchten. (Vgl. dazu s. 173,
anm. 3.)
2) A. a. 0. 125 fg.
3) Von den beiden erldärungen , die Grimm , My thol. •* 584 zur erwägung stellt,
zieht Schade, Altd. wb. s. v. •ximgal wol mit recht die zweite vor, wonach die
(nächtlichen) gestirne (ursprünglich aber wol nur die fixsterne) von ihrem flammen-
den, glitzernden scheine als züngelnde himmelsflammen bezeichnet wurden. — Wenn
auch Schade die sonne nicht direkt ausschliesst, so erhellt doch der gewöhnliche
Sprachgebrauch des nordens aus stellen wie Gylf. 9 {sol ok himmtiingl väru seit)
und VqIss. 12 (= 170, 27 W: pd er nott eldir, ef fiir sjäiä eigi himinUmgl)\ die
ältere bedeutung ist nämlich im nord. kompos. himintungl erhalten; vgl. auch die
folgende anm.
4) Wenn in astronomischen schritten, die auf lateinischen vorlagen beruhen,
himintungl im sinne unseres „weltkörper " begegnet (s. die cap. VI, §5 erwähnte
DER FENRISWOLF 325
kein bedenken, weil für die mythische auffassung der mond gewisser-
massen als könig der nacht, als fürst und führer der kleineren fixsterne
erscheint ^ 4) auch in anderen germanischen sprachen wird das wort
tungl im ganzen ähnlich gebraucht, von der sonne nur da, wo eine
verwechseluug gar nicht möglich ist-. 5) auch die folgende strophe
nötigt nicht zu der von MüUenhoff geforderten auffassung. Weshalb
nämlich in dieser strophe nur von einem, nicht, wie so oft (z. b. 42,
43) von mehreren wesen, die irgendwie Verwandtschaft zeigen, geredet
werden dürfte, ist schwer verständlich; der mondwolf, von dem 41, 1 — 2
handelt, steht jedenfalls dem Schicksal der sonne, das 41, 3 — 4 be-
sprochen wird, nicht so fern, dass nicht von dem einen auf das andere
in derselben strophe übergegangen werden könne, zumal da sich so
eine passende Steigerung von dem kleinen zum grösseren hiramelskör-
per ergibt. Man braucht also nicht gerade zu meinen, dass „die Verfin-
sterungen der sonne von dem mondwolf e herrühren", wenn man tungls
in Str. 40 auf den mond bezieht; man braucht auch nicht die Inter-
punktion der älteren ausgaben zu ändern. Ist es nämlich richtig, dass
in der prophetischen Schilderung der vala ein historischer fortschritt
sich zeigt, was durchaus Müllenhoffs Standpunkt ist, so dürfen wir in
str. 41 ebensowenig wie in 40 an gewöhnliche sonnen- und mondfin-
sternisse denken^, da sowol Baldrs tod wie die fesselung Lokis als
schon vor einiger zeit (str. 33 — 35) geschehen uns dargestellt sind.
Aus welchen gründen str. 42, 43 in Gjlf. unberücksichtigt geblieben
sind, kann zweifelhaft sein; jedenfalls stellen aber diese ebenso wie die
stefstr. 44 keinen erheblichen fortschritt in der handlung dar; wir sind
somit berechtigt auch str. 45 mit 40 und 41 näher zusammenzufassen
und für diese Strophen gruppe die durch 44 deutlich angezeigte eschato-
logische beleuchtuug im ganzen gelten zu lassen. In diesem sinne hat
auch der Verfasser von Gylf. 51 die sache angesehen und str. 41, 3 kann
ausgäbe von Larsson, index s. v. himejitungl) , so hat dies für den eigentlich nor-
dischen Sprachgebrauch keine bedeutung; nach diesem wurde die sonne selbst vom
tage, um so mehr von allen andern gestirnen bestimmt geschieden (Gylf. 10 und 11).
1) Vgl. Grimm, Mythol.'* nachtr. zu s. 602. Zu den belegen füge noch u. a.
Schwartz, Poet, natui-ansch. I reg. s. Sternenkönigin; am nächsten liegt uns jetzt in
Schillers par. u. rätsei nr. 3 das büd vom monde als dem hirten der sternenherde.
2) Vgl. z. b. für das ags. Sprachgebiet Leo, Ags. glossar s. 198, 32 fg. —
Auch der nhd. Sprachgebrauch kann zwar die sonne „den stern" des tages nennen,
aber gewöhnlich denkt man bei dem werte „stern" nur an die bei nacht sichtbaren
gestirne.
3) Der ausdruck sortna au und für sich würde dies erlauben, vgl. den anfang
dieses §.
326 WILKEN
dann sehr wol für sich als Schilderung des fimhulvetr gelten [ekki iiytr
solar; J>eir vetr fara prir sanian, ok ekki siimar i millum (= 81,6 W).
Mit veär qll välynd (41, 4) wird wol schon auf das thema hingedeutet
das in str. 45 {vindqld, vargqld) eine reichere ausführung findet i. Sollte
man mich fragen, wie bei meiner auffassung sich das svqrt verda söl-
skin in 41, 3 zu söl ter sortna in 57, 1 verhalte, so ist zu erwidern,
dass str. 57 vor allem die physikalischen momente noch einmal kollek-
tiv hervorhebt (vgl. den anfang dieses §); der historische Standpunkt
ist insofern gewahrt, als der schluss der Strophe auch einen fortschritt
in der handlung zeigt: die Vernichtung der weit durch teuer. Für den
anfang von str. 57 ist dagegen teilweise widerholung bereits frülier
gegebener data anzunehmen-; dass in söl ter sortna an und fiü- sich
nicht die Vollendung der in str. 41 geschilderten Verfinsterung liegen
kann, ist deutlich daraus, dass taka c. inf. ja das „angreifen" oder
„anfangen" bezeichnet; es ist für mich also lediglich widerholung des
früheren ausspruchs, der hier aber durch seine Verbindung mit anderen
ragnarek-motiven bedeutend an kraft gewinnt, so dass der „chronische"
Charakter dieser finsternis jedem leser deutlich werden muss. Jetzt
erst kann idi an die beantwortung der im anfange dieses paragraphen
aufgeworfenen frage denken. — Nach der gegebenen deutung wird zwar
nicht die Verfinsterung der sonne dem mondwolf zugeschrieben, aber
str. 40, 41 behalten so lange etwas auffälliges, als man annimmt, dass
in str. 40, 3 — 4 sowie in 41, 1 — 2 das Schicksal des mondes in bild-
lich-mythischer, in 41, 3 — 4 das der sonne in nicht- bildlicher darstel-
lung uns vorliege. Der Wechsel beider darstellungsformen würde erst
1") Gerade MüUenhoff wies a. a. o. 141 darauf hin, dass vindqld und vargqld
„zusammen dem letzten grossen winter angehören, wenigstens nach der bcschi'ei-
bung der Gylf." — Aber nach dieser müssen wir auch str. 41, 3 — 4 ebenso auf-
fassen und dürfen hier nicht an gewöhnliche finsternisse denken. Der ßmbiilvetr ist
wol als ein potenzierter nordischer polarwiuter aufzufassen, seiner Wirkung nach einer
„chronischen" Sonnenfinsternis nicht unähnlich, weshalb der mythische Standpunkt
beide motive verschmelzen konnte unbeschadet der ganz verschiedenen physikalischen
Ursachen.
2) AVas die Wendung sigr fohl i mar betrifft, so besagt sie freilich etwas
melir als die mythischen Wendungen in str. 50 und 55, die das anrücken des niiä-
garäsormr, des dämonisch aufgefassten Weltmeeres, gegen die götter schildern, aber
jener erstere ausdruck darf nicht zu sehr urgiert werden, da strenge genommen vom
Standpunkte der VqI. aus, welche die erde in str. 59 aus dem meere wider auftau-
chen lässt, die Zerstörung mit einem versinken im meei'e abschliessen müsste. Schon
MüUenhoff a. a. o. 28 hob hervor, dass in dieser strophe der dichter „unbekümmert
um die causahtät des hergangs und seines Zusammenhanges . . sich begnügt ein erha-
benes bild für die anschauung hinzustellen."'
DER FENRISWOLF 327
dann kunstgerecht sein, wenn wir in 40, 2 uns an die auffassung der
Vaf|)r. (46, 4) in der weise erinnern dürften, dass wir bei dem gen.
Fenris in gedanken ergänzen „des sonnenverderbers''. Dann ist auch
für die sonne die mythisch -bildliche ausdrucksweise soweit gewahrt,
dass Avir die alleinige hervorhebung des mythischen ,,mondräubers"
nicht mehr beanstanden dürfen; bei der nichtbildlichen fassung in 41,
3 — 4 aber wird eine besondere betonung des mondes neben der so
viel wichtigeren sonne nicht notwendig erscheinen ^ Und warum sollte
diese auffassung unmöglich sein? Dass manche gerade der älteren
mythischen züge von der VqI. nur angedeutet, nicht eigentlich erzählt
werden, ist jedem aufmerksamen leser des gedichtes bekannt, so steht
es z. b. auch mit der fesselung des Fenriswolfes; vgl. die freilich nicht
ganz zu meinem Standpunkt stimmende darlegung Müllenhoffs a. a. o.
139. — Ebenso Avird der umstand, dass die gleichsetzung des Fenris-
wolfes mit dem sonnenwolf nicht dem ursprünglichen Standpunkte ent-
spricht"^, für alle diejenigen, welche in der Vol. zwar nicht eine nach-
bildung der sibyllinischen orakel, aber doch eine von fremden einflüssen
nicht ganz unabhängige, namentlich aber in neuer gruppierung und
beleuchtung alt- einheimischen Stoffes sich mit glück versuchende dich-
tung zu sehen gelernt haben ^, keine beanstandung der oben gegebenen
auffassung in sich schliessen.
12. Kehren Avir zu den § 9 schluss erwähnten Fenris kindir zu-
rück, so können Avir uns jetzt kürzer fassen. Das Avichtigste dürfte
eben dies sein: nachdem einmal das „freiwerden des Avolfes" zu einem
feindlichen ansturm auf die bisherige weltordnung gcAvorden war, durfte
es an einem kämpfe zwischen dem hauptvertreter derselben und dem
Avolfe nicht fehlen. Man entlieh dieses kampfmotiv aus dem sagen-
schatze des älteren „sonnenwolfes", der ja gleichfalls dem himmelsraume
angehörte, worauf sich eine gleichsetzung des Fenriswolfes mit dem
sonnen Avolfe in manchen kreisen, doch nicht ohne Widerspruch gründ-
licherer kenner vollzogt. Da jedoch dieser sonneuAvolf vielfach in einer
raehrheit von wölfen, die gemeinsam die sonne angreifen, avoI auch in
Verbindung mit einem Verfolger des mondes gedacht Avurde, so schien
1) Es ergibt sich vielmehr so, da vorher der mond eingehender behaudelt ist,
ein angenehmer Avechsel in der darstelluugsweise.
2) Vgl. cap. IV, § 5.
3j Dass die feststelluag der richtigen mitte zwischen den exti'emen ansichten
über alter und bedeutung der Vgluspä noch nicht vollständig gelungen, ist freilich
zuzugeben.
4) Vgl. die cap. IV § 5 besprochene haltung des autors von Gylf.
328 WILKEN
es unerlässlich aiieli für eine solche mehrheit von wölfen räum zu las-
sen, die sich jedoch durch die bezeichnung Fcnris Miidir demjenigen
unterordnen musste, der als ihr geistiger vater in dem sinne gelten
konnte, als in ihm das princip des kampfes gegen die alte weltordnung
am deutlichsten ausgeprägt war. Erleichtert ward diese Vervielfältigung
durch die analogie, welche die Vervielfältigung des luftgottes Ödiun in
den valkyrjur, später auch in den einher jar darbot^; auch Loki findet
sich in Gylf. 51 an der spitze der HeJjar sirmar, Hrymr als führer
der hrimpursar, Surtr als haupt der Milspellssynir. Aber eine konse-
quente durchbildung dieser jüngsten mythenschichten ist nicht mehr
erfolgt 2; aus der wüsten masse jener i^ewns kindir oder fiflmegir, wie
VqI. 51, 3 sie selbst oder sehr ähnliche wesen nennt, ragt nur eine
gestalt besonders hervor, der tungls tjügari (VqI. 40), dessen identität
mit dem mdnagarmr in Gylf. 12 nicht zu bezweifeln ist, sobald man
tu7igl dem herrschenden sprachgebrauche gemäss übersetzt. Auf die
weitere frage: Ist indnagarmr auch dem wolfe Hati gleichzusetzen?
wird die antwort im nächsten capitel gegeben werden.
Till.
Rückblick und Umschau.
1. Die cap. III § 6 ausgesprochene Zuversicht auch ohne rück-
sicht auf die etymologische bedeutung des wertes Fenrir den mythus,
der an diesen namen sich knüpft, erklären zu können, hat mich hof-
fentlich nicht getäuscht: wir haben in der drohenden gestalt eines
1) Vgl. s. 192, anm. 3.
2) So ist es, mir. allerdings wahrscheinlich, dass die Heljar sinnar in Gylf. 51
mit den fiflmerjir in Vol. 51 (jene freilich von Loki, diese vom Fenriswolf geführt)
ziemlich zusammenfallen, da in beiden fällen nur der gegensatz gegen die scharen
der götter ins gewicht zu fallen scheint, aber beweisen lässt es sich nicht. Auch ist
nicht zu übersehen, dass der am himmel befestigte wolf natürlich zunächst dämonen
des luftraumes, der in der erde gefesselte LoM scharen der unter weit mit sich füh-
ren wird. Der einwurf Lünings (zu Vol. 50) „Hels bleiche schatten können nicht
kämpfen " erledigt sich durch genauere betrachtung des prosaischen Sprachgebrauchs
in Wendungen wie Heljm-mad^' u. ähnl. (vgl. Vigf.). Liegt in solchen ausdrücken
schon christlicher einüuss vor oder nicht? — Der oben besprochene mangel an kon-
sequenz ist am deuthchsten darin zu erkennen, dass selbst die relativ systematische
darstellung in Gylf. zwar ein rüsten der einJierjar zum kämpfe gegen den wolf (cap.
51 =r 83, 12; vgl. Grm. 23, 4) und ebenso ein gefallensein derselben (c. 52 = 87, 4)
berichtet, aber eine teilnähme am kämpfe nirgend erwähnt. Wie leicht konnten sie
den f'iflmeyir im gefolge des wolfes gegenübergestellt werden!
DER FENRISWOLF 329
„Wolfsrachens" am himmel das mythische symbol gefunden. Frühe
dämonisch gefärbt, zeigte der wolf ui-spriinglich neben feindlicher hal-
tung gegen die himmlischen, die ihn so ohne mitleid gefesselt, mehr
noch bedrohung der hilflosen menschenweit nnter ihm; vgl. Eiriksm. 6,
Häkonarm. 20. Auf Island erst scheint die einreihung eines götter-
kampfes mit dem wolfe in die reihe der andern ragnarok -kämpfe sich
vollzogen zu haben, vgl. cap. V, letzte anm., wogegen das zeugnis der
VqI. nicht entscheidet, vgl. die angeführte anm.; überdies sind die von
Müllenhoff, D. alt. Y, 9, 11 usw. angeführten gründe für norwegische
heimat der echten Strophen mir nie überzeugend gewesen. — Noch
bleibt das s. 188, anm. 2 zu ende gegebene versprechen einzulösen:
die bez. frage noch einmal von einer andern seite ins äuge zu fas-
sen. In der tat stellt sich, sobald ulfs keptr als name eines Stern-
bildes nachgewiesen ist, die in cap. II, § 3 angeführte tatsache, dass
einfaches ulfr in der Liederedda (ähnlich aber auch in den andern
quellen) häufiger sich findet als Fenris ulfr, in ein neues licht: die
Vermutung ist jetzt nicht abzuweisen, dass als eigentlicher name ulfr
früher ebensogut üblich war, wie der ausdruck „wagen" für das Stern-
bild am himmel ursprünglich genügte; der zusatz Fenris würde sich dann
ähnlich verhalten wie zu reiä hinzugetreten ist Bognis^, zu altschwed.
wagen ein Karle'-^ zu nhd. „wagen" der erläuternde gen. himmels-;
bei dem grossen und kleinen baren scheint ein solcher zusatz, der das
erscheinungsgebiet derselben deutlicher bestimmte, noch jetzt entbehrlich
zu sein. Die erklärung eines beinamens kann nicht dieselbe bedeu-
tung beanspruchen wie die des hauptnamens, der uns jetzt ganz deut-
lich ist; bei jenem wäre zwar die möglichkeit, dass Fenrir als name
eines gottes oder riesen ursprünglich gemeint sei, a priori nicht ausge-
schlossen; es hat sich uns dafür aber nicht der geringste anhält erge-
ben. So scheint einzig das erscheinungsgebiet des ulfr ernstlich in
betracht zu kommen und nur die wähl zu bleiben, ob der „Inmmel"
im ganzen oder jener besondere teil desselben gemeint sei, nach dem
1) Sigdr. 1.5. • — Die beziehung auf den grossen bär nimmt z. b. Vigfüsson
an, der in der betreffenden strophe noch mehr sternnamen vermutet (Corp. poet. I,
29 vgl. 469).
2) Ähnlich auch engl. Charles uain, Grimm, Myth.'* 604; dieser ist geneigt,
an Odinn oder I'orr (nach einer altschwed. chronik) als älteren besitzer zu denken;
da aber in den stjqrnumqrk ed. Gislason (44 Pr0ver s. 476) neben dem einfachen
vagn (= ursa maior) kvennavagn = ursa minor gebraucht ist, so ist wol karlavagu
als grundform für Charles wain anzusetzen. Den gen. pl. vagna (= ursarum) bie-
tet Sn. Edda Sk. cap. 23.
330 WILKEN
auch der einzige, dem „wolfe" sonst noch speciell zukommende bei-
name, nämlich Vcuiargandr, gebildet ist ^.
2. Vielleicht befremdet es einige leser, dass bisher noch nicht
auf YqI. 57, 2: hverfa af kimni heütar stjqrnur als beleg dafür hin-
gewiesen ist, dass das verschwinden oder verdunkeltwerden der gestirne
auch der nordischen Vorstellung als einer der wichtigsten faktoren des
Weltunterganges galt. Man hat freilich diesen in unseren quellen bei
oberflächlicher betrachtung etwas vereinzelt dastehenden ausspruch der
Seherin als entlehnung aus einigen stellen des neuen testamentes be-
trachten wollen-; aber zu einer solchen annähme werden wir um so
weniger gezwungen sein, je mehr wir im stände sind, die betreffende
Vorstellung nicht nur als eine allgemein menschliche, somit auch dem
norden nicht fremde 3, sondern dieselbe auch in ihrer älteren, specifisch
nordischen ausprägung nachzuweisen, wo dann der bildliche ausdruck
nicht fehlen darf. So betrachtet, weist die betreffende verszeile der
Vol. nur den verblassten, jüngeren ausdruck neben dem älteren, noch
in lebendiger bildersprache gehaltenen, den andere quellen uns bewahrt
haben in der fassung: „der Fenriswolf stürzt sich entfesselt auf die
Wohnungen der menschen" ^. Allerdings ist in diesem falle der kon-
struierenden mythenzeit die Zusammengehörigkeit des unbildlichen und
bildlichen ausdrucks ganz entgangen; sonst würde der autor von Gylf.,
der in c. 51 (82, 5) richtig die Überflutung der erde durch das nieer
auf das gebahren des miägaräsormr zurückführt, d. h. im gründe hier
zwei verschiedene darstellungsweisen desselben faktums ahnt, und der
für den unbildlichen ausdruck in Vol. 57, 1 : söl ter sortna mit recht
die ältere bildliche ausdrucksweise eintreten lässt (81, 11), sicher hier
ebenso wie in den angeführten fällen verfahren sein. Aber da er sich
verleiten liess ,82,1 das verschwinden der sterne gewissermassen als
folge der katastrophe, die über sonne und mond ergangen, hinzustel-
len, während VqI. 57 beide momente durch das dazwischentretende
sigr~ fold i mar deutlich trennt, so war er nun genötigt, als physische
grundlage für das freiwerden des wolfes jene erdbeben heranzuziehen,
Ij Vgl. cap. III, § 9. — Da schon iu der s. 18'2 amn. 4 citierten stroplie des
Eyvindr das schwert als rachensperre des wolfes erwähut ist, darf wol auch der
dadurch verursachte geiferfluss als altbegründet gelten.
2) So SchuUerus (Paul u. Braune, Beitr. 12, 267 fg.) und E. H. Meyer, Vö-
luspa s. 212.
3) Dies ist der Standpunkt von Hoffory (Eddastudien I, 126 fg.).
4) Hakonarmal 20.
DER fENBISWOLF 331
die er selbst c. 50 (= 80, 19) mit grösserem recht auf die Zuckungen
des in der erde gefesselten Loki zurückgeführt hattet
3. Leichter noch wird die vorgeschlagene erklärung eingang fin-
den, sobald wir erkennen, dass derselbe gedanke auch einem andern
mythus zu gründe liegt, dessen deutung noch einfacher ist. Bei dem
schifFe Naglfar, das erst am ende der Avelt flott wird, ist bereits von
einigen forschern, wenn auch mit zweifei, an ein sternbild gedacht
worden 2, Da nach nordischer Vorstellung die weit durch wasser und
feuer zu gründe geht, letzteres aber nach VqI. 57, 4 bis an den him-
mel schlägt, so ist der gedanke nicht wesentlich kühner zu nennen,
dass auch die meereswogen so hoch schlagen und das sternbild nun
von der flut davongetragen wird. Der name selbst bietet in diesem
falle gar keine Schwierigkeit, sobald man sich erinnert, dass eine ver-
gleichung der steme mit goldenen oder silbernen nageln aus alter zeit
vielfach bezeugt ist^; das „nagelfahrzeug" war somit kein unpassender
name für ein sternbild*. Die Verwirrung, welche namentlich der be-
richt in Gylf. zeigt, rührt daher, dass man hier bei nagl nicht an gold-
oder silber-nägel, sondern an den nagel des menschlichen körpers
dachte; so gelangte man zu der bizarren Vorstellung eines aus den
unbeschnittenen nageln verstorbener erbauten fahrzeuges. Dies schiff
Hesse sich allerdings mit den auch sonst bezeugten totenschiffen^
vergleichen; aber diese sind fertig und stehen in dienst lange vor dem
untergange der weit. Andererseits ist auch die von Grimm versuchte
1) Die Worte pd verär Fenristilfr lauss (82, 5) köunen noch unmittelbar zum
vorhergehenden satze gezogen werden, oder man muss zu dem gedanken, dass alle
fessehi und bände dann sich lösen, in den folgenden sätzen drei beispiele finden: das
losbrechen des Fenriswolfes, das wüten des meeres über die ihm gezogene grenze
hinaus, das flottwerden des Schiffes Naglfar. — Der nächste grössere absatz beginnt
dann mit den werten I pessum gni/ (82, 18).
2) So von F. Magnussen (Lex. mythol. s. v. Naglfari): N. := clavatum navi-
gium sive clavi forma apparens, unde cometae bene foret adaptandum; hae stellae
mala cuncta portendere putabantur. — Aber bei einem kometen fällt gerade das wich-
tigste vergleich ungsglied fort, die unbeweglichkeit bis zum Weltuntergänge. An einen
fixstern hatte ich daher schon Untersuch, zu Sn. Edda s. 131 a. gedacht, bei nagl
allerdings mehr an einen glänzenden gegenständ überhaupt, wozu der schwertname
Nar/lfari (Sn. Edda Kph. I, 566) stimmen würde, doch vgl. die folgende anm. —
Nahe meiner jetzigen auffassung kommt die von Wislicenus Symb. von sonne und tag
s. 81, 82, wo jedoch einigen nebenzügen zu viel gewicht beigelegt wii'd.
3) Belege namentlich bei Schwartz, Poet, naturansch. I reg. s. sterne = nägel.
4) Ich erinnere an die Argo oder das „schiff" unserer astronomie.
5) Vgl. Henne, Deutsche volkssage s. 448 fg. — Über Noreens erklärung vgl.
s. 332 anm. 4.
332 WILliEN
deutiing^, als ob der kern des mythus in dem gedanken liege, der
Weltuntergang sei noch fern, so lange das verderbliche schiff nicht fer-
tig gebaut sei, schwerlich der ursprüngliche. Davon, dass der bau des
Schiffes noch im werden sei, weiss auch Gylf. nur an der einen stelle
zu berichten, wo der w^unsch, eine pflicht gegen die verstorbenen ein-
zuschärfen, den mythologischen Standpunkt wol etwas verschoben hat
(c. 51; = 82, 8 — 11); an einer frühern stelle (c. 43) heisst es einfach,
dass es das grösste schiff sei 2. Auch an der späteren stelle findet auf-
merksame betrachtung leicht, dass der hauptgedanke des Schriftstellers,
der 82, 3 — 4 auf die Sprengung aller bände und fesseln im naturleben
hingewiesen hatte, nur darauf gerichtet war, in dem freiwerden des
Fenriswolfes, dem ungehemmten ansturm des Midgardsormr, endlich
dem loskommen des schiffes iSTaglfar gewissermassen die mythische bil-
dersprache an die stelle der physikalischen betrachtung zu setzen , nicht
aber zu einem anderen gedankenkreise sich zu wenden. Auch ist der
autor nach seiner moralistischen abschweifung (über abschneiden der
nägel) genötigt noch einmal ausdrücklich das „flottwerden" des schif-
fes anlässlich der grossen Überschwemmung zu betonen; mehr hatte er
auch in seiner quelle (Yol. 50, 4) nicht gefunden. Es erscheint mir
nun unmöglich, dies so stark betonte flottwerden als mit der Vollen-
dung des Schiffes zeitlich nahe zusammenfallend zu denken; dann würde
gerade die endliche Vollendung als solche betont worden sein; jetzt
müssen wir wol an ein schiff' denken, das schon Jahrhunderte auf das
flottwerden geharrt hat. Im gründe scheint auch J. Grimm dieser an-
sieht nahe zu stehen, wenn er die beiden sätze: „Fenris ülfr wird los;
Naglfar flott" als sätze verwandten Inhaltes, welche zusammen die Sig-
natur des beginnenden Weltunterganges zeigen, aneinander rückte End-
lich kommt in betracht, dass auch der Gylf. 10 als erster gemahl der
nacht uns genannte Naglfari ohne jede Schwierigkeit als ein persönlich
aufgefasstes Sternbild sich erklären lässt^.
1) Myth.^ 679 aum. 4 und nachtrag.
2) Dieselbe angäbe findet sich allerdings von dem Schilfe Baldrs in c. 49 (=
75, 13). Darf man aus der Zusammenstellung mit dem wolkenschiffe Skidbladnir
in c. 43 aber nicht so viel schliessen, dass es sich auch bei Naglfar um ein wirk-
lich der anschauung entnommenes, also echt mythisches motiv handeln muss? Ein
schiff aus menschennägeln wäre nur für eine allegorie geeignet. — (Vgl- cap. I, § 18.)
3) A. a. 0. 679.
4) Ygl. den ähnlich gebildeten Mundüfari, der als vater der sonne und des
mondes z. b. Vaf{)r. 23, 1 genannt wird; auch hier ist wol an ein gestirn oder den
himmel selbst zu denken. Letzterer ansieht sind F. Magnussen, ^Eldi'e Edda IV, 262
und Vigfüsson s. v. , der wol mit recht an mqmlull (= handle, espec. of a haudmill)
DER FENRISWOLF 333
4. Lassen wir diese erklärung als richtig gelten, so erhalten wir
ein schönes seitenstück zu jener des Fenris-mythus. In beiden fällen
Imt der umstand, dass gestirne aus der klasse der fixsterne erst am
Aveltuntergange ihren festen platz verlieren, zu einer anknüpfung an die
ragnarok-mythen und so zu einer dämonischen auffassung anlass gebo-
ten. Diese äussert sich in dem einen falle nur darin , dass die feinde
der götter das flottgewordene schiff zum angriff gegen die alte welt-
ordnung benutzen; in dem anderen falle, wo die gestalt eines wolfes
in betracht kam, lag der gedanke sehr nahe, diesen wolf selbst in die
schar der götterfeinde einzureihen, beseelt von dem wünsche, für die
Schmach so langer fesselung an den alten göttern räche zu nehmen. —
Diesen beiden, wie ich glaube, völlig gesicherten gestirnmythen lässt
sich vielleicht noch ein dritter mythus anreihen, der sonst grosse
eiiunert. Sollen wir aber darum an die Umdrehung des hinimels denken? wussten
die alten von derselben? AVahrscheinlich ist Mundilfari ein alter name der sonne
selbst, vgl. eap. III, § 5. Jedenfalls ist der Naglfari in Gylf. 10, der erste geniabl der
Nütt, die hier durchaus nicht in diimonisoher auffassung, sondern als mutter der
erde, des tages erscheint, eher geeignet ein licht auf die erklärnng des wortcs zu
werfen, als der schwertuame Naglfari, der unter ca. 170 andern in den Nafna{)ulur
(Kph. I, 566) begegnet. Dass von so viel namen nicht alle wirklich bedeutsame sein
können, liegt auf der band; neben mistilteinn (ebd. 564), Hoddmimir, Brimir, Fäf-
nir, Niähqggr befremdet auch Naglfari nicht (vgl. s. 331 anm. 2), welches wort
Noreen (Altuord. gramm.'- §251, 3) übersetzt „der zwischen leichen fährt". Die
ebenda gegebene geistvolle deutuug für Naglfar ^ totenschiff Hesse sich sachlich mit
meiner oben gegebenen darlegung wol vereinigen, da dieses schiff, das erst am Welt-
untergänge flott wird, wol weder aus holz noch aus menschennägeln gebaut ist und
jedenfalls einem sternbilde näher stehen müsste als dem bekannten „fliegenden Hol-
länder", dem gespensterschiff späterer zeit, das von H. Heine wegen seines unstäteu
umherfahreus dem „ewigen Juden" verglichen (Grimms wb. s. v. Holländer) und von
Nork, Myth. der volkss. 939 fg. auf luftspiegeluugen zurückgefülirt wird. — Verdanke
ich den hinweis auf die von mir übersehene stelle Noreens einem freundlichen winke
H. Gerings, so ist mir ein anderes bedenken nachträglich selbst aufgestossen. Die
gewöhnliche spräche unterscheidet nagl = unguis von nagli = clavus; wäre nach
der oben gegebenen erklärung nicht Naglafar zu erwarten? Aber entweder ist diese
Unterscheidung der älteren spräche fremd gewesen oder sie ist wenigstens für die
komposita nicht strenge durchgeführt, vgl. naglfastr = naglafastr (Vigf.) — Gerade
die spätere geltung von nagl = unguis hat vielleicht die auffassung von Gylf. 51
veranlasst. — Es erscheint mir also nicht geboten die oben gegebene auffassung, die
den analogien des betreffenden mythol. gebietes gerecht wird (vgl. s. 331 anm. 3), noch
zu verändern, am wenigsten, wenn Noreen nicht an ein wirklich den naturreichen
angehöriges gebilde, sondern an ein „totenschiff" der phantasie gedacht halben sollte,
etwa mit der bestimmung, die beim Weltuntergänge sterbenden in sich aufzunehmen.
Einer solchen allegorie kann ich einen platz unter den älteren mythen nicht einräu-
men, vgl. cap. I, § 18.
334 WILKEN
Schwierigkeiten bietet, wenn niclit eine ähnliche erklärung platz grei-
fen darf.
5. Wenden wir uns nunmehr zu der am ende von cap. VII auf-
geworfenen frage. In der stefstrophe der Vol., die zuerst als str. 44
(bei Sijmons), zuletzt als str. 58 begegnet, heisst es zu anfang: Geyr
nü Garmr mjqk fyr Onipahelli. l^ach dem zeitworte geyja (= bellen)
zu schliessen und nach dem ausdrücklichen Zeugnisse der Grra. 44, 4:
en hunda (oeztr er) Garmr haben wir an einen hund zu denken. Wes-
halb ist er aber der beste hund? Auf diese fi-age antwortet Müllen-
hoff V, 138: weil er in das reich der Hei allein die ihr verfallenen
und angehörigen eingehen und keinen wider heraus liisst. — Sollte
hier nicht die erinnerung an den griech. KiQßsgog in die nordische
mythologie eingetragen sein? Der autor von Gylf. berichtet in c. 51:
J)d er ok lauss ontinn hundrinn Garmr, er hiindinn er fijrir Gnipa-
helli; hann er ü mesta forad; hann d vig moti Ty ok verär hvdrr
odrum. cd skada. Dass die letzte angäbe nur eine ziemlich junge
ausschmückung des letzten kampfes sei, ist schon mehrfach (z. b. von
Simrock, D. myth. ^ 121) mit recht behauptet worden; wenn aber dieser
gelehrte fortfährt „einen hund namens Garm, der die kette sprengen
und an dem kämpfe teil nehmen könnte, gibt es gar nicht", so kann
ich dieser ansieht nur soweit folgen: zu den alten Überlieferungen des
nordens gehört der hund, als Wächter der hölle aufgefasst, schwerlich;
schon das schweigen von Gylf. 34 (= 38, 9 — 13), wo der haushält der
Hei ausführlich registriert wird^, fällt hier ins gewicht. — Aber darum
sind wir durchaus nicht berechtigt den autor von Gylf seine Weisheit
nur aus einem mis Verständnis der oben erwäiniten stefstrophe schöpfen
zu lassen und uns selbst mit einer gleichsetzung von Garmr und Feri-
rir zu beruhigen. Gegen diese Vermischung hat Müllen hoff a. a. o. mit
vollem recht Verwahrung eingelegt; als hund (nicht als wolf) bezeichnet
wird Garmr zweifellos namentlich Grm. 44, 4. Aber brauchen wir das
attribut (xxtr an dieser stelle für mehr zu halten als der ,, namhafteste,
bekannteste"? Mehr wissen wir jedenfalls noch von ihm als von dem
1) Unter dem angeführten hausgerät findet sich zwar manches, das nur als
allegorie aus jüngerer zeit zu betrachten ist, aber daneben fehlt es nicht ganz an
älteren zügen (vgl. z. b. Simrock, Myth. ' s. .804), wozu ich namentlich Fallanda
foraä als name des (rasch zuschlagenden) tores reclme, das aus so viel sagen und
märchen bekannt ist, ursprünglich aber wol der tür des wolkenberges angehört
(Grimm, Myth.-*, 811 fg., vgl. Schwartz, Urspr. 177). Nachträglich fällt mir das noch
reichere register Frd hibylum Heljar, das cod. A (= 748) darbietet, wider in die
äugen (Kph. II, 494); hier findet sich u. a. auch ein hund der Hei angeführt, aber
nicht Garmr genannt, sondern Vaningi, (wol zu vanr = got. wans).
DER FRNRISWOLF 335
habicht Häbrök, der an derselben steile mit auszeichnung genannt
ist; jüngere Vorstellung mag in beiden fällen zu gründe liegen. Gleich-
wohl halte ich den hund Garmr nicht für eine blosse erfindung jünge-
rer zeit^; auch die möglichkeit eines bereits in Vol. und Grm. vorlie-
genden misverständnisses oder, was dasselbe besagt, einer allmählichen
Verschiebung älterer Vorstellung kommt in frage.
6. Wenn ich an den (nur) in Gylf. 10 erwähnten Mänagarmr
hier erinnere, so wird die frage anscheinend noch verwickelter. Denn
was Gylf. von ihm berichtet, ist inhaltlich so bedeutsam, dass man für
diesen unhold, der offenbar dem tungls ijügari in VqI. 40, 4 entspre-
chen soll, anscheinend mit recht nach dem geläufigeren namen, der
sich anderswo finden müsse, gesucht hat. Zwei gleichsetzungen sind
namentlich versucht worden: a) mit dem hunde Garmr, h) mit dem
wolfe Hati, der häufig als »verschlinger des mondes aufgefasst wird. —
Gegen a) hat sich Sirarock s. 24; gegen die häufiger (so auch von Sim-
rock) angenommene gleichsetzung mit Hati neuerdings Mogk (in Pauls
Beiträgen VI, 526 fg.) nicht ohne begründung ausgesprochen. — Von
beiden gleichsetzungen ist die sub a) lautlich die näher liegende. Das
kompositum Mänagarmr lässt sich doppelt auffassen: einmal kann garmr
nach dem bei'ühmtesten hunde die gattimg hund überhaupt bezeichnen ;
der mondhund kann dann sehr wol die bezeichnung eines den mond
verfolgenden wolfes sein. Andererseits kann aber auch, ähnlich wie
iilfr (= wolf am himmel) durch den davortretenden genet. Fenris, so
Garmr durch das davortretende Mäna nur näher bestimmt sein, ohne
dass ein anderes wesen gemeint wäre. Folgen wir dieser analogie, so
liegt freilich die frage nahe: wie kann Garmr, der nach Gylf. 51 gefes-
selt vor einer felshöhle liegt, mit dem den mond verschlingenden Mä-
nagarmr identisch sein? Dass Garmr schliesslich frei wird, berichtet
zwar auch Gylf., aber damit ist er noch nicht im stände von seiner
felshöhle aus, die Müllenhoff wol nicht mit unrecht an den eingang
der unterweit verlegt, den mond anzugreifen. Eine lösung des Wider-
spruches ergibt sich für den leser, der den vorhergehenden capiteln
innerlich gefolgt ist, sehr bald. Bei dem hunde Garmr hat schon
F. Magnussen (Lex. myth. s. v. Garmr) bemerkt: Garmum forsitan vete-
res Sueci appellaverint ursam maiorem in coelis, quae etiamnunc ab
1) Neuerdiügs hat namentlich Bugge (Studien über die nord. götter- und hel-
densage, übers, von Brenner s. 179) den namen selbst als nachbildung von Cerberus
betrachtet; zustimmend verhielt sich El. H. Meyer, Vol. 180. Dagegen vgl. nament-
lich Mogk im Anz. für indog. sprach- u. altk. III, 30 (neunorw. garma = brole,
Aasen 210).
336 WILKEN
eorum posteris vocitatur Storracken seil. Canis grandis sive maximus;
daran schliesst sich ein hinweis anf den bekanntlich einem andern
sternbilde (dem Sirius) von den alten beigelegten namen hunds-
stern (canicnla). — Yon hier aus den raythus zu erklären würde ich
so etwa versuchen. Yon der ursprünglichen bedeutung als Sternbild
erhielt sich nur eine schwache erinnerung.; ausser dem namen und der
bezeichnung „hund" kommt vielleicht die angäbe von Gylf., wonach
der hund zunächst gebunden ist und erst bei dem Weltuntergänge frei
Averden soll,' in betracht und würde sich ziemlich genau mit der betref-
fenden angäbe über den Fenriswolf decken. Doch ist zuzugeben, dass
hier auch der zufall sein spiel haben kann, pflegen doch auch gewöhn-
liche hunde oft an der kette zu liegen. Jedenfalls niüsste eine Ver-
schiebung im lokal stattgefunden haben: während bei dem gefesselten
wolfe nur jüngere zusätze an einen vom himmel unterschiedenen ort
der fesselung denken i, liegt es bei dem hunde Garmr so, dass er nur
auf dem wege der kombination an den himmel zurückversetzt werden
kann. Auf welche weise die lokal -Verschiebung in diesem falle erfolgt
ist, steht dahin: als erinnerung an den alten zustand könnte gelten,
dass auch die spätere sage wenigstens den Mänagarmr noch als mond-
verderber, somit als ein im luftreich waltendes wesen kennt, freilich
auch in dämonischer, den göttern feindlicher Stellung 2, was am deut-
lichsten Grylf. 12 (= 16, 1 — 4), aber wol auch in dem Gylf. 51 berich-
teten kämpfe des gottes Tyr gegen Garmr sich ausspricht, der in die-
sem falle unbedenklich gleich Mänagarmr zu setzen ist^. — Wie steht
es endlich mit Hati? Dass dieser ursprünglich als sonnenwolf gegol-
ten hat, ist von Mogk-^ ziemlich wahrscheinlich gemacht worden; da
aber das Verhältnis von sonne und mond in der mythischen zeit ein
weit engeres war, das Schicksal beider himmelskörper eng aneinander
geknüpft zu sein schien s, so darf für die konstruktive zeit die Vorstel-
lung nicht abgewiesen werden, dass Hati zunächst den mond, als Vor-
läufer der sonne aufgefasst, verfolge, wodurch eine gewisse bedrohung
1) Vgl. cap. V, § 3 iiud 6.
2) Hunde als Wächter kenut auch die deutsche volkssage meist m etwas dämo-
nischer färbung, vgl. Henne, Die deutsche volkssage s. 60 fg.; E. H. Meyer, Germ,
niyth. 108.
3) Der ausdruck kann er it mesta foraä passt genau zu der Gylf. 12 von
Man. gegebenen Schilderung, während wir von Garinr ja nur wissen, dass er gefes-
selt liegt und zeitweise bellt.
4) In Pauls Beitr. VI, ,526 fg.
5) Vgl. Schwartz, Die poet. naturansch. I reg. s. v. mond (und sonne, Ver-
hältnis beider).
DER FENEISWOLF 337
der sonne selbst gegeben blieb i. Bleibt uns also Hati in gewissem
sinne ein mondwolf, so ist für den Mänagarmr als für eine jüngere,
aber eben deshalb mächtigere Vorstellung, noch immer soviel platz,
dass er denselben gedanken in noch dämonischerer färbung ausprägt,
namentlich in bezug auf den Weltuntergang. Liegt auch der gang der
entwickelung hier lange nicht so klar vor äugen, wie bei dem Fenris-
wolfe, so lässt sich doch mit einiger Wahrscheinlichkeit folgende formel
aufstellen: Skqll : Fenris ulfr = Hati : Mänagarmr 2. Als ältere form
für Fcnrisulfr wäre dann noch ?dfr, für Ilänagarmr Oarmr anzu-
setzen, wobei die Verschiedenheit der formen auch solche in den bedeu-
tungen einschliesst, in dem die längeren formen schliesslich nur noch
vom eschatologisch aufgefassten „wolf" und „hund" gebraucht wurden
unbeschadet ursprünglicher identität der Vorstellungen 3.
7. Da jedoch der in §§ 5 und 6 besprochene Garmrmythus nicht
zu so greifbaren resultaten führt, wie die früher besprochenen, so will
ich für jetzt darauf verzichten, die frage weiter zu verfolgen, aufweiche
der gang der Untersuchung sonst gewissermassen hinweist: haben wir
ausser den besprochenen noch andere mythen , zu - denen die gestirne
anlass gegeben haben, ohne dass diese beziehung der späteren zeit
deutlich geblieben ist? Keinesweges möchte ich diese frage mit nein!
beantworten, mag auch die astrale erklärungsweise durch die einseitig-
keit einiger forscher äusserlich etwas in miskredit gekommen sein. —
1) Wenn Mogk a. a. 0. 528 sagt: Sk^ll ist dem sornenwagen gefolgt, hat vor
der S61 zur seite der rosse diese in schrecken gesetzt — so Hesse sich das für ein
einmaliges factum recht wol hören, aber nicht für ein täglich sich widerholendes
phänomen. Bie darstellung in Gylf. ist allerdings nicht ursprünglich, aber insofern
nicht ungeschickt, als die eile des scheinbaren Sonnenlaufes dm'ch die furcht vor den
Wölfen begründet wird , die sie verfolgen , womit zugleich eine aii System in die sonst
für die ältere zeit so regellosen finsternisse gebracht wii'd. Dann nämlich sind die
wölfe (vorübergehend) im stände sich der sonne zu bemächtigen, für gewöhnlich ist
sie nur bedroht und zwar auch von dem voraneilenden wolfe, da sich dieser ja zurück-
wenden kann: sie weiss vor und hinter sich den feind.
2) Teilweise ähnlich schon Simrock, Myth.^ s. 24, ausserdem vgl. Untersuch,
zur Sn. Edda s. 83.
3) Wer sich daran stossen sollte, dass Garnir immer als hund, Mänagarmr dage-
gen als wolf bezeichnet wird, der möge ausser dem s. 336 anm. 3 angeführten Zeug-
nisse auch die stelle beti'achten, wo es heisst: qll räpn erii troll ok vargar ok hund-
ar herklcBäa usw. Kph. 11, 512. — So gut nun dem tungls tjügari i troUs hami
der VqI. 40 in Gylf. 12 gegenübersteht: foeäir at sonum marga jqtna ok alla %
vargs likjum . . ok svd er sagt, at af attinni verär sd einn 7nuttkastr, er kallaär
er Mänagarmr — ebensogut kann auch diesem vargr im skaldisclien Sprachgebrauch
wider der hund Garmr entsprechen.
ZEITSCHRIFT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XXVIII. 22
338 WILEEN
Die möglichkeit, dass erst nach dem bereits vorhandenen mythus ein
Sternbild ulfs hjqptr genannt wäre (nach analogie der cap. YI, 4
erwähnten fälle) ist zwar nicht völlig abzuweisen i, aber wäre dann
nicht Fenris idfs oder Fenris hjqptr zu erwarten, da man gerade am
himmel doch auch an andere wölfe denken konnte, wenn nicht ein
ursprüngliches sternbild gemeint Avar? In diesem falle aber genügt
wolf, vgl. löwe, adler, widder, schwan usw. Doch eine nötigung auf
jene frage hier näher einzutreten liegt nicht vor. So möge zum schluss
nur der nachweis geführt werden, dass gestirnmythen wie die vom
Fenriswolf und dem schiff Nagifari der „analogia mythica" und somit
der inneren glaubwürdigkeit nach keiner seite hin entbehren.
8. Die bis auf den heutigen tag bekannte bezeichnung von Stern-
bildern durch tiernamen führte bei der sinnlich lebhaften auffassung
der altmythischen zeit widerholt zu der Vorstellung einer bedrohung,
resp. Verfolgung einiger Sternbilder durch andere, was namentlich in
der griechischen litteratur leicht sich belegen lässt^. — War einmal
eiu Sternbild als ein aufgesperrter Wolfsrachen aufgefasst, so lag die
Vorstellung hierin eine bedrohung aller anderen bewohner des himmels
zu erblicken um so näher, als man bei sonnen- oder mondfisternis
und der bildung von nebensonnen die grossen lichtkörper von wölfen
bedroht glaubte; wie leicht vermischte sich direkte vergleichung mit
indirekter! 3 Und jene bedrohung der wichtigsten weltkörper zog ohne
weiteres die götter in mitleidenschaft'^ ; ja auch die menschen scheinen
1) So sagt E. H. Meyer, Germ. myth. 10: „stembüder werden fast dui'cliweg
nur als himmlische erinnerungsbilder an andersartige sagen aufgefasst." Aber sind
nicht fast überall durch- die jüngei-eu bildungen die älteren etwas in den hintergrund
gedrängt? — über ältere und jüngere sternbildmythen vgl. zunächst Grimms Myth.*
609 fg. und die von ihm citierte äusseruug Buttmanns, „dass man nicht damit anhob,
die vollständige gestalt am himmel zu entwerfen, dass es genügte ein stück davon
herauszufinden" — so in unserem falle den rächen eines wolfes.
2) Vgl. ausser Homer s 273 (fast = Z 487) zunächst Hesiod W. u. t. 615:
evT äv ITX}]idSeg oQ-tvog ößQifxov "ÜQi'wvog iftvyovoccc ttitttojgiv und dazu Preller,
Griech. myth.^I, 351. • — Dass die alexandrinische htteraturperiode sehr viel bezie-
hungen auf die sterne bietet, ist bekannt; wahrscheinlich auf anregungen von dort
geht die gleichfalls starke benutzug der sternbUder in der röm. dichtung zurück, vgl.
Härder, Astrognostische bemerk, zu den röm. dichtem (anzeige von E. Maass in
D. litt. zeit. XIV, 29).
3) S. cap. I, § 13.
4) Vgl. Gylf. 42, wo die f orderung des baumeisters aus Riesenheim sonne und
mond als lohn zu erhalten als eine herausfordeiiing der götter betrachtet und geahn-
det wird.
DER FENRISWOLF 339
bei derartigen Vorkommnissen keineswegs bloss znschauer zu sein^. —
Kein wunder also, dass ein sternbild „der Wolfsrachen", sobald er ein-
mal personificiert war, zu dem ärgsten feinde der götter, zu einem
gefährlichen gast auch für die Vorstellung der menschen wurde 2.
9. Etwas seltener in alten quellen ist die hervorhebung der
festigkeit und guten Ordnung der fixsternbilder. Das „beer des him-
mels" bezieht sich auf dieselbe, vgl. Riehm a. a. 0. 1572. In dem
buche Hieb, das auch sonst auf die gestirne bezug nimmt (z. b. cap.
9, 9) fragt c. 38 v. 31 gott den Hiob: „kannst du die bände der sie-
ben Sterne zusammenbinden? Oder das band des Orion auflösen?"
(Luther) oder nach Reuss (Hiob 1888): „Bist dus, der der Plejaden
bände knüpft? Kannst du Orions fesseln lösen?" Zu dieser auf-
fassung stimmen (so weit ich sehe) die ausleger ausser Dillmann, der
(Comm. zu Hiob 1869) für den letzten halbvers die Übersetzung ver-
langt: „Kannst du Orions zugseile lockern?" Es soll sich dann darum
handeln, dass durch lockerung der seile, an welchen Orion geschleppt
Avird, er zu einer gewissen zeit höher am himmel steigt, zu einer andern
wieder tiefer sinkt ^. — Auf jeden fall ist in dem betreffenden verse
1) Vgl. Schwartz, Uispr. 78, 79; Kulm, Herabkuuft- 48, auni. 1 nach Birlin-
ger (während der Sonnenfinsternis fällt gift auf die erde).
2) Es mag hier, da der Fenriswolf von einigen forschem mit Loki und Lucifer
gleichgesetzt wurde (cap. 11, 1), wenigstens beiläufig daran erinnert werden, dass
der zweite name ja eigentlich den morgenstern bedeutet, Jes. 14, 12 (wie bist du
vom himmel gefallen, du schöner morgenstern?) bildlich den könig von Babel meinte,
in der allegorischen erklärung der kirchenväter seit Hieronymus den gefallenen engel,
den satan bezeichnete (vgl. u. a. Eiehm, Handw. des bibl. alt. ^ art. steine, s. 1573). —
Die dämonische auffassung gieng in diesem falle nicht von der gestalt des Sternbil-
des, sondern von der Vorstellung des vom himmel gefallenseins aus. Auch für die
nord. myth. mag beachtet werden der aussprach Eiehms a. a. 0. 1572: „die alte auf-
fassung der gestirne als lebendiger wesen ist nicht ohne alle nachwirknng geblieben,
wie denn auch in der Vorstellung des himmelsheeres die der engel (nord. etwa =
dämonen) und der sterne öfter ineinander fliesst." Auch dem indog. gebiet ist diese
Vorstellung nicht ganz fremd, vgl. über die „Verkörperung (der seelen) in Sternen"
Oldenberg, Ved. myth. s. 564.
3) Das hebr. wort k'^ssil (= Orion) bedeutet zunächst tor oder frevler, dann
riese; es gibt forscher, welche den am himmel gefesselten riesen der semitischen
astronomie auch in direkte beziehung zu dem griech. Orion -mythus setzen, vgl. Prel-
ler, Griech. myth. ^ s. 350 anm. 2). — Wie bei dem Orion, so nahm auch bei dem
sternbilde der Plejaden die hebr. auffassung ein band an, das die einzelnen sterne
zusammenfasste , vgl. Hiob 38, 31 und Eiehm a. a. 0. s. 1573. — Bei dem sternbilde
der fische nahm auch die europ. astronomie früherer zeit ein band an, vgl; Stjcjrnu-
niQrk in 44 Pr. ed. Gislason s. 478: eii sporäar fiskanna knyttir satnan med nqk-
kuru bandi.
22*
340 WILKEN
also die Vorstellung zu finden, dass jede lösung oder lockerung des
unsichtbaren bandes, an welchem die Sternbilder gehalten werden, dem
menschen ebenso unmöglich ist wie ihre anfängliche Verknüpfung. Es
zeigt sich also hier eine schöne parallele zu der nordischen auffassung,
dass die götter mit dem von den zwergen wunderbar gewirkten bände
den Penriswolf am himmel befestigt haben. — Wcährend die volkssage,
soweit ich jetzt sehe, sich dieser seite der betrachtung weniger zuneigt,
sind es einige kunstdichter neuerer zeit, namentlich Schiller, die hier
ergänzungsweise genannt werden könnend In den betreffenden stellen
wird wol niemand eine reminiscenz an die oben besprochene Hiobstelle
suchen; es handelt sich um das natürlich gegebene, das jede poetisch
gestimmte auffassung ergreifen muss, wenn sie den gedanken der unab-
änderlichen Ordnung in einem allbekannten bilde ausdrücken will:
weder die erde selbst noch die sonne kommt in demselben masse in
betracht ^.
10. Als kehrseite dieser festigkeit des fixsternhimmels kommt
dann zunächst in der jüdisch- christlichen eschatologie der gedanke zum
ausdruck, dass auch diese festeste der sichtbaren Schöpfungen gottes
dem untergange geweiht ist; belege aus der kirchlichen oder von kirch-
lichen motiven ausgehenden volkslitteratur sind nicht spärlich vorhan-
den 2. Daneben treffen wir nun auch in den nordischen ragnarok-
mythen dieselbe Vorstellung. Dass sie unabhängig vom christentume
entstehen konnte, ist mir nicht zweifelhaft, da hier nur die umkehrung
des im vorigen paragraphen besprochenen gedankens vorliegt'^; auffäl-
1) In Schillers parabeln heisst es von den steruen: wie wir sie heute wandeln
sehen, sah sie der allerältste greis; in der Jungfr. von Orl. II, 7: eher risst ihr
einen stern vom himmels wagen ; im "W". Teil II, 2: die droben hangen unveräusser-
Uch und unzerbrechlich wie die sterne selbst. — Vgl. auch G. Kinkel, Ein geistlich
abendlied str. 4: in gleichem, festem gleise der goldne wagen geht.
2) Die erde nicht, weil sie durch meereswogen, sti'öme, erdbeben, erdstürze
gelegentlich bedroht wird; die sonne nicht, weil sie scheinbar eine rastlose wandlerin
ist. Der mond ist geradezu zur bezeichnung der Veränderlichkeit benutzt worden,
vgl.: „es kann ja nicht immer so bleiben hier unter dem wechselnden mond" sowie
den ausdruck laune (mhd. lüne von lat. luna).
3) Vgl. zunächst Grimm, Myth.* uachtr. zu s. 682.
4) Im allgemeinen ist freilich zu bemerken, dass schon der gedanke an die
wolgeordnete Symmetrie des Sternhimmels, mehr noch der an die einstige Zerstörung
desselben der ältesten mythenzeit nicht angehören wird (auch das buch Hieb wird
von Dillmann z. b. erst in die zeit zwischen Jesaja und Jeremja gesetzt, einl. s. XXVII);
während die § 8 besprochenen Verhältnisse in höchstes altertum hinaufreichen. — Dass
aber jede poetische Weitbetrachtung, die ihren blick auf das ganze richtet, die tix-
sterne als das festeste in der sichtbaren weit und ihren stürz als das einbrechen der
DER FENRISWOLF 341
lig aber bliebe es jedesfalls, wenn die nordische mythologie für einen
so grandiosen gedanken von je her nur die milde fassung von YqI. 57, 2
gekannt hätte, der ebenso gut das tägliche erbleichen der gestirne in
der morgendämmerung meinen könnte. Den kräftigeren und noch in
lebendigem bilde gehaltenen ausdruck für denselben gedanken glaube
ich in den mythen vom Fenriswolf und dem schiffe Naglfar nachgewie-
sen zu haben.
Exciirs I.
Die heimat der götter.
1. Die verschiedenen ansichten über den wohnsitz der götter zu
prüfen könnte den stoff einer umfangreichen abhandlung ausmachen;
bei der nordisch -deutschen mythologie zeigen sich besondere Schwie-
rigkeiten. Wenn J. Grimm, Myth."^ 682 fg. die verschiedenen angaben
der quellen mehr neben einander stellte, ohne die differenzen scharf zu
beleuchten, hat Simrock, D. myth.^s. 35 — 46 diese angaben zu einem
symmetrischen plane des Weltalls zu kombinieren gesucht, damit aber
mehr den aufgaben der konstruierenden als der kritischen periode ent-
sprochen. Da hier nicht alle einzelheiten geprüft werden können, will
ich nur folgendes betonen. Schon die neunzahl der weiten lässt sich
nur dann als arithmetische zahl behaupten, wenn Niflheim und Mflhel
scharf unterschieden werden, was bedenklich ist^ Weit gewagter ist
aber die gruppierung der 9 weiten in 3 über-, 3 unterirdische, 3 auf
der erde befindliche. Nur bei annähme dieser weltverteilung aber
besteht für Midgardr der anspruch „in der mitte aller neun weiten"
zu liegen (Simr. s. 40). Wenn der verdiente forscher seine ansieht
damit stützt: „wie schon der name sagt", so kann ich nicht beistim-
men. Das wort nüägarär erscheint in allen germanischen sprachen
vom gotischen an, hat überall aber nur die bedeutung „erdscheibe
weltauflösuDg betrachten muss, belegt z. b. auch Lenaii in seinem gedichte „Die
Zweifler". Hier heisst es: „Wenn ich dem ströme (der Vergänglichkeit) zu entfliehen
meine, aufblickend zu der sterne hellem scheine: ich habe mich getäuscht! Ich seh
erbleichen die sterne selbst Einst wird vom raschen flug ihr strahlend beer,
ein müdes schwalbeuvolk , heruntersinken. Dann brütet auf dem ocean die nacht,
dann ist des todes grosses werk vollbracht" usw.
1) Schon Untersuch, s. 38 anm. 44 und deutlicher im Gloss. s. Niflhel habe ich
diesen Standpunkt eingenommen; ausführlicher handelte darüber Mogk in Pauls Bei-
trägen 6, 521 fg. Christliche einflüsse vermutet hier E. H. Meyer, Germ, mj-th. 173,
vgl. das. auch 188.
342 WILKEN
inmitten des umzäunenden oceans" (Schade, Altd. wb. s. mittigart)i.
Einen andern sinn ergibt auch das von Simrock citierte quellenmate-
rial, namentlich Gylf. 8 nicht; was den an und für sich etwas zwei-
deutigen ausdruek i miäjum heimi Grylf. 9 betrifft 2, so zeigt sowol der
Zusammenhang wie vergleich von Formäli c. 3 und 4, dass unter
heim?' hier miägaräi' zu verstehen^, äsgarär somit auf der erde zu
suchen ist. Im hinblick auf diese und andere stellen bin ich der Vor-
liebe einiger forscher, die götter nur als „himmlische" wesen gelten
zu lassen, in meinen Untersuch, zur Snorra-Edda s. 78, 84, 87, 131
anm. 274 bestimmt entgegengetreten. Jetzt bin ich geneigt in einigen
dieser stellen, namentlich in den angaben der pros. Edda über äsgarär
(c. 9 = 13, 6, 9; c. 14 = 17, 17; c. 15 = 21, 5, 6) als einen irdi-
schen Wohnsitz, von dem aus die äsen sich zu ihrer himmlischen ge-
richtsstätte (am Urdarbrunnr) begeben, doch einen stärkeren einfluss
des im Formali besonders klar ausgesprochenen Standpunktes der pros.
Edda anzuerkennen, als ich dies Untersuch. 131 anm. 274 für zulässig
hielt ^. Jetzt kann ich meine ansieht hierüber in folgende vier sätze
zusammenfassen:
2. a) der ältesten mythischen zeit war allerdings jede scharfe
grenzlinie fremd, namentlich zwischen land- und luftwesen, vgl. W.
Schwartz, Ursprung s. 12: „es verschmolz himmel und erde für sie
(die menschen dieser zeit) in einander" und Henne (Deutsche volkssage
s. 5) von den elementargeistern: „eigentliche luft- oder feuerwesen,
welche von den erdwesen zu trennen wären, kennt die deutsche volks-
sage nicht". Aber auch über die Vorgänge am gestirnten himmel be-
merkt derselbe s. 8: „sie alle giengen zwischen himmel und erde vor".
Daraus erläutert Henne, dass neben himmlischen (meist männlichen)
1) Mogk (Griindriss der germ. phil. I, 1114) Avill zwar den ausdruek davon her-
leiten, dass die erde sich in der mitte zwischen himmel und Unterwelt befinde, doch
stimmt seine auffassung sonst mehr zu der meinigen als zu der Simrocks.
2) Auch Grimms Übersetzung „im mittelpunkte der weit'' (Mji:h.'* 682) hebt
die Unklarheit nicht; nach dem folgenden zu schliessen scheint Grimm an ein himm-
lisches ÄsgarSr und ValhcjH zu denken.
3) In den (auch von der hs. U dargebotenen) ersten capp. des Formäli wird
heimr sowol wie verqld nur von der erde gebraucht; dem anfang von Form. c. 4 ent-
spricht Gylf. 9 (= 13, 5 — 7).
4) Nicht zu übersehen ist freilich, dass auch Vol. 7, 8, sowie 60, 61 das
treiben der götter in IdavQlIr in etwas irdischem lichte erscheint, doch bedürfen diese
Strophen einer besonderen, eingehenden Untersuchung. Die Schwierigkeit dieser fra-
gen erhellt auch aus Mogks äusserung (Grundriss der germ. phil. I, 1114): „wohin
man Asgardr versetzte, darüber geben uns die quellen keinen aufschluss."
DER FEXRISWOLF 343
bald auch irdische (meist weibliche) gottheiteni hervortraten. Wenn
dieser satz auch keineswegs so schroff zu verstehen ist, als ob es nicht
auch weibliche luftgottheiten gäbe, so lässt doch auch er eine gewisse
präponderanz der himmlischen götter schon in den noch fliessenden
grenzen der ältesten zeit ganz gut erkennen. Dieses Verhältnis stellt sich
b) in der historischen zeit zunächst noch klarer heraus, indem
hier die götter oft geradezu „himmlische" 2, der hauptgott namentlich
als himmelsgott gefasst wird. Eine erinnerung an die frühere freiheit
blieb darin bewahrt, dass es auch erd-, wasser-, unter weltsgötter gab,
dass der wohnsitz der himmlischen oft nur in der nähe des himmels,
auf höheren bergen gedacht wurde; vgl. cap. Y, § 3. Dieser Stand-
punkt ist ims aus Homer geläufig; im ganzen ist es auch der der Lie-
der-Edda. Bisweilen freihch werden, wie im lat. nur superi und
inferi, so nur die himmlisch -irdische asenwelt von dem reiche der Hei
unterschieden, so namentlich YqI. 43 ^ Hier gehört gewissermassen
alles, was von der sonne beschienen wird, zum göttergebiet. Umge-
kehrt kann auch die den göttern ähnliche macht der riesen bisweilen
eine annäherung des göttergebietes an das der riesen erläutern^, was
als äusserste consequenz eine Verlegung von Valh^ll in die unterweit
nach sich ziehen könnte, die aber nur für sehr späte zeit (d. h. für die
per. c.) zuzugeben ist^. — Dieser im ganzen geordnete und übersicht-
liche zustand erfährt
1) Dieser ausdruck soll liier die niederen gottheiten mit einschliessen, weil
der ältesten zeit mehr eine dämonen-, als wii-kliche götterverehrung zukam, vgl.
cap. I, § 6.
2) Vgl. Oldenberg, Ved. myth. 104, 176, 347. — Wie namentlich die giiech.
mythologie klar erkennen lässt, sind die götter nicht die von jeher ausschliesslich
„himmlischen" gewesen, vielmehr haben die Titanen (dämonen) einen mindestens
eben so alten anspruch darauf und werden auch bei Homer noch OvQaviwveg genannt,
z. b. E898; vgl. Autenrieth, Wb. zu den hom. ged. und die dort citierten belege.
Im unterschiede von ihnen aber sind es die götter, die den himmel (de facto) in spä-
terer zeit innehaben (f;^ ouctv) ; wie die Titanen in die tiefe wandern mussten, so im
norden Hei und der wol aus einem älteren gewitterstrom abgeleitete Midgardsormi-,
vgl. s. 186, anm. 2.
3) Mit Schullerus (vgl. s. 330, anm. 2) stimme ich darin überein, dass diese
Strophe für sich betrachtet werden muss und wol nicht 42 als ursprünglich vorher-
gehend voraussetzt.
4) Neben Vaf{)r. 15 und 16 (vgl. dazu Untersuch, s. 78 anm. 43) kommt
namenthch Grm. 11 in betracht, wo f'rymheimr unter den götterwohnsitzen wol des-
halb erscheint, weil f'iyms tochter Skadi imter die götter aufgenommen war.
5) Wenn Mogk (Grundriss I, 1116) sogar die ValhoU der Grm. (namentlich
wol wegen str. 21 und 22) in die unterweit versetzen möchte, so kann ich dem nicht
zustimmen; für die ?eit Saxos sind solche Vermischungen möglich, vgl. folg. anm.
344 WILKEN
c) in der euhemeristischen periode des nordens eine nicht
unwesentliche Verschiebung. Zunächst der gedanke, die götter des nor-
dens mit denen des klassischen altertumes als gleichartig zusammenzu-
fassen und ihrer historischen bedeutung irgendwie gerecht zu werden,
dann der wünsch sie dem einen christlichen gotte, der nun selbst
zunächst als himmelsgott aufgefasst wurde, bestimmt unterzuordnen
liess die irdische seite und irdische Wohnsitze der götter wider bevor-
zugen i. "Wenn einst die götter der Griechen im Olymp nur wenig
über der erde, so sollten diese äsen ursprünglich im mittelpunkt der
erdoberfläche, der auch als geistiges centrum gedacht wurde, ihr wesen
getrieben und von dort nach norden gewandert sein 2. Wie aber diese
quasi -historische auffassung sich nur zufällig hier und da mit histo-
rischen Wahrheiten deckt, so ist auch der versuch, der in Gylf. ge-
macht ist, zwischen irdischem wohnsitz und himmlischem Wirkungskreis
der hauptgötter zu unterscheiden ^ keinesweges mit konsequenz durch-
geführt, vielmehr verwickelt sich der Verfasser oft in Widersprüche*,
nicht selten drückt er sich zweideutig aus 5. — Wir sind daher genö-
tigt, wo uns derartige berichte vorliegen, gewissermassen die darunter
1) Sie sollten jetzt etwa als heroen ersclieiuen. Die noch stärkere herab-
drückimg der götter, wie sie schon hei Saxp, mehr noch in den deutschen und ags.
quellen zu erkennen ist, wird für die forschung weniger leicht irreführend als der
gemilderte euhemerismus eines Snorri (in Ynglingasaga) und des verf. von Gylfag. —
Vgl. über die herabrückung des himmlischen Schauplatzes auf die erde auch Meyer,
Germ. myth. s. 93.
2) Das centrum hebt namentlich Forniiili zu Gylf. 3 und 4 (sowie Gylf. 9) her-
vor. Snorri lässt die äsen wenigstens auch aus Asien kommen (Ynglings. 2).
3) Diese art der Scheidung ist wenigstens eher mit den quellen in einklang zu
bringen als die an und für sich auch mögliche umgekehrte, welche Simrock bevor-
zugt: Asgard liegt ihm über der weit und die äsen reiten hinab zur gerichtsstätte.
Aber sollte auch Grm. 31 an und für sich recht haben, hier kommt es wesentlich
auf die darstellung von Gylf. an, die für diese periode unsere hauptquelle ist und
c. 15 (= 21, 5, 6) heisst es ganz deutlich: hvcrn dag riäa cesir panc/at iipp um
Bifrqst briina, d. h. sie reiten von ihrem (irdischen) Wohnsitze hinauf zu der ge-
richtsstätte am Urdarbrunnr.
4) Auch Gylf. kennt götterwohnungen am himmel, so in c. 17 und 22, wol
auch 27 imd 32; von stärkerem gewicht ist, dass Odins hochsitz Hlidskjälf nach
c. 9 in dem irdischen ÄsgarSr, nach c. 17 in dem himmlischen Valaskjalf zu suchen
ist. — Während sonst der Wirkungskreis ein himmlischer ist (namentlich cap. 15),
scheint nach c. 14 auch an ein gerichtshalten unter den menschen zu denken zu sein
(dcBma med ser orlqg manna 17, 18).
5) Über die läge von Valhgll drückt sich der Verfasser c. 2 so aus : G. sä par
hdva hqll, svd at varla mätti sjd yfir hana. Ähnlich vorsichtig heisst es cap. 9
von Asgardr : paäan af gerdtiz mqrg tiäindi ok greinir, bceäi ä jqrä ok i lopti.
DER FENRISWOLF 345
liegende ältere auffassung (= b) durch kombination wider zu gewinnen,
welchen Standpunkt ich mit
d) als den kritischen bezeichne. — Von diesem aus werden
wir überall, wo an textkritisch unverdächtigen stellen mit besonde-
rem nachdruck von dem wohnsitz oder der heimat der götter die rede
ist, nicht an einen wohnsitz im unterschiede vom wirkungsgebiet , son-
dern an den himmlischen wohn- und wirkungsraum der götter im
unterschied von den anders belegenen gebieten der riesen, zwerge und
menschen zu denken haben. So wird das ragjia sjqt (sedes deorum)
YqI. 41, 2 von den erklärern (auch von Müllenhotf, D. alt. V, 126) auf
den himmel gedeutet und dass ich nicht irrte in Gylf. 34 das fveddu
cesir heima = domi nutriebant asae auf den himmel zu beziehen,
lässt sich schliesslich auch dadurch erhärten, dass gerade diesem wohn-
sitz besondere heiligkeit und unverletzlichkeit zugeschrieben wird (c. 34
schluss = 42, 9 — 12), ganz ebenso wie der himmlischen gerichtsstätte
am Urdarbrunnr (c. 15 = 20, 4, 5). Auch wurde schon c. Y, § 3
daran erinnert, dass in der Schilderung des todes des lichtgottes ßaldr,
wo wider an einen Vorgang in der Sphäre des himmels zu denken
ist, ein ähnlicher hinweis auf die heiligkeit des ortes sich findet (Gylf.
49 = 74, 22 — 23), während an anderem orte derselbe Loki, der
zuerst geschont werden musste, nun ohne weiteres gefangen werden
konnte (Gi-ylf. 50 = 80, 6)^ — So stimmt hier alles zu der cap. V,
§ 3 gegebenen erklärung.
Exciirs II.
Die einzelheiten des berichtes von der fesselung des wolfes.
1. Bei demjenigen teile der fesselung, welcher auf das verpfänden
der band seitens des gottes T;fr folgt, ist zunächst eine etwas verschie-
dene anordnung der erzählung in U zu bemerken, welche ich der in
W R in meiner ausgäbe der pros. Edda 41, 9 fg. vorgezogen habe,
da die wovte: ^a er cesirnir sä, at ulfrinn var hundimi med fullu
da auffällig stehen, wo unmittelbar darauf eine Aveitere Versicherung
der fessel noch folgt. — Dazu kommt, dass bei den früheren versuchen
der fesselung gemäss der angäbe 39, 11 der wolf erst dann scheint
1) Dass der unterschied im lokal das entscheidende ist, geht daraus hervor,
dass die c. 49 zu gunsten Baldrs geschworenen eide (73, 10) natürhch am wenigsten
seinem mörder hätten frommen können; dieser musste durch den ort selbst ge-
schützt sein.
346 WILKEN
die fessel gesprengt zu haben, als die äsen erklärt hatten, dass sie
ihrerseits fertig seien. So muss man erwarten, dass der wolf auch in
diesem falle erst das „fertig!" der götter abwartete, bevor er sich gegen
den boden stemmend seine kraft an der fessel erprobte: dieser forde-
rung enspricht der U-text gleichfalls eher.
2. Eine noch weitere annäherung an die art, wie Lokis fesse-
lung gedacht wurde (vgl. cap. Y, § 6) zeigen die kurzen berichte
in den handschriften A und M (Kph. II, 431 und 515). Während man
nach U W R sich den wolf auf einer insel gebunden und nur die
fessel in die erde gegraben zu denken hat, ist nach M und A von
einem hügel {höll = hväll) auf der insel die rede, in welchem sich
der pflock fviti befindet, was so gemeint zu sein scheint, als ob der
wolf selbst in dem hügel gefesselt gedacht werde; die knappe fassung
dieser texte erlaubt freilich kein ganz sicheres urteil. Es erübrigt end-
lich eine kurze betrachtung der einzelnen nameu, die bei der fesselung
uns genannt werden. Sie mögen hier in alphabetischer folge aufgeführt
w^erden.
1. Anisvartni?' (Aiirsvatiner H nach Kph.) zu svartr gehörig, der
fluss in welchem Fenrir gefesselt liegt.
Dromi, ein auch sonst im an. nicht unbekanntes wort, nach Yigf.
= engl, thrums, name der zweiten fessel.
Gehjja ist nach UWR name eines an die fessel Gleipnir geknüpf-
ten Strickes, nach AM (Kph. II, 431) die eines riegeis oder pflockes.
Zu der ersten bedeutung passt besser die kenning: gelgju (= funis =
haugs oder hrmgs) gälgi = brachium (insofern der ring am arme hängt).
Nach Egilsson Lex. poet. s. v.
Qinul heisst in M das loch, das in den pflock fviti gebohrt ist
(wol zu gin, gina).
Ojqll, name des felsens, durch den der strick Gelgja nach UWR
gezogen wird, wol zu gjalla, vgl. auch GjaUar-brü, -hont (Yigf).
Gjqlnar heissen die barthaare des wolfes {granar) in A und M;
Yigf vgl. engl, gills = kiemen.
Oleipni?; name der dritten fessel. Die erklärung ist zweifelhaft;
an glegpa erinnert Egilsson anlässlich des kompos. harägleipnir in einer
Strophe der I'örsdräpa des Eilifr (Kph. I, 296 = III, 33). Die bedeu-
tung „wolf" beansprucht er jedoch nur für die betreffende stelle. Yigf.
erklärt the lissom (= der glatte). Ygl. noch norw. glipa = offen stehen,
klaffen; dän. glippe = gleiten, ausgleiten; glippc = blinken, blinzeln
(Kaper).
DER FENRISWOLF 347
Onjqll steht in A wol minder richtig für Ginul.
Hrceäa heisst in A und M der strick, welcher in UWß den
namen Gelgja führt. "Wol = krcexla.
Lymjvi wird die insel genannt, auf der Fenrir gefesselt liegt.
Ob verwandt mit lijng == heidekraut? So N.M.Petersen, Nord. myth.
s. 365. — Wol zufällig ist die ähnlichkeit, dass in morgenl. sprachen
die milchstrasse als via straminis oder paleae bezeichnet wird (Grimm,
Myth.^ 296 anm.) vgl. w. u. § 4 gegen ende.
Lce(tingr {Leud- R), name der ersten fessel. Nach Mob. Anal.
Norr.2 VIII zu laiut f. = draht.
Siglitnir, name des hügels auf der insel Lyngvi nach A und M,
= semper (sive ubique) coruscans aut resplendens (= Olitiiir mit dem
verstärkenden ai-)^ Finn Magnussen, Lex. mythol. 68.
Van (var. Vam U, Van H, Von S nach Kph. I, 112). Die
Schreibung Van ist zwar durch das Wortspiel mit van = spes in der
str. Kph. II, 630 anscheinend als die richtige erwiesen; ist aber die
skaldische auffassung gegen Irrtum gefeit? Jedenfalls müsste dies van
seit der dämonischen auffassung des wolfes im sinne von „despair,
agong" (Vigf. s. v. van III) genommen werden; die varr. lassen allen-
falls auch an vamm = vqmm oder mit Grundtvig (Petersen, Nord.
myth. 365) an ags. wan, %von = schwarz denken. Kann ein schaum-
fluss jedoch „schwarzfluss" heissen?
Vil, name des in A und M hinzugesetzten zweiten flusses; be-
kannt im an. und ags. (misery Vigf).
pvüi (var. potti M) wird in A und M einfach als hall (pfähl,
pflock), in den andern hss. als stein bezeichnet, der als festarluBÜ
(haltpflock) für den strick Gelgja dient. Zu dieser letzten auffassung
stimmt der sonstige gebrauch des wertes = stein (Vigf s. v., Egilssou,
Lex. poet. s. v.).
4. Sind einige der augeführten werte auch nicht ohne lexikalisches
Interesse, so weisen doch schon die vielen varr. der Überlieferung auf
eine nicht ganz gesicherte tradition mit jüngeren Zusätzen hin^. War
1) Wenn es schwer oder unniöglicli ist, den ältesten kern der fesselungsbericlite
scharf herauszuschälen, so ist mit einiger Sicherheit doch nach ahzug der evident
jüngsten zutaten ein mittlerer stand der Überlieferung in den drei fesselnamen Lce-
äingr, Drömi, Gleipnir^ in den angaben über die Stoffe zu der letzten (vgl. Kph.
II, 432; Bugge, N. F. s. 335; meine Unters, zur Sn. Edda s. 114); in der angäbe,
dass Fenrir auf einer insel gefesselt liege, ein schwort seinen rächen sperre, ein
schaumfluss dem maule entrinne, zu erkennen. — Der rest ergibt sich teils als blosse
Vervielfältigung des älteren bestandes (so Vil neben Viiti; die fessel öc%'a neben den
348 WILKEN, DER FENRISWOLF
schon in den einfacheren berichten der sinn des mythns verdunkelt,
so wird die skaldische tradition nur durch glücklichen zufall hier und
da richtiges bewahrt haben. Aber von irgend einer einzelnen angäbe,
z. b. von dem namen Lyngvi aus eine erklärung des mythus zu ver-
suclien (N. M. Petersen a. a. o.) kann unmöglich zu gesicherten ergeb-
nissen führen; man erinnere sich hier nur an den namen Lyjigvi als
heldenname. Sollte man versuchen mit hinweis auf Amsvartnir. viel-
leicht auch Ff«^ einen dämon der finsternis in Fenrir nachzuweisen, so
würde der hügel Stglitnir diese finsternis jedesfalls auf die sternerhellte
nacht reducieren. Wollte man den wasserdämon mit einem hinweis
auf den fluss, in dem Fenrir gefangen liegt, zu retten suchen, so darf
nicht übersehen werden, dass die skaldische Überlieferung weit mehr
gewicht auf die aus dem maule des wolfes fliessenden ströme legt: dr
II falla or munid honinn — ok er pvi rett at Jcalla votn hräka hans
(Kph. II, 431). Diese schaumflüsse sind von meinem Standpunkte aus
ohne Schwierigkeit zu deuten i. — Sollte man endlich einwenden, dass
das von den skalden vorausgesetzte lokal jedesfalls nicht als himm-
lisches sich darstelle, so ist vielmehr zu betonen, dass die fesselung
auf einer flussinsel (wobei nach der jüngeren auffassung die wasserarme
in ähnlicher weise natüi'liche schranken bilden sollten wie bei dem Zwei-
kampfe, der hölmganga) zunächst wol verbietet an einen aufeuthalt sei
er unter der erde oder in der wassertiefe zu denken; die erdober-
fläche aber gibt so viele berührungen mit der wölken- und luftregion,
und so gemisseruiassen auch mit der himmlischen heimat der götter,
dass hier die grenze von jeher eine schwankende war-. Allesfalls
könnte man sogar versucht sein bei bei der insel, auf der Fenrir gefes-
selt lag, an einen jener inselartigen himmelsräume zu denken, die von
den armen der milchstrasse umflossen sind. z. b. an die insel zwischen
der Cassiopeja und dem schwank; doch genügt mir der nachweis, dass
irgendwie triftige gründe gegen meine erklärung des mythus auch aus
der skaldischen terminologie sich nicht ergeben.
drei früheren) , teils als eiawirkung des mythus von der fesselung Lokis , vgl. cap. V,
§6; ^11, §4).
1) Cap. VI, § 9 gegen ende.
2) Vgl. exeurs I, § 2.
3) Von andern möglichkeiten nur noch diese: wird das Ojallarliorn von Mann-
hardt (Götterwelt 259) richtig auf den donuer bezogen, so kann der felsen Gjqll
ursprünglich als dröhnender wolkenberg gemeint sein. Auch die Ojallarbrü sucht
derselbe forscher s. 320 am himmel.
ST.VDE, DECBR. 1894. E. WILKEN.
SPRENGER, ZU GOETHES FAUST 349
ZÜE EEKLÄKUNG VON GOETHES EAUST.
(Vgl. die früheren bemerkungen Ztschr. XXIII. 451 — 457. XXIV, 506—510.
XXVI, 141.)
I, 525 (878) Bürgermädchen. Sie liess mich zwar in Saiict Andreas
Nacht
Den künft'gen Liebsten leiblich sehen —
Die Andre. Mir zeigte sie ihn im Krystall.
Schröer erinnert an das geistersehen in der glaskugel im Gross-
kophta. Entgangen ist ihm die erzählung vom krystallschauen in den
Deutschen sagen der brüder Grimm bd. 1, nr. 119, wo der ganze Vor-
gang ausführlich geschildert ist. Es ist nicht unmöglich, dass Goethe
von dieser erzählung aus der quelle (Joh. Rüsts Zeitverkürzung) kennt-
nis gehabt hat. Vielleicht bezieht er sich aber auf die in Deutschland
noch weit verbreitete Verwendung des z au b er spiegeis, in dem der
Zauberer oder die zauberin dem fragenden mädchen den künftigen gat-
ten zeigt. Vgl. darüber, auch über die herstellung eines solchen zau-
berspiegels. Ad. Wuttke, Der deutsche volksaberglaube der gegenwart.
2. aufl. Berlin 1869 § 354. Da im Deutschen wörterbuche ein nach-
weis für krystall = Spiegel fehlt, so gebe ich einen solchen vom
jähre 1815. Er findet sich in Langbeins ballade „Die büsserin" (Neue
verbess. aufl. der neueren gedichte. Leipzig, Dyk; o. j. s. 210). Hier
wird erzählt, wie ein zauberer durch seine kunst auf bitten ihres ge-
mahls bewirkt, dass eine eitle frau statt ihres bildes das eines Scheu-
sals im Spiegel erschaut: „Doch als sie einen Monat lang Sich ehrlich
ohne Heuchelzwang, Als Biederweib gehalten. Verschwand der Dunst
Der schwarzen Kunst Und ihr geheimes Walten. Und wieder fand,
mit Jubelschall, Die Dam' in jeglichem Krystall Den Schatz, den sie
verloren."
1658 (2011) Der Geist der Medicin ist leicht zu fassen;
Ihr durchstudirt die gross' und kleine Welt
Um es am Ende gehn zu lassen
Wie's Gott gefällt.
Was unter der gross' und kleinen Welt zu verstehen sei, ist bei
Düntzer, v. Loeper und Schröer nicht erklärt. Wir haben hier offen-
bar eine Verdeutschung von Makrokosmus und Mikrokosmus (s. v. 65
fgg. und 1449). Zu vergleichen ist auch die im D. wb. VI, 196 ange-
führte stelle aus Hübners Handlungslexicon (v. j. 1722) 1111: „unser
ganzer leib, der mikrokosmus, oder kleine weit, ist, in ansehung des
macrocosmi, oder des grossen weltgebäudes, eine machina, wie die
neuen medici solchen vielfältig machinam corporis humani betitteln."
350 SPRENGER
Zur scene in Auerbachs keller 1720 (2073) fgg. ist zu bemerken,
dass Zeche nicht nur eine zechgesellschaft, sondern geradezu ein Wirts-
haus bezeichnen kann. Ygl. Langbeins Neuere gedichte s. 478:
Sieh, da brach ein Trupp Studenten
Wild ans einer Zech' hervor.
Bezüglich des namens Brander hat Härtung an brand = rausch
erinnert (s. Groethes Faust erl. v. H. Düntzer, Leipzig, Dyk'sche buchh.
1,857. S. 264). Nun ist zwar dieser ausdruck nicht nur in studentischen
kreisen, sondern auch in Baiern (s. Schmeller, B. W. I^, 360) und am
Ehein (s. Kehrein, Volkssprache und volkssitte im herzogtum Nassau
I, 91) allgemein bekannt; auch nennt man dort nach einer bemerkung
Riehls in „Land und leute" ernen vollendeten zecher einen tüchtigen
„brenner". Doch scheint mir der name, so ausgelegt, nicht charak-
teristisch genug. Andere erinnern an b randfuchs = student im
zweiten halbjahre (eigentlich: fuchs mit schwarzem bauche, schwarzer
schwanzspitze und schwarzen laufen); aber auch diese ableitung ist
wenig wahrscheinlich, denn Brander im Faust ist, wie auch Schröer
bemerkt, ein alter bursch, der den andern gegenüber eine gewisse
Überlegenheit zeigt. In Nassau (s. Kehrein a. a. o.) sagt man: Dat
ess^n kerl, ivie'ti brand, wofür man sonst die bezeichnung hat: „Das
ist ein kerl, wie ein bäum." Ein „brander" wäre danach ein dicker,
starker mensch. Ob die im D. wb. angeführte schweizerische bezeich-
nung brauder = böses weib hiermit zusammenhängt, oder ob sie, wie
Grimm annimmt, auf das „brandschiff" zurückgeht, vermag ich nicht
zu entscheiden.
3222 (3575) Das Kränzel reissen die Buben ihr.
Und Häckerling streuen wir vor die Thür.
Diese sitte erwähnt Gottfried Kinkel in seiner im oberen Ahrtale
spielenden novelle Margret (1847), abgedruckt im Deutschen novellen-
schatz, herausgegeben von Paul Heyse und Hermann Kurz 4, 233:
„So fügte sie sich dem unrecht, das stets den unglücklichen verfolgt;
aber mit blutsverwandten, die so unbrüderlich an ihr gehandelt hatten,
vermochte sie nicht mehr zu leben, und die Vorstellung war ihr
unerträglich, dass eine boshafte band vielleicht auf derselben
schwelle des Vaterhauses ihr häksei streuen könnte, wo einst
an jedem ersten maitag grünes mailaub für sie geprangt hatte." In
der von Schröer citierten stelle aus Schmeller II 2, 803 ist nur der
Strohkranz erwähnt, und der Strohmann, der „allzulustigen" dirnen
vor das fenster gestellt wird.
zu GOETHES FAUST 351
3437 Und unter deinem Herzen
Kegt sich 's nicht quillend schon,
Und ängstigt dich und sich
Mit ahnungsvoller Gegenwart?
Die verse lauteten in ursprünglicher gestalt nach der Göchhau-
senschen abschrift (herausg. von Erich Schmidt. 2. abdr. AVeimar 1888):
[V. 1324] Und unter deinem Herzen,
Schlägt da nicht quillend schon,
Brandschan de Maalgeburt!
Und ängstet dich und sich
Mit ahnde voller Gegenwart.
Yon den später getilgten werten brandschande und maalgeburt,
die, soviel ich weiss, bisher noch nicht erklärt sind, ist das erste
unzweifelhaft eine Zusammensetzung mit brand in der im Deutschen
wb. bd. II, 296 sp. 11 verzeichneten bedeutung: „brand, mola, unzei-
tig abgehende leibesfrucht . . . gleichsam verbrannte leibesfruclit oder
gestocktes schwarzes blut." Bei maal könnte man an mal in der
bedeutung: flecken, sündliche befleckung (vgl. Weigands Deutsch, wb.
II, 14) denken; wahrscheinlicher ist es jedoch, dass wir darin nichts
anderes als eine volksetymologische umdeutung des lat. mola zu erken-
nen haben; Dies wird in Plinius nat. bist. 7, 15, 13 folgen dermassen
erklärt: „Ea est caro informis, inanima, ferri ictum et aciem respuens:
et, ut partus, alias letalis, ahas una senescens, aliquando alvo citatiore
excedens. Simile quiddam et in viris in ventre gignitur, quod vocant
scirrhon." Auch ins englische ist das lat. 7nola in der form mole [„a
mass of fleshy matter generated in the uterus." Webster] eingedrun-
gen; ebenso findet sich mole in dieser bedeutung in jedem französi-
schen Wörterbuche.
II, 397 (5009) Der Bauer, der die Furche pflügt.
Hebt einen Goldtopf mit der Scholle,
Salpeter hofft er von der Leimenwand
Und findet golden -goldne Rolle,
Erschreckt, erfreut in kümmerlicher Hand.
Ztschr. XXIII, 401 habe ich schon bemerkt, dass kümmer-
lich hier in der bedeutung von „ärmlich" steht. Ich bemerke dazu
noch folgendes: Im mnd. ist kummer = not, mangel; diese bedeu-
tung ist auch in neueren mundarten (s. Woestes Westfälisches und
Stürenburgs Ostfriesisches wb.) noch lebendig. Überhaupt ist kummer
in seiner gemeinhochdeutschen bedeutung, wie Yilmar im Kurhessischen
352 SPRENGER
Idiotikon s. 231 bemerkt, in manchen gegenden bei dem volke durch-
aus nicht üblich und ihm nicht einmal verständlich. Auch in der Ver-
bindung „hunger und kummer leiden" sind hunger und kummer
ursprünglich Synonyma. Ebenso ist „Es geht ihm kümmerlich" = „er
leidet mangel und not". Goethe gebraucht hier also das adject. küm-
merlich in einer bedeutung, die das adv. noch allgemein hat. Im
übrigen bemerkt Schröer mit recht, dass nicht die band, sondern der
bauer kümmerlich ist; doch ist das wort nicht in dem im D. wb. 5,
2605 angegebenen sinne zu fassen, sondern durch „mangel leidend,
nothaft" widerzugeben. Die dichterische freiheit, die sich Goethe ge-
nommen, ist nicht grösser als wenn z. b. Er. Hebbel in „Mutter und
kind" 7. gesang (Werke, neueste ausg. bd. VIII, s. 261 z. 5 v. u.) vom
„dürftigen pfennig" spricht. — Es mag noch bemerkt werden, dass
Salpeter {sal petrae oder ])atrae) ein gepriesenes heilmittel der alten
zeit war.
3190 [7802] Das war ein Pfad, nun ist's ein Graus.
Zu meiner bemorkung Ztschr. XXVI, 141 trage ich jetzt eine
stelle aus Jeremias Gotthelf (Werke, Cottasche volksausg. bd. 3,
s. 122) nach, in welcher graus in völlig gleicher bedeutung erscheint,
wie in der dort angeführten aus Lichtwer. Es heisst hier in der
erzählung „Barthli, der Korber" nach einer durch ein gewitter ver-
anlassten Verwüstung: „Die ganze nacht stand der gestrige nach-
mittag vor seinen (des mädchens) äugen, als wie ein grosses beweg-
liches gemälde. Es dachte nicht, es schaute nur, fühlte die angst rie-
seln durch mark und bein; es Avar ihm das herz eingeklemmt, dass
es oft kaum athem hatte, und doch war ihm wol dabei, es war ihm,
als ob hinter dem graus die sonne stehe und bald schöner als nie
scheinen werde und die greuel verklären und alles vergehen ... Zu
greuel vgl. Faust II, 5458 (10,069): Steigst ab in solcher Gräuel
Mitten, Im grässlich gähnenden Gestein?
II, 5524 (10136) (Mephistopheles)
Ich suchte mir so eine Hauptstadt aus,
Im Kerne Bürgernahrungsgraus,
Krummenge Gässchen, spitze Giebeln,
Beschränkten Markt, Kohl, Eüben, Zwiebeln;
Fleischbänke, wo die Schmeissen hausen.
Die fetten Braten anzuschmausen ;
Da findest du zu jeder Zeit
Gewiss Gestank und Thätigkeit.
ZO GOfiTHES FAÜSt 353
Im ersten buche von Dichtung und Wahrheit (Hempels ausg. s. 14)
berichtet Goethe: „Man verlor sich in die alte Gewerbstadt, und beson-
ders Markttages gern in dem Gewühl, das sich um die Bartholomäus-
kirche herum versammelte. Hier hatte sich von den frühsten Zeiten
an die Menge der Yerkäufer und Krämer über einander gedrängt, und
wegen einer solchen Besitznahme konnte nicht leicht in den neuern
Zeiten eine geräumige und heitere Anstalt Platz finden. Die Buden
des sogenannten Pfarreisen waren uns Kindern sehr bedeutend, und
wir trugen manchen Batzen hin, um uns farbige, mit goldenen Thie-
ren bedruckte Bogen anzuschaffen. Nur selten aber mochte man sich
über den beschränkten, vollgepfropften und unreinlichen Markt-
platz hindrängen. So erinnere ich mich auch, dass ich immer mit
Entsetzen vor den daranstossenden, engen und hässlichen
Fleischbänken geflohen bin." Die vergleichung beider stellen
ergibt deutlich, dass Goethe bei der abfassung obiger verse des Faust
Frankfurter Jugenderinnerungen vorschwebten. Zugleich bietet die an-
geführte stelle von „Dichtung und Wahrheit" einen weiteren beweis
dafür, dass Bürgernahrungsgraus nicht mit Schröer als ein „Stein-
haufen, in dem sich der bürger nährt" zu fassen ist. Der eigentüm-
liche ausdruck soll vielmehr bezeichnen, dass die in den folgenden ver-
sen aufgezählten gegenstände der bürgerlichen nahrung (d. h. hier in
dem sinne, wie er in Luthers Kleinem katechismus erscheint, alle zur
erwerbung desselben dienende hantierung) Mephistopheles absehen erre-
gen, wie einst den jungen Goethe in Frankfurt das entsetzen vor den
hässlichen fleischbänken in die flucht trieb.
Interessant ist es zu sehen, wie einer unserer neusten Schrift-
steller, Alfred Friedmann, in seiner novelle „Die erzählung des Hen-
kers von Bologna" (Reclams Universal -bibliothek 2871, 72 s. 83) Goe-
thes verse in prosa aufgelöst bei einer Schilderung des alten Bologna
verwandt hat: „Andrea strich durch krum-enge gässchen, an spitz-
giebligen bauschen vorbei; auf einem beschränkten markte bot man
den mit körben dahinhuschenden mägden kohl, rüben, zwiebeln, citro-
nen, orangen, getrocknete trauben an. Über den fleischbänken schwärm-
ten die schmeissfliegen als erste festgenossen zu den fetten braten, und
es fehlte nicht an lärm und geschrei, üblem geruch und allerhand
eilender tätigkeit."
6604 (11216) Die bunten Vögel kommen morgen,
Für die werd' ich zum Besten sorgen.
Es scheint mir natürlicher unter den bnnten vögeln mit Düntzer das
tolle, ausgelassene matrosenvolk zu verstehen, als die buntbewimpelten
ZEITSCHRIFT F. DEUTSCHE THILOLOGIE. BD. XXVIII. 23
354 DüNTZER
schiffe. Auch Schröer erinnert daran, dass Goethe mit dem ausdruck
Vögel eine volksmasse zu bezeichnen pflegt. Sollte dem dichter viel-
leicht die volksetymologische form vagelbunte für vagabund vorge-
schwebt haben? Ähnliches, wie die anlehnung an die alte sprichwört-
liche redensart „stank für dank" v. 6576 (11188) fgg. [vgl. ßedentiner
spiel V. 1389, 1429], macht dies nicht unwahrscheinlich.
NORTHEIM. E. SPRENGER.
LITTEEATUR
Goethe's werke. Herausgegeben im auftrage der grossherzogin Sophie von Sach-
sen. I. band 13, 1. 16, 17 und 24; IIL band 6. IV. band 15, 16. Weimar,
Hermann Böhlau. 1894.
Yon den vier bänden der eigentlichen werke habeii wir nur zwei näher zu
besprechen, da von dem dreizehnten noch die zweite abteiluug aussteht, die ausser
der ungedruckten bearbeitung von Kotzebue's „Schutzgeisl" „Paralipomena" und die
lesaiien zu den stücken der ersten abteiluug bringen wird, der vierundzwanzigste
bloss die beiden ersten bücher von „Wilhelm Meisters wanderjahren " ohne die les-
arten gibt. Der sechszehnte entspricht wesentlich dem dreizehnten der ausgäbe letz-
ter band; hinzugetreten sind aus dem vierten bände der grosse maskenzug vom
deceraber 1818 und aus dem gedruckten nachlass das „Requiem des frohsten mannes
des Jahrhunderts" ; zum ersten male erscheinen hier „Schillers totenfeier" von 1805
(mit einem facsimile der haudschrift) und zweinndzwanzig verse einer „Kantate zum
reformationsfeste'' (1817), deren entwürfe schon aus dem briefwechsel mit Zelter
bekannt waren. Die herausgäbe war unter bewährte Ooethekenner verteilt worden,
die den ganzen reichen schätz handschriftlicher überlieferang und der massgebenden
drucke, freilich nicht nach durchaus übereinstimmenden ansichten, verwertet haben,
wodurch für die kritik dieser mannigfaltigen dichtungen ein sicherer boden gewon-
nen ist.
Den anfaug bildet das „Neueröffnete moralisch -politische Puppenspiel", unter
welchem Schilde im jähre 1774 der „Prolog", das „Jahrmarktsfest" und „Pater Brey"
erschienen waren ; hier tritt zwischen die beiden letzten stücke etwas auffallend „Das
neueste von Plundersweilern'" von (1781); jedes der vier stücke mit ausnähme des
„Prologs" hat ein besonderes titelblatt; ja das Inhaltsverzeichnis hat auch „Das
neueste" unter das „Puppenspiel" gestellt, „Pater Brey" davon ausgeschlossen. Wir
bezweifeln die behauptung (s. 397), die behandlung des textes des „Jahrmarktsfestes"
sei nach Goethe's tode ohne dessen genehmigung erfolgt, vielmehr dürfte dieser dem
verschlag Riemers zugestimmt haben, da bestimmungen über änderungen in einer spä-
teren ausgäbe seiner werke getroffen worden, wie wir es von der ,, Italienischen reise"
und den „Wanderjahren" wissen, es von dem titel „Dichtung und Wahrheit" mehr
als wahrscheinlich ist, und so auch von den anstössigen stellen im „Jahrmarktsfest".
Die neue vergleichung der eigenhändigen handschrift des „Prologs" hat abweich ungen
von der Maltzahnschen an drei stellen ergeben, wobei es auffällt, dass vers 16 auch
hier, wie in den drucken, ,,Will" statt „Mitt" steht, so dass man ,,Will" statt des
gangbaren „Mittel" oder „Mitte" für beabsichtigt halten muss. Die Vermutung H 3
ijBER GOETHES WERKE (-WElM. AUSG.) 355
stamme aus der im jähre 1782 der herzogia-mutter gescheukton handschriftlichen
Sammlung seiner „Ungedruckteu Schriften" scheint uns dadurch widerlegt, dass Goethe
diese 1786 an Herder gab, um sie für den druck durchzugehen; ist doch kaum anzu-
nehmen, Goethe habe sich sein geschenk zu diesem zwecke zurückgeben lassen, um
es als sein eigentum zu benutzen. Freilich stammt die in schrift und papier ganz
ähnliche handschrift der „Lila" und der „Vögel" sowie die der „Briefe aus der
Schweiz" aus jenem geschenk, aber diese tragen auch die aufschriften „Goethe's
ungedruckte Schriften I. heft, IL heft" und auf dem deckel das wappen der herzogin-
mutter und sind nicht von Herder durchcorrigiei-t. Ebensowenig war die hand-
schrift des singstücks „Jery und Bätely" trotz der gleichheit von schrift und papier
in dem besitze von Anna Amalia; sie ist nicht als heft von Goethe's „Ungedruckten
Schriften" bezeichnet, trägt auch nicht das wappen der herzogin, und Goethe hat
sie mit nach Italien genommen, um sie zum drucke durchzusehen. Auf die selt-
same annähme, Goethe habe sich die einst der herzogin - mutter geschenkten hand-
schriften zur durchsieht für den druck geben lassen, und sie nicht zurückerstattet,
würde man nicht geraten sein, hätte man sich erinnert, dass Goethe schon 1781, ehe
er kostbar gebundene hefte zu ihrem geburtstag dieser verehrte, ohne zweifei gleich
geschriebene abschritten auf gleichem papier als Weihnachtsgeschenk der frau v. Stein
gegeben, die er dann binden lassen wollte. Vgl. meine „Charlotte von Stein" I, 165 fgg.
Von ihr sich die abschriften der stücke zu erbitten, die er unter seinen papieren
nicht fand, lag sehr nahe. Wir wissen, dass er sich von ihr die abschritt seiner
„Iphigenie" geben liess, um sie Wieland zur durchsieht mitzuteilen. Die vorhan-
denen abschliffen, die sich aus dem geschenke an die herzogin - mutter im Goethe -
archiv fanden, erhielt Goethe wol erst nach ihrem tode zurück.
Zum „Jahrmarktsfest" hatte Goethe Herders änderungen, besonders seine
Satzzeichnung, benutzt; diese nahm er nicht alle auf, aber zuweilen eine ungehörige.
S. 4 hatte Herder das rheinische „cujonirt" (von cujon, schelm, das sich in „Pater
Brey" 286 findet) nicht verstanden, und deshalb durch ein NB. beanstandet. Goethe
setzte dafür ohne not ,,schikauirt". Dass 494 das von Herder angenommene „half"
schlechter sei als Goethes „hülf", hat der herausgeber bemerkt. Mit recht hat dieser
auch 184 manch' statt des 1789 aus versehen hereingekommenen die hergestellt.
Verfehlt aber ist seine Vermutung zu 179, „panton" sei abkürzung von „pantomime";
es war wol eine gangbare bezeichnung des zigeuuerburschen , die Goethe sich gemerkt
hatte. Dagegen scheint das zuerst nach 403 vorkommende „Marcia" zur bezeichnung
des marktschreiers wol ein im freundeskreise beliebter scherzhafter ausdruck. In den
auftritten zwischen Ahasverus und Haman, worin zwei lücken nach Salzmanns exem-
plar ausgefüllt sind (s. 401 fg.), war 27 „tapfer" eine verfehlte Vermutung Mommsens
für „tapfern", die nur statthaft wäre, stände vorher sie statt wir. „Tapfer" war
gangbares beiwort der kinder im sinne von „stark".
Beim „Neuesten von Pluudersweilern " werden aus dem Wiener druck von
1817, der gewöhnlich für einen nachdruck der gleichzeitigen Cotta'schen ausgäbe gilt,
die merkwürdigen abweichungen von dieser angeführt, weil sie mit den handschrif-
ten übereinstimmen. Gleichzeitig hat Seuffeit im „Goethe -Jahrbuch" XV, 157 — 170
Untersuchungen über diese Wiener ausgäbe in bezug auf die erzählung „Die guten
weiber" angestellt, woraus sich ergibt, dass bei ihr eine andere vorläge benutzt wor-
den sein müsse. Goethe hatte wirklich von den in der früheren Cotta'schen ausgäbe
noch nicht gedruckten dichtungen abschriften nach Wien geschickt, worin man aus
der handschrift mehrere stellen aufgenommen hatte , welche in der früher nach Stutt-
23*
356 DÜNTZKR
gart geschickten dnickvoiiage verändert waren. Später Hess er einen abdruck des
„Divaa" mit verbesserang der druckfehler nacli "Wien abgehen. Die abweichuugen
in B 1 haben demnach nur geschichtlichen wert gegenüber den für die Cotta'sche
ausgäbe festgesetzten lesarteu. S. 408 fg. finden wir eine einleitung, welche Goethe
zu dem „Neuesten" am 6. december (dem Nikolaitage) 1827 für Tiefurt geschrie-
ben, wo das betreffende bild sich findet. Die bescherung am Nikolaitage, an deren
stelle erst seit der reformation die zu Weihnachten trat, hatte sich auch an manchen
deutschen orten, wie zu Gotha, erhalten, in "Weimar war sie vielleicht durch die
russische grossfürstin, die gemahlin des erbprinzen, eingeführt worden, da sie in
ihrer heimat allgemein am tage des hauptheiligen stattfand. — Zu 276: „Und bringt
den Alten fast den tod", fragt der herausgeber: „nämlich ^'urstel uud dem Mann
in reifrock ?" Aber "Wurstel, der den alten immerfort neckt, kann nicht auch sich
selbst „den tod drohen", wie es die folgende rotte tut. Demnach könnte man mit
Scholl dem Alten fordern, aber die alten sind die, welche in dieser bude noch
immer spielen, die Vertreter der klassischen französischen tragödie. Vgl. 266 „vor
alters".
In den beiden aus den neunziger jähren stammenden parabeln und der
legende von 1797 habe ich, um einen fuss mit drei Senkungen zu vermeiden,
„'nen" statt „einen", „fröhl'che" statt , fröhliche", „'ne" statt „eine" gesetzt. Der
herausgeber lässt die überlästigen silben stehen, meint aber: „eher ein'n oder
ein''', wonach er denn auch an der dritten stelle „eher noch ein" möchte. Der
einzige grand dieses „ehei'" bildet die Verweisung auf die anmerkungen zu fünf ver-
sen des 1776 gedichteten „Hans Sachs". Diese anmerkungen aber enthalten nur
die angäbe der lesarten, wonach 31 .,ein" für „einen" (ein'n) steht, 116 gedruckt
ist „u'n" oder „en" (statt „einen"), 66 und 86 ,,ein'm", 72 „sein'u". Merkwürdig
scheint, dass metrisch hier nirgends die verkürzte form nötig ist, da in demselben
gedichte „eine", „einen", „einem" die Senkung des fusses bilden (4, 11, 19, 29,
80), wie auch „ihre" (56). Aus dem recht schwankenden gebrauch seines „Hans
Sachs" auf Goethe's gebrauch in den neunziger jähren zu schliessen, sind wir in
keinem falle berechtigt. Auch Schiller und Herder haben in dieser zeit „'nen" statt
„einen", selbst „'mal" statt ,, einmal". "Warum hat der herausgeber nicht das in die
neunziger jähre fallende gedieht ,, Künstlers fug und recht" beachtet, wo auch die
Weimarer ausgäbe (H, 192 fgg.) „'nen" (statt „einen-), wie auch „ihn'n" hat. "Wenn
auch Goethe in den siebziger jähren sich bei solchen Verkürzungen des Wegfalls der
letzten silbe bediente, so hat er doch später die erste abgestossen, wie er auch
„'nein", „'naus", „'rum", „'s" (für ,,das") brauchte. Freilich im zweiten „Faust"
6813 findet sich das Frankfurter ,,noch e' wein", dagegen ist im ersten 3620 das
ursprüngliche „bei em gelag" in „bei einem gelag" verändert. Eine durchgängige
gleichheit wird hier schwer herzustellen sein, wie denn auch die "SYeimarische aus-
gäbe sie nicht erstrebt hat; in unserem bände dürfte sie zu weit gegangen sein, ohne
sie ganz zu erreichen. Misslich war es, dass die betreffenden stücke von vei"schie-
denen bearbeitet wurden, wenn diese auch darin übereinstimmen, dass sie auf das
metrische zu wenig achten und das zeichen eines ausgefallenen vokals oder einer
silbe ungleichmässig anwenden. "Wenn im „Pater Brey" 77 mit „Mein tochter" be-
ginnt, so muss auch 53 „mein" statt „meine" stehen, da der vers nur so gelesen
werden kann. 316 ist „ein" imnötige ändeiamg für „einen", da so „meinen", „meinem",
,,seiner" den Jambus beginnen. So ist das urspi'üngliche „keinen" trotz Hiinburgs „kein'"
beizubehalten oder zu „kein'n" zu machen. Überhaupt entbehrt man hier ein bild,
ÜBER GOETHES WERKE (\VEIM. AUSC.) 357
wie die ausgaben mit den formen iimgesprungen sind. Im „SatjTos" wird der letzte
vokal abgestossen in „steif", „ander'", „ein'", „ewig'", dagegen stehen 94 „eine",
95 „ein's", 96 ,,mein'n", lö2 „meiu'u", aber es ist 105 „seinen" durchgeschlüpft,
wo der vers „sein'n" oder vorher ,,narr'n" verlangt, und ähnlich manclies andere. Der
herausgeber bemerkt zu der stelle der ersten parabel: „das überlieferte einen gäbe
drei Senkungssilben des taktes, was immerhin anstössig und unrhythmisch, wenn auch
nicht ohne scheinbare parallelen in Goethe's knittelversen wäre", wonach er denn auch
in der zweiten parabel sich den vers: „Dass mir so fröhliche gesellen begegnen"
gefallen lässt. Aber diese fälle mussten doch genauer bestimmt werden. Sie finden
sich besonders in den „zahmen Xenien" und sind entweder durch die ausspräche und
die danach gebotene elision eines vokals zu beseitigen oder als versehen zu betrach-
ten. Ich habe bei anderer gelegenheit weiter ausgeführt, wie nachlässig Goethe's
ausgaben besonders mit den abgebogenen formen der Wörter auf ich und ig verfah-
ren, bei denen der dichter auch eine uns härter scheinende elision nicht scheut.
Bei „Hans Sachsens poetischer Sendung" wird mit grosser genauigkeit über
die lesarten berichtet. 6 hat man neuerdings die lesart des ersten druckes „an den"
dem mit recht früher beibehaltenen „an dem" vorgezogen. Aber der meister steckt
nicht sonntagsmorgens die ahl an den arbeitskasten , er hat dies schon am vorigen
abend getan. 7 scheint mir „sieb'ntem" ungehörig, da ein anapästischer versschluss
sich auch 65, 87, 95, 118 findet. 57 ist doch die Zusammensetzung „natur-genius"
mir bedenklich; ich ziehe „Der natur genius" vor. Prosodisch klingt der vers , der mit
einem anapäst beginnt, fi'eilich etwas hart, aber nicht weniger der anfang des folgen-
den „Soll dich führen", noch mehr 62: „Schieben, reissen, drängen und reiben",
und vollends 59 „Soll dir zeigen alles leben". Aber dieser diirfte dreifüssig sein
und anapästisch beginnen. Dass 179 „weil er" weit besser als „wie er" sei, möchte
ich nicht zugeben.
Von „Künstlers erdenwallen" lag die schöne leinschrift von 1774 vor, die
mehrere abweichungen zeigt; so fehlt 29 die frage der frau: „Bist schon wach?"
In „Künstlers apotheose", wovon keine handschrift sich erhalten hat, ist E. Schmidts
unzweifelhafte Verbesserung „im (statt „ein") schwefelpfuhl" aufgenommen, wobei zu
bemerken war, dass „schwefelpfuhl" die biblische bezeichnung der hölle ist. Vom
„ Epilog zu Schillers glocke " konnte die erste fassung verglichen werden. Eine liand-
schrift der „Geheimnisse" ist nicht vorhanden mit ausnähme von drei ursprünglich
dazu gedichteten stanzen. Bedauerlich ist, dass hier drei im drucke durchgegangene
versehen in den ,, lesarten" verbessert werden mussten. Unter den Vorbemerkungen
zum maskenzng ,,Die romantische poesie" wird vermutet, der erste entwurf rühre
von Eiemer her; dies ist an sich höchst unwahrscheinlich, als unmöglich erweist es
sich durch das was wir aktenmässig wissen. Des herausgebers begründung, Riemer
habe den titel und das vorwort geschrieben, ist eben gar keine. Sonst sind die
hier und zu dem grossen maskenzug von 1818 gemachten mitteilungen höchst dan-
kenswert, doch hat sich die redaktion genötigt gesehen, die vers 148 gemachte
änderung des zweiten sich's in sich zurückzunehmen, da nicht der geringste stich-
haltige grund für einen vom herausgeber angenommenen hartnäckigen fehler zu
finden ist. Als Paralipomena zu dem zuge erhalten wir auch sechs versuchte
verse auf demselben blatte, das den anfang und das ende der cinführung Mahomets
und den beginn des auftretens des Götz enthält. Sie waren wol zur persönlichen
einführung Mahomets bestimmt, während die wirkliche abfassung sich ganz auf das
von Goethe übersetzte stück Voltaii'e's bezieht.
358 DÜNTZER
Zu dem festspiel: „Des Epimenides erwachen" ist der umfangreiche stoff in
genauer bearbeitung gegeben. Nicht billigen können wir die annähme, die handschrift
des Programms H 2 sei jünger als H und H 1, erst zur zeit entworfen, wo Goethe
Ifflands brief vom 28. mai erbalten hatte; denn alle auf diesen bezüglichen stellen
der beiden anderen haudschriften fehlen hier. Wenn 462 Göttling die werte „Wei-
gert sich die süsse braut" nicht ganz klar fand und er deshalb Goethe zur änderung
veranlasste, so übersah er, dass hier „weigern" im sinne von „verweigern" steht mit
abhängigem- accusativ („das verlangen"). Höchst anziehend ist die mitteiluug des
zwischen 901 und 902 ausgefallenen auftrittes mit den auf Bernadotte bezüglichen ver-
sen des Epimenides.
Die bedeutendste neue gäbe dieses bandes ist „Schillers totenfeier", die Suphan
im anhange uns bieten konnte. Schon auf der Berliner Goetheausstellung von 1861
hatte man ein darauf bezügliches blatt Goethe's gesehen, das dieser bald nach Schil-
lers tod dem gemeinschaftlichem freunde Zelter gegeben hatte. Einen vollständigen
abdnick der in ihrer kürze rätselhaften inhaltsangabe brachte die Hempel'sche aus-
gäbe von Goethe. Suphan entdeckte im Goethearchiv drei andere dazu gehörige auf-
zeichnungen Goethe's. Auf einem schmalen quartblatt befand sich ausser jeuer Zelter
gegebenen mitteilung nebst einem zusatz auf der rückseite ein flüchtiger entwurf eines
auftritts, worin tod und schlaf erscheinen, der erste von verschiedenen angesprochen
wird. Auf einem zweiten findet sich das scenarium von vier auftritten und eine
figürliche Übersicht des aufbaues. Die weiteste ausführung der zu Schillers geburts-
tag, den 10. november seines todesjahres, auf der Weimarischen bühue zu gebenden
totenfeier enthält ein quartheft, von welchem zehn blätter nummeriert und beschrie-
ben sind, die beiden ersten mit den uamen der auftretenden personen, die drei fol-
genden mit versen der ausführung, die fünf letzten mit einem den Inhalt oder den
Sprecher bezeichnenden wort, bloss blatt 6 gibt auf der Vorderseite das wort „dich-
tung" nebst zwei versen, auf der rückseite „dichtuug allein". Der herausgeber hat
später in der „Deutschen rundschau" einen feinsinnigen versuch gemacht, den plan
der merkwürdigen dichtung zu erraten. In allen hauptpunkten stimme ich bei.
Dort liest Suphan jetzt z. 7 der ersten handschrift mit dem wider aufgefimdenen von
Goethe an Zelter gegebenen blatte richtig „zum katafalk" statt „ins tr(aurige?)". Fest
steht, dass eine fröhliche feier der Volkstümlichkeit Schillers von allen altern, Jüng-
lingen, Jungfrauen, niännern und greisen die einleitung bilden sollte, wobei einzelne
personen seiner dichtung hervortraten; doch war die erfindung dieses eingangs noch
nicht abgeschlossen. Unterbrochen wird die festfeier durch einen heftigen donner-
schlag, wie in der „Jungfrau von Orleans", und es erscheint der tod (Thanatos) mit
seinem zwillingsbruder, dem schlaf (Hypnos), um anzukündigen, dass er gekommen,
den gefeierten dichter abzurufen, wie bei den alten der tod oder Persephone an die
türe klopft. In Goethe's weise lag es, die wirklichen Verhältnisse, die er dichtei'isch
verklärt, umzugestalten. Wir erinnern nur an das gedieht auf Miediug's tod, an die
Vision in dem glückwunsch zum geburtstag des herzogs „Ilmenau" und an den „Epi-
log zu Schillers glocke". So stirbt hier Schiller nicht nach einer krankheit, sondern
ganz unerwartet. Vergebens suchen Jünglinge, mädcheu, mann und greis den gelieb-
ten dichter vom tod zn erbitten. An die stelle derselben traten im späteren Schema
andere. Ich lese die stelle so: „Tod, aufgefordert (statt „aufgehört")" von (statt
„vom") der Verwandtschaft (statt „verwandten"), der liebe (das wort steht als Ver-
besserung über „Freundschaft"), der Weisheit, der poesie." Ich kann um so weniger
mit Suphan annehmen, dass „aufgehört" die rede des todes in dem satze: ,,Es ist
ÜBER GOETHES WERKE (WEIM. AUSG.) 359
am ende" andeuten soll, als das folgende „von" dann unerkläii bleibt. Die ankün-
digang des todes hat Goethe gar nicht angedeutet. Bei der späteren ausführaug war
zuerst geschrieben : „Verwandtschaft", dann daneben und darüber: „Chor der jugeud"
y.aacyviTi]^ gattin, kinder". Das griechische wort, wie mehrere andere, hatte Goethe
mit blei über das deutsche geschrieben. Die Überschrift änderte er dann in „Gattin
und junger chor" und von der gattin hiess es darauf „sich und die kinder darstel-
lend". Ein paar schöne verse sind ausgeführt. Statt der „Freundschaft" gab die
ausführung „Freund und älterer chor". Goethe's eigene klage um den freund hört
mau bei der ausführung: „Wer reicht mir die band beim versinken ins reale? "Wer
gibt so hohe gäbe? „Wer nimmt so freundlich an, was ich zu geben habe?" In
mehreren versen ist des todes antwort treffend ausgeführt, gar nicht die „Klagen im
abwechselnden chor". Vor der bitte der Weisheit ist bei der ausfühiaing des Va-
terlandes (verbessert in Deutschland) eine herbe erwideiimg eingeschoben. Uner-
bittlich entfernt sich der tod. Bei der Verwandlung der scene erscheint ein katafalk,
wol in einer kirche wie in Schillers „Braut von Messina". Vor diesem beginnt der
trauergesang; in der zweiten fassung hiess es „die chöre", in der letzten handschrift
wohl mit beziehung auf Schillers so überschriebenes gedieht „Nänie". Suphan lässt
sie singen, während die Verwandlung sich vollzieht. Der „epilog" wird vor dem
katafalk gesprochen vom vaterlande. Im zweiten schema steht in der mitte des drit-
ten auftritts „Vaterland", zu beiden selten „Chöre". Am Schlüsse hiess es zuerst:
„Verwandlung ins heitre. Gloria in excelsis. " Die figürliche darstellung hat in der
spitze der pyramide die zahl 3, im dritten auftritt 2 über ,, Vaterland", im zweiten 1
über ,,Thanatos. Hypnos". Der letzte entwuif gibt hier nur ,,]VIagnificat". Es bedarf
keines wertes, dass hier die Verklärung im himmel gemeint ist, aus welchem, wie
es im epilog zur „Glocke" heisst, „sein verklärtes wesen herniederschaut". Am ende
des zweiten „Faust" erscheint den teufein der hölle gegenüber „Glorie von oben
rechts", und darin die „himmlische heerschaai"'. Der chor sollte hier die Verklärung
und rasche Weiterentwicklung feiern wie im „Faust" die seligen knaben.
Bei den ausätzen zur „Kantate", die den band schliessen, ist zu bemerken,
dass 5 fg. als gestrichen zu betrachten sind, zu „sonne" (7) etwa „leuchtet" zu den-
ken ist und „Baal" (19) anrede sein soll. Am Schlüsse ist wol „denken" statt „deu-
ten" zu lesen, wie es z. b. Iphigenie 1765 steht.
Zur herstellung des siebzehnten bandes, der dem vierzehnten der ausgäbe
letzter band entspricht, wurde die arbeit auf vier anerkannte kritiker verteilt, von
denen einer sich um die von ihm übernommene dichtung schon früher verdient
gemacht hatte. Die bearbeitungen sind auch hier nicht ganz gleichmässig, was sich
zum teil auch äusserlich zeigt. Die des „Triumphs der empfindsamkeit" beginnt mit
der entstehungsgeschichte. Die behauptung, dass „Proserpina", die den vierten akt
bildet, ursprünglich für sich gedichtet gewesen, später eingeschoben sei, beruht frei-
lich auf Goethe's eigenem berichte, aber auf einem sehr späten der „Tag- und jah-
reshefte", wo besonders in den ersten, die werke sehr summarisch angebenden jähren
nicht alles richtig ist. Der erste drack der „Proserpina" erfolgte ende Januar 1778,
um bei der aufführung des „Triumphes der empfindsamkeit" zum geburtstage der
1) So schrieb er für xaaiyi'rjT)]^ indem er den zweiten teil des wertes mit
yavsTt] in Verbindung brachte. Bei dieser annähme schwinden aUe bei Suphan blei-
benden Schwierigkeiten und unwahrscheinlichkeiten.
360 DÜNTZER
herzogin als textbuch zu dienen; dieser ist ganz verschollen, erwiesen wird er durch
eine rechnung des Weiraarischen buchdruckers Glüsing. Nach ihm erfolgte wol der
abdruck am anfang des februarheftes von Wielands „Merkur-". — Wenn Goethe am
abend des 15. november den dritten akt des Stückes, den „Oronaro" dichtete (im
tagebuch ist „Abends allein. Gelesen. Oronaro" zu schreiben), so wird „Proserpina''
gleich darauf, in den tagen vom 17. bis zum 24., gedichtet sein, von denen das
tagebuch nachträglich einen sehr kurzen summarischen bericht gibt; wahrscheinlich
vom 22. bis zum 24., als der hof zu Gotha weilte. Erst nach der rückkehr von der
Harzreise begann Goethe den sechsten akt, von' dem der brief an die Stein vom 26.
(nicht 27.) december spricht. — Kühn finde ich den zweifei an dem früheren namen
des Stückes „Die empfindsamen", womit das tagebuch am 10. februar, ja schon der
brief an frau von Stein vom 12. September 1777 es nennt; erst später wurde er in
„Triumph der empfindsamkeit" verändert. „Die empfindsamen" waren Mandandane
und Oronaro. Der herausgeber behauptet, der titel „Die geflickte braut'', unter dem
Böttiger das stück nach der Überlieferung älterer Weimarer nennt, lasse sich urkund-
lich nicht nachweisen. Er übersieht dabei eine äusserung Jacobis. Dieser, der eben
Goethe in Weimar besucht hatte, schreibt ihm am 13. Oktober 1784: „Ich las ihr
[der Jüngern halbschw'ester Helene] den folgenden tag „Die gefückte braut" vor, und
wir hatten grosse lust." Er muss also in Weimar eine abschrift des Stückes erhalten
haben. In der aus Jacobis uacblass stammenden handschrift führt die posse den
namen „Der triumph der empfindsamkeit". Will mau also nicht die höchst unwahr-
scheinliclie annähme macheu, Jacobi habe später noch eine andere abschrift erhalten
oder sich anfertigen lassen, so muss Goethe selbst im gespräch das stück mit diesem
namen bezeichnet haben, mit dem sie auch in Weimar zur zeit genannt worden sein
wird. Hiermit erledigt sich die vom herausgeber angenommene mögiichkeit, Jacobi
habe schon 1778 eine abschrift erhalten. So bezweifelt er denn meine angäbe, dass
die hier erwähnte „Freundschaft und liebe" 1779 erschienen sei, möchte selbst in
diesem falle einen späteren zusatz annehmen. Ganz übersehen hat er dabei, dass
die hier vorausgesetzte Verbindung Goethe's mit Jacobi bereits im jähre 1778, ja
schon 1777 aufgehört hatte. Für die zeit der abschrift wird ganz ungehörig der
Inhalt der dichtung angeführt; denn dass die ursprüngliche gestalt dieser posse
wesentlich in der liandschrift vorliege, nimmt man allgemein an. Ebenso wenig dürfte
gezweifelt werden, dass die aus Jacobis nachlass erhaltene handschrift diejenige sei,
die er 1784 aus Weimar mitgebracht hatte. Wer sie geschrieben, wissen wir nicht.
Goethe Hess wol für Jacobi eine abschrift von dieser posse und dem „Jahrmarktsfest"
anfertigen, und zwar von demselben abschreiber, der ihm gerade zur band war. —
Seine bezeichuung im tagebuch vom 30. Januar 1778 als „das neue stück" ist nicht
„\ingenau", wie der herausgeber sagt, sondern ganz treffend: die posse war das neue
stück, dessen proben ihn so lange beschäftigt hatten. — Seltsam finden wir die Ver-
mutung, bei den der bearbeitung von 1786 eingefügten worten „Der gute Jüngling"
könnte von Westenrieder's „Leben des guten Jünglings Engelhof" vorschweben. Ab-
gesehen von einer so undeutlichen bezeichnung wäre es so ungeschickt wie möglich,
wenn Goethe , als er das stück für den weiteren leserkreis anziehender machen wollte,
auf ein vor vier jähren erschienenes verschollenes buch hingedeutet hätte, und dazu
eines, das mit verliebter empfind-samkeit nichts zu tun hatte. Nie wüi'de der her-
ausgeber auf eine solche Vermutung gekommen sein, hätte er bedacht, weshalb der
dichter gerade diese stelle änderte. Er warf eben die erwähnung mehrerer längst
vergessener bücher heraus, und hielt sich dafür länger bei dem noch immer berühm-
ÜBER GOETHES WERKE (WEI.M. AUSG.) 361
ten und gelesenen ^ Sieg wart" auf; dass die stelle auch auf diesen sich beziehen
könnte, entgieng auch dem herausgeber nicht. Wenn die worte in der haudschrift
unterstrichen und demnach im druclie gesperrt sind, so ist dies nur ein leicht erldär-
üches versehen des abschreibers. Noch wunderlicher finden wir es, dass der neu
eingeschobene scherz: „Da ist ja auch ein kupfer dabei", ursprünglich auf die
absichtlich weggelassenen „briefe von Selkof " sich bezogen haben soll. Wenn es von
H3 heisst: „Schreiber ist wol Rost", so gestehe ich einen Rost gar nicht als
abschreiber Goethes zu kennen.
Auch hier erscheint wider die oben s. 355 erwähnte ausgäbe B 1. Der zehnte
band derselben enthält die in unserm siebzehnten gegebenen vier stücke nebst dem
bruchstück „Die aufgeregten". Es ist daraus schon abzunehmen, dass hier überall
dieselbe vorläge gewesen, wonach auch die frage über diese in aller kürze an einer
stelle abgetan sein sollte, was eben durch die Verteilung auf vier herausgeber gehin-
dert wurde. Die Sache ist ganz einfach diese, dass alle vier stücke schon zu A durch-
gesehen waren, und da B gleichzeitig mit B 1 gedruckt wurde, man hier A abdmckte.
Der herausgeber des „Triumphs" bemerkt: „Es wird von anderer seite nachgewiesen
werden, dass B 1 nicht auss B, sondern der vorläge von B (warum nicht einfach
aus A?) hergestellt ist." Es hätte die bemerkung genügt, B 1 weiche nur in der
rechtschreibuQg und durch druckfehler von A ab. Dies wird vom herausgeber der „Vö-
gel" dargelegt, der es besonders durch den A und Bl gemeinsamen druckfehler
„weder" statt „werde" belegt. Die herausgeber der beiden anderen stücke bemerken
nichts bei anführung von B 1 ; die wenigen abweichungen bestätigen das über diese
ausgäbe gesagte. "Wegen der starken abweichungen der ursprünglichen fassung des
ersten aktes von der gedruckten wird dieser in den „lesarten" mit recht vorab voll-
ständig mitgeteilt. Diese erste fassung der „Vögel" liegt in zwei handschriften von
1781 und 1782 vor, von denen die zweite schon manche gemeine und ungewöhuhche
ausdrücke verbessert hat; diese Verbesserungen hatte Goethe höchst wahrscheinlich
erst zu der abschrift seiner ungedruckten Schriften vorgenommen, die er ende 1781
für frau von Stein anfertigen liess, während unsere handschrift der herzogin - mutter
zu ihrem geburtstage erst am 24. Oktober 1782 verehrt wurde. Vom „Epilog" der
,, Vögel" bewahrt das Goethearchiv den noch nicht in verse abgeteilten entwui'f von
Philipp Seidel's band, den Goethe durchgesehen hat. Die unterdrückten stellen und
die prosaische fassung des „Epilogs" stehen in den „lesarten" , die auch einige Verbes-
serungen der druckfehler oder der gewählten lesart bringen. Bei der Umschrift in
verse mussten nur die worte zuweilen umgestellt werden, ausserdem ward „liebling
der grazien" nach ,,der ungezogene'' eingeschoben.
Keine handschrift liegt vom dritten stücke, dem Grosskophta, vor, dagegen
erhalten wir hier zum ersten male die in musterhafter weise aus den etwas verwor-
renen papieren mitgeteilten entwürfe und die umfangTcichen bruchstücke. Der erste
in Italien gemachte entwurf nennt Cagliostro Rostro, die marquise Courville, die nichte
Innocenza, den domherrn Abbate, den ritter Cavaliere. Der schluss des zweiten
aktes wird durch „Smanie" angedeutet, was wol auf die Verzweiflung der Innocenza
wegen der von Coiu'ville ihr zugemuteten roUe geht. Rostro erscheint nur im ersten
und vierten aufzug und als grosskophta im dritten; das scenar des fünften ist nicht
ausgeführt. Wir vermissen hier die wichtige stelle des briefes an Kayser vom 14. au-
gust 1787, wo auch eines chores gedacht wird; der herausgeber hat auf diesen brief
nur gelegentlich einmal verwiesen, ohne die bedeutende äusserung anzuführen. Diese
oper sollte, was hier gleichfalls übergangen wird, II Conte heissen, dessen Goethe
362 DÜNTZER
auch gegen Eeichardt gedenkt. Cagliostro wurde als Conte di Rostro impudente
eingefühi-t. Der spätere deutsche entwurf der oper trägt die überschiift: „Die Mystificier-
ten", die gewissermassen der gegensatz ist zu dem Singspiel „Die empfindsamen". Das
scenar dieser dreiaktigen oper liegt jetzt vor und die höchst bedeutenden bruchstücke,
von denen am ausgeführtesteu II 9 das vorgespiegelte geistersehen der nichte. Yon
einer weiteren besprechung dieses merkwürdigen opernversuches des vierzigjährigen,
der sich so lebhaft in die kunstform hineingedacht hatte, stehen wir hier ab. Vom
vierten stücke, dem „Bürgergeneral", liegt nur eine vollständige handschrift vor,
aus der hier zum ersten male die angäbe des Schauplatzes „vor (statt „in") Märtens
hause" berichtigt und statt Görges: „Nun, leb wol, Rose!" hergestellt ist „Rose.
Leb wol, Görge! Görge (geht .... zurück). Höre, Rose!"
Der sechste band der Tagebücher enthält die beiden jähre 1817 und 1818.
Freilich hat Goethe sie zur ausführlichen darstellung in den „Jahr- und tagesheften"
benutzt, aber wie manches tritt uns hier viel anschaulicher entgegen, ist dort ganz
übergangen oder nur kurz berührt. Yon höchster bedeutung ist der einblick in
Goethes leidenschaftlichen eifer für die hebung des grossherzoglichen theaters, als er
am 2. februar 1817 dessen leitung wider übernommen. Er hatte sie eben nieder-
gelegt wegen der am vorigen tage wider seinen willen durchgesetzten aufführung von
Kotzebue's „Schutzgeist" in seiner ganzen länge, die allgemeines missfallen erregt
hatte. Durch das dringende ersuchen des grossherzogs Hess er sich bestimmen, sich
dieser mühe wider zu unterziehen, doch mit beschränkung auf das kunstfach und
unter assistenz seines sohnes. Er versprach nicht nur die Kotzebue'sche „Legende"
als Schauspiel so zu bearbeiten, dass sie gefalle, sondern wollte auch durch ausarbei-
tung einer neuen theaten'srfassung die bühne dauernd heben. Von dem streit erwähnt
das tagebuch nichts, wenn man nicht etwa den eintrag vom 31. januar hierauf bezie-
hen will, wo es unmittelbar nach der auf das theater bezüglichen bemerlamg:
,, Gastrollen betreffend geh. hofrat Ivirms, hofschauspieler Oels", heisst: „Communi-
cation mit Serenissimo." An demselben tage lehnte er es ab, einen text zu den
lebenden bildern zu liefern, die Meyer auf den geburtstag des erbgrossherzogs stel-
len wollte, weil seine unruhe, innerhch und äusserlich , zu gross sei. Am 1. februar
berichtet das tagebuch einfach: „Abends ,'der schutzgeist'". Aber schon zwei tage
später lesen wir: „Entwürfe zu neuen theatereinrichtungen". Am 4. wird mit dem
theaterschneider verhandelt, am 5. in theaterangelegenheiten gearbeitet, und in der
Sitzung der theaterintendanz der söhn förmlich mit einem vortrage eingeführt; auch
Verordnungen deshalb erlassen. Die drei folgenden tage erwähnen mancTierlei auf
das theater bezügliche. Zur aufführung werden ausser dem verkürzten und bearbei-
teten „Schutzgeist", womit er sich ganz ausserordentliche mühe gab, Voltaire's „Ma-
homet" und Eacine's „Athalie" vorbereitet, damit die Schauspieler sich die einige
zeit vernachlässigte ti'agische spräche von neuem aneigneten. Auch macht er vor-
schlage zu einer neuen einrichtung der regio, besonders für die oper. Immerfort ste-
hen „theatralia" auf der tagesordnung. So konnte er denn schon nach drei wochen
Zelter schreiben: fahre er die nächsten vier monate fort, so für das theater zu
wirken, so könne er ruhig in die weit gehen, und es würde für diese anstalt besser
gesorgt sein, wie für die Athener durch Solon's gesetze und weggang. Am 8. märz
kam endlich das Kotzebue'sche stück zur aufführung, und fand grossen beifall; es
ward, wüe Goethe gegen Zelter sich rühmte, „nach alter Weimarischer weise und tra-
dition, sowol des auftretens, gehens, bewegens, gruppierens, nicht weniger der reci-
tation und deklamation gegeben". Älinlich dachte er mit anderen stücken dieses
ÜBER GOETHES WERKE (WEIM. AUSG.) 363
vorzüglichen alier „ schluderliafteu talents" zu verfahren, damit ihr repertoriuni wider
vollständig, ja rein werde, wo denn sein geschäft beim theater ihm wenig mehr zu
schaffen machen werde. „Der schutzgeisf' ward am 17. mit einer Verkürzung wider-
holt, wobei Goethe wider einige bemerkungen über die aufführung machte. Am 19.
betrat „Athalie" endlich die bühne. Die redaktion der lustspiele: „Die bestohlenen"
und „Der rotmantel^' ward bedacht, ersteres wirklich später aufgeführt. Daneben ent-
warf er erlasse an die regisseure, an den kapellmeister, den re- und correpetitor;
auch Verordnungen über andere intendanzangelegenheiten , ehe er am frühen morgen
des 21. märz nach einer am vorigen tage abgehaltenen Sitzung der Intendanz nach
Jena eilte. Da er, wie frau von Stein berichtet, in grosser aufregung von ihr ab-
schied nahm, scheint sich in jener Sitzung ein streit erhoben zu haben. Wahrschein-
lich in folge der von der gegnerischen seite verfochtenen aufführung des melodramas
„Der hund des Aubry", für den man auch den grossherzog gewonnen hatte. Frei-
lich erklärte Goethe, als die freunde sich über seine aufregung besorgt zeigten, seine
dringendste angelegenheit sei, in der Jenaischen ruhe und stille den erfolg seiner
schon expedierten resolutionen zu erwarten', denen noch andere sich anschliessen soll-
ten, aber er scheute sich nur, den eigentlichen grund seiner erbitterung zu verraten.
Das tagebuch verzeichnet am nachmittag des 20. nur: „Überlegungen wegen der
reise". Er muss diese urplötzlich beschlossen haben. Dass er am 21. märz Weimar
verliess und erst am 18. mai zurückkehrte, hatte schon Wähle („Das Weimarer thea-
ter unter Goethe's leitung" s. 327) aus dem tagebuche mitgeteilt. Dadurch wird die
sage widerlegt, der ich noch in meinem „Goethe und Karl August" folgen musste,
Goethe sei am 12. april nach der probe jenes berüchtigten „hundes" nach Jena gefah-
ren. Jetzt erst erkennen wir, dass Karl August's erwähnung „verschiedener ihm zu
obren und äugen gekommener äusserungen" sich auf jene Sitzung der theaterinten-
dauz beziehen muss, worin Goethe mit uiederlegung seiner stelle gedroht hatte, wenn
man in Weimar, wie es in Berlin geschehen, den hund auf die bühne lasse. Nur
so klärt sich die entlassungsgeschichte völlig auf. Weiter belehrt uns das tagebuch,
dass Goethe in Jena nur geschälte der Oberaufsicht besorgte, naturwissenschaftliches
trieb und zum drucke bereitete, daneben sich mannigfach unterhielt. Am 26. märz
sendet er „ theatralia ", die er wol von Weimar mitgenommen, dahin zurück. Den
29. kam sein söhn, der ihm auch wol über das theater berichtete, bei dem er ihn
vertrat und seine auftrage ausrichtete. Den 4. april hat er gaste von Weimar, unter
ihnen seinen söhn, der mit freunden oder mit der faniilie seiner braut gekommen
sein wii-d. Unter den geschäf tssachen , die er mit ihm besprach, war wol auch das
theater und der drohende „hund des Aubry". Zehn tage später, zwei nach der auf-
führung des hundestückes, deren das tagebuch nicht mit der geringsten andeutung
gedenkt, besucht ihn wider sein August. Fünf tage nach der Goethe bei seinem
schönen eifer, das theater wider zur alten blute zu heben, und bei der Zusicherung,
das kunstfach solle ihm ganz überlassen sein, tief verletzenden unerbetenen entlas-
sung, kommt der grossherzog, um die museen in seiner begleitung zu sehen, nach
Jena. Abends ist Goethe bei ihm mit dem Universitätskurator und drei professoren,
am andern morgen vor dessen abreise. Damals hat wol die aussöhnuug stattgefun-
den. Dieses erste zusammentreffen Goethe's mit dem grossherzoge nach der entlas-
sung war bisher unbekannt, so dass man glauben musste, erst nach längerer zeit sei
diese erfolgt. Erfreulich ist es, dass Karl August so bald kam.
Auch über die stille hochzeitsfeier des sohnes empfangen wir nähere nachricht.
Am nachmittag des 10. -juni fährt Goethe von Jena nach Weimar, wo die „ehebere-
364 DÜNTZER
dung" stattgefunden haben niuss. Darauf bezieht sich der eintrag des 11.: „Zu geh.
rat von Voigt (dessen rat Goethe bei allen fanülienangelegenheiten in ansprach nahm).
Mittag fräulein Ottilie, Eehbein [sein vertrauter arzt] und hofrat Meyer. Mie letzte-
rem und meinem söhn mancherlei nach tisch besprochen." Abends um 9 uhr war
er wider in Jena. Den 13. wird der „abschrift der eheberedung" gedacht. Am
16. heisst es: „Nach "Weimar abgefahren. Angelangt. Über die nächsten einrich-
tungen und ereignisse .... Mit August zu tische. Mancherlei vorbereitet. Kam
hofrat Meyer und oberbaudirektor Coudray, die abends blieben .... Zeichnungen
und kupfer besehen." Am anderen tage vormittags: „Die grossherzogin uud die gross-
fürstin." Er besuchte sie, um die bevorstehende Vermählung ihnen anzuzeigen; der
grossherzog war abwesend. Mittags ist er mit dem söhne allein. „Abends 7 uhr
trauung. Gesellschaft. Abendessen." "Weiter nichts; dann am folgenden tag: „Die
jungen leutchen abgereist." Die reise gieng nach Berlin. Alfred Nicolovius erinnerte
sich noch des aufenthaltes des jungen paares in seinem elterlichen hause. Goethe selbst
fuhr abends nach Jena, wo er noch von dem jenseitigen ufer die festliche beleuch-
tang des 18. juni schaute. Ein brief an den söhn wird am 24. erwähnt; er hatte das
junge paar nach Jena eingeladen, erfuhr aber aus ihren briefen, dass sie nicht kom-
men könnten. Erst am 1. jiüi erschienen sie, fuhren aber schon abends zurück.
Über den anfang des jahres 1818 erhalten wir hier neue bedeutende mitteilungen.
Fast beängstigend ist der ausdruck von Goethes erbitterung über die allgemeine empö-
rung in Jena wegen der vom bundestage verhängten unterdrückimg jeder freien
regung, worunter der freisinnige grossherzog selbst bitter Htt, aber Goethes zorn
wandte sich in seinem Widerwillen gegen jede Störung der Ordnung, statt gegen die
Metternichische kuebelung jeder freisinnigen äusserung, Avider die, welche sich ihrer
erwehren wollten. Im november 1817 hatte Luden's ursprünglich gegen Napoleon
gerichtete, jetzt Kotzebue's verrat und jede Verkümmerung der teuer erkauften volks-
freiheit strafende „Nemesis" als „beitrag zur kenntnis der zeit" die „augeblichen bul-
letins herrn von Kotzebue's" gebracht, die in Jena einen wahren stürm entfesselten.
Mit grösserer schrift trug Goethe in sein tagebuch vom 15. bis 25. Januar 1818 am
ende der einzelnen tagesberichte folgendes ein: „Die zwei ausbängebogen Luden
contra Kotzebue giengen im stillen herum. — Jene ausbängebogen machen aufsehen. —
Früh rückte man Luden ins haus und koufiscierte die noch übrigen exemplare. —
Suchte man sie desto fleissiger auf. — Erschienen sie übersetzt und mit noten im
„Volksfreund" nr. 13 und 14. — Wurde auch auf diese beschlag gelegt. — Wurden
sie von der Cröker'schen buchhandlung am schwarzen brett feil geboten und giengen
reissend ab. — Schloss Oken den Jahrgang 1817 seiner „Isis" und versprach die ver-
botene nummer nachzubringen. — Das fünfzehnte stück vom „Volksfreund" wird
ausgegeben. — Ankündigung von „Bahrdt mit der eisernen stirn" [einem älteren pas-
fj^uill Kotzebue's]. — Der anfang des neuen Jahrgangs der „Isis" wird mit verbot
belegt. — Kam die nachricht von den Weimarer verdriesslichkeiten [dem einschrei-
ten des bundestags gegen den herzog] herüber." Auch sonst klärt uns das tagebuch
über manches näher auf, so über seine anwesenheit bei der taufe des sohnes des erb-
grossherzogs (jetzigen grossherzogs) , über den besuch von Paulinzelle, von dem ein
Schema in den „Lesarten" mitgeteilt wird, und über den aufenthalt in Karlsbad.
Bei der herausgäbe sind dieselben grundsätze wie früher befolgt. Wähle hat
wider die „Lesarten" geliefert. Das tagebuch ist während des längeren aufeuthalts
in Jena von verschiedenen bänden geschrieben und leidet häufiger als bisher an hör-
fehlern , die Goethe nicht überall berichtigt hat. Auch im abdruck sind noch manche
ÜBER GOETHES WERKE (WElM. AUSG.) 365
stehen geblieben. Sinustorende Schreibfehler bemerken wir an folgenden stellen.
39, 11 fg. Von Madame Bohn aus Hamburg hörte er „über Klopstock, Knebel und
andere ältere männer". Es liegt auf der band, dass hier der seit 1774 befreundete
Knebel, den Goethe zu Jena noch in nächster nähe hatte und häufig sah, nicht
gemeint sein kann. "Welchen naraen er hier genannt hatte , ist weniger sicher. Gleim,
an den man zunächst denkt, liegt -dem laute nach etwas zu fern. — In dem ein
paar zeilen darauf folgenden: „Über bevölkerung nach grossen lücken in den natio-
nen", muss es kriegen heissen. 117, 6 fgg. „Brief an Frege [Cotta's Leipziger ban-
kier] 4000 thaler (für mich). 100 thaler an Fehx (für wein).'' Goethe hatte statt
für wein diktiert anweisung. Vgl. die eintragungen vom 4. und 6. februar 1818:
„Avisbrief (an Frege) wegen der 100 thaler für Fehx, die anweisung auf 100 thaler. —
Assignation an Felix auf 100 thaler und avisbrief." Die Verbindung Goethe's mit
dem hause „Gebrüder Felix" oder „Felix und comp." finden wir schon im jähre 1814;
zum ersten male wird es am 18. april erwähnt, eine assignation auf sie von 100 tha-
lern am 3. juli. Vgl. das tagebuch am 16. Januar 1815, 24. Januar und 16. april
1816 und am '20. mai 1817. Immer wird einer „anweisung" oder „assignation" an
sie gedacht, nie der gelieferten waaren. — 119, 3 soll es statt abhandlung heissen
abhandlungen, wie richtig z. 12 steht. — 149, 17 ist statt Gernhards zu lesen
Gerhards. Gemeint ist der zu Weimar geborene, später mit Goethe in näherer Ver-
bindung stehende Leipziger kaufmann Wilhelm Gerhard. — 150, 12 muss Leonardo
oder, wie es sonst im tagebuch regelmässig heisst, Leonard (auch Leonardischer
tractat 173, 27) statt Leonardus stehen. — 173, 28 soll es wol Deahne statt
Dhein heissen. In der „Farbenlehre", bei behandlung der „entoptischen färben"
XXXIV wird die Stickerin eine geschickte nähterin genannt. Goethe's schwager Vul-
pius hatte eine Deahne geheiratet. — 195, 7 muss es Carove statt Carue heissen,
wenigstens ist der schon damals auch litterarisch hervorgetretene Fr. W. Carove ge-
meint. — 47, 15 ist nachts druckfehler für nacht oder zu ii-rig widerholt oder es
muss bis nachts heissen, wie 48, 15. — Die Schnitzer des Schreibers „Mit Sere-
nissimum" 136, 8 und „Serenissimum über mehrere punkte" 156, 15 statt
Serenissimo sind arg; freilich wäi-e au der zweiten stelle auch Ad oder An Sere-
nissimum möglich. — UnbedenkUch war auch wol 142, 13 entschuldigt sich
herzustellen, statt dass das erste wort erst am ende der zeile folgt. Beanstanden
müssen wir auch 6, 15: „Kehbein mit solchem (?) über ", 9, 14 „bezüglich an
(auf?) die tableaux, 11, 14 fg. „Rollenverteilung auf (zu?, wie 118) Mahomet", 2'2,
17 fg. „Ehein iind Mayn von Jena (statt Mayn-heft), wo man freilich zur not
von Jena darauf beziehen könnte, dass er eine korrektur von Frommann in Jena
erhalten hatte, dann aber wäre jedesfalls der ausfall von heft anzunehmen nach der
gangbaren bezeichnung dieser Zeitschrift. — 250, 10 muss nach Goethe's Sprachgebrauch
wegen den (statt der) türstücken stehen. — 271, 2 soUte es als (statt wegen)
mineralog. mitglied heissen. Andere versehen sind s. 232 vor dem nachtrag
zum jähre 1800 verzeichnet. — In den „Lesarten" bemerken wir zu 160, 9 den
druckfehler Otten statt Oken.
Wie früher geben wir auch jetzt einige berichtiguugeu und ergänzungen zu
den vielen sehr dankbar anzuerkennenden erläuterungen. 9, 6 „Herr heutenant von
Schiller" ist Schillers ältester söhn Karl. Er brachte wol das theaterstück eines
freundes. — 26, 3 „Thusnelda an Knebel" deutet auf die briefe des schon 1807 ge-
storbenen fräuleins von Göchhausen, die wol Knebel ihm mitgeteilt hatte. — 17 „Mor-
phologie." Er begann damals das erste heft „Zur morphologie" zusammenzustellen,
S66 DÜNTZER
dessen aufsätze in den folgenden uionaten erwähnt werden. — 27, 8. 20. Bas „cor-
rigierte vor wort" bestellt aus zwei aufsätzen von 1807, die jetzt unter der Überschrift
„Das unternehmen wird entschuldigt" und „Die absieht eingeleitet" bearbeitet und
gedruckt wurden (30, 16 fgg.). — Die „Geschichte meines botanischen Studiums"
(30, 5 fg.) folgt dort nach, einem neuen vorwort „Der Inhalt bevorwortet", deren drei
letzte selten nicht mehr auf den ersten bogen (31, 26 fg.) gingen. — Die am 5. april
erwähnte behauptung Kant's (31, 20 — 23) findet sich in der schon geplanten erzäh-
lung seines gesprächos mit Schiller über die metamorphose der pflanzen, welche das
erste heft „ Zur morphologie " in der „Geschichte seines botanischen Studiums" im
abschnitt „Glückliches ereignis" brachte. Dort wird jene behauptung nicht Kant aus-
drücklich beigelegt, sondern unter den von Schiller ihm entgegengehaltenen Sätzen
erwähnt, die ihn ganz unglücklich gemacht. — 38, 2. 12 Der „Neugrieche" ist der
Übersetzer von Goethe's „Iphigenie" Papadopulos. Ygl. 41, 19. — Bei der radierung
von Castigiione (40, 2) war auf das Verzeichnis der von Goethe besessenen, bei
Schuchardt nr. 250 — 265, zu verweisen. Nach der art, wie dieses zwischen „v. Schü-
ler" und „Dessen Studien und examen" eingeschoben ist, sollte man glauben, die
Unterredung Goethe's mit Schiller's jüngerem söhne Ernst liabe sich auf die radierung
bezogen, da diese doch vielmehr dessen weitere Vorbereitung zum assessorexamen
betroffen haben wird, über die gerade hier vom herausgeber auskunft gegeben wer-
den musste. Aber die werte „Radierung von Castigiione" scheinen verschoben, vor
oder nach „v. Schiller" zu gehören. — Die aufsätze „Schicksal des manuscripts" (40,
26) und „Priorität" (42, 5) sind richtig in den Werken nachgewiesen, aber sie waren
aus dem hefte „Zur morphologie" anzuführen, für welches sie damals geschrieben
wurden. — 47, 16 „Yorwort zur zweiten abteilung", im drucke vom 27. mai datiert. —
52, 13 „Der lieutenant", Knebel's söhn Karl (z. 11). — 16 „Übels", einer geschwulst,
wogegen der grossherzog Goethe schnürstrümpfe empfohlen (54, 1). — 54, 6 „Der
drei verschiedenen titel". Das erste heft des ersten bandes führt den gesamttitel:
„Zur naturwisseoschaft" überhaupt, besonders durch morphologie, erfahrung, betrach-
tung, folgerung, durch lebensereignisse verbunden"; daneben wurden besondere titel
für jede abteilang, „Zur morphologie" und „Zur naturwissenschaft", gedruckt. — 67, 27
„Des mürchens", das er den prinzessinneu zu erzählen begonnen hatte, was frei-
lich früher nicht berichtet ist. Indische märchen hatte er schon im vorigen mai die-
sen erzählt. — Übergangen ist, dass 105, 25 fg. „Einwirkung der Kantischen Philo-
sophie", 106, 11 fg. „Intuitiver verstand" (Kants) sich auf die „Metamorphose der
pflanze", 22 „Anschauender verstand", 107, 7 „Günstige receusionen" auf die aus-
führungen des zweiton heftes „Zur morphologie" beziehen, die an den angegebenen
tagen geschrieben sind. — 108, 21, 25 fg. „Indische Weisheit" deutet auf Fr. Schle-
gel's Schrift von 1808 „Über die spräche und Weisheit der Indier", die er wol damals,
wo so viele neue erscheinungen der indischen litteratiu' die aufmerksamkeit erregten,
wider las. — 115, 14 „An .... Tauscher". Hier hätte sein titel „adjunkt" eingesetzt
werden soUen, für den räum gelassen war. — 130, 12 fg. „Brief an dr. C. Schlosser".
Gemeint ist Christian Schlosser, der jüngere bruder des rates Friedrich Schlosser.
Goethe kannte ihn schon seit dem anfange des Jahrhunderts, stand jetzt in bezug
auf die kunst mit ihm in Verbindung. Er ist auch am 15. december zu verstehen. —
143, 18 „Geschichte der frau von Krüdener in Erfurt", die in den notjahren 1816
und 1817 in der Schweiz und Deutschland herumzog und das volk aufregte. Erst
am 4. april 1818 dichtete Goethe auf sie die scharfe invektive „Junge huren, alte
nennen" (IV, 185), aber schon vier jähre früher, wo sie in Paris ihr wesen trieb.
{jß£ß GOETHES WERKE (WElM. AUSG.) 36?
sprach er von dem ,,dudelsack der religion, der angestimmt worden, damit die von
huren zu nennen gewordenen ihren menuet anständig tanzen könnten". — 27 Auf-
satz über Witt Döring's besuch bei Goethe. — 155, 11 fg. „Schweigger's epos", ein
seltsames naturwissenschaftliches des bekannten physikers, der sich besonders mit
elektricität und galvanismus beschäftigte.
Jahr 1818. 156, 9. 19. „Frommannisches Wartburgfest", die handschriftliche Schil-
derung desselben vom jüngeren Frommann. — 157, 14 fg. „Alte briefschaften und
gedichte von Dessau, aus Behrischeus nachlass". Hier hätte genaueres gegeben wer-
den sollen. Auf sie bezieht sich auch der eintrag vom 20. Januar: „Geh. kabinets-
rat Eode in Dessau mit 4 Louisdors." Das nähere bieten Eode's briete an Knebel in
meiner Sammlung „Zur deutschen litteratur und geschichte (1858) II, 160 fgg. —
159, 27 „Nicolaus Gigas." Ein grieche Gigas wird 1819 in den Jahr- und tageshef-
ten genannt. Vgl. 165, 23; 246, 25. — 167, 47 „Weltgeschichte." Den genauen
titel dieses Werks, das Goethe jetzt zu lesen begonnen, und zu dem er gern aus den
wirren des tages flüchtete, geben die lesarten erst zu 216, 21. — 170, 24 „Stanzen
zimi maskenzug", des kanzlers von Müller zum 18. februar. Vgl. meine „Erläute-
rungen zu Goethe's maskenzügen" s. 108 — 113, welche die eintrage dieser tage ins licht
setzen. — 175, 24 fg. Hier erfahren wir erst, an welchem tage der dichter auf dem
maskenball erschien. Vgl. a. a. o. s. 119 fgg. — 177, 16 fgg. Die „einigen stan-
zen" vor den Sonetten der seit 1776 Goethe befreundeten freifrau Julie von Bechtols-
heim sind bisher nicht bekannt geworden. — 179, 19 fg. „Die kinder", söhn und
Schwiegertochter, waren während Goethe's abwesenheit zu Jena aus ihrer mansarden-
wohnung, dem sogenannten Schiffchen, in den ersten stock gezogen. — „Paralipomena",
die ihrer schärfe wegen zurückgehaltenen, von seinem söhne gesammelten invecti-
ven. — 180, 2 „Im garten am stern", seinem alten garten, den er auch „den untern
garten" (vgl. z. 11) zu nennen pflegte. — 191, 6 „ßeisig's", des begabten schülers
von Gottfried Hermann, der damals als privatdocent nach Jena kam. Die „Jahr- und
tageshefte gedenken seiner unter dem jähre 1820. — 194, 8 „Durch einen husaren",
den der grossherzog von den fünfzig in seinen persönhchen diensten stehenden gesandt
hatte. — 18 fg. „Die goldene medaille" ist die, welche man in Mailand auf den
grossherzog durch den berühmten medailleur Putinati hatte schlagen lassen zum danke
für die aus Italien mitgebrachten und geschenkten kunstwerke. Vgl. Schuchardt,
„Goethe's Kunstsammlungen" II, 176, 1401. — 199, 13 fg. Nach der taufe des enkels
waren bei tische die urgrossmutter und die grossmutter, oberkonsistoriah-at und hof-
prediger Günther, der die taufe vollzogen hatte, Eehbein und Einaldo, dessen jun-
ger söhn. — 201 Der hier etwas sonderbar hlos als „Student von Berlin" und mit
namen bezeichnete Nicolo\dus war sein neffe Franz, der Goethe sehr nahe trat. —
204, 25 „Winkelmann", die aus dem italienischen übersetzte Schrift: „Winkelmann's
letzte lebenswoche". — 205, 8 fg. „ Shakespeare'sches kleines gedieht", in „Kunst
und altertum" II, 3, 32 fg. unter der bezeichnung: „Aus einem Stammbuch von
1604" mit der Unterschrift „Shakespeare". Das W. S. unterzeichnete gedieht hatte
Benecke in einem mischbande der Hamburger bibliothek gefunden, der auf dem ein-
bände die Jahreszahl 1604 trägt und es in der Zeitschrift „Die wünschelruthe " am
27. april bekannt gemacht. Goethe erhielt davon eine abschrift. — 212, 16 „Phäno-
mene des litterarischen himmels", eine launige Zusammenstellung der namen der
neuesten namhaften dichter, die ein brief au Knebel gibt. — 217, 5 „Über den wider-
368 DUNMER
streit des autikeu uud moderneu/- Der aufsatz „Autik und modern", der in „Kunst
und altertum" II, 1 unmittelbar auf den grossem „Philostratische gemälde" folgt,
ward jetzt erst diktiert, am folgenden tage fortgesetzt, der schluss über Bourdon
scheint am 27. mai selbständig entworfen gewesen zu sein. — 245, 2 „John''.. Hier
war dieser zweite Schreiber Goethe's namens John von dem ersten, einem freunde
seines sohnes, der 1813 au Riemers stelle getreten war, aber nicht einschlug, bestimmt
zu unterscheiden. — 247, 17 „Das ehrenlegionszeichen", zum ersatz des von Napo-
leon 1808 erhaltenen, das er nicht mehr tragen durfte. Den dank dafür sprach er
in dem briefe an den herzog von Tarent (266, 27) aus. — 249, 19 „Der hofdienst",
beim erbprinzen. — 269, 7 „Hamann". Er sah seine kleine seltene Sammlung Hamann-
scher Schriften durch, zunächst veranlasst durch seine darstellung Herder's im mas-
kenzuge, da Hamann auf diesen einen sehr grossen einfluss geübt hatte.
Die beiden neuen brief bände, welche die jähre 1800 bis 1803 umfassen, ent-
halten mehr als 600 briefe, von denen freilich eine ziemliche anzahl nicht den an-
sprach erheben darf als briefe zu gelten; manche sind amtliche erlasse, geschäftliche
mitteilungen, ja einfach waaren- und bücherbestellzettel und sollten, wie so vieles
in den sogenannten „Lesarten" ihre stelle finden. Von grossem werte ist die dort
gegebene mitteilung von vielen in den briefen ausgefallenen stellen der erhaltenen
concepte, die auch für die lesung von bcdeutung sind, von aktenstücken und brie-
fen oder stellen aus briefen an Goethe. Leider sind mehrere concepte Goethe's durch
einen bedauerlichen zufall bei der Zusammenstellung der briefe übersehen worden,
die erst in einem folgenden bände unter den nachtragen gegeben werden können.
Etwa ein sechstel aller briefe ist an Schiller gerichtet, ungefähr ein drittel dieser
zahl sind an Christiane Vulpius, etwas weniger an Kirms, Voigt und Cotta; nach
ihnen sind herzog Karl August, Zelter, "VV. Schlegel, Eochhtz, Schelling uud Meyer am
stärksten vertreten. Unter den hier zum ersten male gedruckten briefen uelimen die
an Christiane Vulpius die erste stelle ein. AVie in den früheren jähren sprechen sie
die trauteste herzlichkeit aus, besonders zärtlich sind die vom jähre 1803, nachdem
zu ende des vorigen jahres Christiane im Wochenbette schwer gelitten und auch
ihr viertes kind kurz nach der geburt verloren hatte. Als sie im bade Lauchstädt
verweilte, von wo sie den gatten durch ein ausführliches tagebuch erfreute, schrieb er
ihr: „AVie sehr von herzen ich dich liebe, fühle ich erst recht, da ich mich an dei-
ner freude und Zufriedenheit erfreuen kann .... Dass dir alles glücklich von statten
geht, freut mich sehr; du verdienst es aber auch, da du dich so klug und zierlich
zu betragen weisst. Mache dir wegen der ausgäbe kein gewissen! ich gebe alles gern
und du wü'st zeitig genug in die sorglichkeiton der haushaltung zurückkehren ....
Schicke mir mit nächster gelegenheit deine letzten neuen, schon durchtanzten schuhe,
von denen du mir schriebst, dass ich nur wider etwas von dir habe und an mein
herz drücken kann." Die briefe an Schiller sind durch keinen ungedruckten ver-
mehrt, dagegen erhalten wir neue noch unbekannte schreiben an den herzog, meist
vortrage oder amthche mitteilungen, imd auch die ohne adresse überlieferte mittei-
lung 4536 ist, obgleich der herausgeber in zweifei steht, welche AVeimarische oder
Gothaische fürstliche person gemeint sei, entschieden an Karl August gerichtet, den
Goethe auch 4563 „Ew. durchlaucht" anredet. Die falsche datierung wird in den
„ Lesarten " berichtigt. Zwei unbekannte briefe an die herzogin Luise erhalten wir
(4340. 4435), einen an den erbprinzen Karl Friedrich (44S0), drei an den herzog
Ernst IL von Gotha (4263. 79. 83), einen an den prinzen August von Gotha (4174).
ÜBER GOETHES WERKE (WEIM. AUSG.) 369
Zahlreich sind die neuen schreiben an Cotta und die mitteilungen an Voigt und Kirms.
Zwei briefe sind an "W". von Humboldt (4285 und 4316). Durch einzelne oder meh-
rere noch nicht veröffentlichte briefe erfahren wir näheres über Goethe's beziehung
zu so manchen Zeitgenossen, womit ihn die kunst oder das leben in Verbindung
gebracht, oder die er für die fortsetzung der litteraturzeitung gewinnen wollte. Unter
vielem anderen anziehenden erhalten wir jetzt erst die kräftige abfertigung der unbe-
sonnenen beschuldigung von Kotzebue's mutter (4497), welche in den „Lesarten"
wörtlich mitgeteilt wird.
Die beiden brief bände sind noch von Ed. von der Hellen herausgegeben. Die
Vorzüge und die mängel seiner behandlung sind dieselben, die wir an den fräheren
bemerkt haben; fast scheint es, dass jene noch eilfertiger gemacht sind, als diese,
wenn es auch an fleiss und eifer nicht gefehlt hat. Was zunächst den Wortlaut
betrifft, so begegnen wir wider der sonderbaren scheu, den ausfall eines wortes anzu-
nehmen, obgleich dieses versehen so häufig bei raschem schreiben sich einstellt, und
der herausgeber selbst dies an manchen stellen nicht läugnet. Aber lieber nimmt
er zu sonderbaren erklärungen, den härtesten Verschmelzungen seine Zuflucht, als
dass er dieses natürlichsten mittels sich bedient, das er pedantisch schilt, während
dieser Vorwurf vielmehr sein eigenes verfahren trifft. So fehlt offenbar 4267 nach
„ recht wol zu leben " das zeitwort „wünsche " in dieser Goethe geläufigen formel
(man vergleiche nur 4268 und 70), aber es wird als „'nicht unbedingt notwendig"
abgelehnt. Dass 4274 nach „herrn professor" der name Meyer ausgefallen ist, wird
übersehen. In den eiligen zeilen an Schiller 4356 heisst die hinzufügung eines „Ih-
nen" vor „zusende" (dorthin gehört es) „pedantisch". Freilich fehlt es in allen
drucken. Eichtig ist dagegen 4555 „mir", das auch noch bei Vollmer fehlt, zuge-
setzt, doch würde ich es lieber vor „wie" als vor „nur" einschieben. Seltsam ver-
läugnet der herausgeber dieses „mir" in der anmerkung zu s. 112, 15, wo er gerade
diesen von ihm selbst verbesserten ausfall als begründung dafür anführt, dass er
dort das nicht in der handschrift stehende, mit recht in den drucken eingeschobene
„darum" wider entfernt hat. '4617 (s. 178, 18 fgg.) nimmt er wider seine beliebte
Verschmelzung an, aber vielmehr ist das aus versehen nach „einsieht" ausgelassene
„zeugen" einzusetzen. Zu den Worten des briefes an Cotta 4620: „Andere kleinig-
keiten nicht zu gedenken" stimmt nicht die bemerkung der lesarten: „Andere nicht
unmöglich". An einer von beiden stellen muss „andere" druckfehler für „anderer"
sein, das den vorzug verdient. 4714 wird die Schreibung „widerstrebenden und
-streitenden nachrichten" verworfen, weil dann „widerstrebenden" neben „widerstrei-
tenden" tautologisch wäre, als ob zwei mit derselben präposition zusammengesetzte
Zeitwörter deshalb tautologisch wären. 4723 (306, 5) wird wirklich „zu" eingescho-
ben, doch auch die möglichkeit behauptet, statt dessen in der vorigen zeile „und"
für „um" zu lesen: aber diese mögliehkeit trifft die Wahrheit! Einige der Verbesserungen
des herausgebers liegen ganz auf der band, wie 4465 „verstand" statt „verstanden",
4552 „ein" statt „einen", 4682 der name „Dürrbaum" statt „Dürrbein", wogegen die
gemeine form des namens „Slevoigt" 4469 nicht unberichtigt bleiben durfte. Auch
die Umsetzung einer bedeutenden stelle in dem briefe an Schlegel (4747), den man
bisher an Iffland geschrieben glaubte, trifft zu, wogegen es ungegründet scheint, dass
man 4275 die werte „ dient folgendes Schema " nach „ mitgeteilt worden " erwarte.
Haltlose kritische einfalle begegnen uns mehrfach. 4272 soll in den werten: „Übri-
gens habe ich noch viele menschen gesehen", vielleicht „auch" statt „noch" zu lesen
sein. Aber „noch" geht auf die tage, welche er bis dahin in Jena verlebt hatte;
ZEITSCHRIFT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XXVIII. 24
370 DÜNTZEB
freilich ist es etwas überlästig, aber nach „übrigens" nicht so auffallend wie ,,auch''
sein würde. — Zu 4297 lesen wir: „Jeder" (122, 5) in „jener" zu ändern, läge
nahe, zumal der brief keine spur Goethischer durchsieht zeigt." Und doch ist diese
Vermutung nur bei völligem missverständnis möglich. Goethe rät Schiller vom Stu-
dium des griechischen ab, woran er als dichter „sich wenig erbauen" werde, weil
„das stoffartige jeder spräche, sowie die verstandesformen zu weit von der Produk-
tion abstehen". Es liegt ihm durchaus fern, dies gerade von der gi-iechischen spräche
insonderheit zu behaupten, er spricht vom grammatischen Studium überhaupt. —
4484 „Sie sind alle ohnehin so geschäftig." Die Vermutung „beschäftigt" ist ganz
haltlos, da Goethe auch sonst „geschäftig" in diesem sinne braucht. — 4505 „Dieser
komposition durch alle ihre teile zu folgen und sie sich wirklich als im ganzen zu
denken." Hier muss „im ganzen" verhört sein für „ein ganzes". — Ganz absonderlich
erscheint 4526 die Vermutung „konstituiert" für „konstruiert": das ist eine durch
nichts begründete entstellung des ganz gehörigen bildlichen ausdruckes. — 4535 spot-
tet das vom herausgeber nicht beanstandete „zu unserer (einer?) gefälligen aufnähme"
jeder deutung. — 4601 „Anhängebogen" wird für das ganz richtige „aushängebogen"
ohne jede rücksicht auf den Zusammenhang vermutet, weil am Schlüsse des briefes
auch der beabsichtigte „anhang" erwähnt wird. Verfehlt sind auch die vorschlage,
4666 „und" statt „und" und 4782 „einige" statt „eigne" zu setzen. An ein paar
stellen wären begründete Vermutungen wol an der stelle gewesen. 4462 finden wir
den ausdruck „stempeln" von den gemmen anstössig; Goethe hatte wol steinen
diktiert, vielleicht auch im abgeschickten briefe wirklich verbessert. Am ende von
4607 muss es „bogens" statt „bogen" heissen, 4659 „anregung" statt „anreguugen",
4710 (289, 20 fg.) „umsehen" statt „umher sehen", wie es richtig vorher und 4713 steht.
Bei mehreren briefen sind die namen der adressaten oder das datum vom her-
ausgeber richtiger bestimmt. Aber sehr zu bedauern ist es, dass er meine von Voll-
mer aufgenommene richtige datierung des briefes an Schiller 4376 nach seiner fal-
schen Vermutung willkürlich entstellt hat. Freilich trägt der brief, wie in den frü-
heren drucken, auch in der Urschrift, die Vollmer nicht vorlag, erst durch eine
Schenkung Biu'khardt's in das Goethearchiv gekommen ist, nach der Versicherung des
herausgebers das falsche datum des 6. märz 1800. Die Jahreszahl ist offenbar falsch,
der märz ein bekanntlich auch in Goethes briefen häufiges versehen, da im anfange
des monats der gewohnte, eben verflossene monat statt des laufenden steht. Der
herausgeber mutet uns im ernste zu, den 6. märz für eine Verwechselung mit dem
3. oder 4. april zu halten, und zu glauben, Goethe habe „mechanisch" das datum
unter den brief gesetzt, das er zufällig auf einem vor ihm liegenden Schriftstück
gesehen! Eine solche abenteuerliche unglaublichkeit würde man sich kaum gefallen
lassen, wenn der 6. april wirklich unmöglich wäre, aber nicht dieser ist es, son-
dern der an dessen stelle vermutete 3. oder 4. Wenn Goethe schreibt: „Möchten
sie mich wol donnerstag mit professor Meyer besuchen?" so kann nur ein donners-
tag derselben woche gemeint sein. Der brief ist an einem montag, dem 6. april
geschrieben, nicht am freitag oder Sonnabend der vorhergehenden woche; er ist offen-
bar ei-widerung auf Schiller's brief vom 3., worin dieser seine i-ückkehr nach "Wei-
mar und seine hoffnung meldete , in vierzehn tagen mit seinem neuen trauerspiel fer-
tig zu sein. Wenn Goethe Schiller's fragen, die er hier beantwortet, dessen letztem
briefe zuschreibt, so ist das nur ein leicht erklärliches versehen, das gegenüber der
deutlichen beziehung auf Schiller's brief vom 3. april und dem feststehenden 6. kei-
nen zweifei begründen kann. — Die bemerkung, das datum von 4597 schwanke, da
ÜBER GOETHES WERKE (WEIM. AÜSQ.) 371
nicht feststehe, ob Goethe's kind am 16. oder 18. december geboren sei, ist nicht
richtig, da der 16. feststeht. — Mit recht hebt der heraiisgeber den widersprach des
datums von 4428 mit dem tagebuch hervor, wonach Goethe am 24. Oktober 1801,
der hier überliefert ist, nicht in Jena, sondern in "Weimar war, er weiss sich aber
nicht zu helfen. Die jalireszahl hat v. Loeper ohne allen zweifei verlesen. Der brief
ist sieben jähre zu früh gesetzt, er gehört in das jähr 1808. Goethe war seit dem
19. Oktober 1808 zu Jena, von wo er am morgen des 24. nach "Weimar fahren woUte,
um an der widereröffnung der löge Amalia teilzunehmen, aber die künde, dass die
herzogin nach Jena kommen wolle, um die museen zu sehen, hielt ihn zurück. So
erklärt sich das billet, in welchem die buden auf den Jahrmarkt deuten; dass das
jähr 1801 nicht richtig sein könne, musste das tagebuch den herausgeber lehren,
welches den in rede stehenden besuch der herzogin am 24. Oktober 1808 meldet. —
4603 durfte nicht vor einen brief des 3. Januar gesetzt werden, er gehört nach der
mitte oder gegen ende des monats, wo Goethe morgens meist mit dem „anhang" zu
Cellini beschäftigt war.
Die in den „Lesarten" gegebenen erläuterungen bieten uns aus den schätzen
des Goethearchivs manche höchst willkommene belehrung, besonders die aus akteu-
stücken und aus an Goethe gerichteten briefen, von denen leider nicht immer die
betreffenden stellen wörtlich angeführt sind. Zu weit getrieben ist die Verweisung
auf andere stellen aus büchern; häufig starren uns die gespenster von Seiten- und
Zeilenzahlen beängstigend an, wo man ein lebendiges wort über die sache verlangt;
nicht selten erweisen sich die anführungen als nichtssagend. Besonders unnötig und
lästig ist der ganze schwärm stellen, wo ein bestimmtes werk Goethe's in den briefen
erwähnt ist; diese angaben gehören in das verheissene register. Auch die verweise
auf die „AUgemeine deutsche biographie" wären zu sparen, dagegen kurz anzugeben,
was aus dem leben der betreffenden personen zum Verständnis der einzelnen stelle
von bedeutung ist. Auch in unsern bänden fällt die Ungleichheit der behandlung auf.
Oft könnte mit drei werten auf eine stelle licht geworfen werden, bei welcher der
leser vergebens hülfe sucht. Freilich wird mehrfach die beziehung nicht mehr zu
entdecken sein, aber umfassendere kenntnis löst manches scheinbare rätsei. Unter
den sehr willkommenen lösungen ist uns am willkommensten, dass 4227 unter den
„famosen sonetten" von Übersetzungen der sonette des Pietro Aretino die rede ist,
wie Schlegel's antwort zeige, aber ungern vermisst man die wörtliche anfühmng der
betreffenden äusserung. Die Verweisung auf die briefstelle, wo Schlözer der deutsche
Aretin heisst, tut nichts zur sache. Zu erwähnen wäre gewesen, dass man bisher
das erste der „famosen sonette" mit dem bekannten sonett in Schillers brief an Goethe
vom 7. december 1799 in Verbindung brachte, und dass von Ai'etin's Übersetzung
keine spur sich erhalten hat.
Zur ergänzung und berichtigung geben wir hier einige bemerkungeu. 4179
(der brief wird richtig als an Voigt geschrieben bezeichnet) sind die „turpia facta
der Hoch- und Wolgeb." auf dasjenige zu beziehen, was Schiller vom neuen club der
adlichen und bürgerlichen, der einen gesellschaftsabend am 2. Januar gehalten,
vernommen, wenn nicht selbst erlebt hatte. Es sind wol recitatiouen und aufführun-
gen gemeint, in denen damals selbst ältere damen sich gefallen hatten, worüber
Knebel's brief an Herder' s gattin vom 23. Januar berichtet, den der herausgeber neben
dem briefe der letzteren hätte anführen müssen. Schiller, der am abend des 7. mit
Voigt bei Goethe gewesen, hatte sich in gewaltiger aufregung über diesen dilettan-
tischen unfug ausgelassen. Goethe scherzt in diesem briefe, er wolle doch heute
24*
372 DÜNTZER
sehen, ob dessen Unwillen sich beruhigt habe. — 4181 Der „bogen" war ein beson-
derer abdruck des letzten aufsatzes des heftes der „Propyläen" (III, 1): „Einige
scenen des Mahomet nach Voltaire von dem herausgeber". — Zu 4182 hätte der
Vorname der Schauspielerin Caspers angegeben werden sollen, da später auch ihre
jüngere Schwester als Schauspielerin zu Weimar auftrat. • — 4184 Bei den „Künsten
des liei'ru von Eckardtshausen" genügte nicht die Verweisung auf die „ Allgemeine
deutsche biographie". Ich habe schon 1859 den im „Reichsanzeiger" nr. 3 dieses
Jahres abgedruckten „Avis" des grafen Karl von Eckardtshausen angeführt, auf den
Goethe hier zielt, und eine darauf bezügliche äusserung Knebels. — 4202 „Schillers
übel", das nervenfieber, das ihn am 16. befallen hatte, erst nach zehn tagen wich,
und ihn lange schwächte. — Zu 4285 wird behauptet, Goethe habe Humboldt über
die absieht, die „Propyläen" eingehen zu lassen, im dunkel gelassen. Aber er dachte
an die möglichkeit, dass sich der absatz heben werde, ja noch im briefe au Cotta
vom 25. Januar 1802 ist von einem einstweiligen pausieren die rede. — 4228 nmsste
erwähnt werden, dass die Nemesis wirklich nicht als titelbild, sondern als Vignette
des titelblatts erschien; die zuletzt übersandte Zeichnung bezog sich aui die „Braut
von Korinth" und fand bei dieser auch ihre stelle. — 4247 Den domänenrat „Haii-
mann" hatte Goethe schon 1779 kennen gelernt, wo er dem herzog und ihm viele
gefälligkeiten erzeigte, ihn auch 1797 widergesehen. Hier hätte auf VII, 358 verwiesen
werden sollen. Dagegen hatte er den mediziner Autenrieth (4248) auch 1797 nicht
kennen gelernt; dessen söhn wurde ein anhänger seiner metamorphosenlehre. — Bei
der datierung von 4282 vergisst der herausgeber Goethe's ihm sonst bekannte gewohn-
heit, auch in Jena oder auf seinem gute zu Oberrossla geschriebene briefe, beson-
ders geschäftliche, von Weimar zu datieren. Der betreffende brief könnte als sehr
dringend noch am abend des 8. in Oberrossla geschrieben sein', aber möglich ist auch,
dass die angäbe des 8. statt des 7. ein versehen ist, undenkbar dagegen des heraus-
gebers annähme, es sei der tag der absend ung gemeint. — 4338 deutet die „phi-
losophisch-artistische gesellschaft" auf die anwesenheit von Schelling und Meyer. —
4313 ist bei der „alten jenaischen karthaus" nicht etwa an ein so genanntes gebäude
zu denken, sondern „karthause" bezeichnet, wie „kloster", die einsamkeit. — Zu
4337 durfte nicht die grosse Vertrautheit von N. Meyer in Goethe's hause übergan-
gen werden, deren ich in meinem „Leben Goethe's" gedacht habe. — 4349 musste
bei der missbräuchlichen form Starke der ähnlichen unart des gewöhnlichen gebrauchs
bei einsilbigen namen gedacht werden , wie auch bei dem maier Kraus. Durchgängig
war die richtige form herzustellen. — 4384 genügt die angäbe, der junge mann
habe Schmidt geheissen (wir wissen genaueres von ihm selbst), durchaus nicht,
ebensowenig wie 4389 die bezeichnung des „herrn Rabe" als „kondukteur, den Gentz
mitbrachte". Gentz hatte bereits im november 1800 Friedrich Rabe als kondukteur
vorgeschlagen und der herzog dessen ankunft schon im Januar erwartet. — 4420 ist
verschwiegen, dass die „ physiognomischen regeln" von Lavater sind, was sich
freilich aus der stelle des tagebuchs ergibt, deren Wortlaut nicht angegeben ist.
Goethe besass sie als ein geschenk Lavaters. Der druck im folgenden jähre ist
nicht durch Goethe veranlasst. — 4436 ist die „einzustudierende oper" ohne zwei-
fei eine komposition von Reichardt selbst. Die Unmöglichkeit, sie zu der von
Reichardt gewünschten zeit aufzuführen , ergab die beigelegte nachricht von Kirms. —
4433 bezieht sich offenbar auf die aussetzung des zweiten mittwochkränzchens
wegen der in Weimar herrschenden masern. Der herausgeber sagt darüber kein
wort. — 4445 „Im felde". Den major (von) Gualtieri hatte Goethe ohne zweifei
ÜBKR GOETHES WERKE (WEIM. AUSG.) 373
beim zuge in der Champagne kennen gelernt, und wol bei der belagerung von Mainz
wider gesehen.
4468 Es scheint nicht bloss, wie es s. 406 heisst, dass Goethe's August im
maskenzuge auf der geburtstagsredoute als Amor erschien, wir wissen, wie sehr
frau von Stein sich darüber ärgerte, dass Goethes unehelicher knabe als geflügelter
Amor im zuge herumgetragen wurde, und zuletzt die schönen stanzen der herzogin
überreichte. Vgl. meine „Charlotte von Stein" U, 146 fg. Schon im juli 1799 war
August in dieser Verkleidung bei dem mahle erschienen, das Goethe der frau von La-
roche gab. — 4480 Irrig wird bemerkt, das von Goethe versprochene gedieht sei am
9. februar, dem geburtstage des prinzen, aufgeführt worden. Der prinz war am 2.
geboren, das gedieht ward am 27. geschrieben, auf der redoute des 30. nicht „auf-
geführt", sondern von dem als Amor verkleideten August überreicht. "Was wirklich
in dem briefe Augusts an den vater vom 10. steht, aber vom herausgeber, der sich
darauf beruft, ohne den Wortlaut anzuführen, missverstauden sein muss, errate ich
nicht. — Die zu 4494 vermutete Verschiebung einer angäbe des tagebuchs ist unwahr-
scheinlich, viel eher anzunehmen, dass die erwähnung dieses abendbesuches zufällig
im tagebuche oder im abdrucke desselben ausgefallen, da am anderen tage des abends
gar nicht gedacht wird; am ncächsten liegt es, den ausfall der werte „abends Schel-
ling" am 16. (möglicherweise erst im drucke) zu vermuten. — 4.506 „Einige frauen-
zimmer", besonders frau Hufeland und frau Paulus. — 4523 „Veränderung des quar-
tiers", der umzug aus der bisherigen mietwohnung in das angekaufte haus von Mel-
lish auf der esplanade. — So ganz un veranlasst wie seltsam finde ich es, wenn 4558
zur hoffnung, „eine freundschaftliche geselligkeit des winters werde ihn manchmal
wider in einen lyrischen zustand versetzen", die bemerkung gemacht wird : „als ersatz
des gesprengten cour d'amour". — 4580 Zur erwähnung des „heiTn von Zimmer-
mann" wird gefragt: „Ein söhn des 1795 verstorbenen Hannoverschen leibarztes?"
"Wir wissen, dass dessen einziger söhn Jacob längst vor ihm gestorben war. Da der
fürst Galizyn in Braunschweig lebte, imd Zimmermann dazu beigetragen, dass dieser
seine mineralogische Sammlung nach Jena schenkte, so denkt man von selbst an den
Braunschweiger leibarzt Eberhard August Zimmermann, mit dem Goethe als anato-
tomen in den achtziger jähren in Verbindung gestanden. Auch ist es nicht auffallend,
dass Voigt diesem noch nicht im namen des herzogs gedankt hatte, weU. er seinen
damaligen titel nicht kannte. — 4581 Die bronze des „Merkur" ist wol das 2^j^
zoll hohe figürchen des auf einem f eisen sitzenden gottes bei Schuchardt „Goethe's
Sammlungen" H, 12, 28. — 4598 „Heute abend hoffe ich zu kommen", in den club,
den „freundschaftlichen zirkel", wie er 4632 s. 192, 5 heisst, die ressource. — 4615
"Wenn zu der „Indisposition" Goethe's bemerkt wird, ausser dem briefe des herzogs
vom 2. Januar finde sich von diesem „anfall" keine spur, so handelt es sich hiervon
keinent anfalle, aber seit dem 2. januar fühlte Goethe sich fortdauernd so unwol,
dass er das zimmer den wiuter nicht mehr verliess. Davon zeugen besonders das
tagebuch und briefe von Vulpius, imd aus jeder eingehenden lebensbeschreibung war
das genauere leicht zu ersehen. — 4627 Zu 191, 4 war der tenorist Brand zu nen-
nen, nicht auf die spätere anmerkung zu verweisen; die erläuterung muss, was mehr-
fach übersehen ist, an der stelle stehen, wo der sache zuerst gedacht wird. Übri-
gens hat der herausgeber nicht gewusst, dass dieser Brand von Goethe's mutter
empfolilen war. Er ist der junge tenorist, dessen sie, ohne seinen namen zu nen-
nen, am 18. februar 1803 gedenkt und unter seinem namen am 20. juli 1804. Er
kam von "Weimar an das hoftheater zu Kassel. — 4645 schwebt bei der anfrage an "
374 DÜNTZEB
die Jagemann, wie sie nach ihrem gestrigen auftreten iu der „Natürlichen tochter"
geschlafen hahe, hei der hezeichnung „auf ihre gestrigen reisen aus leidenschaft" ein
launiger ausdi"uck des vor kurzem in AYeimar gewesenen Friedrich Gentz vor, er
reise aus leidenschaft. Vgl. 4647 s. 212, 15 fgg. Freilich sieht man nicht recht,
wie dies auf Eugenicn passe, welche im stücke gar nicht aus leidenschaft reist. —
Im anfang des briefes an Schüler vom 13. mai (4056): „So überrascht uns denn
doch das jüngste gericht", sieht der herausgeber im ernste „eine scherzhafte Wen-
dung" für- Cotta's auf den 21. mai angekündigten besuch! "Wie das folgende „Zu-
gleich" zeigt, bezieht sich die äusserung wol auf eine mitgeschickte schrift, die über
die beiden Weimarischen dichter hei-fiel, wenn es nicht ein angriff in einer zeitung
war. Unter dem gleichzeitig ziu' beurteiliing gesandten „Nepotian" (es hätte sich
doch verlohnt, zu bemerken, dass das drama den raschen stürz eines römischen kai-
sers darstellte) versteht der herausgeber das stück, das der Berliner prof. Levezow
zu erhalten gewünscht. Goethe verspricht im briefe 4689 ihm den wünsch zu erfül-
len, sobald es „wider zu hause" sei. Es handelt sich hier offenbar nicht um ein
fremdes stück, das sein Verfasser zurückverlangt, sondern Levezow hatte ihm ein
sehr erfreuliches urteil über seine in Berlin aufgefühiie und durchgefallene „Natür-
liche tochter" geschrieben und das noch ungedi-uckte stück zu lesen gewünscht. „Ich
wünsche nur", heisst es in dem ausserordentlich freundlich geschriebenen briefe,
„dass nähere bekann tschaft [des Stückes] die lebhafte teilnähme nicht vermindern
möge, wodurch Sie mir eine so besondere freude gemacht haben." Nach dieser auf-
fassung des briefes gewinnt er ganz besonderen wert. — Wenn zu 4662 phantasieii
wird, die AVeimarer dioskuren hätten die aufführung von Klopstock's „Hermanns
Schlacht" wol als eine totonfeier Klopstocks geplant, so kann der heraus-
geber deren Stimmung gegen den hamburger patriarchen und Goethe's aufsatz „Ein
Vorsatz Schillers" nicht gekannt haben, aus welchem hervorgeht, dass die beiden
dichter ein klassisches deutsches repertorium beabsichtigten, wobei sie auf Klopstock
zurückgreifen wollten. — 4669 „Dem fünften", wahrscheinlich dem Uede „General-
beichte", da die folge der üeder des „Taschenbuchs" kaum verändert sein wird. —
4673 hätte doch wol kurz bemerkt werden sollen, dass „Ernestiue" die jüngere halb-
schwester Chiistianens war, die, wie auch die alte taute Juhane Vulpius, in Goethe's
hiüterhause wohnte und starb. — A^on 4674 heisst es: „Bisher auf die farbenlehre
bezogen", und es werden dann ein paar stellen angezogen, die ganz verschiedener
art sind. Es handelte sich um seine so oft schon angegriffene einleitung in die far-
benlehre. — 4682 „August setzt sich nun in die Leuzischen stunden." Er besuchte
die mineralogischen Vorlesungen von Lenz, da diese Wissenschaft um schon seit 1801,
wo Blumenbach in Göttingen ihn dafür gewonnen hatte, lebhaft ansprach. — 4683
Zu äug eichen hätte wenigstens auf die anmerkimg zu 2936 verwiesen werden sol-
len. Äugelchen ist ein Christianen geläufiger und von Goethe übernommener aus-
druck für „verliebte äugen". — 4719 „In so bedenklicher zeit", da Hannover von den
Franzosen besetzt war und unter argen kriegssteuern litt. — 4743 „Eines so unwür-
digen blattes." Kotzebue's blatt „Der freimütige" ist gemeint. — 4791 Den adressaten
des briefes, wovon nur das concept vorhanden ist, wagt der herausgeber nicht zu
bestimmen; uns scheint, dass es sehr wol der gymnasiaUehrer Delbrück in Berlin
gewesen sein könne. Die äusserung „Die natürliche tochter" sei schon an einen recen-
senten verteilt, scheint nur eine ausrede, um den Berliner professor abzulehnen.
Man wusste eben nicht, wem man sie „bei dem seltenen charivari im deutschen
publikum" geben solle. Dem befreundeten Kochlitz in Leipzig wollte Goethe sie
ÜBER GOETHES WERKE (VVEIM. AUSG.) 375
nicht geradezu anbieten, doch bat er diesen um das blatt, das er früher ihm von
Berlin aus darüber geschrieben. Aber der „faule Eochlitz" hielt sich zurück. Als
sich dann Schaumann in Giessen dazu anbot, meinte Goethe, Eichstädt solle die beur-
teilung diesem anbieten, da er nach seinen briefen ein sehr gesetzter mann sei, und
rücksicht darauf nehmen werde, dass Goethe in nahem Verhältnis zu Eichstädt's Zei-
tung stehe. Aber Schaumann's anzeige fiel so lobrednerisch aus, dass sie unmöglich
iu der von Goethe abhängigen zeitung erscheinen konnte. Da Delbrück's mittlerweile
gelieferte anzeige von Schillers „Braut von Messina" zu den von Schiller und Goethe
gehegten grundsätzen stimmte, sollte Eichstädt jetzt diesem auch die beurteiluugen von
Goethes neuer tragödie und dem „Alarkos" von Fr. Schlegel auftragen, und ihm zu-
gleich mitteilen, weshalb sie die früher, freilich erst nach seinem anerbieten, einem
anderen beurteiler aufgetragene anzeige nicht aufnehmen könnten. Dass er früher von
einem Berliner gymnasiallehrer keine vorurteilsfreie Würdigung des in Berlin von sei-
nen dortigen mächtigen gegnern ausgepochten Stückes erwartet hatte, trotz seiner
Versicherung, Delbrück's Überzeugung stimme mit der diesseitigen ansieht überein,
wäre leicht erklärlich. Wie es mit dem früher von einem anderen Berliner professor
gefällten günstigen urteil über „Die natürliche tochter" (vgl. zu 4056 s. 374) sich
jetzt verhalten, wissen wir nicht. Delbrück lieferte eine würdige anzeige der tra-
gödie im folgenden jähre, die Hallische litteraturzeituug hatte vorher das voUe hora
der bitterkeit über sie ergossen.
KÖLN. H. DÜNTZER.
Deutsche Phonetik. Von Otto Bremer. [A.u.d.i: Sammlung von grammatiken deut-
scher mundarten L] Leipzig, Breitkopf &Härtel. 1893. XXIII , 208 s. u. 2 taf. 5 m.
Von allen autoren, welche lehrbücher der phonetik herausgegeben haben,
hat Bremer wol den weitesten gesichtskreis. Techmer, in seiner phonetik, hat
zwar von allen selten her material zusammengebracht, aber er hat das gelesene
nicht verdaut. Er berichtet ausführlich über unwesentliche dinge, während wichtige
tatsachen nicht genügend hervorgehoben werden.
Bremer's hauptverdienst liegt darin, dass er die einseitigkeit der — auch in
Deutschland sehr verbreiteten — sogenannten englischen schule vermeidet. Diese
schule klassificiert bekanntlich die sprachlaute fast ausschliesslich nach der art ihrer
erzeugung, vernachlässigt dagegen das Studium des akustischen effekts. Die kenntnis
der erzeugungsweise ist ohne zweifei notwendig und nützt uns vor allem bei der
erklärung des lautwandels, wie er sich bei einem individuum oder innerhalb einer
bestimmten generation vollzieht. Der akustische effekt ist schon bei dieser art laut-
wandel nicht ohne bedeutung, wirkt aber meistens im konservativen sinne. Wenn
die spräche auf eine jüngere generation übertragen wird, so bilden die akustischen
eigenschaften der laute das entschieden wichtigste moment. Die kinder lesen uns
nicht die spräche von den lippen ab, sondern sie sprechen, was sie hören —
oder vielmehr wie sie hören. Da grosse abänderungen der artikulation manchmal
keinen auffälligen Wechsel des klanges hervorrufen, so ist es klar, dass die Überliefe-
rung der artikulationsformen keineswegs sichergestellt ist. Bremer ist also in seinem
vollen rechte, wenn er mit rücksicht auf die relative Wichtigkeit von klang und arti-
kulation den gehörten laut als das prius bezeichnet, die art der erzeugung als das
posterius.
In seiner Opposition gegen die „genetiker" steht Bremer nicht allein, ist auch
nicht der Urheber dieser Opposition. Dagegen ist Bremer (nach dem datum des vor-
376 PIPPIiNG , ÜBER BREMER, DEUTSCHE PHONETIK
Wortes zu urteilen) der erste, -welcher hervorgehoben hat, class ein lautwaudel zu stände
kommen muss, weil die kleineren dimensionen der kindlichen mundhöhle artikidatio-
nen bedingen, welche von denen der eitern abweichen (vorwort s. XVIj. Diese tat-
sache ist schon von Helmholtz hervorgehoben worden; ihre bedeutung für den
lautwaudel wm-de aber dreissig jähre lang übersehen.
Diesen neuen anschauungen hat Bremer in seinem lehrbuche sorgfältig rech-
nung getragen, und er hat das ganze material mit grosser Selbständigkeit durch-
gearbeitet.
Viel mühe hat dem Verfasser der „Deutschen phonetik'' die ausarbeituug der
vokallehre gekostet. Er scheint seine bestimmungen der vocaltöne teils durch
beobachtung der Üüstersprache , teils mittels der stimmgabelprobe gemacht zu haben
(nähere berichte werden in aussieht gestellt). Beide methoden sind von vielen for-
schem versucht worden, meist aber mit massigem oder geringem erfolge. Um so
überraschender ist es, dass Bremers resiütate im ganzen sehr zuverlässig zu sein
scheinen: die Übereinstimmimg zwischen seinen charakteristischen tönen und den mit-
tels graphischer methoden gefundenen ist eine auffallend gute. Bremer hat offenbar
ein ungewöhnlich feines gehör.
Bremer bezeichnet seine „phonetik" als eine praktische, und mit recht; denn
er vermeidet grundsätzlich die besprechung physikalischer und physiologischer fra-
gen, welche beim Unterricht eine untergeordnete rolle zu spielen scheinen, auch in
fällen, wo der besprochene gegenständ durch eine mehr eingehende behandlung an
reiz gewonnen hätte. Weit davon entfernt dieses vorgehen zu tadeln — jeder hat
ja das recht seine aufgäbe nach belieben zu wählen und zu beschi'änken — , muss
ich doch mit bedauern hervorheben, dass Bremer's aufschlüsse über physiologie und
physik durch ihre knappheit manchmal irreführend werden. Die Spannung der Stimm-
bänder (s. 23) wird nicht ausschliesslich, kaum einmal vorwiegend durch Vorwärtsbewe-
gung des Schildknorpels bewirkt. Die stärke des Schalls (s. 39) hängt auch von ande-
ren faktoren als der Schwingungsweite ab. Falsch ist ferner Bremer's behauptung
(s. 39), dass die erscheinungsformen des Schalls entsprechend den verschiedenen
Schwingungsformen verschieden seien. Es können sehr verschiedene Vibrationsformen
genau denselben klang geben, und genau dieselbe vibrationsform kann, wo die
Schwingungszahl wechselt, sehr verschiedenartige klänge erzeugen.
Der gefährlichste fehler Bremer's ist in seiner besprechung der resouanz-
er scheinungen zu finden (s. 114, 124, 164). Bremer stellt die behauptung auf,
dass bei relativ kurzen resonanzräumen die Verringerung bezugsw. vergrösserung des
Volumens die höhe des resonanztones in ganz verschiedener richtung beeinflussen
müsse, je nachdem der vordere (der Öffnung zugekehrte) oder der hintere teil des
raumes von der Veränderung betroffen wird. Durch versuche mit einem blechreso-
nator, den man zum teil mit brotteig ausfüllt, kann sich jeder die Überzeugung ver-
schaffen, dass der resonanzton steigt, ob der resonator vorne oder hinten gefüllt
wü"d; und dass der ton immer sinkt, wenn die füUung weggenommen wird. Natür-
lich muss man sich bei diesen versuchen davor hüten, die Öffnung zu vergrössern,
zu verengern oder auch nur zu beschatten.
Wenn ich noch auf die geradezu verblüffende definition des schalls hinweise,
welche s. 39 zu finden ist», darf ich wol die meinung aussprechen, dass Bremer's
1) ,,Der schall", sae;t Bremer dort, ,,ist wie das licht eine wellenartige Bewegung der luft".
Die richtige definition des schalls wurde von Newton gegeben. Vgl. Hensen, Physiologie des ge-
hörs s. 4.
BINZ, ÜBER SEILER, DEUTSCHE LEHNWÖRTER 377
buch als leitfaden für kritiklose anfänger nicht unbedingt zu empfehlen ist. Ein fach-
raann dagegen wird es nie bereuen, wenn er der .,Deutschen phonetik" ein sorgfäl-
tiges Studium widmet. Bremer bietet uns vieles neue, und auch das alte erscheint
uns dank der selbstäudigen behandlung sehr oft in einem neuen lichte.
HELSINGFORS. HUGO PIPPING.
Die entwicklung der deutschen kultur im Spiegel des deutschen lehn-
■worts. Von Frie«lrich Seilei*. 1: Die zeit bis zur einführung des Christentums.
Halle, buchhandlimg des Waisenhauses. 1895. 99 s. 1,50 m.
Die aus fremden sprachen in das deutsche aufgenommenen lehnwörter zu sam-
meln, chronologisch und sachlich zu sichten und als grundlage einer skizze der ent-
wicklung deutscher kultur zu verwerten, ist eine verlockende und — wenigstens für
die ahd. zeit — nicht zu grosse aufgäbe. Das material liegt ja besonders in den
arbeiten Kluge' s, der auch schon in der einleitung zu seinem etymologischen wör-
tei'buche die dabei zu verfolgenden gesichtspunkte kurz und ti'eifend angedeutet hat,
zur vei-wendung bequem bereit. Was uns nun Seiler in der vorliegendeu schrift
bietet, ist darum weniger eine vermehrang des schon vorher ziemlich vollständig
gesammelten steifes , als vielmehr eine an weitere kreise der gebildeten sich wendende,
klare und gefällige darlegung derjenigen fremden einflüsse auf die deutsche kultur,
die sich aus den lehnwörtem erschliessen lassen.
Der vorliegende erste teil betrifft nur die zeit bis zur einführung des Chri-
stentums. Nach einer auseinandersetzung über die kriterien, die eine zeitliche
Scheidung der fremdwörter ermöglichen, (bedeutung der hochd. lautverschiebung,
reconstiaiction der zu gründe liegenden fremden lautgestalt, gemeinsamkeit des
besitzes der festländischen Germanen mit den frühe abgetrennten Angelsachsen),
werden ■ — abgesehen von einigen aus früher vorgeschichtlicher zeit stammenden
entlehnungen wie pfad, silber, pflüg, hanf^ schiff, rübe^ äffe usw. — zwei haupt-
gruppen von lehnwörtern unterschieden: 1) die keltischen und 2) die ungleich
wichtigeren römischen. In der von den Eömern ausgehenden civiUsiening der Ger-
manen lassen sich widerum zwei, freilich nicht scharf von einander zu trennende
abschnitte sondern: im ersten verhalten sich die Germauen den fertigen fremden
Produkten gegenüber rein receptiv, im zweiten schwingen sie sich zu selbstän-
diger nachahmung und reproduction derselben auf. In lebendiger und anziehen-
der weise verfolgt nun der Verfasser diesen einfluss der Eömer und die dadurch her-
vorgerufene aUmähhche völlige Umgestaltung des deutschen lebens auf allen gebieten
der materiellen und geistigen kultui', in kriegswesen, recht, handel, ackerbau, land-
wirtschaft, bau und einrichtung von haus und hof, in handwerk und gewerbe; er
fasst diese entwicklung auf „als eine vollständige revolution des häuslichen und wirt-
schaftlichen lebens der nation, welche durch sie den Übergang von einem natur-
zum kultiu'volk voUzog" (s. 84). Zuletzt kommen noch die griechisch -latei-
nischen lehnworte an die reihe, welche den einwirkungen des arianischen christen-
tumes und vielleicht der römisch -fränkischen kirche aus früherer zeit entstammen.
Die hauptmasse der kirchlichen fremdwörter strömt dem deutschen erst mit der
ausgedehnten missionsarbeit der Ii-en und Angelsachsen zu; ihre behandlung wird
daher erst im zweiten teile platz finden. Den beschluss macht ein alphabetisches
Verzeichnis der besprochenen lehnwörter.
Man wird dem Verfasser das Zeugnis nicht versagen dürfen, dass er seine
aufgäbe mit geschick gelöst hat; wenn die rücksicht auf einen grösseren, nicht mit
378 BINZ, ÜBER SEILER, DEUTSCHE LEHNWÖRTER
allen einzelheiten der vergleichenden si)rachwissenschaft vertrauten leserkreis wol
Me und da den Verfasser zu einer bestimmteren formulierung seiner meinung veran-
lasst hat, als dies der stand der forschung erlauben möchte, so wird man ihm daraus
keinen Vorwurf macheu wollen. Im einzelnen wird sich gegen manche behauptung
Widerspruch erheben lassen; diesem ausdruck zu geben, ist jedoch hier nicht der
platz. Nur zwei beraerkungen allgemeinerer natur kann ich nicht ganz unterdrücken.
Einmal ein methodisches bedenken: es ist mir zweifelhaft, ob wir jedes mal, wo wir
ein fremdwort eindriagen sehen, auch wirkHch entlehnung oder wenigstens vom aus-
lande veranlasste wesentliche Verbesserung und verfeinenrng des damit benannten
gegenständes annehmen dürfen. Es scheint mir, es könne schon in früher zeit
so gut wie heute in den feineren oder feiner sein wollenden kreisen zum guten tone
gehört haben , an die stelle schöner alter einheimischer ausdrücke für altererbte dinge
imposanter klingende, der fremde entlehnte bezeichnungen zu setzen. Ich erinnere
nur z. b. an kämpf, pferd, die in Süddeutschland durchaus nicht volkstümlich sind
und es auch kaum je waren. Die berührung mit der fremden kultur, die sich aus
dem lehn wort ergibt, wäre dann doch eine viel weniger intensive; tatsächliche ein-
fühi'UDg einer sache aus der fremde ist nur wahrscheinlich bei aUgeraeiner volkstüm-
licher Verbreitung der dafür geltenden fremden bezeichnung.
Zweitens möchte ich darauf hinweisen, dass die deutschen, namentlich die
oberdeutschen mund arten doch wol nicht genügend zur aufhellung der beziehungen
zwischen Eömern und Germanen herangezogen worden sind; in ihnen finden wir
einerseits manche entlehnungen noch lebendig, die in der nhd. Schriftsprache aus-
gestorben oder nur in modernisierter gestalt erhalten sind, und anderseits eine anzahl
von lehnwörtern, die den mittel- und niederdeutschen gegenden völlig fehlen. Ich
nenne nur einige mir zufällig in den sinn kommende Wörter aus schweizerischen
mundarten: akte, ayde < aquaeductus , aenis <. anisum, chemi < caniinus,
chmmgdh < conu(n}cula , ehr lisch < erusca, chümmi <r cumimmi, chüngdli <.
cuniculus, chüpfii <] cttppa, gäxxi <^ gabata (?), daneben gepsli (ahd. gebixa)^
chüssi <^ cussinum, ern „hausüur" <; arena für area, fäschi, schwäb. pfetschahind
< fascia „binde"; mäschdl und fmmi9l „weiblicher, männlicher hanf mit auffal-
lender vertauschung des geschlechtes aus masculiis, femellus; märt <^ mercatus,
meydl <^ miolium, nüschdl <C nosciila, nuscula. Es ergibt sich daraus offenbar
ein bild lebendigeren Verkehrs und vielseitigerer beziehungen zwischen Eömern und
Germanen, als die Schriftsprache es gewährt; eine genauere berücksichtigung der
mundart wird sich also empfehlen besonders auch für die mhd. periode, wo sich der
einüuss Frankreichs bis weit in die untersten Volksschichten fühlbar macht.
BASEL, 26. FEBRUAR 1895. GUSTAV BINZ.
AGlossary of the Old Northumbrian Gospels (Lindisfarne Gospels or Durham
Book). Compiled by Albert S. Cook. Halle, Max Niemeyer. 1894. YH, 263 s.
10 m.
Vor 13 Jahren glaubte Sievers in der einleitung zu der ersten aufläge seiner
ags. grammatik das baldige erscheinen einer umfassenden grammatischen bearbeitung
des northumbrischen dialekts aus der feder A. S. Cooks in aussieht stellen zu dür-
fen. Hindernisse der verschiedensten art traten aber der Verwirklichung dieser ankün-
digung störend in den weg. Inzwischen hat das eine der beiden umfangreicheren denk-
mäler des Northumbrischen, das Rituale von Durham, in Lindelöf einen tüchtigen
BINZ, ÜBER COOK, GLOSSÄRT 379
und zuverlässigen darsteiler gefunden. Jetzt kommt endlich auch das andere haupt-
denkmal, die Interlinearversion der vier evangelien im Durham Book\ die sogenacnten
Lindisfarne Gospels, an die reihe. Cook selbst legt uns in seiner neuesten Publika-
tion als Vorarbeit seiner grammatischen skizze eine lexikalische Zusammenstellung des
gesamten in den evangelien enthaltenen Wortschatzes vor: mit vergnügen erfahren
wir, dass die grammatik zum grössten teil druckfertig ist und in kurzem veröffent-
licht werden soll, wenn nicht ein anderer dem Verfasser mit einer solchen arbeit
zuvorkommt. Hoffen war, dass es Cook diesmal wirklich vergönnt sein möge, alle
der erfüllung seines Versprechens sich entgegenstellenden Schwierigkeiten rasch zu
überwinden !
Das vorliegende glossar beruht auf dem texte der ausgäbe der evangelien durch
Skeat, für Matthaeus auf der zweiten bearbeitung derselben. Cook hat dazu eine
neue vergleichung der handschrift vorgenommen, die aber nur wenige, im glossar
stillschweigend benützte, Verbesserungen ergab. Sämtliche Wörter werden verzeich-
net mit anführung aller formen, in denen sie erscheinen, und unter aufzählung aller
belegstellen. Die arbeit ist sorgfältig und genau; wenigstens haben mir zahlreiche
stichprobon (allerdings nach berücksichtigung der leider recht umfänglichen, über
sieben selten sich erstreckenden errata und addenda) nirgends einen nennenswerten
fehler ergeben. Ein lateinisch -northumbrischer und englisch - northumbrischer index
am Schlüsse sind sehr willkommen.
Cooks arbeit wird fortan die sicherste, ja allein brauchbare grundlage für alle
grammatischen Untersuchungen bilden; Bouterweks Wörterbuch mit seinen mannig-
fachen fehlem und falschen ausätzen von formen ist jetzt übei"flüssig geworden, und
der dank der fachgenossen für die mühevolle und wenig kurzweilige arbeit wird dem
verehiien Verfasser sicher zu teil werden.
Zwei kleine ausstellungen mögen zum Schlüsse noch ihren platz finden. Ein-
mal hätten die verschiedenen casus- und flexionsformen desselben wertes typogra-
phisch etwas übersichtlicher hervorgehoben werden dürfen. Zweitens hätte es wol
dem gnmdsatze der lexikalischen anordnung besser entsprochen, wenn sämtliche laut-
lichen und orthographischen Varianten eines wortes unter dem gleichen Stichwort ver-
einigt worden wären; jetzt aber finden wir an verschiedenen orten getrennt von einan-
der z. b. cecscecga und eescecga, cBdtcita imd cdivitiga, rnfter sona und efter sona.
BASEL, 6. MÄRZ 1895. GUSTAV BINZ.
Zur kritik des griechischen Alexanderromans. Untersuchungen über die
unechten teile der ältesten Überlieferung von Adolf Aiisfeld. Programm des
grossherzogl. gymnasiums zu Bruchsal 1894. 37 s. 4.
Adolf Ausfeld, von dem wir in der nächsten zeit eine neue ausgäbe der Hi-
storia de preliis zu erwarten haben, erörtert in seiner im sommer 1894 erschie-
nenen programmarbeit die frage, welche bestandteile der ältesten bearbeitungen des
Alexanderromans der ursprünglichen fassung dieses Werkes nicht angehört haben
können. Die Widersprüche, die sich in der alexandrinischen recension finden, sind
nach der ansieht Ausfelds bei der forschung nach der wahren gestalt des alten Alexan-
derbuches deshalb nicht genügend berücksichtigt worden, weil man dessen Inhalt
nach dem vorgange Zachers allgemein auf die sage des volkes zurückgefühi-t habe.
Ausfeld schliesst sich dagegen Nöldekes meinung an, die dahin geht, dass der
1) Über die spräche des Marcusevangeliums handelte Eliz. Mary Lea in Anglia 16, G2 fgg.
380 BECKER
Alexanderroman im grossen und ganzen das produtt einer halb gelehrten schriftstel-
lerei sei; der Verfasser dieser ahhandlung sucht die später hinzugekommenen stücke
auszuscheiden und prüft die für unecht gehaltenen kapitel nach ihrem Ursprünge.
Zunächst spricht Ausfeld über den brief an Aristoteles III, 17, den bericht an
Olympias III, 27. 28 und die an beide gerichteten schreiben LB(C) II, 23. 32. 33.
36 — 41; er behandelt ferner die brief e des Darius und seiner Satrapen I, 39. 40-
n, 10. 11; Alexanders feldzug nach Griechenland I, 42 — ü, 7; die ereignisse zwi-
schen dem friedensgesuch und der ermordung des Darius II, 17 — 19; Alexanders
verkehr mit der königin Kandace UI, 18 — 24; das testament des herrschers HI, 33;
den rückblick auf Alexanders leben und taten III, 35 und schliesst mit einer zusam-
menfassenden betrachtung über die ursprüngliche beschaffenheit des romans.
Über das gegenseitige Verhältnis der beiden stücke, [aus denen der brief an
Aristoteles besteht, ist Ausfeld in der hauptsache derselben ansieht wie ich (vgl.
meine beiden arbeiten zur Alexandersage Königsberg 1892. 94 und Zeitschr. 27,
426 fg.), nur dass er den zweiten teil bereits bei den Worten Tu Sl nltlora xal
7i((Q(cSoi« s. 121 a 16 beginnen lassen will und auch diesen als zwei mit einan-
der verbundene bruchstücke verschiedener biiefe ansieht. Er weicht in der meinung,
dass die Epistola von dem uns überlieferten texte des romans ganz unabhängig sei,
von meiner auffassung ab. Für den historischen hintergrund dieses abschnitts hält
Ausfeld die abenteuer Nearchs, von denen Arrian, Ind. 30. 31. 37, und Curtius
(10, 1, 12 fgg.) sprechen. Da Alexander III, 27 nur bis zum Hyphasis gelange,
nach der darstellung in III, 17 aber in das gebiet der Prasier eindringe, müsse der
erste teil des briefes unecht sein: er sei von dem bearbeiter des Schlusses mit die-
sem verbunden; aber auch der zweite teil gehöre nicht der ursprünglichen fassung
des romans an, weil er Widersprüche zu III, 1 — 4 enthalte. Ausfeld sucht einige
irrtümer der Überlieferung dadurch zu verbessern, dass er die erzählten tatsachen
mit historischen ereignissen in Verbindung bringt. Die beiden ersten abschnitte, die
vom marsche durch die kaspischen passe bis zur Unterwerfung des Perus und vom
zuge an den ocean und zu den Ichthyophagen handeln, wovon der letzte aber nur in
der Epistola vorkommt, werden als geschichtliche grundlage des berichtes angesehen,
während der rest als eine verworrene zusammeuhäufung von sagenhaften abenteuern
bezeichnet wird. Die fruchtbare gegend beim kaspischen passe sei das gebiet der
glücklichen dörfer Hyrcaniens, der beschwerliche marsch sei mit dem zuge
Alexanders durch die wüste Sogdiana zu vergleichen; der fluss mit bitterem wasser
bezeichne wol den Oxus, wie der süsswassersee das kaspische meer, der kämpf mit
den wilden tieren könne auf die von Curtius 8, 1, 11 fgg. erwähnte jagd zurück-
gefülirt werden; der abmarsch nach Prasiaca bedeute den aufbruch zum indischen
kriege im frühjahr 327, der Schneesturm stimme mit dem von Curtius 8, 4 geschil-
derten Unwetter überein , und mit dem zuge gegen Perus sei der marsch in das Pend-
schab gemeint. Auch derjenige abschnitt, der nur in der Epistola vorkommt, wird
in ähnlicher weise durch die heranziehung geschichtlicher Vorgänge erläutert.
Ebenso wenig wie das schreiben an Aristoteles, sei der brief an Olympias ein
alter bestandteil der alexandrinischen recension, da die erzählung von den Amazonen
mit III, 25 fg. nicht übereinstimme, während der in A nicht überlieferte anfang des
27. kapitels zum grössten teil dem echten texte angehöre. Der Vollständigkeit wegen
werden auch die briefe an Aristoteles und Olympias analysiert, obgleich sie nur in
jüngeren handschriften enthalten sind, also von vornherein als ursprüngliche bestand-
teile nicht angesehen werden können. Aber auch die briefe des Dai'ius und seiner
ÜBER AUSFELI), GRIECH. ALEXANDERROMAN 381
Satrapen hält Ausfeld für unecht, da sie mit ihren angaben der erzählung des ronians
selbst widersprechen, und da der brief des Darius an Alexander neben dem bereits
I, 36 überlieferten schreiben unnötig zu sein scheine. Die Sammlung, aus der sie
stammen, müsste natürlich, wie Ausfeld richtig betont, einen ganz anderen Charak-
ter gehabt haben als jene briefe an Aristoteles oder Olympias mit ihren abenteuer-
lichen Schilderungen. Die erzählung von Alexanders feldzug nach Griechenland, die
I, 42 — II, 6 nach der Schilderung der Schlacht bei Issus überliefert ist, während
man sie I, 25 nach der thronbesteigung des köuigs erwarten sollte, ist bereits von
Kohde als späterer zusatz erkannt worden. Ausfeld weist nach, dass auch das fol-
gende kapitel II, 7 aus dem ursprünglichen text ausgesondert werden muss, ent-
scheidet aber nicht mit Sicherheit, an welcher stelle von I, 42 die Interpolation
beginnt. Ferner wird dargelegt, dass die Schilderung der ereignisse, welche vom
ende des 17. bis zum 19. kapitel des 2. buches in A erzählt sind, erst später ein-
geschoben sein kann, da der folgende abschnitt (II, 20 fgg.) damit im Widerspruche
steht und auf II, 17 zurückgreift. Der besuch Alexanders bei Kandace scheint
Ausfeld ins erste buch (kap. 30 — 34) zu gehören und gleichfalls im ältesten text
noch nicht vorhanden gewesen zu sein, weil die darstellung in dieser episode unge-
wöhnlich breit ist, weil der Inhalt auf eine demütigung Alexanders hinauskommt und
sich III, 25 sachlich an III, 6 anschliesst. Nur der historische anfang von III, 18
mit dem berichte, dass Alexander nach der Stadt der Semiramis gezogen sei, so wie
die beschreibung der bürg dieser königin könne allenfalls für die älteste recension des
romans in anspruch genommen werden. Die behauptung, dass sowol Alexanders
testament als auch die zusammenfassenden bemerkungen über das leben und die taten
des fürsten zu den unechten bestandteilen des romans gehören, wird keinen wider-
sprach finden. Nach der ausscheidung der behandelten abschnitte bleiben folgende
kapitel des ursprünglichen textes übrig: 1. Alexanders eitern (I, 1 — 14); 2. taten des
jungen Alexander (I, 15 — 24); 3. rüstungen des königs und Unternehmungen bis
zum zuge gegen Darius (I, 25 — 35); 4. besiegung der Perser (I, 36 — 42; II, 8 — 17
20 — 22); 5. erlebnisse in Indien (III, 1 — 6; 25 — 27); 6. Alexanders tod (III, 30 —
34). — Jene einschaltungen sind nach Ausfelds meinung nicht zufällig und allmäh-
lich, sondern planmässig von einem oder wenigen bearbeitern gemacht worden, in
ähnlicher weise, wie es an dem werke Leos nachgewiesen werden kann. Der Verfas-
ser des ältesten Alexanderbuches sei kein erzähler von volkssagen, sondern ein
unerschrocken erfindender romanschreiber gewesen, der seine leser angenehm unter-
halten wollte.
Ausfeld hat sich durch diese abhandlung das verdienst erworben, diejenigen
bestandteile des Pseudokallisthenes, welche erst später aus anderen selbständigen
Schriften dem roman einverleibt sind, zusammenzustellen und gewisse tatsachen der
sagenhaften erzählung durch den hinweis auf ähnliche historische begebenheiten zu
erklären. Wenn auch manche vergleiche etwas gewaltsam herbeigezogen zu sein
scheinen, so hat der Verfasser in der hauptsache doch für die forschung nach der
entstehung einiger teile der sage ein nützliches material zusammengetragen. Auch
mit seiner beurteilung der unechten stücke des romans bin ich im ganzen einver-
standen, doch ich möchte noch besonders hervorheben, dass aus dem umstände,
dass ein abschnitt des romans dem ältesten texte nicht angehört haben kann, kei-
neswegs zu folgern ist, dass derselbe viel später als das werk des Pseudokallisthenes
entstanden sei. Dagegen scheint mir die behauptung, von der Ausfeld bei der gan-
zen behandlung der von ihm angeregten frage ausgeht und zu deren bekräftigung er
382 BECKER, ÜBER AUSFELD, GRIECH. ALEXANDERROMAN
zum Schlüsse zurückkehrt, unrichtig zu sein, nämlich die ansieht, dass der Inhalt
des griechischen Alexanderbuches keine sagenhaften bestandteile enthalte. Es ist
mir nicht klar geworden, ob Ausfeld auch die späteren einschaltongen des romans,
z. b. den brief über die wunder Indiens, für die erfindung eines romanschreibers
hält oder nur diejenigen teile dafür ansieht, die nach seiner meinung den echten
text ausmachen. Denn er selbst spricht widerholt von sagenhaften berichten, cha-
rakterisiert so z. b. s. 9 den zug zu den bäumen der sonne und des mondes und
s. 17 die Wanderung zu den säulen des Herkules und den Amazonen; er gibt ferner
an derselben stelle an, dass in, 28 sagenhaft ausgeschmückt sei, und erwähnt noch
s. 21 und 30 sagenhafte bestandteile der erzählung. S. 15 wii-d dai'gelegt, dass dem
zuge zu den bäumen der sonne und des mondes wirklich eine orientalische sage zu-
grunde liegen könne, und s. 22 endlich erklärt Ausfeld, dass sich bei manchen
stücken nur schwer beurteilen lasse, was darin echte sage, und was erändung eines
schi-iftsteUers sei. Mir scheint, dass gerade auf diese weise der ganze PseudokaUi-
sthenes aufzufassen ist: wenn Ausfeld annimmt, dass zur zeit der entstehung des
ältesten Alexanderbuches bereits eine volkssage von diesem beiden vorhanden gewe-
sen sei, so ist nicht einzusehen, warum ein romanschreiber an die stelle dessen,
was allgemein berichtet wurde, eine neue darstellung gesetzt haben sollte, in der die
in den historischen quellen gefundenen tatsachen abenteuerlich ausgeschmückt waren.
Selbst wenn der roman, auf litterarischem wege verbreitet, ein Volksbuch geworden
sein sollte (s. Nöldeke, Beiträge zur geschichte des Alexanderromans,
s. 10), so darf man doch nicht leugnen, dass es eine Alexander sage gegeben hat.
KÖ>aGSBERG I. PR. HEINRICH BECKER.
Tannhäuser, Inhalt und form seiner 'gedichte. Von dr. Johannes Siebert.
BerHn, L. Vogt. 1894. III, 116 s. 2,40 m.
Die arbeit kündet sich in einem vorwort als fortsetzung der bis dahin umfas-
sendsten darstellung von Tannhäusers leben und dichten an, der von Oehlke; sie wiU
die früheren forschungen über den historischen Tannhäuser fortführen und berichtigen,
ohne selbst den ansprach auf Vollständigkeit zu erheben.
Der erste biographische teil (s. 7 — 13) fügt zu den bisherigen Zeugnissen für
des dichters ritterliche abkunft, d. b. zu der spätem sage vom ritter Tannhäuser und
zu seiner darstellung in C im staatskleide des ritters neue beweisgründe , geschöpft
aus seinen gedichten, der einzig zuverlässigen quelle für sein leben. Es werden
genannt: Tannhäusers sehnsüchtiges gedenken an die von ihm betriebenen ritterlichen
Vergnügungen, an minnedienst und falkenjagd, und seine bevorzugte Stellung bei her-
zog Friedrich, dem muster aller ritterlichen tugenden. Auf spi'ache und Inhalt sei-
ner gedichte stützt sich weiter die Verlegung seiner heimat nach dem südöstlichen
Deutschland. Inhaltliche gründe dafür sind dem Verfasser: der längere aufenthalt
Tannhäusers in Österreich, seine Vertrautheit mit dessen geographischen und politi-
schen Verhältnissen, die bekanntschaft späterer österreichischer dichter, wie Jansen
Enikels mit seinen gedichten und die enge beziehung dieser gedichte selbst zum volks-
mässigen. Stichhaltig erscheinen uns die ersten di'ei momente, unzutreffend aber das
letzte, wenn auch in Österreich zuerst mit Neidhart wider eine solche richtung auf-
trat. Die Schwaben Gotfried von Neifen und Ulrich von Winterstetten stehen ja
der volksmässigen lyrik nicht weniger nahe\ nur in der epik dieser zeit macht sich
1) Vgl. F. Vogt, SDitl. litteraturgoscMchte s. 92—93.
WAHNER, ÜBER SIEBERT, TANNHÄUSER 383
eben eia derartiger gegensatz zwischen den einzelnen gegenden bemerkbar, indem
die westlichen länder fremden Vorbildern folgten, während Baiern und Östen-eich
ausschliesslich das nationale element pflegten und lange noch bewahrten. In der
lyrik dagegen war längst auch hier der heimische charakter des ältesten ritterlichen
minnesanges der neuen weise gewichen, so dass man in Tannhäusers hinneigung zur
Volksdichtung nicht ein erbe der frühem periode und einen beweis für seine öster-
reichische heimat erblicken kann; vielmehr muss sie wie bei jenen schwäbischen
lyrikern als eine neue anlehnung an den volksgesang aufgefasst werden, begi'ündet in
seiner eigenschaft als fahi'ender.
Dieser widmet auch Siebert besondere aufmerksamkeit. Nur kurz berührt er die
übrigen von Oehlke erschlossenen und ausführlich behandelten lebensschicksale des
dichters. Seine reise nach dem heil, lande, seine sängerfahrten zu deutschen und
fremden fürsten und herren, seinen aufenthalt am Babenberger hofe und sein unstä-
tes Wanderleben , um eingehender die von Edw. Schröder in Scherer Litteraturgesch.*'
s. 214 und Kück in der recension von Oehlke, A. f. d. a. 17, 207 vertretenen behaup-
tung zu widerlegen, Tannhäuser sei ein fahrender kleriker, ein vagant gewesen.
Den dafür angezogenen ähnlichkeiten zwischen Tannhäusers poesie und der der Car-
mina Burana, unter denen allerdings dem einzig dastehenden spott über seine lebens-
weise zu wenig beachtung geschenkt wird, hält er mit recht die viel bedeutenderen
Verschiedenheiten entgegen. Ein teil jener Sammlung nämlich kehrt absichtlich und
mit stolz gegenüber dem rittertum den geistlichen stand der dichter hervor; in andern
verrät sich der gelehrte autor durch seine beispiele aus der Bibel und der lateini-
schen litteratur, während Tannhäusers kenntnis alt -testamentlicher merkwürdigkeiten,
antiker mythen und heldensagen wie einiger lateinischen werte nicht den horizont
der ritterlichen bildung seiner zeit überschreitet und wenigstens bezüglich des klas-
sischen altertums durch die höfische bildung vermittelt ei-scheint; sogar die weniger
typischen beispiele der vagantenpoesie, wie die von Oehlke verglichenen nr. 57, 109,
118, zeigen noch Stileigenheiten, die sich nicht mit Tannhäusers manier decken.
Aber auch wegen seiner mit den vaganten geteilten Sinnlichkeit kann er nach Siebert
nicht der zahl dieser eingereiht werden, da für die gleichartige lascive darstellung
ebenso gut die volkspoesie die gemeinsame quelle abgegeben haben kann als die
antike mit ihren heidnischen anschauungen. Uniäugbar eignet jener eine naiv sinn-
liche auffassung der liebe, und unzweifelhaft ist ihr einfliiss auf die kunst der geist-
lichen lyriker sowol als der ritterlichen. Wie Neidhart den liedern des volkes sich
anschloss, so auch Tannhäuser; vom volksmässigen tanzliede überkam er den derben
erotischen ton, dessen naivetät er stellenweise durch lüsternheit ersetzte. So spricht
nichts für den vagantencharakter Tannhäusers, wol aber noch dagegen sein nicht
erloschenes ritterliches standesbewusstsein. Als ein fahrender sänger ritterlichen Stan-
des wird demnach der dichter erwiesen, der besser als die mehrzahl der höfisch
gebildeten von damals im deutschen und französischen epos belesen war und damit
pninkte, ohne seine gelehrsamkeit durch die Weisheit klerikaler zunftgenossen zu
bereichern.
„Tannhäusers dichten" ist der zweite abschnitt (s. 14—36) des Siebertschen
buches überschrieben. Es werden zunächst die grundlagen und ausgangs punkte sei-
ner kunst der besprechung unterzogen. Höfisches und dörperliches, die elemente der
Neidhartschen richtung, sind bei ihm vertreten, ohne sich gegenseitig durchdrungen
und zu harmonischer einheit verschmolzen zu haben. Spricht das nicht ebenfalls
gegen Sieberts frühere erklärang von Tannhäusers beziehung zum volksmässigen als
384 WAHNER
einer nachwirkung und Vererbung des altlieimischen minnesangs, dem doch eine der-
artige Scheidung fremd war? Auch kann man darum (was stärker hätte betont wer-
den sollen!) den dichter nur mit einem teile seiner gedichte den höfischen dorfpoeten
zurechnen, während andere durchaus unter die rein höfische lyrik fallen. Damit
ergibt sich ein neues vom Verfasser ausser acht gelassenes zeugnis für seine ritter-
liche abkunft, insofern wol ein im volke sich bewegender ritter durch dessen sanges-
weise die höfische dichtung erweitern konnte (Walther, Neidhart, Gotfried von Nei-
fen), nicht aber ein sänger des volkes seiner angestammten dörperlichen muse den
ton der ritterlichen lyrik vermählt haben würde, was zudem nicht der damals schon
recht kräftigen reaktion gegen den konventionellen minnesang entsprochen hätte. Zu-
gleich wird schon dadurch allein die annähme seiner direkten abhängigkeit von Neid-
hart hinfäUig; Siebert widerlegt sie auf gruud des von Oehlke herbeigebrachten mate-
rials mit dem hinweis auf die beim Tannliäuser nicht vertretenen eigenartigen themen
Neidliarts: gespräch zwischen gespielinnen oder mutter und tochter, scenen aus dem
leben der bauern, Verspottung derselben.
Dem volksmässigen tanzliede entstammen folgende züge (die er mit Ulrich von
Winterstetten und Heinrich von Sax teilt) : die aufforderung zum tanz am anfange des
Schlussteils der leiche, die frage nach den tänzerinnen, deren aufzählung, die auf-
forderung zur freude, der hinweis auf das ende des tanzes und liedes mit dem rufe
heia, hei und der mitteilung, dass dem spielmann die saite gerissen oder der bogen
gebrochen ist; ebenso die mehr vereinzelte Verwünschung von Störenfrieden und
bewillkommnung fröhlicher teilnehmer. Damit ist der Ursprung des Schlussteiles der
tanzleiche aus der volkspoesie festgestellt. Und auf sie muss im wesentlichen auch
die erzählung des hebesabenteuers im 4. teile von II ■und III zurückgeführt werden.
Die aus dem altfranzösischen pastourel durch kunstgemässe Umgestaltung hervorge-
gangene französische romanze hat ihnen wol zum muster gedient, wie die gleichheit
der anläge und die beibehaltung zahlreicher französischer Wörter bezeugen, ohne
jedoch sklavisch nachgeahmt worden zu sein. Denn wesentliche motive jener, der
betrogene ehemann, der spott des ritters nach erreichtem zweck und sein prahlen
mit gehabten erfolgen, der gebildete stand der weiblichen person fehlen ganz. Dage-
gen begegnen auch hier echt deutsche züge wie der gang auf die beide und das
zusammentreffen daselbst; auch die personen sind die des deutschen Volksliedes: ein
einfaches schüchternes landmädchen, ein schwärmerischer, dui"ch die erinnerung bese-
ligter hebhaber. Im II. leiche insbesondere wird auch die begegnuug auf der beide
mit der in der mhd. zeit allgemeinen sitte des blumenbrechens motiviert und zwar in der
vom volksliede beliebten form, dass ein mädchen allein nach bluraen geht und mit
dem Verehrer zusammentrifft und „rosen bricht". Dem volksgesange entstammt auch
die Wendung ich nam si M der wtxen haut (II, 16, 2) zur bezeichnung der annä-
hemng und umarmnng. Herrscht so das volksmässige element im 11. leiche durch-
aus vor, so überwiegt der einfluss der französischen romanzendichtung im Ell. leiche.
Daraus jedoch mit Siebert dessen spätere abfassung zu folgern, halte ich für gewagt.
Dort nui' von ausätzen und hier von einer ausgestaltung derselben reden zu woUen,
dünkt mü- nach der feststellung der ritterlichen abkunft des dichters entschieden
weniger begründet als umgekehrt ein teilweises zui'ückkommen vom überlebten tone
der französischen und deutschen kunstlyrik auf die einfache, innige Volksweise ent-
sprechend dem entwickelungsgange Walthers anzunehmen. Auf dem überdruss an
der konventionellen phrasenhaften Verherrlichung weiblicher Schönheit im verein mit
seiner lockern phantasie beruht wol auch die vom Verfasser erwähnte, aber nicht
ÜBER SIEBERT, TANNHÄUSER 385
erklärte ausführliche, indecente Schilderung der reize der geliobteu, die dem volks-
gesang wie der höfischen poesie fremd war.
Als volkstümliche elemente in Tannhäusers liedem führt der Verfasser an:
die aufführung von unmöglichen dingen, wie der unverrückbarkeit von mond und
sonne (VIII, 3), das vergehn der berge (IX, 2, 3), das ablenken von Aussen u. a. m.,
wenn auch bei manchen beispielen infolge von künstelei und gelehrsamkeit der
abstand von der volksphantasie nicht gering ist; weiterhin eine reihe formelhafter
Wendungen, wie swer des gelouben welle niht, der var un%, erx.heschoutce (XTI, 4)-
endlich die ungesuchte naturschilderung in XV, 3, 11 — 13; mehr beispiele bieten
hierfür die leiche (II, 2—4 und 20; ni, 5, 12, 4 — 6 und 31). Andere dagegen,
wie der natureingang im I. leich und die frühüngsschilderung in leich VII sind die
schablonenhaften des höfischen minnesangs. Auf dem boden des letzteren steht ja
denn auch der Tannhäuser in mehreren gedichten noch vollständig, obschon er ihn
bereits hier und da parodiert. Der höfischen lyrik entstammen sein wort- und phra-
senschatz, der preis der geliebten und das werben um ihre huld, dem höfischen epos
die von ihm vorgeführten heldeugestalten.
Neben diesen beiden aus der bestehenden dichtung überkommenen elementen
soll aber auch eine scharf ausgeprägte eigenart Tannhäusers dichten kennzeichnen.
Nur finde ich nicht alle die züge originell, die Siebert als solche hinstellt. Seine
parodie des minnesangs ist nur eine der vielen gleichzeitigen und doch recht verschie-
denartigen äusserungen der dagegen erwachten reaktion. Dieser scheint auch die
realistik in der Zeichnung seiner ärmlichen und liederlichen lebensweise eher zuge-
schi'ieben werden zu müssen als dem einüuss der volkspoesie ; der geist freüich, wel-
cher sich, darin ausspricht, steht einzig da und erinnert an den der lateinischen Vagan-
tendichtung. Der humor, der seine hierauf bezüglichen Sprüche belebt, kehrt auch in
seinen tanzleichen wider und lässt den dichter als eine fröhliche, lebenslustige, aus-
gelassene natur erkennen. Er verrät sich besonders im hauptteil derselben in der
abenteuerlichen Zusammenstellung und häufung von namen und tatsachen; indessen
hat er auch hier nur ausätze der frühern volks- und knnstmässigen tanzpoesie (Bo-
tenlauben, Eotenburg, Gliers*) weiterentwickelt, nicht aber ein ganz neues moment
eingeführt.
Auf diese quellen seiner dichtung führt Siebert auch, deren Vorzüge und schwä-
chen zimick. Zu jenen rechnet er: die lebensvolle Zeichnung gegenüber der ein
tönigen reflexion und gefühlsheuchelei des höfischen minnesangs, die Schilderung des
liebeserfolges und den spott über das aussichtslose schmachten, die aus unmittel-
barem empfinden hervorgegangene naturwahrheit und anschaulichkeit der darstellimg,
besonders wo es sich um den tanz oder die begegnung der liebenden handelt, und
die konkreten büder, die der dichter entwirft von der gewalt des seesturmes, von
den genüssen und üppigen freuden seines lebens, von den leiden eines fahrenden,
von seiner Sehnsucht nach der heimat usw. Als mängel werden hervorgehoben:
seine geschmacklosigkeit z. b. in der anwendung französischer Wörter, die sich bis-
weilen woi eher aus seiner gelehrttuerei erklärt als, wie Siebert meint, aus seinem
humor, das festhalten am konventionellen im VII. und XV. gedieh te und im I. leiche
und vor allem seine unglaubliche sucht, mit allerlei ungewöhnüchem wissenskrame
zu prunken; diese hat ihn zunächst auf kosten des grundgedankens verleitet zur auf-
zählung einer endlosen reihe von göttinnen und romanheldinnen , von ländern, von
\) Vgl. Vogt, Mhd. litt.-gesch. s. 92.
ZEITSCHRIFT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XXVUI. 25
386 WAHNER
fluss- und stridtenamen u. dergl. Und wenn er es auch noch nicht den spätem
Spruchdichtern gleichtut, so gehört er doch hiermit sowol, wie niit seiner Weitschwei-
figkeit der zeit des niederganges an.
Metrik und rhythmik werden sodann (s. 37 — 71) behandelt, wobei verstän-
digerweise von den einfaclieren tönen, den liederu und Sprüchen (YII — XVII) und
dabei Avider von der einfachsten versart, der 7 hebigen langzeile mit klingendem
Schlüsse, ausgegangen wird. Sie bildet die grundlage der Sprüche von XU und der
Strophen von XIV und XV, die entsprechend analysiert werden. Das fehlen eines
Sinneseinschnittes nach der 4. hebung ist in XII durchaus nicht so selten, als der
Verfasser behauptet; man vgl. XII, 1, 8; 2, 8 und 10; 3, 1, 5; 8, 9 und 10; 4, 6
und 8; 5, 1, 6 und 10! Ein solcher sachlicher einschnitt erscheint aber auch gar
nicht nötig, um die beiden teile der langzeile hervortreten zu lassen; dagegen ist es
ungewöhnlich, wenn, wie in 2, 8 engverbundene worte durch die cäsur getrennt wer-
den, oder wenn die 4. hebung der 1. halbzeile mit der 1. Senkung- der 2. hälfte in
ein wort zusammenfällt und die gliederung des versganzen dadurch verwischt wird, wie
in 5, 1, 6 und 10 und XIV, 4, 8; 5,8. Nichts ist zu erinnern gegen Sieberts
erklärung der fünften zeilen. Unangebracht erscheint dagegen eine textesänderung
in 4, 9 und 5, 9, um 3 hebig stumpfe verse herzustellen, da die ersten hälften von
3, 9 und 5, 9 unbedingt 4 hebungen enthalten und andererseits schon bei annähme
unterdrückter^ Senkung oder schwebender betonung die gewaltsame accentuieruug der
wirt sprichet gemildert wird und die betonung ö'we sich durch zahlreiche beispiele
aus Walther und andern lyrikern belegen lässt. Aber auch in 1, 9 und 2, 9 ist die
volle zahl der hebungen bei annähme unterdrückter Senkung zu erschliessen , die
bei der emphase der letzten verse, zumal bei 2, 9, sehr erklärlich ist.
Häufiger, aber ganz regelmässig, wird die 4hebige halbzeile in lied XIII modi-
ficiert. Die gruppierung der verse darin wird beschrieben und damit die Verschieden-
heit ihrer komposition veranschaulicht. Der dort nur teilweise eingeführte inreim
herrscht durchgehends in der stropbe des X. liedes, dessen refrain recht geschickt in
2 teile von je 3 vierhebig stumpfen und 2 khngendeu versen mit mittelreim in jedem
der ersten beiden zerlegt wird. Letztere werden vom Verfasser 5 hebig genannt, doch
enthält der eiste diu reine sunder got al eine nur 4 hebungen, und verse von
4 hebungen müssen wir uns überhaupt als elemeut dieses refrains denken und die
grössere ausdehnuug des 2. verses als eine bereicherung infolge des damit verbun-
denen Strophenschlusses auffassen. Dagegen wäre eine solche des vorletzten verses
ganz unbegründet, wie denn auch in lied VII, an dem der Verfasser selbst die ent-
stehung des 5 hebigen verses aus dem von 4 hebungen erklärt, zur abgrenzung der
einzelnen strophenteile immer nur der letzte vers eines teiles zu 5 hebungen aus-
gedehnt wird. Auch in IX erscheint die 5 hebig klingende halbzeile noch in erster
linie der markiening der stellen und des abgesanges zu dienen, weshalb seine besprechung
besser unmittelbar an die von VII angeschlossen worden wäre; allerdings erscheint
hier der letzte vers des abgesanges noch durch die Verdoppelung der 1. halbzeile
und einen ausserhalb des Systems stehenden einschub bereichert und ausserdem der
unerweiterte ganze schlussvers an die spitze des abgesanges gestellt.
Eine selbständigere Verwertung des fünfhebungsverses begegnet, was hätte her-
vorgehoben werden sollen, erst in XI in der Zusammensetzung mit dem 3 hebig klin-
genden halbverse. Ausserdem ist hier jeuer zum verse von 7 hebungen erweitert
wozu man in dem eingeschobenen heia hei im schluss von IX eine Vorstufe erblicken
kann. Als eine ähnliche bereicherung der doppelt gesetzten 4 hebigen halbzeile sind
ÜBER SIEBERT, TANNHÄUSER ,3S7
wol auch die lOhebigen langzeilen von VIII aufzufassen, die bei Siebert keine rechte
erklärung finden; zwei von ihnen bilden mit je 2 inreimen einen der stollen, eine
mit binnenreim und der vorausgeschickten 4hebigen halbzeile den abgesaug.
Die langzeile von 7 hebungen ist auch widerzuerkenneu in den durch verschie-
dene auflösungen und verwendiing von in- und binnenreimen recht wechselvoll ge-
stalteten versen des XV. tones, während man eine harmonische gliederung des rät-
selspruches (XVI) mit Siebert für unmöglich erklären muss.
Des dichters metrische kunst verlegt der Verfasser demnach mit recht nicht
sowol in die erfinduug neuer formen, als vielmehr in die auswahl und variierung
vorhandener. Und dass er unter diesen gerade die langzeilen von 7 und 8 hebun-
gen mit ihren halbzeilen, den khngenden vers von 5 hebungen und die lOhebige
Periode, d. h. rein nationale verse verwendete, wird als neuer beweisgrund für seine
enge beziehuug zur volkspoesie hervorgehoben. Nach den regeln der kunstlyrik aber
baute er dreiteilige stropheu, vermied, wenn auch nicht so peinlich, als der Verfas-
ser meint, den ausfall der Senkung und verfuhr- gleichmässig im gebrauch des auf-
taktes; doch gestattete er sich auch hierin wie in der betonung der werte und der
apokope von imbetontem e einige freiheiten.
Die freiheit der verstechnik, insbesondere der Wechsel zwischen 2 hebig dak-
tylischen und Shebig trochäischen versen, gibt Siebert gelegenheit zu einer erörte-
rung über die daktylen und daktylischen Systeme bei unserm dichter (s. 48 — 59).
Daktylen werden von ihm ausser in XI besonders in den leichen festgestellt, der
responsion halber auch da, wo die verse sich gleich gut trochäisch lesen lassen.
Nun erscheint allerdings der harmonische bau der leichsätze so wichtig, dass man
öfter, als Oehlke es zugestanden, wird daktylen annehmen müssen, indessen lässt
sich die doch zunächstliegende trochäische messung mancher verse, wie wir noch
sehen werden, auch beibehalten, ohne dass die responsion dadurch aufgehoben wird,
wie dies für lied XI Siebeii selbst keineswegs bestritten hat. Zutreffend dünkt mir
seine herleitung der daktylen Tannhäusers aus der volkstümlichen musik, da bei
ihrem auftreten an bestimmten stellen und bei der beibehaitung der natürlichen beto-
nung weder die silbenzähluug die quelle sein konnte, wie für die daktylen späterer
minnesänger, noch auch bei dem bereits gekennzeichneten anschluss des dichters
an nationale metrische grundformen frauzösische Vorbilder hier vorgeschwebt haben
werden. Gerade in den teilen der leiche, welche inhaltlich mit dem Volksleben und
volksgesang aufs engste zusammenhängen, herrscht daktylischer rhythmus; so auch
bei Ulrich von Winterstetten, Heinrich von Sax und Burkhard von Hohenfels. Der
Ursprung der daktylen bei Tannhäuser aus dem gesange beim reigen und die selb-
ständige auf deutschem boden erfolgte entwicklung solcher versfüsse wird sehr über-
zeugend in der weise erklärt, dass entsprechend dem bcschleurügteren gange des
reigens ein rascheres tempo eintrat und der daktylus den wert eines doppeltrochäus
mit der Zeitdauer eines gewöhnliehen trochäischen fusses erhielt. Diese gleichwertig-
keit beweisen im Tannhäuser eine menge von beispielen, besonders IV, 22 und 23,
die sich trotz des sehr verschiedenen baues der 3. und 5. verse ganz harmonisch
gliedern, wenn die ersten beiden trochäen im 3. vers einem daktylus gleichgesetzt
werden. Als mittelstufe zwischen dem trochäischen viersilbler und dem daktylus
kann man ganz gut dipodien mit ausgefallener erster Senkung ansehen, deren zweite
hebung nebentonig ist. Ob aber deshalb die betonung '■ ^ w für Tannhäusers dakty-
len anzunehmen ist wie für die trochäischen verse mit unterdrückter Senkung im
frühling des minnesangs, erscheint um so fragHcher, als damit das vom Verfasser
25*
388 WAHNER
verlangte doppelt rasche tempo sich unmöglich erreichen lässt. Siebert wird nicht
läuguen können, dass der von ihm angezogene vers IV, 30 (nicht I, 30!) bei der
betonung wd ist min vrou Jüzxe diu liebe also länge mehr zeit zum vertrag bean-
sprucht als bei dem gewöhnlichen daktylischen gange tvä ist mtn vrou Jüxxe diu
liebe also länge, der allerdings doppelt so schnell ist als eine entsprechende trochäische
reihe abläuft. Ist aber der gewöhnliche daktylische rhythmus bei unserm dichter
bereits anzunehmen, so werden wir bei seiner metrischen Unselbständigkeit die Wei-
terbildung von ' ^ w zu ' w w d. h. des ditrochäus mit unterdrückter Senkung zum
einfachen daktylus nicht ihm, sondern der volkspoesie selbst zuschreiben müssen.
Eine Übersicht über die ausbreitung der daktylen in den leichen ergiebt ihre
Verbindung zu festen einheiten und ihr regelmässiges, nicht zufälliges auftreten. Die
leichschlüsse werden von zwei- oder vierhebigen versen gebildet, unter denen die
letzteren gewöhnlich durch cäsur oder pause mit innerm reim weitergegliedert wer-
den; beide versformen gruppieren sich auch paarweise. Bei V, 23 wird meines
erachtens die natürliche betonung besser gewahrt, wenn die verse unter annähme
von apokope des e in einen ditrochäus und einen daktylischen halbvers von 2 hebun-
gen zerlegt Averden. Überhaupt scheint es nicht immer geraten rein daktylische
Perioden anzunehmen und z. b. I, 15 v. 3 — 6 imd I, 16 als Strophen von öhebig
daktylischen versen zu betrachten, vielmehr dürfte hier nach vorangegangeneu
'trochäen nur daktylischer schluss statthaben. Ebensowenig wird nach meinem dafür-
halten die responsion von I, 14 und 27 gestört, wenn rein trochäische verse (14, 6)
mit gemischt trochäisch - daktylischen reihen wechseln (14, 3 verschmilzt bi dem zu
bim, 27, 3 und 6). Demnach w'ird hier und da die metrische analyse entgegen der
ansieht Sieberts die daktylen entbehren können; im allgemeinen aber ist ihr vorkom-
men bei Tannhäuser durch den Verfasser erwiesen und viel zu ihrer erklärung bei-
getragen worden.
Die darlegung des baues der einzelnen leiche (s. 60 — 70) ergibt für 11 eine
einzige aus der doppelt gesetzten gereimten periode von 8 hebungen bestehende stro-
phenart, deren verse durch inreim in je 2 halbzeilen zerlegt werden ; nur 1 und 15
sind durch einen vorangeschickten lang vers mit mittelreim erweitert. Pausen zwi-
schen den beiden halbzeilen sind dreimal (2, 4; 4, 2; 14, 4) zu verzeichnen; die
ergänzungen Sieberts an den beiden ersten stellen: ver{sivant) und al bleiben uner-
wiesene Vermutungen.
Die str. 4 — 35 des VI. leiches unterscheiden sich von der beschriebenen nur
durch den eintritt des 3 hebig klingenden halbverses nach dem stumpfen ausgang der
1. vershälfte. Die änderungen des textes zur herstellung des fehlenden auftaktes.
12, 2 und Hug ein T(u)tvingaere, 16, 2 der hat (der) fugende ein wunder und
31, 4 (nicht 32, 4!) diu werlt (diu) Mt shi ere halte ich für vollkommen geglückt.
Bei den 3 eingangssystemen ist die Unregelmässigkeit des auftaktes wol nicht so
gross, noch die betonung gezwungen, da in v. 3 wahrscheinlich wie oben diu hinter
iverlt einzufügen ist und in v. 1 die beginnende diphthongicrung von uo schon wirken
mochte, so dass nur der auftakt in 2, 2 ungesetzmässig erscheint.
Die gepaarte langzeile von 8 hebungen mit oder ohne inreim bildet auch das
grundschema des 1. teiles (1 — 12) von leich I, nur unterbrochen durch 3 paare von
Sechshebungsversen (6) und durch je ein reimpaar von 4 hebimgen (9, 3 und 4; 12,
1 und 2). Im 2. teile werden die andern Systeme ebenso häufig verwendet, alle aber
variiert durch klingenden ausgang, binnenreim u. dergl.
ÜBER SIEBERT, TANNHÄUSER 389
Dieselben Systeme mit einigen modifikationen und andern Verbindungen werden
recht anschaulieh auch im IV. leiche nachgewiesen.
Sechshebige verse bilden nach Sieberts analyse auch die Strophen 1 — 11
des V. leiches, achthebige allein oder mit angehängtem klingendem dreiheber die
durch erweitei-ung und Zerlegung variierten Systeme des 2. teiles; nur enthalten 26, 1
ir munt bran als ein rubin gegen der sunncn glaste und 28, 2 da% sin die ver-
drieße, swen ich gerne lere nicht 8 hebungen, wie er meint, sondern nur 6.
Eecht einheitlich erscheint auch nach seiner darstellung der III. loich, für den
er 2 grundformen, die strojÄe von 4 vierhebigen versen und ihre erweiterung durch
einen 5. dieser art annimmt. Demnach muss aber die einfach erweiterte langzeile
(15, 4) in 4 -f- 3 v^ b und nicht — so erklärt sie der Verfasser — in 3 + 3 ^ b
zerlegt werden, wie ja auch die gleiche gestalt des letzten verses der doppelt erwei-
terten Systeme 7 und 16 dies verlangt.
So ergeben sich bei der sclieinbaren mannigfaltigkeit des versmaterials nur
wenige grundtypen, die mit denen der lieder bis auf den sechshebungsvers überein-
stimmen und so wider auf die Volksweisen als auf die gemeinsame quelle hindeuten.
Leicht erkennbar musste für den Verfasser die komposition der leiche sein,
die s. 71 — 79 besitrochen wird. Es tritt ja hier zu der durch den Wechsel zwischen
gleichförmigen und mannigfaltigeren Systemen gekennzeichneten metrischen gliederung
ein bemerkenswerter unterschied im Inhalt hinzu, den man bei den leichen rein kon-
ventioneller minnesänger vermisst. Nach diesen beiden von Siebert hervorgehobenen
kennzeichen zerfallen der I., IV. und V. leich in einen ruhigen, gleichmässigen teil
epischen Charakters und in einen beschleunigteren, wechselvolleren lyrischen teil.
Letzterer scheidet sich wider in einen die geliebte oder den fürsten feiernden abschnitt
und in den tanz selbst, ebenfalls mit einem unterschiede in der metrik, der aber
nicht so durchgreifend ist als zuvor; deshalb möchte ich auch entgegen dem Verfas-
ser bei der zweiteiligkeit dieser leiche bleiben, so unvermittelt auch der schlussab-
schnitt einzusetzen pflegt. Für Siebert muss freilich die Zusammengehörigkeit des 2.
und 3. abschnittes aufhören, wenn er auch jenen epischer natur sein lässt, was man
aus seinen woiien „an einen längern teil epischen Charakters schliesst sich gewöhn-
lich ein kürzerer auf den tanz bezüglicher" folgern muss. Allerdings wird der
lyrische Charakter des 2. teiles in leich V durch die aus dem 1. teil beibehaltene
aufzählung getrübt, um so deutlicher aber tritt er bei I und IV zu tage. Beinahe
völhg fehlt das lyrische moment im I. und VI. leiche; die auf den tanz bezüglichen
endstrophen jenes und das freier gebaute Schlusssystem des letzteren können nicht
dem vorangegangenen stück epischeT natur selbständig gegenübergestellt werden, wes-
halb man die leiche entsprechend der gleichmässigkeit des metrums als einteilig
ansehen muss. Zweiteilig ist wider leich III, dessen erster teil (1 — 18) als erzäh-
lung eines liebesabenteuers doch wol epischer natur ist und in hinsieht der kompo-
sition nicht dem 2. teil der leiche I, IV, V parallel gehen kann, wenn sein Inhalt
auch diesem näher steht als den aufzählungen im 1. teüe. Gerade wegen dieser
inhaltlichen Verschiedenheit halte ich das gedieht nicht für den charakteristischsten,
wol aber für den vollkommensten der leiche Tannhäusers. Interessant sind die aus
den leichen selbst für die metrisch verschiedenen abschnitte und damit für die ein-
zelnen tanztouren vom Verfasser erschlossenen bezeichnungen „tanzen, reien, sprin-
gen", \viewol die einheit der benennung nicht festgehalten wird.
Darauf folgen (s. 80 — 111) bemerkungen zu den einzelnen gedichten, wobei
besonders viele parallelstellen aus andern minnesängern angezogen werden. Einen
390 WAHNER, ÜBER SIEBERT, TANNHÄUSER
fortschritt bekunden diese bemerkungen zunächst dadurch, dass sie unerwiesene
behauptungen der bisherigen Tannhäuser -forscher, besonders Oehlkes (zu IV, 21, 4;
VI, 19) und Kücks (zu I, 10, 6; HI, 12, 9; VI, 36, 10; Xni, 5; XIV) zurück-
weisen und wahrscheinlicheres an die stelle setzen bezw. neue iiberzeugendere gründe
dafür beibringen (IV, 3, 3 u. a. o.)- "Weiter sind aus der grossen zahl der stellen
welche wegen dunkler Wendungen und merkwürdiger namen überhaupt keinen erklä-
rer gefunden hatten, viele von Siebert recht befriedigend erläutert worden; manches
freilich bleibt noch zu enträtseln. Für Tannhäusers alter als entstehungszeit des von
Oehlke nebst II, VII, XI, XVI noch nicht datierten XV. gedichtes wird sein gedi'ück-
ter ton angeführt und die in den versen äne ir danc sane ich in %e leide den hoeh-
gemüete ist Icranc ausgesprochene klage; gewichtiger als letztere stelle dünkt mir das
Zeugnis der verse 2, 1 — 3 ich hau dien jungen vil daher gesungen, des ist lanc.
Dass in XIII der dichter auf der herfahrt aus dem heiligen lande zu denken ist nnd
nicht, wie Oehlke wollte, auf der hinfahrt, wird durch die auseinandersetzung Sie-
beii:s ausserordentlich wahrscheinlich. Auch das fortwirken der dichtung Tannhäusers
wird durch den hinweis auf anklänge in einigen mhd. schwanken veranschaulicht.
In einem anhange verstärkt der Verfasser die zuerst von Oehlke geäusserten
bedenken gegen die echtheit des in der Jenaer liederhandschrift I dem Tannhäuser
zugeschriebenen bussliedes durch eingehende Vorführung der formellen und inhalt-
lichen Verschiedenheiten und erbringt somit den beweis für den spätem Ursprung
jenes wie für die herkunft der Tannhäusersage aus seinen in C überlieferten gedichten.
Im ganzen können wir somit Sieberts arbeit besonnen und bei ihrer beschrän-
kung auf einzelne selten der Tannhäuserfrage recht ergiebig nennen. Sie hat das
verdienst, unsere kenntnis einer der interessantesten figuren der mhd. lyrik durch
feste unverrückbare resultate bereichert zu haben.
BRESLAU. J. WAHNER.
Die schöne Magelone, aus dem französischen übersetzt von Veit Warbeck 1527.
Nach der originalhandschrift herausgegeben von Johaimes Bolte. (Bibl. älterer
deutscher Übersetzungen I.) Weimar, E. Felber. 1894. LXVII und 87 s. 3 m.
Die deutsche litteratur hat von anfang an aus der fremde befruchtende anre-
gung empfangen. Die ältesten schriftliehen denkmäler waren erfüllt vom geiste des
christlichen glaubens und von der stofl'welt der Bibel, während die mittelalterliche lyrik
und epik auf dem boden der ritterlichen Weltanschauung erwuchs, die aus dem westen
heräbergekommen war. Neben noveUenstoffen aus aller herren länder drangen im
15. Jahrhunderte mit dem humanismus die antiken bildungselemente ein und durch-
tränkten die deutsche geistesweit. Gegenüber dem überwiegenden eiuflusse, den im
18. Jahrhunderte die als muster anerkannten französischen klassiker ausübten, boten
allmählich die Engländer, vor allem Shakespeare ein erspriessliches gegengewicht dar
und wiesen den weg zu natur und freiheit. In zelten litterarischen niederganges
und geistiger dürre war der zudrang fremder elemente in Deutschland nicht gross; er
war am stärksten während der beiden blüteperioden um die wende des 13. und um
die wende des 18. Jahrhunderts. Da war auch die heimische litteratur kraftvoll
genug, das fremde gut zu verarbeiten, ohne sich selbst zu entäussern. In der zeit
der romantiker, als Schlegel das übersetzen zu einer edlen kunstübuug erhoben hatte,
fanden alle die hervorragendsten erzeuguisse der weltlitteratur als willkommene
gaste, nicht mehr als lehrmeister, in Deutschland eine neue heimstätte. Hingebung
HAUFFEN, ÜBER BOLTE, SCHÖNE MAGELOXE 391
und Selbständigkeit verbindend, hat sich die deutsche litteratui" vor doppelter gefahr
bewahrt: sie hat sich dem segen fremden reichturas nicht verschlossen, und sie ist
doch der angestammten eigenaii treu geblieben.
Unter diesen umständen ist es selbstverständlich, dass gerade für den betrieb
der deutscheu litte raturgeschichte ein unternehmen, wie die mit dem vorliegenden
hefte eröffnete bibliothek älterer Übersetzungen von grösster Wichtigkeit ist, und dass
sie zu den vorhandenen neudrucken deutscher originalwerke als unentbehrliche ergänzung
hinzutritt. Professor August Sauer, der seit einigen jähren die „Deutschen littera-
turdenkmale" leitet, hat auch diese neue Sammlung ins leben gerufen. Aus seiner
vorrede, die an den hervorragendsten kenner der geschichte der deutschen über-
setzuugskunst, Michael Bemays, gerichtet ist, sowie aus dem Verzeichnis der in Vor-
bereitung befindlichen und der in aussieht genommenen hefte ersehen wir das Pro-
gramm der neuen bibliothek. Sie soll die wichtigsten deutschen Übersetzungen vom
14. bis zum 19. Jahrhunderte, soweit sie nicht allgemein zugänglich sind, nach hand-
schriften und älteren drucken mit einleitungen und anmerkungen bringen; ferner (in
ergänzungsheften) neubearbeitungen älterer bibliographischer compendien, Untersuchun-
gen und darstellungen. Sie soll zu einem mittelpunkte dieses abgegrenzten arbeits-
gebietes werden. In den weiteren heften sollen übersetzungeu aus dem kreise der
deutschen humanisten und die aus der fremde stammenden novellen des 15. Jahrhun-
derts veröffentlicht werden. Im anschluss daran werden wol auch die arbeiten erle-
digt werden müssen, die M. Hermann in seiner Eybraonographie s. 286 fordert: ein
chronologisch und ein topographisch angeordnetes vollständiges Verzeichnis aller Über-
setzungen der schönen litteratur bis zum erscheinen des deutschen Decamerone und
Untersuchungen über die herkunft der stoffe. In der nächsten zeit werden ferner
erscheinen übersetzungeu von Corneille, Milton, Moliere, Anakreon, die Vossische
IHas, die anfange des deutschen Shakespeare, endlich Rabelais Gargantua in der Ver-
deutschung von Regis (mit dem umfänglichen kommentar?).
Einen teil des vielseitigen programras bildet idie Veröffentlichung der handschrift-
lichen grundlagen unserer Volksbücher, soweit sie Übersetzungen sind. Dieser auf-
gäbe ist das vorliegende erste heft gewidmet, mit dein Bolte ein muster geliefert
hat, das in seiner weit ausgreifendeu gelehrsamkeit und seiner rülimenswerten gründ-
lichkeit kaum von allen nachfolgern wird erreicht werden können. Gerade weil
"Warbecks Schöne Magelone in den weitesten kreisen Verbreitung gefunden und bis
in die letzten jähre herab neue auflagen erlebt hat, war die Veröffentlichung des
ursprünglichen textes nach der von Bolte in Gotha gefundenen originalhandschrift
des Übersetzers eine um so interessantere und dringendere aufgäbe^.
In einer überaus reichhaltigen einleitung gibt Bolte (alle ergebnisse der grossen
Magelone - litteratur verwertend und seinerseits bereichernd) bericht über die entste-
hung des französischen Originals, schildert auf grund neu erschlossenen handschrift-
lichen materials Yeit Warbecks leben, zeichnet den einfluss der französischen littera-
tur in Deutschland am beginne des 16. Jahrhunderts mit auslaufen, deren bedeutung
weit über den besonderen zweck hinausgehen, vergleicht Warbecks Übersetzung mit
dem originale und mit dem ersten drucke (dessen Varianten im anhang verzeichnet
sind) und stellt endlich die bibliographie der zahllosen Magelone -ausgaben bei 15
nationen zusammen.
1) Ich betone dies gegenüber einer bemerkung Landaus, Zeitschr. fiir vergl. litteraturgesch.
8, 267.
392 MATTHIAS
"Wer das heil der recensionen iu nachtragen sieht (eine ansieht, die ich nicht
teüe), der wird bei dem gelehrten herausgeber der Magelone einen sehr schweren
stand haben. Auch mir hat es nui- der zufall ermöglicht, einen winzigen und unwich-
tigen nachtrag zui' bibliographie zu liefern. S. LXVI in der abteilung Böhmisch
(besser wäre Czechisch, denn „Böhmisch" ist ein geographischer und kein sprach-
licher begriff) ist eine ausgäbe nachzutragen: Kuttenberg 1774. Ihr titel lautet
abweichend von dem bei Bolte für die älteste ausgäbe angegebenen titel: „Welmi
\i;essenä Hystoiye 0 krasne Magelone, DceH Krale z NeapoUs, Tez o gednem Welmi
vdatnym Rytjfi, znameniteho Hrabete z Prowincy Synu Peti"owi. Wssem pro Ob-
veselni Mysle a Vkräceni Czasu znova na svetlo vj^dane. V Hofe Kuttny, Eoku 1774.
Ein exemplar (dem die letzten blätter fehlen) befindet sich in der bibliothek des
Böhmischen museums in Prag (27 E 10). Der text dieser ausgäbe stimmt mit aus-
nähme der einleitenden worte völlig übereiu mit der jüngsten (auch bei Bolte ver-
zeichneten) aufläge: Neuhaus (v Jindfichovi Hradci) 1864. Beide ausgaben ergeben
sich als eine fast wörtUche Übersetzung des "Warbeckschen textes. Ausserdem kennt
die czechische litteratur auch ein lied von der schönen Magelone. Jungmaun (V s. 268
nr. 221) verzeichnet: Piseü o kräsne Magelone w Praze 1685. Ein defektes exem-
plar befindet sich auf der bibliothek des böhmischen museums (27 H 3). Es gibt in
reimen den Inhalt des Volksbuches in starker Verkürzung wider.
PRAG. A. HAUFFEN.
Erasmus Alberus. Ein biographischer beitrag zur geschichte der refor-
mätionszeit. Von prof. dr. Franz Schnorr von Carolsfeld, oberbibliothekar
an der königl. bibliothek zu Dresden. Dresden, L. Ehlermann. 1893. YIII und
232 s. 6 m.
Das misgeschick, welches den Erasmus Alberus zeit seines lebens verfolgte,
ist auch nach seinem tode nicht von ihm gewichen: nicht nur war über sein leben
imd seine litterarische tätigkeit infolge der Seltenheit der originaldrucke seiner Schrif-
ten sehr wenig bekannt, sondern das wenige, was man wusste oder zu wissen glaubte
ermangelte auch der genaiügkeit und enthielt wahres und falsches nebeneinander.
Daher wai' es mögUch, dass die behauptung DöUingers, Alber sei von Zeitgenossen
als ein mensch von unreinem leben und zuchtloser zunge geschildert worden, der
durch Verschwendung in schulden gekommen sei und seine gläubiger betrogen habe,
allgemeinen glauben und weiterverbreitung fand, obgleich sie nur durch eine fehler-
hafte Interpretation einer äusserung des Erasmus Roterodamus entstanden war,
welche sich nicht auf Alber, sondern auf den bekannten humanisten Hermann
Buschius bezog. So bitteres unrecht fügte die nach weit einem manne zu, der die
meisten seiner Zeitgenossen an sittlichem Zartgefühl übertraf und der, wie ein ihm
nahestehender sagt, „um der predigt des evangeliums und imi seines geti-euen und
fleissigen strafens willen siebenmal, wie der heilige Athanasius, von seinen befohlenen
schäflein mit gewalt und offener tyrannei verjagt worden ist." So verkehrte und
ungerechte beurteilungen sind nach dem erscheinen des vorliegenden buches unmög-
lich, es sei denn, dass man sich gegen die ruhigen und gewissenhaft abwägenden
ausführungen des Verfassers absichtlich verschliesst. Das umfangreiche, wenn auch
nicht lückenlose quellenmaterial ist hier zum ersten male gesammelt imd zu einer
ebenso gründlichen, wie liebevollen, dabei aber doch unbefangenen darstellung der
persönlichkeit und litterarischeu Wirksamkeit Albers verarbeitet worden (s. 1 — 158).
ÜBER SCHNORR V. CAROLSFELD , ALBERUS
393
Seine heimat ist die "Wetterau, wo er etwa um 1500 geboren ist; von seiner Jugend-
zeit ist nur wenig bekannt; studiert hat er in Mainz und Wittenberg (1—8); seine
erste praktische tätigkeit war die eines Schulmeisters, ein beruf, zu dem er grossa
neigung gehabt und den er zu verschiedenen zeiten seines lebens ausgeübt hat (s. 16
fgg.), niit welchem auch eine reihe von Schriften Albers in Zusammenhang stehen.
Nachdem er elf jähre lang (von 1528) das pfarramt zu Sprendlingen verwaltet, ver-
einigten sich bei ihm ungewöhnlich ungünstige umstände mit der damals besonders
hochzuschätzenden eigenschaft, seine Überzeugung selbst den höchstgesteUten gegenüber
räcksichtslos zu vertreten, und unrechtes tun anderer zu „strafen", auch wenn er
selbst nicht darunter zu leiden hatte, um ihn seine ganze übrige lebenszeit (1539 —
1553) weder im süden noch im norden Deutschlands eine dauernde statte seiner Wirk-
samkeit finden zu lassen, so sehr er selbst sowol, als andere, darunter kein geringerer,
als der ihm seit seiner Studienzeit befreundete Luther, sich darum bemühten. Um
so bewunderungswürdiger ist es, dass er trotzdem zeit und ruhe zu einer ausgedehn-
ten litterarischen tätigkeit fand. Von den zahlreichen Schriften, denen eine einge-
hende Würdigung zuteil wird, sei nur hervorgehoben erstens die in gesprächsform
abgefassto bearbeitung der unter dem namen: Die ungleichen kiuder Evae bekannten
fabel, welche den titel trägt: Von der Schlangen Verfürung, sodann seine welt-
lichen und geistlichen gedichte (fabeln und kirchenlieder) ; erstere, weil sie in
dieser Zeitschrift (XXI, 419—463) nebst einigen zu Albers Charakteristik beitragen-
den stellen anderer werke von ihm abdiiick gefmiden hat; die fabeln und kirchen-
lieder, weil sie auch heute noch der erbauung oder der ergötzung und belehrung
weiterer kreise dienen, während aUe übrigen Schriften jetzt nur noch litterarhisto-
rischen wert haben. Von 40 geistlichen liedern, von denen eine grosse zahl während
der von ihm miterlebten belagerung von Magdeburg (1550 — 51) entstanden ist, las-
sen sich nur noch 14 sicher nachweisen (s. 104 — 112), daranter einige, welche noch
jetzt gesungen werden, so der (1555 bei Val. Neuber in Nürnberg gedruckte)
Abend- oder vespergesang: Christe, du bist der helle tag (Ev. gesangb. f. d
prov. Sachsen 390: Christ, der du bist der helle tag). Ob er zu diesen liedern melo-
dien selbst erfunden hat, wissen wir nicht; wol aber, dass er mit seinem lehrer
und freunde Luther die begeisterung für die „heilige, himmlische und holdselige
musica" teilte, über welche er noch in seiner letzten lebenszeit ein buch vei-fassen
wollte (s. 110; ztschr. XXI, 421 fg.). Die fabeln (s. 112 — 121), in denen das gemüt
und der humor des mannes in schönster weise zum ausdruck kommen, werden in
der von Braune (Halle, Niemeyer, 1892) veranstalteten ausgäbe im verein mit dem
von uns angezeigten buche hoffentlich dazu beitragen, den namen Albers auch
ausserhalb des engen kreises der fachgenossen so bekannt zu machen, wie er es
verdient.
Von den beüagen (159 — 228) geben I — XVII briefe und andre schwer zu-
gängliche Schriftstücke von Albers band; XVIII: ein schreiben der witwe an Flacius
über Albers tod; XIX: nachtrage und berichtigungeu zu den angaben über Albers
Schriften in Gödekes grundriss II-, 440 — 447 (wozu zu vergleichen Zeitschr. XXI,
432 — 35). Ein ausführliches register (229 — 232) macht den beschluss.
BURG B. MAGDEBURG. MATTHIAS.
394 GERING
Ordbok öfver svenska spräket utgifven af Svenska akademiea. Haftet
1 — 3. A — afräda. Lund, Gleerup, 1894 — 95. XXVIII ss. und 432 spp. 4.
ä kr. 1,50. (Für die mchtskandinavischen länder ist der ausschliessliche vertrieb
des Werkes der firma M. Spirgatis in Leipzig übertragen.)^
Das grosse, von der schwedischen akademie herausgegebene nationalwerk , von
dem die ersten drei lieferungen jetzt vorliegen, hat eine lange Vorgeschichte; sie ist
nämlich ebenso lang wie die geschichte der akademie- selbst, die vor einem decen-
nium (1886) ihr erstes säcularfest feierte. König Gustaf III., der Stifter der anstalt,
hatte ihr als eine ihrer hauptaufgaben die hersteUung eines schwedischen Wörter-
buches zugewiesen, bei dem die von gelehrten romanischen gesellschaften (besonders
der Academia della crusca und der Academie fran^aise) herausgegebenen werke als
muster dienen sollten, und bereits 1787 legte man band ans werk, indem man ein-
fach die einzelnen buchstaben unter die mitglieder verloste. Man war nämlich der
naiven meinung, dass jeder, der die fähigkeit besitze, sich zu dichterischen oder
gelehrten zwecken der schwedischen spräche zu bedienen, auch ein Wörterbuch der-
selben abzufassen im stände sei; dass man philologische und linguistische keuntnisse
für überflüssig hielt, geht zur genüge daraus hervor, dass unter den mitgliedern, die
das coUegium der aderton damals zählte, nicht ein einziger Sprachforscher sich befand.
Dass die sache so einfach nicht war, wie man sich eingebildet hatte, stellte sich
aber bald heraus: nur wenige von den akademikern, die grossenteils mit amtsgeschäf-
ten überhäuft waren, fühlten lust und beruf zu der ungewohnten arbeit, zu der sie
Vorbildung und technische fertigkeit nicht mitbrachten, und ein gedeihliches fort-
schreiten des Werkes ward schon dadurch unmöglich gemacht, dass jeder einzelne
artikel in den Sitzungen vorgelesen und discutiert wurde. Eifrige arbeiter waren in
der ersten zeit niu" der publicist und historiker Job. Murberg (1734 — 1805) und
der dichter Gudm. Jöran Adlerbeth (1751 — 1818), aber das unternehmen rückte
nicht vorwärts, obwol man später auch einzelne nichtakademiker, die sich zum teil
freiwillig angeboten hatten, heranzog, und nach Murbergs tode geriet es ganz ins
stocken. Erst 1835, als Bernhard von Beskow (1796 — 1868) Sekretär der aka-
demie ward, fieng mau auf dessen betreiben wider energischer zu arbeiten au, da
man aber an dem alten princip nichts wesentliches änderte, wurde trotz der reich-
haltigen materialsammluugen, die allmählich zu stände kamen, und obgleich schliess-
lich auch einige wirkliche fachmänner wie Dalin und Hagberg m den dienst des
Wörterbuches gestellt wurden, nichts fertig. Bei Hagbergs tode (1864) war nicht
einmal das von diesem bearbeitete A in druckfähigem zustande, und es bedurfte noch
weiterer sechs jähre, um diesen buchtaben zu vollenden, der endlich 1870 mit einem
Vorworte von ßydqvist herausgegeben ward. Dass es in dieser weise nicht weiter-
gehen könne, war jedoch nun der akademie klar geworden, welche die ausdrückliche
erklärung abgab, dass sie das werk nicht selber fortsetzen, sondern in zukuuft nur
vorarbeiten für ein zirkünftiges Wörterbuch herausgeben und aus ihren mittein lexiko-
graphische und grammatische publikationen unterstützen werde. Es erschien denn
auch bereits 1874 die Ordlista öfver svenska spraket in der von der akademie fest-
1) Vgl. G. Cederschiöld, Nägra meddelanden om Svenska akademiens ord-
bok öfver svenska spräket, Limd 1893; Th. Hjelmqvist, En uy källa för var foster-
ländska odling, uägra anteckningar om Svenska akademiens ordbok, Lund 1893;
derselbe, Om begagnandet af Svenska akademiens ordbok, Lund 1894.
2) Gustaf Ljuuggreu, Svenska akademiens historia 1786 — 1886. Stockh. 1886.
2 bde.
ÜBER SVENSKA AKADEMIENS ORDBOK 395
gesetzten Orthographie (seitdem widerholt aufgelegt) und 1880 das von Elias M. Fries
hinterlassene wöi-terbuch der schwedischen ptlanzennameu {Kritisk ordbok öfver svenska
växtiiamnen) ^ wie auch durch die akademie Noreens abhandlung über die dialekte
der landschaft Dalarna (Nijare bidrag tili kännedom om de svenska landsniälen
ock svensk folklif, 1881 — 82) und Klockhoffs schrift über die relativsätze im alt-
schwedischen {Relativsatser i den äldre fornsvenskan med särsküd hänsyn tili de
bäda VestcjötalcKjarna, Karlstad 1884. 4) veranlasst und unterstützt wurden, und
neuerdings Fred. Tamms Etymologisk svensk ordbok (Stockh. 1890 fgg.) ebenfalls
einen namhaften zuschuss erhält. Indessen blieb das gefühl, dass es eine ehren-
pflicht der akademie sei, die von dem königlichen Stifter gestellte aufgäbe zu lösen,
wenigstens bei einzelnen mitgliedem lebendig, und nachdem der professor der nor-
dischen Philologie in Lund Theodor Wisen 1878 als nachfolger ßydqvists in die
zahl der aderton aufgenommen war, stellte er 1883 den autrag, dass die arbeit an
dem Wörterbuche nach einem ganz neuen und zeitgemässen plane wider aufgenom-
meu werden solle. Die akademie stimmte dem zu und betraute den antragsteiler mit
der obersten leitung des Unternehmens, die er unter der bedingung annahm, dass
dem adjunkten (jetzt ord. professor) K. F. Söderwall in Lund, der durch lexika-
lische arbeiten bereits einen hochgeachteten namen sich erworben hatte, die redaktion
des Wörterbuches übertragen werde. Ein von SöderwaU ausgearbeiteter und von Wi-
sen gebilligter plan wurde bald darauf der akademie vorgelegt und von ihr angenom-
men, worauf die vorarbeiten sofort ihren anfang nahmen.
Das unternehmen konnte jetzt unter weit günstigeren bedingungen begonnen
werden, als ehedem. In Upsala uod Lund hatten bereits seit längerer zeit ordent-
liche Professuren für nordische philologie bestanden und es waren daher eine ganze
anzahl von jüngeren methodisch geschulten gelehrten vorhanden, die dem grossen
werke ihre kräfte widmen konnten. Davon , dass die mitglieder der akademie gemein-
schaftlich das Wörterbuch verfassen soUten, war natürlich nicht mehr die rede: unter
den auspicien der akademie und durch ihre reichen mittel^ unterstützt sollte das
werk von einem festen redaktionscomite, das in Lund seinen sitz hatte und an des-
sen spitze Wisen- und SöderwaU standen, ausgearbeitet werden. Zunächst wurde
eine grosse anzahl von excerpisten, die eine kiu'ze Instruktion^ erhielten, mit dem
ausziehen der quellenschriften betraut; die citatenzettel (für die sogar ein bestimmtes
papier und ein bestimmtes format genau vorgeschrieben war) waren an die central-
stelle einzusenden , wo sie geordnet und revidiert wurden , um dann den wissenschaft-
lichen bearbeitern, unter die die einzelnen artikel von den hauptredacteuren verteilt
wurden, als material zu dienen. Nach dem ursprünglichen plane sollten die Samm-
lungen der sprachprobeu sich zunächst auf die buchstaben A — G beschränken, doch
sah man bald ein, dass es notwendig sei, sie auf das ganze aiphabet auszudehnen.
1) Diese fliessen zum grössten teile aus den einnahmen der officiellen schwe-
dischen zeitung {Post- och inrikes tidni?igar), die von der akademie herausgegeben
wird und für bestimmte öffentliche bekanntmachmigen (z. b. für concursangelegen--
heiten) benutzt werden muss, und es ist sehr zu wünschen, dass ihr diese quelle
nicht durch kurzsichtige massnahmen des schwedischen reichstages verstopft oder
geschmälert werde.
2) Dieser hochverdiente gelehrte hat leider das erscheinen des ersten heftes
nicht mehr erlebt: er starb bereits am 15. febr. 1892 (s. Ztschr. XXV, 362 fgg.).
3) Diese ward 1893 auf grund der im verlaufe der arbeit gesammelten erfah-
rimgen durch ausfühi'üche „Änvisningar tili insanilande af sprakprof för Svenska
akademiens ordbok'\ welche 74 §§ enthalten, ersetzt.
396 GERING
Als man im friihling 1893 an die redigierung des 1. heftes gieng, berechnete man
die zahl der citate, die damals zur Verfügung standen, auf mnd 800,000; die com-
pletieruüg des materials wird jedoch, während die ausarheitung weiter schreitet, noch
immer fortgesetzt ^
Das Wörterbuch der akademie, das ein bild von der entwicklung der schwe-
dischen spräche von der reformation bis auf unsere tage geben soll, unterscheidet
sich nicht unwesentlich und nicht zu seinem nachteil von dem buche, mit dem jeder
Deutsche es zunächst vergleichen wird, dem Deutschen wörterbuche der brüder
Grimm. Es wird vor allem ein mehr einheithches gepräge tragen, als dieses. Nach
dem tode der begründer ward die fortsetzung des deutschen werkes, das damals
erst bis zu dem buchstaben F gediehen war, wie bekannt, \\ex gelehrten übertragen,
von denen jeder an einem andern orte für sich arbeitete, jeder die durchaus unzu-
länglichen materialsammlungen auf eigene band ergänzen musste, jeder nach eigenem
gutdünken den lu'sprünglichen plan zu ändern befugt war. Der eine zog eine knappe
und gedrängte darsteUung vor, der andere hatte das bedürfnis, sich behaglich auszu-
dehnen, weitläuftige etymologische oder kulturhistorische excurse einzuschieben, ein-
zelne artikel geradezu zu grossen abhandlungen zu gestalten. Dies ist bei dem
schwedischen wörterbuche, wo von vornherein ein fester plan entworfen und das
ganze unter die Oberaufsicht des hauptredacteurs gestellt ist, ausgeschlossen: so tief-
greifende unterschiede, wie sie z. b. das K im Giimmschen wörterbuche gegenüber
dem H oder N aufweist, werden nicht vorkommen. Das schwedische Wörterbuch
gibt ferner, was bei Grimm ganz fehlt, füi" jedes einzelne wort nach einem leicht
fasslichen System eine genaue angäbe über ausspräche und accentuation , es verzeich-
net in chronologischer Ordnung die älteren Schreibweisen der Wörter, bemerkt auch
erforderlichen falles, ob dieselben veraltet, selten oder nur von dichtem gebraucht
sind, ob sie nur als technische ausdrücke innerhalb gewisser berufszweige, nur in
der Umgangssprache oder in dem slang einzelner stände sich finden usw., es lässt
jedem citate seine ursprünghche Orthographie und fügt — was manchem vielleicht
als übertriebene pedauterie erscheinen mag — das jähr hinzu, in welchem die schritt,
aus der es entlehnt ist, verfasst wurde oder erschien. Auf die genaue und ausführ-
liche darlegung der bedeutungsentwicklung ist besondere Sorgfalt verwendet; bei sehr
häufig gebrauchten Wörtern, deren sinn mannigfaltig nuanciert ist (z. b. bei praeposi-
tionen) ist eine kurze semasiologische Übersicht, die auf die einzelnen abschnitte des
artikels hinweist, diesem an die spitze gestellt. Wo die excerptsammlungen zufällig
kgend eine allgemein übliche Verwendung eines wertes nicht bezeugten, hat man sie
durch selbstgebildete musterbeispiele belegt, die jedoch durch cursivschrift von den
queUencitaten deutlich unterschieden sind. Sehr zweckmässig ist es, dass bei den
einfachen Wörtern am Schlüsse gleich die gebräuchlichsten Zusammensetzungen ange-
hängt sind, imd zwar auch diejenigen, in denen das betr. wort den zweiten teil des
compositums bildet (natürlich werden diese noch besonders und ausführlicher an
ihrem durch die alphabetische anordnung fest bestimmten platze behandelt). Die ety-
mologischen bemerkungen verzeichnen bei den echt nordischen Wörtern zunächst,
1) Ein kleines curiosuin zur geschichte des Wörterbuches sei hier mitgeteilt.
Professor E. H. Tegner, der bei der redaction des werkes als linguistischer beirat
tätig ist, vernüsste bei der correctur des zweiten heftes das wort afbygd, das aus
gedruckten quellen nicht nachgewiesen werden konnte. Er gebrauchte es daher in
einem buche, das er gerade unter der feder hatte, und aus diesem ist es sp. 136
citiert.
ÜBER SVENSKA AKADEmENS ORDBOK 397
falls dieselbe vorhanden ist, die altschwedische form, und meist (warum nicht immer?')
die entsprechungen der anderen skandinavischen sprachen; ist das wort ein gemein-
germanisches, so sind auch die formen der übrigen germanischen Schriftsprachen (der
toten wie der lebenden) angegeben; von den ui-verwandten sprachen sind besonders
latein, griechisch und sanskrit herangezogen; bei fremd- und lehnwöiiem hat man
sich natürlich darauf beschränkt, das wort derjenigen spräche, aus der die aufnähme
in das schwedische erfolgte, mitzuteilen-.
Bei der auswahl der aufzunehmenden Wörter hat man eine weise selbstbeschrän-
kung walten lassen. Das vorwort (s. 2) sagt mit recht, dass, wenn man alles hätte ver-
zeichnen wollen, was in der schwedischen litteratur der behandelten periode sich findet,
und alles, was gegenwärtig in der rede der gebildeten vorkommt, ein unerreichbares ziel
gesteckt worden wäre. Infolge dessen wurde das princip festgehalten , von dem einhei-
mischen sprachgut der gegenwart nur das zu registrieren , „was als gemeinsamer besitz
einer bedeutenden anzahl gebildeter Schweden aus verschiedenen teilen des landes ange-
sehen werden kann", sowie das, was einer erklärung bedürftig ist oder selbst einen
wichtigen aufschluss vermittelt; aus den dialekten nur dasjenige mitzuteilen, was die
„reichssprache" zu beleuchten vermag oder der aufnähme in diese wert erscheint;
endlich auch nur diejenigen fremdwürter einzureihen, die in weiteren kreisen von
leuten mit allgemeinerer bildung bekannt sind. FreiUch möchte es dem Nichtschwe-
den, dem die unzahl romanischer fremdwörter in den bisher erschienenen lieferungen
auffallen wird, scheinen, als ob das niveau dieser „allgemeinbildung" etwas zu hoch
angesetzt sei — aber man muss bedenken, dass die „Franzosen des nordens" gegen
entlehnuugen aus dem südeuropäischen wertschätze ebensowenig spröde gewesen sind
wie die Deutscheu des 17. Jahrhunderts, piu'istische tendenzen aber in erheblich
schwächerem masse als bei uns sich geltend machten. Immerhin aber ist es mir
zweifelhaft, ob man nicht durch ausscheidung dieser romanischen fremdlinge, die
doch nicht wie die lehnwörter aus den verwandten germanischen sprachen ein
wirkliches bürgerrecht im schwedischen erlangt haben, das buch hätte entlasten und
sie einem fremdwörterbuche hätte überweisen sollen, das ja als besonderes Supple-
ment dem hauptwerke hätte folgen können. Jedoch ist dies das einzige bedenken,
das ich. zum ausdruck bringen muss. Im ganzen kaun mein urteil nur dahin lauten,
dass wir es mit einem sorgfältig und umsichtig vorbereiteten und in der ausführung
nahezu tadellosen werke* zu tun haben, das der schwedischen Wissenschaft zu hoher
ehre gereichen wird*. "Wenn wir einmal dahin gelangen, nach Vollendung des Grimm-
1) Bei dem werte abborre vermisst man z. b. die angäbe, dass dasselbe (in
der form aborre) auch dänisch ist, ebenso unter afbryta das dänische afbryde usw.
2) Wenigstens einmal ist dies jedoch vergessen: es fehlt nämlich bei dem
jetzt veralteten affetalia (sp. 174) der hinw^eis auf die herkunft des wertes (frz. avi-
tailler).
3) Mit welcher geuauigkeit die hersteUung des buches geschieht, kann mau
daraus ersehen, dass der „chef" sämmtliche artikel im manuscript revidiert, dass
exemplare der 2. correctiu- auch den ausserhalb Luuds wohnenden mitarbeiteru zur
begutachtung zugehen und dass alle citate auf der Universitätsbibliothek in Lund
oder — falls die citierten werke dort nicht vorhanden sind — auf der königl. biblio-
thek in Stockhobn, eventuell auf der Universitätsbibliothek in Upsala, ehe das Impri-
matur erteilt wird, nachgeschlagen werden.
4) Auch die typographische ausstattuug verdient uneingeschränktes lob. Da-
durch, dass man 6 verschiedeue Schriftgattungen verwendet hat (das Gi-immscho
Wörterbuch braucht deren nur 4) ist der dmck ausserordentlich klar und übersichtlich
398 BAHLMANN
sehen Wörterbuches den nhd. Sprachschatz nach einem voUkommneren plane (wie ein
solcher z. b. von H. Paul in den Sitzungsberichten der königl. bairischen akademie,
philos.-philol. u. histor. kl. 1894, s. 53 — 91 aufgestellt ist^) zu sammeln, so wird
uns das Wörterbuch der schwedischen akademie in mehrfacher hinsieht als niuster
dienen können. Wünschen wir, dass das grosse unternehmen, das von dem schwe-
dischen Volke mit stolzer freude und wärmster begeisterung aufgenommen worden ist
(nach ausgäbe des 3. heftes betrug die zahl der subscribenten aus allen schichten
der bevölkerung bereits 3600) einen rüstigen fortgang nehmen und dass es den jetzi-
gen mitarbeitern (neben K. F. Söderwall, E. H. Tegner und Gust. Cederschiöld
sind besonders E. Hellqvist, Th. Hjelmqvist, Ev. Ljunggren, Magnus Lund-
gren und A. Malm zu nennen) vergönnt sein möge, es dereinst in seiner Vollen-
dung zu schauen. Im günstigsten falle — wenn die Zuschüsse von der akademie
fortdauernd in gleichem umfange gewährt werden können und dem buche die bereit-
willige hilfe geschulter fachmänner erhalten bleibt — kann es in 20 — 30 jähren fer-
tig sein.
geworden, und die scharfen typen ermüden auch bei längerem lesen das äuge durch-
aus nicht.
1) Vgl. dazu (j. Cederschiöld, Ora de seuast framställda fordringarna pä
en historisk ordbok (Einladungsschrift von Göteborgs högskola 1894).
KIEL, 10. SEPT. 1895. HUGO GERING.
Esther im deutschen und neulateinischen drama des reformations-
zeitalters. Eine litte rarhistorische Untersuchung von Rudolf Sohwartz. Olden-
biu-g und Leipzig. 1894. VIII, 276 s. 4 m.
Nachdem R. Pilger im 11. bände dieser Zeitschrift zuerst einen biblischen
stoff (Susanua) durch alle dramen des 16. Jahrhunderts verfolgt und deren abhängig-
keit von einander dargelegt hat, sind ähnliche versuche widerholt unternommen wor-
den: die dramen vom- verlorneu söhne untersuchte 1880 H. Holstein und 1886/88
Er. Spengler, die dramatisierungen des ägyptischen Joseph 1887 A. v. Weilen, die
Estherdramen, über die namentlich Holstein schon wertvolles material erbracht,
neuerdings Schwartz in dem vorliegenden buche.
Schwartz unterscheidet nach der litterarischen Zusammengehörigkeit drei grup-
pen. Die erste umfasst die von einander unabhängigen bearbeitungen des Hans Sachs
(1536 und 1559) und des Valten Voith (1537), die sich eng dem biblischen Wort-
laut anschliessen , das drama des Andreas Pfeilschmidt (1555), der seine Vorgänger
zwar gekannt, aber nie wörtlich ausgeschrieben hat, das stark dui'ch Pfeilschmidt
beeinflusste stück Josias Murer's (1567), die im wesentlichen auf Murer, aber auch
auf Pfeilschmidt ruhende Berner Hester (15G7) und die fast ganz aus Sachs, Voith,
Pfeilschmidt und Locke's Verlornem söhn zusammengetragene komödie des Marcus
Pfeifer (1621). Die zweite gruppe coucentriert sich um den „Hamanns" des Thomas
Naogeorgus (1543), den Joh. Chryseus (1546) wie Joh. Mercurius und Joh. Postius
(ca 1570?) übersetzte, ein anonymes Jesuitendrama aus den jähren 1576/79 auffal-
lenderweise ganz und Damian Lindtner (1607) in deutscher Übersetzung zum teil in
sich aufnahm, und zu dessen fünf akten Caspar Wolf (1601) dialogisierte argumente —
von Schwartz s. 267 fgg. abgedruckt — lieferte, während Wolifgang Kuntzel (1564),
der auch Pfeilschmidt und Hans Sachs benutzt, gleich Georg Mauricius dem älteren
ÜBKR RCHWARTZ, ESTHER IM DRAMA 399
(1697) die Übersetzung des Chryseus in stärkster weise ausgebeutet hat. Die dritte
gruppe endlich bilden diejenigen dramen, die weder mit den früher behandelten
stücken noch unter einander in direktem zusammenhange stehen, nämhch die Esther
der englischen komödianten (1620), eine puppenkomödie aus dem 17. Jahrhundert,
das ziemlich gleiehalterige spiel von der stolzen Vasthi und die neulateinischen dra-
men des Franciscus Eutrachelius (1548), Cla\idius Roilletus (1556), Cornelius Lauri-
manus (1560), Petrus Philicinus (1562), Herm. Fabronius (1600) und Jac. Zevecotius
(3. aufläge: 1628).
In dem nachweis der abhängigkeitsverhältnisse, die ein auf s. 171 gebotenes
stemma veranschaulicht, lifgt der hauptweii von Schwartz's trefflicher arbeit. Die
dankenswerten ausführlichen analysen erleichtern nicht nur die nachprüfung, sondern
bilden auch einen für mancherlei zwecke aiisreichenden ersatz für die zum teil nur
schwer zugänglichen originale; über die verloren gegangenen Estherdramen des land-
grafen Moriz von Hessen (1597) und des Joh. Val. Andreae (1602) haben sich leider
nicht einmal ganz kurze Inhaltsangaben beibringen lassen.
Den von Schwartz noch besprochenen 6 Jesuiten - scenarien aus dem 17. Jahr-
hundert war das in Weller's Annalen 11, 289 nachgewiesene Augsburger program m
vom jähre 1672 hinzuzufügen. Betreffs einer anderen synopse — „Gestürtzte Hof-
fartt und Erhöhete Tugendt, Dieses an Mardochaeo, Jenes an Aman" — , die 1665
in Meppen ausgeteilt worden, sei auf meine im nächsten beiheft des Centralblatts
für bibliothekswesen erscheinende Zusammenstellung der Jesuitendramen der nieder-
rheinischen ordensprovinz verwiesen; nach derselben haben die väter auch 1708 und
1742 in Hildesheim, 1736 in Jülich, 1744 in Koblenz und 1768 in Köln Esther-
aufführungen veranstaltet. Die neuesten dramatischen bearbeitungen des Estherstof-
fes in deutscher spräche sind in Grethlein's Allg. deutschen theaterkatalog (Münster
1894, sp. 171) verzeichnet.
MÜNSTER l/w. P. BAHLMANN.
Niclaus Mauuel's Satire om den syge Messe i dansk bearbejdelse fra
reformationstiden udgivet af S. Birket Smith. Kobenhavn, Thiele. 1893.
XLVI, 49 s. 8. (= Universitets-jubilaeets danske samfund nr. 69.)
In der schweizerischen reformationsgeschichte bildet das im Januar 1528 unter
Vadians vorsitz zu Bern gehaltene religionsgespräch einen bedeutungsv^oUen Wende-
punkt; denn während anderthalb jähre zuvor die Badener disputation zwischen den
katholiken Eck, Faber und Murner und den evangelischen Oekolarapadius und Hal-
ler keinen entscheidenden erfolg nach der einen oder andren seite gebracht hatte, so
zogen diesmal die drei genannten Wortführer der katholischen sache vor, überhaupt
nicht zu erscheinen, und in Bern wurde alsbald der gottesdienst nach evangelischer
weise eingeführt. In diesen tagen verfasste der reichbegabte Berner maier und dich-
ter Niclaus Manuel, der bei der disputation das amt eines rufers versah, seine glän-
zende Satire „Krankheit der messe". Mit urkräftigem humor führt dies prosagespräch
die personificierte messe als eine schwindsüchtige kranke vor, der ihre frexmde ver-
geblich auf allerlei weise zu helfen suchen. Der papst sendet, als er hört, dass ihr die
badenfahrt nichts genützt habe , den doktor Rundeck (Eck) iind den apotheker Heioho
(Faber) zu ihr; aber keins ihrer mittel schlägt an, weder das bad, noch ihr geschrei,
das fegfeuer, die hostie, das heilige öl und die geweihten kerzen, so dass endlich
die ärzte um ihren lohn besorgt davonlaufen.
400 BOLTE, ÜBER MANUELS STGE MESSE ED. BIRKET SMTH
Wie durchschlagend diese schrift Manuels auch ausserhalb der Schweiz wirkte,
beweist die grosse zahl von nachdrucken und bearbeitungen , die Baechtold in seinem
N. Manuel (1878 s. CLXXVIII) und in seiner Litteratm-geschichte der Schweiz (1892.
Anhang s. 74 und 135) und B. Wenzel (Camnierlauder und Vielfeld. Eostocker diss.
1891 s. 33. 69) verzeichnet haben. Unter diesen fehlt jedoch das oben genannte
dänische gedieht, mit dem uns S. Birket Smith, der bewähiie kenner der älteren
dänischen litteratur, durch einen sorgfältigen neudruck bekannt macht. Es führt den
titel: Dialogus | En greselig ond tiende som | Bauen fick til Rom om den Bapistiske |
Messe som er det ypperste hoffuitsticke i | hans oc Anthechristens Kircke, Och ] huad
suar band oc hans hellige aan- | delige selffskaff der til swaret | haffue. | M.D.xxxiij |
20 bl. 8. 0. 0. (Der ungenannte druoker ist Joh. Hochstraten zu Malraö).
Der Verfasser ist trotz der vom herausgeber aufgewandten mühe nicht zu
ermitteln gewesen. Seine bearbeitung verrät überall das bestreben, die Satire Manuels
zu nationalisieren, ihr dänische lokalfarbe zu verleihen, und zwar nicht nur in der
einführung dänischer heiligen (vor gamle s. Enud, den gamle fru Liseke), städte
und redensarten, sowie in der einschaltung einzelner von Smith s. XXXII besonders
zusammengestellter verspartien, sondern auch in der hervorhebung dänischer Vor-
kämpfer der katholischen lehre. Wie in Manuels dialoge das Badener und Berner
religionsgespräch , so bildet hier der im juli und august 1530 zu Kopenhagen gehal-
tene herrentag, auf dem derselbe gegensatz von der altkirchlicheu und der reforma-
mationspartei ausgefochten wurde, den deutlich wahrzunehmenden hintergrund. An
stelle Rundecks und Heiohos sendet der papst die doktoren Johan Ulf und Stagebrand
zur kranken messe, unter denen der kanonikus Hans Jacobsen Ulf zu Lund und der
deutsche dr. Stagefyr zu verstehen sind; der mönch Agrist heisst im dänischen Bro-
der Dirick Wendekaabe (d. h. Manteldreher), was ein anderwärts belegter Spottname
für Beul Helgesen ist, usf. Von besonderem Interesse ist mm, dass diese an sich
naheliegende anpassung der schweizerischen satire an die dem bearbeiter und seinem
pubUkum vertrauten Verhältnisse und personen schon vorher einmal in Deutschland
durchgeführt war in der von Baechtold (Manuel s. CLXXXI) mit c bezeichneten
Umarbeitung vom jähre 1529, die z. b. die beiden ärzte dr. Aleueld zu Halle und
dr. Mensing zu Dessau nennt, und dass, wie schon die vergleichung der titel lehrt,
der dänische anonymus diese Umarbeitung, von der noch im selben jähre 1529 eine
niederdeutsche ausgäbe erschien, vor äugen gehabt und benutzt hat. Der heraus-
geber hat durch eine vergleichung der drei deutschen texte mit dem dänischen
(s. XXVII) festgestellt, dass die hochdeutsche Umarbeitung von 1529 dem dänischen
gedichte am nächsten steht, dass dieses aber ausserdem einzelne ausdrücke enthält,
die zum Originaltexte Manuels, aber nicht zu jener Umarbeitung stimmen. Wenn
man nicht annehmen will, dass der Däne zwei verschiedene deutsche drucke benutzt
hat, so bleibt nur die folgenmg übrig, die auch S. zieht, dass noch eine uns unbe-
kannte deutsche fassung existierte, die zwischen Manuel und der Umarbeitung von
1529 in der mitte stand. Vielleicht lohnte es überhaupt, einmal genauer der text-
geschichte der deutschen flugschrift, durch die ja auch der dialog von Roy und Bar-
low Rede me and be not wrothe (1528. Neudruck von E. Arber 1871) beeinflusst zu
sein scheint, nachzugehen und sich dabei die von S. gegebenen winke zu nutze zu
machen.
BOLTE, ÜBER WOLKAN, KIRCHENLIED DER BÖHM. BRÜDER 401
Das deutsche kirchenlied der böhmischen brüder im IG. jahrhiiudert.
Von R. Wolkaii. Prag, A. Haase. 1891. V, 178 s. 8. 3 m.
Die vorliegende Untersuchung, die hier ohne schuld des referenten verspätet
zur anzeige gelaugt*, ist entstanden im anschlusse an das grössere unternehmen Wol-
kans „Böhmens auteil an der deutschen litteratur des 1(3. jahrhundeiis". Sie gilt in
erster linie der dichterischen tätigkeit des Schlesiers Michael Weisse, der als pre-
diger der deutschen gemeinde der böhmischen brüder zu Landskrou 1531 eine alle
bisher erschienenen protestantischen gesangbücher an umfang weit übertreibende
Sammlung gei.stlicher lieder samt den melodien dazu herausgab. Von den zahlreichen
abdrücken, die mau bequem in Goedekes Grundriss-2, 235 fg. überblicken kann,
sind zwei von besonderer Wichtigkeit, die 1544 von Joh. Hörn, dem bischofe der
böhmischen briider, zu Nürnberg veranstaltete, verändei-te und vermehrte ausgäbe
und die 1566 von Michael Tham besorgte, als deren druckort vermutlich Prag anzu-
nehmen ist. Durch eine sorgsame vergleichung hat AVolkau das Verhältnis dieser
liedersammlungen zu einander festgestellt: die älteste enthält 157 eigne dichtuugeii
Weisses, die zweite scheidet vier davon aus und bringt 32 neue, 1566 erscheinen
unter den 348 nummern des hauptteils 180 jüngere lieder von Joh. Geletzky, Michael
Tham, Petrus Herbert u. a., während in einem anhange 108 nicht von böhmischen
brüdern, sondern von Luther uud seioen genossen herrührende lieder vereinigt sind.
Die ausgäbe von 1544 besitzt ein besonderes Interesse durch die darin sich kund-
gebende annäherung der böhmischen brüder an Luthers abendmahlslehre; nicht bloss
im Vorworte, das man bei Wolkau Böhmens anteil 1, 12 fg. übersichtlich abgedruckt
findet, ist das ausgesprochen, sondern es sind auch mehrere lieder Weisses, der
schon 1534 verstorben war, in diesem sinue abgeändert. Die 32 neuen lieder, die
man bisher allgemein dem herausgeber Hom zuschrieb, nimmt Wolkan gleichfalls
für Weisse üi ansprach, ohne dass er völlig durchschlagende gründe vorbrächte.
Die Übereinstimmung mit den unzweifelhaften dichtuugeu Weisses in Inhalt und form
beweist allein noch nicht seine Verfasserschaft; wertvoller ist das nebenher in emer
anmerkung auf s. 76 erwähnte geständnis Horns, er als geborener Tscheche sei in
deutscher spräche nicht so geschickt wie sein freund Weisse. Man wird also Wolkan
wol die Wahrscheinlichkeit seiner behauptuug zugestehen müssen.
An Weisse ist, obschon er sich bei seiner fruchtbaren tätigkeit öfter widerholt
und nicht immer gleich geleak in der darstelluug zeigt, wahres dichterisches vermö-
gen, natürlichkeit und volksmässigkeit zu rühmen, wie ihn auch Luther 1545 aus-
drücklich einen „guten poeten" genannt hat. Seine bedeutung ist jedoch durch die
ungeprüft widerholte angäbe, er habe nur ältere tschechische kirchenlieder übertra-
gen, bisher herabgedmckt worden. Wolkan verhilft ihm zu seinem rechte, indem er
jene bemerkung als irrig nachweist. In dem tschechischen kirchenliederschatze , des-
sen erste Sammlung schon 1501 erschien, finden sich zu den 157 nummern des gesang-
buches vom jähre 1531 nur 16 parallelen, darunter allerdings Weisses bekannteste
dichtuug „Nun lasst uns den leib begraben", zu den 32 zusatzliedern der Hornschen
Sammlung 9; uud auch bei diesen ist nicht überall die benutzung des tschechischen
liedes unzweifelhaft, sondern es mag hie und da auch die Übereinstimmung aus der
gemeinsamen lateinischen vorläge zu erklären sein. Denn ebenso wie Luther hat
Weisse die lateinischen kirchenlieder verwertet und sich öfter durch die deutschen
1) Eine ausführlichere besprechung, die der referent vor längerer zeit an die
redaktion dieser Zeitschrift sandte, gieng auf der post verloren.
ZEITSCHRIFT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XXVni. <^^
402 BOLTE, ÜBER WOLKAN, KIRCHENLIED DER BÖHM. BRÜDER
gesänge Luthers, Speratus' imd andrer Protestanten, wie sich aus der Verwendung ihrer
melodien und einzenen anklängen ergibt, anregen lassen. Dagegen treten uns in dem
cautional von 156G zahlreiche direkte Übersetzungen tschechischer originale entgegen:
von Herbert 36 nuiumeru, von Tliani 12, von Geletzky 9 usw. Dies resultat von
"Wolkans forschuug, über das ich kein eigenes urteil abzugeben vermag, erhält seine
bestätigung durch eine Untersuchung, die J. T. Müller in Herrnhut kurz zuvor unab-
hängig von Wolkan angestellt und in J. Jnlian's Dictionary of Hymnology (London
1892 s. 153—160) unter dem titel Bohemian Bretivens Hyvmodij veröffentlicht hat.
Den beschluss 'des verdienstvollen buches (s. 103 — 178) bildet ein alphabe-
tisches Verzeichnis der bis 1639 veiöffentlichten kirchenlieder der böhmischen brüder,
das nicht nur die strophenzahl, Verfasser, quelle und fundort angibt, sondern auch
die gesangbüclier Deutschlands vermerkt, in denen das einzelne lied aufnähme fand.
Es geht daraus hervor, dass die lieder der böhmischen brüder einen wesentlichen
bestandteil des protestantischen liederschatzes des 16. Jahrhunderts gebildet haben
und namentlich auch in Niederdeutschland verbreitet gewesen sind.
BERLIN. JOHANNES BOLTE.
Die Singspiele der englischen komödianten und ihrer nachfolger in
Deutschland, Holland und Skandinavien. Von Johannes Bolte. (Thea-
tergeschichtliche foi'schungen, VlIL) Hamburg, Leopold Voss. 1893. VIII und
194 s. 5 ra.
Den grossen Verdiensten, welche sich Bolte um die erforschung unserer litte-
ratur schon erworben, hat er durch die vorliegende vortreffliche arbeit ein neues
hinzugefügt. Eine darstellung des englischen Singspiels und seiner wii'kung auf deut-
schem boden war bei der bedcutung, welche diese litteraturgattung in der deutschen
dichtung des 17. Jahrhunderts einnimmt, durchaus notwendig; allein sie konnte nur
einem forscher gelingen, der wie Bolte das gesamte, auf den verschiedensten biblio-
theken zerstreute weitschichtige material kennt und beherrscht. Einer trotz ihrer
kürze über Ursprung, charakter und melodien der Singspiele eingehend orientierenden
einleitung folgt ein sehr praktisch angelegtes erschöpfendes verzeich.ms, das (Ayrer
eingeschlossen) zweiunddreissig nummern umfasst, darunter viele in verschiedenen
fassuugen. Im einzelnen wird unsere kenntnis vielfach bereichert, aber auch für die
bedeutenderen fragen weiss Bolte überraschend viel neues beizusteuern. So wird bei
Keller, Fastnachtsspiele, H, 1013 — 20: Ein iveyl last vns beysamen hleyhen hier
(s. 11) zum ersten male in seiner bedeutung erkannt und richtig eingereiht; für die
melodie: lek ben tot Amsterdam gewesen wird s. 22 fg. ein augenscheinlich von den
Singspielen der englischen komödianten angeregter liebesdialog (um 1615) aus einer
Kopenhagener abschrift bekannt gemacht; ferner weist Bolte für die Singspiele: „Die
doppelt betrogene eyfersucht" eine der vorläge nahe verwandte fassung sowie auch
eine holländische fassung der vorläge nach. Besonders bemerkenswert ist der nach-
weis, dass das Singspiel: „Harlequins hochzeit" dem Christian Eeuter endgiltig abzu-
sprechen ist; Bolte hat einen Hamburger druck: „Der lustige Harlequiu" aus dem
jähre 1693 aufgefunden, sowie auch eine aufführung in Görlitz bereits für 1694 nach-
gewiesen. Entstanden ist das Singspiel aller Wahrscheinlichkeit nach in Hamburg;
der name des Verfassers lässt sich nicht ermitteln, auch ist auf grund des mir
bekannten materials keine irgendwie haltbare Vermutung über seine persönlichkeit
aufzustellen. Reuters text weist eine stattliche zahl von verändeningen und Zusätzen
ELLINCiER, ÜBER BOLTE , SINGSPIEL DER ENGL. KOMÖD. — GERHARD, J. P. DE MEMEL 403
auf; doch ist es zweifelhaft, ob diese aüu voii ihm selbst herrühreii, da es wenig-
stens schon lüO-i, wie die notiz über die Görlitzer aufführung beweist, mindestens
noch einen anderen druck mit dem passenderen titel: „Harlequius hochzeit" gab;
unmöglich wäre es nicht, dass die bei lieuter erscheinenden abweichuugeu — ganz
oder zum teil — in diesem schon vorhanden gewesen wären.
Besonders erfreulich ist es, dass Bolte bei seinen Untersuchungen sich nicht
auf Deutschland beschränkt, sondern ausser den englischen vorlagen auch die
niederländische und skandinavische litteratur berücksichtigt hat. "Wir können aus
seinen nachweisen erkennen, einer wie grossen gunst sich das Singspiel auch in den
ausserdeutschen germanischeu ländern erfreute. Niclit selten bildet Deutschland den
vermittler (vgl. z. b. 25 b. und 25 d.); zuweilen aber sind auch die stücke unmittel-
bar den englischen originalen nachgebildet. — Für die äussere form erhalten wir den
interessanten nachweis, dass ausser den durchweg gesungenen stücken bereits in
England selbst Singspiele vorkamen, in denen die verspartieen mit prosastellen ab-
wechselten (vgl. den text von „The Black Man", s. 84 fgg.). Die tatsache hatte ich
für die deutschen Singspiele bereits aus den Singspielen des Verfassers der „Kunst
über alle künste" erschlossen, vgl. Herrigs archiv, 8S, s. 280 fgg.; ich freue mich,
sie hier durch ganz neues material bestätigt zu sehen.
Eine sehr wertvolle zugäbe bilden die im anhange mitgeteilten melodieen;
erst durch die berücksichtigung der bisher ganz vernachlässigten musikalischen Seite
wird die möglichkeit gewährt, zu einem totalbilde der gattung vorzudringen. So hat
der Verfasser allen teilen des so vielfach verzweigten Stoffes die gleiche Sorgfalt und
aufmerksamkeit zugewendet und eines der wichtigsten kapitel aus der geschichte des
deutschen dramas im 17. Jahrhundert in musterhafter weise erschöpfend behandelt.
BERLIN. GEORG ELLINGER.
Joh. Peter de Memels Lustige gesellschaft. Von Ferdiuaiul Clerliard. Nebst
einer Übersicht über die schwank -litteratur des 17. Jahrhunderts. Halle, Max
Niemeyer. 1893. 127 s. 2,80 m.
Die vorliegende schrift scheint eine erstlingsarbeit zu sein; manche ausführun-
gen des Verfassers wären besser weggeblieben, so z. b. der versuch, an der band
von Kuno Fischers buch: „Über die entstehung des witzes" das wesen des scliwan-
kes zu definieren. Anderes konnte kürzer und bündiger zusammengefasst werden.
Doch verdient die arbeit entschieden beachtuug, da sie- der erste nennenswerte ver-
such ist, in ein der hauptsache nach wenig bekanntes gebiet einzuführen. Im ersten
teil hat der Verfasser zahlreiche schwankbücher und verwandte Sammlungen des 17.
Jahrhunderts zusammengestellt und jedes werk der gattung kurz, wenn auch zuweilen
mit etwas zu allgemeinen ausdrücken charakterisiert. Der zweite teil bringt eine aus-
führliche analyse der „Lustigen gesellschaft", deren verschiedenartige bestandteile auf-
gezählt und im einzelnen zerlegt werden. Ein Verzeichnis der ausgaben schliesst sich
an; das Verhältnis der einzelnen ausgaben zu einander wird bestimmt, die verfasser-
frage erörtert, jedoch ohne dass ein sicheres resultat zu verzeichnen wäre. In dem
Schlusskapitel: „Einfluss der Lustigen gesellschaft auf die schwanklitteratur" würde
eine schärfere sonderung am platze gewesen sein.
BERLIN. GEORG ELLINGER.
26 =
404 LEITZMANN
Gottscheds Stellung im deutsclien bilduugsleben. Von Eugen Wolff.
I. band. Kiel iiud Leipzig, Lipsius und Tischer. 1895. VII und 231 s. 6 m.
Noch immer gehört eine abschliessende, allseitig eindringende arbeit über
Gottsched zu den unerfüllten wünschen unserer litteraturgeschichte. Vor noch nicht
ganz fünfzig jähren war der frühvollendete Theodor Wilhelm Danzel der erste,
der auf grund eingehender quellenstudien einer vormieilsfreien betrachtung des viel-
gescholtenen mit seinem buche „Gottsched und seine zeit" (Leipzig 1848) den weg
zu eröifnen versuchte. Es war vorauszusehen, dass die bewältigung des riesenhaften
Stoffes nicht beim ersten anhieb gelingen konnte: bei einer so vielseitigen arbeitskraft
und Wirkung, wie sie Gottscheds leben repräsentiert, mussten notwendig für den
ersten betrachter dieser dinge manche selten und richtungen in den Vordergrund tre-
ten, andre minder wichtig erscheinen; subjektive neiguugen mochten mehr unbewusst
als bewusst hierbei bestimmend mitwirken; die verliebe für spekulative konstruktiou
haftete Danzel als philosopheu spekulativer richtung naturgemäss an; der schwere
düstere ernst seiner natur endlich spiegelt sich in dem schweren fluss der darstel-
lung unverkennbar wider. So kam es, dass in Danzels buche das, was der Verfas-
ser sich vorgenommen, eine unbefangene Würdigung und ein klares historisches Ver-
ständnis von Gottscheds persönlichkeit, doch nicht erreicht wurde. Lange zeit hat
dann auch niemand lust verspürt Danzels pfaden nachzu wandeln; Danzel selbst hatte
ja das motto gewählt: legimus aliqua, ne leganhir. Einen vorzüglichen lebensabriss
Gottscheds bescheerte uns 1879 Michael Bernays in dem artikel der Allgemeinen
deutschen biographie über ihn. Zwei treffliche abhaudlungen von Reicke und
Krause [vgl. Zeitschr. 25, 565. 27, 14.3] beleuchteten in den letzten jähren Gott-
scheds Königsberger lehrzeit und seine späteren beziehungen zum centrum seiner
ostpreussischen heiniat. Aber der mangel einer abschliessenden arbeit trat immer
fühlbarer hervor. Einem grössern werke über Gottsched dürfen wir von Gustav
Waniek's band entgegensehen, der auch eine neue auswahl aus seiner korrespon-
denz in aussieht gestellt hat, die hoffentlich bald erscheint. Nun hat neuerdings
Eugen Wolff zwei in der festschiift für Rudolf Hildelu'and und in der Zeitschrift
für deutschen Unterricht erschienene arbeiten über Gottsched zu einem ersten bände
eines auf zwei bände berechneten Werkes über Gottscheds Stellung im deutschen bil-
dungslebeu vereinigt.
Das erste kapitel behandelt „Gottscheds Stellung in der geschichte der deut-
schen spräche" (s. 1 — 90). Seine sprachlichen bestrebungen zur reinigung und festi-
gung einer hochdeutschen gemeiusprache traten ein 1) für das deutsche überhaupt
im gegensatze zum gebrauch des lateinischen und französischen und dem fremdwör-
temnwesen, 2) für gemeindeutsch durch betonung der mitteldeutschen gnmdlage und
reinigung von dialektischen eigeutümlichkeiten, 3) für correctes deutsch durch wert-
volle grammatiche arbeiten, endlich 4) für elegantes deutsch. Demgeinäss gliedert
sich Wolffs darstelkmg in diese vier abschnitte, denen als fünfter eine betrachtung
über prosaische und poetische Sprachbehandlung folgt. Das ganze kapitel ist im
wesentlichen keine darstellung, weder eine biographische, noch eine kritisch -histo-
rische, sondern eine äusserst dankenswerte materialsammlung, der vor allem die
reiche in Leipzig und Dresden aufbewahrte Gottschedsche korrespondenz und der
Bodmersche briefnachlass zu gründe liegen. Für diese klare und übersichtliche Zu-
sammenstellung eines reichen materials wissen wir Wolff ganz besondern dank. Dass
auch er den systematischen gesichtspunkt als teilungsprincip gewählt hat, scheint fast
ÜBER WOLFF, GOTTSCHED I 405
ein Verhängnis des Stoffes zu sein: auch Danzels buch fällt in eine reihe nicht recht
zusammenhängender abschnitte auseinander.
Mehr im stile einer historisch -kritischen darstellung ist dagegen das zweite
kapitel „Gottsched im kämpf um die aufklärung" (s. 91 — 230) gehalten; es ist unzwei-
felhaft das bedeutendere von beiden. Hier wli"d unsre kenntnis Gottscheds nicht nur
durch eine eben so grosse fülle neuer quellen, sondern auch durch den glücklichen
versuch einer geschichtlichen bewältigimg und Würdigung desselben bereichert. Sehr
ansprechend und gut wird das System der philosophischen Überzeugungen zur zeit
von Gottscheds auftreten dargestellt. Es folgt eine feine analyse seiner eigenen spe-
kulativen entwicklung an der band seiner systematischen arbeiten. Dann beleuchtet
Wolff seine agitatorische Stellung in den bildungskämpfen auf dem gebiete der theo-
logie und philosophie; ein letztes kapitel berichtet anhangsweise von der gesellschaft
der alethophilen. Kleine missgriffe in der disposition stören nur unerheblich den
festgeschlossenen bau dieser abhandlung, welche die erste weit überragt und in ihrer
art vorzüglich ist.
Möchte es dem Verfasser möglich sein , uns in nicht allzu langer zeit auch den
in aussieht gestellten zweiten band vorzulegen, der unter anderm auch den versuch
einer gesammtwürdigung von Gottscheds pei'sönlichkeit bringen soll! Die oben
erwähnte zusammenfassende behandlung des maunes in einer grösseren biographie
und A^'ollfs buch werden voraussichtlich mit nutzen neben einander bestehen können.
WKI.MAR, 19. APRIL 1895. ALBERT LEITZMANN.
Über Hartman u von Aue. Drei bücher Untersuchungen von Antou E. Schöu-
bach. Graz, Leuschner und Lubensky. 1894. VIII und 502 s. 12 m.
Zusammen mit seinen lehrreichen Otfridstudien , deren abschluss mir eben zu-
kommt, sind die vorliegenden Untersuchungen über Hartmann von Aue Schönbach aus
den Vorbereitungen zum vierten bände seiner Altdeutschen predigten erwachsen. Wie
wertvoll es für die litterargeschichtliche betrachtung unserer mittelalterlichen dich-
ter ist genauere und tiefere kenntnis der kirchlichen litteratur des mittelalters zu
besitzen, sich den engen Zusammenhang von kirche und leben in dieser zeit stets
lebhaft gegenwärtig zu halten, das lehren diese arbeiten Schönbachs; darin liegt,
ganz abgesehen von den faktischen resultaten, ihr hoher methodischer wert. Von
einem verhältnismässig kleinen augriffspunkte aus, der betrachtung der religiösen
anschauuugen Hartmauns im Gregor, ergab sich eine tiefeindringende klare daiieguug
des künstlerischen iind menschlichen Charakters, der ganzen Persönlichkeit eines dich-
ters, über den wir bereits eine umfängliche litteratur besitzen, ohne dass uns das
gefühl eines sichern abschlusses, selbst in den hauptfragen, recht fest und unum-
stösslich geworden ist. Ich stehe nicht an in Schönbachs buche diesen lange ver-
missten abschluss zu sehen und glaube nicht, dass wir in wesentlichen punkten über
ihn werden hinauskommen können. Gründliche und scharfsinnige gelehrte kombina-
tiou verbindet sich hier mit geschmackvollster darstellung, die die errungenen resultate
in krystallklare sätze zu kleiden versteht; man fühlt sich oft unwillkürlich an Les-
sings philologische arbeiten erinneii. Mit recht beklagt der Verfasser in der vorrede,
dass die deutsche philologie, vollauf mit dem Studium der Sachen um der werte wil-
len beschäftigt, textkritischen , grammatischen, metrischen fragen hingegeben, „noch
nicht zeit fand die altdeutschen dichtwerke aus dem zusammenhange ihrer zeit und
kultur heraus zu erklären'' (s. V). Die hauptmasse moderner germanistischer arbeiten
406 LEITZMANN, ÜBER SCHÖNBACH, HARTMANN V. AUE
passt freilich sehr wenig zu dem hohen begriff des zieles philologischer forschung,
das uns Heyne und Wilhelm von Humboldt zuerst leuchtend aufgesteckt haben. Ich
gebe im folgenden ein kurzes referat über Schönbachs Untersuchungen.
Das erste buch führt den titel „Religion und Sittlichkeit" (s. 1 — 176). Es
werden hier alle stellen Hartmannscher gedichte, welche sich auf religiöse und
ethische Vorstellungen und anschauungen beziehen, statistisch verzeichnet und ein-
gehend besprochen. Erec und Iwein stehen sich in bezug auf die erwähuung von
dingen, welche gott und gottesdienst betreffen, ganz gleich. Mehr ausbeute gewäh-
ren nach dieser hinsieht natürlich die beiden legenden: die behandlung des Gregor
ist das muster eines fortlaufenden kommentars (nur s. 71 in der erkläruug von vers
1552 muss ich Bech gegen Schönbach recht geben). Hartmanns ethisch -religiöse
auffassung der dinge ist durchaus die in der kirchenlehre seiner zeit herrschende
gewesen.
Das zweite buch behandelt Hartmanns „bildung" (s. 177 — 339): seine keunt-
nis der antiken litteratur, seine Vertrautheit mit der bibel und den kirchlichen Schrift-
stellern seiner zeit, seinen bildungsgang auf geistlichem, juristischem und ritterlichem
gebiete , endlich seine auffassung vom aberglauben. Aus allen quellen mittelalterlicher
bildung hat Hartmann getrunken und Lachmanns bisher acceptierte auffassung, dass
er den „anfaug" eines klösterlichen Studiums gemacht habe, muss einer besser
begründeten weichen, dass er den vorhandenen bildungsstoff im reichsten masse in
sich aufgenommen hat. Durchaus neu und, wenn auch nicht in allen einzelheiten,
so doch sicher im ganzen überzeugend dargelegt ist hier die auffassung des ersten
büchleins als eines regelrechten altdeutschen rechtshandels mit klage, gegeuklage,
wechselrede, zurückziehen der klage und Versöhnung; diese auschauung eröffnet zum
ersten male ein klares und widerspruchsloses verstcäudnis des schwierigen gedichts,
woneben auch die textgestalt durch glänzende besserungen an mehreren stellen ge-
winnt (vgl. besonders s. 246). Daraus geht nun weiter hervor, dass der dichter nach
verlassen der klosterschule sich an der praktischen rechtspflege als zuhörer betei-
hgt haben muss, wie wir diesen umstand auch sonst für junge adliche belegen
können.
Im dritten und wichtigsten buche bespricht Schöubach Hartmanns „kunst
und Charakter" (s. 341— 480). Hier wendet er sich zunächst gegen Sarans athe-
des zweiten und des von ihm so genannten schlussgedichts im ersten büchlein (die
tesen schon Vogt Zeitschr. 24, 243. 244 beanstandet hatte), nach meinem gefühl
unbedingt überzeugend. Auch mir ist immer das zweite büchlein als ein viel zu
gutes gedieht erschienen, als dass ich mich dazu hätte verstehen können es einem
kompilator zuzuschreiben. Auch gegen Sarans textlesungen im einzelnen, von denen
ja viele recht leichtsinnig aufgestellt sind, macht Schönbach eine reihe begründeter
einwendungen. Die dann folgenden abschnitte über Hartmanns poetische aai und
kunst und über das Verhältnis des künstlers in ihm zum menschen gehören zum
feinsinnigsten, was überhaupt über einen mittelhochdeutschen dichter geschrieben ist.
Bezüglich der chronologischen fragen hält Schönbach an der zuletzt von Saran ein-
gehend verteidigten anschauung fest, dass die reihenfolge der grösseren werke Erec,
Iwein, Gregor, Armer Heinrich gewesen ist: ich glaube, dass man keine andre mit
mehr und einleuchtenderen argumenten stützen kann^ Im rahmen dieser letzten
1) Ich kann diesem urteile des herrn recensenten nicht zustimmen; vgl. Zeit-
schrift 28, 47 fg. 0. E.
WITKOWSKI, ÜBER ÄLTENKRÜGKR, NICOLAI 407
Übersicht über Hartinauus küustlerischen uad menschlichen Charakter hätte ich gern
seine besten und iuuerlichsteu diclitungen, die kreiizlieder, noch einmal besonders
gewürdigt gesehen.
Leider sind die zahlencitate an vielen stellen unzuverlässig, während druck
und ausstattung sonst vorzüglich sind.
WEIMAR, 1. MÄRZ 1895. ALBERT LEITZMANN.
Friedrich Nicolais Jugendschriften. Von Ernst Altenkrüger. Berlin, Carl
Heymann. 1894. Yll und 113 s. 2 m.
Friedrich Nicolais hriefe über den itzigen zustand der schönen Wissen-
schaften in Deutschland. (1755.) Herausgegeben von Georg' Ellinger (Ber-
liner neudrucke III, 2.) Berlin, Gebr. Paetel. 1894. XXVIII und 153 s. 5 m.
Durch eine sonderbare, aber keineswegs ungerechte fügiing ist Nicolai in sei-
ner litterarischen Wirksamkeit derselben Verurteilung verfallen, wie Gottsched, durch
dessen bekämpfung er sich als Schriftsteller die sporen verdient hat. Beide bleiben
nach einem kurzen, jugendmutigen vorstürmen, das sie als führer auf dem wege des
fortschritts erscheinen lässt, an dem schnell erreichten punkte ihr leben lang stehen
und erheben ihre stimme nur immer angestrengter und mistönender, um von den
vorwärtseilenden, sich weiter und weiter entfernenden Zeitgenossen noch gehört zu
werden und sie (wenn möglich) in ihrem laufe aufzuhalten. Durch Lessing ist Gott-
sched, durch Schiller und Goethe ist Nicolai mundtot gemacht worden. "Was sie
noch ferner zu sagen hatten, verhallte ungehört und eiuflusslos, und das geschicht-
liche urteil war ihnen auf lange zeit hinaus unveränderlich gesprochen.
Mit der strengeren historischen auffassung des ganges unsrer Utteratur trat
aber das verdienstvolle in der früheren tätigkeit beider männer hervor. Seit dem
trefflich belehrenden, wenn auch schwerfälligen buche Danzels hat Gottsched sich
nicht mehr über Unterschätzung zu beklagen. Für Nicolai versuchen nun die beiden
oben genannten Schriften eine billigere auerkennung seiner frühen leistungen herbei-
zuführen; die erste, indem sie ein gesamtbild seiner Jugendentwicklung entwirft, die
zweite durch erneuerung seines frischesten und lunfangreichsten erzeugnisses aus die-
ser zeit. ^
Alteuk rügers arbeit ist offenbar eine dissertation und kann als solche wol
als musterhaft bezeichnet werden. Ein geschickt gewählter gegenständ, der weder
weite gesichtspunkte noch beherrschung grosser gebiete erfordert, ist gründlich durch-
gearbeitet, der Stoff übersichtlich gruppiert und mit vorsichtigem, nicht unselb-
ständigem mteil verwertet. Der Verfasser benutzt wertvolles neues material: eine
füUe von briefen aus Nicolais nachlass, bei denen nur zu bedauern ist, dass er sich
fast ausschliesslich auf die mitteilung der daten und der für seine darsteUung ver-
werteten tatsachen beschränkt, während eine anfühining des Wortlautes, auf den
er sich stützt, erwünscht und von wert gewesen wäre. Femer ist es ihm gelim-
gen, einige bisher unbekannte Jugendarbeiten seines beiden nachzuweisen. Mit
vierzehn oder fünfzehn jähren verfasste er ein episch -didaktisches gedieht in un-
möglichen hexametern zum preise Klopstocks (beeinflusst durch diesen und durch
Pyras „Tempel der wahren dichtkunst") , das 1752 durch seinen bruder Gottlob
Samuel gegen den willen des jungen dichters, der schon hier sehr deutlich ver-
riet, dass er im gründe keiner war, veröffentlicht wurde. Auch in der zweiten von
408 WITKOWSKI, ÜBER ELLINGER, MCOLAI
Altenkrüger neu ans licht gebrachten schiift Nicolais sehen wir ihn durch die niode
in eine seinem ganzen wesen widersprechende richtuug gedrängt. Auch er hat
„freundschaftliche briefe" verfasst; vier solche in der von seinem freunde Patzke 1754
herausgegebenen Sammlung werden als Nicolais eigentum nachgewiesen. Sein vorbild
waren aber dabei offenbar nicht Gellerts musterbriefe (wie Altenkrüger meint), son-
der Gleims „freundschaftliche briefe" von 1746. Unrichtig ist es auch, wenn der
Verfasser hier die atmosphcäre des briefwechsels zwischen Gleim nud Jacobi zu finden
glaubt; denn in der zweiten periode von Gleims Anakreoutik (seit dem ende der
sechziger jähre), der dieser angehört, herrscht ein ganz anderer stil und eine mehr
süssliche Stimmung, die sich deutlich in der früher fehlenden, übermässigen Verwen-
dung der Amoretten kund gibt.
Auch die bereits bekannten schritten des jungen Nicolai finden in Altcukrügers
darstellung, die bis zu den litteraturbriefen führt, bessere Würdigung als bisher.
Vorausgeschickt ist eine Schilderung der in betracht kommenden periode seines
lebens , die hauptsächlich den bildungsgang des autodidakten betont , das bekannte
sorgfältig zusammenstellend und es um manchen neuen zug vermehrend. Freilich
stört hier mehr als in den folgenden abschnitten eine gewisse unbeholfenheit, die dem
Stoff noch nicht das rechte leben einzuhauchen vermag. Auch wäre wol mehrfach
unter verweis auf leicht zugängliche ältere darstellungen zu kürzen gewesen, schon
imi die widerholte bespi'ecbung der Schriften in den folgenden abschnitten zu ver-
meiden, während wir dort hier und da grössere ausfühilichkeit wünschten, beson-
ders bei der „Abliandlung vom trauerspiele", wo es sich empfohlen hätte, die ent-
wicklung der auschauungen Nicolais auf grund des briefwechsels mit Lessing und
Mendelssohn vorzuführen. Im übrigen ist gerade die behandlung der „Bibliothek
der schönen Wissenschaften" sehr gut gelungen, indem ihre rolle in der gleichzeitigen
Journalistik, ihre bedeutung, sowie anteil und einfluss der einzelnen mitarbeiter klar
nachgewiesen wird. Bei den „Litteraturbriefen" durfte sich der Verfasser kürzer
fassen, da alle hier in betracht kommenden punkte häufig und gründlich genug erör-
tert sind.
AYeniger kann das Iiefriedigen , was Altenkrüger über die wichtigste schrift
Nicolais aus dem behandelten Zeitraum, die „Briefe über den itzigen zustand der
schönen Wissenschaften in Deutschland", sagt. Die grundlagen sind nicht breit genug
gelegt, die einzelnen, an sich richtigen und wertvollen bemerkuugeu schliessen sich
nicht fest genug zusammen und zumal war das Verhältnis von Nicolais kritik zu der
Lessings ausführlicher zu erörtern, seine abhängigkeit von dem grossen Vorgänger
genauer zu untersuchen.
Zum glück tritt hier Ellingers einleituug ergänzend ein, die nach allen sel-
ten hin genügend orientiert. Auch da, wo Altenkrüger nicht scharf genug das
jugendlich übertriebene in Nicolais poleraik gegen Gottsched hervorhebt, insbesondere
bei der Batteuxübersetzung, berichtigt das ruhigere urteil des herausgebers der briefe
seine etwas zu günstige ansieht.
Die beiden besprochenen Schriften füllen in trefflicher weise eine lücke in
unsrer litte^arhistorischen kenntnis aus, indem sie uns den tätigen genossen Lessings
in seiner Berliner und der zweiten Leipziger zeit als erfolgreich strebenden und in
die allgemeine litteraturbewegung der fünfziger jähre des vorigen Jahrhunderts ein-
greifenden vorführen. Beide verdienen die aufmerksamkeit und den beifall derer, die
sich mit dieser periode eingehender beschäftigen.
LEIPZIG. GEORG WITKOWSKI.
BRUHN, ÜBER KN'ÄUTH, GOETHES SPRACHE UND STIL 409
Von Goethes spräche und stil im alter. Von Psud Kiiauth. Dissertation.
Leipzig 1894. In comm. bei G. Fock, Leipzig. 46 s. 4. 1,50 m.
AVer spräche und stil eines dichters untersucht, der will dadurch entweder
die erkeutnnis der spräche oder die des dichters fördern : er will entweder zeigen, wie
die Sprache, in welcher der dichter schrieb, zu einer bestimmten zeit, innerhalb
eiues bestimmten kulturkreiscs sich darstellte, oder er will in der eigentümlichen aus-
prägung, welche der dichter der spräche seines Volkes gab, des dichters eigenart und
Werdegang nachweisen. Knauths streben ist mehr auf das zweite ziel gerichtet, und
wenn er zum gegenstände solcher Untersuchung sich Goethe wählte und sieh hier
wider die letzte periode des dichters abgrenzte, so hat er sich damit ohne zweifei
ein fruchtbares thema erlesen. Denn wo gäbe es einen so charakteristischen stil wie
den des greisen Goethe? und wo fände sich anderseits für solche forschung ein so
reichhaltiges material, wo eine solche füUe von Zeugnissen über des dichters inneres
und äusseres leben? Knauth hat für die erscheinung, welche ihn zu seiner abgren-
zuug des themas berechtigt, für das auftreten eines neuen und charakteristischen
Stiles eben bei dem greise, überhaupt keine aualogie gefunden: eine gibt es doch,
nämlich die mit Piaton, auf die Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (Aus Kydathen^
221) hingewiesen hat, iadem er feinsinnig parallelisierend die aufgäbe stellt, „die
entwicklung des stils bei den beiden grössten stillsten von Werther — Phaidros bis
zu den wandorjahren — gesetzen" darzulegen.
Knauth ist an die lösung dieser aufgäbe wol gerüstet herangetreten. Nicht
seine äusserliche belesenheit nur in der Goetheschen poesie ist gross; er hat sich in
die dichtungcn der spätzeit wirklich hineingedacht und hineinempfandeu ; erlegt, wenn
er ihre spräche erklärt, nicht bloss richtscheit und winkelmass der grammatik an,
sondern folgt der sichern leitung eines feinen Sprachgefühles — wie er denn auch
selber nicht das farblose papierdeutsch der dissertationen, sondern eiueu wirklichen
stil schreibt. Und er hat auf seine Untersuchung rastlosen fleiss verwandt: immer
von neuem gesammelt und gesichtet, mühevolle statistische forschungen angestellt,
deren resultat er dann in wenigen Zeilen zusammenfasst, abweichende lesarten sorg-
lich berücksichtigt, wo der dichter übersetzt, die originale eingesehen, endlich die
moderne litteratur, soweit ich es kontrolieren kann, A-oUstäudig herangezogen.
So ist ihm denn auch vieles gelungen. Die poesie Goethes in dieser epoche
stellt ja dem ausleger so manches schwer zu lösende rätsei: wenn artikel, konjunk-
tion, verbum fehlen, ist ja oft genug diese oder jene beziehung der worte auf einan-
der nach den allgemeinen gesetzen der spräche in gleichem masse zulässig (oder
unzulässig); sichere aufklärung kann für den einzelnen fall nur geben, wer die ganze
poesie dieser periode nach solchen gesichtspunkten durchforscht hat. Ich will hier-
für besonders auf Knauths ausemaudersetzung über jene eigentümliche zusammen-
rückung von adjektiv und adverb verweisen, die er passend „Übergang zur komposi-
tion" nennt (s. 33 fgg.); der Verfasser hat hier nicht allein die verschiedenen bedeu-
tungsnuancen , welche aus dieser redeweise sich ergeben , mit grosser feinheit geschie-
den, sondern auch eine anzahl von stellen, an denen diese Spracherscheinung bisher
falsch aufgefasst wurde, einleuchtend erklärt. Noch einen zweiten puukt möchte ich
nennen, wo die fähigkeit des Verfassers, dieser poesie nachzufühlen, sich besonders
schön bekundet: jenes „liinwerfen der begriffe", wie er sich in dem gesang der engel
1) Philologische untersuch, von Kiessliug und v. Wilamowitz-Moellendorff
heft 1 (Berlin 1878).
410 BRUHN
Faust 11731 — 34 zeigt: „Woiie, die wahren, Äther iin Maren, Ewigen schaaren
Überali tag." Hier hat Knauth wirklich, indem er die sprachliche erscheiniing auf
ihre psychologischen gründe zurückführt, das höchste ziel des Interpreten erreicht —
und wie vertraut ihm diese redeweise des Schriftstellers, den er erforscht, geworden
ist, beweist er s. 45, indem er sich selbst jenes hinwerfen der begriffe zum zwecke
der Charakteristik gestattet.
Und dennoch kann ich nicht finden, dass der Verfasser den fordeningen,
welche die aufgäbe an ihn stellte, wirklich voll genügt hätte. An der stelle, wo er
seine ergebnisse zusammenzufassen sucht (s. 45), nennt er unter den wichtigsten
Charakterzügen des Goethischen altersstiles „zuerst und vor allem die epigrammati-
sche kürze des ausdracks"; in der anmerkung wideiholt er: „Ich halte vielmehr die
kompression des Stiles unbedingt für das charakteristische." iSlun erinnere man sich
einmal an stellen wie etwa Wanderjahre I, 8 (Hempel 18, 101): „Auch hier kam
die freundschaft des oberamtmanns zu statten; die entfernung ihrer Wohnorte ver-
schwand vor der neigung, der lust, sich zu bewegen, sich zu zerstreuen.
Hier nun fand der verwaiste gelehrte in einem gleichfalls mutterlosen famüienkreise
zwei schöne, verschiedenartig liebenswürdige töchter; wo denn beide väter sich immer
mehr bestärkten in dem ge danken, in der aussieht, ihre häuser dereinst aufs
erfreulichste verbunden zu sehen"; oder ebenda s. 171 Bei dem gleichnisse, bei
der parabel ist das umgekehrte: hier ist der sinn, die einsieht, der begriff
das hohe, das ausserordentliche, das unerreichbare. Wenn dieser sich in
einem gemeinen, gewöhnlichen, fasslicheu bilde verkörpert, so dass er nun
als lebendig, gegenwärtig, wirklich hervortritt, dass wir ihn uns zueignen,
ergreifen, festhalten, mit ihm wie mit unseres gleichen umgehen können, das
ist denn auch eine zweite art von wunder." Ich denke, mau wird mit bezug auf
solche stellen Lehmann recht geben, wenn er (Goethes spräche und ihr geist s. 23)
von Goethes „redseligem greisenstil" spricht. Hier zeigt sich ein befremdlicher man-
gel von Knauth's arbeit: dass er die prosa neben der poesie gar nicht zu ihrem
rechte kommen lässt. Er hat dadurch den wert seiner ergebnisse wescnthch geschmä-
lert; denn Avenn die letzte aufgäbe solcher Untersuchung die zurückfüirung der
stilistischen eigentümlichkeit des Schriftstellers auf innere und äussere gründe ist,
so müssen doch die Wirkungen dieser Ursachen da am ungetrübtesten hervortreten,
wo der redende von den fesseln des metrums und des reimes frei ist. Wäre Knauth
von der prosa ausgegangen, so würde er ohne zweifei die brachylogie der poesie als
ein nicht ursprüngliches, sondern abgeleitetes merkmal dieses Stiles erkannt haben.
Und sodann: zum stil gehört doch nicht nur Wortbildung, -beugimg, -fügimg,
sondern auch die auswahl, die der Schriftsteller unter dem wertschätze der spräche
trifft, ist für ihn im höchsten masse charakteristisch. Jeder fülüt ja bei der lektüre
der späteren prosaschriften, wie gemässigt hier überall die temperatur des empfin-
dens ist: wie leicht Hesse sich dies gefühl zu klarem bewusstsein erheben, wenn
man etwa die ausdrücke des lobes und tadeis, die Goethe hier gebraucht, zu-
sammenstellte! Ich gebe einige beispiele, bei denen uns jene zui'ückhaltung im aus-
druck besonders befremdet. Eheinreise 1814 und 15 (Hempel 26, 229): Mittag war
schon vorbei und doch ein wagen augenblicklich bestellt, um den weg ins ange-
nehme Eheingau zu suchen; recension aus dem jähre 1818 (H. 29, G22): Der name
Maria, dui'ch welchen die ältere kirche jede . . lehre höchst anmutig zu machen
weiss; aufsatz von 1817 (H. 34, 88): Werden sie (plagiate) aber, wie es auch wol
geschieht, von talentvollen personen ausgeübt, so erregt es in uns auch bei fremden
ÜBER KNAUTII, GOETHES SPRACHE UND STIL 411
angclegeuhciten ein missbehagen, weil durch schlechte mittel obre gesucht worden.
Noten zum Divan (H. 4, 287): So höchst erfreulich sie (unsere Nibelungen) sind,
wenn man sich in ihren kreis recht einbürgert . . ., so wunderlich erscheinen sie, wenn
man sie nach einem massstabe misst, den man niemals bei ihnen anschlagen sollte;
recension von 1822 (H. 29, 599): Angst und bangigkeit steigerten sich jedoch, als ein
leben nach dem tode bei einem unstetigen leben auf erden immer wünschenswer-
ter erschien; recension von 1831 (H. 29, 730): Desto erwünschter (ist) ein fun-
ken menschlichkeit, der wie ein stern die düsteren gewölbe wenn auch nur schwach
und schwankend erleuchtet; Rheinreise 1814 und 1815 (H. 26, 230): Eine kapellen-
ruine, die anf grüner matte ihre mit epheu begrünten mauern wundersam reinlich,
einfach und angenehm erhebt; recension des „Pfingstmontag" (H. 26, 479): Klärls
trauer über befürchteten Verlust eines einzig geschätzten mannes. "Wenn mau
das vorkommen von Wörtern wie angenehm, anmutig, behaglich, erfreulich,
erwünscht, heiter, löblich, reinlich, schätzbar, schätzenswert, tüchtig
sowie von adjektiven und participien mit vorgesetztem wol- liier und in den Schrif-
ten der Frankfurter zeit statistisch feststellte, wie klar würde sich die Persönlichkeit
jenes und dieses Goethe darin abspiegeln!
Kuauth hat seinen stoff nach grammatisch - stilistischen gesichtspunkten grup-
piert. Mich dünkt, schon dies beweist, dass er den gründen der erscheinungen, die
er darstellt, nicht genügend nachgegangen ist. Denn der gewinn für das Verständnis
der persönlichkeit des dichters, den doch eine solche untelsuchung abwerfen müsste,
würde erst dann in voller klarheit hervortreten, wenn die gesammelten einzelheiteu
geordnet würden nach den inneren und äusseren Ursachen, denen sie entspringen.
Ich will auch hier nur auf einen punkt hinweisen. Seit der Übersiedelung nach Wei-
mar hat Goethe ja fast alle seine werke diktiert. Diese gewohnheit kann doch
nicht wol ohne einfluss auf seinen stil geblieben sein. Wer diktiert, der hat —
meine ich — eine neigung, den schreibenden lediglich als mechanisches Averkzeug zu
benutzen und ihm keinen eiublick in die geistige entstehung der betreffenden produktion
zu gestatten. Sobald aber im diktieren eine pause eintritt, hat der diktierende das unbe-
hagliche gefühl, dass jemand auf den Vollzug seiner geistigen tätigkeit wartet, ihn
gewissermassen beobachtet. Deshalb hat er das bestreben, solche pausen möglichst
selten eintreten zu lassen. Und nun ergeht es ihm ebenso wie dem prediger und
dem docenten : um die zeit zu gewinnen , in der er durch meditation ein neues moment
des gedankeuganges finden kann, reiht er, was für jeden nur einigermassen sprach-
lich gewandten menschen leicht ist, au einen ausdruck mehrere andere an, die den-
selben begriff enthalten, nur in einer etwas anderen bedeutungsschattierung. — So
wird einerseits der diktierende weitschweifig; in anderer beziehung dagegen wird er
vielleicht mehr kürzen. AVenu wir uns fragen, was durch manche der von Lehmann
und Knauth gesammelten Spracheigentümlichkeiten faktisch bewirkt ist (so durch die
anwendung des particips, die hinzufüguug des adverbs zum adjektiv, die eUipse der
copula u. dgi.), so ergibt sich, dass es vor allem partikeln, pronomina und „die lei-
digen auxiliaren" sind, die Goethe dadurch gespart hat. Gerade diese wörtchen aber
erschweren einen euphonischen bau des satzes ungemein, da sie einerseits in der
regel sehr kurz und deshalb fast nur, wo sie sich an grössere Wörter anlehnen, für
die herstellung rhythmischer gebilde verwendbar sind, anderseits keinen selbständigen
begriffsinhalt haben und deshalb fast immer beim vertrag tonlos bleiben müssen.
Diese nachfeile, welche mit der anwendung solcher wörter verbunden sind, empfin-
det der diktierende lebhaft, weil er jeden satz vor dem niederschreiben laut aus-
412 BRUHN
spricht; er kommt aber auch leichter zur auslassung; denn indem er jeden satz laut
und mit richtiger betonung vorträgt, interpretiert er ihn zugleich, und die miss-
verständnisse , in welche die kürze nachher den leser verwickeln könnte, ent-
gehen ihm.
Endlich aber hat Knauth seine ganze Untersuchung in den dienst einer tendenz
gestellt, die wol nicht mir allein die freude an seinen erörterungeu trübt. Von den
misbilligenden urteilen Vischers, Heines, Börnes, Gutzkows und anderer über den
Stil des Goethischen alters geht er aus und sagt s. 2 ausdrücklich, dass es ein
zweck seiner uutersuchmig sei, „die erhobenen vorwürfe zu prüfen". Prüfen aber
heisst in Knauths sinne widerlegen. Ich will durch einige beispiele die methode,
nach der er die fraglichen Spracheigentümlichkeiten zu rechtfertigen sucht, kenn-
zeichnen. Um den überkühnen gebrauch des dativs zu erklären (,,drängi ungesäumt
von diesen mauern jetzt Menelas dem meer zurück", „führe die schönen an künst-
lichem reihn") sagt er (s. 37): „Auch hier haben wir eine rückkehr zu dem brauche
älterer sprachstufeu , nur dass wir hier noch über das mhd. zurückgieifen müss-
ten (!)... Eine nachahmung der alten sprachen . . . liegt zwar gewiss in vielen
fällen vor . . . aber nicht iiiinder oft war es lediglich das sichre Sprachgefühl für das
wesen des dativs (!), das bei aller ab weichung vom usuellen doch zu richtiger anwcu-
dung dieses casus fülirte". Über die stelle im Elfenchor des Faust ,,Thäler grünen,
hügel schwellen, buschen sich zur schattenruh " sagte Vischer, Goethe's Faust,
Neue beitrage (Stuttgart 1875) s. 117 mit unwiderleglicher logik: Darf man dies,
dann darf man auch sagen: „die fläche grast sich, der berg bäumt sich, der tisch
tucht sich, das tischtuch löffelt sich". Knauth erklärt die werte gewiss richtig
„Sie bilden büsche aus sich hervor"; aber wenn er nun nachweist, dass sich so
„unserer einbildungski'aft ein durchaus bequemes, nahe liegendes bild bietet", so
kann er doch eigentlich selber kaum glauben, damit Yischers kritik widerlegt zu
haben: er trifft ja gar nicht den punkt, an dem Vischer anstoss nimmt. Noch ein
letztes beispiel: ich habe vorher die feiufühligkeit gerühmt, mit der Knauth jenes
„hinwerfen der begriffe" bei Goethe aufgefasst hätte. Aber wenn wir diese redeweise
beurteilen wollen, so müssen wir doch zunächst fragen, welchen effekt sie tat-
sächlich hervorbringt. Und das zeigt sich am klarsten, wenn wir den redner beobach-
ten, der sie mit absieht und bewusstsein als kunstmittel anwendet. "Wir können dies
bei Cicero in seiner rede De provinciis cousularibus, wo er in der peinlichen läge
ist, seinen hörern die frage beantworten zu müssen, warum er jetzt mit einem male
für seinen politischen gegner Caesar eintrete. Das geht so leidlich, bis er auf die
zeit seiner Verbannung kommt. Verschweigen kann er uiclit, was damals geschehen
ist, klar aussprechen kann er es auch nicht, weil dann sein jetziges verfahren ganz
unbegreiflich sein würde: so wirft er die begriffe hin, ohne sie zu sätzen auszuge-
stalten: §43 ecce illa tempestas, caligo bonorum et subita atque impiovisa formido,
tenebrac roi publiuae, ruina atque incendium civitatis, terror iniectus Caesari de eins
actis, metus caedis bonis omnibus, cousulum scelus, cupiditas, audacia. Also die
Wirkung dieser ausdrucksweise ist eine Verschleierung des gedankens, die uns den
inhalt des gesprochenen nur undeutlich, in verschwommenen umi'issen erkennen lässt.
Es kann fälle geben, wo die über alles menschliche begreifen hinausgehende natur
des dargestellten objekts hierzu nötigt; aber davon abgesehen soll mir eine derartige
Unklarheit auch in der poesie niemand als Schönheit einreden. — Begreiflich ist der
Standpunkt ja gewiss, den Knauth und viele heutzutage mit ihm einnehmen. Mehr
und mehr wächst die erkenntniss, dass für den denker Goethe die epoche des
ÜBER KNAUTII, GOETHES SPRACHE UND STIL 413
greisenalters in der tat die ^epoche seiner Vollendung", dass das mass des Verständ-
nisses für die oft so dunklen werte des meisters auch für den leser das mass seiner
geistigen reife ist; da ist es wol begreiflich, wenn man an dem bilde des hochver-
ehrten nun gar kein fleckchen und stäubchen sehen will, wenn man sich einredet, es
sei dem gewaltigen erlaubt gewesen, „dem gesetzlichen loibe der spräche die knochen
in etwas zu brechen, die gelenke etwas auszuweiten". Begreiflich, aber nicht recht.
„Was fruchtbar ist, allein ist schön — so werden wir das viel citierte wort Goethes
in seinem sinne umwandeln dürfen; und diese Goethischen Spracheigenheiten sind
nicht fruchtbar gewesen: oder wüsste unsere heutige poesie etwa von den „sich
heerdenden schafen", der „braunenden herde", einem „seeisch heitren feste"?
In solcher weise, meine ich, müsste Knauth das gebiet seiner Untersuchung
und den kreis der zu untersuchenden erscheinungen erweitern, die Untersuchung
selbst noch mehr in die tiefe führen, endlich ablenkender nebenabsichten sich ent-
halten. Entschlösse er sich aber dazu, so würden wir nach den proben, die er
gegeben hat, von ihm eine behandhing des problems erwarten dürfen, die das ver.
stiindnis des dichters wesentlich förderte und vertiefte. Möchte er denn — um in
dem von ihm charakterisierten stile zu schliessen — in solcliein sinne freundlichst
gemeinte bedenken aufnehmen!
KIEL. EWALD BRÜUN.
Goethes leben und werke. Mit besonderer rücksicht auf Goethes bedeutung für
die gegenwart. Von Eiig'eu Wolff. Kiel und Leipzig, Lipsius und Tischer. 1895.
380 s. 5 m.
Ich habe mich nach der lektüre des vorliegenden buches über Goethe ver-
geblich gefragt, welchem bedürfnis es abhelfen, welchem leserkreise damit gedient
sein sollte. Eine neue Goetbebiographie muss heute ihre existenzberechtigung aufs
kräftigste dokumentiren, sei es durch Originalität der gesichtspunkte der bebandlung,
sei es durch Vollkommenheit der darstellung und komposition. Wir haben genug
ärmliche, mebr oder weniger unzulängliche bücher über Goethe, als dass wir nicht
diese kompetenzfrage mit aller entschiedenheit aufwerfen und mit strengster kritischer
schärfe lösen sollten. „Der besondere zusatz des titeis", wird man mir entgegenhal-
ten, „zeugt ja aber für das Vorhandensein eines originellen gesichtspunktes in Wolffs
darstellung Goethes." Wie verhält es sich damit? Im verlaufe des textes hebt Wolff
an den verschiedensten stellen mit emphase hervor, dass unsere heutige gegenwart
nichts besseres und vernünftigeres tun könne als Goethes Weisheitsgedanken in tat
umzusetzen und sich von seinen ideen allseitig durchleuchten und befruchten zu las-
sen; dabei begeht er das unglau Wiche, dass er s. 255 in Goethes vers „ich muss
nun an die enkel denken" das wort „enkel" presst, das natürlich nichts als im all-
gemeinen „künftige generationen " bezeichnen soll. Ausser diesen paränetischen stel-
len, die zudem nicht frei von phrasenhaftigkeit sind, finden wir am Schlüsse des
Werks ein eignes kapitel „Goethe in der nach weit" (s. 313 — 352), einen kurzen abriss
der geschichte der beurteilung Goethes bis auf unsere tage. Hier begegnet man
merkwürdigen urteilen, z. b. einer leidigen verkennung Vischers, des „tendenziösen
Professors" (s. 331), dessen geschichte von der cigarrenschachtel gar nicht erwähnt
wird; aber auch, was mich immer am meisten schmerzt, einer jetzt häufig gehörten
nichtachtung Schillers (s. 315 „der durchgebildete mann und die selbständig gereifte
frau aber leben in Goethe"; s. 329 „der eines mentors wie Schiller bedarf");
414 LEITZMANS, ÜBER E. WOLFF, GOETHE
Goethe selbst würde, weun er heute lebte, dieser blinden verkeuuuug Schillers am
heftigsten widerspi-echen. Die tendeuz zur gegenwart hat dann weiter eine sehr eigen-
artige heurteiluug der Goetbischen dichtungen zur folge gehabt: Goethes alterspro-
duktioneu sind mit unverkennbarer Vorliebe behandelt, wogegen die diclitungen der
Jünglings- und manuesjahre vcrhältnissmässig schlecht wegkommen (au den Leipziger
liedern wird s. 30 der mangel an „dramatischer entwicklung" getadelt, der harjnlose
„Wunscli eines jungen mädchens" „frühreif blasiert"- genannt; die Laune des vei'-
liebteu heisst s. 31 „von einem kindlichen horizout ausblickend, im konventionellen
Stil"; beim echten schluss der Stella wird s. 87 „innere emporung" konstatiert; ähn-
lich noch s. 144). So sind denn natürlich die Wanderjahre und der zweite Faust
die kröne der Goetbischen poesie. Alle diese tendenziösen gedanken sind jedoch kei-
neswegs notwendige Ingredienzien der Wolffschen darstellung; dieselbe ist von ihnen
in keiner weise etwa durchdrangen; ich muss daher die oben gestellte frage nach
dem berechtigungsnachweis des Wolffscheu buches ablehnend entscheiden.
"Wolffs art Goethes leben zu erzählen ist ohne anschaulichkeit und frische,
ferner ohne jede innerliche Versenkung; ich weiss keine andere bezeichnung als gerip-
pehaft; statt eines farbenreichen gemäldes erhalten wir nichts als eine rohe bleistift-
skizze. Dazu kommt eine verhängnisvolle ueigung zmn anekdotenhaften, ja zum
klatsch: man sehe s. 2. 15 (der barlüer in Goethes väterhchem hause bei der mes-
siasrecitation). 32. 44 (Lerse bei Goethes disputationl. 47 (Luise von Ziegler). 61.
67. 75. 126. 174. 227 (Bettina und Christiane). 232. 244 (Epimenides im Berliner
volkswitz); wozu das alles? — Noch schlimmer sind direkte geschmacklosigkeiten,
deren hauptsächlichste aufzuzählen ich mir nicht versagen kann: „gemüt hat Goethe
von der mutter geerbt, aber rückgrat vom vater" (s. 4); „das pärchen verständigte
sich während der tafel aufs trefflichste durch die eigentümlichste aller Zärtlichkeiten,
indem die geliebte die füsse des Verehrers als Schemel benutzte und so physischen
schmerz mit seelischer wonne gleichzeitig in ihm zu erregen wusste" (s. 26); „die
erste grössere anpflanzung im Ziergarten von Goethes Leipziger poesie" (s. 31); „den-
noch hatte Wolfgang unter dem unwirschen wesen des vaters schwer zu ächzen"
(s. 33); Bettina, durch ihre abstammung, so zu sagen, „für den Goethekultus präde-
stiniert" (s. 226); „der donuer der kanonen mochte wol den, dessen ohr nur dem
melodischen gesang der musen zu lauschen gewohnt war, ins innere seines hauses
verscheuchen" (s. 240); „der 64jährige beherrscher des Parnass" (s. 241); „ein poe-
tisches, von den schlacken des tages freies kostüm" (s. 245); „wie hoch sieh des
dichters liebe über gefühle irdischen genusses erhebt, gegenüber Ulrike wie den mei-
sten frauen, die in seiner poesie fortleben" (s. 253), „Lottes erscheinung machte noch
immer eiudruck, nur wackelte sie leider schon mit dem köpfe" (s. 266); „die idee
der entwicklung hat sie eben beide angehaucht" (s. 323). Ich brauche nichts hinzu-
zufügen.
Noch einige einzelbemerkungen seien gestattet. Nach s. 36 (vgl. auch s. 56)
soll an Goethes neigung zu Friederike die „poetische Imagination" sehr grossen anteil
gehabt haben. Ich gestehe eine solche behauptung gerade für Goethe nicht zu
hegreifen. — Die Shakespoarerede von 1771 soU nach s. 49 die „erste öffentliche
manifestation" der genieperiode gewesen sein; sie erschien zuerst 1854 im druck. —
S. 152 teilt Wolff die allgemein verbreitete falsche ansieht, dass Tasso am ende von
Goethes stück an Antonios seite einem tätigen leben entgegengehe. Für jeden vorur-
teilsfreien betrachter des Stückes kann es keinem zweifei unterliegen, dass Tasso sei-
nem geistigen ruin nahe ist und im Wahnsinn endet, der schon im letzten akte ver-
LEITZMANN, ÜBKR METKR, GOETHE 415
häugnissvoll durclibricht '. Mau hat das stück immer unter der zwaugsparallele mit
dem ergebnis von Goethes italienischer reise für seine persönliche entwicklung betrach-
tet; aber wie h<ätte Goethe einen solchen Tasso einen gesteigerten Werther nennen
können? So wenig Werthers Schicksal das Goethes war, so wenig war es Tassos.
Es würde nicht schwer fallen diese auschauung vom ausgang des Tasso eingehend
zu beweisen. — S. 218. Es ist nicht wahr, dass den personeu in der Natürlichen toch-
ter durch die bezeichnungen könig, herzog, kammerfrau usw. etwas an bestimmtheit
verloren gegangen ist. Sind Herjnanns eitern in Hermann und Dorothea nicht ganz
scharf umrissene Charakterbilder, der prediger und der apotheker nicht realistisch bis
ins einzelne individualisiert? Auch sie haben keine rufnamen vom dichter erhalten. —
S. 235. Was hat Ibsens Nora mit den Wahlverwandtschaften zu tun? — S. 266. Das
urteil über die dichtuugen des königs Ludwig von Baiern ist zu günstig. — S. 358.
Wie kommt Jacob Grimms grammatik und besonders Richard Wagner in eine Zeit-
tafel zu Goethes leben?
Verbesserungen: s. 16 lies: Racines Britannicus, s. 31 und 354: 1770,
s. 42: ein mann in den Vierzigern, s. 70: 1774, s. 113 oben: himmelbrod, s. 266
z. 3: 1827.
1) Die ältere ansieht vertritt von neuem wider Düntzer (Zeitschrift 28, 57.
66 — 71) imd — wie mir scheint — mit sehr guten gründen, o. e.
WEIMAR, 5. JIÄRZ 1895. ALBERT LEITZMANN.
Goethe. Von Richard M. Mejer. Preisgekrönte arbeit. Berlin, Hofmann. 1895.
XXXI und 628 s. (Geisteshelden 13. — 15. band.) 7,20 m.
Einer unserer vielseitigsten und universell gebildetsten jüngeren germanisten
hat uns mit einer biographie Goethes beschenkt, die nach Inhalt nnd form vor-
züglich ist und zu den besten leistungen moderner biographik gehört. Fast alle
ansprüche, die man an eine derartige arbeit gerechterweise stellen muss, finden
wir hier erfüllt: tiefe durchdringung des Stoffes, breite und intime kenntnis der
einschlägigen litteratur, klarheit der disposition und ideenführung, Selbständigkeit
und Unbefangenheit des Urteils über menschen und werke, gewandtheit der dik-
tion, endlich was von allem am woltuendsteu ist, abwesenheit jeder hohlen geist-
reichen phrase. Das buch wird neben Hermann Grimms Vorlesungen über Goethe
in der litteratur über imsern grössten dichter mit in erster reihe zu stehen haben.
Je gesättigter und tiefer aber der eindruck dankbarer erbauung ist, mit dem ich von
dem buche geschieden bin, um so mehr erachte ich es als meine receusentenp flicht,
was daran auszustellen ist bis ins einzelne und kleine hinein darzulegen, weil an
einem solchen buche auch der geringste flecken stört. Möchte der Verfasser im fol-
genden manches für eine zu hoffende zweite aufläge verwertbare finden! Über auf-
fassungen und subjektive eindrücke will und mag ich nicht mit ihm rechten: nur
dass er dem unvergleichlichen Werther nicht gerecht wird, dem er gerade das
abspricht, was ihn gross macht: die naturwahrheit der entwicklung, dass er dagegen
dem zweiten Faust zu viel lobsprüche spendet, sei hervorgehoben. Unpassend
scheint es mir, bei Goethe von einem in aktion treten der naturwissenschaftlichen
Vorstellung der Vererbung zu sprechen (vgl. s. 121. 145. 175. 192) und darin einen
modernen zug zu sehen: in diesem sinne, wie sie von Goethe hier gebraucht wird.
416 LEITZMANN, ÜBER MEYER, GOETHE
ist die Yorstelluug der Vererbung uralt und vor allem darum unmodern, weil sie
ohne jeden doktrinären pathologischen beigeschmack auftritt.
Zunächst ein paar bemerkungen zum texte. Die behauptung s. 24, dass die
„höllenfahrt Christi" 1762 entworfen und erst 1765 überarbeitet sei, hat keine gewähr;
vgl. Goethes gespräche 7, 269. — S. 35. Goethe las Shakespeare iu Leipzig sicher
nur in einer auswahl, nämlich in Dodds, des von Forster geschilderten betrüge-
rischen und sittenlosen Londoner hofpredigers , Beauties of Shakespeare-^ die in
den briefen 1, 47. 48 citierten stellen aus „Wie es euch gefällt" stehen bei Dodd
hinter einander auf der ersten Seite. — Nach s. 64 soll Goethe aus furcht vor dem
Selbstmord aus Wetzlar geflohen sein: hier scheint mir Meyer doch die psycholo-
gische entwicklang jener dinge nicht zu durchschauen. — Die verse „schaff das
tagwerk meiner bände" werden s. 110 in die zeit des Clavigo gesetzt.
Von den folgenden Verstössen leichterer art können und werden sicher manche
auf druckfchleru Ijcruhen (so erscheint in Jahreszahlen eine 9 statt einer 4 und da-
durch die grösste Verwirrung s. 98. 100. 115 zweimal. 150. 252. .359. 430); jedes-
falls dürfte ein solches buch dann nicht so stiäflich nachlässig korrigiert sein, denn
es kostet mühe derartige dinge zu übersehen. Nach s. 1 war Goethe 1823 in Ma-
rieubad vierundsechzigjährig. S. 30 wird der Dresdener ausflug des Leipziger Stu-
denten in den herbst 17G7 statt in den märz 1768 verlegt. Nach s. 65 ist Goethe
am 21. September 1772 aus Wetzlar geflohen und hat tags darauf Kestners besuch
empfangen; in Wirklichkeit lagen zehu tage dazwischen. Der Götz erschien 1773,
nicht 1772 (s. 70). S. 120 muss Cäcilie in der späteren bearbeitung der Stella ster-
ben! Goethes einführung ins geheime conseil fand 1776, nicht 1777 statt (s. 136,
derselbe fehler s. Xj. Cornelia starb 1777, nicht 1778 (s. 138, ebenso falsch s. XI).
Die erste fassuug von Claudine soll nach s. 154 in Italien spielen. Bei gelegenheit
von Goethes aufeuthalt iu Pempelfort 1792 wird s. 226 erwähnt, Jacobis „prächtige
frau" habe in der dortigen geseUigkeit ein hauptelemeat gebildet; sie wai' seit acht
Jahren tot! S. 252 ist die erste Harzreise ein jähr zu früli angesetzt. Wilhelm Mei-
ster erschien 1796, nicht 1797 (s. 253). S. 307 wird der geologe Werner zum pro-
fessor in Göttingen, s. 313 der historiker Sartorius zum geologen gemacht! Der nanie
des Kasseler architektou, der zu den AYahlverwatidtschaften modell sass, war Engel-
hard, nicht Eberhard (s. 391). S. 428 wird aus Johann Baptist Bertram ein dritter
bruder Boisseree! Blumenbachs abhandlung über den bilduugstrieb erschien nicht
1789, sondern schon 1781 (s. 558; von mir schon im Euphoriou 1, 490 verbessert). —
Warum schreibt Meyer konsequent Ja/.obi und PluudersweiZe^?.?
Ein hässlicher flecken auf dem buche sind endlich falsclie citate, selbst bei
ganz bekannten dichterstellen. Ich führe eine reihe von proben au, das richtige in
Parenthesen: „der schäfer schmückte (putzte) sich zum tanz" (s. 37); „selber toll
auch zu sein, so wie die zeit es gebot (selbst auch thöricht zu sein, wie es die zeit
mir gebot)'' (s. 61); „das herz des volkes ist . . . keiner edeln bewegung (begierde)
mehr fähig" (s. 73j; „nicht jeden Wochentag (wochenschluss) macht gott die zeche"
(s. 95); „füllest wieder berg (busch) und tal" (s. 138. 144!); „der jüngling ... erweckt
unstillbare (unendliche) Sehnsucht" (s. 193); „jüngling, merke dir in (bei) zeiten"
(s. 196); „rettet euer bild in meinem busen (meiner seele)" (s. 206); „ein werdender
wird (immer) dankbar sein" (s. 235); „die sonne könnt' es nicht (nie) erblicken" (s. 250.
517); „ach aus dieses tales gründen, die der ewige (kalte) nebel drückt" (s. 292!);
„mein lied (leid) ertönt der unbekannten menge" (s. 293!); „dein licht, wer kann
(will) es rauben" (s. 304); „marmorschön (marmorglatt) und marmorkalt" (s. 325. 206;
AHLGRIMM, ÜBER POPPENBERG, ZACH. WERNER 417
s. 355 richtig!); „höchstes glück der meuscheukinder (erdenkiuder) sei nur die Per-
sönlichkeit" (s. 436. 530!); „und nach dem takte reget und nach dem takt (mass)
beweget sich alles an mir fort" (s. 457!); „grau, lieber (teurer) freimd', ist alle theo-
rie" (s. 567!); „bist du aus erde (ans ende) gekommen" (s. 595!); „über allen wipfeln
(gipfeln) ist ruh" (s. 62GI). Das heisst doch wahrhaftig goldene dichterworte wie
Scheidemünze behandeln.
WEIMAR, 4. MAI 1895. ALBERT LEITZMANN.
Zacharias Werner. Mystik und romautik in den „Söhnen des tals".
Von Felix Poppeuberg-. BerUn, C. Vogt. 1893. 80 s. 1,80 m.
Wenn man von Zacharias Werner spricht, so denkt man zunächst an den
„Vierundzwanzigsteu februar", jenes stück, das die reihe der sogenannten schick-
salsdramen in Deutschland eröffnete und dem namen Werners eine traurige berühmt-
heit verschaffte. Alle seine übrigen dramen sind wenig bekannt, vor allem auch
sein erstes: Die söhne des tals, das 1803 und 1804 erschienen ist; die meisten leser,
die jene werke in die band nehmen, werden eben von dem „mysteriösen unsinn"
(nach Scherers ausdruck) abgestossen. Manche werke Werners werden erst verstcänd-
lich und interessieren erst, wenn man sie unter dem gesichtspunkte betrachtet, den
schon Mad. de Stael angibt, dass sie nämlich nui" mittel zur Verkündigung seines
mystischen Systems waren.
Die oben genannte sohrift Poppenbergs, die ims jenes erstlingsdrama Werners
als den niederschlag seines mystischen Systems erklären will, ist deshalb eine dan-
kenswerte und verdienstvolle arbeit zu nennen. Wir haben in ihr, abgesehen von
den letzten 16 selten, die den litterarischen wert dieses dramatischen gedichts —
denn nur so kann es benannt werden — und sein Schicksal auf der bühne und in der
kritik behandeln, im wesentlichen eine psychologische Studie vor uns, welche die
Voraussetzungen der mystik Werners, die anklänge derselben in der dichtung des
17., 18. und 19. Jahrhunderts imd vor allem die ausgestaltung derselben in den „Söh-
nen des tals" zum vorwui'f hat.
Kurz orientiert uns der Verfasser darüber, wie aus der mehr und mehr erstar-
kenden Opposition gegen den rationalismus die romantik entstand, deren wurzeln sich
über den Göttinger dichterkreis hinaus bis auf Hamann , Herder und Lavater zurück-
verfolgen lassen. Die romantik wollte religion und moral trennen und kunst und
religion einander dienstbar machen; der dichter ward zum mystischen theologeu.
Diese religion der romantiker aber, die ihre theologische ausbildung durch Schleier-
macher erhält, ist abhängigkeitsgefühl vom Universum; das letzte ziel und das
höchste glück des menschen ist ihr das zurückfliessen in das all.
Ein priester oder „mittler" dieser neuen kunstreligiou wollte Zacharias Wer-
ner in seinen „Söhnen des tals" werden. Denn dem aus niedrigster sinneulust und
religiöser exaltation zusammengesetzten „gesprenkelten" Charakter Zach. Werners
war jene gefühlsreligion der romantiker durchaus angemessen. Seine lebeusweise
wurde dadurch nicht berührt und gestraft. — Zur ausgestaltung seines Systems
wirkte neben dem Studium der romantiker und Eousseaus besonders mit der persön-
liche verkehr mit Job. Jac. Mnioch in Warschau, sodann der eintritt in die freimau-
reiioge und der verkehr mit Christ. Mayr in Königsberg, von welchem sich besonders
die in den „Söhnen des tals" hervortretende gleichgültigkeit gegen das dogmatische
ZEITSCHRIFT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XXVIII. 27
418 AHLGRIMM, ÜBER POPPEMJERG, ZACH. WERNER
bekenntnis herschreibt. Kurz zusammengefasst lautet das System Werners: Das
unendliche wird angeschaut durch die kunst, gewonnen aber dui'ch die vollständige
aufgäbe des ich im tode, der also (der dahingabe des ich im liebesgenuss entspre-
chend) die höchste woUust ist. — Diese lehre wollte Werner der weit von der bühne
predigen. Er benutzte dazu die geschichte von dem Untergänge des tempelordens.
Dem ganzen gab er den titel „Die söhne des tals". Der 1. teil: „Die templer auf
Cypem" versetzt den zuschauer in die letzten tage des ordens auf jener insel; der
2. teil: „Die kreuzesbrüder" in die beiden letzten lebenstage der häupter des ordens.
Aber nicht um ein streng geschichthches drama war es dem dichter zu tun, vielmehr
benutzte er den stoff nur, um durch das „tal", jene geheime gesellschaft, die sich
über den trümmern des von Philipp von Frankreich vernichteten tempelordens erhebt,
seine idee von der wahren religion zu verkünden. Der 1. teil, in dem sich in der
ersten ausgäbe von 1803 nm- ganz dunkle andeutungen auf das tal fanden, wurde
1807 geschickt umgearbeitet. In dieser ausgäbe weisen die beiden mystischen gestal-
ten der Astralis und des geistes Eudo schon auf das „tal" hin, in dessen dienst
(wenn auch unbewusst) der grossmeister Molay, der grosscomthur Hugo und der
junge schotte Robert d'Heredon stehen. Astralis und Eudo sollen schon als das
unsichtbar über dem orden waltende Schicksal erscheinen. Diese rolle übernimmt im
2. teile der erzbischof Wilhelm v. Paris : er leitet als Werkzeug des „ tals " den pro-
cess gegen die templer so, dass die Vernichtung ihrer edlen häupter erfolgen muss,
um gereinigt im tale aufzuerstehen. Das tal aber verwirft die templer, weil sie —
wie die rationalisten — ihren mitgliedern einen freudeleeren pflichtbegriff gegeben
imd die religion genommen haben. Denn die menge, die irrenden, bedürfen der
mythologie — deshalb duldet das tal alle religionen; erst in ferner Zukunft ist viel-
leicht zu hoffen, dass alle die religion des tals haben können. Dieser höchste glaube
des taLs hat zum mittelpunkt die aufgäbe der eigenen persönlichkeit, und die höchste
aufgäbe desselben (oder der Werner'schen i'eligion) ist Vergöttlichung der menschheit
durch ertötung des eigenwillens. Die erste handlung der selbstentäusserung ist die
Opferung des eigenwillens im „tal", die letzte ist der tod, der das zeiüiessen in
das all einleitet. Werner hat diese Weisheit des tals einmal in mystischem gewande
in der — von Poppenberg treffend erklärten — Phosphoruslegende dargelegt, die im
5. akte dem in das tal eintretenden Robert vorgelesen wird, und vorher schon im
2. akte in der widerwärtigen ballade vom „ritter von Sidon", die der troubadour dem
im kerker schmachtenden Molay zur tröstung vorliest. Deshalb ist der tod und auch
schon die krankheit innig zu lieben, und wir- verstehen nun, wie alle geweihten tal-
mitglieder in folterwonnen und martyrien wollüstig schwelgen, dem tode wie der
braut entgegengehen oder schmerzlich verlangen, dass bald die röte der wangen in
Schnee und dieser dann in giün zerrinne. Denn „aus blut und dunkel quillt die
erlösung"; so könnte das motte des Stückes lauten.
Dass dieser erotische todes- und krankheitskultus sich auch sonst in der deut-
schen litteratur findet, weist Poppenberg zunächst durch heranziehung von Spee,
Scheffler und Jacob Bälde nach, von denen der letzte der Wernerschen idee am
nächsten kommt, wenn auch hier wie bei den Herrnhutern das widerwärtige dieser
bilder noch in etwas durch die beziehung auf den persönlichen heiland gemildert
wird. Damit ist schon angedeutet, dass das heilige abendmahl, das grösste myste-
rium der christlichen kirche, in dem sich die gläubige seele mit dem Heiland in
leibhaftige Verbindung setzte, in vielen fällen frommen gemütern den anstoss zu sol-
chen schwärmerischen Vorstellungen gegeben hat. — Noch von anderer Voraussetzung
SCHMEDES, ÜBER FARIXELLI, GRILLPARZER VKD LOPE DE VEGA 419
gelangte Novalis zu einer der Weruer'sclien völlig gleichkommenden wollüstigen
todesliebe: früh hatte er die verlobte verloren; seine verzweifelte trauer sollte erst
enden, wenn mit dem tode die brautuacht beginnen würde; in ihrer sinnlichen
ausmalung fand er schon auf erden trost. Ja dem tiefen, selbstquälerischen Novalis
war der tod auch deshalb willkommen, weil er von ihm erlösung von allen schmer-
zen erhoffen durfte, jenen schmerzen, die, aus der sünde entstehend, doch den men-
schen für die liebe Gottes erst recht empfänglich machen. Poppenberg ist geneigt,
in anlehnung an E. Th. Ä. Hoff mann auch zur erkiärung von Werners Charakter
jenes Verhältnis von sünde und erlösung heranzuziehen, so dass also AVerner sich
konsequent der sündenlust hingegeben habe, um dann um so überzeugungstreuer der
weit die ertötuug des fleisches predigen zu können. Man darf aber nicht übersehen
— was Poppeuberg auch an anderer stelle andeutet — , dass der grundzug auch
der religion "Werners sinnlich ist, und dass sie ihm nur ein neuer kitzel für die aus-
gezehrten nerven war. In jedem falle erecheint sein charakter in gleich schlimmem
lichte. — Ein exkurs über spuren solcher todesmystik bei Goethe und Hebbel
beschliesst den hauptteil der schrift.
Vielleicht ist es mir gelungen, die überreiche fülle des materials, das Pop-
penberg zur kennzeichnung der todeserotik der romantik unter ausgedehnter benutzung
der einsclilägigen litteratur beibringt, anzudeuten. Er beherrscht sein gebiet und
weiss uns in demselben vortrefflich zu orientieren. An druckfehlern sind mir nur
sehr wenige begegnet, darunter s. 55 in den versen aus Novalis „opfer" statt
„opfern". — Nicht genügend scheint mir nur hervorgehoben zu sein, dass der ge-
danke, der mensch müsse seinen eigenwillen zum vernünftigen gesamtwillen oder
(religiös gesprochen) zum gotteswillen vollenden, und er könne dies erst völlig, wenn
der tod das sinnliche vernichtet, ebenso ein glaubenssatz des Christentums wie der
Kantischen moral ist. Dass die von Werner und den romantikern gepredigte quietis-
tische Opferung des eigenwillens und ihre wollüstige todesliebe etwas anderes ist,
ist klar. Aber ich vermag dann in dem s. 61 citierten Spruche Goethe's und in den
vereen aus dem Westöstlichen divan nichts specifisch mystisches mehr zu finden.
Dem werte der ganzen schrift tut diese geringe ausstellung wenig abbruch;
die Söhne des tales sind von Poppenberg nach üirem wahren werte bestimmt: ein
als drama wertloses werk, an dem nur die lebendige dramatische spräche lob ver-
dient, das aber interessant ist als denkmal einer vielfach irregehenden mystik.
HAMBURG. FRAN'Z AHLGRIMM.
Grillparzer und Lope de Vega. Von Arturo Fariiielli. Mit den bildnissen der
dichter. Berhu, Eelber. 1894. XI und 333 s. 6,50 m.
Das buch macht schon durch die wärme, mit der es geschrieben ist, einen
erfreulichen eindruck. Die eiuleitung berichtet ausführlich über die lange verkennung
Lopes in Deutschland und nimmt für Grillparzer das verdienst in anspruch, den
Deutschen das genie des spanischen dichters offenbart zu haben. FarineUi bespricht
dann das Verhältnis der drameuGriUparzers zu den comedias von Lope : wo er bei die-
sen erörterungen bisher geltenden annahmen entgegentritt, wird man ihm meist recht
geben müssen. Der zweite hauptteü. des buches fasst die eigenen aufzeichnungen des
dichters mit äusserungen, die er bekannten gegenüber zu verschiedenen zeitcn getan
hat, zu einem gesammtbildc seiner Studien über Lope de Vega zusammen. Im allge-
27*
420 LEITZMAXN, ÜBER SCHRÖTKR ITNT) THIFXE, HAMBITRGISCHE DRAMATURGIE
meinen teilt der Verfasser Grillijarzers Vorliebe für den Spanier und findet sich mit
den urteilen seines laudsiuannes über die einzelneu coniedias in Übereinstimmung.
Doch zeigt er sich nicht bhnd gegen Übertreibungen und berichtigt gelegentlich auch
ungerechte urteile über andere Spanier wie z. b. Cervantes. Das schlusskapitel end-
lich führt in ansprechender weise den vergleich zwischen der dichterischen indivi-
dualität GriUparzers und der seines spanischen lieblings durch.
Gegen diese und jene ansieht des Verfassers (zum beispiel gegen das, was er
s. 41 über den trochaeus im deutschen sagt) wäre wol allerlei einzuwenden; als gan-
zes ist sein buch ohne frage ein wertvoller beitrag zur Grülparzerhtteratur. Eine
erstaunliche belesenheit ist wol schuld daran, dass namentlich in den anmerkungen
zuweilen dinge zur spräche kommen, die mit dem thema nur in sehr entferntem
zusammenhange stehen. Vielleicht entschliesst sich der Verfasser fiir eine zweite auf-
läge, die ich dem buche von herzen wünsche, aus inicksicht auf die zahlreichen des
spanischen gar nicht oder doch nur mangelhaft kundigen Grillparzerfreunde , die
citate alle in deutscher Übersetzung oder wenigstens von einer solchen begleitet zu
geben. Der darstellung merkt man es nicht an, dass sie aus der feder eines mau-
nes geflossen ist, dessen muttersprache das italienische ist; nur den verunglückten
satz s. .54, z. 6 fgg. v. o. hätte sein stilistischer beii'at nicht durchschlüpfen lassen
sollen. Die ausstattung des buches verdient entschiedenes lob.
WANDSBEGK, 28. FEBR. 1895. J. SCHMEDES.
Lessings Hamburgische dramatiirgie. Ausgabe für schule und haus von Frie-
drich Schröter und Richard Thiele. Halle, "Waisenhaus. 1895. VIÜ und 535 s.
Das verdienst der vor fast zwanzig jähren erschienenen grossen kommentier-
ten ausgäbe der Lessingschen dramatui'gie von Schröter und Thiele ist allen freun-
den und forschem, die sich mit Lessing beschäftigen, bekannt und unbestritten. Das
gleiche lob verdient die kleinere ausgäbe für schule und haus, welche die Verfasser
jetzt veranstaltet haben. Eine einleitung orientiert ausführlich über die äussere ge-
schichte des werkes, klar, aber knapp, vielleicht stellenweise zu knapp über den
theoretischen Inhalt; hier hätte manches, was die anmerkungen nachbringen, hinein-
verflochten werden können, z. b. die katharsisfrage und Lessings Verhältnis zu
Shakespeare (vgl. jetzt Witkowskis aufsatz im Euphorien 2, 517). Im texte sind
einzelne für schule und [haus ungeeignete oder minder wichtige abschnitte (z. b.
die musikalischen bemerkungen zur Semiramis, die langen anaJysen des Esses von
Banks und des spanischen Essex, dis beurteilung der Veränderungen der Teren-
zischen adelphi durch Eomanus) ausgeschieden, was man billigen kann. Allseitige
vorzügKche erklärungen stehen unter dem text und bilden den fortlaufenden kom-
mentar, in welchem auch die sprachform der dramatui-gie eingehend berücksichtigt
worden ist. Den Verfassern ist es gelungen, die bisher verlorenen theaterzettel der
Hamburger entreprise in der Gothaer bibliothek zu entdecken und für einige kleine
korrekturen im texte zu verwerten; ein besonderes schriftchen Thieles (Erfuii; 1895)
orientiert eingehender über den wert dieses fmides. Den schluss des buches bilden
ein Verzeichnis sämmtlicher stücke sowie ein grararaatiseh- lexikalisches und ein Per-
sonenregister. Der ausgäbe ist die weiteste verbreitimg zu wünschen. — Versehen
sind mir in der einleitung und den anmerkungen kaum aufgefallen: s. 11 lies „Busch"
statt „Busch", s. 35. 201 „Stüven" statt „Stüve".
WEIMAR, 11. SEPTEMBER 1895. ALBERT LEITZMANN.
HAUIT, ABTISEN UMU AimiAVK 421
MSCELLEN.
Artisen und arthave.
I.
0. Breuner hat in dieser zeitschr. 27, 386 — 389 mit recht darauf aufmerk-
sam gemacht, dass für das wort erdiscn die ihm beigelegte bedeutimg pflugeisen,
pflüg schar bisher nirgeods nachgewiesen, ja dass das Vorhandensein des wortes in
hohem grade zweifelhaft sei. Er bemerkt zutreffend, dass in dem gedichte „Vom
rechte" die änderung des handschriftlich überlieferten cardisen (so, nicht ardiseti,
wie Brenner mit irriger bezugnahme auf Schroeder angibt, steht in der handschrift)
in erdisen nicht statthaft, und dass auch an der zweiten stelle, an der uns das wort
begegnet (Mon. Boica VIII, 258), die überlieferte form {erdysin oder erdysir) nicht
zureichend gesichert sei. Auf einem irrwege befindet er sich aber, wenn er an beiden
stellen cerdlseu bezw. erdtsen durch eidtsen (= egg- eisen) zu ersetzen vorschlägt
und den von Edw. Schroeder im Anz. f. d. alt. 17, 291 gegebenen hinweis auf
eine form ardtsen ablehnt. Das bisher meines wissens unbekannt gebliebene wort
artisen freue ich mich durch folgende drei urkundliche stellen belegen zu können:
1) A'"erleihung eines üeckens xoschen Ittingißhusen unde Abern-Bcs singen
seitens des grafen Johann von Solms an den waldschmied Kudiger am 29. September
1448 behufs anlegung einer waldschmiede. Der beliehene soU davon jerliehs of s.
Mertins tag in unser kelnery gein Liehe zto erbexinß geben 6 giilden geldes Francken-
furtir weronge, %ico icagen isens unde zweye par artysen. Gedruckt bei Bauer,
Hessische ui'kunden, bd. IV nr. 166 s. 157 fg. nach dem original.
2) In der „Beschreibung aller zubehörden des hauses Glyperg, de 1412" (Nas-
sauer copialbuch des archivs zu Wiesbaden nr. 45) ist über die Waltsmit (Hof
Öchmitte bei Eodheim a. d. Bieber) bemerkt: Item die ivaltsmit und Rodheim gehö-
rit allein gein Olyperg und gildet jars der herschafft 12 gebont guts issens und
dry par gtttes ardisen uff das slos Olyperg usw. Gedruckt nach dem original
bei H. V. Ritgen, Eegesten zur geschichte von Gleiberg, im 2. Jahresbericht des
Oberhessischen Vereins für lokalgeschichte (1881) s. 64.
3) Am 9. februar 1421 wird von graf Philipp I. von Nassau -AVeilburg dem
waldschmied Otto von "Weiününster die zu Weilmünster gelegene waldschmiede ver-
liehen. Er verspricht dagegen, dass er und seine erben dem grafen jerlichin xu
gulde gebin sollin uff sant Martins tag mit ttamen echte ivagen ysens unde fiere
phar ardt-isen, daz ist mit namen fiere sech unde fier schar, unde die entwurten
uff U7iser host unde schaiden gen Wilburg uff die burgk. Die Urkunde ist nach
dem original abgedruckt bei Becker, Geschichte des bergbaues und des bergrechts
in dem vormaligen Nassau'schen amte Weilmünster, in der Zeitschrift für bergrecht
XVIll (1877) s. 483.
Durch die zuletzt angeführte stelle wird die bedeutung des neu gewonnenen
Wortes ausser zweifei gesetzt: unter artisen werden die beiden am pflüge befindlichen
eisen, die pflugschar (vomer) und das pilugsech (lat. ligo, culter) zusammengefasst.
Auch an den beiden ersten stellen werden darum als abgäbe des waldschmieds
paare von artisen festgesetzt, und in der oben angeführten Urkunde der Monumenta
Boica ^ hat es sich offenbar gleichfalls um die zinsabgabe eines paars artisen gehan-
1) VIII, 258: ein ieglicher Hirt . . . sol iarliehen davon geben . . . xioai erd-
ysin, wann die von alter und mit recht daxu gehörnt.
422 HAUPT
delt. ZeuguissG für die weite Verbreitung dieser art von abgäbe Hessen sich wol
unschwer in grösserer zahl beibringen. Hier möge nur noch angeführt werden, dass
die zu Betsingerode im Harz befindUche eisenhütte des klosters Ilsenburg diesem
1477 ein plochhlath und ein seeck zu liefern hatte', dass um 1411 — 1419 als abgäbe
der eisenhütte bei Elbingerode im Harz an den bischof von Halberstadt zwei 2}loch-
ysenblat und zwei sek festgesetzt waren , vgl. Jacobs , TJrkundenbuch der stadt Werni-
gerode (Geschichtsquellen der provinz Sachsen 25) s. 163, dass ferner schon 1030 der
abtei zu St. Marien bei Trier von dem markte Masholder bei Bitburg als zins vomcr
timis cum cultro jährlich geUefeii wurde. Vgl. hierfür Beyer, TJrkundenbuch zur
geschichte der mittelrheinischen territorien bd. I s. 354. In dem güterverzeichnis des
klosters Prüm von 893, bezw. 1222 (Beyer a. a. o. s. 161 anm. 3) erscheinen unter
den abgaben eines hofes „ferramenta aratri, quae vocantur scar". Ob es sich hier
nur um die abgäbe von pflugscharen , oder, was wahrscheinlicher, um die eines paars
artisen handelt, lässt sich bei der Unbestimmtheit des ausdrucks nicht entscheiden.
Der schultheiss des abtes zu Münster im St. Gregorienthai hatte jährlich dem abte
3 pflugyscn ze jeglicher zeigen eins zu liefern (Urkunde von 1339 bei Schoepflin,
Alsatia diplomatica II, 163 nr. 980). »
Wenn artisen an der von Brenner behandelten stelle des gedichtes „Vom rechte",
wie es scheint, in der enger gefassten bedeutung von pflüg schar gebraucht wird,
so liegt wol die gleiche licenz vor, die im heutigen Sprachgebrauch häufig pflugeisen
an die stelle von pflugschar treten lässt.
Als die bedeutung von art bezeichnet Brenner bd. 27, 387 „ganz allgemein
„landbau"; artisen wäre also nach Brenner „Ökonomie -eisen, doch ein zu weiter
begriff". Nachdem für artisen die bedeutung „pflugeisen" ^ festgestellt ist, wüxl man
aber art- notwendig in engere Verbindung mit der pflügung bringen und annehmen
müssen, dass art in der Zusammensetzung artisen seine ursprüngliche bedeutung =
aratio (oder = aratrum? vgl. alts. erida, altnord. arctr) noch bis zum ausgang des
mittelalters beibehalten hat^.
Den vorstehenden ausführungen des herrn Verfassers fügt E. Schröder, der
sie uns übermittelte, die nachfolgenden bemerkungen hinzu:
1) TJrkundenbuch des klosters Ilsenburg (Geschichtsqu. der prov. Sachsen,
bd. VI) s. 379. Vgl. dazu Ed. Jacobs, Peter der Grosse am Harz und die gräflichen
hüttenwerke zu Ilsenburg, in der Zeitschrift des Harzvereins f. gesch. u. alt. -k.
Jahrg. XIII (1880) s. 254. Im jähre 1478 wurden 2 lampna und 2 seek, später
1 lampna und 1 seek gezinst. Jacobs fasst lampna {latmnina) allgemein als abgäbe
an eisenblech; man vermisst aber dann eine massbezeichnung. Mir erscheint eher
lampna Übersetzung von plochhlath (= pflugschar) , welches wort übrigens bei Schil-
ler-Lübben nicht erscheint. Dieffenbach^ Glossar, latino - germanic. s. 316 verzeich-
net zu lamen u. a. die glossen ysern und eisenick.
2) Unter phluoe-'iscn hat man im mhd. offenbar in der regel, wenn auch wol
nicht immer, gleichfalls die beiden haupt- eisen des pflugs, die schar und das sech,
zusammengefasst. So verzeichnet z. b. das Inventar der Deutsch -ordens-häuser Inster-
burg im jähre 1487 u. a. 8 eysern iJflug, 7 par pflüg -eysern, nachdem unmittelbar
vorher 12 schor, 10 sech aufgeführt waren (Urkunden zur geschichte des ehemaligen
hauptamts Insterburg, herausg. von A. Hörn und P. Horu, Insterburg, 1895 s. 21).
3) Zu art vgl. Grimm, Deutsches wörterb. I, 568 und 573. VII, 1774. Deut-
sche grammatik III, 414. Gesch. d. deutschen spraclic I, 55. Nachweise des ge-
brauchs von art = ai'atio im mittelniederdeutschen bei Schiller-Lübben I, 130 fg.,
im neuhochdeutschen bei Heyne 1, 149, Grimm I, 573 und Staub -Tobler, Schwei-
zer. Idiotikon I, 473 fg. Die gleiche von Lexer nioht bemerkte bedeutung im mhd.
AEliSEN UND AETUAVE 423
Meiner absieht, das im „Recht" bei Karajan 6, 16 überlieferte cerdisen gegen
Brenners übereilte conjectur ceidisen zu verteidigen, ist herr oberbibliothekar H. Haupt
mit einer belesenheit zuvorgekommen, der gegenüber ich mich auf wenige Sätze
beschränken kann.
Den aalass, in cBrdisen ein mögliches ardisen zu vermuten, bot mir die auf-
fällige Schreibung mit cn. Ich habe aus der Millstätter hdschr. die stücke vom Eecht,
Hochzeit und Physiologus coUationiert (Kar. s. 3 — 44. 73 — 106). In ihnen kommt
das zeichen cb 168 mal vor; davon stellen: 1) 118 fälle umlaut des a dar (eingeschlos-
sen das dreimalige stcet, das natürlich auf analogie von lat 89, 16. 94, 9 beruht);
2) 43 fälle gelten der jüngeren resp. schwächeren umlautsstufe von ä\ 3) 2 mal
{iemccn 9, 13. niemcen 28, 2) bezeichnet cr ein im nachton zu e geschwächtes a.
Jo einmal bezeugt ist ferner tceidinch und mcennischen (anlehnung an man) ; Schreib-
fehler ist das erste cß in gcBmcehi 94, 7. Altes e ist, trotz vielhundertfachem vor-
kommen, nur einmal als (b geschrieben: dcer 36, 20.
Es ist also von vorn herein nicht sehr wahrscheinlich, dass ce in cerdisen als
altes e wie in erde zu deuten sei; man wird es am ehesten doch zu der gruppe 2) stel-
len, und sogut neben 19 mal yeslcehte 2mal geslahte, neben gemcechede 84, 4. 15 —
gemachede 88, 2, neben gescelbede 78, 1 — gesalbede 77, 19, neben gemcehelen 12, 12
— gemahelin 24, 12, neben almcehtigen 27, 12. 75, 10. 102, 9 — eingahtiger
100, 12 vorkommt, dürften wir neben (ßrdisen bei einer widerkehr des wertes wol
auch ardisen erwarten — oder ■siebnehr artisen!
Denn ich glaube allerdings, dass der Schreiber der MiUstätter hdschr., indem
er statt artisen oder auch (artisen der vorläge ardisen schrieb, dabei eine halb
unwillkürliche aunäherung an crdisen vollzog, und dass er, falls er überhaupt eine
etymologische Vorstellung damit verband, diese an den unmittelbar vorher (6, 7. 14)
mehrfach gebrauchten ausdruck il% (von) der erde bringen anlehnte.
Nun pflegen solche mechanischen wie die Volksetymologien selten sinnvoll zu
sein, aber dass man ein wort erdtsen an sich zu beanstanden habe, kann ich Bren-
ner ganz und gar nicht zugeben, erde ist im gegensatz zur lockern, staubigen molte
(wiu'zel viel, mal) das feste, consistente erdreich, und da jedes einfache eiserne
Instrument metonym auch „eisen" genannt werden kann, so wäre ein „eisen" zum
bearbeiten der „erde'' eben ein „erdeiseu".
Nachdem Haupt das gesuchte artisen „ pflugeisen " nachgewiesen hat \ bedarf
es kaum noch einer ausdrücklichen zuiückweisung der conjectur ceidisen „eggeisen".
Die „egge" ist, das bestätigen auch die giossierungen trotz aller mannigfaltigkeit, nie-
mals ein gerät, das in schwerem erdreich den pflüg ersetzen kann: meist muss die-
ser seine arbeit vorher getan haben. An unserer stelle aber handelt sichs gerade um
ein Werkzeug, das tief in den unlängst gerodeten waldboden eindringt. Das passt
auf den pflüg, aber auf keine wie immer geartete „egge".
11.
Im Mhd. handwörterbuch I, 98 führt Lexer unter den Zusammensetzungen
mit art auch art-houwe mit der angebhchen bedeutung feldhaue auf; auch Bren-
erscheint an der von Vilmar, Idiotikon von Kurhessen s. 16 angezogenen stelle einer
Urkunde von 1446: iglieh foncergk sal jer liehen xu ydcr art crcn eynen tag, und
in einer Urkunde von 1388 bei J. Ai'noldi, Beiträge zu den deutschen glossarien s. 8.
1) In einer (was immerhin erwähnt sein mag) von altalemannischen Siedlungen
durchsetzten landschaft; vgl. übrigens auch Crecelius, Vilmar iind den "Westerwälder
Schmidt s. v. art u. ä.
424 HAUPT, AETISEN UND ARTHAVE
ner Zeitschr. 27, 387 lässt die bedeutuDg baiiernliacke gelten. Das wort begegnet,
soweit ich sehe, nur an einer einzigen stelle, nämlich in dem von herzog Otto von
Baieru 1311 den bairischen ständen ausgestellten freiheitsbriefe, der unter anderem
auch bestimmungen über die bestrafuug von diebstabl gibt. Vgl. G. v. Lerchen-
feld, Die altbaierischen landständischen freibiiefe (1853) s. 1 und register 278, wo
dem Worte die unmögliche bedeutung „das erste oder alt-heu" unterlegt wird;
auch abgedruckt in den Quellen u. erörteruugen z. bayer. u. deutschen geschichte,
bd. VI (Monumenta Wittelsbacensia II) s. 184. Ist an dem diebe die todesstrafe voll-
zogen, so soll nach dem freiheitsbriefe „auf dem guet beleiben, da der deup auf
gesessen ist, same arthaue^ und was ze recht darzu gehört; von dem andern tail sol
gefallen des deubes hausfrauen und kinden, ob er sy hat, das drit tail; das ander
guet alles gefellet dem herren, auf des guet er sitzet. Hat aber er weder weib noch
kind, so gefellet es alles dem herren." Es handelt sich an unserer stelle offenbar
darum, aus dem nachlasse des bestraften diebes, der als hintersasse gedacht wird,
dasjenige auszuscheiden, was nicht gegenständ einer teilung zwischen seinen hinter-
bliebenen und seinem gutsherrn werden soll. Der zusatz sawe (idem, Lexer II, 590)
weist darauf hin, dass das ausgesonderte objekt in seinem bestände nicht alteriert wer-
den soll; die werte tmd tvas %e recht darxu gehört bezeichnen arthaue als einen
complex verschiedener gegenstände. Die bedeutung „ feldhaue " kann unter diesen
umständen nicht in frage kommen. Dem richtigen sinne des wertes werdeii wir
dagegen durch die betrachtung der in einer Urkunde des Jahres 1262 über die eigen-
tumsverhältnisse der hintersassen des Passauer domkapitels getroffenen bestimmun-
gen (s. Quellen und erörterungen zur bayer. und deutschen geschichte, bd. V [Monu-
menta "Wittelsbacensia I] s. 189) näher kommen. Dort heisst es: „Si advocatus
voluerit cogere rusticum nostrum per pignus aliqi;od, non tollet araturas nostras,
quod vulgo hof gerillt dicitur, ne propter hoc locus ille incultus remaneat et
desolatus." Unter dem „gericht", „hofgericht", „hausgericht", „gutsbericht" verste-
hen die bairischen rechtsurkunden bis auf die ueuzeit herab die ausstattuug eines
hofs mit geraten, vieh, futter, düng, speisevorräten usw., die in der regel der grund-
herr als eigentnm anzusprechen hatte; vgl. Schmeller^ II, 38. Grimm, Deutsches Wör-
terbuch IV, 1 , 3636. Um nichts anderes als um diese aratura ^ oder hofgeriht wird
es sich an der obigen stelle handeln: die im engsten sinne zum gute und zu dessen
bcwirtschaftung gehörenden gegenstände soll der gutsherr als arthaue bei der teilung
des nachlasses des bestraften diebes aussondern und für sich vorweg zurückbehalten
dürfen. Die gleichbedeutung von arthave mit gutsbericht oder hofgericht dürfte auch
aus folgender stelle der „Erklärung der Landsfreyhait in Obern und Niedern Bairn"
von 1553 (G. von Lerchenfeld, Die altbaierischen landständischen freibriefe s. 256)
erhellen: „Der X. articl. "Wie der grundt-, vogtherr und glaubiger von der ublthäter
guet sollen bezallt und enntricht werden. Es sollen auch hierinn vor der herrschafft
und allen leuten von dem guet der gruudtherr oder vogtherr irer güllt und guets-
1) Nach G. von Lerchenfeld's angaben s. CCCCXXXV schwanken die 4 verschie-
denen originalien des freiheitsbriefs zwischen der Schreibung arthaue und arthav«.
Im legister heisst es: y^arthaue, in den originalien, wie sich wol von selbst versteht (?),
mit übergesetztem e."
2) Dieffenbach, Glossarium latiuo-germanicum verzeichnet für aratura, bezw.
paratura die bedeutungen garawin, harauvi, garue (= Zubereitung, ziu-üstung, Lexer
1, 892). Bei Müller -Zarncke, Mittelhochd. wörterb. II, 1, üiQ vgl. htlsgerihte, haus-
rat mit der gleichzeitigen lateinischen Übertragung: paratura unius domus.
11. SCIBIIÜT-WAIJTENBEKG, GEKMAN. STUDIEN IN AMERIKA 42Ö
benchtung gewert werden, sein weib, ob er die hat, irs zuegebrachten heuratguets
und morgengab, und annder sein glaubiger h'er schuld bezallt .... werden."
Einer fachmännischen sprachlichen erklärung des wertes arthave möchte ich
hier nicht vorgreifen, sondern nur im hin weis auf das sinnverwandte aratura mich
für die annähme entscheiden, dass im ersten teile des wertes das uns bekannte art
(aratio) widerkehrt. Ob have an die stelle eines ui'sprüuglichen habe getreten ist?
Wir hätten dann eine art- oder wiii:schafts-habe, etwa entsprechend dem mhd. und
nhd. „haushabe" \ das in der doppelten bedeutung von haushaltung und hausbesitz
begegnet.
1) Schmeller- I, 1177. 1032. Grimm IV, 2, 6G9. Lexer I, 1404.
GIESSEN. HERMAN HAUPT.
Germanistische Studien in den Tereini^en Staaten von Amerika.
Es ist eine bekannte tatsache, dass Amerikaner einen grossen procentsatz der
ausländischen hörer an deutschen Universitäten bilden. Seit einer langen reihe von
Jahren — besonders seit Deutschlands politischer einigung — haben hunderte vou
ihnen ihre wissenschaftliche ausbildimg dort genossen. Dass dies früher oder später
fruchte trage, war man berechtigt zu erwarten; dass es anfangs vielleicht nicht in
dem gewünschten masse eingetroffen ist, liegt an der Ungunst der Verhältnisse: der
natürlichen begünstigung mehr materieller bestrebungen , dem geringeren Verständnis
für rein geistige arbeit, soweit sie als direkt praktisch anwendbar sich nicht erwei-
sen lässt, und dem hierdurch bedingten mangel an Instituten, die dem gelehrten
gelegenheit zu produktiver forschung gewähren. Die letzte zeit hat jedoch einen ent-
schiedenen aufschwung des wissenschaftlichen strebens gesehen. Im jähre 1875
begann die Johns Hopkins University ihre arbeit nach deutschen idealen und,
soweit es füi' amerikanische Verhältnisse geeignet war, nach deutschem muster. Eine
reihe von lehrinstituten , ältere und neue, haben sich ihr im laufe der jähre ange-
schlossen; sämmtlich gehören sie zu der zahl derer, die der beispiellosen muntficenz
begüterter Amerikaner ihr bestehen verdanken. Dass die naturwissenschaften in
erster linie an diesem emporblühen beteiligt sind, ist leicht begreiflich; material in
erstaunlicher fülle lockte den forscher und sicherte auch dem anfänger einen beitrag
zur lösuug untersuchenswerter probleme.
Dass die deutsche phüologie hier bisher nur weniges aufzuweisen hat, das die
anerkenn ung deutscher gelehrten herausforderte, hat manche gründe, welche alle
darzulegen nicht der zweck dieser kleinen notiz sein kann. Der vorurteilslose beur-
teUer aber \nrd selbst bescheidenen anfangen seine Sympathie nicht versagen. Die
Zukunft sieht versprechender aus und deutet auch hier auf bevorstehenden fortschritt.
Einige Seminarbibliotheken dürften sich schon jetzt denen deutscher Universitäten
gleichstellen. Scherers, Zarnckes und Hildebrands büchersammlungen sind über den
ocean gewandert, und die wachsende zahl strebsamer germanisten bürgt dafür, dass
diese schätze nicht lange müssig die schränke zieren werden. Deutsche lehrcurse,
die über das gymnasialpensum hinausgehen, werden an allen besseren Colleges abge-
halten. Leider freilich schliessen die meisten notgedrungen da ab, wo das vollere
verständis und das Interesse an selbständigem arbeiten envacht. Nur- wenige sind
in der läge, beanlagtere Schüler in methodische wissenschaftliche forschung weiter
zu führen.
426 H. SCHMIDT - WARTENBEKG , GERMAN. STUDIEN IN AMEWKA
Nachstehend folge ein verzeichuis germanistischer curse (mit ausschluss des eng-
lischen), die au amerikanischen universitüten im jähre 1S94 — 95 gehalten werden.
I. Johns Hopkins Uuiversity. (Baltimore.) Altnordisch. 2 st. (pro f.
Wood). Historische deutsche grammatit. 1 st. (derselbe). Gotisch. 2 st. (derselbe).
Heliand. 2 st., erstes Semester (dr. Learned). Althochdeutsch. 2 st., zweites Seme-
ster (derselbe). Mittelhochdeutsch. 1 st. (derselbe). Holländisch. 2 st. (dr. Vos).
Geschichte der deutschen nationallitteratur. 1 st. (derselbe). Goethe's Faust. 2st.,
zweites semester (prof. "Wood).
n. Harvard University. (Cambridge, Mass.) a) Litterarische curse:
Allgemeine geschichte der deutschen litteratur, mit besonderer beräcksichtigung der
beiden klassischen perioden des 12. und 18. Jahrhunderts. 3 st., zweites semester
(ao. prof. Schilling). Deutsche litteratur des 12. und 13. Jahrhunderts. 3 st., zwei-
tes semester (ao. prof. von Jagemann). Deutsche littei'atur von der reformation bis
zur klassischen periode. 3 st., erstes semester (dr. PoU).
b) Philologische curse: Gotisch. 3 st. , erstes semester (ao. prof. von Jage-
mann). Altsächsisch. 3 st., zweites sem. (derselbe). Geschichte der deutschen
Sprache seit 1100. 3 st., zweites sem. (derselbe).
HI. University of Chicago. Die Chicagoer Universität ist die einzige, die
ohne Unterbrechung das ganze jähr hindurch geöffnet ist. Zwischen den vier unter-
richtsquartalen ist nur eine je Stägige pause. Professoren jedoch wie Studenten wäh-
len ein quartal als ferieu. Das programm des deutschen departements ist für- das
jähr vom 1. Oktober 1894- — 1. Oktober 1895 das folgende.
a) Herbst-quartal: Das litterarische zusammenwirken Goethe's und Schil-
lers I (prof. Cutting). Phonetik (ao. prof. Schmidt -"Wartenberg). Mittelniederfrän-
kisch (derselbe). Geschichte der deutschen spräche (derselbe). Gotisch (dr. von
Klenze).
b) "Winter-quartal: Das litterasische zusammenwirken Goethes und Schil-
lers n (prof. Cutting). Althochdeutsch (ao. prof. Schmidt -"Wartenberg). Altnordisch
(derselbe). Altsächsisch (derselbe).
c) Frühjahrs-quartal: Vergleichende gotische grammatik (ao. prof. Schmidt-
"Wartenberg). Nibelungenlied (dr. von Klenze).
d) Sommer-quartal: Lessing als kritiker (prof. Cuthiug). Mittelhochdeutsch
(derselbe). Elemente der historischen deutschen grammatik (besonders für lehrer des
deutschen bestimmt) (ao. prof. Schmidt -"U^artenberg). Gotisch (dr. v. Klenze). Ele-
meutarcurs des dänisch -norwegischen (dr. Dahl). Srutlien über ßjörnsen und Ibsen
(derselbe). Altnordische litteratur (derselbe).
Sämmtliche Vorlesungen und Übungen sind vierstündig.
IV. Columbia College (New York): Goethe's Faust, 1. und 2. teil. 2st.
(prof. ßoyesen). Geschichte der deutschen litteratur. 1 st. (derselbe). Geschichte der
deutschen spräche. 2 st. (prof. Carpenter). Isländisch 2 st. (derselbe). Gotisch. 2 st.
(derselbe). Mittelhochdeutsch. 2 st. (derselbe). Althochdeutsch. 2 st. (derselbe). Ger-
manische mythologie. 1 st. zweites semesteer (derselbe). Geschichte der dänischen
und norwegischen litteratur. Ist. (prof. Boyesen). Altnordische litteratur. 2 st.,
zweites semester (derselbe). — Falls nicht anders angegeben, erstrecken sich die
curse durch die beiden semester, zwischen denen keine ferien liegen.
V. University of Michigan (Ann Arbor): Goethe's Faust. 2 — 3 st., zwei-
tes sem. (prof. Thomas). Curs für lehrer des Deutschen. 3 st., zweites sem. (der-
selbe). Geschichte der deutschen litteratur, zweites sem. (derselbe). Althochdeutsch.
aPHENÜEU, LOKELEY 427
3 st., zweites sein. (ao. prof. Hencli). Historische deutsche grammatik. Erstes sem.,
Deutsch und wortbildungslehre; zweites som., Syntax. 2 st. (derselbe). Gotisch; für
anfäuger, 3 st., erstes sem. (derselbe); für vorgeschrittene, 2 st., zweites sem. (der-
selbe). Mittelhochdeutsch. 2 st., erstes sem. (Mensel). Nibelungenlied. 2st , zwei-
tes sem. (derselbe)
VI. Leland Stanford Junior University. (Palo Alto, Californien) : Mit-
telhochdeutsche grammatik. 2 st., erstes sem. (prof. Goebel). Walth er von der Vogel-
weide. 2st., zweites sem. (derselbe). Althochdeutsche grammatik. 2st., erstes sem.
(derselbe). Otfrid. 2 st., zweites sem. (derselbe). Altnordische grammatik. 2 st.,
erstes sem. (derselbe). Saemundar Edda. 2 st., zweites sem. (derselbe). Gotisch.
2 St., zweites sem. (derselbe).
Vn. Bryn Mawr College (Bryn Mawr, Penusylvanien): Geschichte der
deutschen litteratur bis auf Klopstock. 2st. , zweites sem. (prof. H. Collitz). Allge-
meine phonetik. Ist., erstes sem. (dei-selbe). Gotisch. 2st., zweites sem. (derselbe).
Althochdeutsch. Ist., zweites sem. (derselbe). Mittelhochdeutsch. 2 st., zweites sem.
(derselbej. Einleitung in die germanistische philologie. 1 st. , zweites sem. (derselbe).
Altsächsisch. Ist., zweites sem. (derselbe). Altnordisch. Ist., zweites sem. (der-
selbe). Vergleichende germanische grammatik. 2st. , zweites sem. (derselbe).
VIII. Com eil University. (Ithaca, N. Y.). Das Studienjahr ist in 3 quar-
talo eingeteilt. Gotische grammatik. 2 st., erstes und zweites quartal (prof. Wheelcr).
Goethe's Faust. 2st. , erstes und zweites quartal (prof. Hewest). Geschichte der
deutschen litteratur. Ist., durch alle drei quaftale (prof. Hewett). Mittelhochdeutsch.
2st. , 8 quartalo (derselbe). Uhlaud und die schwäbische schule. 3 st., drittes quar-
tal (derselbe). Walther von der Vogel weide. 2öt. , 3 quartale (prof. White). Alt-
hochdeutsch. 2st. , zweites und drittes quartal (dr. Jones).
CHICAGO. H. SCHMIDT - WÄRTENBERG.
Der name der Loreley.
Der name der Loreley, des berühmten Eheiufelsens , wird noch in den neusten
auflagen der handbücher von Daniel -Volz und anderen erdkundlichen werken aus
der volkstümlichen Form L^srley als „Lauerfels" gedeutet. Wenn wir nun in dem
zweiten teile des wertes unzweifelhaft das mittelrheinische ley^ = schieferfels zu
erkennen haben, so spricht gegen diese erklärung des ersten bestand teils schon der
umstand, dass Lurley mit kurzem lo gesprochen wird, während das u in lilren lang
ist. Was soll man sich übrigens unter einem „Lauerfels" denken? Für den urheber
dieser erklärung halte ich Schmellor, der in seinem Bayerischen wörterbuche - 1, 1499
unter „der lauer" auf die „Loreley am Khein" verweist. Dass er aber lauern hier
nicht in der gewöhnlichen bedeutung genommen hat, beweist seine Verweisung auf
hoUänd. leur = täuschung. Er nimmt also lüren in der im mittelniederdeutschen ver-
breiteten bedeutung „betrügen, hintergehen", die sich noch im kompositum be- lüren
(z. b. bei Fr. Eeuter) erhalten hat. Schmeller scheint zu dieser deutung durch die
sage von der uixe Loreley veranlasst, die durch ihren gesaug die schiffer betört.
Nun ist aber nach neuereu forschungen diese sage durchaus nicht alt, sondern erst
1) Schon mhd. leie, Ici stf., fels, besonders schieferfels (s. Lexer I, 1866);
nicht zu verwecliseln mit U stm. (ahd. Ideo] „hügel", wie es noch in dem Mhd.
lesebuche von Legeiiotz, Bielefeld und Leiiizig 1892 s. 127 geschieht, wo unter die-
sem Worte auf die Lore-ley verwiesen ist.
428 SPRENGER, ZU GOETHES IPHIGENIE
durch Nicol. Voigt erfimden und durch Ol. Brentano und H. Heine ins volk ge-
drungen.
E. Moritz Arndt wollte den namen von einem rheinischen hirleien „nachspre-
chen" ableiten. Dieses verbum ist nun freilich nicht alt und wol erst von dem
namen der Lurley abgeleitet; es würde aber dafür sprechen, dass dem volke an dem
berge stets das wunderbare funfzehnmalige echo das bemerkenswerteste gewesen
ist. Schon Merlan hebt dies hervor, wenn er (vgl. Daniel -Volz, Deutschland nach
seinen physischen und politischen Verhältnissen, 6. aufl. Leipzig 1894, s. 376) von
der Loreley sehreibt: „so von den Alten der Lurleberg ist genennet worden, in wel-
chem Gebürg ein sonderbar lustig Echo^ oder Widerschall sich befindet." Ich möchte
daher den namen der Loreley auf ein in Luthers Schriften erscheinendes lören =
heulen, schreien zurückführen. Vgl. in der bibelübersetzung Hosea 7, 14: „so rufen
sie auch mich nicht an von herzen, sondern lören auf ihren lagern." Die neue
revidierte Lutherbibel hat dafür heulen eingesetzt, die Vulgata hat uhclare. Luther
gebraucht das wort widerholt in seinen Schriften; auch nennt er die Stifter löhr-
und heulhäuser (s. Jütting, Wörterbuch zu Luthers bibelübersetzung, Leipzig,
B. G. Teubner 1864, s. 118). Da Ziemann in seinem Mittelhochd. wörterbuche, Qued-
linburg und Leipzig 1837 — bei Lexer fehlt das wort — neben Itereii aus WaUraffs
glossar auch die form lorcn, ohne umlaut, anführt, so wäre jede spracliliche Schwie-
rigkeit dieser ableitung beseitigt.
NORTHEIM. R. SPRENGER.
Zu Goethes Ipliigeuie.
Im I. aufz. 3. auftr. erzählt Iphigenie dem könige Thoas von dem grausen
mahle, das Atrcus seinem bruder Thycst vorsetzte. Dabei heisst es v. 164 fgg.:
Und da Thyest an seinem fleische sich
Gesättigt, eine wehmut ihn ergreift,
Er nach den kindern fragt, den tritt, die stimme
Der knaben an des saales thüre schon
Zu hören glaubt, wirft Atreus grinsend
Ihm haupt und füsse der erschlagenen hin.
Dafür, dass der vater nach dem genuss vom fleische seiner söhne von wehmut befal-
len wird, findet sich in der antiken sage kein anhält. Unwillkürlich denkt mau dabei
au die dame von Fayel in Uhlands Castellan von Coucy, als sie das herz ihres gelieb-
ten verspeist hat:
„Wie die dame kaum genossen.
Hat sie also weinen müssen,
Dass sie zu vergehen schien
In den heissen thränengüssen."
Höchst wahrscheinlich ist es aber, dass Goethe dies motiv aus einem deutschen
märcheu schöpfte, das unter dem titel „Der machandelboom" in den Kinder- und
hausmäichen der brüder Grimm, als nr. 47 der grossen ausgäbe, überliefert ist.
Hier heisst es vom vater, dem sein söhnchen von der bösen Stiefmutter als speise
vorgesetzt wird: Da kölim de vader to hims und sett't sik to disch un säd „ivo
is denn myn sühn?" Da droog de moder enc groote groote schöttel up mit
schicartsuhr, un Marleenken iceend und kimii sich nich Hollen. Do säd de vader
SPRENGER, ZUM SCHRETEL Tl. WASSERBÄR 429
icedder „ivo is denn myn sühn'?" „Ach", seid de moder, „he is äicer land gaan,
na Matten erer grootükm: he wull dar wat blytven" ... „Ach", säd de mann,
„my is so recht trurig; dat is doch nich recht, he hadd my doch adjüüs sagen
schullt." Mit des füng he an to äten. Un he eet un ect, und de Jenakens smeet
he all ünner den disch, bet he allens up hadd. — Dass Goethe unser märchen,
"wenn auch in anderer fassung, aus der sich auch die abweichungen erklären, kannte,
beweist das lied der wahnsinnigen Margarete im Faust I. teil v. 4059 fgg. , worauf
schon W. Grimm im 3. (erläuterungs-) bände der märchen (3. aiifl.) s. 78 aufmerk-
sam gemacht hat.
NORTHEIM. E. SPRENGER.
Zum Schretel und wasserbär.
Fr. H. V. d. Hagen bemerkt im Gesammtabenteuer 3. bd. s. LXXn fg., dass
dieses thier- und gespenstermärchen nicht nur in Norwegen, sondern auch in der
Altmark und Sachsen noch lebendig ist. Dass es auch am Harze bekannt war, be-
weist eine erzählung vom kämpfe eines alten Soldaten mit einer schar zwerge, der
in einer mühle stattfindet (mitgeteilt in Heinrich Pröhles Harzsagen 2. aufl. in 1 bd.
Leipzig, 1886 s. 110 fg.). Denn dass auch hier ui'sprünglich ein wasserbär am kämpfe
gegen die zwerge teilnahm, wenn die Überlieferung auch nichts davon erwähnt, wird
dadurch bewiesen, dass Pröhles gewährsmann erzählte: „Am anderen abende sass er
wider in der mühle und der müller war auch dageblieben. "Wie es nun an zwölfe
kam, klopfte etwas dreimal an das fenster und fragte: Müller, hast du deine böse
katze noch? Da schrie der alte soldat selber: „Ja, sie jungt alle nacht zwölfe." Da
riefen die zwerge betrübt: „Dann mag dir der teufel wider kommen", und sind seit
der zeit nicht wider kommen. Auch in der mhd. erzählung v. 321 stellt der zwerg
die frage: lebet dtn gro^e kazze noch? und der bauer antwortet 329 fgg.: vünf jun-
gen sie mir htnt geican, diu sint schoene und tvol getan, lancsttie, wt^ und her-
Itch, der alten kaxxen alle gelich. Darauf entschliessen sich die zwerge den hof zu
räumen.
NORTHEIM. R. SPRENGER.
Laugez liär — kurzer muot.
Zu dem von Johaun von Freiberg in seiner lockeren erzählung „Das rädlein"
(Gesammtabent. 3, 118 v. 285 fgg.) dem Freidank zugeschriebenen Spruch:
Die vrouwen hdnt langez här
und kur% gemüete; da% ist war.
haben Wilh. Grimm zu Freid. s. 393, Haupt zur "Winsbekin 19, 2 und Heyne im
DWb. 4, 2 s. 9 zahh'eiche parallelstellen gesammelt. Sie Hessen sich leicht noch
vermehren. Auch Variationen kommen vor, z. b. Spangenbergs Mammons sold (Aus-
gewählte dichtungen von Wolf hart Spangenberg, herausg. A'on Martin, Strassburg
1887) V. 626 fgg.:
Ihr müst lernen den Newen Brauch:
Und allezeit haben forthin |
Lange Kleider \ vnd Imrtxen Sinn.
Sterziuger spiele (herausg. von 0. Zingerle, Wien 1886) nr. 2 v. 265 fg.:
Sy tragen lange klayd vnd kurom muet
vnd dar durch sich manger ser erfreyn tut.
430 STOSCH, LANGEZ HAR — KURZER MTJOT
Tobias Stimmers Comedia (herausg. von J. Oeri, Frauoufeld 1891) v. 14G:
Kurtxe sinn vnd lanrje Rock.
Auffallend ist, dass der ungalante sprucli — • der übrigens auch bei andern
europäischen Völkern sich findet (vgl. Grimm und Heyne a. a. o.) — grade in der zeit
des minnesangs zuerst auftaucht. Da ist es vielleicht bemerkensweii, dass es nach
G. Ebers Ägypten 11, 110 auch ein orientalisches Sprichwort^ gibt: „Des weibes
haar ist lang, sein verstand ist kurz." ^ Die Übereinstimmung mit dem im
Westen verbreiteten Spruch ist gewiss nicht zufällig, wenn aber eine entlehnung statt-
gefunden hat, so dürfte sie eher durch das abendland als durch das morgenland
geschehen sein. Der satz entspricht vortrefflich der orientalischen anschauung der
frauen. Durch kreuzfahrer oder pilger mag er nach dem abendland gebracht wor-
,den sein. Wenn ihn Freidank nicht schon in Deutschland gehöi't hatte, konnte er
ihn in Akers kennen lernen.
1) [R. Sprenger macht uns darauf aufmerksam , dass dieses orientalische Sprich-
wort auch in Gottfried Kinkels trauerspiel Nimi'od (akt 1) sich findet: „Der trauen
haar ist laug, ihr sinn ist kurz", red.]
2) Ein türkisches desselben Inhalts führt Heyne a. a. o. an.
KIEL, 28. AUGUST 1895. J. STOSCH.
Traug. Ferd. SclioU.
Mit dem am 28. april 1895 in Stuttgart gestorbenen professor dr. Traugott
Ferdinand Scholl ist ein mann dahingegangen, der in vielen die liebe für deut-
sche spräche und litteratur geweckt hat. Er war am 17. apiil 1817 zu Beutelsbach
in Württemberg geboren, hat in Tübingen als stiftler theologie studiert, daneben
sich mit deutscher philologie beschäftigt. Diese neigung teilte er mit seinem lange vor
ihm verstorbenen älteren brader Gottlob Heinrich Friedrich Scholl, der 1852
als 27ste publication des Stuttgarter Litterarischen Vereins die Crone des Heinrich
vom Türlin herausgegeben hat, und mit seinem Schwager Adelbert Keller. Nach
Vollendung seiner Studien leitete Scholl mit seinem bruder zusammen ein mädchen-
institut m Ulm, wo er die bekanntschaft seiner frau, der tochter des stadtbibliothe-
kars Neubrormer, machte, und war von 1843 bis 1853 geistlicher und präceptor in
Langenburg im Hohenlohischen. Von 1853 an war er professor am mittleren gym-
nasium in Stuttgart und legte sein amt erst mit 70 jähren 1887 nieder. "Wer sein
Schüler gewesen ist, wird ihm kein anderes als ein freundliches und dankbares anden-
ken bewahren können. Er wusste lebendig anzuregen und geistige äusserungen her-
vorzui-ufen; vor allem hat er die liebe zur deutscheu dichtung im alter der begin-
nenden empfängliclikeit bei seinen Schülern in einem maasse zu wecken verstanden
wie wenig andere; die auffühi-ungen Schillerischer stücke, die er mit den schülern
veranstaltete, sind lichtpunkte in ihrer erinnerung geblieben. Mit dieser schultätig-
kcit hieng auch die bearbeitung eines schuUesebuchs und einer neuen Orthographie
(in den 60 er jähren) zusammen. Daneben hat Scholl eine sehr ausgedehnte öffent-
liche tätigkeit nach verschiedenen richtungen entfaltet; seine regelmässigen berichte
über die aufführungen des Stuttgarter theaters und seine vorstandschaft am Stuttgar-
ter conservatorium für musik (seit 1869) mögen hier erwähnt sein. Vielleicht war
es eben diese ausgedehnte, fast athemlose tätigkeit, was ihn leider verhindei'te, die
wissenschaftlichen Studien seiner Jugend fortzusetzen; durch wissen und geist wäre er
NEUE ERSCHEINUNGEN 431
befähigt gewesen, der litteraturgeschiclite auch bleibeode gaben zu spenden. Mit
recht geschätzt war die „Deutsche litteraturgeschichte in biographien und proben",
die er mit seinem bruder 1841 veröffentlichte und die es 1855 zu einer dritten auf-
läge gebracht hat. Wenn aber auch der eiuen platz in unser Wissenschaft verdient
hat, der durch das lebendige wort und das vorbild einer echt humanen persönlich-
keit die Jugend mit liebe zu der litteratur des Vaterlands zu erfüllen im stände wai',
so wird Scholl wenigstens für den engeren kreis seiner scliwäbischea heimat eineu
solchen ehrenplatz in ansprach nehmen können.
TtJBINGEN. HERMANN FISCHER.
NEUE ERSCHEINUNGEN.
Bremer, Otto, Beiträge zur geographie der deutschen mundarten in form einer kri-
tik von Wenkers Sprachatlas des deutschen reiches. (A. u. d. t. : Sammlung kur-
zer grammatiken deutscher mundarten herausg. von 0. Bremer. Band III.) Leip-
zig, Breitkopf & Härtel, 1895. XVI, 266 s.
Duhlerup, Veruer, Det danske sprogs historio i kortfattet oversigt. (Saertiyk af
Salmonsons konversationsleksikon.) Kopenhagen 1895. 71 s.
Dsuimarks gamle folkeviser. Danske ridderviser efter forarbeidor af Svend Grundt-
vig udgivne af Axel Olrik. Trykt og udgivet paa Carlsbergsfondens bekostuing.
1. bind, 1. hefte. Kopenhagen, Otto B. Wrcblewski 1895. (IV), 144 s. 4. 2,50 kr.
(Fortsetzung des Werkes von Sv. Grundtvig, die 2 bände von ca. 50 bogen
umfassen wird.)
Oislasou, KourjlÖ, Foretesninger over oldnordiske skjaldekvad, udgivne af kom-
missionen for det Arnamagna3anske legat. (A. u. d. t. : K. Gislason, Efteiiadte
skrifter, forste bind.) Kopenhagen, Gyldendal, 1895. X (II), 312 s. 5 kr.
Heyne, Moriz, Deutsches Wörterbuch. 6. halbband. Setzen — zwölftens. Leipzig,
S. Hirzel, 1895. Sp. I — VIII und 593 — 1464. 4. 5 m. (Schluss des trefflichen
Werkes.)
Losch, Phil., Johannes Rhenanus, ein Casseler poet des 17. Jahrhun-
derts. Leipzig, G. Fock, 1895. (Marburger dissert.) VI, 98 s. 1,60 m.
Olafs saga Tryggvasouar. Det Arnamagnfeanske haandskrift 310 qvarto. Saga Olafs
konungs Tryggvasonar er ritadi Oddr niuncr. En gammel norsk bearbeidelse af
Odd Snorresous paa latin skrevue Saga om kong Olaf Tryggvason. Udgivet for
det Norske historiske kildeskriftfond. Christiania, Dybvad 1895. LXXVIII (II),
156 s. 2,40 kr.
Rech, Wilhelm, Germanische namen in rheinischen inschriften. Frogr. des gross-
herzogl. gymnasiums zu Mainz 1895. 48 s. 4.
Rothe, Paul, Die conditionalsätze in Gottfrieds von Strassburg „Tristan
und Isolde". Hallische dissert. (Max Niemeyer in comm.) IX, 96 s. 1,60 m.
Schiifmami, Conrad, Bruchstücke aus einem mhd. passionsgedichte des
14. Jahrhunderts. Linz, Ebenhöch'sche Verlagsbuchhandlung, 1895. 12 s.
0,80 m.
Schillers werke. Herausgegeben von Ludw. Bollormann. Kritisch durchgesehene
und erläuterte ausgäbe. Erster band. Leipzig und Wien, Bibliographisches Insti-
tut, 1895. 96, 400 s. geb. 2 m.
432 NEUE ERSCHEINUNGEN. NACHRICHTEN
Eine treffliche ausgäbe, der wir die weiteste Verbreitung wünschen. Der
vorliegende erste band enthält die gedichte mit kurzen erklärenden anmerkungen
unter dem text und einem anhage, der über die entstehung und die quellen aus-
kunft gibt und die wichtigeren Varianten verzeichnet. Auch die vorausgeschickte
knappe biographie ist sehr lesenswert. Die correctur ist sorgfältig gehandhabt
und die ausstattung gut. — Das werk ist auf 14 bände berechnet, von denen die
ersten 8 die poetischen schritten (mit ausschluss der Übersetzungen), die wich-
tigsten der erzählenden dichtungen, die geschichtlichen hauptwerke und eine
anzahl der philosophischen abhandlungen enthalten werden; die 6 letzten, welche
separat erworben werden können, dasjenige, was nur für die engere zahl der-
jenigen von bedeutung ist, die sich wissenschaftlich mit dem dichter beschäftigen.
Schmidt, Charles, "Wörterbuch der Sti'assburger mundart. 1. liefening. Strassburg,
J. H. Ed. Heitz (Heitz & Mündel), 1895. 48 s. 2,50 m.
Sciences, belies -lettres et arts dans les Pays-bas surtout au IQ*" siecle. Bibliograi^hie
systematique. Tome I. Linguistique, histoire litteraire, belies - lettres. Avec une
table alphabetique. La Haye, M. Nijhoff, 1895. VIII, 301 s.
Singer, S., Apollo nius von Tyrus. Untersuchungen über das fortleben des
antiken romans in späteren zeiten. Halle, M. Niemeyer, 1895. VI, 228 s. 6 m.
Wisser, Wilh., prof. dr. , das Verhältnis der minnelieder-handschriften A und C zu
ihren gemeinschaftlichen quellen. Progr. des gymn. zu Eutin 1895. 24 s. 4.
Zimmerli, J. , die deutsch - französische Sprachgrenze in der Schweiz. II. teil: die
Sprachgrenze im Mittellande, in den Freiburger, "Waadtländer und Berner alpen.
Basel und Geuf, H. Georg, 1895. VIII, 164 s. nebst 14 lauttabellen und 2 karten.
NACHRICHTEN.
Am 19. august starb zu Zürich der ordentl. professor der german. philologie,
dr. Ludwig Tobler (geboren 1. jimi 1827 zu Hii'zel), am Schweizerischen Idiotikon
einer der hervorragendsten mitarbeiter, dem auch unsere zeitschr. eine reihe wert-
voller beitrage verdankt; am IG. sept. zu Weimar der archivrat dr. Ernst Wülcker
(geb. 24. august 1843 zu Frankfurt a. M.), mit dem wider einer von den fortsetzeru
des Grimmschen Wörterbuches aus dem leben schied.
Der ordentl. professor dr. Friedr. Kauf f mann in Jena folgte einem rufe an
die Universität Kiel; an seine stelle ist der privatdocent dr. Victor Michels in
Göttingen berufen worden.
Professor dr. Baechtold in Zürich hat den bereits angenommenen iiif au die
Universität Leipzig nachträglich aus gesimdheitsrücksichten ablehnen müssen.
Halle a. S., Ruchdnicljorei dos Waisenhauses.
ZUE VOEaESCHICHTE DES MUNCHENEE HELIAND-
TEXTES.
Die Münchener handschrift des Heliand ist „von anfang bis zu
ende von ein und derselben sauberen und deutlichen band geschrie-
ben" (Sievers, Heliand, einleit. s. XI). Bei der herstellung einer ihrer
vorlagen aber — ■ gleichviel ob der nächsten oder einer dieser vorauf-
gehenden — haben sich offenbar drei Schreiber nacheinander abgelöst.
Als „leitfossil", dessen wir uns bedienen können, um die grenzen des
von dem einzelnen Schreiber hergestellten textteiles zu bestimmen, lässt
sich vortrefflich der accusativ sing. masc. des bestimmten arti-
kels (bzw. pronomen demonstrativums oder personale) benutzen,
der bei dem Schreiber von v. 85 — 1791/1858^ thana heisst, bei
dem von v. 1859 — 4923/25 tJiene, imd bei dem dritten, von v. 4926
ab [thena].
Von den beiden doppelzahlen ist der erste bestandteil als num- ^
mer desjenigen verses zu verstehen, welcher zum letzten male die
charakteristische form des ungefähr bis dahin reichenden Schreibers
enthält, während der zweite bestandteil denjenigen vers angibt, wel-
chen der vorgehende Schreiber ja zur not noch geschrieben haben kann, ^
weil bis dorthin kein weiterer fall eines accus, sing. masc. vom be- ,
stimmten artikel vorkommt, hinter dem aber unmittelbar darauf eine
accusativform folgt, die unzweifelhaft bereits die tätigkeit des nächst-
folgenden Schreibers verrät.
Mit den äusserlichen mittein „gesperrt antiqua" für thana, „kur- ,
siv" für thene, „parenthese" für [thena] wechsele ich in der absieht,
um die Übersicht über meine Zusammenstellungen zu erleichtern.
Wenn ich mich nicht begnüge, für jeden der drei textabschnitte,
einfach nur anzugeben, wie oft jede der verschiedenen formen (ie^ acc.
sing. masc. vom artikel (pron. demonstr.) darin vorkommt, son/ieri). jed^,,.
stelle einzeln aufführe, so geschieht dies, weil ich glaiibe, die von mir
hier festgestellte textgeschichtliche tatsache wird leichter , _ausg9^iutzt ,.
1) Ich citiere uacli der ausgäbe von Sievers. iivrri; ,(Y\nfi «o
ZEITSCHRIFT F. DEUTSCHE rUILOLOGIE. BD. XXVIII. 28
434 klixghjVrdt
werdeil, wenn jeder sich binnen fünf niinuten bequem überzeugen
kann, ob meine angaben verlässig sind oder nicht.
Meine nachstehenden listen aber habe ich so eingerichtet, dass
ich für die normalform jedes Schreibers einfach nur die versnummer
jeder belegstelle angebe. Die dazwischen vereinzelt eingestreuten Vari-
anten setze ich an der ihnen zukommenden stelle in der aufeinander-
folge der versnummeru mit ein und schreibe die abweichende form
immer gleich hinter der versnummer ihres Vorkommens aus.
Die tatsachen nun, um die es sich hier handelt, sind folgende.
Bei dem durch die form thana charakterisierten schreiberfinden
sich folgende bolegstellen für den acc. sing niasc. vom bestimmten
artikel:
95, 103, 104, 106, 107, 215, 228, 265, 270, 307 then, 309, 363.
514, 554, 602, 605, 635, 637, 642, 655, 684, 712 than, Ibl, 762,
790, 890, 896, 916, 958, 990 thane, 1013, 1023 thane, 1050, 1080,
1095, 1095, 1096 theu, 1180, 1186, 1190, 1344, 1268, 1270, 1279,
1282, 1356 thane, 1384, 1416, 1421, 1469, 1484, 1488, 1497, 1581,
1585, 1627, 1693, 1706, 1786, 1791.
In dem textabschnitte, in welchem sich uns ein neuer Schreiber
durch den gebrauch der foi-m thcne verrät, kommt der acc. sing. masc.
des artikels an nachstehenden stellen vor:
1859, 1863 thana, 1864 thana, 1868, 1871, 1888 thana, 1899,
1005, 1927, 1931, 1979, 1980, 2014, 2158 thana, 2290, 2308, 2313,
2314, 2319, 2362, 2105, 2410, 2444, 2504, 2511, 2611, 2615, 2671,
2682, 2688, 2692, 2703, 2704, 2718, 2733, 2737, 2772, 2780, 2788
then, 2854, 2906, 2921, 2922, 2942, 2944, 2946, 2947, 2986, 3026,
3110, 3138, 3200, 3201, 3210, 3226, 3237, 3303, 3337, 3348, 3357,
3359, 3492, 3500, 3617, 3675, 3685, 3711, 3733, 3805, 3907, 3933,
4080, 4081, 4099, 4130, 4272, 4274, 4442, 4482, 4522, 4555, 4623,
4764, 4775, 4787, 4809, 4814, 4857, 4874, 4886, 4914, 4923.
Und nunmehr folgt bis zum ende der hdschr. ein dritter Schrei-
ber, welcher für die in rede stehende function die dialektform [thenaj
gebraucht. Die einschläglichen stellen sind folgende:
4926, 4946 thenc, 4949 thene, 4954 ihene, 4963, 4989, 5071,
5074, 5133, 5162, 5238 thane, 5260, 5266.
Man sieht, dass ich schon in der allerersten theuc-iorm^ welche
auftaucht (v. 1859), einen beweis von der tätigkeit des ^//ewe- Schreibers
sehe, obschon gleich darauf noch zwei formen vom typus des ersten
Schreibers („thana", v. 1863 und v. 1864) folgen. Aber so verkehrt
es wäre, anzunehmen, das dem thaua-schreiber, unmittelbar bevor er
ZUR VORGESCHICHTE DES MÜNCHENER HELIANDTEXTES 435
von seiner tätigkeit als copist abgerufen wurde, zum ersten male eine
vorher nie gebrauchte form in die feder gelaufen sein sollte, die zufäl-
lig mit dem dialekte seines nachfolgers in der arbeit der codex -ab-
schrift übereinstimmte, so natürlich erscheint die Vorstellung, dass
der thene -schreiher zunächst zwischen den beiden prinzipien a) fort-
setzung des dialektes seines Vorgängers b) diu'chführung seines eigenen,
schwankte, dann aber mit entschlossenheit sich für das letztere ent-
schied.
Ähnlich denke ich mir Situation und verfahren des [tlienaj- Schrei-
bers, der schon v. 4926 das ihm mundgerechte [thena] gebraucht, dann
aber noch dreimal (v. 4946, 4949 und 4954) sich zwang antut, um
die dialektform seines Vorgängers fortzusetzen, bevor er — von v. 4963
ab — sich entschliesst, grundsätzlich seine eigene dialektform zur
geltung zu bringen.
Unter diesem gesichtspunkte ist es auch durchaus nicht unwahr-
scheinlich, dass schon mehrere derjenigen th an a- formen, welche der
ersten the?ie-iorm. unmittelbar voraufgehen, dem ^/^e^ze- Schreiber ange-
hören, und dass ebenso die letzten thene-formen unter der bemühung
des [thena] -Schreibers entstanden sind, der vorerst darauf ausgieng,
das sprachliche muster seines Vorgängers in voller treue nachzuahmen.
Wenn ich darum oben die beteiligung der drei verschiedenen
Schreiber an der anfertigung der vorläge oder einer der vorlagen des
Monacensis so angesetzt habe:
th an a- Schreiber v. 85 — 1791/1858,
//jewe- Schreiber v. 1859 — 4923/25,
[thena] -Schreiber v. 4926 — 5275 (schluss der hdschr.),
so habe ich damit nur sagen wollen, dass allerdings meines erachtens
der /^f«e- Schreiber bei v. 1859 und der [thena] -Schreiber bei v. 4926
unbedingt schon am copiertisch gesessen haben müssen, und dass denk-
barerweise der th an a- Schreiber seine arbeit bis an irgend eine stelle
zwischen den versen 1791/1858, sowie der ^/^e«e- Schreiber die seiuige
bis zu irgendwelchem punkte der verse 4923/25 fortgeführt haben kann.
"Wahrscheinlich aber ist vielmehr, dass sowol der fhe?ie -scliveiher wie
der [thena] -Schreiber schon ein hundert oder mehr verse vor der oben
bezeichneten äussersten grenze mit ihrer arbeit angefangen haben, zu-
nächst dem muster des Vorgängers sorgsam nachgehend.
Ich nenne nun noch die stellen, wo der ta- stamm nicht als artikel,
sondern als pronomen, personale oder demonstrativum, erscheint.
Da beide functionen nirgends im Heliandtexte zu einer differenzierung
der zu gründe liegenden form gefüln't haben, so weist auch der acc.
28*
436 KLINGHARDT, ZUR VORGESCHICHTE DES MÜNCHEXER HELIANDTEXTES
sing, raasc. des pronomens die jedem schi-eiber für den nämlichen casus
des artikels eigene form auf.
Der textabschnitt des thana-screibers enthält nur einen fall, wo
der ta-stamm als pronomeu auftritt, nämlich v. 1708, und zwar hat
dasselbe dort die reguläre form thana.
Im anfeile des thene -schveihers^ wie ich denselben oben bestimmt
habe, finden wir 7 solcher fälle. Von ihnen bieten 6 die charakte-
ristische form thene: 1870, 1977, 3203, 3923, 4821, 4912; und die
siebente ist gegenständ einer korrektur gewesen. In v. 2668 hat näm-
lich ursprünglich „//?«»-c" gestanden, eine form, die im anteil des
thana-schreibers 3mal und in dem des [thena]- Schreibers Imal, beim
thene -sehieiher aber sonst nirgends vorkommt. Aus diesem ^^tlume^'
ist dann durch korrektur „/Ä^e/ze" gemacht worden.
In dem erhaltenen bruchstück des' vom [thena] -Schreiber ange-
fertigten textteiles findet sich überhaupt kein beleg zu unserer form als
pronomen.
Zähle ich nun artikel- und prunominalformen unterschiedslos zu-
sammen, so ergil)t sich, dass sich die im ganzen Münchener Heliand-
texte vorkommenden fälle vom acc. sing. masc. des ta-stammes auf die
drei verschiedenen Schreiber verteilen wie folgt:
thana-schreiber: 55 thana, 3 thane, 2 then, 1 than.
^//ewe- Schreiber: 93 tliene, 4 thana, 1 then, 1 thoene.
[thena]-schreiber: 9 [thena], 3 thene, 1 thane.
Ich meine alles im vorliegenden falle interessierende gesagt zu
haben.
Nun wird sich jedem leser dieser Zeilen die frage nahe legen:
sollten nicht die drei dialektverschiedenen Schreiber der Monacensis-
vorlage ihre sprachliche eigenart auch noch in anderen dingen, ausser
dem acc. sing. masc. vom ta- stamme, verraten? Die beantwortung
derselben wird gleiches interesse erwecken, ob sie positiv oder negativ
ausfallen mag. Leider hindern mich persönlich näher liegende berufs-
aufgaben, dem vorliegenden gegenstände in dieser richtung noch wei-
ter nachzugehen.
KEKDSBÜRO (uOLSTEIn). H. KLDCGHAEDT.
SPRENGER, ZU MAI UND bSaFLOR 437
ZU MAI UND BEAPLÖE.
Den text der durch Franz Pfeiffer besorgten ersten ausgäbe von
Mai und Beaflor (Leipzig, Göschen, 1848) hat der herausgeber selbst
für der besserung bedürftig erklärt. AVas ich mir im laufe der Jahre
bei widerholter lesung der schönen erzählung zu einzelnen stellen
ans-emerkt habe, stelle ich im folgenden zusammen. Da es mir an
zeit und gelegenheit fehlte, die in den letzten jähren über das gedieht
erschienenen arbeiten vollständig zu vergleichen, so hat auf veranlas-
sung der redaction dieser Zeitschrift herr dr. F. Schultz in Kiel, [jetzt
in Husum], der sich selbst eingehend mit Mai und Beaflor beschäftigt
und beide handschriften neu verglichen hat, meinen aufsatz diu'ch
eine reihe von bemerkungen und Zusätzen ergänzt, für die ich ihm
meinen besten dank sage.
10, 17 ist lind nicht, wie der herausgeber meint, zu streichen.
19, 5. ob dir herzenleit geschiht,
daSf las, ht dir lange niht.
dhies libes icis oiich niht xe geil,
so volget dir scßldc unde heil.
Statt libes verlangt der Zusammenhang als gegensatz zu herxcnlcit: lie-
bes; vgl. Konr. v. Fussesbrunnen, Kindheit Jesu, herausg. von Ko-
chendörffer 1623 fgg.: ouch ist uns dicke geseit, ez, si ein grosse scelec-
heit, sicer sine fröudc und sin Jdage^i in (lies: xe) rehter müz,e künne
tragen, si sines liebes niht xe rrö und klage sin leit also , daz, er stn
niht >ncre a)^
21, 11. da wolde er xuo mischen,
ob er si mühte ernüschen
oder an iht gerähen.
Die Vermutung des lierausgebers : er^ xuo mischen ist mir unverständ-
lich. Die lesart von B sich xuo mischen gibt allenfalls einen sinn
(sich darein mengen?), doch vermute icli, dass misclien aus wischoi
entstanden ist; vgl. über dieses wort in der bedeutung „sich schnell
wohin begeben" ausser Lexer III, 938 Schmeller^ II, 1041. b)
25, 7. ich ivilz, ligende hocrcn. Die lesart von A: icils ist nicht
zu bezweifeln, da lineroi auch den genetiv regiert, c)
27, 4 hat die hdschr. du will Iccht umbcvüeren n/ich. Der her-
ausg. vermutet cht für lecht:, es ist aber Ifht „möglicherweise, viel-
leicht" zu lesen, d)
1) Die buclistaben a) b) c) fgg. verweisen auf deu zweiten teil des aufsatzes
von Schultz.
438 SPRENGER
28, 10 lies: sin (ihres vaters) irre (verirrimg) si nf irürcn treip.o)
28, 28 lese und intcrpimgiere ich:
e^ is hez,z,cr, das, ich eine not
lide dann ivir beide
mit immer iverndem leide
müestcn doch entsneut stn,
ich lind der leider vater min.
entsneut setze ich statt des hdschrl. entseivnt. Über ensnömven, ent-
snimven „beschimpfen" s. Mhd. wb. II, 2, 450b; Lexer I, 567 und
589. "Weder das in den text gesetzte entsinnet Yollmers noch die in
den anmerkungen mitgeteilten Vermutungen {entsiienet, ensamcnt) ent-
sprechen dem zusammenhange.
37, 23 lese ich: nü ivele swelhes, dir lieher st f)
41, 8 ist mit B zu lesen:
da der gater ^esamene gät,
das, sin der nayel solde,
das, icas ein Intchel von gokle.
Vgl. 41, 25 fg. daz, diu lasset sohlen sin, das, ivaren xicene rubin.
42, 38 US, heiser stimme si schre.. Es ist kein grund das in bei-
den hdschr. überlieferte heis,s,er -= „stark, heftig, inbrünstig" zu ändern;
vgl. heis,e icortc, lieiSjiu rede.
46, 18 ist mit den hdschr. zu lesen: der jäiner die vreude in
durchdranc. Durchdringen ist = durchbrechen; vgl. 13, 37 der jämer
ir durch ir vreude brach, 24 , 18 der xorn im durch die lugende
brach, g)
52, 17. das, lernt ist veste unde guot,
vor aller vreise wol bchuot.
an. einer eingeht es, stät:
da^ Hier cdumb dar umbe gät.
Der herausgeber vermutet, dass v. 19 ursprünglich gelautet habe: ican
es, einxehten stdt. Es genügt aber statt einteilt eingeht zu lesen, da
bei Schmeller- I, 89 (vgl. auch Lexer I, 532) auch ein subst. die Ain-
xecht = einöde verzeichnet wird. Das wort hat hier die bedeutung
einer ganz abgesondert liegenden örtliehkeit, wie ja auch Ainoed noch
jetzt in Tirol und Oberbayern als bezeichnuug eines einsam und ganz
abgesondert liegenden bauernhofs vorkommt.
53, 7. genuoc Hute wären da:
die liefen an die reise sä
und nänien des schiffelines war.
zu MAI UND BEAFLÖR 439
ait die reise loufen erklärt Pfeiffer mit bcriifiing auf Schmeller 3, 125 u.
126 durcli „zu den Wcaffen greifen, sich in Verteidigungsstand setzen."
Allein diese erklärung entspricht dem zusammenhange nicht. Ich
schreibe :
die liefen an die rise sä.
rise (vgl. Mhd. wb. I, 726; Lexer II, 458) bezeichnet eine rinne, auf
auf der man gefälltes holz herabrollen lässt. Nach Ulrichs von Lich-
tenstein Frauondienst 365, 31 ein stechel rise xetal ich lief yein einem
ivaz,s,cr, daz, icas tief und 366, 9 nach mir die rise er lief ze tal wur-
den sie auch als fussweg benutzt. Der Schreiber von B, der sich den aus-
druck nicht zu deuten wusste, schrieb — nach Schultz — zuo dem icasser.
79, 7. yenäde, vrowe. nu nemct war:
ja huti ich Up und leben gar
in iioer genäde sns ergeben,
das, ich wil iuiver eine leben
immer al die teile ich lebe,
eine in v. 10 ist ein deutliches beispiel für die von Haupt zu Engelh.
2107 angenommene bedeutung = niiiican. Entsprechend hat B: und
icill wann cwr aine leben.
87, 36. Das in den text aufgenommene Jainnent entspricht der
spräche des dichters nicht, da diese form erst seit dem 14. Jahrhun-
dert (s. Weinhold, Mhd. gr. § 396) erscheint. A hat richtig chunnen.h)
111, 20. manec riter da gcrle
als hnngerige^ vedcrspil.
Der herausgeöer vermutet: du strttes gerte; eine änderung ist aber
nicht geboten, da gern hier die begierde des Jagdfalken nach beute
(s. Lexer I, 885) bezeichnet. Ygl. auch girvalke!
118, 39 fgg. sind in Pfeiffers ausgäbe folgendermassen gedruckt:
renncere si vür sanden:
die solden in enblanden.
daz man zeck heiz,eten,
da man die vint mit reibet.
In der anmerkung v\'ird enblanden in erblanden verbessert. Allein
auch dies trifft den sinn nicht. Ich interpungiere :
renncere si vür sanden,
die solden in enblanden
dax man zechen heizet,
da man die vint mit reibet.
440 SPEKNGER
D. h.: Sie sandten reitende boten voraus, die sollten sich das geplän-
kel augelegen sein lassen, womit man die feinde reizt. Vgl. si lie^n
in strit enblanden „sie Hessen sich den streit angelegen sein, kämpf-
ten mit aller macht", Rabensl. 28b.
122, 29. er ist ob uns allen ein her. Es ist oh zu streichen.
Die Schreiber haben die- redensart einem ein her sin nicht verstanden
und her als abgekürzte form von herre gefasst.
130, 12 lese und interpungiere ich:
er sprach: „alles, das, ich mac
nach eren geiverbeti
— dar U7nbe und muoz, ich sterben —
durch iuch und durch die vrouwen min,
des tuon ich ivillecUchen schin."
dar umbe und muoz, ich. sterben „und wenn ich dabei den tod erlei-
den muss". i)
138, 31. dm vrouwc vil untriuwe pflac.
vil lüines si sich gein im bewac
lind machte in trunken aber ak e.
V. 32 kann so nicht richtig sein. Die handschriften, die auch ivcinens
statt lüines haben, sind offenbar entstellt; doch hat A richtig wach
statt bewac. Ich lese:
vil ivines st im icac
„sie teilte ihm viel wein zu". Vgl. Mhd. wb. III, 630. k)
139, 8 liest B unzweifelhaft richtig:
und IV i 2,2, et, ob ir das, lät,
ich tcete iu wip unde Idnt.
Für tvisset hat A uart, was vun dem herausgeber, dem mhd. spracli-
gebrauch nicht entsprechend in u'artet geändert wird. 1)
150, 32 lese ich: bewart niwene dar an mich „nehmt dabei auf
mich durchaus keine rücksicht"; niwene = nild ne; B hat dafür nur.
172, 16. du urkiiische der valande.
Schon im Mhd. wb. I, 823 wird mit recht bemerkt, dass urkiusche
(die hdss. haben urchouche) „schwerlich richtig" sei. Auch die Vermu-
tung urkust in den anmerkungen trifft das richtige nicht. Ich vermute:
unkiusche „unreine l)egierde", personif. im AVälschen gast 9914. Vgl
172, 10 du bist des Übeln tievels brilt.
174, 32 interpungiere ich:
ein guot epgtaphium
der bischolf machte über daz, grap.
dar üf man schreib (ergänze daz,), damit er gap
zu MAI UND B^AI'LÖR 441
urldlnde, umbe tviu si ivas
erslagen, daz, 7nan da^ las.
176, 19 lies: Gehorsam ivas diu (st. dincr) mcisterin. in) Vgl.
V. 13 Zuht was diu inehoginjie und 15 Triice diu kamerceriiine ivas.
177, 6 ist mit A zu lesen:
so pflac diner eren phat
Biemuot.
Der reim jjhat : tat kann bei unserem dichter nicht auffallen; vgl.
229, 39 sidt : eren phat.
Nach 178, 7 setze ich einen punkt und lese dann:
ir herxen si nie verhanJiie,
daz, ez, ie iviirde zivivelhaft
gein dir.
Das ausgelassene si findet sich in beiden hdss.
181, 22. ivir sehen dort ein schiffet stau,
daz, ist dem dinen geliche,
das, ir diu tugentriche
xuo ir lueten. machen hat.
dem dincu kann, obgleich in A überliefert, nicht riciitig sein. B hat
dafür ieucm. Es wird urspi'ünglich eiuem oder enem gehiutct haben.
184, 13 fgg. lese ich:
si gieugen hin. Beuiguä truoc
daz, Jiint. daz, tcart geniioc
geküsset gehaltet unde getrüt.
Vgl. die lesarten. n)
184, 22. si gieugen an einer stille
in eine kemenäten,
da ez, ivas hin geraten.
V. 24 gibt keinen sinn. Ich vermute: als ez, in was geraten „wie sie
dazu aufgefordert waren" (vgl. sachlich 183, 35 fgg.). Über die hier
vorliegende bedeutung von rdtcu vgl. K. v. Fussesbrunnen, Kindh. Jesu
1888 71JI truoc diu Itüsfrouire dar, als ex ir was gerdteu, obex unde
braten, o)
187, 9 ist mit den hdss. zu lesen:
Daz, wunder ich besunder
viir maneger hande ivunder.
d. h.: „Dies bewundere ich mehr als manche wunderbare begebenheit "
189, 26. niweu ist unzweifelhaft = uiun „neun" und die Vermu-
tung von niuweni golde nicht st.dthaft, weil eine Unterscheidung von
altem und neuem golde überhaupt nicht gemacht wird.
442 SPRENGER, ZU WAI UND BEAFLOR
192, 4. er ist vor schänden ein getwerc. A hat von schände;
zu lesen ist aber: er ist der schänden ein getwerc. Vgl. er ist des
geloubiti ein gettrerc Martina 221, 57: des jwises ein rise niht ein
Uverc MS. H. 3, 170a.
204, 24. si sprächen alle: „ivir müez,en
Itden den iven, den wir htm
an unserr vroiacen getan . . .
Der sinn der stelle ist: „Wir müssen das unrecht büssen, das wir
unsoi'er frau getan haben." ircn (= iveivcn) kann nicht richtig sein.
B hat: dg nidat; es wird also den mein zu lesen sein. Auch liden
in der bedcutung „büssen" ist nihd. nicht möglich; auf das richtige
führt aber wider um die lesart von B Dann, wofür schon der heraus-
geber döun vermutete. Es ist zu lesen:
si sprächen alle: ,^wir müe^en
döuiven den mein, den uir hän
an unserr vroinven getan.
207, 6. ki-filgeslaht „pflanzenart", ein sonst nicht zu belegendes
Substantiv ist bis auf weiteres aus dem Wörterbuch zu streichen; denn
geslaht ist adj. = edel, wie es auch B (nach Schultz hraiitter stacht) auf-
fasst. Ygl. ein kriiitelin geslaht im Wälschen gast 13, 124. p)
209, 18. Ich sehe keinen grund, das überlieferte )iiht vernihten
in iht ent)ii]/te)i zu ändern, q)
211, 17 fgg. ir enkoufet hie niht ninlje ein ei:
wcere ein Berntcre enx2vei
geteilt, dar umhe koufet ir niht.
Was bedeutet ein Berncire? Der herausgeber hat uns keinerlei andeu-
tung darüber gegeben, aber fast scheint es, als ob er dabei an den
sagenberühmton Dietrich von Bern gedacht hat. Auch in den mittel-
hochdeutschen Wörterbüchern ist auf die stelle keine rücksicht genom-
men, wol weil man iner Berncere als eigennamen fasste. A schreibt
iverner, und zu lesen ist berncr, d. h. Berner pfennig, denarius vero-
nensis; vgl. darüber Lexer I, 196 und Schmeller-Fr. I, 279, wo aus-
führlich darüber gehandelt ist. Der Berner ist eine sehr geringwertige
münze und nit ain herner ist bildliche Umschreibung für „nicht das
geringste" (s. Schmeller-). Der sinn ist also: „Ihr kauft hier auch
selbst nicht für einen halben pfennig. r)
216, 16. min tohter itver xe mäz,en gert
Dass xe ma^$en „zum tischgenossen" zu lesen ist, bemerkte schon
M. Haupt z. Erec2 1969 (s. 359 oben). Die stelle fehlt im register.
NORTHEIM, IM AUGUST 1894. R. SPEENGER.
SCHULTZ, ZU MAI UND BEAFLOR 443
Über Mai und Beaflor finden sich verstreute bemerkungen bei
W. Grimm, „Zur geschiclite des reims", sowie in Haupts ausgäbe des
„Erec". Neuerdings sind erschienen:
0. Wächter, Untersuchungen über das gedieht „Mai und Bea-
flor" (Jenaer diss.) Erfurt 1889. (Vgl. dazu die ausführliche besprechung
von Steinmeyer in Anz. f. deutsch, altert. XVI, 292 fgg.)
F. Schultz, Die Überlieferung der mhd. dichtung „Mai und Bea-
flor" (Kieler cüss.). Leipzig 1890. (Vgl. dazu XXIII, 491 fg. und
Anz. f. d. a. XVII, 74 fg.).
Meine arbeit beruht auf einer neuen collation der liss. und bringt
ausser manchen kleineren ergänzungen und berichtigungon zu dem
kritischen apparate und ausser textkritischen vorschlagen auch mehrere
ganze verse bei, von denen in der ausgäbe jede spur fehlt. Es seien
diese verse im folgenden für Aveitere kreise mitgeteilt.
92, 11 fgg. hat B:
11. Syhen man: icmin er genas
12. Mit seinem pet er das erlasx
12 a. Ben tiefet er von im vertraib
12 b. Das er ivol gesund betaih.
13. Also Süllen wir i^Htcn got
14. Das des cbeln tief eis spot usw.
vgl. dazu Schultz, a. a. o. s. 19 fg.;
hinter 109, 26 finden sich in AB:
26a. scmd er im, diu uris^ ivol gesniten,
26 b. gröX' 7'ichheit- niht daran uns vermiten,
vgl. dazu Schultz, a. a. o. s. 37 fg.;
hinter 218, 38 ebenfalls in AB:
38a. Si sprach: „herre, nu exxet gern''.
38b. Er sprach: „ich ivil iuch^ geivern",
vgl. dazu Schultz, a. a. o. s. 39; /
hinter 234, 28 nur in B (A bricht bereits mit 224, 18 ab!):
28 a. vnd, lieff an Röboälen
28b. vnd kust in xuo Tausent malen
28c. an derselben stuml
28 d. an irang an äugen vnd an mund,
vgl. dazu Schultz, a. a. o. s. 22 fg.;
1) ivas fehlt B.
2) riüerliait daran niclii icart vermiten, B.
3) ew sein geivern B.
444 SCHULTZ
hinter 236, 14 ebenfalls nur in B (s. oben!):
14a. nach bisdiofen, nach Cardinäln.
14 b. Er wolt nicht entwäln,
vgl. dazu Schultz, a. a. o. s. 23, und
hinter 242, 5 gleichfalls nur in B (s. oben!):
5 a. tvir Süllen vns gehaben tvol,
vgl. Schultz, a. a. o. s. 23 fg.
Zur fabel der dichtung vgl. ausser
Merzdorf, „Des Bühelers königstochter von Frankreich", Olden-
burg 1867 und
Suchier, „Über die sage von Offa und prydo" PBB. IV, 500 fgg. noch
H. Hagen, „Der roman vom könig Apollonius von Tyrus" in
Virchows und Holtzendorffs Sammlung gemeinverständlicher wissen-
schaftlicher vortrage, ser. XIII, heft 303, ferner
Konr. Hofmann, Amis et „Amiles und Jourdains de Blaivies",
2. autl. Erlangen 1882 s. XXXIII fgg. und
E. Rohde, „Der griechische roman und seine Vorläufer", Leipzig
1876.
a) Zu 19, 5. Bestätigt wird Sprengers Vermutung durch die aus-
drückliche gegenüberstellung von liep und leit in 18, 40. Es werden
die einzelnen elemente dieser gegenüberstellung vorher 18, 34 fgg. nach
der allgemeinen Vorschrift 18, 32 fg. gleichsam unbewusst und zufällig
gefunden, hier nach der präcisierten fassung 18, 39 fg. und nochma-
liger nachdrücklicher mahnung 19, 1 — 3 gleichsam bewusst und geflis-
sentlich herausgekehrt, um sie schliesslich in dem gemeinsamen lohn
der saelde unde heil 19, 8 widerum zusammenzufassen. Diese breite
ausdrucksweise eignet durchaus dem dichter und seiner volkstümlichen
lehrhaften darstell ungs^^oise; vgl. Wächter s. 20 fgg. Zu dem ausdruck
vgl. des roubes geil und ähnliche Wendungen mit geil.
b) Zu 21, 11. Über da wolde er xno viisclien und erx- xuo mi-
schen vgl. Mild. wb. II, a, 287b. Die änderung von nnschen in tvischen
würde übrigens einen rührenden reim (ivischen : erivischen) ergeben,
der freilich von dem dichter nicht ängstlich gemieden worden ist (vgl
Wächter s. 10), aber gegen die gemeinsame lesart beider hss. doch
schwerlich hergestellt werden darf. Es empfiehlt sich wol, mit B sich
ziio mischen in dem oben vermuteten sinne in den text aufzunehmen.
c) Zu 25, 7. Es entspricht weder das in dem texte stehende
ich ivilz ligende liaren noch die oben vertretene lesart der hs. A ich
wils ligende Jicereii der Situation, sondern allein die schon von mir in
meiner dissertation s. 60 vertretene lesart der hs. B ich ivil dich ligende
zu MAI UND BEAFLUR
445
hceren. Denn es kommt dem sprechenden doch nicht darauf an, dass
er das, was die angeredete ihm zu sagen wünscht, im liegen hört,
sondern doch darauf, dass sie, die nach 25, 1 (vgl. auch 25, 12 fg.)
nur erst einmal sich erheben zu können begehrt, liegen bleibt und
was immer sie zu sagen wünscht, in dieser läge, ohne sich zu erhe-
ben, mitteilt; das ligencle gehört also nicht sowol zu ihm, dem vater,
der hören soll, als vielmehr zu Beaflor, die gehört worden will und
die er hören soll.
d) Zu 27, 4. Ich schlug bereits in meiner dissortation s. GO vor:
du wilt Mite umbevüeren mich.
e) Zu 28, 10. Ich vermute, die Überlieferung — es handelt sich
hier zudem infolge der durch das abhandenkommen eines doppelblattes
in A hier entstandenen lücke (vgl. meine dissertation s. 7) nur um die
der hs. B, über deren beschafFenheit und Zuverlässigkeit ich in meiner
dissertation s. 5 — 48 und s. 56 — 60 ausführlich gehandelt habe — ist
hier verderbt und das überlieferte irr aus ursprünglichem ir herre ent-
standen. Es wäre Jfcrre dann hier wie auch Küdrün 611, 3 (vgl. 610, 2)
zur bezeichnung des vaters von selten der kinder (s. D. Wb. lY, 2, 1127)
gebraucht und mit anderer Interpunktion als in der ausgäbe sodann
zu lesen: ir herre si üf trüren treip,
daz leit smerxte si ie nie.
Es dürfte auch inhaltlich und stilistisch sich empfehlen, so zu lesen.
Denn einerseits käme so, nachdem Beaflor bis 28, 9 nur an ihre glück-
liche befreiung gedacht hat, jetzt 28, 10 fgg. der doch nur natürliche
gedanke zum ausdruck, dass bei der erinnerung, ihr vater sei es, der
sie zu vergewaltigen versucht habe, sie sich nicht nur sehr betrüben,
sondern je länger je mehr sich betiliben musste. Anderseits wäre aber
auch so in echt volkstümlicher ausdrucks weise zwischen den versen 10
und 11 eine Verbindung hergestellt, bei der daz leit in 11 den gan-
zen letzten satz in 10 aufnehmen und nicht mehr isoliert dastehen
würde.
f) Zu 37, 23. Die änderungen des Au ivele in \iü welc empfiehlt
sich auch mit rücksicht auf das iiü nim die tval 37, 14, das hier wider
aufgenommen wird.
g) Zu 46, 18. Bei dem ausgedehnten gebrauch, den der dichter
nach Wächter (s. 15 fg.) von der apokope eines tonlosen e im auslaut
vor konsonanten macht, lässt sich gewiss auch die durch beide hss.
überlieferte und überdies mit den oben angeführten parallelen — 13, 37
ist übrigens auch ebenso wie in unserem verse 46, 18 und in 24,
18 für das zweite ir mit ß der artikel die zu lesen — auch in
446 SCHULTZ
der Voranstellung des pronominalen dativs übereinstimmende Stellung
der iämer in die vreude durchdranc
beibehalten; die apokope wird hier sogar vielleicht noch durch das zu-
sammentreffen gleicher konsonanten (vgl. z. b. 39, 11. 195, 38. 216, 1
und bei homorganen konsonanten 24, 6 und 179, 40) gemildert oder
begünstigt.
h) Zu 87, 36. Ich habe in meiner dissertation s. 49 — 55 auf
grund einer statistischen beobachtung der reime die grundsätze für die
orthographische darstellung der dichtung zusammengestellt und s. 56
auch auf das der 3. plur. praes. der praeteritopraesentia in der ausgäbe
ohne grund angehängte t in kunnent 87, 36. 38, 4. 209, 14 und in
mufjent : tugent 155, 23. 24 und andere versehen im texte der aus-
gäbe aufmerksam gemacht.
i) Zu 130, 12 fg. Der gedanke ist gefällig; aber eine solche Stel-
lung des sätzeverknüpfenden unde ist mir doch sehr bedenklich.
k) Zu 138, 31 fg. Den überlieferten lesarten entspricht^ von der
augenfälligen entstellung des sicherlich ursprünglichen ivines abgesehen,
am meisten vü wines si sich gegen im ivac.
Nach Mhd. wb. III, 628, b wird sich ivegen mit folgender präposition
oft parallel mit sich vUxen in der bedeutung „sich bestreben" gebraucht.
Vil ivtnes si sich gegen im wac würde demnach bedeuten : sie bestrebte
sich gegenüber dem boten in bezug auf viel wein, und der folgende
vers tind 7nachie in tninlcen aber als c würde dann dieses bestreben
durch die angegebene folge näher bestimmen. Es dürfte auch diese
synthetische form des ausdrucks , bei der ein neuer gedanke den ersten
erweitert oder ergänzt als grund oder folge oder auch als bild oder
Sache, ebenso wie die synonyme form, bei der derselbe gedanke mit
anderen werten widerholt wird, und wie die antithetische, bei der ein
gedanke dureh seinen gegensatz genauer bestimmt und eindringlicher
gemacht wird, der volkstümlichen darstellungsweise des dichters eignen.
Wächter kommt s. 34 fgg. freilich nur auf die synonyme und auf die
antithetische form des ausdrucks zu sprechen, scheint aber auf diese
synthetische form nur nicht eigens geachtet zu haben: vgl. z. b. noch
98, 39 fg., eine stelle, die auch Wächter anführt i.
1) Zu 139, 8 fg. Unzweifelhaft richtig scheint mir hier das von
dem herausgeber unter Zugrundelegung von A in den text gesetzte
1) Es werden in ähnlicher weise bei dem parallelismus der hebräischen i^oesie
dieselben drei formen, die synonyme, die antithetische und die synthetische form
des ausdnicks unterschieden.
zu MAI UND BKAFLÖR 447
wartet zu sein; 2vizxet, das B hat, ist unzweifelhaft nur ein verflach-
ter ausdruck für ivartet.
m) Zu 176, 19. Ich schlug dtn meisterin in meiner dissertation
s. 56 bereits vor.
n) Zu 184, 13 fgg. Bei Sprengers änderung sind doch gerade
„die lesarten" sehr wenig berücksichtigt worden. Nach ihnen werden
wir vielmehr, wie auch in den anmerkungeu nachgetragen worden ist,
184, 14 fg. mit AB lesen: _
dax kint, dax irart geküsset gemioc,
gehalset unde getrüt.
Es lässt sich bei der verskunst unseres dichters (vgl. Wächter
s. 11 fgg.) und dem nach Wächter (s. 16 fg.) recht ausgedehnten gebrauch
der Synkope doch metrisch auch nichts gegen die verse einwenden und
dürften die verse zudem durch die oben zu 138, 31 fgg. erwähnte
synthetische form des ausdrucks sich sogar noch stilistisch empfehlen,
o) Zu 184, 22 fgg. Dem Zusammenhang und der ganzen Situation
würde wol am meisten entsprechen, 184, 23 hinter kcmenuten den
satz mit einem punkt zu schliessen und dann zu lesen:
dö ex, was hin geraten,
si spartefi umbe und umhe %uo.
Es wäre alsdann zu übersetzen: „Als man (da) hin gekommen
war (vgl. 170, 2), verschlossen sie ringsum das haus." Mir ist nur
der Wechsel der grammatischen Subjekte bei — freilich nicht ganz:
e% = Roböäl, Benignä, Beaflur und dax Jdnt;
sie = Röbödl und Benignä —
gleichen logischen Subjekten nicht unbedenklich.
p) Zu 207, 6. Die Vermutung, dass geslaht als adjektivuni zu
fassen ist, bestätigt nicht nur die lesart krautter slacht in B, sondern
auch die hs. A; sie hat deutlich chrout geslaht in zwei Wörtern ge-
schrieben.
q) Zu 209, 18. Die angäbe in den anmerkungen der ausgäbe
ist unrichtig. Denn es ist
iht cntnihten
tatsächlich von A überliefert und
niht vernichten
nur von B; vgl. meine dissertation s. 59.
KIEL 1895. FERDINAND SCHULTZ.
448 voaT
AKIGOS BLUMEN DEE TUGEND/
Yfis
(^)Hie sich an bebet das piicbe der Qucbt, 1er/ vnd an-
weisung, genant die plumen der tugent geuade vnd ^ücli-
ticbeyt.
Ich babe getan als der in dem cbiilen Meyen In der scbönen vnd
grünen praiten wissen abgeprocben batt, die edelsten vnd schönsten
plumlein / vnd darans gemacht einen scbönen vnd grossen cbran9e /
Den 9n einer geleichnus meine clainen werche vnd pücblein, das mit
nomen gebeyssen ist die plumen der tugent, genade vnd (^ücbticbeit.
vnd alle die meine wercbe secben, boren oder lessen, ob das were,
das icb dar Inno indert 9U straffen were, Das Ich williglicben von
einem Iglichen auf nyme, sein sti^affen (,'u mir in sein gewissen se99en,
Im der eren vergünnen vn mir den schaden.
Von Erste von der liebe vnd vrsache aller liebe nach
dem als vns vnsre heylige lerrer schreyben.
VNs schreybet der grosse lerrer thomas, Das [lust, liebe] ^ vnd^
freüntschaft Ein ding ist. dan^ er spricht, Die erste vrsache einer
iglichen liebe vnd freüntschaft das sey die erchentnüs. CAuch der hey-
lig lerer sant augustin spricht, das die erchentnüs pechome von
fünferley 9eichen des leybeß. Von erste von dem gesiebte der äugen.
Das ander von dem hören der oren. Das tritte von dem gesmache
der nassen. Das virde von dem versuchn des mundes. Das fünfte mit
dem greiffen der hende (2) Auch mere von Etlichem andern teyle^
des leybes. als von den synnen der vermlsf^ die da sein in der ge-
dechnüs der vernust des leybes. Ynd von "' solcher gedechnüs vnßr
1) Der abdruck ist bis auf die auflösung der abbreviatureu für ver und et
buchstabengetreu, nur die interjiunktionen habe ich hinzugefügt, sofern sie nicht
schon die handschrift in gestalt von Schrägstrichen undpunkten bot. Diese, die ein-
zigen, spärlichen interpunktionszeichen , welche die hs. kennt, habe ich auch da bei-
behalten, wo sie unserem brauche nicht entsprechen, im übrigen bin ich der moder-
nen regel gefolgt. Zweifel, ob ein zeichen von mir oder aus der hs. stammt, ist nur
beim punkt am Schlüsse des Satzes möglich.
2) Durch einklammeruug werden werte, die am rande oder zwischen den Zei-
len der hs. nachgetragen sind, gekennzeichnet.
3) Durch cursivdruck werden auf rasur geschriebene oder durch sonstige cor-
recturen entstandene Worte gekennzeichnet.
4) dan aus wa7i corrigiert, so öfter.
5) e, darüber ein strich von schwärzerer tinte.
G) Corr. aus vernüsticheyt.
7) Corr. aus Li.
ARIGOS BLTTMEN DER TUGEND 449
vermtst bechomt^ der erste vrspriing der liebe vn freiinschaft. Doch
der mer vn gröste teyle pechomet von dem gesiebte der äugen CNacb
dem als der phylosofo^ spricbt, Das der erste wille des leybes sich
pegebe vn chome von der erchentnüs. Dar nach 9U hant das gemüte
sich verchere in lust, vnd vm sölcheß ghistes ivillen In dem hercxen
sich begehe ei?i iville vnd^ pegire, die der [mensche] durch die erchent-
nüs enphangen hatt. Die selbig pegire cbomt von einer hoffnung,
QU haben das Im dan vor gefallen vn gelibet hatte. Das ist das, do
von chomet die gröste vli hoste liehe der tiigent^ die da ist ein anfange,
gruntfest vn Schlüssel aller tugent, CAls dan der grosse lerer Aristotile
Im (!) dem decreto geschriben hatt CAuch der lerrer thomas das pewey-
set. Do er spricht, chein tugent nicht mag gesein an^ liebe [tisiv.).
S. 3. Das ander Capittel von der minne vnd liebe gott^,
die da genant ist pey den gelerten Caritas -f- c^
S. 5. Von der geporen vnd freüntlicher liebe -7- «^
S. 7. Von der triften vnd freüntlichen liebe der guten
geselschaft vnd günner -i- c>o
S. 10. Von der virden liebe vnd Irem luste -f- <^
S. 12. Von der fünften vnd natürlichen liebe -r- «^
S. 14. Wer übel vnd gute von den frauen geschriben
hatt, als dan ist Salamon, Ipocrate, Omero, Seneca -r «^
(17) Ein hystorj von der liebe. Die Amon hatte 9U einer
Jungen frauen vnd si zu Im; die was genät Ephytica/ der
chünig Dionisio ir haubte wolt ab geschlagen haben.
VOn der tugent der liebe man In den alten hystorien geschriben
vint. Das chünig Dionisio von Kagusa Einer Jungen frauen, genant
Ephytica, Ir haubte ab wolte schlagen / si diemütiglichen vor pate
den chünig, Er ir verleichen wölte genade vnd frist des lebens, da mit
si vor möchte ir hause vnd heymet versechen, dar nach (18) si willig-
lichen Iren leybe den (!) tode enphelhen wölte, darum si Im ein gut
Nella virtü d'amore si legge nelle Storie Eomane che volendo lo re Dionisio
tagliare la testa a una che avea nome Pitia (var. Sofia, Fifia, Fisoia), ella andö a
domandai'e termine otto di per andare a casa sua a ordinäre sue cose, e '1 Re rispose
per beffe che lo farebbe, s'ella desse uno per sua sicurtä che s'obbligasse a tagliare
la testa s'ella non tornasse. AUora Pitia mandö per iino che avea nome Damone
1) Corr. aus erchentnüs ist.
2) Corr. in: phylosofg.
3) Corr. aus: von solcher gedeehnils Vfi . . . (?) tcillen von dem herben (?)
chomet ein (?).
4) Auf rasur; aus tugent der liebe (?) vgl. ital. or. virtü d'amore.
5) Später corr. in on.
ZEITSCHRIFT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XXVIH. 29
450 VOGT
gewissen vnd pürgschaft thiin wolte. Der chünig der fraiien irer pete
9u willen warde vnd spräche: hat si yemant der für si verspreche pey
seinem haubte, Er ir williglichen der der (!) 9eit vnd frist vergünde.
aber das der chunig spräche mit einem halben gespötte. Zuhant die
Junge fraue schichte nach einem iren guten freunde vnd günner, der
was genant Amone, der si liebe hatte über alle dinge der weit, vnd
dem si chunt thet alle ire sache. von stund an Amon 9U dem chünig
ginge vnd sich im antwurt In sein gefancknüs vnd dar Inen sein
also lange, pis das Ephetica wider chöme; vnd ob das were, das
Ephytica nicht wider chöme, man Im sein haubt nemen vnd ab schla-
gen sölte. Die Junge fraue mit des chunges vnd ires aller liebsten
vrlab von danne schiede, qu hause chome, Ir sache gendet hatt. Amon
In der gefencknüs was; die zeit sich warde neheden, das si^ sich
wider sollte stellen vn ir haubte verlissen. Ein iglicher des Jungen
mans Amon 2 vn seiner grossen Eyfelticheit wart spotten. Aber er chei-
nen 9weyfel noch sorge nicht hatte, wan die liebe gan9e was von einem
9U dem andern, also an dem ende der 9eit, das der chünig ir verliehen
hatte vnd si versprochen, si wider chome. Vnd do der chunig das
Sache, sich des nicht verwundern mochte, (19) der grossen freuutschaft
vnd liebe der 9weyer liebe; Ynd vm des willen, das solche grosse,
rechte, getreue liebe vngescheyden plibe, er der Jungen frauen vergäbe.
vnd er nicht gelaubet hatte, das die stercke der liebe vnd freuutschaft
vermüget hat so grosse macht, das si des todes nicht geachtet hat, zu
erleschen die süssicheyt des lebens. vnd die herticheit 9wiDgen In die-
müticheyt. Den neyde vercheren in liebe vnd freuntschaft. Nach dem
als valerio Maximo spricht, das die getreuen her9en der menschen
geheuse sein, vn der grossen stercke der lieb, -f- -^
(var. Amon), il quäle l'amava sopra tutte le cose del mondo, e a lui disse il fatto.
Incontanente Damone andö al Re, e obbligossi per Pitia a tagliare la testa se ella
non tornasse; e Pitia si andö a ordinäre le sue cose; ed essendo presse al termine,
ogni persona si facea beffe di costui per la matta obligazione ch' egli avea fatta, e
egli non temea niente, tanto era la fede e lo amore della sua amica; sicctie alla fine
del termine Pitia tornö, secondo ch'ella avea promesso. Lo Ee, veggendo il perfetto
amore ch'avevano costoro insiome, si le perdonö la motte, acciocche cosi leale
amore giammai non si partisse da loro.
(Fiore di virtü Milano 1842 cap. V, s. 39 — 40. Zu den quellen der erzählung
vgl. Frati Eicerche sul Fiore di virtü, Studj di filol. rom. pubbl. da E. Monaci YI, s. 415).
S. 19. Yon dem Neyde vnd seiner pössen tugent -^ '^
S. 21. Von der frölicheit Nu Ich euch wille sagen v -^
S. 23. Von dem trauren vnd der trauricheyt -r- <^
1) wich durchstrichen. 2) war durchstrichen.
ARIGOS BLUMEN DER TUGEND 451
(26) Ein peyspil über die trauricheit vö de grosse Al-
lexäder^.
MAn list von der trauricheit In den hystorj des grossen AUexan-
der, do er tode was, sein lant herü den leichnam In einen gülden
Schrein deten vnd den zu der pegrebnüs trugen, vil grosser weisser
lerer Imnach (!) volgten, als dan gewonhet was. Der erste was ge-
nant CGiulio, der sprach^: „das ist der/ der da herre was des ganzen
ertriches von dem auf gange der sünen pis In den nydergäg. Nu er
he're ist in 9wayen schriten. Vnd lasset sich genügen." CBarbarico
spricht: „Allexander pesasse alle weit vnd ein Iglicher In forchte mit
Im vnd wider In zu reden, nun ein iglicher von Im redet an forchte,
was er wille." CPrisciano spricht: „dem Allexander chein dinge zu
swere was. vnd wider In nymant mochte, vnd er hat nicht müge
wider sten dem tode," CEgidio spricht: „o grausamer vnd herter, pit-
ter tode! wie hastu an deinem herben mügen han wider sten den. der
alle weit, über wunden hat!" CYerturio spricht: „o finsternus der synne!
0 verporgne gerechticheyt ! o verlorne treu! o 9erstörung de^ adels!
was du deine' (27) grosse"^ reichtum vnd schone lant, Seytmal deinen
edlen herren Allexander du verloren hast vnd tode ist /. der dich
vor nicht geclaget hatte, der nü wol mag wainen vnd clagen dich /
seytmal solcher gr'^sser adel, gut vnd reichtum verlorn vm Allexanders
tode willen ist -^ -^
S. 27. Yon dem fride vnd seiner aygenschaft. -^ <^
(28) Ein hystory über die tugent des fride^^ -^ cv^
VOn der tugent des frides In den alten Römischen hystorj
wir lessen von einem vn edlen (!) grossen lant hern der geheissen
was Ipolito, der einem andern herü, der genant was legisto, seinen
vater getödet hatte, vnd vm dez willen si einen ewigen krige hat-
ten / Nu etliche zeit dez chriges sich verloffen hatten. Ynd Ipolito
dez chriges nicht mere wolte vnd nicht mere seines chnechtes chnecht
sein [wolt], wan si sprachen, er an si nicht geleben möchte/ disse
wort dem hern sere zu her9en gingen vnd seinen chuechten nicht
dorste getrauen, vnd gedachte, wie er dem einen sin fünde, vnd ge-
dachte, er (29) e seinem tötlichen feinde vntertan wolt sein dan sei-
nen chnechten. Yon stunde sich auf hübe vnd alleine chome In [die]
stat, do sein feint legisto sein wesen hatte, für die purcke chome, an
1) Fiore di virtü cap. VI.
2) Corr. aus grosser.
3) Fiore di virtü cap. VII (Milauo 1842 s. 50).
29*
452 VOGT
[die] porten clopfet, zu dem portener spräche: „guter freunt, dun auf.
Ich habe mit deinem hern zu rede." Der portner pegonde zu [fragen],
wer er were. er Im antwurt vnd spräche: „Ich pin Ipolito." dez
sich der portner grosses wunder nam, wan Im wol chuut was, er sei-
nes hern tode feinde was / Er snelle zudem [hern] chome vnd spräche:
„Edler herre mein / an der porten ist euer feinde Ipolito allein an alle
wapen vnd were / vnd mit euch pegert zu reden." Legisto Im schafte
auf zu thun vnd ein zu lassen, vnd also palde Ipolito hin ein chome
vnd legisto ansichtig Avarde, er mit auf gerackten armen y waineden
äugen / In vm finge vnd mit grosser diemüticheit spräche / : „ Edeler
freunt vnd prüder mein, pis mir genedig; vergibe mir, das ich wider
dich verpracht han, oder verprenge mit mir deinen willen vnd riche^
deinen vater/ wan du wider mich nu dez wol mechtig pist, wan
Ich dir vnd deiner herschaft meines lebens .e. vergünen wille dan
meinen chnechten. Das ich dir vor got vnd der weite vergibe, was
du mit mir verpringest." Do LEgisto disse wort vernomen hatte,
als dan Ipolito gesprochen hatte, von stunde (30) er an seinen
hals warffe einen gürtel. vnd nyde auf seine chnye fiele für seinen
feyude Ipolito, zu Im spräche: „Ich dich pitte dez du an mich pege-
rest. riebe dich an mir vm der übel willen, die du vö mir enpfangen
hast"/ Also disse czwen heren mit ein ander fride machten/ vnd für-
pas leybliche prüder mit ein ander nicht hatten In liebe vn freünt-
schaft mügen verpringen vnd leben als Ipolito vnd Legisto deten.
S. 30. Nu merchet vö der pössen vntugent de:^ czorns-r-«^
S. 32. Von dem (^orn vnd In ^u meyden -f- <^
S. 34. Ein peyspil von dem Qorn In der alten .E. -i- «^
{David und ^^Diiria"'.)
S. 35. Ein Capitel von der Edelen tugent der parmher-
czicheit, als vns der heylig lerrer Sant Augustin saget -^ ^
(37) Ein hystory über die tugent der parmher9icheit. ^
YOn der tugent der parmher^icheit In den alte Römischen liysto-
rien geschriben ist, wie das ein rauber oder diebe auf dem mere ge-
fangen warde vnd von stunde gefürt warde für den grossen Allexander.
Der In fraget, warum er also ein grosser rauber auf dem mere were.
Er Im antwurt vnd spräche / „Darü (38) das du pist ein rauber de^
ertriches, darü ich mich alleine des mers pegen messe. Und darum
das ich albege allein pin In meinen (!) übel dun vnd raube, pin ich
1) i-punkt fehlt, i dem e sehr ähnlich.
2) Fiore di virtü cap. IX. (Ausg. Milano 1842 s. 57). Quellen bei Frati a. a. o.
s. 413 nr. LXVIII.
AEIGOS BLUMEN DER TUGEND 453
geheyssen ein raiiber vnd diebe. Vnd das zu dun pin ich geczwngen
von grosser armut [vn not]. Ynd du Allexander mit grossen (!) mech-
ticheit zeuchest vnd als ich von cheiner armut gezwungen pist, Darum
du pist geheyssen ein chünig, wan du nach volgest mit mechticheit
allen den, die dich fliehen (!), vnd die entwerest laut vnd leute. "Wer
aber daz [daz du] allein zugest als ich dun, zu geleicher weisse du
geheissen werest ein diebe vnd rauber als ich. Darum wisse, aller
durchleuchtigester chünige, waz ich Übels verpracht vnd getan han,
Ich das nicht getan han, sunder armut Ire wercke durch micht (!)
verpracht vnd mich zu einem diebe vn rauber gemacht hatt. Aber
du Allexander ein diebe vnd rauber pist nicht durch notte noch ar-
mut willen, sunder alleine vm der grossen pössen deines gemüte gei-
ticheit willen, wan ye reicher vnd mechtiger du pist, ye mer dein
gemüte pegern ist. Aber solt mich das gelücke einfart erfreuet haben,
so wer ich vil pesser gewessen dan du / wan ich mich mit cleymem (!)
bette lassen genügen. Ynd wer chein rauber nicht mer gewessen." Do
der chünig sache die grossen freyhet de^ maus, sich nicht (39) ver-
wundern mochte der starchen vnd freyen wort de^ armen mäne^, Ton
stunde sich pegabe In parmhercjicheit Vnd wol erchante, das er chein
übel täter nicht was dan allein durch armut willen. Darum er Im
vergäbe alle missetat vnd In pegabet mit grossem reichtum vnd machte
In zu einem Ritter vnd an seinem hoffe fürpas er der pesten Ritter
einer wa^. -^ «^ -f- <^
S. 39. Von der vnparmher9icheyt vn vntuget der her-
ticheit -i- ~
S. 39. Ein peyspil von der vnparmhergicheyt der Junck-
frauen Medea vnd der herticheyt de:^ Baualistho -^ <^ [im text
Baualistö).
S. 41. Von der Edlen vnd freyen tugent der Milticheyt-^^
S.42. Von der tugent vnd Milticheyt de^ Adelers -^ «^
S. 47. Von der pössen vntugent der geyticheit ^ «^^
(49) Ein hystorj über die vor genäten pössen vntugent
der geyticheyt^
MAn list von der pössen vntugent der geiticheit vnd von einem
der was genant Germino, der alle sein tage nicht anders getan
hatte, dan reichtü vnd gut gemacht vnd gesämet von silber vnd
golde, noch seinen geitigen willen nye erfüllet hatte, vnd sein syn,
mute vnd gedenche statlichen gedachten, wie er, [Im in] dem Ein
1) Flore di virtü cap. XII (s. 68).
454 VOGT
genügen geton möchte, vnd darü er worden was also reiche , das
sein reichtü an masse was/ Doch einest er pedencken warde seine
grosse geiticheit. Ynd das alter In über gange hat, vnd wol er chante,
zeit were gewessen, er die geiticheit pecheret hatte In milticheit. aber
das Im die pöse gewonhet vn auch sein natur nicht verliehen hat,
(50) Vnd wol erchante, er dar Ine ersterben moste / Ynd nicht wolte,
das Im seine drey süne, die er hatte, nicht nach volgten In der gei-
ticheit. Von stunde nach den allen dreyen sante, In seinen willen uü
mainüg offenware dett vn si fleissiglichen piten dett, Da:^ grosse gut
vii reichtü, das er mit grosßr müe vnd sorge vin^ seiner geiticheit
willen gewönen hatte. Das si das nemen vnd aus geben nach allem
iren lust vnd willen Vnd dar an chein sparung nicht hatten. Wan
er an seinem her9en nicht gehaben möchte, icht aus zu geben, „wan
das mir prechte pesündern smerczen in meinem gemüte vü an dem
her9en. Darum seyt gepeten vm chintlicherr (!) treue willen, wan
die geiticheit der grösten vnd pösten vntugent eine ist der weit. Vnd
ich nü die gern fliehen wölte als den pittern tode, aber das nicht
mage gesein. wan mein gedencke noch nicht müge nachgelassen, also
gar In der geiticheit si pegraben sein." CVon dissem reichen man,
genant Germino, got der almechtig ein grosses wunder Er9eyget nach
seinem tode. Do seine drey sün de:^ vaters schrein auf [deten] vnd das
gelt, golt vn Silber mit ein ander teylen weiten, si dar Line funden Ires
vaters her9e alle:^ vol plutes miten In dem schacc^e. Da^ geschache
nach (xermino tode vm seiner grossen pegire vn übriger geiticheit
willen, die er hatte an seinem tode ^u dem golde In de schrein H-
S. 51. Von der tugent der straffung. Vnd wie mä straffe
sol -^ ^
S. 52. Von der straffung über den chünig faraon H- c^ H-
S. 54. Von der pössen vnd falschen vntugent der liebe
chosung oder petrügnüs h- <^ -^ «^
(56) Ein peyspill über die vntugent des falschen lieb-
chosers^.
IN dem puch Esopo man list von der vntuget der liebchossung,
nicht das es also geschechen sey, sunder alleine zu einer geleichuus.
Vnd sprich', wie das einest ein rabe auf einem paum sasse vnd In
seynem munde hatte einen chäse / es sich füget, ein fuxe für ginge
vnd den raben mit dem chäse gesechen hatte, von stunde gedachte,
1) Sieht eher wie vtid aus.
2) Flore di virtü cap. XIV (s. 73 fg.).
ARiaOS BLTJIIEN DER TUGEND 455
wie er den raben vm den chässe petrigen vn gelaichen möchte, (^uhant
gedachte, chein pesser sin nicht möchte, gesein, dan mit süssem vnd
diemütigem liebchosen; vnd sich zu dem paume pegonde zu nachende
vn (57) den raben mit süssen werten grüssen vn mit senfter stimme
zu dem raben spräche, „für wäre schönern vogel mein tage ich nicht
gesecheu han dan dich, vnd ist, das sich dein gesange dir geleichet/
ich spriche, du der edelste vn schönste vogel aller weit pist. vnd dein
gesange ich von herczen gern hörn wölte." Do der rabe sich den fuxe
vn liebchosser So sere loben höret / dem lober 9U liebe er an hübe
frölichen zu singen, vnd mit dem gesange der chäse Im entpfyle vnder
den paum. dez der fuxe froe was, den zu Im nam vnd zu dem raben
spräche: „das gesange sey dein vnd der chäse mein"/ also der rabe
petrogen warde von dem fuxe; Qu geleiche~ weyse auch dut der lieb-
chosser, wan er Jemantt wille petrigen -^ c>o
^ -f- Prudencia -r- '^
Von der Edelen Tugent der fürsichticheyt -i- <^
(61) Ein peyspil über die tugent der fürsichticheyt eines
Römischen Cheysers^.
yOn der tugent der fürsichticheit wir lessen In den alten Römi-
schen hystorien. wie das einest ein Römischer cheyser durch einen
walt spaciren reyte, Er in dem walde fände einen phylosofo oder
grossen lerer alleine, de^ sich der cheyser wunder name vnd In pegonde
zu fragen, was doch sein geschefte also aleine In dem walde were.
über de^ chaysers frage der meister chein antwurt gäbe vn swayge.
Noch mer der cheyser Im rüffet, aber geleiche die fodern antwurtt
enphingo/ Do das der cheyser sache, er von seine rosse sasse vnd [zu]
dem phylosofo ginge Vnd In von neuem fraget seiner geschefte. der
meister Im antwurt vnd spräche: „hefe, ich lere und studire weistum."
Der cheyser zu Im Sprache: (62) „Maester, nu lere mich was deines
weistums." Von stunde der phylosofo sein federn In sein haut name
vn schreybe also, „wes du peginste oder zu schaffen hast, vor dem
anfange pedencke das ende, was sich da von gefügen müge" / Der
cheysser die geschrift zu Im name vnd wider gen Rom chome vnd
die geschrift über die porten seines pallast an dett schlachen, da mit
alle, die da für gingen, die sechen [vn verneme] möchten. Nicht lange
dar nach es sich füget, de^ cheysers laut heni mit ein ander heym-
lichen vnd verporgen rat hatten, wie si den cheyser toden vnd vm
sein leben prengen möchten, vnd des eins wurden mit seinem part-
1) Hs. punkt. 2) Fiore di virtu cap. XV (s. 77).
456 VOGT
[scherer] oder palirer, dem si grosses gut versprachen zu geben; de:;
er alles willig was, z^u. verpringen iren willen vm de:; geltes willen,
das si Im verheyssen hatten auch Im versprachen für all[e sorge] ^
wan ir etlicher mit vn gegenwürtig sein tvürde, wan'^ er dem cheyser
den part schären würde / Nicht lauge dar nach der cheysser nach sei-
nem scherer sante, das er chöme Im zu scheren, (^u haut er sich auf
den wege machte, vnd do er an die porten des cheiserlichn pallast chome,
er ob der porten die netten geschrift sache vnd gar sere erschracke.
von stunde gedachte: „für war vnser verraterschaft dem cheyser sol
chunt sein, vnd darü er disse geschrift hat lassen an slage, da mit si
ein yder gelesen müge." Ynd In Im selbes gedachte, wie er wider
zu genade chomen möclite, (63) vnd snelle für den cheysser lieffe,
nyder auff sein chnye fiele, mit grosser andacht genade vn parmher-
9icheit an den cheyser pegeret. de^ Im der cheyser vergonde vnd wil-
ligt was, aber wissen wolte, warum er genade vnd Vergebung pegeret,
wan Im vnchunt was seiner herfi verraterschaft / also der scherer a'n (!)
hübe zu sagen alle geschefte der herfi, vnd wie si Im versprochen
hatten grosses gelt, wä er Im schere, das er Im solt den habs (!) ab
schneyden vnd das leben nemen. Der cheyser seinem scherer willig-
lichen vergäbe vnd von stunde sante nach seinen laut hern vnd einem
nach dem andern das haubte schuffe ab slachen / Dar nach er sante
nach dem phylosofo, den er In dem walde funden [hatt] vnd der Im
die vor genanten geschrift geben hat, den nicht mer von Im lassen
wolte vnd In grossen ern vnd wirden hüte, -r "^
S. 63. Yon der Torhett oder vnweysheit. -!- <^
(65) Ein deine hystorj von der vntuget der torhett^.
MAn list In den alten Römischen hystorien von der torhet. Wie
einest der grosse Allexander In der stat Macedonia [spa9iren reyte] vnd
neben Im der grosse meister aristotile. als dan gewonhet ist, das Junge
Volke gern nach volget, die grossen hern zu sechen, also auch mit
allexander luffen (66) vil Junger chnaben, alle gemeiniglichen schrien:
„weiche, weiche ab dem wege vnserm genedigen hern Allexander"/
ein torhafftiger mitten In dem wege auff einem steyne sasse. Vnd von
der Jungen geschrey sich nicht verändert / einer vö allexanders fusß
chnechten den torn ab dem steine wolt gestossen haben / Das ersache
1) [ ] am rande; ursprünglich stand wol all- und im anfang der nächsten
zeile es.
2) Corr. aus wan.
3) -ig aus -eg corrigiert.
4) Fiore di virtu cap. XVII (s. 81).
AEIG03 BLUMEN DER TUGEND 457
der meister Aristotile vfi spräche'^ zu dem chnechte: „las sten! nicht
verrüre den stein auf dem steine" / wan Aristotile wol wäste, das es
ein tore oder narre was; darü er von der Jungen geschrey nicht ge-
meint warde, do si schrien: „weiche, weiche aus dem wege", wan er
chein mensche was. -i- o>^
S. 66. . Justicia.
Von der Edlen Tugent der gerechticheyt. -i- <^
S. 69. Ein hjstory vnd peyspil über die gerechticheyt
von Einem Einsidel vnd [wie] In got versuchte^.
S. 70. In dem leben der heiligen alten vatter man list vor (!) der
gerechticheyt. Wie das ein Eynsidel lange zeit grosse pusse vn peni-
tenz gedon vn gefürt hatte. Ynd an Im hat ein grosse vnd swere
chranchet vnd die lange zeit mit grosser müe getragen hatte / Des er
sich sere zu gott clagen warde. Ton stunde an got Im sante seynen
Engel In maus weyse'/ der zu dem eysidell spräche: „chome mit mir,
wan dir got wille zeige seine heymliche vnd verporge gerechticheit."
zu hant der Eysidel dem vn erchanten man, das was der Engel, nach
volget. Der In fürte In ein hause, dar Ine was ein gross schaze von
gelt, das der engel alles nam vnd mit Im wege trüge. Dar [nach]
si chomen In ein ander hausse, do liesse der Engel das gelt vnder
der türe ligen. Dar nach fürpas er In fürt In ein ander hausse, dor
Ine si funden ein chindlein In der wigen, das der Engel vö stude (!)
tödet/ Do der Eysidel sache [den] Engel solche pösse dinge verpringen
vnd chein gut wercke nicht dun. Er nicht lenger pey Im wolt peley-
ben vnd gedachte, es der teuffei were vnd nicht ein Engel, sich vö
Im wolt scheyden. Do das der Engel ersache, er zu Im spräche:
„guter man, peyte, hab mit leyden, vernym die vrsache meines ge-
schefte vnd was ich gedon han gewürtig dein. Darü mercke: in dem
erste hause, do ich das gelt nam. wisse das der dassig, (71) de^ das
gelt was, der verchauft hat alle:^ sein gut vn das gelt geben wolte
einem, der solt einen andern töten, der hat Im seinen vater getödet
vnd vm sein leben pracht hatte / darü vm (!) er das gelt gebii wolte
seinen vater zu rechen; vnd wan das geschechen were, so were do von
pechomen noch-vil (!) grosser schaden, schände vnd laster In der statt;
vnd darü, das aus übel nicht ärger würde vn der gute man sich wider
cheret wol zu dun. Ich im das gelt genomen han / Vnd wen er lieyme
chomet vnd de:^ geltes nicht findet, so würt er lassen die weit vnd In
1) So durch correctiu".
2) Fiore di virtu cap. XYII (s. 84). Vgl. Frati a. a. o. s. 421.
A
458 VOGT
ein cl oster chomen, got zu dienen, seytmal er sich so arm sehen wirt
vnd sein sele wirt heylen/ Die ander vrsache, das ich das gelt Hesse
In dem andern hause, die ist, das der man von dem hause verlorn
hatt grosß gut auf dem mere, vm des willen er sich selbes würde hen-
chen. vnd wen er das gelt finden würte, er wider cheren wirt vnd got
danchen; also der verzagte tode vnder wegen peleybte. Die dritte
vrsache ist, das ich das chinde In der wigen tödet, das det ich dar
vm, wan .e. das der vater das chint hatte, er nicht anders pflage ze
dun dan alle gut der weit; vnd syder er das chint gehabt hatte, er
nicht anders gethan hatte dan wuchern vnd alles übel; darum ich das
chint getödet han, da mit der vater sich wider chere (72) (^u got, wol
zu dun, als er dan vor gethan hatte / Darü auch dich nicht lasse
verwundern noch pechümern dein chranchet; wan hastu ir nicht, So
werestu auch nicht In dem dinste gotes/ Auch wisse, das der almech-
tig [got] chein dioge nicht düt an vrsache; aber die menschen sein
nicht erchenen, das got verbeuget, von übel noch mynder übel cho-
met." Also der Engel seine wort Endet vnd vor dem Eysidel ver-
swante. Da^ pey der eysidel wol erchante, das Im der Engel gesaget
hatte, das alles gotes geschefte was. Vnd wider zu rücke cheret, die
wunder zu sechen, als Im dan der Engel gesaget hatt; alle dinge wäre
vnd gesehen fände; von stunde er wider ginge In sein gemache vn
got dienet mit gan9em vleyse vnd füret ein he3'liges vnd gutes leben/
vnd nach seinem ende er pesasse das Ewig leben der ern. amen. -^ <^
S. 72. Von der pösen vnd vntugent der vngerechti-
cheit -^ <^
S. 75. LealitacNj
Von der Edelen tugent der trewe. -i- <^
(77) Ein peyspil von der tugent der Treue.
MAn list von der trewe In den alten Römischen hystorien. "Wie
das die Römer vnd die von chartagine mit ein ander grosse chrige
hatten vnd In dem von einem vnd andern teyle grosse volcke gefan-
gen warde / Vnd gefangen warde der alte vnd weyse genant chünig
Marcho vnd gefüret warde über mere In die stat chartagine. Auch
die Römer gefangen baten vil Edeler vnd mechtiger herii; die pesten
von Carthagine si in irer gefancknüs hatten. Die hern von chartha-
gine meinten einen gefangen vm den andern zu haben, als dan vor-
mals mer gesehen (78) was, vnd wider wider (!) vm schickten den
alten Römer chünig Marcho, den Wechsel vm die gefangen machen.
1) Corr. aus Das.
ARIGOS BLUMEN DER TUGEND 459
Ynd do er In den rote chome für seine purger gegenwürtig aller
weissen, Er an hübe zu reden vnd spräche, der Wechsel vm der
gefangen willen einen vm den andern vm chejnerlej sache willen
auff zu nemen were von den von Chartagine / „Wan warum alle
ire gefangen alt sein, vnd die vnütze sein, vn die ir in euer ge-
fencknüs habt, alle Junge vn mechtige sein in chrigen vnd streyten /
Darü mich nicht düncket die zu lassen. Damit er seine wort Endet
vnd die von dem gan9en rate pestet worden nach zu volgen de^ chu-
niges rate. Also chünig Marcho wider gen Carthagine für In die ge-
fenchnüs, seiner treue ein genügen don, als er sich dan verpunden hatte
vnd die nicht zu prechen wolle. E. in der gefencknüs sein leben mit
pein vnd smerczen wolt enden.
Della lealtä si legge nelle Storie Romane, che essendo Marco Eegolo preso
da' re di Cartagine, che aveano guerra co' Romani, fu mandato Marco a Roma per
iscambiare gli presi che aveano gli Romani di quegli di Cartagine, e facendo di ciö
i Romani cousigiio uel Seuato, si si levö Marco, e consigliö che il cambio non si
dovesse fare; percho i prigioni di Roma che erano a Cartagine, si erano di vil con-
dizione e quasi tutti vecchi, e quegli di Cartagine, che erano a Roma, si erano tutti
de' maggiori e migliori uomini di Cartagine, e tutti buoni, e giovani e valorosi com-
battitori di guerra. Sieche, fatto il consigliö, si fermarono gli Romani al suo detto;
ed egli per non rompere la fede si toraö nella prigione a Cartagine, siccom' egli avea
promesso a' Cartaginesi. (Fiore di virtu cap. XIX, s. 91. Vgl. Frati s. 416.)
S. 78. Von der pösen vntugent der falschen vntreüe -^ <^
S. 82. Yon der falschen vntrewe über die statt Sodoma
vnd Gamorra, wie sich ir übel Endett. -r- ^^
S. 83. Yon der Edelen tugent der warhett. -i- '^
Innerhalb dieses kapitels steht auf s. 84 fgg. ohne besondere Über-
schrift folgejide erxäJilimg:^
Yon der tugent der warheit wir lesen In dem leben der hey-
ligen alten vatter / Yon einem, der hatte gelassen (85) grossen reich-
tum vnd sich geben hatte in gotes dinste / vnd was chomen In ein
closter, got zu dienen vnd sich von der pösen weit ziehen vn sein
sele zu heylen. Nu der abte in hilte für einen chündigen vnd aus-
richtigen man vnd meinte, er pesser were aus zu richten etlich ge-
schefte de:^ closters, sunder in chauffen vn verchauffen. Es sich füget,
der abt In sante auf einen marckte, zu verchauffen etliche alte essel
vnd wider vm zu chauffen Junge. Nu der gute man vm gehorsam
willen nicht wider sten weite de^ abte geschefte, wie wol es im wider
was, vnd mit Im nam eynen ander prüder de^ closters vnd mit den
1) Fiore di virtü cap. XXI (s. 96 fg.).
460 VOGT
Essein zu marckte füren/ Ynd wan man In fraget, ob die Esse! gut
weren, er antwurt vnd spräche: „gelaubt oder meint ir, weren si gut,
vnser closter ist noch nicht in also grossen noten, das wir si pedürffen
verchauffen; darum, weren si gut, wir si für vns pehielten" / die chauf-
leute fragten, warü si also peschunden vnd geharet weren auf dem
rüche vnd an dem zagel. Er In antwurt vnd spräche: „da sein si
alte vnd mugen nicht woll gen vnd fallen dicke under dem some, vnd
pey dem zagel man si wdder auf hebet/ darum si In haben also pe-
schunden" / Also der gute münche seiner esel nicht verchaufte vnd
mit den wider zu hause chome / Von stunde sein geselle zu dem (86)
Abte ginge vnd Im alle sach saget vnd warum si der esel nicht ver-
chauft hatten vnd wie sein geselle statlichen die essel den chaufleuten
geschendet vnd vernicht hatte, darü ir cheiner verchaufte were. Der
abte gar zornig wider seinen munche was Ynd In sere warde straffen
vm der wort willen, die er auf marckte (!) geredet hatte. Auf das der
gute warhaftig man seinem abte antwurt vnd spräche, „herre vater vnd
abt, gelaubet ir, ich her chomen sey vnd gelassen [habe]^ meinen
schönen reichtum. lügen zu sagen vnd die menschen zu laichen? fui'
wäre nein ich, das gelaubet mir. wan ich allein herchomen pin, zu
dienen dem, der da gancze, wäre, lautre vn reyne warhet ist/ Darum
In dissem hause In mir nicht anders dan warhet sol erfunden wer-
den/ wan do ich weltliche leben füret die lüge mir nye gefiele" || Do
der abt höret die guten wort vnd mainüg, er nicht fraget fürpas^.
(88) Ein historj, wunder Vnd zeichen Von got zu einer
Junchfrauen vm der grossn, falschü lüge Avilliis -i- c>^
IN den alten Römischen historien wir lesen von der vntugent
der lügen von eyner Junckfrauen, die was genant Jorina vn was de^
cheysers anastasio tochter. Die grosse liebe hatte zu einem Jungen,
der was genant Ameno vnd ires vaters des cheysers chamerer. den si
gern pracht [hat] in ir liebe vnd da^ leyplichen an in pegert, da mit
si hatte iren willen mügen mit Im verpriogeu/ aber der Jüngeling zu
frome was vnd disse smacheit seinem herii nicht dun wolte vnd der
Junckfrauen ir pete vnd possen vncheüschen willen versaget vnd ab-
sluge, vm de:^ willen die Junckfraue in grosse schäme fiele vn stat-
lichen gedachte, wie si sich an dem Jungen gerechen möchte vnd vm
1) von späterer band übergeschrieben.
2) Es stand ursprünglich nur für da; aus dem r ist dann prts gemacht, sodass
eigentlich füpas dasteht.
3) Flore di virtü cap. XXII (s. 99).
ARIGOS BLUMEN DER TUGEND 461
sein leben prengen / Es sich füget, nicht hinge dar nach der Junge
durch gescheftes willen sein wege für der Junckfrauen chamern ginge,
von stunde si in dersechen hate für gan / mit hocher styme an hübe
zu schreyen: „retta Jo, retta Jo. helffet! der pöswicht mich wille nöten
vnd Junckfraue ere nemen"/ ^u^^^i^^© ^^s Tolcke zu Helfe, frauen vnd
mäne, si fragten vm die mere/ si in antwurt vnd spräche: „Ameno,
meines vaters diener, mich hat wollen nött (89) zerren." Yon stunde
der Junge gefangen vü für den chayser gefürt warde, der in fraget, ob
das wäre were. er spräche: „[genediger herr] neyn, noch solche dinge
man von [mir mit der w-arhet] nymer erfarn sollen ^ werden Ynd vii
Über mir der tode were/ Der cheyser nach der tochter sante vnd die
pegonde zu fragen, wie sich die sache verloffen hatte, Vnd über de:^
cheysers fragen die Junckfrau chein antwurt gäbe. Noch mer von
neuem er si fraget: „nu sage mir, Edele tochter mein, wie hatte sich
die Sache 9wischen dir vnd Ameno ergangen?" aber chein antwurt si
im nicht gäbe / Pey dem cheyser vil grosser fürsten vnd hern stun-
den, sich wunder nomen der Junchfrauen, das si über de^ cheysers
fragen chein antwurt gäbe. Ein weyser vnder In aufstunde vnd
sprach/: „lierre, fürwar gelaubet mir, die Junchfraue ir [zungen] ver-
lorn hatt, darü si euch chein antwurt nicht geben mage." Qu haut,
der cheyser schuffe / das man pesechen solte / gethon vnd geschaffen
alles ein dinge was: man ir in den munde sache vnd dar lue chein
Zungen nicht fände. Do das der cheyser sach, sich nicht verwundern
mochte vnd den Jungen schuffe lassen/ vnd also palde der Jungeling
gelassen warde, ^u haut der Junckfrauen ir zunge vnd s (!) gespreche
wider chome / Ynd gegenwürtig aller fürsten vnd hern si an hübe zu
(90) sagen alle sache vnd wie es sich verloffen hat" vnd wie si den
Jungen meinte vm sein leben zu prengen an schulde [vm deß willen
dar (!) er nicht nach folgen wolt irem posen willenj. also si dem chey-
ser saget alle warhet / Ymb de^ willen si an sich name heyliges leben
vnd in ein closter chome vnd [in] dem dinste got:^ erstarbe, das Ewdg
leben pesasse. Das was da^ zeichen, das got der almechtig det durch
der warhet willen, do mit die pösse vnd falsche vntugent der lügen
peschamet würde.
(90) c^ . fortec:5a . ~
Yon der Edelen tugent der sterche^. -^ -^^
STercke nach dem als der meister Magobrio spricht dreyerlej
ist/ Das erste ist stercke vnd redlich zu sein de^ leybes von nat': Die
1) Corr. aus sollen. 2) Fiore di virtü cap. XXIII.
462 VOGT
stercke ist nicht geheissen fürsichticheit oder tugent. Dslt, ander ist
stercke der fürsichtigcheit (!): die ist in der freyung de^ gemüte/ als
dan ist zu förchten swere dinge / Das dritte ist mit mitleyduug sich
geleiche auf halten in einem iglichen ansprung der {cojt. aus des)
vfideY\Yeriicheit^ oder vngelückes. Die dasigen syn der stercke das sein
tugent geheysen CUnd die tugent der sterke man geleichü mage zu
dem leüen, wan der albeg mit offen äugen slafte, vnd wen in der
Jäger suchte zu fachen, das er snelle vernonen (!) hatt; da mit In (91)
der Jager nich (!) finde, sich von dan hebt vnd mit seinem zagel seine
stappen prichte, das der Jager nicht gesechen müge, wo er hin aus
sey vnd alle dinge versucht, da mit er dem Jager engen möchte. Ynd
ob das were, das er von dem Jager gefunden würde, er nicht fleüchte,
sunder frölichen vnd an alle sorge vnd forchte dem Jäger entgegen
chomet. vnd den streyte redlichn fürte wider den man vnd Jager.
S. 92. Ein Historj von der stercke des Samson. ~ ^
S. 93. Yon der forchte vnd seiner [vn]tugent. -i- c>o
S. 94. Ein historj vor (!) der forchte vn erschrecküg.-^-c>o
{Dionisio mit dem scMvert über dem haupte)
S. 95. Yon der Edelen tugent der her9enhafticheit / Die
ist pey den gelerten genant/ Mangnanimitas. -^ «^
S. 96. Ein historj von der grossen her9enhafticheit der
Römer, -r- <^ {Ablehmmg des anerbietens, den Pyrrhiis zu vergiften.)
S. 97. Yon der pössen vntugent der Eytellere.
S. 98. Ein Capitel über die vntugent der Eytelere. -i- <^
(99) Ein historj über Eytellere von eine Eynsidel.^ -^ <^
IN dem leben der heyligen vatter man list vö der Eytellere / wie
sich ein Engel gesellet zu eynem Eysidel vnd mit einander aus gin-
gen ir narung zu suchen, vnd vnter wegen fanden ein totes ros von
pössem gesmache / zu hant der Eynsidel sein nasen verhüte von de^
pösen gesmaches wegen, vnd den Engel dauchte, es nicht smecket.
vnd fürpas gingen durch einen schönen garten, vnd dar Inne fände (!)
ein gar schöne Junckfrauen In ch östlichem gewante gecleydet, gar mit
Eytellere / (^uhant der Engel sein nasen verhüte, der Eysidel die scho-
nen Junckfrauen an Sache vnd de^ Engels warde spotten vnd sich sere
[von Im gestricheji] warde wundern de^ Engels vnd Im etwas vor dem
Engel grausen warde / Doch er zu Im spräche, warü er also sein na-
sen verhüte „vm solches schönes dinges wiüen, als dan disse Junckfraue
1) So durch correctur; das folgende ode>- gestrichen.
2) Fiore di virtü cap. XXYI (s. 107). Frati s. 424.
ARIGOS BLUMEN DER TUGENT) 463
ist, vnd durch de^ faulen as willen, das also faulen pösen gesmache
gäbe, vnd du dein nasen nicht verhütest / was (100) sol ich vor (!) dir
gedencken?" Der Engel Im antwurt vnd spräche: „darum das die
grosse hoffart der vntugent der Eytellere got dem hern ubeler smecket
dan da^ faule vnd tote rossfleische / vnd alle faule asse der ganzen
weite" / nach dissen werten der Engel von dem Ejsidel verswante.
an dem der Eysidel erchante, das es ein Engel vnd pot got^ gewesen
was -^ «^
S. 100. Yon der staticheyt oder pestendicheit. -^ ^v)
S. 101. Ein Römische historj über die staticheyt. ^ «^
S. 103. Yon der pösen vntugent der vnstaticheit. -^ <^
S. 105. Yon der Edlen Tugent der Messicheit, die pey
den lateynischen geheissen ist tpanc^'a. -^ <^
(107) Ein hystorj von der tugent der Messicheit de^ pby-
losofo genant Quadro.^ -i- <^
IN den Römischen hystorien wir lesen vö der Messicheit Wie
da^ der chünig priamo grosses wunder von weistum höret sagen von
einem lerer, der was genant Quadro, der selbig spricht, wer seines
willen nicht geweitig ist, der chein mensche ist. vnd den man zu
dem viche gesellen vnd geleichen sol / Der chünig den quadro versu-
suchen wolte, ob er In petruben möchte oder In zorn prengen / Quhant
schickte nach alle die, die da posse zungen [vnd gestrichen] hatten
vnd den avoI was mit übel reden vnd ir zungen pas prauche chunden
In ubell reden dan In wol reden vnd pas prauchen in werten dan in
wercken. Die alle er schuffe für sich chomen vnd zu In spräche, das
si dem phylosofo Quadro alle^ übel zu sprechen vnd vö Im sagten,
das si mit der zungen möchten gesprechn vnd mit dem her9en geden-
cken / Ynd in schenten nach allem iren vermügen. Dar nach zu hantt
der chünig sante nach dem Quadro, der von stüde chome für den
chünig vnd spräche: „Edeler chünig, was gepeüt Euer genade?" / snelle
eyner von den übel redern an hübe vnd spräche: „0 quadro, wie
hastu so als einen schonen gestückten rocke an" / de er antwurt vnd
spräche / „der mensche nicht wirt (108) Erchant durch sein gewant,
sunder allein durch seine wercke" / Aber einer auhube vnd spräche:
„secht lieben hern , wie hat quadro also ein schönes radscheybes hare" /
Dem er antwurt vnd sprach: „die tugen (!) de:^ menschen nicht sein
In dem hare, nur allein In dem herben." Der dritte spräche: „herre
vnd chünig, hütet euch vor dem quadro / wan .E. gester ich in sache
1) Fiore di vii-tü cap. XXTIT (s. 113).
464 VOGT
mit euren fejnden In dem felde pey den chrichischen herü; für wäre
ich gelanbe, er ir specher sej / Dem er antwurt vnd spräche: „wan
das war were, du es nymät sagest." Aber ein ander spräche: „secht
an den chröpfeten narren/ auf das er antwurt vnd spräche: „Es lange
zeit vergangen [ist], das du anhübest zu lernen übel vnd poshet zu
reden."/ I^och einander spräche: „secht vnd hört, wie rett der grosse
verrater vn gar cheine schäme nicht hatt" / zu dem er spräche: „Ich
sol nu dalest von dir werden sagen / wer mich fraget/ das dir die Zun-
gen übel ZU reden gelöst ist worden." „Edel' chünig secht vnd nemet
wäre de^ unschamsamen hümplers." / dem er antwurt vnd spräche/:
„wer Indert ein deine [ere oder] schäme in dir, disse vnuernüstige wort
du nicht redest" / Aber ein ander spräche: „lasset sten den narren,
der also frömdiglichen redefürte" / Dem derQuadro chein antwurt nicht
gäbe vnd sweyge. Der chünig zu quadro spräche, wie da^ chöme,
das er chein (109) antwurt gebe. Do spräche quadro: herre, swey-
gen ist ein schöne antwurt zu solcher frage oder solchen werten / "VVan
wer wil hören oder nicht hören die vnützen vnd pösen wort, der vil
mer praucht die tugent der orn dan die tugent der czungeu/ "VYan den
nyemant fester peschamen möchte dan er sich selbes dut/ Vnd geleiche
als er ein herre ist seiner zungen, also ich auch pin ein herre meiner
orn." / Do der chünig sache die grossen mitleydung vnd Messicheit
de^ guten maus, er Im rüffet vnd In zu seinen füssen nyder schuffe
sitzen vnd in fragte, wie er so groses mitleyden hat mügen haben vnd
sich nicht hat lassen erczürnen. Er zu dem chünig spräche: „here,
das ist darum, das ich ein herre pin [mein] vnd si sein chnechte der
vntugent vnd poshet/ Ein iglicher, dem übel i^u geret wirt / der sol
gedencken, ob das war sey oder nicht/ Ynd nicht darum zornig oder
vngemute sein/ das ein ander übele dut/ sunder er leyden sol vnd
[gedult habn] sich nicht petrüben / wan er wol wayse, das übel, das
Im zu geret oder zu geczogen wirt, nicht war ist/ Vnd dem, der
Im übel zu ret, chein grösser leyde nicht getan mage, dan Im erzei-
gen seiner wort nicht achten vnd stille sweygen. Also der grosse vnd
tugenhaftige lerer vnd phylosofo den chünig vnd seine übel reder mit
der tuget der mitleydung vn messicheit über Avant, -i- <^
Unter dem capitel Von der pösen untugent der vn Mes-
sicheit (s. 110) steht auf s. 111 ohne Überschrift:^
Von der vnmessicheit man list in dem leben der heyligen
alten vatter von einer Junckfrauen, die was genant lucina vnd In
1) Flore di virtü cap. XXX (s. 116). Frati s. 426.
ARI60S BLUMEN DER TUGEND • 465
grossen züchten vn ern stunde, mer dan chein andre Junckfraue der
■weit, vü oft gehört hatt singen die andern fraiien von dem luste der
vncheuscheit / vnd von stunde gedachte In irem her9en vnd gemüte,
den lust der vncheuscheit vn ir liebe zu versuchen, vnd ob das also
grosse freude werc/ vnd lust prechte, als si dan In der frauen gesange
vernomen hatte / vn an einem tage si saute nach einem Jünglinge, der
ir lange zeit hat heyliche liebe getragen vnd das pis von Jugent auf
über alle ding er si liebe hatt / Von stunde zu der Junckfrauen chom^
vnd mit ein ander peyder willen vnd lust der vnkeüscheit verpracht
warde. Nu das etliche zeit mit einander getriben hatten, die Junck-
fraw pedencken warde ir grosse sünde der vncheuscheit vnd wie si ir
Junckfrauschaft verlorn hatte vnd der nicht mer herwider gechauffen
möchte, vnd darum In verzagnüs vnd trauricheit fiele, das si ir Junck-
frauliche ere also gar an alle messicheit so übel an geleget hatte, vnd
von grossem leyde vnd trauricheit ir selbe^ da^ leben nam vnd sich
erhinge. ^ <^
S. 112. Von der Edelen vnd lieben tugent der Diemüti-
cheit. ^ ^
S. 114. Ein historj über die tugent der Diemüticheit. -r<^
S. 116. Von der pösen vntugent der hoffart. -r- '^
S. 119. Ein historj über die hoffart de^ teüfels. -^ cv?
{Luzifers stürz)
S. 119. Von der Edelen vnd züchtigen tugent der cheu-
scheit vnd irem lobe. H- ^^
Ein historj über die tugent der cheüscheit^. ^ cvd
MAn list In dem leben der heyligen alten vater von Einer Nun-
nen oder closter frauen, (122) vm die huldet der herre von der stat, dor
In das closter was / Vnd vil diche die frauen hat lassen piten, si Im
zu willen würde in leyplichem luste. Aber ir das nicht zu her9en
ginge, wan si ein grosse dienerin gotes was / vnd die pete dem hern
statlichen absluge, vnd nicht do von wolt hör" sagen. Do der herre
vername, das [sein] pete chein kraft hatte, Er gedachte seinen gewalt
zu prauchen vnd in das closter chomen, vnd mit gewalte die frauen
heraus nome / vnd die meinte In sein haus zu füren. Do die gute
fraue den gewalte des pössen hern sache [vnd] In Im chein parmher-
9icheit nicht was / si zu dem hern spräche, warum er ir mer gewaltes
datt dan cheiner andern frauen de^ closters. Der herre ir antwurt und
sprach: „fraue, wa:^ ich dun, da:^ ich alle:^ dun vm Euer schönen äugen
1) Fiore di virtü cap. XXXV (s. 129). Frati s. 427.
ZEITSCHRIFT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XXVIII. 30
466 ' VOGT
willen / wan die mir lieben über alle dinge der weit" / Do sprach die
fraue: „seytmal ich euch gefalle vnd übe vm meiner schönen äugen
willen, so sol euer wille durch iren willen verpracht werden/ Aber
mich vor lasset gen In mein zelle, zu nemen mit mir etlich mein ge-
rate; dar nach gescheche euer wille" / des der herre willig was, vnd
si snelle ginge in ir chamern/ Ynd ir selbes peyde äugen außprachs/
vnd dem hern schuffe rüffen / Ynd zu Im spräche/ „herre, damitt
(123) euer wille verpracht werde, vnd ir mein äugen so liebe habt/
so nemt si hin vnd verpringet eüern pössen willen." Do das der herre
Sache; er sehr erschracke, mit grossem wunder vnd petrübtem herczen
von dafie schyede/ Also die heylig fraue vor dem pössen, uncheuschen
hern ir reine Junckfrauschaft errettet / Auch man list In dem Ewan-
gelj / wie dar nach si got wider erleuchtet. -!- cv>
S. 123. Yon der pössen vntugent. der vncheüscheit. ^ -^
(127) Ein historj über die vncheuscheyt^. -^ ^
YOn der pösen vntugent der vncheüscheit man list in den alten
Komischen historien wie das der cheyser genant theodosio einen
sun hat / von dem die weysen meister vnd Erczte sprachen / das chint
wer von solcher natur vn conplexen, seche es die sunen vnd das feuer
vor vir9echen Jareu, der chnabe erplinten moste an seinem gesiebte/
vnd do möchte nyemant für sein. Do das [der] chünig vernome,
ser leydig was, Doch er schuffe machen Ein schöne charaern in einem
turn vnd dar ein Etliche frauen vnd ammen; die den chnaben ziehen
sölten mit alle vleysche vnd sein hüten vor den vor genanten Qweyen
dingen , als dan der sünen vnd dez; feuers / pis die vir9echen Jare ver-
gangen weren. Also de^ chünges geschefte verpracht warde vn das
cliinf^ in dem turn was in das fünf^echenst Jare vn weder sünen noch
feüer nye gesache CNach der vergangen zeit der cheyser den chnaben
heraus norae vnd In zucht zu leren, als dan der grossen hern gewon-
het was / von erste den gelauben vnd zu er ebenen die freude de^ pa-
radeyß / vnd auch die helle, do die teufel ir wonung haben vnd zu In
nemen, die da übel dun In disser weit / Ynd alle andre dinge, (128)
die Im dan vnerchant waren / Also dem Jungen alle dinge worden zu
erchant geben, als dan waren die menschen, die mane vnd frauen,
das gefügel, die wilden tiere, rosß, hunde, vische vn iglich dinge pe-
sunder Im zu erchennen gebn warde. Nu der Junge vil dinge gesechen
hatte vnd von iglichem pesunder den nomen pegert zu wissen, alle
dinge Im verchündet worden / vü do er chome an die frauen vnd der
1) Fiore di vü-tü cap. XXXVI (s. 133). Frati s. 420. 2) Comgiert statt er.
ARIGOS BLUMEN DER TUGEND 467
nomen pegert zu wissen / Einer zu Im spräche In chürtzweyle: „das sein
geheyssen teüffel, die die menschen zu der helle füren/' CNicht lange
zeit dar nach verginge, der cheyser den sun pegonde zu fragen / wel-
liche dinge Im an dem pasten gefielen von allen den , die [er] gesechen
hatte/ Der Junge dem cheyser ant\Yurt vnd spräche: „herre vnd vater,
ich sol euch die warhet sagen / Ynd für wäre, an dem pesten mir ge-
fallen die teufel, die dj menschen zu der hellen füren: die mir pas
gefallen dan chein dinge, das ich gesechen habe." -^ <^
S. 128. Yon der tugent der Masse, die mit den lateyni-
schen genant ist Moderacia.^ -^ ^ ^
S. 130. Von der tugent der Masse des hermleins. -i- <^
S. 133. Ein Capitel von der Masse der alte (!) .ee. ^ ^^
S. 134. Ein ander Capitel von der Masse vnd wie man
reden sol. -^ <^
S. 136. Ein straffung über die zungen vnd ander lere.-r-<^
S. 138. Ein Ander Capitel über das reden de:^ grossen
meister (!) vnd lerers Tulio. -^ cv^ c^
S. 143. Ein cleyn Capitel über rat geben. ^ '^
S. 144. Ein ander dein Capitel über die Ordnung Qw
reden als dan Tulio spricht, -r- »^
S. 145. Ein Capitel von der torhett. -^ <^
(148) Ein ander lere vnd anweysung des grossen phylo-
sofo vnd Meisters Albertano / Von erste sein anfang / dar
nach von der pösen zungen Das dritte von dem dienen Das
virde von zuchtiger Milticheit / Das fünfte ein straffung de^
maus Das sexte von der zuchticheit der czungen / Das sybent
^'^ leste czu leben In der forchte gotes -i- «^ AMEN ^ ? ^^
IN dem anfange, mitte vnd Ende meiner lere, zu lobe dem
almechtigen got vnd hern, schöpfer der weit, "Wan an sein genade vn
parmher(,'icheit nymant geleben mage / Darum Ich sünderliche diemü-
tiglichen czu Im rüffe/ Dan vil die sein/ die den wege der czungen
verlorn haben/ Ynd wenig sein, die ir zungen herschen, 9aumen oder
straffen chünnen CDarum der heylig (^welfpot sand Jacob sprichtt: „Die
wilden tier man zäumet vnd vntertaniget menschlicher natur / vnd sein
eygne zungen der mensche nicht gezaumen noch gepinden mag / Darum
Ich albertano phylosofo gedacht vnd fanden hau lere vnd anweysung
zu reden vnd zu sweygen Darum aller liebstes chint, freunt vnd.
günner CYnd wan du reden wilt, vor pedencke die natur des han-
1) Später corrigiert in Modernem.
80*
468 VOGT
neii/ wan .E. er sein gesange an hebet / vor (149) Er sich selbes mit
seinen flügeln zu drejen malen siechte , Dar nach er an hebet zu
singe: Also auch du seit dun/ pis züchtig vnd straffe dich selbs / Vor
aus teyle vnd gedencke, was du reden wilt/ Ynd .e. das du an hebest
zw reden, vor pedencke das Ende, wie es sich ergen mügc/ Vnd ob
dich die sache an treffe oder an ge, oder nicht/ Wan gehört dir die
Sache nicht zu, so soltu dich ir nicht vnterfachen. Dar nach gedencke,
ob dein gemüte In rubüg sey oder In (^orn und an alle hoffart / Wan
warum wer dein gemüte In trübung oder 9orn, so hüte dich icht zu
reden vnd auch zu antworten CWan Catone spricht: „der zorn petrübt
das gemüte, das der man der warhet nicht erchennen mag || CAuch
Tulio der Römer spricht, das^ die gröste vnd höchste tugent sey,
sich selbs zu über winden CSant CIsiderio spricht: „Es ist ein sellig
dinge, der In dem zorn sweygen chan" CSalamon spricht: „hüte dich,
nicht lasse dich willen oder pegire überwinden." CDer Qwelfpot spricht:
„der sich nachent zu got/ der an sich halten chan seinen willen." CSa-
lamon spricht: wer hütt seines mundes, der seiner seien hütet. CAri-
stotile spricht: „wer nicht chan sweygen, der auch nicht chan reden."
CDer Römer Cato (150) spricht: „die erste tugent des maus vnd der
frauen ist, zu meistern ir eygne zun gen." CSand pauls spricht: „die
freunde gotes / chüüen vnd wissen zu sweygen." C Santa chaterina
spricht: „die freunde vnd diener gotes chünnen [sweygen] Vnd dem
zornigen den wege geben" CSalamon spricht: „fleuche die hoffart als die
gift, wiltu seliglichen leben" CSand geronimo spricht: „der hoffertig
man oder weybe das reiche des hymels niclit sechen." CAuch mer er
spricht / „du solt nymant straffen wider recht, noch verurteylen vm
der Sünde willen, dar Ine du verurteylt pist." CDer grosse maester
Virgilio spricht / „Wiltu yemant straffen, sich vor, ob du in solcher
Sünde pegraben seyest CDarum so sweyge vnd nyemant richte" CSand
C Augustin spricht/ „wei' wol rett vnd übel düt, der sich selbes ver-
dampt" CAristotile spricht: „wiltu wol reden/ so rede vnd pflige der
warhet / Vnd von dir slache die lügen." Clhü XjTc spricht: „die
warhet chein müe ist zu reden / Vnd über alle dinge peschaue das
ende deiner wort, so würstu nicht sünden CStö Isiderio spricht:
„wiltu nicht sünden/ so sweyge" C Virgilio spricht: „sweygender
munt/ ist lobe vnd ere" CSalamon spricht: „redender munt lescht chein
feuer" CDarum liebes chint, lern (151) Vnd meister dich vnd leine [dich]
an die edelen tuget der warhet vnd wider die nicht streyte CWan wer
sich leynet an die warhet, der sich leynet an got CWan got mit seinem
1) Dahinter das gestrichen.
ARIGOS BLUMEN DER TUGEND 469
munde spräche / Ich pin die warhet, Darum die warhaftigen got ser
liebe hat CVnd wan der meister Tulio got pat vm genade / albegen von
erste er got pate, das er in pehüten sölte sein zungen vor der pössen
vfi falschen lügen, -r- '^
Ein Capitel vnd straffung über die pösen / vnd falschen
Zungen. ^ <^
SAlamon spricht: „o herre got, Ich dich pite, das du mich pe-
hütest vor allen pössen zungen CDarum liebes chint, hüte dich vnd dei-
nen munt vor den pösen lügen vnd in prauche in zucht, warheit vnd
Milticheit/ So lebstu in genade eines iglichen CWan Salaraon spricht:
„Der züchtig vnd warhaftig man vnd weybe werden pürger seyn der
stat de^ hymels." CSeneca spricht: „der tugethaftig vnd züchtig man
nicht sechen wirt die pein der helle." C Aristo tue spricht: „von dem
lügenhaftigen menschen zucht, ere vnd Avirdicheit fleuchet" CSalamon
spricht: „„^er^ guter nome ist über alle- edel vnd gute salben" CDa-
rum, liebes chintt, nach allem deinem vermügen dich nöte vnd 9winge
(152) ^u haben guten nomen in disser weit/ so würstu erhört in dem
leben der ewdgen salicheit {usiv. bis zum schluss der seite).
(153) Wie man diene sol den freunden vnd ander pey-
spille. ^ -^
Noch mer vns lert die heylig geschrift ein ander lere vnd mae-
sterschaft CYnd spricht: „nicht halt deinen freunde oder güner in wer-
ten, diene Im snelle, wan er deines dinste pegert, ob du magest CNoch
mer si vns lert vnd meistert, das wir snelle suUen sein zu vergeben,
die wider vns getan haben {usiv. bis %um schluss der seife).
(154) Von der zucht Ynd Milticheit der zungen.
SAnd Ambrosio spricht, von der milticheit der zungen chomet
glorj vnd ere/ Ynd von der posen zungen pechomet neyde, hasß vnd
Sünde CSalamon spricht, die messig zungen sey ein stigen des para-
deyses CTolomeo spricht: „liebes chint. Ich dir gedencke zu haben einen
hals als der kranghe" CSalamon spricht: „nyemant offenware die heym-
licheit deines herben / Wan dar nach du ir nicht mer geweitig pist"
{usiv. bis -xum schluss der seile).
(155) Ein ander lere vnd capitel der straffung de^
mans. ~ ~
SAlamon spricht: „nicht schymphe mit de frauen, die vor
über das czile oder pöglein getreten hat / Wan der ab gelöschte cho-
len von cleynem teuer sich gern [wider] enzündet {usiv. bis s. 156 7niUe).
1) der aus ein corrigiert.
■2) über am rande nachgetragen; alle aus eine corrigiert.
470 VOGT
Ein ander Capitel von der züchticheit der zungen.
CAtone spricht: „nicht gee in den rat, du werdest dan gerüffet".
CSalamon spricht: „die wort sein swaerer dan das pley." Darum dich
hüte mit Überladung der wort, die nicht alle oder alwegen zu reden
sein vnd dir nicht zu sten (. . . so bis s. 157 z. 7 v. u.^ dann:)
Ein Capitel zu leben In der forchte gotes.
0 Du aller liebstes Edles chinde, In einem werte allein ich pe-
sliessen wille die weysheyt de^ hymels vnd de^ ertrichs / Darü (158)
Pis willig in dissem Jamerlichen Jamer tale vn Elendiglichen leben/
Wan wie du dein leben fürest, also du ersterben wirst. Darum ge-
dencke, wie du dein leben füren wollest, das gar eben pesynne / Dich
vnd dein leben zu füren In der liebe [gotes durchstrichen] Ynd forchte
gotes de:^ almechtigen vaters vnsers hern Jhü xpc Im zu lobe vnd ern
der liebsten frölichen Englischen samnüg des paradeyses, Do alle tugent
vnd gute ir Avonung habent. Immer vnd Ewig an ende. Do man hört
das lobsam vnd süsse Englische gesange der ern vnd salicheyt / Vnd
vil ander grosser wunder vnd freude, die menschlich nat' nicht ver-
chünden möchte C^u dissen hymlischn freunden (!) Yns neme der
almechtig got Vnd schöpfer aller geschöpfe, der da regirt Imer vnd
Ewig an ende. ^ Am . E . N. -^ ^ ^
^ •• ARIGO • ~
<^ • 1468 • <^
Opus perfeci
An dem acht vn Qwain9igisten tage des Augsten. «^
Arigos Übersetzung des Fiore di virtü ist in einer schönen pa-
pierhandschrift der Hamburger stadtbibliothek überliefert, auf die Lap-
penberg in der Zeitschrift für deutsches altertum 10, 260 hingewiesen
hat. Hierauf nahm Zingerle, Ältere Tirolische dichter I (Vintlers Plue-
men der Tugent) s. XXIV anmerkung ohne nennung des Arigo bezug;
sonst hat niemand das werk beachtet. Weder ist es in den litteratur-
geschichten erwähnt, noch hat man es bei der frage, ob Heinrich Stein-
höwel der im eingang des deutschen Decamerone genante Arigo sei,
berücksichtigt; und auch Frati hat es in seinen Ricerche sul fiore di
virtü (Studi di filologia Romanza pubbl. da E. Monaci Vol. VI s. 247
fgg.) bei der Zusammenstellung der Übersetzungen (s. 290 fgg.) über-
sehen. Aber die Übersetzung hat für den romanisten wie für den
germanisten ihre bedeutung. Sie darf bei der textkritik des in stark
1) auf rasur. en von über den columnenstrich heraiis.
2) auf rasur.
ARIGOS BLUMEN DER TUGEND 471
auseinandergehenden Versionen überlieferten Fiore nicht unberücksich-
tigt bleiben und sie ist ein sprachlich wie litterarhistorisch interessantes
denkmal jener populär- humanistischen richtung, die seit der mitte des
15. Jahrhunderts in der deutschen prosa zu tage tritt. Über das äussere
der handschrift und dessen bedeutung für die erkeuutnis ilirer entste-
hung habe ich bereits in den Göttinger gelehrten anzeigen jahrg. 1895
s. 325 i'^. das nötigste bemerkt. Dass Arigo nicht nur der Schreiber der
vorliegenden handschrift, sondern auch der Verfasser der Übersetzung
sei, geht wol schon aus dem dort beigebrachten hervor. Wie er seine
Übersetzung noch während der niederschrift corrigierte, zeigt sich z. b.
in dem kapitel vom Neyde (s. 20), wo für den satz des Originals piü
lieve cosa e a fiiggire il dispiacimento della pove?'tu, che la invidia
della 7-icchex%a geschrieben steht: Auch vil i^inglicher ist xu fliehen die
[Vernichtung die] annut dan den Neyde des reichtums. Die eingeklam-
merten worte sind durchstrichen. Arigo ühersetyAe dispiacimento zunächst
durch Vernichtung im sinne von nichtachtung, fürchtete dann aber, als
er mit der armuot fortfahren wollte, ein misverständnis, schrieb daher,
unter verzieht auf die Übersetzung von disjnacimento , einfach die ar-
muot und strich dann Vernichtung und das eine der beiden die. In
dem kapitel von der untugent des zorns ist s. 30 , z. 7 v. u. indigna-
zione zuerst durch vnwilligen zviderwerticheit widergegeben, was dann
in vmviUicheyt geändert Avurde; ebenso ist in den beiden nächsten Zei-
len als Übersetzung des indignazione auf rasur von grösserer ausdehnung
vnivilicheit hergestellt, während es dann auf s. 31 z. 14 schon von vorn-
herein in den text gesetzt wurde. Von den zahlreichen correcturen , die
auch sonst nach dem italienischen original gemacht wurden, kann ins-
besondere das oben mitgeteilte stück des ersten kapitels eine Vorstellung
geben. Dass hie und da auch ein beim schreiben übersprungenes wort
nachzutragen war, kann auch bei einer original -reinschrift nicht wundern.
Eine andere deutsche vorläge als Arigos eigenes concept anzunehmen,
besteht nirgend ein grund. Eine genaue feststellung des Verhältnisses
zwischen Übersetzung und quelle wird im einzelnen erst möglich sein,
wenn der Fiore in kritischer ausgäbe mit vollständigem apparat vorliegt.
Mir standen ausser den von Frati a. a. o. und von Zingerle in seinem
Vintler nach der ausgäbe von Gelli (Florenz 1855) mitgeteilten stücken
durch die freundlichkeit des herrn dr. Wendriner die ausgäbe von Gae-
tano Yolpi (Milano 1842) und die von Ulrich (Leipzig 1890) herausgege-
bene versione Tosco -Yeneta zur Verfügung i. Die letztgenannte schliesst
1) Die foiisetzimg der letzteren (Lipsia 1895) und die ausgäbe in der Ztsclir.
f. rom. phil. 19, 235 fg. erschien erst nach abschluss dieser arbeit.
472 VOGT
ebenso wie einige andere handschriften (vgl. Frati s. 270) in dem kapi-
tel (XXXYII) moderanxa (s. 139 der ausgäbe von 1842, Arigo s. 133)
und zwar mit dem satze el septüno die si reposoe da ol-lavoriero
ch'el' avea fato. Der ganze übrige teil dieses kapitels fehlt auch bei
Arigo. Aber dann fährt er in den drei folgenden kapiteln wie die ita-
lienische ausgäbe von 1842 fort. Diese schliesst mit dem kapitel (XL) del
guardare; in che modo si dee fare (s. 156; vgl. auch Frati s. 270 fg.);
ebenso die vorläge Vintlers: der letzte vers, der ihr entspricht, ist
V. 9396 (vgl. Zingerle zu 9397), d. i. nur wenige zeilen vor dem schluss
der it. ausgäbe von 1842. Dem schlusssatz dieser letzteren Ancora de'
l'uomo avere moderanxa e misura in tutti gli suoi faiti entspricht bei
Arigo auf s. 145 (mitte) der satz Auch der man pey Im haben sol
masse vnd das in alle?i seynen Sachen. Aber nun folgt noch bei Arigo
ohne abschnitt Alexander spricht chein dinge nicht ist da von der man
mer gej^reyset ist dan von der edelen vnd schönen zucht usw. Daran
schliessen sich sehr verschiedene lebensregeln, als deren Urheber Seneca,
Panfilio, Seneca, Seneca, Boecio genannt werden, bis zu dem satze,
mit dem s. 147 endigt: Nu sich anhebt ein ander lere des grossen phy-
losofo vn Meisters Alber tano, und es folgen nun aufs. 148 bis 158 in der
durch die oben mitgeteilten kapitelüberschriften ersichtlichen weise Über-
setzungen aus traktaten des Albertano von Brescia, die zum teil auch
schon vorher im Fiore di virtü benutzt waren. Zu s, 148 fg. (oben s. 467 fg.)
vergleiche Dei trattati morali di Albertano da Brescia volgarizxamento
inedito fatto nel 1268 da Andrea Grosseto publicaio a ciira di Franc.
Selmi [Bologna 1873)., s. 1 — 4. Der deutsche text ist da ein allmäh-
lich immer freierer auszug aus dem italienischen. Bemerkenswert ist,
dass der Übersetzer für die anrede des Verfassers figliuolo mio Stefano
einsetzt aller liebstes chint, freunt vnd günner. Dass Albertano von
Brescia schon vor unserer Tugendblume durch eine Übersetzung seines
Liber consolationis in die deutsche litteratur eingeführt wurde, habe ich
im Grundriss II, 1, 406 u. aum. bemerkt; Vetter gab in Kürschners „Na-
tionallitteratur " ein stück aus ihr heraus, ohne das original anzugeben
(„Aus dem Mehbeus" Lehrhafte litteratur des 14. und 15. jh. I s. 456fgg.)
Wortgetreuen anschluss an das original hat Arigo sich auch ge-
genüber dem Fiore di virtü keinswegs zur pflicht gemacht. Er liebt
es besonders ein wort der vorläge durch zwei synonyme werte zu
umschreiben; er sieht auf Wechsel im ausdruck ; Schwierigkeiten umgeht
er gelegentlich durch minder genaue Übersetzung, auch wol durch aus-
lassungen, während er andrerseits auch dieses und jenes einschaltet.
Am freiesten behandelt er die quelle in den erzählenden stücken, die
AKIGOS BLUMEN DER TUGEND 473
ich mit ganz unbedeutenden ausnahmen oben mitgeteilt habe. An den
geschichten von Dämon und Phintia und „könig Marcus", denen ich
oben beispielsweise den italienischen text beigefügt habe, mag man
sehen, wie seine Übersetzung stellenweise den Charakter einer freien,
erweiternden nacherzählung gewinnt. Hier wird auch sein stil geschick-
ter. Bei den sentenzen schliesst er sich dagegen meist näher an die
quelle an, und den schwierigeren anforderungen , die sie an den Über-
setzer stellen, zeigt er sich weniger gewachsen. Die Übersetzung ist hier
im allgemeinen steifer, undeutscher und von fehlem nicht frei. Einige
grobe misverständnisse werden auf Verderbnis oder schlechte schrift der
italienischen vorläge zurückzuführen sein. So s. 45: Darum herre got
ich dich pitte du der armut nicht nei/dig seyest vnd dich nicht veran-
ders durch dez, reichtums willen, wan du von Im vnerchant pist für
Di due cose ti priego, Iddio, che tu non mi dia povertä, ne tante
ricchexxe ch'io non ti conosca {Duo rogavi te . . . mejidicitatem et divi-
tias ne dederis mihi: tribue tantum victui meo necessaria: ne forte
illiciar ad negandum usw. Prov. 30, 7 fg.). Statt mi diu scheint Arigo
hier imiidia gelesen zu haben; aber auch die weiteren fehler werden
durch die beschaffenheit der vorläge veranlasst sein. Ähnlich liegt es
wohl, wenn cap. I der satz e di questo cotale amore di concupiscenza
si puö dire cWe tratta la regola (var. che [ch'el] trata le regolle)
d' amore übersetzt wird die übrig pegire^ man sprechen mage die ein
eist der regeln der liebe sey. Ganz merkwürdig ist die Übersetzung
des Schlusssatzes der oben s. 465/66 mitgeteilten erzähluug E la monaca
scdvö la sna castitä, volendo innanxi perdere gli occki secondo che dice
il Vangelio = Also die heylig fraue vor dem jwssen uncheuschen hern
ir reine Junck frauschaft errettet / Auch maii list In dem Eivan-
gelj wie dar nach si got wider erleuchtet. Eine wunderliche
Vorstellung vom Inhalt der evangelieni Freilich, wie es mit Arigos
bibelkenntnis bestellt ist, zeigt sich auch, wenn er s. 92 in der Historj
von der stercke des Samson über dessen persönlichkeit den erklären-
1) Statt dieses Wortes stand ursprünglich liebe der pegenius da und daneben
am rande oder pegire. — Gleich der folgende satz zeigt, wie die Übersetzung auch für
die kritik des italienischen textes in beti'acht kommt: dieser lautet nach der ausgäbe
Milano 1842 und nach der von Frati s. 254 benutzten von Bottari: 1' amore nes-
suna cosa puö dinegare di diletto, la mente non si puö saziare, ähnlich auch nach
der von Zingerle verglichenen, während die Yers. Tose. Venet. statt der beiden ge-
sperrten werte jedesmal l'amante überliefert. Mit dieser stimmt Arigo: Wan der
dassig, der da liebe halt durch die pegernus [oder übrig begire] , Im dar Inne chein
abprechen noch sieh erfüllen mage. Doch steht seine Übersetzung keineswegs immer
mit dieser version gegen die andern zusammen.
474 VOGT
den Zusatz macht, dass Samson des, chüniges dauit sun, Salamon vnd
absalon 'pruder gewesen sei. Die sprichwörtliche zusammenstelhmg von
Samsons stärke, Salomons Weisheit und Absalons Schönheit übt hier
ihren einfluss. Eine volkstümliche Vorstellung wirkt auch in dem kapitel
von der straffung über den chünig faraon auf seine Übersetzung des
Satzes la seconda (pistolenza) si fu moltitudine di ranocchi, che piove
durch daz ander, dax auch vö hijniel regent inancherley lint würni
vn tracken: bekanntlich bringen nach altem Volksglauben die drachen
aus der luft herab allerlei krankheit und plage.
Nicht nur das italienische original, sondern ich meine, auch die
herkunft des Verfassers oder wenigstens seine gewöhnung an die italieni-
sche spräche blickt in mancherlei erscheinungen durch, auf die ich zum
teil schon in den Gott. gel. anz. a. a. o. hingewiesen habe. Wollte man
der gelegentlichen beibehaltung des italienischen Stichwortes in den Über-
schriften keine bedeutung beilegen, so verdient doch die beibehaltung der
italienischen formen für die namen der klassiker schon mehr bedeutuug.
Es kommt ferner vor, dass ein italienischer ausdruck auch im texte bei-
behalten wird, teils mit, teils ohne beifügung einer deutschen erklärung.
So s. 115 das Capidoglio, das ist daz rothaus, s. 83 der vogel der
do hegst pernige vnd an der färbe vnd grosse ist dem 7'ephim ge-
leiche (Ital. cap. XXI figliuoli della permice). S. 129 heisst der schiffer
schlechtweg der nochiere; s. 68 findet sich der tiranno und dez tiranno.
Vielfach der philosofo. Aber auch in deutschen Wörtern zeigen sich
hie und da italismen. Neben meister wird sehr oft tnaester und so
auch maesterschaft geschrieben. S. 3 wird la patria durch seine vat-
terliche lant widergegeben, und entsprechend heisst es s. 34 deine vat-
terliche vnd geporne lant. Ygl. s. 106 stäche von dir alle deine übrige
iviUen für togli da te le cose siiperchievoli e le tue volotitadi ristrig?ii.
S. 93 Vo?i der forchte (del timore) vnd seiner vntugent. Auch von
dieser seite bestätigt es sich, dass der träger des italienischen namens,
der sein opus perfeci unter die Hamburger handschrift setzte, Arigo,
wirklich das werk gemacht, d. h. die deutsche Übersetzung verfasst hat.
Ist aber dies der fall, so ergibt sich daraus weiter von vornher-
ein mit der grössten Wahrscheinlichkeit, dass wir dem Übersetzer des
Fiore di virtü auch die wenige jähre nach Vollendung jenes werkes
gedruckte Verdeutschung von Boccaccios Decamerone verdanken. Denn
die Worte in der einleitung des deutschen Decameron (Keller 17, 29)
hau ich Arigo in (den freulein) das ivercke machen vnd in teutsche
zungenn sch7'eiben wollen können sicherlich nicht anders gedeutet wer-
den, als dass eben auch Arigo das werk gemacht, d. h. die deutsche
äRIGOS BLUMEN DER TUGEND • 475
Übersetzimg verfasst hat (vgl. Gott. gel. anz. a. a. o.). Es müsste aber
doch ein wunderliches spiel des zufalls sein, wenn um dieselbe zeit
zwei leute, die sich Arigo nannten, italienische werke ins deutsche
übersetzt hätten. In der tat trifft die obige Charakteristik von Arigos
übersetzungsweise im wesentlichen auch für den Decamerone zu. Auf
welche weise man sich auch bei Identität der Verfasser gewisse unter-
schiede in form und ausdruck etwa erklären kann, die unleugbar zwi-
schen den beiden Übersetzungen bestehen, das habe ich a. a. o. ange-
deutet. Hier sei nur zur weiteren begründung meiner zuerst im Grund-
riss d. germ. phil. II, 1, 405 und 408 ausgesprochenen ansieht eine
reihe bemerkenswerter Übereinstimmungen in der spräche beider werke
hervorgehoben.
Eine merkwürdige ausdehnung hat beiderseits das endungs-e.
Die bekannte anhängung des e an starke substantiva ist überaus häu-
fig, z. b. Dec. leyte und leijcle für leid, lobe, ti'oste, wege, lauffe, rate,
tode, volcke, viche, luereke, tage, sune, note usw. TBL (Tugendblume)
puche, teyle, anfange, tode, dinge, luste, vische, wege usw. Aber
auch dem unflektierten adjektivum wird es zugefügt, wie z. b. beider-
seits tode und besonders häufig liebe haben. Beim verbum sind nicht
nur starke präterita wie stürbe, ginge, gäbe, flöge, ivarde, sacke, kome,
stunde, hübe in der TBL die regel, im Dec. mindestens eine ganz
gewöhnliche erscheinuug, sind nicht nur präteritopräsentia wie rnage
[mosse], pedarffe, iville, weisse üblich, sondern das e wird auch den
verschiedenen arten des endungs-^ in auffälliger weise angehängt; so
in der 2. pers.: heste für hest, kettest Dec. K. 196, 28, du muste 647, 28,
du solle 360, 26; vgl du dueste TBL 9, käste 8, chanste 15, pedarfste
1 b , du solle 8 usw. ; in der 3. pers. : erkente für erkennet {erkentt Augs-
burger, erkent Strassburger druck) Dec. K. 28, 29, sehlefte (schläft) 197, 2,
beswerte (beschwert) 652, 18, und in TBL z. b. spiichte, laufte, ^nachte,
peleybte, meinte, nente, 7'egirte, ivürte, katte usw. (für hat, zvird, regiret
u.sw.); für die 2. pers. pL ir sülte Dec. 532, 21, ir lieste (liesset) 440, 36;
für das unflektierte part. prät. z. b. geschikte {welich grab sie geschikte
fanden Dec. K. 6, 37), geerte (sein name . . . geerte sey 16, 37), so
enbachte 442, 28, erkante 655, 8, gesetzte 655, 12; gepaute TBL ge-
sagte, verchaufte, desgl. — Dieser Verlängerung steht andererseits in
beiden Übersetzungen eine kürzung nebentoniger silben gegenüber. So
heisst es beiderseits urlab neben urloub, herber (neben herberg) und
beherbren, arbet und in den zusammengesetzten Wörtern -het (z. b. frey-
het Dec. K. 211, 11, gesundhet 226, 11, geivonhet 29, 36, und in der
TBL weishet, torhet, geivonhet, chranchet, poshet) neben formen mit
476 YOGT
ei. — Bezüglich des vokalismus der Stammsilben sei folgendes bemerkt.
Neben ä kommt vereinzelt o vor, beiderseits in do, ivo, nomen. ce
wird beiderseits zu e gekürzt in sellig. Für altes % gilt bei beiden ei,
ey , während in nebentonigen hie und da i bleibt, so übereinstimmend
in ertrich; in recht seltenem Wechsel mit ai steht ei für altes ei. Für
altes ü und ou gilt übereinstimmend au\ nur in dem worte sÖ7n (last)
zeigen beide 6 für ou (Dek. K. 199, 11; TBL 85). b ist im anlaut bei-
derseits durch p vertreten; iv für h findet sich bei beiden in offemvar,
b für IV übereinstimmend in albeg {albege, albegeu); postvokalisch bei-
derseits in rubung TBL 21, ge?'ubter Dec. 199, 12; sonst vgl. erbi7'bstu
TBL 20, enbicht Dec. Im ganzen scheint der Wechsel zwischen b und
IV in Dec. häufiger als in TBL n schwindet bei beiden gelegentlich
in eif eltig, vernuftig (vernustig), in der endung der participia präsentis
und in higet. Für 5 tritt bei beiden im inlaut hin und Avider ss auf,
übereinstimmend z. b. in wessen neben wesen. Angesichts der form
vleische für fleisse TBL 127 braucht man geschelschaft TBL 6 nicht für
einen Schreibfehler zu halten, und eben diese form findet sich Dec.
s. 19* der Originalausgabe (nicht bei Keller). Inlautendes ch für h ist
beiderseits in sechen, xechen, gechUch {-Ung), höche, fliche7i, xichen
(fliehen, ziehen) belegbar. — Eine völlige Übereinstimmung in der Schrei-
bung des handschriftlichen und des gedruckten werkes wird niemand
erwarten. Es genügt, wenn besonders charakteristische raerkmale der
hdschr. der TBL im drucke des Dec. noch erkennbar bleiben. Solche können
auch bei sonst consequenter änderung doch gelegentlich noch durchschim-
mern. So ist, wie Wunderlich richtig bemerkt hat, das in TBL herr-
schende ch im anlaut in Dec. stets durch k ersetzt. Aber Dec. 372,
13 steht noch als Schimpfwort für ein weib verheyte)' chacl. Mag damit
hat (kot) oder kad, das gefäss, gemeint sein, was dann hier wie unser
„Schachtel" gebraucht wäre, jedenfalls hat hier der setzer in einem ihm
vermutlich unverständlichen worte das ch des manuscripts stehen gelassen.
Von Übereinstimmungen im wertschätze verdienen folgende
besonders beachtet zu werden: ansprung (fiero assalto) des u?iselige?i
bösen glucks ist im Deutschen Wörterbuch I, 472 aus Dec. belegt, ohne
irgend eine parallele für solche Verwendung des wertes ansprung.
Genau so findet sich aber TBL 39 ansprung der widerwerticheit. Vgl.
auch an springen von begirden und von der geitikeit gesagt Dec. 36, 7.
46, 37. — ausrichtig in freier Übersetzung des Originals gebraucht:
Nu der abte in Mite für einen chündigen vnd ausrichtiqen man imd
meinte, er pesser were aus zu richten etlich geschefte des, closters =
credendo l'abate, che egli fusse piii savio neue cose del mondo che
AEIGOS BLUMKN DER TUGEND 477
gli aliri monaci TBL oben s. 459. Der was für den außrichtigisten und
redUckisien man gehalten = fii uno de' piü notahili e de' piü magni-
fici signori Dec. 44, 16. der dasig der für derjenige welcher, häufig.
So z. b. in TBL der dasig, der solcher liebe pflegen ist, der falsche
vnd nicht gerecht ist. tvan der dasig, der an freunde ist, allein ist
in seinen gescheften. das er die liebe vnd freuntschaft des dasigen,
den er liebe hatte, die pesixte vnd der getvaltig ist. der dasig, der da
reichtums oder salicheit nicht gewonet xic haben ist; nsw. Vgl. im Dec. :
Auch die dasige?i , die das romore auff dem predigtstid an den grasten
machen, dieselben an den meisten solchen gescheftenn nach gen 208,
12. der dasig, der da tvas getöt ivorden 205, 27. der dasigen, die er
meinte xe finden 197, 5. die dasig, die gen ir verklaget was, ersache
701, 3 V. u. — ein fart für einmal TBL 38. Dec. 243, 18. 521, 30
u. ö. — dunkelgut für ipocrisia mehrfach in TBL, vgL Dec. 257, 14
die vntugent der ipocrasia V7id dunckel gut (im original nur ipoci'esia).
In dieser bedeutung ist das wort in den Wörterbüchern nirgends belegt. —
eytellere für vanagloria mehrfach in TBL, vgl. Dec. 23, 11. 259, 4. —
ent Wichten zu nichte machen: vernichten oder entwichten TBL 33. wem
das auf heben den verprachten dinst eritwicht vnd macht verliessen =
il rimproverare fa perdere lo servigio TBL 44; Salamon spricht, das
die süssen vnd diemütigen wol gesetxten ivort entwichten den xorn {il
dolce parlare si rompe l'ira) TBL 140. (Hier ist entwichten später cor-
rigiert in erivicheii). wan ich den erber7i vn frümen man höre ent-
wichten den vnweysen. Vgl. Dec. wölt ir anders euer sach nit ent-
ivichten (guasiare i fatti vostri) 260, 8 (andere beispiele aus Dec. im
DWb. 3, 658). — In keinem wörterbuche ist der gebrauch von mitlei-
dung und mitleidig für geduld und geduldig, ausdauernd belegt, wie er
in TBL und Dec. gilt. So TBL s. 92: Von der Edelen vnd, tugenthaf-
tigen stercke der mitleydung {della virtü della fortexxa che si chiania
paxie?ixa). Soct-ate spricht, das mitleydung sey ein porten der liebe
der parmher(p,cheit {Socrate dice: La pacienxa e parte — var. porta,
porto — della misericordia). Proenciale spricht, chein tuget nicht m.age
gesein, si sey dan pestet in mitleydung, das ist der patiengia. VgL
oben s. 462. 464. TBL s. 105 (cap. XXIX des ital. or.) wird sofferenxa
erst durch gedult vnd initleidung, dann durch mitleidung allein wider-
gegeben. Entsprechend wird Dec. 307, 37 gedidtig vfid mitleydig seyt
für siate paxienti gesetzt und ebenso 129, 22 dax sie in irer armüte
gedidtig vnd mitleydig wem für che essi paxientemente comportassero
lo stato p)overo. Das adjectivum wird auch TBL s. 112 gebraucht:
nicht x,u gelauben genüge mitleydig zu sein \i7i\ allen dingen, den du
478 VOGT
dich Viitertanig machest (a credere di non potere essere sufßciente a
tutte le cose). S. 105: Wer aber mit der tugent der gedidt vnd mit-
leydung den dasigen pÖsen vniugent (!) widerstet, Der ist geheysen ein
tnit leyder. Oben s. 457 und s. 464 mitleiden haben für geduld ha-
ben. — Sich neheden für sich nahen fehlt gleichfalls in den Wörter-
büchern. Die zeit sich ivarde neheden TBL 18. So ivird es sich züch-
tiglich XU euch näheden Dec. 528, 30. ■ — nudalest TBL oben s. 464,
z. 8. Dec. 8, 27. 243, 24. 650, 30 u. ö. Es wird im sinne von „jetzt"
gebraucht. Die erklärung des dalest im DWb. und bei Lexer wird
wol niemand mehr befriedigen. Es ist sicherlich nichts anderes als
eine der vielen entstellungen aus tälanc, die in diesem falle durch die
genetiv-adverbia beeinflusst sein wird. Die im DWb. erwähnte ver-
neinende bedeutung des dalest hat auch tälanc gelegentlich (vgl. Mo-
rolf 616, 3 — 5 E und anm. zu 521, 4. 5). — radescheibe ki'eisför-
mig ujid ir geselschaft sich radescheibe vmbe sy auch nider seczten
Dec. 16, 8. Das DWb. kennt nur diesen einen beleg. Aber das wort
findet sich nicht allein ebenso Dec. 379, 22, sondern auch TBL oben
s. 463. wie hat Quadro also ein schö?ies radscheybes hare. Vgl. auch
geringescheib : si (die kraniche) ü'en chilnig pehüten mit grosser vnd
treulicher hüte, ivayi si geringe scheyb vm Li sten vnd er in der
mitte V7uler In TBL — verlaugnen wird in beiden Übersetzungen auch
im sinne von versagen gebraucht: die verpoten vnd verlaügte7i dinge
(le cose vietate e negate) TBL 106; darvmb seyt gepeten vmb der liebe
willen, die ich euch trage, daz ir mir der eüern nicht verlaugetit
{che voi non neghiate il vostro verso di nie) Dec. 128, 17. — verwe-
sen: V7id pegert er nicht, so verivist er (si consuma) in seiner armut
TBL 45; da . . . verprinnest vnd verivisest {ardi e consumiti) in liebe
einer fr'emden fraicen Dec. 198, 29. — wetung: vn deyi (reichtiim)
nicht gelassen mage an grosse pein vnd wetung {e non le lascia senxa
dolore) TBL 46; Daz im grosse pein pracht, vmb ivetung halben sich
7iit e^ithalten mocht, laut schreyen must Dec. 375, 21, vgl. 28 und
vnd dem kimige auf seiner pruste ein ewiger wetung beliben was
genant fistola {gli era rimasa una fistola) Dec. 226, 8. Das wort
ist eme entstellung aus ivetuom, die ich nicht anderweitig zu bele-
gen weiss, es bietet auch, soviel ich sehe, in beiden Übersetzungen
das einzige beispiel für die wandelung des -tiiom in -tung. — wunder
wird beiderseits unabhängig vom italienischen texte in verwandten
Wendungen gehraucht: viind Bruno im von ferren nachfolget vmb
wunder zu sechenn, wie sich doch der arczte stelle?i wölte (per vedere
come l'opera andasse) Dec. 530, 4. Vgl. auß seinem geheüsse vm
ARIGOS BLUMEN DER TUGEND 479
ivunders ivillen nicht chöme {non esce mai fiiori della sua tana)
TBL 130. — In ganz übereinstimmenden Wendungen verwenden beide
Übersetzungen sich verwundern im sinne von sich genug, bis zu ende
Avundern. Vgl. oben s. 453. Der chünig . . . sich nicht vcrumndern
mochte der starchen vnd freyen wort des armen mannes. Und ebenso
Die edeln Herrn nicht alleine sich des ritters sunder auch seiner fraweji
grosse miltikeit nicht verwundern mochten Dec. 646, 4: sie konnten
sich nicht genug wundern über; so beiderseits mehrfach.
Aus der syntax will ich eine bemerkenswerte Übereinstimmung
in der Wortstellung hervorheben, die, ohne im einzelnen falle dem
italienischen original nachgebildet zu sein, doch auf italienische gewolm-
heit zurückzuführen sein wird, nämlich den gebrauch |der uns in
abhängigen Sätzen mit conjunctionen, relativen und interrogativen ge-
läufigen Wortfolge (Subjekt, adverbiale bestimmung, verbum finit.) im
unabhängigen satze. So z. b. TBL: Der künig der frauen irer pete
%u iriUen warde. Die junge fraue mit des chuneges und ires aller
liebsten vrlah von dannen schiede. Der abte gar zornig ivider seinen
munche icas usw. Vgl. Dec: Fraive Philomena irer rede gesivigen
ivas. Die edeln frauen des armen Calandrino vngelücke lachten. Ein
solches frawen Oreseyda ee vonn andern leilten dan von im xü ge-
höre kam usw., beiderseits ganz gewöhnlich. — Ebenso unter gleich-
zeitiger Voranstellung einer adverbialen bestimmung z. b. TBL: Von
der tugent der liebe jnan in den alten Historien geschriben vint. Um
des willen die Jiinckfrau in grosse schäme fiele. Von disem reichen
man genant Germino got der almechtig ein grosses ivunder erxeyget
nach seinem tode. Nicld lang dar nach der cheyser nach seynem
scherer saute. Vgl. Dec: Änff' solche hoffnung ich her zu dir komen
pin. Li solchem lachen vnd fremdem geperde her Torello dem sol-
dan zu gedancke kam. Nach disenn tvorten der soldan in mit seinen
armen vmbfienge. — Ebenso auch im nachsatze: TBL Vtid also palde
Ipolito hinein chome ... er mit auf gerückten armen in umfinge. Do
das der cheyser saßhe, er von seinem rosse sasse. Vnd ob das were,
das Ephytica nicht wider chöme, man im sein haubt nemen vnd ab-
schlagen sölte. Vgl. Dec: Vrul ee der tage kam, er mit sampt dem
pette . . . gen Paria . . . getragen ward. Vnd damit sy im seines laden
und beherbern nicht versagen möchte^i., er de7i ivege hielte. Vnd do
si nun gessen hatten, der ritter ir mite bedencken warde. — So auch
mit auslassung des Subjektes im nachsatze bei gleichem Subjekte des
nebensatzes: TBL Vnd do der chunig das sache, sich des nicht ver-
ivundern mochte. Do der chünig sache die g?vs.sen freyhet des mans,
480 VOGT
sich nicht verwundern mochte der . . . wort, von stunt sich pegahe . . .
Do das der chünig vername, ser leydig ivas. Vgl. Dec: Do der edel
ritter den soldan vernam . . . der fröcst man ivarde. Do der kimig
die schönen junckfraictn sache, ir des si hegeret nicht versagen mocht.
Wie wol der Soldan mit sampt seinen hern grosse köstliche dinge %e
Sechen geiconet tvarenn, doch darumb sich solcher köstUcheyt nicht
verivundern mochten. — Sehr beliebt ist beiderseits auch die angege-
bene Wortstellung (subject, adverbiale bestimmung, verb. finit.) in dass-
sätzen bei tbrtlassung des dass, so z. b.: si sprachen, er an si nicht
geleben möchte, ich spriche, du der edelste . . . vogel . . . pist TBL
dai'uynb man sprach, er tod teere, und sprach, er im fürgenomen
het Dec. — vnd gedachte, er e seinem tötUchen feinde Untertan ivolt
sein TBL ir gedacht, sie nit alleine des küniges krancheit halben
gute vrsache het ge?i Parisy xe komen Dec. — den enget dauchte,
es nicld smecket TBL auch in on zweyfel daucht, daz grosse ivirdige
hern ... sein sollen Dec. — und meinte, er pesser were auszurich-
te?i etlich geschefte TBL dami er meint., es Türeken und nicht kristen
weren Dec. — gelaubet ir, ich her chomeyi sey und gelassen habe ...
TBL und für tvar gelaubet, sein fraive nudalest einem anderen sült
verheyret sein Dec. — und ivol erchante, zeit ivere gewesen, er die
geiticheit pecheret hatte in milticheit TBL ivol erkante, er i?n die
icarheit gesagt hatte Dec. — Nicht lange zeit darnach verginge,
der cheyser den sun pegonde fragen TBL Darnach nicht lange ver-
ginge, sie auß dieser ivelt schiede Dec. — ... es sich füget, des, chey-
sers lanthern mit einander rat hatten TBL es möchte sich noch bege-
ben, ir vnser kauffmanschatz möclit sechen Dec. — als dem gewonhet
ist, das junge volck gern nach volget TBL nun wer mir ye von her-
czen lieber yewesen, ich ein solches zu rechter zeit vernomen hett
Dec. usw. usw. — Charakteristisch wie die Wortstellung ist in den bei-
spielen dieser gattung für beide Übersetzungen auch das fehlen der
conjunction. Denn gegen bindewörter herrscht beiderseits eine förm-
liche abneigung, sowol wo es sich um ein abhängigkeitsverhältnis als
um die beiordnung der sätze handelt. Wunderlich hat schon im Ar-
chiv f. d. stud. d. neueren sprachen 44, 248 die verliebe des Dec. für
die asyndesis gegen Steinhöwels brauch hervorgehoben. Sie gilt eben-
sowol für TBL. Beispiele werden jedem aus den oben mitgeteilten
stücken zur genüge entgegentreten. Sowol diese eigentümlichkeit als
die neigung für die besprochene Wortstellung tritt auch in der verliebe
für demonstrativsätze und in deren besonderem bau in beiden Über-
setzungen zu tage. Ist das demonstrativum Subjekt, so ist wider die-
ÄRIGOS BLUMEN DER TUGEND 481
selbe Wortstellung wie oben beliebt, z. b. die (nämlich die Jungfrau)
grosse liehe hatte zu einem Jungen TBL Die schnelle gen ir auf-
stunden Dec. Der unterschied zwischen demonstrativsatz und relativ-
satz ist bei solcher wortfolge völlig aufgehoben, und das gilt nun auch
für demonstrativsätze anderer art, z. b. die alle er schule für sich
chomen TBL Baz ir der künig volkotnenlich verspräche Dec. Dem
Quadro chein antwurt nicht gäbe TBL Zu dem der ritter sprach Dec.
Des nicht lang zeit vergangen ist, das in vnser stat . . . gesessen ivas
Dec. 381, 20. Natürlich ist es unter diesen umständen oft genug unmög-
lich zu entscheiden, ob ein satz relativ oder demonstrativ gemeint ist;
bei den angeführten beispielen ist der demonstrative Charakter zweifel-
los. Selbst im nachsatz wird diese Stellung angewendet: do die frawe
Sache, das ir in des mannes ersten cxorn nit Übels zu stund, . . . umb
des willen sy ein gut hercxe ßeng Dec. 376, 7. vnd wen in der Jäger
suchte zu fachen, das er snelle vernomen halt TBL oben s. 462. ob
das u'ere^ das ich darinne indert zu strafen tvere, das ich ivillig-
lichen von einem iglichen auf nyme TBL oben s. 448. So auch iver
seines ivillen nicht geiveltig ist, der chein mensche ist vnd defi man
zu dem viche gesellen sol oben s. 463. Da pey der eysidel tvol ercha?ite,
das (rel.) Im der Engel gesaget hatte, das (demonstr.) alles gottes
geschefte ivas oben s. 458 und ähnlich alein got, dem (rel.) alle di?ig
kunt sein, pey dem (demonstr.) ich dir siuer Dec. 371, 25.
Auf weitere syntaktische besonderheiten der beiden Übersetzungen
brauche ich liier nicht einzugehen. Nur im vorbeigehen sei einer lati-
nisierenden Wortstellung gedacht, deren sich beide an stellen bedie-
nen, wo die quellen gar keinen anlass dazu bieten: um der grossen
passen deines geniüte geiticheit ivillen oben s. 453, vgl. imib des
ivillen sie zu dem iungen ires vaters schaffer in grosse liebe enczün-
clet Dec. 351, 7. Und als ein beispiel für die Übereinstimmung der
TBL mit besonderheiten des partikelgebrauches, die Wunderlich (Stein-
höwel und das Decameron) am Dec. hervorgehoben hat, diene die
Verwendung von nur: TBL vnd chein freuliche ere nicht an sechen.
Nur si verpringen mögeii Iren viehischen vnd vnuernüftigen passen
tust, vgl. Dec. er hett ir {der eyde) . . . zehen falsche . . . geschworen,
nur er seinen widerteyle hette übenvinden mügen und Wunderlich
s. 30. Im übrigen genüge es, zum schluss ein paar redensarten anzu-
führen, deren übereinstimmende Verwendung im verein mit den voran-
gegangenen ausführuugen gewiss geeignet sein wird, jeden zweifei an
der Identität der Verfasser beider Übersetzungen auszuschliessen: TBL
oben s. 461 gethon vnd geschaffen alles ein dinge ivas (im or. ent-
ZEITSCURIFT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XXVIII. 31
482 DÜNTZER
spricht gar nichts), Dec. 349, 38 das gcschefte gepoten vnd verpracht
alles ein dinge was (im or. entspricht nur e cosi fu fatto). — TBL oben
s. 457 tmd darum, das aus tihel nit ärger ivürde, Dec. 518, 9 iind
damit aus übel nit ergei's werde; in beiden fällen entspricht im or.
nichts. — TBL oben s. 461 mit hocher siyme an hübe %u schreyen:
„retta jof retta jo! helffet! der pösuicht mich tville nöten vnd junck-
fraue ere nemen." (im or. eUa cominciö a gridare: accorrete, accorrete,
che Amantino m'ha voluta sforxare) vgl. Dec. 128, 34 mit hocher
stimme an hübe %ü schreyen: „retta io! retta iol vor dem pöscn graf-
fen von Angfers; er ivill mich nöten tmd freueUchen meiner ere
empfremden vnnd die mir ouch mit geivalt nemen (im or. cominciö a
gridar forte: ajuto, ajuto, che'l conte d'Anguersa mi vuol far forxa).
BRESLAU. F. VOGT.
GOETHES BEÜCHSTÜCK „DIE GEHEIMNISSE".
Unsere philosophen nehmen es als entschiedenes recht in ansprach,
bei deutuiig schwieriger dichtungen die berufenen ausleger zu sein;
ihrem Scharfblick erschlössen die verschlungenen gänge des dichters
sich leichter als dem erklärer, der von sprachlichem Verständnisse,
sorgfältiger beachtung des einzelnen wie des aufbaues und allseitiger
kenntnis des dichters und seiner kunst ausgeht. Als ob dies nicht die
notwendigen Schlüssel wären, ohne die auch der tüchtigste philosoph
in die irre gehen muss, ja fast um so mehr, je gedankenvoller er ist.
Ein einziger übersehener oder misverstandener ausspruch des dichters
selbst kann das ganze kunstvolle gebäude des philosophischen deuters
stürzen, ein einziger bezeichnender zug, den er unbemerkt gelassen,
die willkürliche Verschiebung des ganzen verschulden: wer ohne ge-
naueste kenntnis des dichters, ohne liebevolles verfolgen seiner spuren,
ohne kritik und ergründung dessen, was wir von der entstehung des
kunstwerkes wissen, sich zum erklärer schwieriger dichtungen aufwirft,
wird seinen zweck verfehlen. Der philosoph muss gestatten, dass der
philolog seine Offenbarung revidiert. Wie viele versuche trefflicher
männer sind an der klippe unzulänglicher philologischer auslegung
gescheitert!
"Weit hinab an dem brausenden gestade
Liegts von der scheiter umher.
Einen neuen beleg bietet die mit viel geist und vollem Verständ-
nis von Goethe's religiöser Stimmung versuchte lösung der rätsei des
uns hier beschäftigenden unvollendeten gedichtes in der schrift des
GOETHES GEHEIMNISSE 483
Königsberger philosophen Hermann Baiimgart „Goethe's Geheimnisse
und seine Indischen legenden". Der Verfasser bezeichnet es als auf-
gäbe des Interpreten, „mit hülfe des durch die forschung aufgeschich-
teten materials, mit benutzung der gesammten bereitgestellten mittel
dem letzten ziele zuzustreben, im kunstwerke dem sinn des künstlers
nachzugehen". Aber ausreichende philologische kritik bei benutzung
des dem forscher zu geböte stehenden Stoffes, methodische auslegung
und vollständige beheiTschung desselben vermissen wir eben bei unseren
philosophischen auslegern, die „den boden unter den füssen verlieren",
da sie die festen stützen aufgeben, welche die Überlieferung und das
stetige verfolgen der im aufbau der dichtung hegenden Wahrzeichen
darbieten. Baumgart will freilich auch die angaben über die entstehung
der „Geheimnisse" benutzen, aber er thut es auf eine so unvollstän-
dige und zum teil verkehrte weise, dass sein ergebnis unwahr ist, und
so nur auf Irrwege führen kann. Dazu kommt, dass er auf äusserun-
gen Goethe's baut, welche dieser dreissig jähre nach der ihm ganz
fremd gewordenen dichtung gethan, als er der bitte um aufklärung
des darüber schwebenden dunkeis von selten Königsberger Studenten
nachgab, die ihm ihre eigene ansieht über deren plan und absieht mit-
geteilt hatten. Baumgart nimmt ohne weiteres die Zuverlässigkeit die-
ser erklärung an, obgleich es dem dichter dabei sichtlich nicht wol zu
mute war. Schon vor mehr als vierzig jähren habe ich im „Morgen-
blatt" (der aufsatz ist in meine „Neuen Goethestudien" aufgenommen)
den nachweis geliefert, dass das wenige neue, was Goetlie hier gibt,
im Widerspruch mit der dichtung selbst steht, so dass Baumgart, auch
wenn er nicht selbst darauf gekommen wäre, meine bedenken hätte
beachten und, wenn er es vermocht, widerlegen müssen. Dabei wäre
auch die frage zu erörtern gewesen, wie es überhaupt sich verhalte
mit Goethe's äusserungen über seine eigenen älteren dichtungen, die
vollendeten, wie die als bruchstücke hinterlassenen , zu denen der sechs-
zigjährige in „Wahrheit und dichtung " und noch später anderswo sich
veranlasst sah, insonderheit mit denen über die plane der unvollendeten.
Und da ergibt sich deren völlige unzuverlässigkeit. Was seine
lebensbeschreibung über „Mahomet" und den „Ewigen Juden" enthält,
steht im Widerspruch mit den vorhandenen bruchstücken. Die bei der
späteren redaktion der „Italienischen reise" eingefügten plane der „Nau-
sikaa" und der „Iphigenie in Delphi" sind nichts weniger als zuverlässig.
Selbst die deutung des gedichtes „Harzreise im winter" ist nicht in allen
punkten richtig, lässt nicht einmal ahnen, dass diese stückweise entstan-
den, aus „fliegenden streifen von den tausend gedanken in der einsamkeit
31*
484 DÜXTZER
jener reise", Avie es in einem briefe an Merck von 1778 heisst, zusam-
mengesetzt ist. Da kann es denn auch nicht auffallen, dass der zur
aufklärung über die „Geheimnisse" entworfene aufsatz (das tagebuch
gedenkt desselben am 23. märz 1816, mundiert wurde es am 9., abge-
sandt am 10 april), den er nach flüchtiger lesung des bruchstückes bei
rascher durchsieht des neu zu druckenden neunten bandes der "Werke
entwarf, kein evangelium ist, da ihm das gedieht längst fremd gewor-
den, und er bei der grossen Zerstreuung, worin er damals so verschie-
denartiges durchzudenken und vorzubereiten hatte, sich nicht in die
Stimmung zurückversetzen konnte, welche ihn vor einunddreissig jäh-
ren beseelt hatte. Das kloster, worin „die Geheimnisse" spielen, liegt
nach der dichtang in der „grünen aue eines sanft geschlungenen thales",
in das bruder Markus herniederschaut, als er einen steilen berg erstie-
gen hat und aus dem walde herausgetreten ist; er eilt zu ihm durch
einen „wiesenplan". Hiernach heisst es denn auch in der sehr kurz
gehaltenen erklärung: „Ein junger ordensgeistlicher, in einer gebirgigen
gegend verirrt, trifft zuletzt im freundlichen thale ein herrliches gebäude
an." Davon, dass bruder Markus sich verirrt habe, steht nichts im
gedichte, wenn er auch „ausser steg und bahn" geht, er folgt dem
„erhabenen antrieb", der ihn zu einer besonderen sendung bestimmt hat,
und er muss dahin, wohin der geist ihn führt. Damit stimmt es
nicht, wenn Goethe's bericht, „um den plan im allgemeinen, und somit
auch den zweck des gedichtes zu bekennen", weiter mitteilt, „dass
der leser durch eine art von ideellem Montserrat geführt werden, und,
nachdem er durch die verschiedenen berg-, felsen- und klippenhöhen
seinen weg genommen, gelegentlich wider auf weite und glückliche
ebenen gelangen sollte". Irren wir nicht, so liegt hier ein missver-
ständnis der ersten stanze zu gründe, wo es bildlich von diesem „wun-
derbaren liede" heisst: „durch berg' und thäler sei der weg geleitet,
und w^enn sie genug geklommen, wollten sie doch zur rechten zeit dem
ziele näher kommen", was auf die vielen erzählungen deutet, welche
der schliesslichen einsetzung des bruders Markus zum nachfolger des
Humanus vorangehen. Ferner wird dieser „ideelle Montserrat" durch
eine sonderbare erfindung des sechszigj ährigen dichters näher ausge-
führt. „Einen jeden der rittermönche würde man in seiner wohnung
besucht und durch anschauung klimatischer und nationaler Verschie-
denheiten erfahren haben, dass die trefflichsten mann er von allen enden
der erde sich hier versammeln mögen, wo jeder von ihnen gott auf
seine eigenste weise im stillen verehre. Der mit bruder Markus herum-
wandelnde leser oder zuhörer würde gewahr, dass die verschiedensten
GOETHES GEHEIMNISSE 485
denk- und empfindungsw eisen, welche in dem menschen durch atmo-
sphäre, landstrich, Völkerschaft, bedürfniss, gewohnheit entwickelt oder
ihm eingedrückt werden, sich hier am orte in ausgezeichneten Indivi-
duen darzustellen, und die begier nach höchster ausbildung, obgleich
einzeln unvollkommen, durch zusammenleben würdig auszusprechen
berufen seien." Offenbar ist unter dem „ideellen Montserrat" eine
ähnliche örtlichkeit gemeint, wie Goethe sie durch W. von Humboldt
brieflich im sommer 1800 von dem spanischen berge erhalten hatte,
und es kann keinem zweifei unterliegen, dass dessen heranziehen zu
unserem gedichte durch Humboldt's damaligen brief veranlasst ist.
Dieser hatte ihm geschrieben, in den zwei unvergesslich schönen tagen,
die er auf dem Montserrat zugebracht, habe er unendlich oft seiner
gedacht; seine „Geheimnisse" hätten ihm lebhaft vor dem gedächtnis
geschwebt, sie seien ihm nicht werter, aber näher und eigener gewor-
den. „Wie ich den pfad zum kloster hinaufstieg, der sich am abhang
des felsens langsam herumwindet, und, noch ehe ich es wahrnahm, die
glocken desselben ertönten, glaubte ich Ihren frommen pilger vor mir
zu sehen, und wenn ich aus tiefen, grünbewachsenen klüften empor-
blickte und kreuze sah, welche heilig kühne bände in schwindelnden
höhen auf nackten felsen aufgerichtet haben, zu denen dem menschen
jeder Zugang versagt scheint, so glitt mein blick nicht wie sonst mit
gleichgültigkeit an diesen durch ganz Spanien unaufhörlich widerkeh-
renden zeichen ab." Freilich konnte Humboldt, als er zu der berühm-
ten Benediktinerabtei auf dem von seinen sägeförmigen spitzen benann-
ten berge bei Barcelona aufstieg, sich an bruder Markus gemahnt füh-
len, der beim besteigen des berges das glockengeläute des auf dem
gipfel gelegenen, noch unsichtbaren klosters hörte, aber das kloster lag
unten im thale, und er musste noch einen längeren weg durch einen
wiesenplan machen, ehe er zu diesem gelangte, über dessen pforte er
das rosenkreuz erblickte. Ton einem auf dem berge gelegenen klo-
ster, welchem zwölf von einander getrennte, auf den bis zur schwin-
delnden höhe der gipfel angelegte einsiedeleien angehören, zu denen
man nur auf leitern und brücken über die schauerlichsten abgründe
gelangen kann, ist in den „Geheimnissen" keine rede, nicht einmal
von solchen über dem kloster sich erhebenden berggipfeln, die doch
dem bruder hätten auffallen müssen, wären sie vorhanden gewesen.
Die sämmtlichen zwölf bruder wohnen nach dem gedichte in demsel-
ben gebäude, dessen vorhof Markus am ersten abend betritt; das
innerste soll ihm erst später erschlossen werden. Täglich kommen sie
hier zusammen, während die bewohner der zwölf einsiedeleien nur an
486 DÜNTZER
bestimmten festtagen, etwa zwanzigmal im jähre, zur klosterkirche her-
abstiegen. Das abgesonderte leben in verschiedenen regionen der berg-,
felsen- und klippenhöhen ist durch die anläge des gedichtes geradezu
ausgeschlossen, und erst von dem später nach dem ihm verloren gegan-
genen faden, wie auch bei „Faust", suchenden dichter höchst unglücklich
vom Montserrat hereingetragen. Mit der erkenntnis, dass die annähme
von abgesonderten einsiedeleien auf gipfeln und klippen durchaus der
anläge der dichtung widerspricht, ergibt sich auch alles damit zusam-
menhängende als spätere haltlose erfindung. Damit es möglich scheine,
dass „die begier nach höchster ausbildung durch zusammenleben sich
würdig ausspreche", sollen sich die zwölf um Humanus versammelt
liaben, weil sie eine ähnlichkeit, eine annäherung gefühlt. Aber das
„wunderbare lied" nahm überall eine übernatürliche einwirkung
der Vorsehung an, die freilich dem sechszigj ährigen fern lag. Huma-
nus wurde vom geiste hierher getrieben, die übrigen kamen alle in
höherm alter hierher, indem sie einer inneren stimme folgten, wie auch
bruder Markus durch „erhabenen antrieb" bestimmt wurde, nach einer
angegebenen richtung zu wandern, bis er zu einem orte gelange, wo
eine segensreiche bestimmung seiner warte. In ähnlicher weise ergeht
in John Bunyans „The pilgrims Progress", der auch in frommen deut-
schen kreisen ein weitverbreitetes erbauungsbuch war, an Christman
der ruf der Vorsehung, die heimat und die seinigen zu verlassen, und
ostwärts nach der goldenen stadt zu wandern, sich weder durch berge,
abgründe noch ströme auf seinem wege hemmen zu lassen. Ygl. meine
Erläuterungen zu Schillers lyrischen gedichten, heft 6, 34 fgg. Merk-
würdig ist von dieser übernatürlichen einwirkung, diesem grund und
boden der ganzen dichtung, in Goethe's späterer erklärung fast gar
keine rede. Auch Baum gart beachtet sie nirgendwo.
Mit der unserer dichtung fremden annähme von einsiedeleien auf
den berggipfeln hängt Goethe's versuchte ausbildung des planes zusam-
men, wonach jeder der zwölfe, mit denen allen Humanus im laufe der
Zeiten in berührung gekommen, von einem teil seines grossen lebens-
wandels nachricht und auskunft geben könne, wobei er ohne zweifei
annahm, jeder sollte dies tun, so dass uns dui-ch alle zwölfe zusam-
men ein volles bild seines lebenswandels gegeben werde, was ebenso
unkünstlerisch als ausserordentlich schwer auszuführen sein möchte.
Übersehen ist dabei (was auch Baumgart nicht beachtet), dass ausser
den zwölf augenblicklich hier weilenden brüdern früher auch andere,
hier gestorbene, zum bunde gehört. Dies ergibt sich aus der klage
des alten 130 fg.: schon viele sind hier vor ihm hingegangen, aber den
-GOETHES GEHEIMNISSE 487
tod von keinem hat er so bitter beklagt, wie er das drohende abschei-
den des Humaniis empfindet. Demnach wäre die apostelzahl zwölf
nicht als feststehend zu fassen, oder man müsste annehmen, die Vor-
sehung habe beim tode eines der brüder einen anderen nach dem Hu-
manuskloster gesandt. Da aber Goethe sich erinnerte, dass „die
geheimnisse" auf die religiöse anschauung sich bezogen, so musste er,
so gut es gieng, dies mit den „denk- und empfindungsweisen" der
verschiedensten Völker und mit Humanus als vermittler und vorbild
verbinden. So fuhr er denn etwas gezwungen fort: „Hier würde sich
dann gefunden liaben, dass jede besondere religion einen moment ihrer
höchsten blute und frucht erreiche, worin sie jenem obern vermittler
sich angenaht, ja sich vollkommen mit ihm vereinigt. Diese epochen
sollten in jenen zwölf repräsentanten verkörpert und fixiert erscheinen,
so dass man jede anerkennung gottes und der tugend, sie zeige sich
auch in noch so wunderbarer gestalt, doch immer aller ehren, aller
liebe würdig müsste gefunden haben. Und nun konnte nach langem
zusammenleben Humanus gar wol von ihnen scheiden, weil sein geist
sich in ihnen allen verkörpert, allen angehörig, keines eigenen irdi-
schen gewandes mehr bedarf" "Wäre diese wunderliche begründung des
hauptpunktes, des scheidens des Humanus und seiner ersetzung, rich-
tig, so würde man gar nicht begreifen, weshalb ein ihm und den
zwölfen so unähnlicher Vertreter wie Markus an diese stelle träte. Goethe
glaubte aber hier auch noch des angenehmen eindrucks gedenken zu
müssen, den die vollendete dichtung gemacht haben würde. „Wenn
nun nach diesem entwurf der hörer, der teilnehmer durch alle länder
und Zeiten im geiste geführt, überall das erfreulichste, was die liebe
gottes und der menschen unter so mancherlei gestalten hervorbringt,
erfahren, so sollte daraus die angenehmste empfindung entspringen,
indem weder abweichung, missbrauch, noch entstellung, wodurch jede
religion zu gewissen epochen verhasst wird, zur erscheinung gekommen
wäre." Wie ein wandeln durch die zellen der zwölf ein solches bild
in einen fasslichen rahmen hätte schliessen können, ist schwer vorzu-
stellen und die im bruchstück gegebenen andeutungen deuten auf etwas
ganz anderes, auf das, was im innersten des klosters geschieht.
Seltsam ist es, wie Goethe darauf gerade diesen besuch bei allen zwölfen
als die handlung bezeichnet; denn unmittelbar darauf heisst es: „Ereig-
net sich nun diese ganze handlung in der karwoche, ist das hauptkenn-
zeichen dieser gesellschaft ein kreuz, mit rosen umwunden, so lässt
sich leicht voraussehen, dass die durch den ostertag besiegelte ewige
dauer erhöhter menschlicher zustände auch hier beim scheiden des
488 DÜ.NTZER
Humanus sich tröstlich würde offenbaret haben." Davon, dass die
handlung in der karwoche spiele, findet sich im bruchstücke nicht die
geringste andeutung, was unmöglich wäre, wenn darauf gewicht gelegt
wäre, und wie darin, dass Humanus am ostertage stirbt, wo der Hei-
land aus dem grabe stieg, „die ewige dauer erhöhter menschlicher zu-
stände sich offenbare", ist schwer zu erkennen, da die auferstehung
nur die göttlichkeit des Heilands bezeugt, höchstens auch noch als Wahr-
zeichen unserer eigenen auferstehung am jüngsten tage gelten kann.
Doch liegt auch hier vielleicht eine wirkliche, aber ungehörig ver-
wandte erinnerung zu gründe, da ein bedeutender teil des bruchstücks
in der karwoche gedichtet ist. Die eigentliche handlung ist nicht der
besuch von Markus bei allen zwölf brüdern, sondern dessen von der
Vorsehung bestimmte Sendung bis zur einsetzung als Stellvertreter des
Humanus bei dem bunde des rosenkreuzes. Aber gerade darüber hören
wir in Goethe's späterer erklärung nichts neues. Es heisst nur: „Da-
mit aber ein so schöner bund nicht ohne haupt- und mittelsperson
bleibe, wird durch wunderbare Schickung und Offenbarung der arme
pilgrira bruder Markus in die hohe stelle eingesetzt, der ohne ausge-
breitete umsieht, ohne streben nach unerreichbarem durch demut, erge-
benheit, treue tätigkeit im frommen kreise gar wol verdient, einer
wolwollenden gesellschaft, so lange sie auf der erde verweilt, vorzu-
stehen." Der gegensatz zwischen Humanus und Markus ist in der
dichtung selbst angedeutet, da die erzähl ung von seiner sendung auf
die brüder so wirkt, „wie tiefe Weisheitslehren von kinderlippen", und
er ihnen an Offenheit, an Unschuld der geberde ein mensch von einer
anderen erde scheint, während Humanus durch wunderbare begabung
von der Vorsehung ausgezeichnet ist und zugleich „der edelste und
beste mensch" ist, dem die höchste kunst gelungen, bei allem feurigen
vorwärtsstreben „sich selbst zu überwinden". In dieser den schluss
bildenden haupthandlung muss die bedeutung der dichtung liegen, diese
kann nicht damit erschöpft sein, dass Markus diese berufung „gar wol
verdient". Am Schlüsse der erklärung heisst es: Wären die „Geheim-
nisse" damals vollendet erschienen, so würden sie der zeit einiger-
massen vorgeeilt sein (was insofern auffallen könnte, als sie erst nach
Lessing's tode begonnen wurden), doch auch noch gegenwärtig, obgleich
in den letzten dreissig jähren die ideen sich erweitert, die gefühle
gereinigt, die ansichten aufgeklärt hätten, „würde man das nun allge-
mein anerkannte im poetischen kleide vielleicht gerne sehen und sich
daran in den gesinnungen befestigen, in welchen ganz allein der
mensch auf seinem eigenen Montserrat glück und ruhe finden kann."
GOETHES GEHEIMNISSE 489
Was er unter dem „mm allgemein anerkannten" verstehe, deutet er
nicht an; er kann nur die Überzeugung gemeint haben, dass die wahre
religion in dem streben bestehe, edel und gut im leben zu wirken, wie
er es in der ode „Das göttliche" ausgeführt hat. Allgemein anerkannt
war dies freilich auch nach den befreiungskriegen nicht.
Hiernach kann Goethes mit dem bruchstück selbst in widersprach
stehender versuch, den ihm verloren gegangenen faden widerzufinden,
ebensowenig auf Zuverlässigkeit ansprach machen, wie der später ent-
wickelte angebliche entwurf des „Ewigen Juden" (vgl. Ztschr. XXV,
302). Baumgart glaubt an die Zuverlässigkeit dieses so kühnen wie
unglücklichen Versuches, und baut darauf weiter, wenn er auch nicht
wagt, die angeblichen zwölf religionen nachzuweisen, sondern sich
damit begnügt, dass sie die gesammte religionsgeschichtliche entwick-
lung in ihren wichtigsten phasen dargestellt, das Christentum mit seiner
vielgestaltigen, weithin ausgebreiteten und in vielen partien so deut-
lich vor uns liegenden entwicklungsgeschichte nicht auf einen einzigen
Vertreter beschränkt gewesen sein könne, wie er eine solche aus-
drücklich für den katholicismus und Calvinismus ausgewittert zu haben
glaubt.
"Wenden wir uns zu der vorliegenden gleichzeitigen Überlieferung
der entstehung unserer dichtung, so vermissen wir bei Baumgart die
philologische genauigkeit, ohne welche wesentliche Irrtümer unvermeid-
lich sind; er hat bedeutende äusserungen nicht beachtet, andere miss-
verstanden. Wir übergehen den am 8. august 1784 zu Dingelstadt, wo
Goethe auf der reise nach dem Harze wegen des bruches der achse
seines wagens einige stunden weilen musste, gedichteten prolog, den
er sofort an Herder nach Weimar sandte; dieser sollte ihn der in
Kochberg weilenden frau von Stein mitteilen. In Herders abschrift
liegt uns diese ursprüngliche fassung vor. Hier trat am Schlüsse
die beziehung auf Herder und frau von Stein, denen man nur noch
Knebel hinzufügen kann, als vertrauteste herzensfreunde deutlicher her-
vor, aber es fehlt jede andeutung, dass er „unter ihrer reichen und
vielseitigen förderung jenes unvergleichliche Wachstum seines wesens
und seiner kraft erlebt hatte", das Baumgart hereingetragen. Goethe
hatte Herder und frau von Stein, letzterer ganz besonders, den prolog
gewidmet, weil er ihnen das gedieht über die wahre religion ver-
sprochen. Die idee zum erscheinen der Wahrheit, die ihm der dich-
tung Schleier erteilt, hatte er zu Jena an einem der tage vom 25. juli
bis zum 2. august gefunden, als er dort die sonne den dichten morgen-
nebel in wunderbar ihn ergreifender weise durchbrechen sah.
490 ■ DÜNTZER
Am 13. august schrieb er aus Zellerfeld im Harz: „Ich denke
fleissig an den plan des gedichtes [dessen prolog er gesandt hatte] und
habe ihn schon um vieles reiner. "Wenn uns regenwetter oder sonst
ein Zufall begegnet, so fahre ich gewiss fort. Ich kann dir A^ersichern,
dass ich ausser dir, Herder und Knebel durchaus kein publikum habe.
Aber bei seinem leidenschaftlichen eifer, sich die mannigfaltigen fels-
bildungen des Harzes zu eigen zu machen, konnte er zunächst am
gedichte nur hin- und hersinnen. Einen der von Braunschweig aus
auf wünsch der frau von Stein französisch geschriebenen briefe schloss
er am 23. mit folgender deutschen stanze, die in dem gedichte stehen
sollte, das er „so sehr liebe", weil er darin „von ihr, von seiner liebe
zu ihr unter tausend formen sprechen könne, ohne dass irgend einer
als sie allein es verstehe":
Gewiss ich wäre schon so ferne, ferne.
So weit die weit nur offen liegt, gegangen.
Bezwängen mich nicht übermächt'ge sterne,
Die mein geschick an deines angehangen,
Dass ich in dir nur erst mich kennen lerne.
Mein dichten, trachten, hoffen und verlangen
Allein nach dir und deinem wesen drängt,
Mein leben nur an deinem wesen hängt.
Unglaublich scheint es, Goethe habe ernstlich daran gedacht, diese
stanze, die das gefühl seiner unzertrennlichkeit von der freundin so
ergreifend ausspricht, in das gedieht von den mittelalterlichen rosen-
kreuzern aufzunehmen; unter dem launigen verwände, die verse, zu
denen ihn die Sehnsucht nach der geliebten gedrängt, gehörten zu dem
versprochenen religionsgedichte, ergriff er die gelegenheit, sie dieser zu
übersenden. Wenige tage später heisst es in einem weiteren briefe:
„Ich habe wider einige Strophen des gedieh ts geschrieben, das mir
eine grosse erholung ist, wenn ich ferne von dir bin. Welche freude
werde ich haben, wenn du damit zufrieden bist; denn für dich schreibe
ich es. Das wenige, was du in deinem vorigen briefe darüber [über
den prolog] gesagt hast, hat mir unendliche freude gemacht." Nun
hat Scholl sehr glücklich vermutet, die stanzen, aufweiche diese äusse-
rung gehe, seien die drei, die sich im nachlass der frau von Stein auf
zwei blättern von Goethe's band gefunden, wovon die zweite des ersten
blattes die zweite unserer „Geheimnisse" ist. Die blätter wird er
seinem briefe beigelegt haben. Im jähre 1820 erschien in „Kunst und
altertum" unmittelbar nach dem von Goethe für noch ungedruckt ge-
GOETHES GEHEIMNISSE 491
haltenen gedichte „Die glücklichen galten ", hier „Für's leben" über-
schrieben, die stanze:
Denn was der mensch in seinen erdeschranken
Yon hohem glück mit götternamen nennt,
Die harmonie der treue, die kein wanken,
Der freundschaft, die nicht zweifelsorge kennt.
Das licht, das weisen nur zu einsamen gedanken.
Das dichtem nur in schönen bildern brennt.
Das hatt' ich all in meinen' besten stunden
In Ihr entdeckt und es für mich gefunden.
Sie trug hier die Überschrift „Für ewig" und es folgten die wol dadurch
veranlassten verse an frau von Stein „Zwischen beiden weiten". Die
ausgäbe letzter band gab im letzten verse ihr statt des handschrift-
lichen Ihr. Baumgart war verwegen genug, für Ihr oder ihr zu
setzen Euch und ebenso eigentümlich zu behaupten, für Euer schiebe
sich dich ein, alles nur zu gunsten seines einfalls, die stanze sei als
begründung der letzten des prologs, der jetzigen „Zueignung", gedich-
tet. Um das mass philologischer Sünden zu füllen, wird die stanze
des prologs nicht in der ursprünglichen gestalt von 1784, sondern in
derjenigen angeführt, die sie erst in Italien erhielt. Ursprünglich
schloss der prolog mit dem ruf an die freunde:
0 kommt mit mir und bringt mir reichen sogen.
Mit dem allein mein leben ihr beglückt.
Geht froh mit mir dem nächsten tag entgegen:
Noch leben wir, noch wandeln wir entzückt,
Und auch dann soll, wenn enkel um uns trauern,
Zu ihrer lust noch unsre liebe dauern.
Dass unmittelbar darauf jene stanze habe folgen können, scheint mir
geradezu abenteuerlich, wenn man auch wirklich das feststehende Ihr
in Euch verwandelt; auch heisst es, den offenbaren sinn der stanze
verkehren, wenn man in ihrer zweiten hälfte den Übergang zu den
„Geheimnissen" sieht. Baumgart behauptet, „sicherhch" habe Goethe
erst 1820 das ursprüngliche dir in ihr geändert. Aber wie will er
beweisen, dass das blatt, worauf die verse in deutschen buchstaben
sich finden (es ist noch vorhanden), so spät geschrieben sei? Freilich
ist es auch unmöglich, nicht bloss des ihr wegen, dass sie, wie man
angenommen hat, unmittelbar auf die stanze „Gewiss ich wäre" ge-
folgt: sie ist für sich trotz des beginnenden „Denn" entstanden.
Überraschen muss es, wie nach Baumgart an den schluss jener
stanze „Für ewig", an die beteurung, in seinen besten stunden habe
49 '2 DüNTZER
er in jener einzigen das göttliche glück gefunden, sich die stanze „Ge-
wiss, gewiss" unmittelbar angeschlossen haben soll, „mit oder ohne
welche das gedieht folgerichtig weiter zur ankündigung des liedes
selbst fortschreite", das „jenes licht der erkenntnis in reichen bildern
den freunden in mannigfach wechselnden färben kunstroU geordneter
brechung widerspiegeln soll". Der sprung von frau von Stein auf die
Zuhörer wäre gar zu auffallend, während nach dem jetzigen treffenden
abschlusse durch die anrede an die freunde das gedieht ganz zweck-
mässig mit der ankündigung des ernst wunderbaren liedes beginnt,
da ein Übergang unnötig war. Wie Baumgart hier von einer „unter-
brochenen Publikation" sprechen kann, sehe ich nicht. Die erste ein-
leitungsstanze bezeichnet ausser dem wunderbaren Charakter des das
unmittelbare eingreifen der band der Vorsehung voraussetzenden liedes
den mannigfachen Inhalt, der abzuschweifen scheinen könne, aber sei-
nem ziele beständig zustrebe und eine wichtige mahnung dem zuhörer
gebe; vom „widerspiegeln in mannigfach wechselnden färben kunstvoll
geordneter brechung" ist hier keine andeutung. Übrigens scheint es
mir ebensowenig wahrscheinlich, dass Goethe ernstlich diese stanze für
sein grosses gedieht bestimmt habe, wie ich es von der stanze „Gewiss
ich wäre" annehmen kann.
Die zweite stanze des liedes, die wir schon auf dem zweiten
jener blätter finden:
Doch glaube keiner, dass mit allem sinnen
Das ganze lied er je enträtseln werde;
Gar viele müssen vieles hier gewinnen.
Gar manche bluten bringt die mutter erde.
Der eine flieht mit düsterm blick von hinnen,
Der andre weilt mit fröhlicher geberde;
Ein jeder soll nach seiner lust geniessen.
Für manchen wandrer soll die quelle fliessen,
deutet auf den verborgenen sinn, den keiner ganz verstehen werde,
doch bringe es für die verschiedensten neigungen etwas erfreuliches.
Sie gehört eben nicht zu den gelungenen und wahrhaft gehaltvollen,
gewinnt auch keineswegs durch Baumgart's willkürliche beziehung auf
„die einzigartige auffassung des innersten wesens der religion, die auf
der einen seite ebenso philosophisch frei von allen schranken der be-
kenntnisse erscheinen konnte, als auf der andern mystisch gläubig
gegenüber ihren mythen und Symbolen, und die so der freudigen auf-
nähme der einen ebenso sicher sein konnte als der heftigen ablehnung
der anderen, einer gewissen befremdung sich zunächst aber bei allen
GOETHES GEHEIMNISSE 493
versehen musste". Von alle dem sehe ich keine spur. Ebensowenig
kann ich zugeben, es habe im plane der dichtung gelegen „in hervor-
ragenden Zügen der mythischen Überlieferung eine jede religion gewis-
ser massen ihr eigenes Avesen aus sich selbst heraus zeichnen zu lassen,
indem die kunst der darstellung gleichsam wie durch den feinsten
schliff das verborgene feuer des edelsteins zur leuchtkraft brachte".
Die zwölf verschiedenen religionen beruhen ja, wie wir sahen, auf
einem sonderbaren einfalle des sechszigjährigen, sich selbst erklärenden
dichters, dessen schlussbemerkimg aber weit entfernt ist, dasselbe zu
sagen, was Baumgart behauptet, wie dieser vorgibt.
Noch haben wir der dritten stanze zu gedenken, die in Goethe's
handschrift auf dem zweiten, im august 1784 an frau von Stein ge-
sandten blatte steht:
"Wohin er auch die Blicke kehrt und wendet.
Je mehr erstaunt er über kunst und pracht;
Mit Vorsatz scheint der reichtum hier verschwendet;
Es scheint, als habe sich nur alles selbst gemacht.
Soll er sich wundern, dass das werk vollendet?
Soll er sich wundern, dass es so erdacht?
Ihn dünkt, als fang' er erst mit himmlischem entzücken
Zu leben an in diesen augenblicken.
Als Goethe im vierten bände der ausgäbe letzter hand viele noch
ungedruckten gedichte unter der Überschrift: „Inschriften, denk- und
Sendeblätter" erscheinen liess, gab er gegen den schluss auch unsere,
auf einem besonderen blatte ohne Überschrift gefundenen verse. Es
ist ein leidiges versehen, wenn wir bei Baumgart lesen: „Die strophe
ist mit dem datum 15. märz 1816 veröffentlicht." Nicht dieses gedieht,
sondern das zunächst vorhergehende trägt mit recht die Überschrift:
„Bilderscenen. Den 15. märz 1816 bei freiherrn von Helldorf." Mit
diesem versehen fällt auch die darauf gegründete Vermutung. Im
Inhaltsverzeichnis heisst das gedieht „Anzuwenden", was bedeuten soll
man könne die strophe als bezeichnung jeder vollendeten kunstdarstel-
lung gebrauchen, wie es z. b. jene lebenden bilder bei Helldorf gewe-
sen waren. Die früher als jene Inhaltsangabe geschriebenen „aufklä-
renden bemerkungen" nennen unsere stanze „ein bruchstück, das aber
der denkende anzuschliessen wissen wird." Das kann nur heissen, der
leser werde sich eine beziehung derselben, einen Zusammenhang, in
welchen sie passten, leicht denken. Seltsam äussert Baumgart: „Was
hätte den dichter bestimmt, erstlich die strophe [beim drucke der „Ge-
heimnisse"] fortzulassen, und sodann sie nach so langer zeit getrennt
494 DÜNTZEE
bekannt zu geben, die, wenn sie lediglich descriptiver natur wäre (?),
auf eine bedeutung, aus der sich für den denkenden eine beziehung
ergäbe, keinen anspruch hätte!" Er hätte doch sich selber sagen sollen,
dass der dichter, dem es darauf ankam, von der ausgäbe letzter band
nichts mitteilbares auszuschliessen, was sich in seinem archiv fand,
durch jene bemerkung die aufnähme dieser abgebrochenen stanze ent-
schuldigen wollte. Aber Baumgart fragte nicht einmal, wo und wann
Goethe sie habe drucken lassen. Er meint, der dichter habe sie bei
Veröffentlichung des bruchstücks weggelassen, weil sie die Vollendung
des ganzen voraussetze [doch nicht mehr, als es die erste stanze tut],
dagegen habe sie nachträglich für die Würdigung des ganzen, zumal
nach seiner erklärung, doch immer ihre bedeutung gehabt. Dann
aber hätte Goethe doch ausdrücklich bemerken müssen, sie habe zu
den „Geheimnissen" gehört, was er kaum noch wusste oder nicht für
bedeutend genug hielt.
Noch erstaunlicher ist es, wie Baumgart unsere stanze unmittel-
bar auf die zweite der „Geheimnisse" folgen lässt, auf den vers „Eür
manchen wandrer soll die quelle fliessen", wonach der er dieses ver-
ses der wanderer wäre, der mit fröhlicher geberde verweilt und mit
lust der im liede ihm fliessenden quelle geniesst, was ein offenbares
missverständnis des bildlichen ausdrucks von dem am quell sich laben-
den Wanderer voraussetzt. Ygl. Klopstock in der ode Mein wissen:
„Ist wie ein trunk, im kühlen geschöpft aus der quelle." Geradezu
unmöglich scheint es mir, die stanze von einer vorgetragenen dich-
tung, und dazu von einer eigenen zu verstehen: erscheint sie ja nicht
bloss als volltönendes lob des reichtums und der pracht, sondern es
ist von einem menschliche kunst übersteigenden werke die rede. Aber
unser erklärer wird gerade durch das nicht bloss im ersten augenblick
befi'emdende in seiner annähme bestätigt, das lied solle nicht eigene
erdichtung bringen, sondern in der fülle der wundervollsten schätze
der phantasie alle Völker und zeiten, die es wie absichtslos hinstreue,
dem erhabensten ziele näher kommen. Wäre dies auch wahr, was wir
als entschiedene missdeutung abweisen müssen, die stanze spricht von
einer alle menschliche kunst übersteigenden, himmlischen Vol-
lendung und ganz einziger vortrefflichkeit des erdenkens. Freilich
darin hat Baumgart recht, dass sie nicht in unsere jetzige dichtung passt
und weder nach stanze 7 noch nach 36 ihre stelle gehabt haben kann,
aber er übersieht, dass sie in den august 1784 fällt, in die zeit, wo
Goethe zwar einzelne stanzen versuchte, aber nicht die fortschreitende
ausarbeitung von anfang an sich vorgesetzt hatte, er nur daran sann.
GOETHES GEHEIMNISSE 495
höchstens hie und da eine stanze ausführte, die sich meist auf frau
von Stein bezogen. Hier scheint der dichter, dem wunderbaren Cha-
rakter der einen unmittelbaren einfluss der Vorsehung voraussetzenden
dichtung gemäss, das kloster als einen von jener selbst übernatürlich
geschaffenen bau sich gedacht zu haben, ähnlich wie den tempel des
gral auf dem Mont Salvage. In der erläuteriing von 1816 nennt er
ihn noch „ein herrliches gebäude". Bei der ausführung wurde dessen
äussere beschreibung ganz übergangen, nur das rosenkreuz über dem
bogen der pforte geschildert.
Auf die „Geheimnisse" habe ich selbst früher die stanze bezo-
gen, welche 1820 in „Kunst und altertum" auf der rückseite des be-
sondern titeis „Litterarische, poetische mitteilungen" als motte steht:
Unmöglich ist der tag dem tag zu zeigen.
Der nur verworrnes im verworrnen spiegelt.
Und jeder selbst sich fühlt als echt und eigen.
Statt sich zu zügeln, nur am andern zügelt.
Da ist's den lippen besser denn zu schweigen,
Indess der geist sich fort und fort beflügelt.
Aus gestern wird nicht heute, doch aeonen,
Sie werden wechselnd sinken, werden thronen.
Baiimgart ist mir darin gefolgt, nur meint er, die „höchst persönliche
Schlusswendung" der beiden letzten verse habe Goethe damals durch
eine andere ersetzt, was sich auch daraus ergeben soll, dass die jetzige
aus dem gedankenzusammenhange und dem jugendfrischen ton der
sechs ersten herausfalle. Der gedanke dieser stanze solle den abschluss
der ankündigung des so grossartig und hochsymbolisch angelegten lie-
des bilden, sie schliesse sich als ein „jedoch" an, dass er das licht,
das dem dichter in den geweihten stunden des ideentausches mit den
freunden aufgegangen sei, auch den mitlebenden, den brüdern zeigen
wolle. Aber es wäre ein arger sprung, wenn die stanze an das über-
spannte lob des eigenen liedes anschlösse. Meine eigene Vermutung,
dass sie im prolog gestanden, nehme ich jetzt zurück, da die mittler-
weile bekannt gewordene ursprüngliche fassung gezeigt, dass sie sich
nicht darin gefunden, ja ich bezweifle überhaupt, dass die in der ausgäbe
letzter band „Heut und ewig" überschriebenen verse für die „Geheim-
nisse" gedichtet worden. Sie sind selbständig für sich entstanden, wie
so manche sprüche. Der stanzenform bediente sich Goethe auch 1817
in den „Urworten", die mit dem verse schliesseu: „Ein flügelschlag !
und hinter uns aeonen." Dass die schlussweudung zu dem anfang
der stanze nicht stimme, dass hier vielmehr gesagt sein müsse, wovon
496 DDNTZER
in jenem wunderbaren liede die rede sein werde, müssen wir entschie-
den abweisen. Der schluss führt aus, wie der geist sich immerfort
beflügle, die entwicklung zwar nicht über nacht geschehe, von gestern
auf heute, sondern in längeren Zeiträumen, in aufeinanderfolgenden
ungeheuer langen perioden. Aeonen werden wechselnd schwinden
und sich erheben, was an Schillers wort von dem lebendig über der
weit webenden höchsten gedanken, den, ob alles im ewigen Wechsel
kreise, im Wechsel beharrenden ruhigen geist erinnert.
Aber Baumgart hat einen hülfsbeweis entdeckt, dass alle vier
hier besprochenen stanzen zu unserem grossen gedichte gehörten und wir
darin alles besässen, „was Goethe bei der Zusammenstellung des bruch-
stücks weggelassen, weil es die ganz persönliche wendung enthalte
oder unmittelbar vorbereite (?)". Wir müssen diesen hülfssatz wörtlich
mitteilen, um seine haltlosigkeit und den mangel aller bei anführung
der Überlieferung nötigen philologischen genauigkeit zu zeigen. Wir
lesen s. 3fg. : „Riemer berichtet, dass von den „Geheimnissen" bis zum
märz [im Januar und märz] 1785 48 stanzen geschrieben worden, wäh-
rend das gedieht, wie es uns vorliegt, die zwei Avidmungsstrophen ein-
gerechnet, aus 44 stanzen besteht. Doch hat, wie es scheint, uns
Goethe diese vier gestrichenen Strophen nicht vorenthalten wollen,
deren Zurückhaltung, zum teil wenigstens, noch durch den zweiten
umstand veranlasst wurde, dass, wenn in seinem herzensgrunde er die
gesammte dichtung ganz ausschliesslich an die geliebte freundin rich-
tete, dies doch den übrigen freunden gegenüber nicht hervortreten
sollte." Hier beruht alles auf missverständnis, die rechnung ist falsch.
Schon die berufung auf Riemer statt auf dessen längst vorliegende quelle
fällt auf; wäre Baumgart auf diese zurückgegangen, so würde er auch
gewusst haben, dass Goethe nach den 48 noch drei weitere stan-
zen gedichtet hat. Und hätte er die entstehung des gedichts ge-
nauer verfolgt, so würde er gefunden haben, dass bei diesen 48 oder
vielmehr 51 stanzen nur diejenigen gezählt sind, welche er seit dem
anfange des Jahres 1785 gemacht hatte, wo er die fortlaufende arbeit an
den „Geheimnissen" begann, dagegen von den einzelnen, im august
1784, meist mit persönlicher beziehung auf frau von Stein, gedichteten
stanzen nur eine im gedichte aufnähme fand, also wirklich mehr als
vier der 1785 entstandenen stanzen beim drucke ausgefallen sind.
Die vier letzten monate des Jahres 1784 ruhte die dichtung der
„Geheimnisse" völlig, da Goethe nicht die gefasste Stimmung fand,
welche die ausfiihrung einer so bedeutenden arbeit notwendig forderte.
Auf dem Harze fesselte ihn die steinweit; leidenschaftlich sammelte er
GOETHES GEHEIMNISSE 497
die verschiedenen steinarten, ihre nähere betrachtung sollte ihn den
winter unterhalten. In Weimar und Ilmenau zogen ihn ganz andere
dinge an als diese hohe dichtung. Zunächst drängte es ihn, das
ursprüngliche fünfte buch von „"Wilhelm Meister" zu vollenden, woran
auch frau von Stein lebhaften anteil nahm. Am 16. Oktober konnte
er dieser melden, das fünfte buch sei fertig; am Schlüsse des monats
begann er das sechste. Vorher hatte er die bedeutende abhandlung
„Vom Zwischenknochen beim menschen" vollendet. In demselben monat
zog ihn der von Jacobi ihm in der handschrift geschickte dialog des
ihm persönlich bekannt gewordenen platonischen philosophen Hemster-
huis „Alexis ou de Tage d'or" an. Abends las er in dieser dichtung
mit der freundin, gegen die er sie „die Geheimnisse" nennt, „die mit
deinem geiste so viele Verwandtschaft haben". Er entsprach auch dem
würdigen tone, der freilich weniger empfindsam in seinem grossen
gedieh te herrschen sollte, für das er aber damals noch nicht diesen
namen bestimmt hatte. Daneben labte er sich an der „Ethik" des Spi-
noza, des heiligen der kleinen, aus ihm, Herder und frau von Stein
bestehenden gemeinde. Dichterisch fand er sich nur zu epigrammen
im geiste der griechischen anthologie aufgelegt. Am 19. dezember
fühlte er sich so wol, wie lange nicht in diesem seiner gesundheit
meist so ungünstigen monate. „Meine neue vorstellungsart trägt nicht
wenig dazu bei", schrieb er. Diese bezog sich auf die in allen drei
naturreichen übeinstimmend herrschenden gesetze.
Erst bei der Jahreswende, am letzten tage oder neujahr 1785,
scheint er frau von Stein das versprechen gegeben zu haben, täglich
eine stanze der „Geheimnisse" zu dichten, damit das ganze am ende
des Jahres vollendet sei. Den 4. Januar schrieb er dieser: „In die
komödie will ich dir folgen, wie überallhin. Gestern abend hab' ich
noch drei stanzen gemacht." Ob es die ersten des Jahres waren.
ergibt sich nicht. Das waren die ersten zeilen dieses Jahres an die freun-
din. Leider gehört dieser brief zu den vielen, die in der Weimarischen
ausgäbe, da sie undatiert überliefert sind, eine falsche Stellung erhalten
haben; er ist dort mit Fielitz wider alle möglichkeit in den märz oder
april gesetzt, auch der schluss falsch gelesen. Baumgart scheint den
brief gar nicht zu kennen. Dass er in den anfang des Jahres gehört,
zeigt schon die erwähnung des kornes und holzes, das die hofleute
jährlich von der kammer erhielten. Die holzlieferung, heisst es am
Schlüsse, werde er erinnern, wenn der herzog, der zu allgemeinem
Unwillen so lange von Weimar entfernt blieb, zurückkehre, was erst
am 11. Januar geschah. Der schauspieldirektor Bellomo spielte zu Wei-
ZEIXSCURIFT V. DEUTSCHE PiULOLOGIE. BD. XXVUI. o2
498 DÜNTZER
mar dienstags, donnerstags und sonnabends. Den 4. war theatervor-
stellung; am folgenden theaterabend lud Goethe frau von Stein und
Herder zu sich ein. In den weiter erhaltenen briefen an frau von
Stein vom 6., 9. und 11. ist der dichtung gar nicht gedacht; sie war
durch manches andere verdrängt; nur der Umgang mit frau von Stein
und Herder und seine „ naturstudien " gewährten ihm wahre freude,
dichterisch fühlte er sich am wenigsten gestimmt. Er litt an den
geschäften wie „an Ixions rad". Die teilnähme des herzogs am für-
stenbunde war ihm zuwider, und doch musste er bei den Verhandlun-
gen als geheimschreiber, ja als abschreiber dienen; er grollte Karl
August, der auch von der prinzenkrätze der kriegslust ergriffen sei,
und sein land zu gründe richten werde. Erst beim beginn des früh-
lings, in der karwoche, kehrte er, eben von einem zahnleiden befreit,
zu den „Geheimnissen" zurück. Am 22. märz schrieb er der freuu-
din: „Was ich ohne dich habe, ist mir alles nur verlust." Auf den
abend lud er sie und Herder nebst frau zu sich ein. Damals scheint
er der ersteren das versprechen erneuert zu haben, an den „Geheim-
nissen" fortzuarbeiten, jetzt täglich zwei stanzen zu dichten, so dass
die zahl der stanzen bald die der Jahrestage (am 22. waren es 81)
erreichen werde. In den vier tagen vom 23. bis zum 26. fehlen alle
briefe. Am morgen des 27., des ostertags, meldet er der freundin:
„Meine beiden verse hab' ich für heute gefertigt, bin nun bis ascher-
mittwoch [er war 1785 der vierzigste tag] gekommen. Die kinderei
hilft mir, und die leeren tage im kalender geben mir ein unüberwind-
liches verlangen, das versäumte nachzuholen. Tags darauf berichtete
er Knebel: „Auch bin ich wider fleissig an meinem grossen gedichte
gewesen, und bin bis zur 40. Strophe gekommen. Das ist wol noch
sehr im vorhofe. Das unternehmen ist zu ungeheuer für meine läge,
indessen will ich fortfahren und sehen, wie weit ich komme." Als
Goethe sich zur fortsetzung entschloss, dürfte das gedieht nur bis zum
empfange des bruders Markus im kloster fertig gewesen sein, bis zur
jetzigen 12. stanze; ostern war wol die lauge rede des alten (stanze
13 — 32) vollendet, am ostertage selbst 31 und 32 gedichtet. Dies
stimmt zur bezeichnung der 32. als der 40., bei der annähme, dass
die, wie wir sahen, bei der späteren Zusammenstellung weggelassenen
in den ersten teil der dichtung fallen; bestätigt wird sie durch das,
was wir von der fortsetzung hören. Nach einem briefe an frau von
Stein gelang dem dichter am 28. nur eine stanze; das wäre die ganz
für sich stehende stanze 33. Wenn Goethe am morgen des 2. april
Knebel berichtet: „Ich habe 48 stanzen an meinem gedichte, so müssen
GOETHES GEHEIMNISSE 499
vom 29. niärz bis zum 1. april acht neue entstanden sein, 34 bis
41. Den 2. april konnte er vor Schlafengehen noch drei stanzen „vor-
arbeiten", v^ie er in bezug auf das zurückbleiben hinter der zahl der
Jahrestage der freundin schreibt; es sind die enge zusammengehörigen
42 — 44. Bei seinem leidenden zustande und der halben Verzweiflung
an den Weimarer zuständen, da er fürchtete, die finanzen des landes,
die er mit anspannung aller kraft wider gehoben, würden durch Karl
Augusts auswärtige plane zu gründe gerichtet werden, konnte er zu
keiner ruhigen tätigkeit gelangen, am wenigsten seine so bedeutende
dichtung weiter führen. Bei der krampfhaften aufregung, an der er
litt, ist es nicht zu verwundern, wenn auch nicht alle wirklich gedich-
teten stanzen gelungen waren.
Baumgart hat nicht bloss von der wirklichen entstehung des gedich-
tes, wie sie in den briefen an frau von Stein nnd Knebel vorliegt, keine
ahnung, er entstellt sie noch durch einen unglücklichen einfall. Bei
erwähnung des zweiten hauptmotivs, das stanze 33 nur skizziert werde,
hören wir: „Es geht wol auf ,die Geheimnisse', was Goethe anfangs
juni 1785 an Herder schrieb: „Hier schick' ich dir, was du wol noch
nicht gelesen. Ich konnte es nicht einmal endigen, geschweige durch-
arbeiten; deswegen fehlt den versen noch hier und da das runde und
glatte." Freilich war der betreffende brief früher nach falscher Vermu-
tung in den juli, von der Weimarischen ausgäbe in den mai 1785
gesetzt worden, aber Suphan hatte schon 1881 in der bedeutenden
abhandlung „Goethe und Spinoza 1783 — 1786" nachgewiesen, dass
er ende 1783 gehöre, was Banmgart, wenn ihm jene abhandlung ent-
gangen war, im siebenten bände der Weimarischen ausgäbe der briefe
bemerkt finden konnte, wo er zum zweiten mal, an richtiger stelle,
gedruckt w^orden. Suphan hatte die äusserung in dem späteren aufsatze
„Ilmenau" auf das ebenso überschriebene gedieht bezogen. Dass die-
selbe gar nicht auf eine dichtung Goethes, sondern auf eine Übersetzung
aus dem arabischen geht, habe ich Ztschr. XXYII, 76 gezeigt. Von
diesem allen weiss Baumgart nichts. Wie haltlos, abgesehen von die-
ser zeitlichen Unmöglichkeit, seine Vermutung ist, mag ich nicht aus-
führen. Er aber bedenkt sich nicht, „in hohem masse ein solches prä-
liminarisches aussehen" in stanze 33 zu finden, besonders soll die
letztere den eindruck eines blossen füUwerkes hervorrufen; stellen der-
selben aus dem epischen ton herausfallen, weil der ausdruck schlicht
und einfach, freilich auch durch die reimnot etwas gezwungen, ja, man
kann es gestehen, weniger gelungen ist.
32*
500 DtJNTZEß
Ergibt sich so eine ganze reihe der aufstellungen Baumgarts als
folge des mangels an philologischer genauigkeit und offenbarer Irrtümer,
so ist leider auch das missverständnis des titeis des gedichts für
seine deutung verhängnissvoll geworden. „Die geheimnisse'' ist ein
Goethe gangbarer ausdruck für mysterien, geheimdienst. Am 24. juni
1781 schreibt er der frau von Stein: „Heute abend, ehe ich mich in
die Geheimnisse vertiefe, bringe ich dir meine Schlüssel*', wo die Jo-
hannisloge gemeint ist. Wenn er am 9. november mit frau von Stein
in den „Geheimnissen" lesen will, so ist, wie schon bemerkt, vom
dialog „Alexis ou de Tage d'or" des Hemsterhuis die rede. Unsere
dichtung erhielt diesen namen erst, als Goethe sie zum drucke bestimmte.
Herders gattin, die sie längst kannte, nennt sie, als sie ihrem gatten
am 12. September 1788 berichtete, Goethe habe im Lengefeld'schen
hause zu Rudolstadt in Schillers gegenwart das bruchstück hergesagt,
„Das gedieht von den rosenkreuzern", wie es Goethe selbst genannt
haben wird. Ton seinen edlen rosenkreuzern sollte die allgemeine Ver-
breitung der wahren christlichen Sittenlehre ausgehen. Das gedieht fiel
in die zeit, wo der gehemmissvolle orden der rosenkreuzer sehr viel
von sich reden machte, wo die Schriften „Der rosenkreuzer in seiner
blosse zum nutzen der Staaten dargestellt" und „Der im Licht der weit
dargestellte rosenkreuzer, allen lebenden menschen hingestellt" lebhafte
aufmerksamkeit erregten. Aber Baumgart behauptet, in demselben
sinne, wie Herder in den „Ideen" (IX, 5) von der „Geschichte
aller geheimnisse auf der erde" spreche [ähnlich geht dort kurz
vorher „in allen religionen der erde"] habe Goethe Die geheimnisse
zum thema und zur Überschrift [?] seines grossen gedichts gewählt, sei
es nun, dass in geheim in bezug darauf die stelle der „Ideen" ge-
schrieben worden [frühestens im februar 1785, während der erste ent-
warf von Goethes dicbtung fünf monate älter ist], sei es, dass aus
ihren gesprächen über diesen gegenständ beiden freunden die bezeich-
nung in diesem sinne sich festgestellt hatte". Aber bei Herder
ist geheimnis gleichbedeutend mit religion, religiöse tradition,
lehre vom überirdischen, unsichtbaren, nicht mit symboj;
denn eben dieses wertes bedient sich Herder regelmässig. In Goethes
gedieht kommt Geheimnis nur einmal vor, 77, wo es den unter dem
bilde verborgenen sinn, nicht einen übernatürlich offenbarten glaubens-
satz über das weseu gottes, auch nicht, wie Baumgart sich ausdrückt,
„das geheimnis der klostergemeinschaft, der die Sendung des Markus
gelte", bezeichnet. Vom tode des Humanus heisst es, er sei geheim-
nissvoll (lllj. Bruder Markus verlangt zu wissen, was manches bild
GOETHES GEHEIMNISSE 501
verhehlt (278). Auch ist vom erraten des unter dem bilde verbor-
genen (305 — 309), von der verdeckung der bedeutung durch teppich oder
flor (315 fg.) die rede. Sonderbar wäre es auch, wenn ein gedieht, das
sich auf das „aufgeben der Symbole" beziehen solle, die Überschrift
„Die geheimnisse" führte. Der titel bezeichnet offenbar den geheim-
dien st der hier in das mittelalter verlegten rosenkreuzer, die von der
Vorsehung bestimmt sind, die reine, segensreiche christliche Sittenlehre
zu verbreiten; „die geheimnisse" waren als eine grosse geistliche dich-
tung vom mittelalterlichen Wunderglauben gedacht.
Verfehlt war es, bei der frage nach dem Inhalt der rätselhaften
dichtung von dem titel, statt von der haupthandlung auszugehen, welche
die von der Vorsehung beschlossene einsetzung des schlichten bruders
Markus beim tode des Humanus ist, eines durch geistige tüchtigkeit
und hohe einsieht ausgezeichneten beiden von mächtigster Willenskraft.
Baumgart sieht ein, wie wenig Goethes eigene deutung von 1816 das
dunkel aufhellt, aber erst nachträglich geht er an die lösung der haupt-
frage, die er denn ohne glück versucht, nachdem er sich den blick
durch seinen voreiligen einfall getrübt hat. Es ist doch gar zu wun-
derlich, wenn der tod des Humanus dadurch begründet wird, dass
die Symbole der christlichen religion schwinden sollen. Ist denn Hu-
manus mit den zwölf alten, die sich aus der weit zurückgezogen haben,
im stillen gott zu dienen, ein Vertreter der Symbole, hat es ihn nicht
vielmehr gedrängt, im reineren sinne Christi lehre zu üben, die nach
Goethes ansieht nicht die nach der fassung der zeit und des volkes
gemachte Offenbarung über gott und die erlösung der menschen, son-
dern die sittliche lehre der Selbstüberwindung und der liebe aller men-
schen als brüder war, wonach er auch behaupten durfte, er sei ein
wahrerer christ als die meisten, die sich so nennten. Baumgart hilft
sich damit, dass die christlichen Symbole in dem engen kreise der
zwölf, demnach doch auch wol bei Humanus selbst, „die reinste geläu-
terte auffassung finden", gibt aber zu, dass der glaube an ihre ge-
schichtliche realität im schwinden begriffen (s. 60), was nicht dazu
stimmt, „dass die kleine gemeinde durch des Humanus tod sich mit
dem Verluste ihres schönsten glückes bedroht sieht, weil die vielgelieb-
ten Symbole dadurch unwiderbringlich dahin gehen sollen, ohne dass
den bitter leidenden die hoffnung auf einen tröstlichen ersatz sich zeigt"
(s. 57). Hier ist alles brüchig, wie das ganze hereintragen der Sym-
bole ein unglücklicher, haltloser einfall ist. Die trauer der brüder um
den tod ihres „vaters, freundes und führers" ist rein persönlich, nicht
allegorisch; der alte, der diese äussert, möchte selbst gern mit seinem
502 DÜNTZER
eigenen leben das seines geliebtesten freundes erkaufen. Es ist ein
ebenso grosser Irrtum, wenn Baumgart den alten von den zwölf aus-
nehmen will, als wenn er in ihm eine allegorie der tradition sieht, die
wir trotz der entzückung, mit der ihr erfinder davon spricht, für uner-
träglich steif halten. Der alte ist mit im kapitelsaale, wo nur dreizehn,
stülile sind, ausser dem mittlem des Humanus einer für jeden der
zwölf. Der dichter bedurfte eines Sprechers, der den fremden empfieng
und ihm über Humanus, dessen leben und drohenden tod berichtete,
später sein führer war; dazu wählte er einen herzen.sfreuud , der ihn
von Jugend an. kennt. Ob dieser sich nie von ihm getrennt, sondern
mit ihm sich zu dem von der Vorsehung bereiteten gebäude im ein-
samen tale getrieben fühlte, das wir uns wol weit im osten zu den-
ken haben, ist nicht zu bestimmen. Vorlängst habe ich bemerkt, dass
bei dem kloster wol Maria Einsiedeln in der Schweiz vorschwebt, wo
der prälat (er hiess Fürst) auf den tod krank lag, als Knebel es im
jähre 1780 besuchte, aber noch ihn durch den decanus, „einen heiligen
würdigen mann", zur tafel laden liess — ein von Goethe so einzig be-
nutzter zug. Hatte aber Humanus sich mit den seinigen dem reineren
Christentum in der einsamkeit geweiht, so erhebt sich um so dringen-
der die frage, was hat es zu bedeuten, dass Markus, ein einfacher
klosterbruder, ein ernsterer nachfolger von Lessings treuherzigem ge-
genbilde des aufgeblähten, herrschsüchtigen patriarchen im „Nathan",
von der Vorsehung zum Stellvertreter des Humanus berufen wird?
Nach Baumgart soll er „die erste nachfolge Jesu verkörpern, wie sie
als das wesen und der inlialt der christhchen religion bestehen bleibt."
Aber wie kann Markus dazu besser wirken als Humanus, worin soll
der gegensatz oder die fortentwicklung liegen? Als Sinnbild des Chri-
stentums, wie es Humanus aufgefasst, müssen wir doch das zeichen
auf der pforte des bogens betrachten, selbst wenn Humanus es schon
vorgefunden hatte. Das kreuz soll nicht auf die kreuzigung gehen,
wie es bruder Markus in gewohnter weise fasst, sondern auf die leiden
und mühen des lebens, aber die es umwindenden rosen deuten auf
lebensgenuss, da das leben kein jammerthal, die erde kein büssungsort,
das kloster kein ewiges Memento mori sein soll. Das rosenumgebene
kreuz wird zum himmel getragen, da der mensch im leben immer
fortstreben, „unermüdet schaffen" soll, wie wir es von der gottheit
selbst glauben (nach Goethes ode „Das göttliche"). Das dreifache, aus
der mitte quellende licht, das zeichen der dreieinigkeit, ist wol hier
als bild der drei christlichen tugeuden, glaube, hoffnung und liebe,
gedacht. Also herrscht ein reineres Christentum schon in dem kreise
GOETHES GEHEIMNISSE 503
des Humanus. Was kann da der schlichte, gottesfürchtige , trenherzige
Markus ändern? Nach Baumgart soll durch ihn, in stiller organischer
Wandlung die summe religiösen anschauens, fühlens und denkens, die,
ein produkt der gesammten menschlichen entwicklung, in der reinen
lehre Jesu enthalten ist, in ihrer einfachen gestalt an stelle der geheim-
nissvoll symbolischen unmittelbar sich geltend machon, durch ihre
innere hoheit das führerrecht für immer sich sichern. Die geheimnisse
schwinden, aber das geheimnis bleibt. Das grosse geheimnis der natur
und das grössere geheimnis des geistes, die beide doch nur ein ver-
schieden gefasster ausdruek für das eine grösste geheimnis, dass das
unbegreifliche uns gewissheit ist." Das wäre doch eine Wandlung, welche,
für des einfachen bruders Weisheit, die von kinderlippen schallt, viel
zu hoch; sie setzt eine Umwandlung von Markus selbst voraus, und
Humanus kommt dabei arg zu kurz, der längst auf den kern der
christlichen lehre gedrungen hatte, und mit einer hoheit dafür begei-
sterte, die seine kleine gemeinde der greise, die ein tatenvolles, erfah-
rungsreiches leben geführt hatten, hinzureissen wusste. Die aufgäbe,
die Markus zu lösen hatte, kann nur darin bestehen, dass er die
christliche geheimlehre, die bisher auf das kloster des Humanus be-
schränkt war, allgemein verbreitete, wozu gerade er, von Humanus
belehrt, auserkoren war. Diese ausbreitung der christlichen Sittenlehre,
die zugleich die wahre humanität, ohne die nichts fördernde, zu Schwär-
merei und Verworrenheit des geistes verleitende, vom leben und reiner
menschlicher entwicklung abführende Offenbarung, ergibt sich als ziel-
und endpunkt dei' „Geheimnisse", dieser glücklich erdachten legende,
die einen herzenswunsch des dichters auszusprechen bestimmt war, auf
dessen erfüUung er selbst nicht hoffte; es ist nur ein schöner träum,
dessen dichterische ausführung leider dem meister nicht gelingen sollte.
Aus der Schilderung der reden des bruders Markus im kloster, aus
stanze 12, hat Baumgart geschlossen, was sie gar nicht besagen soll,
dass von allen geheimnissen nur das eine höchste bleiben werde:
„dass die einfachheit das siege! der letzten Vollendung ist, dass sie aus
unschuldiger reinheit und offener Weisheit allein erwachsen kann und
dass, wie sie die frucht der lautern Selbstlosigkeit ist, aus ihr die
unendliche liebe quillt, welche die weit erlöst". Ebensowenig finden
wir in dem bruchstück eine andeutung, „dass, wenn solche gesinnung
das führeramt übernimmt, die ewige dauer wahrhaft christlicher reli-
giösität und religionsgemeinschaft erst recht besiegelt sein werde, weil
solche führerschaft den herrschenden streit aufhebe, und, was in aller
weit an echt religiösem sinne lebt, vereinend um sich sammle". Das
504 DÜNTZER
ist rein hereingetragen, dagegen die offenbar beabsichtigte Wirksamkeit
der Humanns -gemeinde unter Markus verkannt.
"Wirklich ausgeführt sind nur des bruders Markus von einer höhe-
ren stimme ihm aufgetragene reise, seine ankunft am abend beim klo-
ster, abendessen und abendandacht, endlich nach kurzem schlaf beim
grauen des morgens eine merkwürdige erscheinung. Der name des
bruders erinnert an den des schlichtesten, als missionar in Afrika be-
kannten evangelisten ^, aber wirklich scheint bei ihm der lieblingsjün-
ger des heilands, der an dessen busen gelegen , vorgeschwebt zu haben,
der immer aus vollem herzen sprach, an dessen „Testament", dass die
christliche liebe, die der herr befohlen, allein genüge, Lessing so ein-
drindich gemahnt hatte. Den namen Johannes scheint Goethe absieht-
lieh gemieden zu haben. Markus wird gleich als von der Vorsehung
gesandt bezeichnet; bloss dem geiste folgend gelangt er am späten
abend an das prächtige kloster. Das höchst verehrte christliche kreuz
erfüllt ihn mit ehrfurcht, aber die ihm noch neue weise, wie es hier
mit rosen umwunden, von wölken getragen imd vom lichte der drei-
faltigkeit erleuchtet sich zeigt, erregt in ihm erbauliche gedanken über
dieses hier ungewohnten sinn verbergende zeichen. Eingelassen mel-
det er, wie er auf den befehl höherer wesen hierher gekommen, was
man mit heiligem staunen vernimmt, ja man fühlt das herz dabei von
innerer gewalt ergriffen; alles, was er von seiner sendung erzählt, wirkt
wie weise lehren, sein ganzes offenes und treuherziges benehmen ist
völlig von dem aller menschen verschieden; er erscheint wie ein himm-
lisches wesen. Der Inhalt seiner reden konnte hier nicht ausgeführt
werden. Wir mussten zunächst über Humanus und seine genossen
belehrt werden, w^as dessen alter freund, der nur als greis bezeichnet
wird, in längerer rede tut, deren würdiger ton uns die in diesen räu-
men herrschende hohe gesinnung vergegenwärtigt. So erfahren wir,
1) Wenn Herder kurz vor der abreise Goethes nach Italien diesem in einem
Scherzbriefe an den herzog den Spitznamen des „evangelisten Markus" gibt (Schrif-
ten der Goethegesellschaft II, 369), so durfte Erich Schmidt dabei nicht an den
Bruder Markus der Geheimnisse denken. Vielmehr schwebt Goethes alter „Pro-
log zu Bahrdts Offenbarungen" vor, wo der evangelist Markus kurzweg den Giessener
Professor mit den worten: „Und wie und was verlangst denn du?" zur rede steht
und auf dessen weitläufige erkläining, ohne ein wort zu erwidern, ihn stehen lässt.
Matthäus bemerkt: „Johannes ist schon weggeschlichen Und bruder Markus [die evan-
gelisten nennen sich brüder] mit entwichen." Herder fand es ergötzlich, dass dieser
kürzeste evangelist hier so kurz gebunden ist (er allein spricht nur einen kurzen
vers, äussert sich nicht weiter), und ebenso kurz gebunden fand Herder den freund
falschen ansichten gegenüber, die ihm widerstanden.
GOETHES GEHEIMNISSE 505
dass der baldige tod ihres „vaters, freundes und führers" sie in sorge
und furcht setzt, aber der aublick des von höhern wesen gesandten
hat ihnen „trost und hoffnung gebracht, ihre seele erregt"; sie erwar-
ten von ihm eine lösung, da der bald von ihnen scheidende ihnen nur
verkündet hat, dass er in wenig zeit sich von ihnen trennen werde.
Wie alle als greise zu jenem „edlen manne" gekommen, dem friede
gottes in der brüst lebt (der redende selbst hat ihn auf des lebens
pfad begleitet), ist nur kurz angedeutet, auch nicht verschwiegen, wie
ausser dem persönlichen schmerze über den drohenden verlust, es sie
bekümmere, dass er keinen zum nachfolger sich bestimmt habe, was
auf die durch Markus in ihnen erregte hoffnung ein licht wirft. Täg-
lich kommt Humanus eine stunde zu ihnen, wo er aus seinem leben
erzählt, „in dem die vorsieht ihn so wunderbar geführt", aber mit aller-
grösster bescheidenheit, wde der freund weiss, der so manches als
augenzenge erlebte. Er wird als ein christlicher held dargestellt, auf
den schon vor und bei seiner geburt wunderzeichen hingedeutet, der
bereits als kind ungeheure kraft bewährt, auch einmal in der not das
wunder vollbracht, dass er mit dem Schwerte eine quelle aus dem star-
ren felsen schlug. Wenn wundergeschichten von ihm, wie von einem
heiligen, erzählt werden, so ist es nicht zu verwundern, dass der
dichter solche wählte, deren bekannte sagen gedenken, ja selbst anzei-
chen, die des heilands geburt verherrlichten und vom messias vorher-
gesagt Avorden. Dass dadurch „eine fülle der fruchtbarsten ideen auf-
geregt werde", kann ich Baumgart (s. 40) nicht zugeben, es galt nicht
durch mythische züge die einbildungskraft zu erfreuen, sondern das
bild des Humanus als eines gottbegnadeten mannes auszuführen. Aber
Humanus hat auch die sauerste probe des mannes bestanden, er hat
sich selbst überwunden, was an die verheissungen erinnert, die in der
Offenbarung Johaunis dem überwindenden gemacht werden. Bei aller
ihn mächtig treibenden kraft wusste er sich selbst zu beschränken, sei-
nes mutes herr zu sein, wie es in den Sprüchen Salomonis heisst.
Freilich hatte der vater ihn zum strengsten gehorsam, zu den niedrig-
sten diensten gegen andere gewöhnt, aber diese Unterwürfigkeit war
bei ihm kaum eine fügend, da sein herz ihn dazu trieb, anderen wol-
zutun, verwundete zu verbinden, kranken beizustehen. Gehorsam
gegen die eitern empfand er als sittliche pflicht, die er so rücksichtslos
übte, dass auch der rauhe und scharfe vater, der die als edlen ihm
gebührenden Vorzüge mit absieht ihm vorenthalten hatte, endlich nicht
mehr umhin konnte, des sohnes wert anzuerkennen und ihm die ehren
seines Standes zu gewähren, Auch hier legt Baumgart etwas hinein,
506 DÜNTZER
wenn er von dieser ausführung rühmt: „In symbolischer kürze und
wucht verkündet der dichter hier grundüberzeugimgen, an denen er
sein leben lang festhielt und auf die er auch im späteren alter gern
und ausführlich zurückkam. Es sind die fugenden der ehrfurcht, der
demut und des gehorsams, denen er für die sittliche und religiöse
erziehung den höchsten wert beilegte." Eine solche philosophische aus-
legung schädigt die dichterische und zugleich die Wahrheit. Auch sehe
ich hier keine „ganz allgemein gehaltene hindeutung auf hauptzüge
mittelalterlich -christlichen eutwicklung der europäischen menschheit",
dagegen hätte Baumgart hervorheben sollen, dass diese ausführung
zeige, unser gedieht spiele im mittelalter, das so manche ähnliche
fromme sagen trieb.
Die weitere erzählung seines lebens bricht hier zweckmässig mit
der bemerkung ab, es sei voll der köstlichsten geschichten, die in
dichtungen durch ihre unglaublichkeit und den reiz der darstelluug
orfreuen, der sie dem hörer als wirklich vorzaubert. Baumgart dage-
gen spricht hier von den Schönheiten des reichen schmuckes der phan-
tasie und der höheren Schönheit ihrer inneren unvergänglich für alle
zelten sich erneuernden Wahrheit, die sich im philosophischen sinne
der geschichte gleichstelle. Der alte schliesst mit der angäbe des
namens, Avelchen „der heilige, der weise" angenommen, den „das aug'
der vorsieht" sich ausersehen. Sein nanie Humanus deutet auf die
eutwicklung des menschen als das höchste ziel. Später, heisst es, solle
Markus auch dessen wirklichen namen, sein geschlecht und seine ahnen
erfahren. Der Übergang von der rede des alten zur mahlzeit ist frei-
lich etwas verkümmert, ja diese selbst ganz übergangen, nur das zeit-
weilige erscheinen der anderen brüder erwähnt, die, wie es sonderbar
heisst, jenem das wort aus dem munde nahmen. Wir finden stanze 32
um so auffallender, als die rede des alten wirklich abgeschlossen ist,
er gar nicht endete, wie es hier heisst, als gegen Markus „das herz
am stärksten quoll", sondern mit der nennung seines namens Hu-
manus.
Die folgende, die den Übergang bildet zum danke an gott und
seine wirte für das genossene mahl, weiter die bitte um wasser zum
trinken und das geleit zum kapitelsale enthält, wo die brüder ihre
abendandacht verrichten, leidet wenigstens zum Schlüsse am reimzwange.
Im kapitelsale tun wir einen zweiten blick in die einrichtung des klo-
sters. Jeder brüder hat einen besonderen stuhl mit einem schilde über
diesem, das geheimen sinn verkündet; auf dem von Humanus war das
rosenkreuz zu sehen. Über manchen Schilden hingen als zeugen des
I
GOETHES GEHEIMNISSE 507
ritterlebens in der weiten weit waffen aller art, auch fahnen und gewahre
fremder läuder, selbst ketten und bände, die auf krieg, letztere auf erlit-
tene gefangenschaft deuten. Die brüder beten und singen kleine andäch-
tige lieder; ehe sie zu kurzem schlafe sich trennen, segnen sie sich
mit frommen wünschen zu ruhigem schlaf, da keine irdische begierde
sie beunruhigt. Markus und der alte, der gleichsam als Vertreter des
im kapitelsale fehlenden Humanus erscheint, bleiben im sale; ersterer
wird von den Schilden zurückgehalten, deren verborgener sinn ihn
reizt, besonders zunächst rechts und links von dem in der mitte hän-
genden Schilde des Humanus; davon stellt das eine einen in wilden
flammen seinen durst stillenden drachen, das andere einen arm in eines
baren rächen dar, aus welchem heisses blut quillt. Hätte Baumgart
beachtet, was der alte dem bruder Markus sagt, er könne den sinn
derselben nicht erraten, da er nicht wisse, was mancher held getan,
doch ahne er wol, wie manches hier (von den brüdern, deren Schilde er
sieht), „gelitten, gelebt, verloren ward und was erstritten", so würde
er nicht gewagt haben , die beiden wappeu auf die heftigen kämpfe der
christlichen konfessionen zu beziehen, und zwar, weil die beiden
Schilde gleich weit von dem des Humanus gehangen (wie ohne zwei-
fei alle in gleichem abstand voneinander sich befanden), auf zwei vom
geläuterten Christentum des Humanus gleich weit entfernte „extrem
kontrastierende religiöse dispositionen". Als ob die betreffenden brüder
solche falschen auffassungen des Christentums in wappen des kapitel-
sals hätten verewigen wollen! Der drache deutet auf mordlust, die zu
wilden, blutgierigen kämpfen getrieben, der blutige arm auf die befreiung
der erde von untieren, von denen das mittelalter so viel fabelte, beide
auf die eigene Vergangenheit. So überraschend wie unglaublich ist
Baumgarts deutuug auf die angst vor dem geöffneten höllenrachen und
die quälen der wütenden gewissensbisse; diese sollen die katholische
lehre von der ewigen Verdammnis und Calvins Vorstellung der Meta-
noia bezeichnen, ja mit froher Selbstbefriedigung heisst es, der dichter
habe so, wie es überall seine art sei, schon in der spräche den vor-
handenen keim zur gestaltenbildung sich entfalten lassen. Wir sind
nicht so kühn, die spur davon zu ahnen.
Der alte schliesst damit: doch es handle sich in ihrem kloster
nicht bloss von der Vergangenheit, hier gehe auch noch manches vor;
sei Markus erst aus dem vorhof, über den er noch nicht hinausgekom-
men, ins innerste aufgenommen, dessen er ihm wert scheine, so werde
er dies erfahren. Damit ist auf die nächsten tage und das, was er
dort sehen werde, hingedeutet, auf die seiner noch wartenden geheim-
L
508 DÜNTZER
nisse des innersten. Wie Markus vom alten in seine schlafzelle gelei-
tet worden, sich niedergelegt und geschlafen habe, ist gleich dem mahl
am abend übergangen. Erst beim erwachen setzt der dichter wider
ein. Ein dumpfes geläute der bisher noch nicht erwähnten kirche
weckt ihii; als er ihm folgen will, wie er morgens gewohnt ist (er hat
schon sein morgengebet verrichtet), findet er die thüre seiner zelle ver-
schlossen. Ein starkes versehen ist es, wenn Baumgart vom schlösse
der kirche spricht. Was die drei letzten stanzen enthalten, kann
keine blosse vision sein , es ist eine wirkliche erscheinung, die Markus
erlebt. Ein dreimaliger schlag auf hohles erz, gemischt mit flötentönen,
seltsam und schwer zu deuten, erfreut das herz, ernst einladend, wie
wenn festliche tanze von gesängen belebt würden. Als er aber ans
fenster eilt, sieht er beim ersten grauen des morgens drei fackeltra-
gende Jünglinge eilig durch die gartengänge sich entfernen. Die weissen
gewänder liegen ihnen knapp und wol an, ihre locken sind mit blu-
menkränzen, der gürtel mit rosen umwunden; sie scheinen „recht
erquickt und schön" fortzueilen. Dann löschen sie ihre fackeln und
verschwinden in der ferne. Baumgart meint, die fackeln, welche sie
in die ferne hinaustragen, würden doch in der Übung der künste, wie
im leben fortleuchten, nicht in der form buchstäblich geglaubter Sym-
bole, sondern als die höchsten motive der kunst. Aber sie löschen
ja ihre fackeln, und darauf, dass die Jünglinge die sjmbole seien, deu-
tet eben gar nichts. Der erfreuende schall und die Jünglinge mit
ihren brennenden fackeln scheinen vor der gewöhnlichen kirchenzeit
aus der kirche zu kommen. Ich kann hier nur eine nachtfeier sehen,
welche von einer der anstalten ausgieng, die wir uns mit dem bunde
der ZAvölf nach der andeutung des alten in stanze 40 verbunden den-
ken müssen. Auch die mysterien der Griechen wurden zur nacht ge-
feiert; es waren heilige nachte, bei welchen die eingeweihten in weissen
gewändern erschienen. Bekannt ist auch das späte römische Pervigi-
lium Veneris, eine feier der liebe beim anfange des frühlings, das
Bürger übertrug, wodurch Schillers „Triumph der liebe" veranlasst
ward. Dass Markus seine zelle verschlossen fand, erklärt sich daraus,
dass diese nachtfeier, wie die kirche selbst, zum innersten gehörte, in
welches er erst an diesem tage, wahrscheinlich durch den alten, ge-
führt wurde. Es ist dies das erste geheimnis des Innern, das schon
auf den heitern, von strenger askese weit entfernten Charakter der nach-
folgenden geheimnisse hindeutet.
Der alte sollte sich bald darauf einstellen und die führung über-
nehmen. Zunächst wird er ihn zum einfachen frühstück, dann in die
GOETHES GEHEIMNISSE 509
kirche gebracht haben. Über die zum biinde gehörigen bildungsanstal-
ten wäre jede Vermutung eitel; manches, was Goethe vorschwebte,
dürfte spcäter in den „"Wanderjahren" frei benutzt worden sein. Jeden-
falls werden die verbundenen brüder nicht bloss einem beschaulichen
leben sich hingegeben, sondern auch nach ihrer neigung fördernd auf
die menschliche bildung gewirkt haben, in gewissem sinne tätige frei-
maurer gewesen sein; selbst die baukunst dürfte nicht ausgeschlossen
gewesen sein, wenn sie auch das von der Vorsehung bestimmte gebäude
schon vorgefunden. Fern halten müssen wir jeden gedanken an Goe-
thes unglückliche aufklärung von 1816. Zuletzt wurde Markus auch
zu Humanus geführt, wo denn die Unterredung beider den glanzpunkt
der dichtung gebildet haben würde. Der scheidende Humanus sollte
seinem vom himmel ihm bestimmten nachfolger seine sendung ans
herz legen, die reine christliche Sittenlehre ohne die erlösung durch
den söhn gottes allgemein zu verbreiten, besonders auf die Übung ihi-er
grundlehren, der Selbstüberwindung und der liebe, zu wirken. Uns
genügt es, das wort des rätseis gefunden zu haben, dass die dichtung
mit dem auftrage des Humanus schliessen sollte, die reine lehre Jesu,
wie sie Goethe empfand, wie sie sein bund der neuen rosenkreuzer
übte, allgemein zu verbreiten, und so einen wünsch zu erfüllen, den
die freidenker der zeit, unter ihnen auch sein freund Merck, als einen
frommen, jedesfalls noch lange aussichtslosen erkannten. Die auf mor-
schem boden sich erhebende philosophische ausdeutung eines begabten
denkers musste, je selbständiger sie war, um so mehr von der ein-
fachen Wahrheit abführen.
KÖLN. HEINEICH DtJNTZEE.
GEDICHTE UND BKIEFE VON E. M. AENDT AN EUSTE
FEEUNDUST.
Herr dr. R. Moeller, oberarzt des städtischen krankenhauses in
Magdeburg, besitzt aus dem nachlasse seiner grossmutter, der frau
J. Zanders, verschiedene interessante manuscripte von E. M. Arndt,
deren Veröffentlichung er mir gütigst erlaubt hat. Sie bestehen aus
einem bisher ungedruckten, einem schon gedruckten gedichte und sechs
briefen. Frau J. Zanders, geborene Müller, wittwe des fabrikbesitzers
Zanders in Bergisch -Gladbach, wohnte bis zum jähre 1857 in Bonn
und stand in inui^'eni freundschaftsverkehre mit dem hoclibetagten
510 A. SCHMIDT
Arndt'schen ebepaare. Als sie dann nach Bergisch- Gladbach übersiedelte,
widmete ihr Arndt das nachfolgende christlich -trostvolle gedieht, dessen
zweck und sinn durch die tatsache erleuchtet wird, dass frau Zanders an
einer schweren lähmung siech war. Nach Bergisch -Gladbach sind die
briefe gerichtet, und zwar sind drei von ihnen gratulationsbriefe zu neu-
jahr 1858, 1859 und 1860; zwei sind dankesbriefe nach einem besuche,
den der 89jährige greis im frühsommer 1859 in Bergisch- Gladbach
gemacht hatte; ein sechster aus dem herbst 1859 enthält die durch den
tod unerfüllt gebliebene verheissung, im nächsten jähre die reise wider-
holen zu wollen. Der zeitlich letzte brief, die gratulation zu neujahr
1860, ist 5 tage nach Arndts neunzigstem geburtstage und drei wochen
vor seinem tode geschrieben, also sicher eine der allerletzten schrift-
lichen äusserungen des uralten mannes. Die schrift, deren typus
durch das dem Allgemeinen deutschen commersbuche vorgedruckte dank-
schreiben Arndts vom jähre 1858 bekannt ist, kann zwar das zittern des
alters nicht ganz verleugnen, ist aber im ganzen gut leserlich und
besonders in den bogen und endschnörkeln noch erstaunlich kräftig
und sicher. Sämmtliche dokumente geben uns keinen neuen zug zu
dem bilde Arndts; aber ihr wert beruht darin, dass sie uns den dich-
ter im höchsten greisenalter noch unverkürzt und unverwelkt als den-
selben zeigen, den wir in der Vollkraft seines wesens lieb gewonnen
haben: geistesfrisch und herzensjung, voll zarter fi-eundschaft und alt-
bewährter Vaterlandsliebe, „lebensmutig und liebesmutig", gottvertrauend
und gottergeben.
Zur freuiidliclieii Erinnerung für Julie Zanders.
Kind, trage Erden Freud und Leid,
Im frohen Sinn der Ewigkeit!
Hier ist ja Alles klein und kurz.
Und nichts als Wechsel, Fall imd Sturz.
Vergiss nicht, dass es also ist.
Noch auch, dass du unsterblich bist.
Ein kleines, schwaches Gottesbild,
Worin doch Gottes Wonne quillt.
Dies sei dein Trost, dein Licht, dein Stern,
So schau empor zu deinem Herrn,
So aus dem wirren Erdenlauf
Schau fromm und selig himmelauf.
GEDICHTE tIND BRIEFE VOX E. M. ARXDT 511
Und dann wird alles Kleine gross \
Dann fällt dein Loos aus Gottes Scliooss,
Du nimmst es fröhlich, wie es fällt,
Dann bist du gross in kleiner Welt.
Bonn den 24" des Wonnemondes 1857. E. M. Arndt.
1. An Frau J. Zanders zu Bergisch -Gladbach bei Köln.
Gott zum Gruss!
So habe ich denn mein 88"^' glücklich vollendet 2, und die lieben
Wünsche u. lieben Gaben der Freunde machen mir den Einlauf in das
89""" fast zu einem glückszeichen.
Auch Sie, meine theure Freundin, haben mit einer recht süssen
Gabe mein altes Herz gelabt und sollen meinen treuesten, besten
Wunsch und Dank zum Neuen Jahre dafür nehmen.
Wolle der gnädige Gott mit Ihnen und den geliebten Ihrigen
sein, und Ihre Gesundheit so stärken, als der Glaube an die himm-
lischen Güter durch Seine Gnade in Ihnen stark ist!
Also auf den Blüthenmond 1858! Das soll ein Wort sein, wenn
Gott nicht anders will! Dann will ich mal in Ihre freundlichen Augen
und in Ihre hellen Teiche zu Gladbach schauen!
Meine Frau wollte ein paar Worte zusetzen, sie fühlt sich aber
durch einen Schnupfen zu sehr verhustet, und grtisst aller herzlichst.
Auch ich habe 14 Tage die Grippe durchgehustet; gottlob jetzt
besser. Ade! Ade! Den lieben Kindern beste Grüsse
In deutscher Treue
Ihr
Bonn, letzter Tag von 1857. ältester E. M. Arndt.
3. Bonn, letzter Tag des Jahres 1858.
So wolle Gottes Segen einziehen bei Ihnen, liebes Kind, wie Sie
Wunsch und Segen zugleich mit süssester Gabe des Mundes und des
Herzens über den überalten Mann ausgesprochen haben! Möge das
beginnende Jahr 1859 für Ihre Körperleiden milder werden, als die
jüngsten Jahre gewesen sind!
Ich wandle durch Gottes Gnade auf der Stufe des höchsten Alters
noch immer mit leidlicher Küstigkeit hin. ISTun so weiter, so lange es
1) Denselben gedanken führt er aus in der vollständigen Sammlung seiner
Gedichte 2. aufl. s. 641 nr. 42, wie er überhaupt in seinen Sinnsprüchen die begriffe:
gross und klein mit Vorliebe zusammenstellt, bald sie contrastierend, meist sie in
einander auflösend.
2) Arndts geburtstag fiel auf den 26. december.
512 A. SCHMßT
dem Herrn des Lebens gefällt! Und ich lebe des festen Vorsatzes,
Avenn dieser Herr es mir erlaubt, Sie im nächsten Lenze in Ihrem
schönen Sitze einmal fröhlich zu begrüssen. Meine gute Frau wollte
Ihnen selbst schreiben und danken, fühlt sich aber durch Festtage und
manche Festlichkeiten jetzt zu angegriffen; sie fühlt ihre 73 jähre auch
schon.
Also Gott und Gottes Glück und Gnade mit Ilmen und Ihren
Lieben, welche Sie herzlich von uns grüssen.
In deutscher Treue
Ihr
E. M. Arndt.
3. Bonn 4" des Heumonds 1859.
Das waren schöne Tage, wie Tage der Liebe, Treue und Freude
immer sein müssen - — und ich spreche Euch, geliebte Freunde, hier-
mit meinen herzlichsten Dank aus.
Grüssen Sie mir auf das herzlichste ganz Gladbach, am meisten
Sich selbst, Ihre liebe Schwester und unsern Richard und seine feine
liebenswürdige Frau, deren Hoffnung zu aller Freude der liebe Gott
erfüllen wolle. Ich habe Gladbach so kennen gelernt, dass ich sagen
kann, es führt den Namen mit Recht; denn Gladbach heisst auf gut
deutsch, englisch und schwedisch Freudenbach. "Wenn ich noch
einige Jahre lebe, wird dieser Freudenbach mich öfter zu sich locken.
Und Sie selbst, liebste Freundin! Ich habe mich sehr gefreut,
dass ich Sie geistig frisch wie immer und leiblich, wie mir däucht,
auch frischer gefunden habe, als da Sie Bonn verliessen. Gebe der
freundliche Gott, dass Sie nochmal wieder auf eignen Füssen die Treppen
auf und ab steigen können nach dem Beispiel der Frau Wichelhaus i.
An Wichelhaus selbst habe ich Grüsse und Wünsche schon abge-
geben.
Hier die versprochenen Reime über das Gute u. Schöne 2.
Ade! Gebe Gott Lebensmuth und Liebesmuth!
In deutscher Treue
N. S. Grüssen Sie mir auch den Ihr E. M. Arndt,
wackern Meister Odenthal.
1) Frau pastor "Wichelhaus iu Bonn.
2) Dem briefe liegt das manuscript von folgenden, in der vollständigen Samm-
lung seiner Gedichte s. 666 unter nr. 150 schon veröffentlichten versen bei:
Das Gute und das Schöne.
Ach! zwischen dem Guten und Schönen
Der ewic; erneute Sti'eit!
GEDICHTE UND BRIEFE VON E. M. ÄBNDT 513
4. Bonn, 23" Heumonds 1859.
Ja, Freudenbach — das soll der Name sein des schönen, grü-
nen Flecks Erde, worauf Gott Sie die Hütte Ihres Lebens hat festen
lassen! und Sie, liebe Freundin, sollen auch einmal — so ahnt es
mir — gleich der Frau Wichelhaus in Ihrem Hause wieder Trepp ab
und Trepp auf laufen. Amen! So geschehe es. Dass der liebe Gott Sie
nun noch immer so ans Lager fesselt, auch das können Sie am Ende
als nur Gabe und Gnade Gottes in so weit annehmen, als er Sie damit
wohl etwas fester und tiefer hat anfassen und mit seinen wundersam-
sten, leisesten Fingern in das Herz seines lieben Geschöpfes hat hin-
eingreifen gewollt. Der Christ soll ja Alles Unvermeidliche, was er
nicht machen (?) gekonnt hat, nehmen, als von Oben kommend und
nach Oben hinweisend. Und das wird wohl wahr bleiben, dass Ihre
lange Krankheit Ihnen Müsse und Veranlassung mehr als sonst gege-
ben hat, der himmlischen Dinge u. der göttlichen Gefühle und Ahnun-
gen in unserer Brust mehr inne zu werden, als es im Getümmel des
frischen, vollen, gesunden Lebens uns oft beschieden ist. Das ist ja
des Christen Betrachtung und Gottesruf (?), dass er sich alle Dinge als
aus höherer Hand deuten und zurecht legen, muss, — und diese selige
Ansicht und Überzeugung hat der liebste Herr Ihnen ja nimmer abhan-
den kommen lassen. Darin wird er Sie erhalten und bewahren in den
Schmerzen und Freuden des irdischen Lebens. Die Freude, die ich
Euch lieben Leuten durch meinen Besuch gemacht habe. Ich danke
Gott, dass dem so ist: Freundschaft u. Liebe sind ja die besten Sterne,
die am Himmel leuchten u. vom Himmel hinunter u. von der Erde auch
wieder hinauf leuchten zur Heimat der Geister. Ich habe beide reich
am Freudenbach genossen u. empfunden. Das sollen Sie den lieben
Kindern, der Schwester u. den Freunden mit meinen treusten Grüssen
verkündigen.
Sie haben die Enkel bei Sich gehabt zur Freude; auch meine
Nanna ist jetzt aus Karlsbad bei uns; das Bad scheint ihr wohlgethan
zu haben. Sturm und Hagel ist bei uns am Gebirgssaume von Pop-
pelsdorf bis gegen Andernach hin fürchterlich fortgelaufen, wie Sie
Sprich, Lieber, was kann sie versöhnen
Zu liebender Herzlichkeit?
Was? — Nieder aufs Knie vor dem Guten!
Nieder im Gebet wie vor Gott,
Dann strömt dir das Schöne in Fluthen
Entgegen. Ich spreche nicht Spott. E. M. Arndt.
ZEITSCHRIFT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XXVIII. ^O
514 A. SCHMIDT, GEDICHTE UND BRIEFE VON E. M. ARNDT
wohl aus den Zeitungen gelesen haben. — gebe Gott, dass das Unge-
witter des Krieges an dem Vateiiande glücklich vorüberbrause.
Gottes Segen Euch Allen und Ihnen freier, froher Muth aus ihm!
In deutscher Treue
Ihr E. M. Arndt.
5. Gott zum Gruss!
Freundliche Kinder, dass Ihr den alten, schneeweissen, fast kah-
len Kopf mit lustigen Lenzesblüthen schmücken wollt! Nun, ich nehme
das fröhliche Zeichen an, u. wenn der liebe Gott mich noch einen
Lenz erleben lässt, will ich in ihm mir selbständig und selbhändig
in Eurem Garten einen Kranz pflücken und flechten. Weil ich vom
Lenz spreche, will ich beim Bilde bleiben und Euch und vor allen
Ihnen, theure Freundin, bei den neuen jüngsten Wiegenliedern, die
nun bei Euch wieder gesungen Averden, alle Herzen voll lenzigster,
fröhlichster Hoffnungen wünschen.
Gottlob! der Kriegslärm hat sich fürs Erste vertost, auch die
Plage der Hitze ist vorbei und die lustige Weinlese nahe. — Also wol-
len wir dem Winter mit Gottesmuth und Hoffnung entgegengehen.
Ade! tausend beste Grüsse an Alle, und ein immer junges Herz und
eine immer bessere Gesundheit!
9" Herbstmonds In deutscher Treue
1859. Ihr E. M. Arndt.
6. Liebe Seele.
Man Avird mitgehüben auf den Flügeln himmlischer Liebe in der
schönen Weihnachtszeit, wo alle Engel vom Himmel zu unserm Erd-
bällchen hinabsteigen, welchem der Heiland in Menschengestalt gebo-
ren. Ich sollte jetzt mit doppelter Stimme mitjauchzen und jubeln
ob all den Ehren und Freuden, welche so viele treue liebende Her-
zen und selbst Fürsten und Städte dem Neunzigjährigen dargebracht
haben.
Auch dir, du freundliche, liebe Seele, die am Freudenbache flat-
tert und durch Gott oft recht glückselig hoch fliegt, sage ich und meine
Frau den allerherzinnigsten Dank für so süsse und blüthenduftige Er-
innerungen.
Gebe der frommste, gütigste Geber droben für das Neue Jahr
und für viele andre frohen Himmelsmuth und leidliche Gesundheit.
Wenn die Nachtigallen wieder in den Blüthenbüschen schlagen, dann
wird der alte neunzigjährige Wandrer sich mal zu Euch aufmachen.
BOHNENBERGER , AUSGLEICHUNG DES SILBENGEWICHTS 515
Grüssen Sie mir alle Lieben viel tausendmal, auch den wackern
Schwaben, den Seelenwächter i.
In deutscher Treue
Bonn, Jahresschluss 1859. Ihr E. M. Arndt.
MAGDEBURG. A. SCHiUDT.
ZUR FEAGE NACH DER AUSaLEICHUNG DES SILBEN-
GEWICHTS.
Brenner (Indog. forsch. III, 297 fgg.) will quantitätsunterschiede
bei vokalen und qualitätsunterschiede bei diphthongen heutiger deut-
scher mundarten auf vorahd. apokope zurückführen. Es soll das nomen
für den abfall des endungsvokals ersatz bekommen haben in der ur-
sprünglich vorletzten silbe, falls diese Stammsilbe war. Es habe näm-
lich die kurze Stammsilbe eine „Verstärkung erhalten, die zuletzt als
länge des vokals sich offenbarte", während der stammsilbenvokal bei
erhaltenem endungsvokal kurz blieb. Und die Stammsilbe mit diph-
thong habe schleifenden accent erhalten gegenüber gestossenem accent
bei bewahrtem endungsvokal. Unter einfluss des verschiedenen accen-
tes hätten sich dann die beiden formen des diphthongs auch lautlich
verschieden entwickelt.
Verwandt damit ist Streitbergs Erklärung der idg. dehnstufe
(Idg. forsch. III, 305). Streitberg bezieht sich auch ausdrücklich auf
Brenner, doch sind noch tief einschneidende unterschiede da. Wenn
Streitberg bei morenverlust in der nächsten silbe die tonsilbe ausdrück-
lich sich dehnen lässt, so redet Brenner von „Verstärkung, die zuletzt
als länge des vokals sich offenbarte." Er bedarf dieser geschraubten
bestimmung, weil die dehnung dieser laute erst in den heutigen mund-
arten zum ausdruck kommt, und diese verstärkten laute durch die
ganze ahd. und mhd. zeit hindurch von den gewöhnlichen längen
unterschieden werden müssen. Wenn nach Streitberg die idg. deh-
nung nur bei kurzer silbe (d. h. kurzem vokal in offener silbe) eintritt,
so muss bei Brenners hypothese, wie sich nachher zeigen wird, gerade
die dehnung vor mehrfacher konsonanz eine hauptrolle spielen. Streit-
berg lässt betonte lange vokale mit ursprünglich gestossenem accent
geschleift werden; Brenner gibt über deren entwicklung keine auskunft,
aber die diphthonge mit gestossenem accent sollen nach Brenner dafür
1) Pastor Schütze, nachmals in Crefeld.
33*
516 BOHNENBERGER
geschleift werden. Brenner und Streitberg treffen darin zusammen,
dass sie diese genannten Veränderungen der tonsilbe abliängig machen
vom Verlust einer more in der folgesilbe. Dieses zusammentreffen wäre
gewiss noch interessant genug.
Xun erscheinen mir aber Brenners aufstellungen über aus-
gleichung des silbengewichts in vorahd. zeit unhaltbar. Bei einem
teil der von ihm angezogenen fälle haben die vorausgesetzten parallel-
bildungen innerhalb desselben wertes gar nie gegolten, und da, wo solche
parallelbüdungen wirklich vorliegen, stammen sie aus viel jüngerer
zeit und haben sie sich in ganz anderer weise entwickelt. Nach Bren-
ner soll da, wo der singular eines nomens endigend auf die Stamm-
silbe heute in der mundart länge, der plural dagegen kürze auf-
weist, die dehnung eine ausgleichung darstellen für den verlust des
endimgsvokals, welcher nach den vorahd. auslautgesetzen abfiel. So soll
die länge des Singulars fis gegenüber fis direkter ersatz für abfall des
endungsvokals von *fiskax sein. Solchen quantitätsuntersclüed zwischen
Singular und plural in der heutigen mundart weiss Brenner zu belegen
aus dem „nordgauischen", aus Buchen im nördlichen badischeu Franken
(nicht in Württemberg, wie Brenner meint), aus Schlesien (Waniek
ist mir leider nicht zugänglich). Da er Kauffmann doch citiert, so
hätte er auch das schwäbische zu berücksichtigen gehabt mit den
belegen, welche Kauffmann, Schwab, ma. § 131 A. aus dem osten von
Schwaben gibt.
Dntersucht man nun aber diese dehnungsfrage im schwä-
bisch-alemannischen näher, so fällt Brenners erklärung dahin. Inner-
halb des schwäbischen gebietes speciell habe ich, freilich an sehr
abgelegenem orte (Korrespondenzblatt für die gelehrten- und realschulen
Württembergs 1887, 502 fgg.) für Renningen bei Leonberg nachgewie-
sen, dass dort dehnung und erhaltung alter kürze von den folgenden
lauten abhängig ist. Sieht man von der Stellung von n -f Spirans ab, wo
für das schwäbisch -alemannische gebiet eigene gesetze gelten, so ist vor
einfacher lenis, einfacher spirans und einigen konsonantengruppen (beson-
ders r + konsonant) dehnung des kurzen vokals eingetreten, sonst ist
yor folgender konsonanz kürze erhalten. Dasselbe hat Wagner für Reut-
lingen (Programm der realanstalt Reutlingen 1889. 90) gefunden. Die
eben ausgegebene „Geographie der schwäbischen mundart" von Her-
mann Fischer (Tübingen 1895) bestätigt diese dehnung (§ 13. 15)
für das schwäbische gebiet im allgemeinen, abgesehen von einem be-
zii'ke nördlich des Bodensees, ungefähr von Lindau über Ravensburg,
Rottweil und weiter nach westen, welcher in gewissen worten bei lieu-
AÜSGLEICHUNa DES SILBENGEWICHTS 517
tigern inlaiit auch vor lenis kürze hat gegen länge bei heutigem aus-
laut, so sägd : i säg. Neben der im allgemeinen geltenden dehnung
vor lenis bez. bestimmten konsonantengruppen hat aber der schwäbische
Osten noch eine zweite: dort wird auch vor den sonst die dehnune:
verhindernden konsonanten gedehnt, falls die tonsilbe schon mhd. im
auslaut stand; andernfalls ist kürze erhalten, also köpf sing. : ä;ö)>/' plur.,
entsprechend Brenners ßsch sing, und fisch plur. Fischers karten
geben jetzt die genaue grenze, etwa von Ohlstadt an der Loisach über
Ober-Diessen, Ulm, Wiesensteig nach Murrhardt und im fränkischen
weiter über Berlichingen hin nach norden. Auf alemannischem
boden erscheint dehnung, wo es überhaupt zu solcher kam, teils vor
einfacher lenis, auch r + konsonant, ohne rücksicht auf inlaut und
auslaut; so in Basel (Heusler, Alera. konsonantismus von Basel; Ed.
Hoffmann, Mundarthcher vokalismus von Basel) und in Brieuz, wo
überhaupt sehr wenig gedehnt wird, doch vor r + konsonanz (Peter
Schild, Brienzer ma. 1). In einem andern teile bevorzugt die deh-
nung die Stellung im auslaut, so ist in Kerenzen vor lenis im auslaut
die dehnung viel verbreiteter als vor lenis im inlaut (Winteler,
Kerenzer ma.). Doch haben wir auch dehnungen im inlaut gegen kürze
im auslaut, so in Ottenheim (Heimburger, Mundart von Ottenheim,
Beiträge XHI, 211 fgg.) und spuren davon auch in Brienz. Yor n + Spi-
rans wird alte kürze schwäbisch -alemannisch im allgemeinen wie mhd.
länge behandelt. Somit zeigt sich im schwäbisch -alemannischen Sprach-
gebiet weit verbreitet ein streben nach dehnung betonter kürze. Abge-
sehen von der Stellung vor ?i -j- spirans war das durchdringen der
dehnung besonders begünstigt durch die position vor einfacher konso-
nanz und durch die Stellung im wortauslaut. Es gibt bezirke, in wel-
chen die dehnung sowol vor einfacher konsonanz als im auslaut durch-
drang, also nur vor mehrfacher konsonanz im inlaut kürze erhalten
blieb. Es gibt andere bezirke, über welche sich nur eine von beiden
längen verbreitete, wider andere, welche gar nicht dehnten oder anders
verfuhren. Über die dehnungsverhältnisse der von Brenner beigezoge-
nen fränkischen und nordgauischen bezirke erhalten wir keine
genügende auskunft. Dass dieselben im auslaut dehnen, ist nicht zu
bestreiten, aber wie sie vor einfacher konsonanz im inlaut verfahren,
ist nicht klar. Breunig (s. 35) sagt über Buchen sehr unbestimmt:
„das von Paul aufgestellte gesetz, dass in geschlossener silbe die kürze
bleibt, in offener dagegen dehnung eintritt, hat in unserem dialekt
nicht unbedingt statt. Man darf eher das gegenteil annehmen, wenn
man mit dem Stammwort die pluralform vergleicht", und die von ihm
518 BOHNENBERGER
aufgeführten belege mit einfacher konsonanz bez. r + konsonant im
iulaut zeigen teils länge teils kürze. Auch was Himmelstoss über
Westböhmen gibt (Bayerns ma. I, 61 fgg.), genügt für unsere zwecke
nicht; jedesfalls führt er aber auch beispiele für inlautende dehnung
vor einfacher konsonanz auf. Soviel ergibt sich wenigstens, dass man
auch für diese mundarten kein recht hat, die dehnung im inlaut zu
ignorieren. So hat man heute die zeithche bestimmung und die erklä-
rung der dehnung zunächst einmal für das schwäbisch -alemannische
zu versuchen. Geht man unbefangen daran, so muss es sich um fol-
gende momente handeln. In ahd. und mhd. zeit ti-effen wir keine spur
der beiden dehnungsweisen. Ob dieselben wesentlich gleichzeitig sind,
oder beträchtlich auseinander fallen, ist nicht aus inneren gründen zu
entscheiden, aber zunächst wird man doch wenigstens an eine gleich-
artige tendenz auf dehnung denken, welche vor einfacher konsonanz
und im auslaut am leichtesten durchdrang. Bestimmtere zeitliche gren-
zen erhalten wir durch die diphthongierung von *, ü und durch die
apokope des alten -e der endung. Darüber gleich mehr in der aus-
einandersetz ung mit Brenner. Nach Brenner soll, wie schon gesagt,
die dehnung im auslaut ein ersatz sein für den verlust der germani-
schen nominativ-endungssilbe, wozu gleich auch die accusativendung zu
nehmen wäre. Die anfange des Vorgangs müssten also der vorahd. zeit
angehören. Bei dieser hypothese hat Brenner zu erklären, wie es
kommt, dass die neuen längen im ahd. und mhd. nicht mit den alten
längen zusammenfielen und nicht mit letzteren diphthongiert wurden.
Deshalb redet Brenner für die erste zeit nur von „Verstärkung" und
für nachher will er damit helfen, dass bei den alten längen der diph-
thongierung eine periode geschleifter betonung vorausgegangen sein soll,
so dass auf diese weise die alten geschleiften längen von den neuen
gestossenen geschieden blieben. Diese ansetzung von geschleifter
länge vor der diphthongierung ist ganz richtig, aber damit ist die
Schwierigkeit keineswegs beseitigt. Zunächst steht die behandlung
alter kürze vor n + spirans im wege. In dieser Stellung liegt heute
sowol im inlaut als auslaut diphthongierung vor. Dieser process müsste
jünger sein als die silbengewichtsausgleichung im auslaut. Es müsste
also ein jüngerer process über gestossene länge in geschleifte länge
und endlich in diphthong hinübergeführt haben, ohne dass der ältere
process von der gestossenen länge aus mit weiter gieng. Und von
seinen Voraussetzungen aus muss Brenner mit Streitberg, Idg. forsch.
in, 314 weiter annehmen, dass hier der nasalverlust zur dehnung
des kurzen vokals führt, d. h. zu gestossener länge. Woher kommt
AUSGLEICHUNG DES SILBENGEWICHTS 519
nun aber der schwäbische diphthong? Die sache wird also sehr com-
pliciert. Entscheidend gegen Brenner ist aber das Schicksal, welches
die alten längen nach seiner hypothese haben müssten. Hätte Benner
die frage nach der silbengewichtsausgleichung bei länge in der ton-
silbe nicht ausser betracht gelassen, so wäre die Unmöglichkeit seiner
aufstell ungen sofort hervorgetreten. Die längen, welche von haus aus
gestossenen ton haben, müssten bei abfallender endungssilbe so gut
wie die diphthonge geschleift werden. Nirgends findet sich aber im
schwäbischen bei den germanischen längen eine spur dieser Scheidung.
So müsste man endlich vier stufen annehmen: kürze, „verstärkter"
laut = heutiger länge, gestossene länge = heutigem diphthong, ge-
schleifte länge = heutigem diphthong. Damit kommt man doch zu
einem unmöglichen ende. AVeiter müsste sich die ausgleichung des
Silbengewichts wol zu verschiedenen Zeiten widerholt haben, da -a frü-
her abfiel als -i und -u nach langer silbe. Oder sollen die -i- und
-?i- stamme nur der analogie der -a- stamme gefolgt sein? Endlich ist
mit dem neutrum zu rechnen. Beim neutrum müssten doch so wol
Singular als plural verstärkt sein. Und die Verstärkung müsste auch
schon wirksam gewesen sein, als das suffix -ir antrat, also müssten
heute auch die plurale auf -er lang sein. Oder soll im neutrum nach-
träglich eine difi'erenzierung nach analogie des masculinums platz gegrif-
fen haben? Brenner hätte auch zu dieser frage Stellung zu nehmen
gehabt. Umbildung durch analogie ist übrigens hier nicht unwahr-
scheinlich, da beim femininum zum teil zweifellos solche vorliegt. Kauff-
mann, Schwab, ma. § 131 A. nennt hrük < mhd. brücke.
Gegenüber all den Schwierigkeiten, welche Brenners hypothese
entgegenstehen, hat man einen andern weg zu gehen. Die verschie-
dene gestaltung der dehnung in den einzelnen bezirken des schwä-
bisch-alemannischen weist schon darauf hin, dass der process jung ist.
Nur die dehnung vor n + spii-ans ist innerhalb des schwäbischen vor
beginn der diphthongierung der alten längen anzusetzen. Die übrige
dehnung muss jünger sein, da hier die neue länge nicht mit der alten
länge in diphthong weiter gieng. Da aber andererseits kein zweifei sein
kann, dass die dehnung im auslaut ursprünglich nur die schon mhd.
auslautenden formen getroffen hat, so muss die dehnung vor abfall des
endungs-e ihren anfang genommen haben.
Damit ist uns eine sehr beachtenswerte frage gestellt, welche
H. Fischer schon Germania 36, 425 und Geographie d. schwäb.
ma., s. 21, note 6 aufgeworfen hat. Die anfange des diphthongie-
520 BOHNENBERGER
rungsprocesses müssen schwäbisch vor den abschluss der apokope des
endiings-e fallen. 'Nun gehören die ältesten heute bekannten belege
für die diphthongiernng in die zweite hälfte des 13. Jahrhunderts (s.
Kauffmann, Schw. ma. § 76. 82) und die apokope des e nach langem
vokal und nicht- liquida setzt man gewöhnlich ins 12. Jahrhundert. Die
konsequenzen, welche sich aus der dehnung alter kürzen im schwä-
bischen ergeben, erscheinen mir aber so sicher, dass man genötigt ist,
das altersverhältnis von diphthongiernng und apokope für das schwä-
bische darnach zu regulieren. Hiezu kann man zunächst bei der diph-
thongiernng ansetzen, und damit helfen, dass man, wie auch Brenner
tut, der eigentlichen diphthongiernng eine periode der länge mit ge-
schleifter beton ung vorausgehen lässt. Es müssen ahd. *, ü schon vor
der Vollendung der apokope geschleiften ton gehabt haben und diese
geschleiften längen müssen durch ihren accent von den gestosseneu,
neu entstandenen längen geschieden geblieben sein. Auf einige gene-
rationen solche doppellaute getrennt neben einander anzunehmen, scheint
mir unbedenklich, wenn mir auch ein solches Verhältnis auf viele Jahr-
hunderte, wie es Brenner annehmen muss, auf oberdeutschem boden
unwahrscheinlich ist. Andererseits wird geschleifte betonung der län-
gen erst zu einer zeit sich entwickelt haben, als alte kürze vor n + Spi-
rans schon gedehnt war. Dies ist wenigstens die einfachste erklärung
für schwäbischen diphthong < ahd. kürze. Es scheint mir aber auch
gar nicht ausgemacht, ob nicht an der zeitlichen fixierung der apokope
noch zu korrigieren ist. Die fi-age ist jedesfalls mit rücksicht auf das
verfahren der dehnung neu zu untersuchen.
Müssen wir aber auf schwäbischem boden den diphthongierungs-
process im weitesten sinne mit entstehung geschleifter länge beginnen
lassen, so ist nun die frage nach der herkunft der diphthonge entspre-
chend mnzugestalten. Es handelt sich nicht niehi- allein darum, ob
der eigentliche diphthong selbständig auf schwäbischem boden erwach-
sen ist oder aus Baiern übernommen wurde, sondern die frage nach
selbständiger entstehung oder Übernahme ist schon bei der vorstnfe,
der geschleiften länge, aufzuwerfen. Es ist ein dringendes bedürfnis,
dass die geschieh te von ahd. ?, ü auf österreichisch -bairischem boden
einmal genauer untersucht wird. AUe übrigen angrenzenden deut-
schen mundarten sind an der frage mit beteiligt. Endlich darf für
die frage nach der anordnung von dipthongierung und apokope auch
in rechnung gezogen werden, dass die dehnung im anlaut im osten
des schwäbischen gebietes zu hause ist, wo wir auch den diphthong
zuerst nachweisen können.
AUSGLEICHUNa DES SILBENGEWICHTS 521
Bei den längen des germ. wirft Brenner, wie schon gesagt, die
frage nach ausgleichnng des sUbengewichts gar nicht auf. Dagegen
sollen sich bei den diphthongen formen, welche auf geschleiftem,
und solche, welche auf gestossenem accent beruhen, gegenüber stehen,
imd erstere sollen den ersatz für die abgefallene nominativ-endungs-
silbe enthalten. An belegen für heute noch vorhandenen Wechsel kann
Brenner nur nordgauisch lo : oi (oe) < germ. ai geben. Es sollen aber
auch schwäbische doppelformen für germ. ai = ahd. ei, für germ. ai
= ahd. e und germ. au = ahd. ö ursprünglich auf den Wechsel von for-
men mit gestossenem und mit geschleiftem accent als ersatz für verlorene
germanische endungssilbe zurückgehen. Nun kennen wir aber allmäh-
lich die schwäbisch -alemannische mundart genau genug, um stricte
sagen zu können: heute liegen diese doppelformen nur in lokaler son-
derung vor, wir haben auch nicht den geringsten anhält dafür, dass
sie einst innerhalb desselben bezirks im flexionswechsel neben einander
gestanden haben, und je mehr wir in unserer mundart derartige doppel-
formen kennen lernen, welche nur lokal getrennt vorliegen und kei-
nerlei anhält für ehemalige andersartige anordnung geben, desto siche-
rer haben wü- auch die lokale Sonderentwicklung als das ursprüngliche
anzusehen. Es wird ja niemand einfallen heutiges i : di < mhd. /, heu-
tiges Vi : du < mhd. ü^ heutiges ui : ü : ü (l) < ahd. iu auf ehema-
lige doppelformen, welche nach flexionsformen wechseln, zurückzufüh-
ren. Und ebenso unmöglich ist dies bei ao : ö : ö < mhd. ä. Im
einzelnen hier auf die frage nach den Vertretern von ei^ e, ö einzuge-
hen, ist nicht nötig. Fischers geographie hat den heutigen bestand
nicht nur für das schwäbische, sondern auch für einen beträchtlichen
teil des alemannischen genau verzeichnet. Darüber hinaus können wir
heute höchstens noch versuchen, die Zwischenstufen zu eruieren, welche
zu den heutigen lauten führten. Für die schwäbischen formen ergeben sich
folgende entwicklungsreihen : 1) ei > ai > oi> oe> od, 2) e> e> ei.,
weiter entweder >a^>aß, oder>ee>e9, 3) ö> p> pu, dann entweder
>au>ao, oder > 00 > ^09. Die form ea < ahd. e und pa < ahd. ö, wel-
che Fischer § 29 für den osten südlich der Donau gibt, möchte ich
eher aus p, od ableiten als direkt aus c, ö, doch ist ja auch e >
ei > Cd und ö > ou > od möglich. In oe'> od, ee> ea, po > qd liegt
reduktion des zweiten bestandl^iles des diphthongs zu d vor, wie mhd.
tio, ie > Schwab, tid, id (vgl. Eaufimann, Schwab, nia. § 140). In der
ersten reihe ist der gebietsteil mit od einfach über den mit oe hin-
ausgegangen, in der zweiten und dritten reihe trat eine gabelung ein:
sowol die gebietsteile mit heutigem ao, ae als die mit pe, p gehen
522 EOHNENBEEGER
von pu^ ßi aus. Die Ursachen dieser ganzen entwicklung kennen wir
nicht. Wir mögen wol mit Kaufi'mann den verschiedenartigen heutigen
bestand auf verschiedene tonverhältnisse zurückführen, aber immer
müssen dieselben so gewirkt haben, dass sie je an einem orte den
ganzen bestand trafen. Gibt hienach die geschichte dieser laute kei-
nerlei anhält zur Verwendung in Brenners sinn, so spricht der compli-
cierte entwicklungsgang, zu welchem wir nach Brenner geführt wür-
den, geradezu dagegen, und zuletzt widerspricht Brenner seinen eige-
nen Voraussetzungen. Die alten diphthonge sind in ahd. e, ö monoph-
thongiert und sollen nach Brenner die accentverschiedenheit im monoph-
thong fortgesetzt haben, sie sind wider diphthongiert worden und sol-
len auch da die uralte Verschiedenheit von geschleifter und gestossener
betonung bewahrt haben, durch mehrere stufen weisen die formen mit
verschiedenem accent doch dieselben laute auf, heute haben wir lokal
getrennt verschiedene entwickhmgsstufen , und darin soll nun doch noch
der alte accent zum ausdruck kommen. Diese complicierte entwick-
lungsgeschichte macht ihrerseits Brenners annähme so gut wie unmög-
lich. AVeiter beruht aber nach Brenner die diphthon gierung von mhd.
I, ü auf geschleifter betonung, nun soll aber bei e und ö nur der eine
der beiden heutigen paralleldiphthonge diesen accent voraussetzen, der
andere gestossenen. Hier kommt Brenner also geradezu in widersprach
mit sich selbst. So bleibt allein noch der von Brenner beigezogene
Wechsel von nordgauisch us : oi < germ. cd in singular : plural. Nun
ist aber klar, wenn die übrigen belege für die von Brenner aufgestellte
ausgleichung des silbengewichts nicht stand gehalten haben, so ist auch
dieser einzelne fall nicht darauf zurückzuführen, sondern als jung an-
zusehen, so gut wie der Wechsel von länge und kürze in singular und
plural. Über die frage nd : oi liegen seither weitere äusserungen von
Nagl und Brenner (Beitr. XIX) vor. Ich will nicht ins nordgauische
und bairisch- österreichische hinübergreifen und bemerke nur, dass das
schwäbisch - alemannische eine entwicklungsreihe ai > oi > oj > iid
kennt.
Brenner und noch mehr Streitberg haben an ihre sätze über
ausgleichung des silbengewichts erwägungeu der allgemeinsten art
angeknüpft. Brenner (s. 299) fragt, ob es überhaupt denkbar sei, dass
ein wort auf rein lautlichem wege einen teil abgibt, ohne ihn irgend-
wie zu ersetzen, und Streitberg ergeht sich zum schluss seiner Unter-
suchung (s. 416) in schönen Worten über „jenes grosse gesetz, das
nichts untergehen lässt, was einmal ins dasein getreten ist." Ich mei-
nerseits könnte mir keinen grossen gewinn davon versprechen, wenn
AUSGLEICHUNG DES SILBENGEWICHTS 523
es mode werden sollte, sich in sprachlichen dingen auf das gesetz der
erhaltung der kraft zu beziehen. Auch ist diese bezugnahme, genau
angesehen, gar nicht richtig. Nicht die spräche ist selbständiges Sub-
strat der kraft, welche sich gleich bleiben soll, sondern Substrat der-
selben ist der sprechende, der mensch, und in ihm kann docli die
kraft, welche einmal der spräche zukommt, ein andermal in andere
gebiete übertreten. Greift man aber auch nicht soweit hinaus in prin-
cipielle erwägungen, so erhebt sich doch bei Streitbergs gesetz und
etwaigen entsprechenden fällen der silbengewichtsausgleichung die frage:
wie sind die verschiedenen hier in betracht kommenden momente
kausal zu verknüpfen? Was ist die Wirkung und was die Ursache,
dehnung bez. geschleifte betonung der tonsilbe, oder morenverlust in
der nachtousilbe, oder aber liegt die sache gar nicht so einfach, dass
sich kurzweg der eine Vorgang als Ursache, der andere als Wirkung
bestimmen lässt? Streitberg selbst deutet mehrfach an, dass er den
grund für die Schwächung der nachtonsilbe im wortaccent sehe (so
s. 314), er zieht auch Kretschmers ausdruck von der progressiven
accentwirkung bei. Ich glaube ebenfalls, dass der anfang der bewe-
gung in dem wortton zu suchen ist. Der hauptton nimmt für die von
ihm getroffene silbe ein so starkes mass des exspirationsstromes in
ansprach, dass für die unmittelbar folgende silbe nur wenig bleibt,
und deren vokal der gefahr der reduktion oder völligen Unterdrückung
ausgesetzt ist. Aber wie kommen wir von da auf die dehnung der
tonsilbe, um zunächst von der geschleiften betonung abzusehen? Dass
die Schwächung oder Unterdrückung des vokals der nachtonsilbe die
bedingung für die dehnung des tonvokals ist, bildet die grundlage von
Streitbergs gesetz, aber daraus folgt nicht, dass diese Unterdrückung
des vokals der folgenden silbe auch die ausreichende Ursache für die
dehnung des tonvokals ist. "Wäre dieses der fall, so läge regressive
Wirkung vor. Der morenverlust würde zurückwirken auf die frü-
her gesprochene silbe. Mit recht betont Streitberg (s. 315), dass eine
regressive Wirkung in der spräche ein wesentlich psychischer Vor-
gang ist. So verständlich mir nun aber erscheint, dass man die
vorausgehende silbe reduciert, wenn man die aufmerksamkeit und
die absieht starker exspiration schon der folgesilbe zmvendet, so
unwahrscheinlich ist mir die dehnung der vorhergehenden silbe allein
aus dem gründe, weil man schon im voraus auf die ersparnis der
nächsten more rechnet. Die silbe, welche den wortton trägt, tritt
hervor und findet besondere beachtung, sie kann daher auch eine
ihr vorhergehende silbe beeinflussen, aber nicht wahrscheinlich ist
524 BOHNENBERGER, AUSGLEICHUNG DES SILBENGEWICHTS
mir, dass man die behandlung einer unbetonten silbe so sehr schon
im voraus in rechnung zieht, dass man für die reducierung dieser
silbe schon in der vorausgehenden tonsilbe ersatz schafft. So scheint
es mir wahrscheinlicher, dass auch für die dehnung der tonsilbe
nach Streitbergs gesetz deren wortton direkt beizuziehen ist. Der
hauptton, welcher der silbe grössere exspiratorische kraft verschafft,
kann auch auf dehnung hindrängen. Andererseits soll aber offenbar
im idg., und wo sonst solche ausgleichung des silbengewichts gilt, das
gewicht der wortform in der fortlaufenden rede nicht verändert werden.
So kann die dehnung nur da wirklich eintreten, wo zugleich die
nächste silbe erleichtert werden kann. So wäre also dehnung der ton-
silbe und reduktion der nachtonsilbe gieichermassen Wirkung des wort-
accentes. Auch nach dieser auffassung muss die spräche bei der deh-
nung der tonsilbe schon mit dem werte der folgenden silbe rechnen,
aber sie tut es nun nicht in rücksicht auf die gewichtlose unbetonte
silbe, sondern in rücksicht auf die gewichtige tonsilbe. Auch den
Übergang von gestossener in geschleifte betonung in ursprünglich lan-
ger betonter silbe bei ausfall der nächsten more wird man auf Wir-
kung des worttones und zugleich auf quantitative Vorgänge zurückzu-
führen haben, wenn man nicht auf eine einheitliche erklärung von
Streitbergs gesetz verzichten will. Wie der hauptton bestrebt ist die
kurze silbe zu dehnen und von einer auf zwei moren zu bringen, so
drängt er auf weitere ausdehnung der langen silbe gegen das mass
von drei moren hin. Der überlange laut bevorzugt dann geschleifte
betonung, da man nicht leicht gestossenen ton über drei moren hin-
zieht. Es ist hiernach also nicht der silbenton der ausgeworfenen
silbe auf die hauptsilbe herübergenommen worden, sondern er ist mit
seiner silbe ausgefallen, so gut wie bei vorausgehender ursprünglich
kurzer silbe, und es hat die betonte übergedehnte silbe aus sich her-
aus geschleiften accent entwickelt. An lebenden mundarten mit ge-
schleiftem ton bei silbenverlust (z. b. der Kieler mundart, Idg. forsch.
III, 317) müsste sich diese erklärung nachprüfen lassen.
TÜBmOEN, MAI 1895. K. BOHNEN-ßERGEE.
■WADSTEIN, BEITRÄGE ZUR WESTGERMANISCHEN WORTKUNDE. I 525
BEITRÄGE ZUE WESTGEEMANISCHEN WOETKUNDE.
I.
Nhd. gären.
Dieses wort und besonders isl. gerä „gest, hefe" sind nach Kluge,
Et. wb., hinsichtlich des anlautenden g auffällig, da die Wörter nicht
gern von ahd. jesan, schw. jäsa {ja aus aschwed. ia ■ — durch nord.
brechung entstanden), dial. .csa, norw. dial. cesa usw. „gären" getrennt
werden können. Die //-formen können indessen aus bildungen mit
f/ffi-präfix entstanden sein. Ein urg. ^^a-iaxian kann nämlich (vgl.
Paul, Mhd. gram. §§61 und 73) nhd. gären ergeben haben. Ebenso
kann isl. ^er<l aus nrg. *ja-ia7-ipö {>■ * g-'i- > * g-) entstanden sein; über
^■-umlaut in bildungen auf -ij)ö vgl. PBr. Beitr. XVII, 415. Die hier
vorausgesetzte ablautforra urgerm. ms liegt im ahd. jerian vor.
Nhd. gaul.
Von diesem werte gibt Khige, Et. wb., keine etymologie.. Die
bedeutungen des wertes gehen auch ziemlich weit auseinander. Im
nhd. schwankt seine bedeutung zwischen „elendes pferd" (so schon im
14./15. jahrh.) und „stattliches pferd", auch „reit- und arbeitspferd" ;
im Schwab, bedeutet gaul „pferd" überhaupt, im nndl. hat das ent-
sprechende guil die bedeutung „eine noch nicht trächtig gewesene stute"
(vgl. Kluge a. a. o.). Das wort kommt auch im schwed. vor (aus dem
nd. entlehnt): aschw. gid „pferd", nschw. dial. gule „schlechtes pferd",
gida „alte stute", (auch kula, mit k aus g in Stellung nach s^ t in. Zu-
sammensetzungen wie hästkula, hueslagskula entstanden, vgl. Bugge,
PBr. Beitr. XIII, 167; hierher gehört gewiss auch schw. dial. envis-
kula „eigensinniger mensch", vgl. avimsgula „eifersüchtiger mensch",
Rietz s. 222). Im mhd. bedeutet indessen das entsprechende wort: gül
„eher", daneben indessen auch „männliches tier überhaupt", und
die letztere bedeutung dürfte in der tat die ursprünglichere sein.
Das hier besprochene wort stellt sich nämlich gut zu der idg.
Wurzel ghu (wozu wie bekannt z. b. gr. yico „giessen", isl. giöta „gies-
sen", auch „junge werfen", Vihd.giessen usw.) und bedeutet also eigent-
lich „ausgiesser, besprenger" (über das suffix -l- vgl. Kluge, Stammb.
§ 188), eine ursprüngliche bedeutung, welche wie bekannt bei Wörtern
für „männliche tiere" sehr häufig ist; vgl. besonders isl. gote „pferd"
von derselben wurzel (s. Lottner, K. Z. V, 153 fgg.; nach Bugge, Ant.
tidskr. f. Sverige V, 136, Vitterh. bist. o. ant.-akademiens handl. XXXT, 3
21, dürfte isl. gote „gotisches pferd" bedeutet haben, was indessen auf
526 WADSTEIN
einer späteren Volksetymologie beruht haben kann; für Lettners ety-
mologie von gote spricht auch nen-norw. dial. gaatte, gaattefisk, got-
fisk „fisk som gyder"); über andere Wörter für „männliche tiere" von
derselben ursprünglichen bedeutung vgl. z. b. Hellquist, Etymologische
bemerkungen, Gefle 1893 (schulprogramm) s. YIII.
"Was die spätere bedeutung „stute" (im ndl. guil , fem., schw.
guTu, .fem.) betrifft, ist dieselbe, nachdem das wort erst (wie im schwäb.)
die bedeutung „j)ferd überhaupt" bekommen hat, sehr erklärlich. Die
erwähnten ndl. und schw. Wörter sind nämlich ganz einfach feminina,
welche man zu dem mask. werte von dieser allgemeinen bedeutung
geschaffen hat. Die hie und da auftretende bedeutung „schlechtes
pferd" erklärt sich aus volksetymologischer ein Wirkung eines ähnlichen
Stammes (der vielleicht zu derselben wurzel gehört) von der bedeutung
„lose, weich, schlecht", der im ostfries. gid „lose, weich usw.", mndl.
guyl „lafaard", nhd. gaulig „widerlich", gau(l)lieht „unschlittlicht" vorliegt.
Nhd. geifern, geifer, geifeln, geifel
sind nach Kluge, Et. wb. {geifer) dunklen Ursprungs. Folgende nord.
verwandten hellen sie aber auf: isl. geipla „loses geschwätz", schw.
dial. gepa, gqm „plappern, den mund nicht rein halten können" (vgl.
Bhd. geifern „schwatzen"), schw. dml.gejM „einen angrinsen, zum narren
machen", norw. geipla „neckend plagen" (vgl. nhd. geifeln „spöttisch
lachen"). Diese verba bedeuten offenbar eigentlich „den mund öff-
nen" (vgl. schw. dial. ^ipa „mundwinkel", „gaffen" u. nhd. (yfe//e;z), dann
„schwätzen" (vgl. schw. gapa „gaffen", dial. „schwätzen") und auch
„bespotten". Was nhd. geifer nnd geifel „ausfliessender Speichel" betrifft,
so dürften diese nord. Wörter auch zeigen, dass Grimms Wb. im recht
ist, da es (mit hinweis auf mlat. oscedo, dass., eigentlich „gähn sucht")
dieselben zu geifen „gaffen" stellt, denn diese subst. (mit den verben
entsprechender bedeutung) sind natürlich von den von mir zuerst ange-
führten Wörtern nicht zu trennen.
Nhd. haschen.
Die deutung dieses wertes ist bis jetzt unsicher gewesen. Nach
Kluge, Et. wtb. wäre Zusammenhang mit haft und hebe)t (lat. capio)
wahrscheinlich. Dass ein "^hafskön zu nhd. haschen führen würde, ist
indessen nicht sicher erwiesen. Mit hilfe eines bis jetzt unbeachteten
verwandten wertes dürfte aber eine zuverlässigere etymologie gefunden
werden können. Es ist dies schwed. dial. hask „einem dinge nachlaufen
um es einzuholen"; vgl. die bedeutung des nhd. haschen „etwas sich
bewegendes mit geschwindigkeit greifen oder es zu ergreifen streben".
BEITRÄGE ZUR •WESTGERMANISCHEN WORTKUNDE. I 527
Wegen der bedeutung des schwed. wertes passt es ja gut diese werter
mit ahd. has,^m, haz,$6n „verfolgen", asächs. hatön „nachstellen", nhd.
hassen, schw. hata zusammenzustellen. D. haschen und schw. dial.
hask verhalten sieh hinsichtlich der mittleren konsonanten zu nhd. has-
sen, schw. hata wie z. b. isl. beiskr zu got. haitrs, isl. ö^7r oder isl.
Iqskr zu got. lats, isl. latr usw., worüber vgl. Noreen, Urg. lautlehre
§ 35 anm. und die daselbst angeführte litteratur.
Nhd. ho de
ist nach Kluge, Etjm. wb. dunklen Ursprungs. Ich sehe aber nicht,
warum man das wort nicht zu der wurzel s-ku „bedecken, bergen",
wozu Avie bekannt u. a. nhd. haut, eigentlich „hülle", schote „hülse als
sameubehältnis " aber auch von den samen selbst: „(grüne) erbsen"
stellen könnte. Dafür scheint auch das zu dieser wurzel gehörige isl.
skiöita, agutu. sciaujm „beutel" (vgl. auch isl. skauäir, norw. skau
„scheide, vorbaut") zu sprechen.
Nhd. kracke
„schlechtes pferd" stellt Kluge mit fragezeichen zu ndl. kraak, frz. car-
raque „art schwerfälliger haudelsschifie". Das wort hat indessen nor-
dische verwandte, welche diese erklärung unwahrscheinlich machen. Es
sind diese: schwed. krake „mageres, elendes pferd; schwacher, arm-
seliger mensch", schwed. dial. kraklig?' „schwach, elend, kränklich", norw.
krake „kränkliches oder sehr mageres tier, kleiner, schwacher mensch",
krakeleg, krakutt, krakkjen „schwach", krakk-sitjande, -scett „infolge
schwäche oder invalidität (immer) sitzend", krakk „Stümper, armer elen-
der mensch, schlechtes pferd", kraka, krakla „(mit mühe) vorwärts
krabbeln", isl. krakligr „dünn, schwächlich". Ich vermute, dass diese
Wörter denselben stamm, aber ohne nasalinfigierung, wie nhd. krank (im
mhd. „schmal, kraftlos, schwach"), ags. cranc „schwächlich, gebrech-
lich", isl. krangr „schwächlich" enthalten. Über den Wechsel -g-:-k-:
-kk- in den hier angeführten Wörtern vgl. Noreen, Urgerm. lautlehre
§§44, 3 und 46, 3.
Die ursprüngliche bedeutung des Stammes germ. kra(n)g-, kra(n)k-
dürfte „krimim, biegsam" und daher „schwächlich" sein. Dies geht
aus folgenden nord. formen hervor: schwed. kräkla „krummstab",
schwed. dial. kraka „niedergebeugt werden", isl. krake „stauge mit
einem haken", norw. krake „haken, stange rait kurzen abgeschnittenen
zweigen oder haken, worauf man Sachen aufhängt", schwed. dial. krake,
krängla, dass. (vgl. schw. krängla eigentlich „sich krümmen", dann in
übertragener bedeutung „quengeln, Schwierigkeiten machen").
528 WADSTEIN
Nhd. schenken, schenke!, schinken.
Yon nhd. schenken wird bei Grimm, D. wb. hervorgehoben: „die
bedeutung „„flüssigkeit in ein gefäss aus einem behältnis fliessen las-
sen, trank eingiessen"" erweist sich durch den übereinstimmenden ge-
brauch der altgermanischen spräche als die älteste."
Was die etymologie betrifft, so stellt man (s. Kluge, Et. wb.) nach
J. Grimms Vorgang (Kl. sehr. II, 179) das wort zu ags. scconc(a) „bein-
röhre", voraussetzend, dass beinröhren in der ältesten zeit als „bahn am
fass benutzt wurden; schenken wäre daher eigentlich „den bahn ans
fass" setzen". Diese erklärung überzeugt mich nicht. Erstens ist
es ja nur eine Vermutung, dass man beinröhren als „bahne an fäs-
sern" benutzt hat und ferner dürfte in frage gestellt werden können,
ob man dergleichen einrichtungen wie fässer und bahne schon so früh
gehabt hat, wie diese erklärung voraussetzen muss. Es dürfte deshalb
nicht überflüssig sein zu versuchen, eine andere etymologie von die-
sem Worte zu geben.
Ich stelle nhä. schenken , schw. skänJm usw. zu isl. skakkr {■<*shank-)^
nach Fritzner: „skjsev, heldende (vgl. isl. hella unten) mere til den
ene side" (= „schräge, mehr nach der einen seite hin schief stehend"),
norw. skakk, schwed. dial. skakk, skank von derselben bedeutung. schen-
ken bedeutet also eigentlich „(ein gefäss) schief stellen, und dadurch
den Inhalt ausgiessen" (vgl. isl. skekkja < *skankian, „bringe i skja3v
stilling"); es liegt hier also ganz dieselbe bedeutiingsentwicklung vor,
wie im isl. hella, schw. hälla „ausgiessen", eigentlich (s. Fritzner-
und verf , Indog. forsch. V, 14) „schief stellen" zu isl. hallr „geneigt,
eine schiefe Stellung habend" ; nhd. einschenken heisst gerade auf schw.
hälla i. Diese erklärung von schenken wird auch dadurch gestützt,
dass man im isl. ein skak-ker „gefäss aus welchem eingeschenkt wird"
hat, dessen erster teil offenbar mit mhd. scheine von eben derselben
bedeutung identisch ist.
Es ist indessen wegen dieser neuen erklärung nicht nötig, schen-
ken von den oben erwähnten ags. sceonc, scconca „crus" und von
d. Schenkel, schinken, schunke und den mit diesen verwandten schw.
skänk {<:.*skank-), norw. dial. s/lT/^Ji:, skonk „Schenkel" zu trennen. Es
ist nämlich zu beachten, dass in schw. dial. auch skänka, skunka,
skinka, welche Wörter natürlich verwandte der vorigen sind, mit der
bedeutung „hinken" vorkommen (vgl. auch aschw. skinka „hinken, eine
pferdekrankheit", Söderwall). Dieser umstand zeigt, dass alle diese formen
zu der bekannten idg. wurzel skhenß gehören, wovon wie bekannt u. a.
(s. Fick, Ygl. wb.2 1, 567) skr. khanj, gr. ovAuo „hinken". Zu die-
BEITRÄGE ZUR WESTGERMANISCHEN WORTKÜNDE. I 529
ser Wurzel stellen sich ja auch die oben erwähnten isl. slcakkr, schw.
dial. skank usw. vortrefflich, da die bedeutungen „schräge, schief sein"
und „hinken" nahe aneinander liegen.
Auch die bedeutungen von ags. sceonc(a) usw., nhd. Schenkel und
Schinken erklären sich leicht aus einem ursprünglichen „schief sein",
wenn man bedenkt, dass diese Wörter offenbar ursprünglich nur von
den h int erbeinen von tieren benutzt worden sind. Dass dem so ist,
zeigt nhd. schinken, schw. skinka usw., das ja noch nur den obersten
teil eines hinterbeines bezeichnet; vgl. ferner, dass nhd. Schenkel im
engeren sinne „Oberschenkel des hinter-fusses" bedeutet und dass im
schwed. im vorigen Jahrhundert (nach Lind, Schw.-teutsch. Wörter-
buch, Stockholm 1749) häst-skank „eines pferdes hinter-schenckel"
bedeutet hat; beachte ferner schw. dial. skinkling „hinter-fesseln
von tieren". Die hinterbeine sind ja eben krumm und der unterste
teil derselben steht schief nach vorn gerichtet.
Diese ursprüngliche bedeutung „schief, gebeugt" von germ. skink-^
skank- „hinterbein" kann auch dazu beitragen, das wort nhd. bein, schw.
hen usAV. zu erhellen. Dieses ist (s. z. b. Kluge, Et. wb.) zu isl. heinn
„gerade" gestellt worden. Yielleicht hat es ursprünglich die geraden
Vorderbeine von tieren im. gegensatz zu den krummen hinterbeinen
bezeichnet.
Nhd. wäre.
Die etymologie dieses wortes ist noch nicht ermittelt worden.
Skeat, Et. dict, sagt von dem entsprechenden engl, tvare „I ... suspect
it to have been borrowed from Scand." Ich glaube, dass Skeat liier
richtig urteilt und dass gleichfalls nhd. tuare „kaufware" eigentlich ein
nord. lehnwort ist; in der tat tritt dieses erst im spätem mhd. auf. Im
altisl. und altnorw. weist das wort auch bedeutungen auf, welche offen-
bar die ursprünglichen sein müssen.
Nord, vara bedeutet nämlich (s. Vigfusson und Fritzner) im alt-
norw. hauptsächlich „feil" und im altisl. besonders „grober wollen-
stoff" (= isl. „vädmal"); vgl. auch altisl. bukka-vara „bockfell",
grd-vara „grau -werk", klö-vara „hides with the claws left on"
ueunorw. vara-tuku (s. Aasen unter varskinn) „decke aus feilen"
und altnorw. vqru-kambr, das Fritzner gewiss richtig „w oll -kratze"
übersetzt.
Wegen dieser bedeutungen stellt sich vara usw. offenbar zu gr.
eiQOQ „wolle", äQi'jv „schaf, widder" (wie bekannt eigentlich „der wol-
lige"), QfivLg. „Schafpelz" usw., welche bekanntlich zu der idg. wurzel
icar „bedecken, hüllen" gehören.
ZEITSCIIRin F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XXVHI.
34
530 PHILOLOGENVERSAMMLUNti IN KÖLN 1895
Hierher gehört wahrscheinlich auch nhd. schicarte, isl. suqr'är,
aschw. sivcerp (vgl. verf. IS'ord. tidskr. f. hlol. 3 r. III, 11 fgg., wo s. 12
z. 6, 11 von imten ices in ivar zu ändern ist), eigentlich (wie im isl.
und mhd.) „haarige haut"; über den Avechsel siv- : iv- im anlaut
vgl. z. b. Noreen, Urgerm. lautl. s. 208.
Ursprünglich ist vara usw. also nur zur bezeichnung von feilen
oder wolle(nen Stoffen) benutzt worden; später aber hat das wort die
bedeutung „kaufmannsgut im allgemeinen" angenommen. Diese allge-
meinere bedeutung hat vara offenbar dadurch bekommen, dass das
Warenlager der aus dem norden kommenden kaufleute hauptsächlich
aus feilen (und wolle?) bestand: diejenige nordische „wäre", welche
in alter zeit den fremden am meisten begehrlich war, waren ja eben
feile. Das in der Jetztzeit so hervortretende wort „wäre" ist also ein
beredter zeuge des lebhaften handelsverkehrs, welcher im altertum zwi-
schen Deutschland, England und dem norden stattgefunden haben muss.
P. T. IffilDELBERG. ELIS WADSTEIX.
BERICHT ÜBER DIE YERHANDLITNGEN DER GERMANISTISCHEN
SECTION AUF DER XXXXIII. VERSAMMLUNG DEUTSCHER PHILOLOGEN
UND SCHULMÄNNER IN KÖLN.
24.-28. September 1895.
Die germanistische abteilung constituierte sich am 25. September mittags iu
einem klassenzimmer des Marcellen - gymnasiums , das zwar für die 50 mitglieder
hinreichenden räum, aber für die vortragenden leider wenig ruhe uqd für die zuhö-
renden nur recht unbequeme sitze bot. Nachdem herr Oberlehrer dr. Blumschein
die anwesenden auf dem boden des heiligen Köln willkommen geheissen hatte, wur-
den prof. Wilmanns und dr. Blum schein, die auch die vorbereitenden arbeiten
übernommen hatten, zu versitzenden, dr. Berger (Bonn) und gymnasiallehrer
Schölten (Elberfeld) zu Schriftführern ernannt.
Die erste sitzung wurde schon am nachmittage desselben tages abgehalten;
denn da diesmal an dem letzten tage der Versammlung nur noch die allgemeine
Schlusssitzung gehalten werden sollte, um den festteilnehmern gelegenheit zu einer
fahrt ins Siebengebirge zu geben, mussten fleissige sectionen schon die nachmittage
zur hilfe nehmen, obwohl sie mancher gern ungeteilt zur besichtigung der reichen
kunstschätze Kölns verwendet hätte. — Nachdem der versitzende in kurzer anspräche
der seit der Wiener Versammlung verstorbenen fachgenossen gedacht hatte, ergriff
zum ersten vortrage das wort herr bibliothekar dr. Kos sin na aus Berlin, dem es
am herzen lag, den fachgenossen die Wichtigkeit der vorgeschichtlichen archäologie
nachdrücklich zu gemüte zu führen; schade nur, dass es ihm nicht vergönnt war, den
Vortrag in einem wol ausgestatteten museum zu halten und das wort durch den hinweis
auf handgreifliches material zu beleben. Die vorhistorische archäologie , führte er aus,
habe unsere durch mangelhafte nachrichten getrübte auffassung überall bereichert und
PHILOLOGENVERSAMMLUNG IN KÖLN 1895 531
berichtigt. Nur völliger mau gel an saclikunde könue es verschulden, wenn noch jetzt
mancher vor der angeblichen Unsicherheit und Unklarheit auf diesem gebiete zurück-
schrecke oder gar die grundzüge der heutigen prähistorischen Chronologie als unglaub-
würdig hinzustellen sich ruiterfange. Als den beginn der germanischen prähistorie
bezeichnete der vortragende den jüngeren abschnitt der neolithischen zeit, wo der
mensch bereits den ackerbau kenne, die wichtigsten haustiere besitze, geschliffene
und geglättete steinwerkzeuge führe und eine gefällige keramik ausübe. Bis in den
anfang des 3. Jahrtausends reiche diese zeit zurück. Er steckte sodann die folgenden
Perioden ab, hob ihi-e charakteristischen merkmale hervor, wies auf die stätigen fort-
schritte einer vielseitigen kultur hin und betonte, dass man sich von dem zerrbilde
germanischer Wildheit und Unkultur, das noch heute bei der mehrzahl der römischen
historiker beliebt sei, losmachen müsse. Die ergebnisse der archäologie hätten für
das wirtschaftsieben der urzeit ganz neue grundlagen geliefert und mit der Vorstel-
lung vom nomadentum der Germanen, vom fehlen des ackerbaues, von überwiegen-
der fleischuahrung, vom wohnen in zelten oder auf wagen und wie die unklaren und
widerspruchsvollen uachrichten alle lauten mögen, gründlich aufgeräumt. Bereits in
der frühesten vorzeit hätten die Germanen zum kulturgebiet Mittel- und Westeuropas
gehört und würden durch eine ungeheure kluft von den um mehr als ein Jahrtausend
zurückgebliebenen Slawen geschieden. — Die these, die der vortragende schliesslich
aufstellte: „Die germanische prähistorie ist ein unentbehrlicher bestandteil der ger-
manischen altertumskunde und verlangt von selten der germanischen philologie ernste
und nachhaltige pflege" wurde ohne Widerspruch angenommen.
Der folgende Vortrag des herrn dr. Eötteken aus Wüi-zburg war nicht so
glücklich allgemeine Zustimmung zu finden. Der vortragende versuchte darzutun,
dass der aufbau unserer landläufigen poetik unzweckmässig und durch einen ande-
ren zu ersetzen sei; insbesondere war er der ansieht, dass die herkömmliche ein-
teilung der dichtungen in epos, lyrik und drama besser vermieden werde, da die
Vielseitigkeit der mit diesen namen verbimdenen Vorstellungen leicht verwirmng
anstifte. Er verglich diese einteilung nach den gattungen mit querschnitten und
wünschte statt ihrer lieber längsschnitte , in denen einzelne merkmale, die z. b. zu
dem begriff des dramas gehörten, durch dichtungen aller art verfolgt würden. Als
solche gesichtspunkte , die geeignet wären, die kapitel der poetik zu bilden, bezeich-
nete er: stoffwahl, Weltanschauung des dichters, urteil des dichters, die Stimmungen,
der bildzusammenhang, die arten der rede (einzelrede und gespräch), die Übermitte-
lung der rede (stilles lesen, Vortrag, aufführung, musikbegleitung) , die composition.
Die meisten beziehungen zu der üblichen einteilung habe das kapitel vom bildzusam-
menhang. — Es gelang dem vortragenden nicht, obwol er deutlich, fliessend und
lebendig sprach, in der kurzen zeit, die ihm zur Verfügung stand, seine anschauun-
gen so klar zu entwickeln, dass er die hörer überzeugte. Die discussion, die von
prof. Greiz enach (Krakau) eröffnet, von prof. Bötticher (Berlin) und Siebs
(Greifswald) weitergeführt wurde, griff emzelne punkte an und verteidigte namentlich
die drei alten gattungen der poesie. Aber der streit rückte nicht recht vorwärts und
die kämpen räumten ohne entscheidung das feld, über dem sich längst die friedlichen
schatten des abends ausgebreitet hatten.
Am morgen des folgenden tages bat zunächst herr prof. Bötticher, die
gesellschaft für deutsche philologie in Berlin bei ihrer bearbeitung der Jahresberichte
durch Zusendung der publicationen , besonders auch der gelegenheitsschriften imd dis-
sertationen zu unterstützen. Darauf sprach herr prof. Schröder aus Marburg über
34*
532 PHILOLOGENYERRAMMLITN'G IN KÖLN 1895
die verfluchten tänzer von KüUiigk (Grimm, Deutsche sagen- I, 275). Die sage geht
aiif einen wirklichen von Lambeit von Hersfeld erwähnten verfall zurück, der sich
etwa 1013 zugetragen hat. Schon im 11. Jahrhundert hatte die erregte volksphanta-
sie, geistliche tendenz, gelegentlich auch schwiudelhafte reklame landfahrender leute
die geschichte sagenhaft ausgestaltet, und schon damals hatte man sie, um ihr vol-
len glauben zu verschaffen, in einem scliriftstück niedergelegt, das sich als bericht
eines der teilnehmer selbst ausgab. Von diesem, jedenfalls dei' Kölner diöcese ent-
stammenden bericht haben wir nur ein unmittelbares und nicht ganz sicheres Zeug-
nis; die weite Verbreitung der sage, der der vortragende in büchern und handschiif-
ten, in Frankreich, den Niederlanden und England nachgespürt hatte, beruht auf
zwei bearbeitungen, dem berichte des Otbert, einem knappen auszug nach dem
gedächtnis, und dem bericht des Dietrich, in dem die schriftliche vorläge mit stili-
stischen prätensionen nnd einer bestimmten lokaltendenz erweitert ist. Auf dem kür-
zeren, aus Fi'ankreich stammenden berichte beruhen die erzilhluugeu der sage, die
wir seit Albei't von Stade und dem Erfurter minoriten in deutschen geschichtsschrci-
bern finden; der längere des Dietrich kam namentlich in England zum ansehn und
wurde auch in mittelenglischen dichtungen bearbeitet. Seine treue gegen das alte
original beweist, dass die niederdeutschen namensformen der 18 mir hier vollständig
genannten teilnehmer noch deutlich erkennbar sind, und um so höheres Interesse
gewähren die verse, in denen uns, leider nur in lateinischer Übersetzung, die erste
Strophe jenes tanzliedes, das der bauer Gerief improvisierte und vorsang, erbalten
ist. — Im anschluss an den gelehrten und durclisichtigen Vortrag, dem die hörer
leicht und gern hatten folgen können, erinnerte herr prof. Jostes (Freiburg) au
ähnliche sagen, namentlich den Rattenfänger von Hameln, über den er wol nächstens
genauere mitteilungcn wird in die öffentlichkeit ausgehen lassen.
Den zweiten Vortrag hielt herr dr. Wrede (Marburg) über den deutschen
Sprachatlas. Mehrere der überaus sauber und übersichtlich ausgeführten karten, die
in Marburg iiuter Wenkei'S loitung angefertigt iind jährlich in ansehulicher zahl (jetzt
ca. 50) zur königlichen bibliothek in Berlin abgeliefert werden, lagen der Versamm-
lung als eine anschauliche grundlage des Vortrags vor. Wrede betonte zunächst die
Zuverlässigkeit des statistischen materials, auf dem der Sprachatlas beruhe. Im laufe
der langjährigen bescliäftigung mit den von ca. 50,000 gewährsleuten ausgefüllten
forniularen sei den bearbeitern der glaube an die brauchbarkeit derselben nicht gesun-
ken, sondern gestiegen, nur dürfe man an sie nicht forderungen stellen, die sie ihrer
natur nach nicht befriedigen könnten. Da den gewährsleuten keinerlei phonetische
bezeichnungsweise vorgeschrieben gewesen sei und auch nicht habe vorgeschrieben
werden können, so ergebe sich von selbst, dass ihre aufzeichnungen nicht als pho-
netisch genaue dialektwidergaben, die auf ihnen beruhenden karten nicht als fertige
dialektkarten anzusehen seien. Um zu den phonetischen werten durchzudringen
erfordere jede karte (gerade so wie jede alte hdschr.) eine besondere, häufig recht
complicierte Interpretation, die mit schriftsprachlicher beeinflussung der gewährsmän-
ner, mit dialektisch gefärbter ausspräche des sciirif tdeutschen , mit diakritischen
bestrebungen in der Orthographie der Übersetzungen usw. sich abzufinden habe. An
zahh'eichen beispielen zeigte der vortragende sowohl die Schwierigkeiten, als auch
die m'öglichkeit bei inniger Vertrautheit mit dem gesammten material sie zu überwin-
den und wichtige resultate und aufschlüsse zu gewinnen. Der Verfasser wies auf
die problematischen zusammenhänge von dialekt- und alten Stammesgrenzen, die
principiellen i;nterschiede sprachgeschichtlicher entwickluug in dem alten westlichen
PHILOLOGENVERSAMMLUNG IN KÖLN 1895 533
stammlaud und dem östlichen kolonisatiousbodeu, die intimen zusammenhänge von
Sprachgeschichte imd besiedlungsgeschichte hin und erläuterte dies an heispielen aus
dem atlas. Leider laste auf den bearbeitem die mechanische herstellung der karten,
die ihnen in erster linie obliege, so schwer, dass ihnen für die wissenschaftliche Ver-
arbeitung keine zeit bleibe. Und doch sei es dringend zu fordern, dass mit dersel-
ben begonnen werde. Je massenhafter sich das material häufe, um so grösser werde
die gefahr, dass selbst die bearbeiter des atlas den überblick verlören, wenn nicht
mit der technischen weiterführimg seine wissenschaftliche Verwertung band in band
gehe. — Die erörterungen, die sich dem vortrage anschlössen, zeigten, dass die ger-
manistische section dem Sprachatlas grosses Interesse entgegenbringt und den darlegun-
gen des vortragenden mit regster teilnähme gefolgt war. Allgemein war die Über-
zeugung, dass es allerdings notwendig sei, die wissenschaftliche bearbeitung des
maierials nicht länger hinauszuschieben und ebenso, dass kein anderer besser dazu
befähigt sein könne, als die männer, in deren band seit sieben jähren das unterneh-
men ruhe. Die section nahm dabei einstimmig einen antrag des prof. Schröder an-
„dem herrn minister für die dem deutschen Sprachatlas gewährte Unterstützung ihren
ehrerbietigsten dank und zugleich die dringendste bitte auszusprechen, die zu einer
gedeihlichen fortführung und ausbeutung des Unternehmens nötigen mittel zu bewil-
ligen." Die ausführuug des beschlusses wurde einer kommission überlassen. An der
diskussion hatten sich beteiligt: Burdach, Schröder, Franck, Wilmanns, Zip-
per (Lemberg), Kossinna.
Etwas später und langsamer als an den vorhergehenden tagen fanden sich die
mitglieder der section am morgen nach dem festmahl im Gürzenich ein, um einen
Vortrag des herrn prof. Burdach aus Halle zu hören. Mehr als ein anderer ver-
trag Hess dieser empfinden, dass die germanistische abteilung eben nur eine abteilung
der allgemeinen philologenversammlung ist, dass alle historischen Wissenschaften zu-
sammenhängen und sich gegenseitig befruchten müssen. Der vortragende wollte die
Überzeugung verstärken, dass die altdeutsche philologie gut tue, ihre grenzen zu
erweitern, namentlich die entwicklung der kunst zu berücksichtigen und die latei-
nische litteratur heranzuziehen. Unter diesen gesichtspunkten besprach er, bald mehr
bald weniger eingehend, eine reihe interessanter erscheinungen unserer älteren litte-
ratur. Wie weit manche anschauungen, bei denen man es auf den ersten blick kaum
vermutet, in das altertum zurückreichen, zeigte er namentlich an einem miniatur-
bild zum falschen gast, auf dem ein buhlerisches weib durch verschiedene gunst-
bezeugungen gleichzeitig mehrere männer zu beglücken weiss. Bis in die jüngere
attische komödie verfolgte der vortragende die weit verschlungene wanderaug dieses
motivs. Besonders aber lenkte er die aufmerksamkeit auf das gebiet allegorischer
darstellungen. Aus der jüngeren sophistik der römischen kaiserzeit stamme die
anwendung von Personifikationen abstrakter wesen; durch die vermittelung mittel-
alterlicher poetiken dringe sie in die lateinische schulpoesie; in die poesie der Lan-
dessprachen habe sie oft ihi-en weg durch das medium der bildenden kunst genom-
men. In diesem Zusammenhang wurde der bekannte Spruch TJbermiiot diu alte
behandelt, Hemrichs von Veldecke darstellung Salomous auf dem lager der minne,
Eeinmars von Zweter wunderliches bild des idealen mannes, und dann auf die unge-
meine entfaltuug der allegorischen dichtung seit dem ende des 13. Jahrhunderts hin-
gewiesen, die von bildender kunst befruchtet, ihi-erseits auf diese wider zurückwirkt. —
Dem anziehenden vertrag, dessen reicher inhalt sich in einem kurzen refei'at schlecli-
terdings nicht anschaulich widergeben lässt, fügte herr prof. Greiz enach einige
534 philologen\"ersajd:lung in Köln 1895
bemertiuigen hinzu. Er wies auf die dramatischen aufführungen als eine quelle der
bildenden kunst hin und führte auf sie namentlich darstellungen des totentauzes und
des bethlehemitischen Idndermordes zurück.
Nui' kurze zeit war noch übrig; sie benutzte, einer aufforderung des ver-
sitzenden mit dankenswerter bereitwilligung folgend, herr prof. Jostes aus Freiburg
i. Schw. zu mitteilungen aus seinen Untersuchungen über die heimat der altsäch-
sischen denkmäler. Nach Westfalen gehören nach der ansieht des vortragenden
nachweislich nur die beiden heberollen von Essen und Freckenhorst, für alles audei-e
sei die herkunft aus dem östlichen gebiet des Sachsenstammes wahrscheinlicher. Die
as. beichte (deren uns vorliegende fassung übrigens auf klösterliche Verhältnisse
berechnet und nicht älter sei als die hs.), die homilie Bedas, die Gregoriusglossen,
die evangclienglossen ständen zwar in hss. , die ehemals dem stift Essen gehört hät-
ten, aber diese hss. seien nachweislich erst gegen ende des 10. Jahrhunderts dorthin
gelangt; die hs. der Düsseldorfer Prudentiusglossen aber, die man nach Werden
setzt, sei wahrscheinlich erst in der zeit der reformation aus Helmstedt in das mut-
terkloster Werden gebracht. Ebenso weise die Überlieferung des Heliand in das öst-
liche gebiet. Der Cottonianus steht in einer hs. mit einem Über qnondam Canuti
regis, P. klebte auf dem deckel eines Eostocker druckes, M. ist durch Heimich II.
nach Bamberg gekommen und die hs. der Vaticanischen fragmente sei zwar, wie der
in derselben hs. erhaltene und von derselben band geschiiebene kalender beweise,
in St. Alban in Mainz geschrieben; aber dieser kalender sei ein kalender der Mag-
debm-ger kirche, beweise also, dass sich damals Magdeburger in Mainz aufhielten.
Nach dem osten weise auch die spräche: die alHtteration von g : j und der wert-
schätz, besonders der gebrauch, den fremden städtenamen das wort hurg anzuhän-
gen. Ein engeres gebiet zu bestimmen gestatten dann einige Wendungen, die der
dichter braucht, vor allem die stelle, wo von dem auf sand gebauten, durch wind
und regen zum einsturz gebrachten hause die rede ist. Aus den venti ist westraiii
wind geworden, ans den phivia und flumina: tvägo ström, sees üäeon; nur an der
Westküste eines meeres können also der dichter und sein nächstes publikum gewohnt
haben. So kommen wir auf Nordalbingien und dazu stimmen die beziehungen Lud-
wigs des Frommen zum dichter und die kii-chlichen Verhältnisse des landes. Ham-
burg war der ausgangspunkt für die christianisienmg Dänemarks und mit dieser hatte
der kaiser seinen Jugendfreund Ebbe , den erzbischof von Eheims , später auch bischof
von Hüdesheim, den söhn eines deutschen bauern, betraut. Mit der tätigkeit Ebbos
also dürfte die abfassung des Hehand in direktem zusammenhange stehen. — Früher
als es den zuhöreru lieb war, musste herr Jostes seine mitteilungen, die durch ihre
zwanglos natürliche Vortragsweise nicht weniger angezogen hatten als durch ihren
Inhalt, abbrechen; denn wir mussten zur allgemeinen sitznng eilen, um dort einen
Vortrag des herrn dr. Wenker zu hören. So wurde dann die sitzung nach schnell
gewechselten höflichkeiten zwischen dem Vorsitzenden und der section, pünktlich um
10 uhr geschlossen.
AHLGRIMM, ÜBER TÄRDEL, SPIELMANXSPOKSIE 535
LITTEEATUE.
Untersuchungen zur mhd. spielmaunspoesie. 1. zum Orendel, 2. zum
Salmau-Morolf. Von Herrn. Tardel. Scliwerin 1894. (Leipzig, G. Fock in
comm.) 72 s. 1,20 m.
Der 1. teil dieser Eostocker dissertation , die schon vor E. H. Meyers und
Laistners einschlägigen abhandlungen (Ztschr. f. d. a. 37 und 38) beendet war, aber
im hinblick auf die ergebnisse jener noch einmal durchgesehen wurde, gibt zunächst
eine Übersicht über die verschiedenen ansichten, die betreffs des dem spielmanns-
gedichte von Orendel zugrunde liegenden Stoffes aufgestellt sind. Tardels Untersu-
chungen stellen sich als ergänzung des 1. teils der arbeit Meyers dar, der die Oren-
delfabel ihrem kerne nach auf eine „vollere frz. bearbeitung des ApoUonius-romans"
zurückführt. Dem gegenüber versucht Tardel den nach weis, dass dem deutschen
dichter jene fabel in der gestalt des frz. Jourdain de Blaivies vorgelegen habe. Er
muss aber selbst zugeben, dass Orendel auch manches mit Apoll, gegenüber Jourdain
gemein hat. Und wenn Tardel weiter viele der sich im Apoll. -Jourd.- Orendel fin-
denden motive auch sonst in frz. und deutscher volkspoesie nachweist, so zeigt das
doch schon, dass man sich den deutschen dichter nicht nach einer aufgeschlagenen
vorläge arbeitend zu denken hat; vielmehr nahm dieser, der doch in der Trierer
gegend lebte und sich vielleicht vordem als kleriker in Frankreich aufgehalten hatte,
auf was ihm von den oft erzählten Apollonius-geschichten, die sicher unter einander
variierten, haften geblieben war. Und wie viel auch hier schon wider aus nur münd-
lich fortlebenden fabeln und märchen entlehnt war, zeigen Laistners Untersuchun-
gen. — Somit kann nur gesagt werden, dass der Orendeldichter besonders motive
der Apolllonius - fabeln aufgenommen hat. Über die direkte quelle kann nichts behaup-
tet werden.
Der wert der Tardelschen arbeit besteht in der fleissigen Zusammenstellung
von ApoUonius-motiven, die sich im Orendel und in der frz. und deutschen volks-
poesie finden. Demnach ist der enge Zusammenhang zwischen frz. und deutscher volks-
poesie aufs neue dargetan. Mehr wert hätten Tardels Zusammenstellungen allerdings
noch, wenn er die datierung der angezogenen frz. volksepen gäbe. Denn es bleibt
wenigstens überall der versuch übrig nachzuweisen, welches volk das einzelne motiv
in die dichtung eingeführt hat, vorausgesetzt dass es nicht schon aus dem antiken
roman übernommen ist. Bei manchen wird es allerdings nicht gelingen , bei manchen
wird es nur mehr oder minder wahrscheinlich gemacht werden können. Aber es
werden auch fälle voi'kommen, wo man ein motiv bestimmt datieren kann, wie z. b.
der Orendel \ielleicht doch ziim ersten male in der deutschen dichtung die colee auf-
weist, so dass wir dann die merkwürdige tatsache hätten, dass ein motiv aus dem
ritterlichen leben weit fiüher in der niederen volkspoesie als in der höfischen dich-
tung behandelt worden sei. Vgl. dagegen Vogt, Ztschr. 22, 484 fg. Dass Ise sich
bei diesem ritterschlage das schwert selbst umbindet, wie Tardel sagt, ist irrig (vgl.
V. 2291; er gürtet sich selbst dann zum furnier v. 2295).
Gegenüber den historischen parallelen zum Orendel, die E. H. Meyer im zwei-
ten teile seiner abhandlung zusammengestellt hat, beschränkt sich Tardel auf die
bemerkung, dass dieselben „mit reserve aufzunehmen" seien. Auch Harkensee und
Berger haben sich den diesbezüglichen ausführungen Meyers (Ztschr. f. d. a. 12) ge-
genüber ablehnend verhalten. Vogt verhält sich ebenfalls zurückhaltend, obgleich er
(Ztschr. 22, 483) schon gegenüber Berger das Meyer zugibt, dass der historische
536 AHLGRIMM, ÜBER TARDEL, SPIELMANNSPOESIE
hintergrund unseres gedichtes auf die zeit nach dem dritten kreuzzuge hinweist, wie
denn auch in einigen punkten Meyer gegenüber Bergers ausführungen (Ausg. s. LIX)
recht habe. Mej^er hat seine ausführungen seitdem vermehrt und verbessert; danach
scheinen mir denn doch mehr historische reminiscenzen aus der geschichte des drit-
ten kreuzzuges im Orendel enthalten zu sein, als man bisher annahm. Dass die
spielleute sich diese teilweise pikanten anekdoten nicht haben entgehen lassen, ist
doch auch von vornherein wahrscheinlich. Aber auch hier wird man häufig nur bis
zu einem gewissen grade wahrscheinlich machen können, dass ein zug nicht aus der
Volksüberlieferung, sondern aus diesen kriegsgeschichten stamme. Auf einen von
Meyer aus dem leben Alberos von Trier berichteten historischen Vorgang (vgl. a. a. o.
s. 329) geht, glaube ich, auch der von Vogt zur ergänzung der Untersuchungen Heiu-
zels (Ztschr. 2ü, 411) beigebrachte zug zurück, der sich gleiehmässig im Seghelijn
und Orendel (v. 3093 fgg.) findet.
In dem zweiten teile will Tardel eine Übersicht über die nachahmungen geben,
die motive der Salomosage in der mhd. volksepik gefunden haben. Es sind: die
brautwerbung in ihren Vorbereitungen, die eigentliche entführung und die wider-
erwerbung der entführten, deren ausgestaltung in Roth., Or. , Oswald, Otn., den
"Wolfdietrichen, Gudr., Nib., und (in einem anhange) in der frz. volksepik behandelt
wird. "Was also in den ausgaben dieser volksmässigen dichtungen bisher in einzel-
nen anmerkimgen über anklänge aneinander in einzelnen zügen kurz angedeutet war,
ist hier systematisch ziisammengestellt und als nachahmung der Salomosage betrach-
tet. — Es ist allerdings sehr wahrscheinlich, dass die Salomosage in vielen fällen
den ausgangspunkt für diese motive bildet; aber Tardel denkt doch die übrigen dich-
tungen in einem zu engen litterarischen abhängigkeitsverhältnis zu jener sage stehend,
wenn er in jedem falle bewusste nachahmung eines gedichtes von Salm an und Morolf
vorliegen sieht. Ich glaube vielmehr, dass man nui" von einem foi-tleben von lieb-
lingsmotiven reden kann, die zuerst in gedichten von Salman imd Morolf, ebenso
früh aber vielleicht auch schon in solchen vom könig Rother auftauchen, die dann
unzählige male von jedem spielmann in verschiedenen liedern gehört und gesungen
sein mögen und die weiter auch bei der dichterischen gestaltung neuer Stoffe ver-
wendet wurden, ohne dass man bestimmt das eine oder andere gedieht im sinne
hatte. Diese motive waren eben gesamtbesitz der spielleute, die in gewissen grossen
Zügen deshalb typisch wurden, aber im einzelnen frei ergänzt wurden, wie z. b.
in der Gudrun bei der entfühning der Hilde ein motiv in ein anderes eingefloch-
ten wurde. Deshalb geht es auch nicht an, den vogel in Gudr. 1166 als raben
zu deuten, wie Tardel wiU (vgl. s. 53 anm.), einfach weil in einer sagengrappe, die
auch auf Oswald eingewirkt hat, ein rabe ats böte verwendet ist; dagegen spricht
doch schon: ein vogel kam gevloxxen. Ebenso wenig kann man aus der in Roth,
und Gudr. vorkommenden, aber in den bekannten deutschen Versionen der Salomo-
sage nicht vorliandenen erkennung des verlobten oder gemahls durch einen ring nicht
auf eine dieses motiv enthaltende fassung der Salomosage schliessen, da dies motiv
schon aus den heimkehrsagen genugsam belegt ist. Das hiesse die Salomosage zur
allherrschenden in der Spielmannsdichtung machen und den reichtum der volksüber-
lieferung in märchen und sage ganz unterschätzen. Ganz anders liegt es bei den
angeführten frz. gedrehten, die ausdrücklich auf die Salomosage bezug nehmen oder
den Stempel der bewiissten nachahmung an der stirn tragen.
Auf einzelne punkte, in denen ich nach dem oben gesagten nicht mit Tardels
ausführungen einverstanden sein kann, gehe ich nicht ein. Im ganzen ist auch die-
BÖTTICHER, ÜBER SATTLER, WOLFRAMS RELIGION 537
sei' teil als eine fieissige luid für die sagengeschichte manchen beitrag liefernde arbeit
zu beurteüen, von der nur zu wünschen wäre, dass das ganze material im 1. wie
im 2. teile übersichtlicher angeordnet und dass ein inhaltsverzeichnis beigegeben wäre.
HAMBURG. FR. AHXGRIMM.
Die religiösen anschauiingen Wolframs von Eschenbach. Bearbeitet von
Antou Sattler, w'eltpriester und professor am fürstbischöflichen gymuasium in
Graz. [Grazer Studien zur deutschen philologie, herausgegeben von A. Scliönbach
und B. Seiiffert. 1. heft.] Graz, Styria. 1895. XI, 112 s. 3,20 m.
In den Grazer Studien soUen haupts<ächlich doctor - dissertationen von schülern
der beiden herausgeber veröffentlicht werden, da die österreichische rigorosenordnung
den dnick der dissertationen nicht verlangt. Den anfang dieser Sammlung macht
vorliegende arbeit, eine durchschnittsleistung auf dem gebiete der doctorarbeiten, die
von emsigem sammlerfleisse und von ausreichender Vertrautheit mit dem mhd. im
allgemeinen und mit Wolfram insbesondere zeugnis ablegt. Aber zur fördening des
Verständnisses WoKrams oder des urteils über seine werke kann man nichts aus ihr
gewinnen. Der Verfasser beschränkt sich eben darauf , die im Parzival und Wille-
halm enthaltenen religiösen anschauungen systematisch im zusammenhange darzustel-
len, die lehre von gott, Christus, Maria, den engein, der erbsünde, taufe, busse,
messe, vom priesteramt, der ehe, der askese, dem begräbnis, dem fegefeuer und
der heiligenaurufung. Diese ausführung begleitet er mit weitläufigen erörterungen
und citaten aus den kirchenvätern und der Scholastik, um zu zeigen, dass Wolfram dem
sinne nach mit ihnen übereinstimmt. Er scheint dabei hauptsächlich eine wider-
legimg San Martes im äuge gehabt zu haben, der bekanntlich evangelische regungen
in AVolfram gefunden zu haben glaubte und ihn zu einer art von evangelischem rit-
ter stempeln wollte. Diese ansichten San Martes zu widerlegen, soweit sie wii'klich
irrig waren, war ein solcher apparat nicht nötig, denn der Verfasser findet ja selber
zum schluss, dass Wolfram den theologischen fragen fern stand und zu den theolo-
gischen Schriften gar keine beziehungen hat; das aber, was davon richtig war, näm-
lich dass Wolfram ein wahi'haft innerlicher chi'ist und dem äusserlichen werkdienste
abgeneigt war, ja dass er auch manche leise kiütik an der kirchlichen praxis übte,
hat Sattler nicht widerlegt; er muss vielmehr selbst zugeben, dass einerseits man-
ches auffallende bei Wolfram steht und anderseits manches kirchlich wichtige fehlt.
Sattlers arbeit bestätigt nur die tatsache, dass sich Wolframs religiosität über
den gewöhnlichen katholischen begriff, wonach religiosität im wesentlichen im gehor-
sam gegen die Vorschriften der kirche besteht, erhebt, und dass ihm die innerliche
läuterung und Sinnesänderung, die widergeburt, das allein massgebende war. Das
erhellt aus folgenden punkten, die Sattler zum teil zugeben muss, obwol er sehr
leicht darüber hingeht:
1. In Parzivals bussaufenthalt bei Trevi'ezent fehlt die formale beichte, die
formale absolution und die satisf actio operis. Dagegen tritt um so stärker in
den Vordergrund die contritio cordis. Die letzteren beiden punkte gibt Sattler zu,
aber wenn er behauptet, dass die satisfactio operis kein wesentlicher teil des buss-
sacraments sei, so widerspricht er damit dem Lombarden, der ausdrücklich die drei
bestandteile aufzählt: contritio cordis, confessio oris, satisfactio operis. Sattler führt
ein paar stellen des IX. buches an, in denen die ausdrücke ivandel geben, ivandeln
vorkommen (P. 798, 8. 499, 17. 466, 13. 14), aber gerade diese beweisen, dass
der ausdruck nicht in dem kirchlichen sinne der satisfactio operis gebraucht ist.
538 BOETTICHER
Und gerade die stelle, die für Sattlers ansieht die wichtigste ist, die worte Trevre-
zents 502, 25:
gip tnir dtn sünde her :
vor got ich bin dins wandels wer.
und leist als ich dir hän gesagt,
beltp des teilten unverzagt
beweist aufs klarste, dass er hier unter wandet nicht die abbüssung der Sünden
durch gute werke oder durch auferlegte pein meint, sondern die Wandlung des
herzens, die umkehr.
Die woi-te gii) mir dm sünde her sollen nach Sattler, wie auch früher nach
Domanig und Seeber, natürlich die absolution enthalten; das tun sie auch, aber
durchaus nicht in der kirchlichen form; Trevrezent ist auch nach meiner ansieht
von priesterlichem Charakter, aber ob er ordnungsinässig als zum priester geweiht
gedacht ist, ist mir sehr zweifelhaft; vor seinem einsiedlerleben war er es jedenfalls
nicht, dass er aber mit dem entschluss, in die einöde zu gehen, die priesterweihe
erhalten habe, wird nicht erwähnt. Trotzdem ist er ein heilec onan, und in des
dichters äugen kein laie, und als solcher kann er auch Parzival die sünde abneh-
men auf grund dessen, dass er seine reuige umkehr sieht. Insofern hatte aber doch
San Marte mit seinen hinweisen auf evangelische ahnungen bei "Wolfram nicht so
ganz unrecht, und die „laienbeichte" ist auch nicht so ohne weiteres herauszuinter-
pretieren, ein punkt, der allerdings von Wichtigkeit ist, da von einer späteren beichte
bei einem priester, die doch nach der kirchenlehre notwendig gewesen wäre, nicht
die rede ist. Sattler sieht das priesteramt Trevrezents schon durch das Vorhanden-
sein eines altars erwiesen, aber ganz mit unrecht. Trevrezent gehört zum Grals-
geschlecht, und in Munsalvaesche wird der Gral doch auch auf einem altar gestan-
den haben, ohne dass ein priester da war — denn wo anders hätte die taube die
geheiligte oblate niederlegen sollen? Trevrezent hatte also wol für "W'olfram schon
durch seine Zugehörigkeit zum Gralgeschlechte priesterlichen Charakter, und so konnte
er auch absolvieren. Ich glaube keineswegs, dass Wolfram sich hier ausdrücklich
in gegensatz zur kirche habe stellen wollen ■ — er folgte ja überdies seiner quelle —
aber er stand den äusseren Ordnungen der kirche frei gegenüber und wusste das
Wesen von der form zu scheiden.
2. Der zweite punkt betrifft das Verhältnis zur heidenweit. Es zeigt densel-
ben Charakter innerlicher religiosität. Die zu seiner zeit allgemein herrschende
anschauung von der nngiltigkeit heidenchristlicher mischehen nimmt er als tatsache
hin, aber eine kritik dieses zustandes liegt für jeden unbefangenen in der Charak-
teristik Belakanes imd in den gewissensbissen Gahmiirets auf der haud. Es ist,
glaube ich, sogar niclit zu weit gegangen, zu behaupten, dass die triuwe und der
edle mannes muot für "Wolfram den menschen zum rechten Christen und der Seligkeit
würdig machte auch ohne taufe. Dies scheint mir die bestimmung des Feirefiz
zum Gral und die äusserlichkeit der taufhandlnng an ihm in ihrer begründung und
ihrer magischen Wirkung ziemlich deutlich zu sagen. Seine Charakteristik der edlen
beiden im Willehalm stimmt dazu. Ihn deshalb als evangelischen Vorkämpfer in
ansprach nehmen zu wollen, kann mir nicht einfallen, denn das ist ebensowenig
evangelisch als katholisch , aber "Wolframs innerliche religiöse richtung gegenüber dem
katholischen kirchendienste wird dadurch allerdings beleuchtet. Ähnliches liesse sich
auch von seiner hohen auffassung der ehe sagen, die nach ihm geradezu den him-
mel erwirbt, wenn sie rehte e ist:
ÜBER SATTLER, WOLFRAMS RELIGION 539
468, 5 wert ir erfunden an rehter e,
in maß %er helle tverden we,
dnt not sol schiere ein ende hän.
oder im Titurel 51, 2: %e himel ist reitie für got ir geleite.
"Wolframs Christentum ist biblisches Christentum mit einem stich ins huma-
nistische, wenn man so sagen darf, er hat aber keinen grund, polemische kritik an
der kirche zu üben. Er folgt allerdings, wie Sattler sagt, im allgemeinen der her-
kömmlichen Schulmeinung, aber er steht dem kirchentum mit seinen Ordnungen und
f orderungen sehr frei gegenüber, nicht als freigeist, sondern als eine religiöse natur,
die sicher auf dem unverrückbaren biblischen gründe des evangeliums von der erlö-
sung durch Christus ruht. Sattler nimmt keinen bezug auf meine Charakteristik
Wolframs in meiner Parzivalausgabe , obwol er sie, wie mehrere stellen seiner arbeit
zeigen, kennt; ich darf daher wol annehmen, dass er gegen sie nichts wesentliches
einzuwenden weiss.
Dies ist nun der eine grosse mangel an Sattlers arbeit, dass er die eben erör-
terten dinge gar nicht berührt. Der andere ist der, dass er sich die gelegenheit, bei
seiner ausgebreiteten kenntnis der patristischen litteratur nach den quellen für gewisse
ausführungen Wolframs zu suchen, hat entgehen lassen. Es war zu scheiden zwi-
schen den allgemein christlichen anschauungen und denen, die an theologische
erörterungen anklingen. Solcher gibt es allerdings nicht viel, und um so eher kann
man deshalb annehmen, dass sie alle der französischen quelle Wolframs angehören.
Dahin rechne ich z. b. die astronomischen anschauungen, die bei dem leiden des
Anfortas erörtert werden P. 489 fgg. Hier begnügt sich der Verfasser mit dem allge-
meinen hinweis, dass „man" eben damals solche meinung von dem Saturn und
den planeten hatte. Ferner gehört dahin die angelologie, die Trevrezent gibt (P. 463
fgg.), die menschenverderbnis durch die ungenuht der töchter Adams, und die heil-
mittel für Anfoi'tas' wunde samt allen wundern Indiens und des Orients. In der
französischen theologischen litteratur war hier in erster linie zu suchen. Eine
stelle hätte dies dem Verfasser besonders nahe legert müssen. Das taufbekenntnis
des Feirefiz weicht, wie der Verfasser zeigt, von dem gewöhnlichen ritual der kirche
ab, zeigt aber grosse ähnlichkeit mit einem französischen formular, das vom cardinal
Thomasius in einem sehr alten französischen missale entdeckt worden ist. Wolfram
wird es aus seiner quelle haben, und dies hätte den Verfasser veranlassen sollen,
der spur nachzugehen auch auf die möglichkeit hin, dass nichts dabei herauskam,
aber er stellt nicht einmal die frage auf. Mit des Verfassers thema hatte das aller-
dings nichts unmittelbar zu tun, aber nützlicher wäre gewiss eine Untersuchung gewe-
sen, die es sich zur aufgäbe machte, festzustellen, was von Wolframs religiösen aus-
führungen aus theologischen, besonders französischen werken stammte, und was
etwa als seine eigne zutat oder doch absichtliche fassung za betrachten sei. Nicht
bloss hierfür, sondern auch für des Verfassers thema von Wichtigkeit sind die letzten
Untersuchungen Heinzeis in den Wiener Sitzungsberichten über die quellen Wolframs.
Der Verfasser scheint sie noch nicht gekannt zu haben.
BERLIN, JULI 1895. G. BOETTICHER.
540 KAUFFMANN
Zur geschichte der schwäbischen mundart m XY. Jahrhundert. I. All-
gemeines lind vokale der Stammsilben. Von K. Bohnenberger. Tübingen, Lauj^p,
1892. X, 139 s. 4 m.
Das buch bringt nicht eine lautgeschichte im bereich des XV. Jahrhun-
derts, sondern eine statistische Übersicht der stammsilbenvokale. Der stoff ist
nicht einmal chronologisch geordnet und § 3 bekommen wir sogar zu lesen, dass die
schwäbische mundart „für den lauf des XV. Jahrhunderts einen wesentlich sich gleich-
bleibenden Charakter" zeige. S. 69 hören wir in der Verwendung von ei zeige sich
„zwischen beginn nnd ende des Jahrhunderts ein ziemlicher unterschied", s. 67 steht,
dass „auch in der ersten hälfte des Jahrhunderts die diphthongierung schon auf dem
ganzen gebiet vollzogen" gewesen sei. Aus diesem beispiel dürfte deutlich werden,
dass Bohnenberger geschichte der Orthographie und geschichte der laute nicht mit
erforderlicher strenge auseinanderzuhalten verstanden hat. Das ist aber die haupsache.
Bohnenberger erkennt an, dass wir uns mit der annähme allmählicher Um-
bildung der laute nicht begnügen dürfen. Er ist auch darin mit mir einig, dass wir
möglichst viele chronologisch zusammenfallende lautwandlimgen auf eine gemeinsame
Ursache zurückführen müssen. Mit mir sieht er den grund der Sprachveränderung
in der einwanderuug des stammes in seine jetzigen sitze. Jedoch im einverständnis
mit Herm. Fischer (Germ. 36, 407) hält er daran fest, dass lautwandlungen „gewan-
dert", entwicklungsstufen weitergegeben worden seien , lehnt aber die Zumutung ab,
den ausgangspunkt der bewegung zu bestimmen. Ich habe nun keineswegs allein
geographisch -physikalische bedingungen im äuge gehabt, sondern gesellschaftliche
im weitesten sinne dieses wertes; meine formulierung weicht klar und deutlich
von der J. Grimms (GDS^ 574 fg.) ab, entspricht vielmehr der von Burdach (Anz.
f. d. a. XII, 144), Müllenhoff (DA. III, 197), Meitzen (Jahrb. f. nationalökon. XXXII,
56) u. a. Meine gegner bitte ich doch zu berücksichtigen, dass historiker ganz ver-
schiedener richtung zu demselben ergebnis systematischer forschung gelaugt sind. Ich
eitlere mit besonderem vergnügen die werte von Lambert ten Kate (Aenleiding II, 18):
bij 't verre verspreiden der Volkeren, 't bewoonen van andere lugtstreken, 't gebrui-
ken van andere kruiden en voedsel, en't aenneinen van andere xeden moest niet
alleen een verandering van aert, van gemoedsdriften . van gestalte en van wexen
ontstaen .... tnaer ook gevolglijk een andere evenrediglieid van de tcerktuigen der
sprake en dacrdoor een verschil van tongeslag. Man gibt ja zum teil den mechani-
schen lautwandel zu, lässt ihn aber für die laut Constitution einer spräche nicht
ausschliesslich gelten und bekennt doch wider, dass die konstitutiven factoren nicht
aus dem äuge gelassen werden dürfen. Ich halte die annähme, dass es auch laut-
wandlungen und zwar gesetzmässig durchgreifende gebe, die von mundart zu mund-
art gewandert seien, für vollkommen überflüssig und widerspruchsvoll. "Wir stehen
heute doch alle auf dem Standpunkte, dass wir für jede mundart eine sogenannte
articulationsbasis , einen eigenartigen indifferenzzustand , oder wie Scherer wollte , einen
sprachlichen nörmalstand der organe festhalten. Dieser normalstand, sagte Scherer
(ZGDS - 33) ist für alle sprachen, ja für jeden besonderen dialekt einer spräche ver-
schieden. Dieser normalstand bildet die einheit der Sprachgenossenschaft.
Eine allgemein durchgreifende lautwandlung ist also für jedes einzelne Individuum an
ein und dieselbe Voraussetzung geknüpft: eine Übertragung annehmen, heisst diesen
nörmalstand für einen teil der Sprachgenossenschaft als nicht vorhanden betrachten.
Ganz anders liegen selbstverständlich die dinge, wo es sich um reproduction, nicht
um production handelt. Auch die leistuugsfähigkeit der phantasie und des gedächtnis-
ÜBER BOHKENBERGER, Saro\\BISCHE MTINnART 541
SOS ist massgebend für die individiialsprache, die zwar physiologisch keine anderen
funktionen zeigt als die der sprachgenosseu, aber in der gruppieriing des auf mecha-
nischem wege entstandenen laiitmaterials unterschiede aufweist, für deren ausbreitung
ganz andere normen gelten als für die lautwandlungen. So weit derselbe phonetische
normalstand, so weit dieselben constitutiveu factoren reichen, so weit reichen dieselben
sprachgeschichtlichen ergebnisse; unterschiede innerhalb dieses bereichs beruhen nicht
auf Sprachveränderung, sondern auf individuellen tendenzen des sprachusus, die
nicht von dem mechanismus der Sprachorgane, sondern von der gedächtniss-
mässigen beherrschung des sprachstoffes abhängen. Folglich spielen nur bei den
auf association beruhenden Veränderungen des sprachusus Übertragungen eine rolle.
Was die einzelnheiten der grammatik betrifft, so ist wenig erfreuliches zu ver-
zeichnen. Seitdem Brandstetters arbeiten vorliegen, müssen anforderungen gestellt
werden , denen Bohnenbergers buch entfernt nicht genügt. Bohnenberger ist über die
von mir gegebenen directiven nicht hinausgekommen. Dabei verwertet er ein viel
beschränkteres material, seine quellen gehören meist der zweiten hälfte des 1.5. Jahr-
hunderts an, die erste hälfte ist nur in sehr geringem mass ausgeschöpft worden.
Neben den urkuudenbüchern wären die originale, neben den dnicken die datierten
handschriften heranzuziehen gewesen. Bei der beschränkung, welche Bohnenberger
sich auferlegt, hätte man doch zum mindesten Vollständigkeit der belege, wenn auch
nur in zahlenmässigen angaben, erwarten dürfen. "Wo Bohnenberger eine neue sprach-
geschichtliche auffassung bietet, ruht sie mehr auf raisonnements denn auf tatsäch-
lichen be Weismaterialien. Bohnenberger will z. b. mit H. Fischer (Germ. 36, 413) ö
der heutigen mundart für ä des frühen mittelalters aus ao oo hervorgegangen sein
lassen, wie im ahd. au über ao zu o geworden sei. Dabei hat er nicht bedacht,
dass der vergleich hinkt, denn ahd. au ist zu geschlossenem ö geworden! Noch im
15. Jahrhundert, meint Bohnenberger, habe sich ao (== ä) zu qo entwickelt „aber nur
so weit, dass es deutlich noch diphthong blieb und die Schreibung au noch als pas-
sendste widergabe des lautes erscheinen konnte" (s. 26) ! ! Was liegt da für eine
auschauung deutscher Orthographie zu gründe!' Die Weiterentwicklung zu y habe sich
aber zweifellos nicht überall organisch vollzogen — d. h. Bohnenberger selbst kommt
mit seiner annähme nicht durch. Und nun stimmt er auch noch mir bei, dass ä
unter zweigipfliger betonung sich zu diphthongischem ao entwickelt habe und auf der
folgenden Seite meint Bohnenberger, ich werde genötigt sein, diese erklärung selbst
zurückzuziehen (s. 26. 27). Dass ich keine belege beigebracht hätte, ist ein iritum;
hat doch schon H. Fischer hervorgehoben, was für meine ansieht spreche. Ganz
ähnlich dem, was ich über hqt und häo gesagt habe, lautet, was Bohnenberger
s. 29 über da als möglicherweise zulässig- bemerkt und wie wenig genau er verfährt,
dürfte daraus hervoi'gehen, dass s. 27 zu lesen steht, o werde „von vereinzeltem
abgesehen in wenigen bestimmten erscheinungen häufiger geschrieben", während der-
selbe Verfasser s. 29 sich über o folgendermassen auslässt: eine grosse roUe spielt o.
1) Bohnenberger ist von einem aberglauben an den buchstaben beherrscht, den
man kaum für möglich halten sollte. Es ist geradezu abenteuerlich, was er alles in
die Schreibungen hineingeheimnisst. man vergleiche z. b. § 9. 13. 17. 21 u. ä. Be-
sonders macht die folgende notiz der phonetischen akribie des 15. jahres alle ehre:
0 und e können beide in der Schreibung wechseln. Wie oben gezeigt, kann es auch
bei e unter einfluss der umgebenden consonanz zu einer gewissen stärkeren lippon-
rundung kommen und wo man weiss, dass dem ö eigentlich runduug zukommen soll,
"wird man daher dieses zeichen in solcher Stellung besonders gern gebrauchen (s. 35).
542 KAÜFFMANN
Eiu energischer angriff gegen mich erfolgt § 32. Ich soll in der därstellung der an
mhd. e sich knüpfenden sprachgeschichtlichen probleme vielerlei Verwirrung ange-
richtet haben. Ordnung habe erst H. Fischer (Germ. 36, 416) geschaffen. An die-
ser stelle hat Fischer meine erklärung der diphthongierung einfach angenommen.
Dasselbe hat Bohneuberger s. 54 getan, desgl. s. 76 für mhd. ö. So glaube ich der-
jenige zu sein, der Ordnung geschaffen hat. Bohneuberger hat die dinge in einen
knäuel verwirrt, wenn er ostschwäb. ea aus mhd. e mit gemeinschwäb. es aus mhd. e
verbindet, denn dort liegt geschlossene, hier offene qualität zu gründe. Ich kann
mich noch nicht davon überzeugen, dass ich volkstümliche und nicht volkstümliche
formen durcheinandergemengt hätte. Einen eigenen gedanken Bohnenbergers glaube
ich erst s. 86 (§ 56 aum.) aufgestöbert zu haben. Während ich nämlich für die ent-
wicklung ö > ae angenommen hatte, dass vor der umlautung ö diphthongiert,
diphthongisches o« zu ö><- und dieses secundäre öü mit dem primären öü gemeinsam
zu ae geworden sei, entscheidet sich Bohnonberger dafür, dass bereits vor der diph-
thongierung von e das aus ö umgelautetete ö entrandet, mit e zusammengefallen
und fernerhin mit diesem zugleich diphthongiert worden sei. Bohneuberger hat sich
nirgends über das alter der entrundung geäussert. Nach den von mir gesammelten
belegen ist aber die diphthongierung bedeutend älteren datums als die entiimdung
und so lange sich Bohneuberger nicht mit den tatsachen der Überlieferung ins ein-
vernehmen setzt, kann ich jenen ausweg Mos für einen einfall halten. Das ist eben
das beklagenswerte an dem Bohnenberger'schen buch, dass er die gesammtüberlie-
ferimg nicht im äuge behält und namentlich, was dem 15. Jahrhundert voraus liegt,
vernachlässigt oder ganz überschlägt. Eine etwas eingehendere betrachtung des Sach-
verhalts erfordert § 88 anm. Es handelt sich um den laut, der in den normalisier-
ten mhd. texten iu gedruckt zu werden pflegt. Bohneuberger gibt zunächst belege
für die wechselnde Schreibung, ohne dass nach der herkunft der verschiedenen
Systeme gefragt wäre und das ist jetzt die erste aufgäbe des dialekthistorikers. Mir
wird vorgeworfen, ich hätte den alten diphthong und den umlaut von ü einfach zu-
sammengeworfen, das ist doch aber, wie der augenschein lehrt, nur zum teil richtig.
Ich habe eine kategorie aufgestellt, in der es sich nur um entsprechungen von mhd.
m handelt, allerdings aber auch eine zweite kategorie, in der ich den alten diph-
thong und den umlaut von ü zusammeugefasst habe. Das tut aber auch Fischer, auf
den sich Bohnenberger beruft und das tut auch Bohneuberger selber (s. 120), nur
fehlte es bei mir an der geographischen abgrenzung und au der Unterscheidung der-
jenigen m, welche nicht umgelautet worden sind. Auch Bohnenberger lässt genau
wie ich einen teil der tu zu « werden und mit etymol. * zusammen diphthongierung
erleiden. Ich habe nun gesagt (s. 169), die diphthongierung zu tu müsse eingetreten
sein, ehe ü und i zusammengefallen waren; Bohnenberger erklärt, gei'ade das gegen-
teil sei der faU. Damit widerspricht er widerum sich selbst, wenn auch er s. 120
annimmt, die entwicklung sei über ü bezw. i gegangen, er wisse allerdings nicht
wie tii aus m entstanden sei. Bohnenberger hat meinen text gar nicht genau ange-
sehen, bekennt er doch s. 121 selbst, die entwicklung von tu > tii werde man nicht
in spätere zeit setzen können, als die von « > a«. Es ist nur ein teilgebiet des
schwäbischen, in welchem mhd. * 0 iu iui zusammengefallen sind, in anderen
strichen begegnet für das unumgelautete iu > ui, ü. Es ist eine ganz unbegründete
und unerweisliche annähme, in fällen wie iiui (neu), suit (siedet), tsiiixt (sieht) liege
unumgelautetes iu vor. Mit andern -werten , die von Fischer und Bohneuberger gegen
meine därstellung erhobenen einwände sind noch zu wenig begründet, als dass ich
ÜBER BREMER, GRAJLMAT. DEUTSCHER MA. 543
etwas zurückzunehmen hätte. Bohnenberger behauptet sogar s. 122: wo mhd. iu im
reim mit dem umlaut von ü gebunden ist, setzt man am besten für beide giieder 9i
an und s. 119 hatte er mir vorgehalten, ich hätte den alten diphthong und den umlaut
von ü einfach zusammengeworfen, als ob er nicht zum selben resultat von den tat-
sachen gedrängt worden wäre. In gleicher weise niuss ich mich dagegen verwahren,
wenn Bohnenberger behauptet (s. 126), ich hätte für den Übergang von ou >- ao ein-
fach auf die dabei vollzogene entrundung hingewiesen, als hätte ich mich nicht auch
über die entwieklung des 2. componenten klar und deutlich ausgesprochen. Gegen
meine erkläruug soll nun der Übergang von ai > od und so von ä <i q sprechen,
im Osten liege langes offenes o vor, man habe folglich als ältere form ao, mi voraus-
zusetzen. Dabei hat Bohnenberger übersehen, dass die entwieklung mehr mit ö als
mit ä zusammengeht und dass die benachbarten alem. gebiete wie in vielen andern
fällen, so auch hier aller Wahrscheinlichkeit nach das ältere ou bewahrt haben. Es
erweist sich überall der gesichtskreis des Verfassers als zu eng begrenzt.
JENA. FRIEDRICH EAUFFMANN.
I
Sammlung kurzer grammatikon deutscher mundarten herausgegeben von
0. Bremer. Leipzig , Breitkopf & Härtel. '
I. Deutsche phonetik von 0. Bremer. 1893. XXHI, 208 s. mit 2 taff. 5 m.
U. Bibliographie der deutschen mundartforschung für die zeit vom beginn
des 18. Jahrhunderts bis zum ende des Jahres 1889 zusammengestellt von
F. Mentz. 1892. XX, 181 s. 5 m.
Der gedanke, eine allerseits erwünschte Sammlung von grammatiken deutscher
mundarten durch eine phonetik einzuleiten, ist in jeder beziehung gutzuheissen. Denn
beobachtung des mundartlichen sprachlebens, wozu die phonetik anleitung geben soll,-
ist und bleibt die elementare Vorarbeit dialektologischer forschung. Diese beobach-
tung kann nicht sorgfältig und eindringend genug sein. Das vorliegende buch selbst
gibt davon ein rülunliches beispiel. Ich wüsste dem herrn herausgeber nichts besse-
res zu wünschen, als dass seine mitarbeiter sich an ihm, was gründliclikeit der
beobachtung betrifft, ein beispiel nehmen möchten. Es wäre schon viel erreicht,
wenn solches Vorbild nachfolge fände. Ich zweifle wenigstens nicht, dass kein leser
von Bremers buche scheiden wird, ohne den lebhaften eindruck davon ^bekommen
zu haben, dass hier mit unablässiger energie die tätigkeit der Sprechwerkzeuge
beobachtet und zur darsteUung gebracht worden ist. Zweifelhaft ist mir aber,
ob das buch geeignet ist, zur Selbstbeobachtung solche anzuleiten, die ohne pho-
netische Vorbildung an eine wissenschaftliche darsteUung ihrer mundart gehen wol-
len. Auf ein paar selten — unzweckmässigerweise am Schlüsse des ganzen —
wird über lautschrift gehandelt: meiner ansieht nach hätte dieser anhang den ein-
gang bilden sollen, damit die praktischen aufgaben gleich von vornherein deut-
lich werden und damit der dialektologe von den praktischen aufgaben aus in die
Systematik des phonetikers eingeführt werde. Unpraktisch ist das buch für die
nächsten zwecke der lernenden ausgefallen. Es sind zum Verständnis dessel-
ben Vorkenntnisse erforderlich, über die nur ganz wenige philologen verfügen. Es
ist im Interesse der sache zu bedauern, dass Bremer nicht, was seine absieht gewe-
1) Über das erste heft dieser Sammlung giengen uns zwei reconsionen zu,
von denen die erste bereits oben s. 375 fg. veröffentlicht ist. ked.
544 KAUFFMÄNN, ÜBER BREMRK, GRAMMAT. DEUTSCHER MA.
sen war, einen eleu anfanger einführenden leitfaden gesclirieben hat. Jetzt wendet ei-
sich nicht an anfänger, sondern an einen sehr engen kreis selbständiger forscher.
Nun sieht man aber nicht mehr ein, warum Bremer mit einem solchen buch gerade
seine Sammlung von dialektgrammatiken eingeleitet haben wollte. Mit dieser Samm-
lung hat das buch tatsächlich nichts zu schaffen. Bremer selbst verweist die lernen-
den für wichtige probleme der dialektphonetik auf Sievers, weil diese in seiner dar-
stellung gar nicht behandelt werden. Das buch erfüllt auch insofern seinen zweck
nicht, als es keinerlei materialien deutscher mundarten bringt: die beispiele sind auf-
fallenderweise nicht der mundart, sondern dem norddeutschen „normaldeutsch'' ent-
nommen. Ja Bremer hat nicht einmal dadurch das Studium erleichtert, dass er an
die philologische Vorbildung seiner mitarbeiter anknüpfte, er hat nicht wie Sievers
und Victor auf unsere philologischen Interessen rücksicht genommen , nur ganz selten
(z. b. s. 75) tut er einen sprachgeschichtlichen ausblick. Hat der dialektologe — man
gestatte der kürze halber dies wort — seither an den erscheinungen der deutschen
Sprachgeschichte Verständnis für phonetische probleme zu gewinnen versucht, so
bricht jetzt Bremer alle brücken ab. Das ist deswegen zu bedauern, weil die auf-
gaben des phonetikers und die des dialektologen sich nicht decken und Bremer auf
die specifische Schulung des letzteren verzichtet hat. Bremer sagt zwar, sein buch
sei für philologen bestimmt, aber die historisch -philologische Seite ist durchaus ver-
nachlässigt. Bremer erklärt denn auch, bloss als hilfswissenschaft beschäftige sich die
phonetik vorzugsweise mit denjenigen sprachf actoren , deren Wirkung man kennen
müsse, um sich der Vorgänge beim eigenen sprechen bewusst zu werden und die
Sprache anderer nachbilden zu können. Als specielle aufgäbe hat sich Bremer nicht
die phonetik deutscher mundarten gesetzt, sondern die phonetik derjenigen mundart,
welche in ganz Deutschland am bekanntesten sei, die spräche der gebildeten, vor-
nehmlich der Norddeutschen: meiner erfahrung nach wird Bremer in Mitteldeutsch-
land, Süddeutschland, Schweiz und Österreich - Ungarn wenige leser ünden, die mit
dieser sogenannten „normalsprache" bekannt sind. Das ist eine zweite bedauerliche
beschränkung des leserkreises. Drittens besteht nun aber die Bremersche phonetik
schon aus einer akustik der geräusche und einer akustik der klänge. Das ist nur ein
ganz geringer bruchteil dessen, was wir bisher unter phonetik zu verstehen gewohnt
waren. Sehr breit sind die erörterungeu der vorbegriffe ausgefallen. Hier hätte stark
gekürzt werden dürfen, um räum für das zu gewinnen, was jetzt in dem buche fehlt.
Jene vorbegriffe haben allerdings eine vorzügliche darstell ung durch abbil düngen ge-
funden, die so klar und so schön sind, dass ich sie nicht genug empfehlen kann;
namentlich bringt tafel II eine reihe von aitikulationsbildern , denen ich grossen päda-
gogischen wert beilege. Wie ich schon betont habe, finden sich in dem buch sorgfältige
beobachtiingen, aber sie bewegen sich grossenteils auf gebieten, auf denen noch vie-
les, wenn nicht das meiste sehr unsicher ist: ich denke dabei z. b. an die mit grosser
aiisführlichkeit behandelte frage von den eigentönen der vokale (vgl. jetzt Auerbach,
Zeitschrift für französ. spräche XVI, 117 fgg.). Bremers darstellung wächst hier weit
über den rahmen der praktischen phonetik hinaus in den der allgemeinen theore-
tischen phonetik hinein und die letzten paragraphen über betonung und accent haben
infolge des Übergewichts der resonanzlehre nicht mehr die ausgestaltung erfahren,
die der Wichtigkeit der Sache entspräche. Im ganzen bringt das buch eine articula-
tionslehre der einzelconsonanten und cinzelvokale der norddeutschen normalsprache.
Die reichhaltigkeit der beobachtungen an diesem idiom und die anschaulichkeit in der
beschreibnng derselben haben zum erstenmal diese sogenannte norddeutsche normal-
JIRICZEE, ÜBER PEDER LRLE EDD. A. KOCK ET C. AF PEDERSENS 545
spräche für die forschung zugänglich gemacht, aber die hehandlung ist fragmentarisch
und für angehende dialektforscher nicht zu empfehlen.
Der zweite band bringt von F. Mentz eine bibliographie , die leider nur bis
ende 1889 reicht. Sie ist viel reichhaltiger und nützlicher als die von mir in Pauls
Grundriss der germ. philologie gegebene, bei der ich mit engem räum haushalten
musste. Es ist ja auch bei Mentz noch mancherlei nachzutragen, z. b. die litteratur
über das für dialektgeschichte so wertvolle judendeutsch, die arbeit der älteren dia-
lektforscher, der mitarbeiter Leibnizens (Eccard, Meier, Frisch), eines Lambert ten Kate,
Reichards versuch u. a. Aber aUe etwaigen ergänzungen, die ich bieten könnte,
kommen nicht in betracht im hinblick auf die fülle des materials, die Mentz zusam-
mengetragen hat und die jetzt eher einen überblick über die geschichte der forschung
ermöglicht. Die gruppierung rührt von Bremer her, der bereits (s. VI fg.) in einzel-
nen punkten ändeningen getroifen zu haben wünscht. Mir ist manches ganz unver-
ständlich, am unverständlichsten der Vorwurf, die Knien auf den karten des Wen-
kerschen Sprachatlas seien „zum grossen teil nicht zuverlässig". Ich bin mit den
arbeiten Wenkers des näheren vertraut und weise eine deraiiige anschuldigung, so
lange sie nicht durch belege begründet ist, als unberechtigt und ungehörig zurück.
JENA. FRIEDRICH KAUTFMANN.
Östnordiska och latinska medeltidsordspräk. Feder Läles ordspräk och en
motsvarande svensk samling utgivna för Samfund til udgivelse af gammel nordisk
litteratur. I. bd. Texter med inledning, utg. av Axel Kock och Carl af Peter-
sens. Kopenhagen 1889 — 1894. VIII und 284 selten. II. bd. Kommentar av
Axel Kock. Kopenhagen 1892. VI und 446 selten. Kompl. 22 krönen.
Das umfängliche werk „Ostnordische und lateinische Sprichwörter des mittel-
alters", das liefeningsweise als Veröffentlichung des dänischen Vereins für publication
alter nordischer Litteratur zu Kopenhagen seit dem jahi-e 1889 erschienen ist, liegt
nunmehr abgeschlossen vor. Axel Kock und Carl af Petersens haben die arbeit der-
art geteilt, dass beide gemeinsam die dänischen Sprichwörter herausgegeben haben,
C. af Petersens allein die schwedischen, von Kock allein rührt (bis auf die beschi-ei-
bung der schwedischen hdschr. von Petersens) die einleitung imd der kommentar her;
ein sehr praktisches Stichwortregister hat A. Malm ausgearbeitet. Es handelt sich
hier um die ausgäbe einer sprichwörtersammlung, welche seit alter zeit in Dänemark
unter dem namen Feder Laie geht und gegen schluss des mittelalters in Dänemark
allgemein als Schulbuch verwendet worden ist. Der älteste bekannte drack stammt
aus dem jähre 1506 (gedruckt bei Godfred von Ghemen in Kopenhagen), nunmehr
bloss in einem exemplar (im besitz der Universitätsbibliothek zu Kopenhagen) bekannt
(A); im jähre 1508 erschien im selben verlage ein neudruck (a), der im wesentlichen
mit A übereinstimmt und nur kleine ändeningen zeigt; auch von dieser aufläge gibt
es, so weit bekannt, nur ein vollständiges und zwei defekte exemplare. Im jähre
1515 erschien zu Paris bei Jodocus Badius Ascensius eine neue ausgäbe von Chri-
stiern Pedersen (B); ob Chr. Federsen die drucke A und a gekannt hat, ist nicht
ganz sicher, jedenfalls nennt er sie nicht, und Kock weist nach, dass er mehr als
eine handschrift gekannt haben muss. B enthielt fast alle Sprichwörter von A a , nur
ganz wenige fehlen, und ebenso gering ist die zahl der plus-nummern. Die anordnung
ist bis auf die reihe unter dem buchstaben S, die stark abweicht, so ziemlich die-
selbe wie in Aa; B steht somit mit Aa als zu einer klasse gehörig zusammen; auch
ZEITSCHRIFT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XXVIII. "ö
546 JIRICZEK
das handschriftfragment Ny kg], saral. der kgl. bibl. zu Kopenhagen nr. 813'' 4", erst
vor wenigen jahrea vom bibliothekar Weeke entdeckt, aus der zeit von 1450 stam-
mend (H) steht näher zu AaB, als zu S, der schwedischen hdschr. der Palmsköldska
samling nr. 405, auf der Universitätsbibliothek zu Upsala, aus der ersten hälfte des
15. Jahrhunderts, worin eine sehr grosse menge nummern von AaB fehlt, dagegen
auch einige plusuummern vorkommen. Die geschichte der Sammlung wird von Kock
eingehend untersucht und er kommt zu folgenden resultaten. Die im mittelalter ver-
breitete methode, heimische Sprichwörter im urtext mit lateinischer Übersetzung beim
unteiTicht in der lateinischen spräche anzuwenden, hat den anstoss dazu gegeben,
dass ein gelehrter teils auf grand ihm bekannter lateinischer samlungen lateinische
Sprichwörter zusammenstellte und die entsprechenden heimischen dazufügte, oder, wo
solche nicht gebräuchlich waren, eine Übersetzung machte, teils — und zwar haupt-
sächlich — heimische Sprichwörter sammelte und dazu eine lateinische Übersetzung
selbst fertigte. Der ursprüngliche stock wurde allmühlich durch zutaten vermehrt;
nach Schweden gelangte er bereits mit solchen zutaten, und einiges schloss sich
dort noch ebenfalls an; die erhaltenen dänischen redactionen zeigen noch mehr Zu-
sätze als S, sowol gemeinschaftlich, als auch, wenngleich in geringerem masse in den
einzelnen redactionen Aa und B. Die ursprüngliche Sammlung ist in Dänemark ent-
standen, und zwar im 14. Jahrhundert, vielleicht ader auch schon im 13. Jahrhun-
dert; der Verfasser wird wirklich der von der tradition genannte Feder Laale, lati-
nisiert Petrus Laglandicus mit dem beinamen Legista (nach dem Inhalt der ersten
Sprichwörter, die von lex handeln) gewesen sein, den man sich als schulmann und
geistlichen — oder nur als eines von beiden — zu denken genötigt ist. Dass er
aber aus Läland stammte, ist keineswegs sicher, ja nicht einmal wahrscheinlich;
allerdings heisst Laglandicus gewöhnlich ein Läländer, aber Laale ist ein weitverbrei-
teter dänischer name, der keineswegs Läländer („lollik, lolk") bedeutet; diesen namen
hat Christiern Pedersen frei latinisiert und damit den anlass zu missverständnisseu
gegeben. Ausser der sehr genauen bibliographischen und orthographischen beschrei-
bung der alten drucke und handschriften , eingehenden Untersuchungen über das
Verhältnis der verschiedenen fassungen zu einander, über das original und seinen
Urheber, sowie die Stellung der Sammlung zu ähnlichen werken, und endlich den
sonstigen bemerkungen über die vorherigen ausgaben und den bei dieser ausgäbe
befolgten plan bringt die einleitung — in der man nur allenfalls noch eine graphische
darstellung des Verhältnisses der Sammlungen zu einander und eine vergleichende
tabelle über die reihenfolge der nummern in den verschiedenen samlungen wünschen
könnte — noch zwei wertvolle beigaben, ein Verzeichnis über die drucklitteratur der
schwedischen Sprichwörter, und einen abschnitt, der beobachtungen über die form
der Sprichwörter, und zwar alliteration, reim, metrischen bau (besonders interessant
sind die nachgewiesenen visufj6rf)ungar) usw. bringt. Auch die lateinischen fassiingen
werden kurz berührt und der aufmerksamkeit der klassischen philologen empfohlen.
In einer note s. 113 bringt Kock eine theorie über die aUiteration der vokale vor,
die allgemeines Interesse zu erwecken geeignet ist; da das buch seinem für germa-
nisten doch ziemlich entlegenen Inhalt nach schwerlich in die bände aller, welche
für diese allgemeinere frage sich interessieren, gelangen dürfte, sei hier diese stelle
(in Übersetzung) vollständig mitgeteilt. Über die alliteration ungleicher vokale bemerkt
Kock nämlich: „Es kann die frage sein, wie weit das in der germanischen poesie
etwas ursprüngliches ist. Denn da bei konsonantischer alliteration die gleichen kon-
sonanten gefordert werden, ist es unbegreiflich, wanim man bei der vokalisohen alli-
ÜBER PEDER LaLE EDD. A. KOCK ET C. AF PETERSENS 547
teratioQ nicht die gleichen vokale fordern sollte. Der gewöhnliche versuch , dies Ver-
hältnis zu erklären ist nämlich keineswegs befriedigend. Man meint wol gewöhnlich,
dass die gleichheit der vokalalliteration sich auf den festen vokaleinsatz beschränke.
Sollte es aber wirklich denkbar sein, dass diese in akustischer beziehung äusserst
verschwindende aussprachsnüancierung zu einem wesentlichen faktor der versbildung
gemacht werden könnte? Wir müssen bedenken, dass der feste vokaleinsatz so
äusserst gering hervoiiritt , dass ein ohr, das nicht besonders phonetisch geschult ist,
ihn nie wahrgenommen hat. Sollte man da glauben dürfen, dass unsere vorväter so
feine beobachter nicht blos von sprachlauten, sondern von modifikationen derselben
gewesen sind, dass sie das publikum unserer tage weit übertroffen hätten? Und
selbst wenn man diese unbedeutende modifikation der ausspräche wahrgenommen
hätte, sollte man mit hilfe einer solchen verse gebildet haben, die bisweilen vor
grossen menschenmassen vorgetragen wurden, und zwar, obgleich es für die mehr-
zahl der zuhörer, nämlich für alle die sich in einigem abstand von dem vortragenden
befanden, absolut unmöglich war diese „alliteration" zu vernehmen? Und noch mehr:
wie weiss man, dass unsere germanischen vorväter gerade einen solchen vokaleinsatz
hatten? Die Engländer haben ihn jetzt nicht; es ist also höchst zweifelhaft, ob er
in den germanischen sprachen alt ist. Ist es aber nicht der feste vokaleinsatz, der
die ähnlichkeit zwischen z. b. a und e ausmacht, in welcher beziehung sind diese
laute einander ähnlicher als zwei verschiedene konsonanten, z. b. k und g? "Wir
können ruhig antworten: sie sind einander nicht mehr ähnlich. Dann findet sich
aber in der eigenen natur dieser laute nicht der geringste grund, weshalb man die
berechtigimg haben sollte, z. b. allr : endi, aber nicht koma : ganga alliterieren zu
lassen. Die sache dürfte auf sprachhistorischem wege zu erklären sein. ■ Ursprüng-
lich hat man sicherlich nur Wörter mit a- mit Wörtern mit a- , solche mit e- mit sol-
chen mit e- alliterieren lassen , gleichwie Wörter mit k- mit Wörtern mit k- , solche mit
g- mit solchen mit g- alliterierten. Doch die vokale haben auf grund der Wirksam-
keit verschiedener Lautgesetze weit mehr Veränderungen erlitten als die konsonanten,
oder richtiger gesagt, ein vokal ist als anfangslaut weit öfter zu ungleichen lauten
in folge des einflusses verschiedener lautgesetze differenziert worden, als es mit den
anfangskonsonanten der fall war. Daraus folgte, dass in bereits vorhandenen gedich-
ten anfangsvokale, die einmal gleich waren, ungleich wurden, während die anfangs-
konsonanten unverändert blieben. Angenommen, dass der gebrauch, ungleiche vokale
zu reimen, in den germanischen sprachen aufgekommen ist, so haben z. b. die spä-
teren nordischen wörter allr : cndi einmal durch den anfangslaut a mit einander
alliteriert, vgl. got. alls : andeis. Nachdem indessen a durch z-umlaut zu e in endi
geworden, liess man sie, nachdem diese werte sich in einem alten, vor der durch-
führung des *-umlauts verfassten gedichte fanden, metrisch in diesem gedichte fort-
fahrend alliterieren, d. h. allr : endi alliterierten. Hieraus kam der gebrauch auf,
dass man auch, wenn man neue gedichte schrieb [soll wol heissen „verfasste"]
ungleiche vokale alliterieren liess. Das gesagte soll nicht so aufgefasst werden, dass
dieser gebrauch gerade bei den germanischen Völkern aufgekommen sein muss. Es
ist möglich, dass er zu ihnen von einem andern stamme gelangte. Aber dieser
gebrauch dürfte bei dem volke, bei dem er zuerst entstanden ist, von ungefähr sol-
chen sprachgeschichtlichen Verhältnissen, wie hier erwähnt, nämlich von der grösse-
ren Veränderung (differenziening) der anfangsvokale gegenüber den anfangskonsonan-
ten veranlasst worden sein." — Dass der feste vokaleinsatz in den idg. sprachen
nichts ursprüngliches, sondern verhältnismässig modernen Ursprungs sein dürfte, und
35*
548 JIRICZEK
darum nicht mit dem griechischen Spiritus lenis zu identificieren ist, hat bekanntlich
auch Sievers schon hervorgehoben, und die erklärung der alliteration ungleicher
vokale durch den festen einsatz ist wol endgiltig zu streichen. Aber dass der brauch,
ungleiche vokale aUiterieren zu lassen, erst secundär auf dem von Kock angedeuteten
Wege aufgekommen wäre, scheint mir ganz ausgeschlossen. Die erklärung, weshalb
man bei konsonanten vollständige gieichheit verlangte, bei vokalen aber nicht, liegt
in ganz anderer richtuug. Berücksichtigt man, dass bei konsonanten als geräusch-
lauten schon infolge der artikulation der akustische effekt geringer ist als bei reinen
stimmlauten (vokalen), und dass ihr akustischer effekt durch die Stellung vor dem
accent hinter dem akustischen effekt accentuierter anlautvokale — und dass der ger-
manische feste accent Voraussetzung der alliteration ist, ist naturnotwendig und allge-
mein anerkannt — bedeutend zurückstehen musste, so scheint hierin die begründung
zu liegen, weshalb man bei konsonanten (zu denen in diesem zusammenhange wegen
der Stellung vor dem accent auch nasale und liquide zu rechnen sind, wie der usus
beweist) völligen gleichklang braucht, ja sogar diesen gerne auf doppelkonsonanz aus-
dehnt (s. E. M. Meyer, Ztschr. XXVI, 149 fgg.), während bei vokalen ihr gemein-
samer Charakter als reine stimmlaute, deren stimmfülle im vorgetragenen alliterieren-
den verse durch den auf sie fallenden accent noch eindringlicher hervortrat, das
gleichmachende moment gewesen sein dürfte (das auch heute von jedem musikalischen
ehre beim vertrag alliterierender verse als gieichheit empfunden wird), dem gegen-
über die durch die verschiedene resonatorische einwirkung des mundraumes bedingte
Verschiedenheit der einzelnen vokale unter einander nicht ins gewicht fiel, im gegen-
teil sogar beliebt gewesen zu sein scheint. Dass der gebrauch der alliteration bzw.
der ungleichen vokalalliteration zu den Germanen von auswärts gekommen sein sollte,
muss bis zur erbringung eines beweises ganz aus dem spiele bleiben und das problem
zunächst auf germanischem boden ausgetragen werden. Und da stösst die hypothese
Kocks zunächst principiell auf die Schwierigkeit, dass, wenn dem obre der Germanen
nur völlig gleiche vokale als alliteration klangen, es ganz unbegreiflich ist, wieso die
zersprengung alter reimender Verbindungen durch die Veränderung des anlautvokales
in einem werte sie bewogen haben sollte, nunmehr verschiedene vokale als alliterie-
rend zu empfinden. Die auffassung des obres kann doch durch den sprachhistorischen
Vorgang nicht eine andere geworden sein! Entweder, das ohr unserer vorväter fühlte,
wie Kock annimmt, nur a : a als als alliteration, a : e aber nicht — dann erklären aber
die Veränderungen der spräche nicht, wieso man laute, die einander „nicht mehr ähn-
lich" sind als k und (7, dennoch als alliteration gefühlt hätte und sogar auf die Vernich-
tung der alten regel ein neues gesetz baute; wie konnte man das, wenn das ohr die
alliteration, zu der „in der eigenen natur der laute nicht der geringste grund" war,
nicht vernahm? Oder, ungleiche vokale wurden als alliteration empfunden, dann
ist zur sprachhistorischen erklärung kern grund vorhanden. Und ferner müsste man
denn doch erwarten, dass die alte regel, nur gleiche vokale alliterieren zu lassen,
ihren retlex noch in den denkmälern finden sollte; aber schon zu Tacitus zelten,
also in einer periode, wo die allermeisten der später im germanischen wirksamen
vokalveränderungeu noch nicht eingetreten sind, alliterieren ungleiche vokale: Ing-
vseones (mit älterem e) und (H)erminones mit Istvaeones (i bzw. i), und in dem
erhaltenen poetischen belegmaterial ist oder scheint gerade regel, ungleiche vokale
vor identischen zu bevorzugen, und bei identischen die gieichheit durch Verschieden-
heit der unmittelbar folgenden konsonanten einzuschränken (s. R. Hildebrand, Ztschr.
f. d. deutschen Unterricht 5, 577 fgg.). Völliger gleichklang, wie er bei gleichen
ÜBER PEDER LaLE EDD. A. KOCK ET C. AF PETERSENS 549
accentuierten anlautvokalen am schärfsten hervortreten inusste, scheint eben, wie
Hildebrand hervorhebt, als unschön empfunden worden zu sein; bei konsonanten war
er schon dadurch gemildert, dass er durch den erst folgenden accent an und für sich
nicht so stark hervortrat , zumal auch hier Verschiedenheit des folgenden vokals be-
liebt gewesen zu sein scheint. Man hat bis vor kurzem die betrachtung der allite-
ration viel zu einseitig und mechanisch auf den anlaut des wertes beschränkt und
darüber die rolle der folgenden laute und die bedeutung des accentes zu wenig beach-
tet. Sind auch die denkmäler der alliterationspoesie jünger als die zeit, auf die
Kocks hypothese allenfalls sich zurückziehen kann, so würde doch eine genaue durcli-
forschung des materials, die sich auf statistische tabellen stützen müsste — denn
nur die veihältniszahlen , nicht die absoluten zahlen der einzelnen erscheinung, geben
den ausschlag — unzweifelhaft licht auf diese frage werfen, und zwar, soweit man
schon jetzt urteilen kann, nicht im sinne der Kock'schen hypothese.
Sowol die dänische wie die schwedische redaktion sind bereits herausgegeben,
die erstere (von der verlorenen ausgäbe H[ans] H[ansen] S[kaanings] 1614 und einem
neudruck 1703, sowie der ausgäbe von Ley 1842 abgesehen, beides nur unphilologische
widergabe des dänischen textes) von E. Nyerup 1828, die letztere von Reuterdahl
1840. Sowol die relative Seltenheit dieser alten editionen als die grösseren forderun-
gen an philologische genauigkeit in unserer zeit rechtfertigen eine neue ausgäbe.
Zugrunde liegt A, mit den abweichenden lesarten von a und B unter dem strich,
in 2 beilagen folgen die unica von B und ein abdruck der fragmente von H. Daran
schliesst sich die widergabe von S. Text und lesarten sind diplomatisch getreu, mit
cursivierung der aufgelösten Verkürzungen widergegeben, ein verfahren, das sich auch
auf den lateinischen text erstreckt; ob die abkürzungszeichen des druckes im däni-
schen text mehrfache auslegungen zulassen und es notwendig war, sie durch cursiv-
druck zu kennzeichnen, oder ob bei unzweideutigkeit des Systems es genügt hätte,
im Vorwort darüber summarisch auskunft zu geben, wage ich nicht zu entscheiden.
Aber dass es im lateinischen text für irgendjemanden einen zweck haben kann, zu
ersehen, ob z. b. n gedruckt oder nur durch strich über dem vokal ausgedrückt ist,
scheint mir- zweifelhaft; indess gut ja bekanntlich m Schweden der diplomatorische
abdruck als das ideal einer ausgäbe, imd wenn die herausgeber dieses an sich in
manchen fällen und von gewissen gesichtspunkten berechtigte princip auch auf einen
lateinischen druck vom jähre 1506 ausdehnen, so ist das ihre Sache, über die mit
ihnen niemand rechten kann oder braucht, da dem benutzer des buches hiedurch
jedesfalls nichts entgeht. An diesen jedesfalls peinlich genauen text, für dessen
richtigkeit der name der beiden herausgeber bürgt, schliesst sich würdig der umfäng-
liche kommentar von Axel Kock , der nach den s. I fgg. ausgesprochenen grundsätzen
des Verfassers zunächst niu- der text- und sinnerklärung der Sprichwörter (speciell der
nordischen) dienen soll, wobei aber, wie zu erwarten, in beziehung auf nordische
parallelen , lexikaUsches und sprachliches eine menge interessanter und femer beobach-
tungen zu tage treten, deren aufsuchen ein Wortregister erleichtert. Die Verdienste
dieser leistung Kocks im einzelnen zu würdigen muss dem fachmanne auf dem gebiete
der Sprichwörterkunde überlassen bleiben. Kommt auch der nächste gewinn dieser
Publikation der beiden schwedischen gelehi-ten zunächst der ostnordischen philologie,
einem ausserhalb Skandinaviens nur sehr wenig gepflegten gebiete zu gute, so wird
doch auch niemand, der sich mit allgemein nordischer philologie beschäftigt, an dem
buche vorübergehen dürfen; vor allem aber möge durch diese anzeige die aufmerk-
samkeit derer, die sich mit dem Studium der sprichwörterkunde beschäftigen, darauf
550 WUNDERLICH, ÜBER SCHULTHEISS, GESCH. D. NATIONALGEFÜHLS
hingelenkt werden, dass allen arbeitern auf diesem internationalen gebiete hiermit eine
philologisch streng gesicherte, sorgfältige und auf dem ganzen gebiet des nordischen
Sprichworts licht verbreitende Veröffentlichung geboten ist, doppelt wichtig für sie
dui'ch A. Kocks reichen kommentar, der den w'ert des ganzen Werkes weit über den
enggesteckten Wirkungskreis einer blossen publikation ostnordischer texte des späte-
sten mittelalters hinaushebt.
BRESLAU, 31. OKTOBER 1895. 0. JIRICZEK.
Geschichte des deutschen nationalgefühls. I. Von der urzeit bis zum Inter-
regnum. Von F. G. Schultheiss. München, G. Franz. VIII und 290 s.
Schon die ergebnisse, die der Verfasser in dem vorliegenden ersten band seiner
Untersuchungen anstrebt, sollen nicht weniger der politischen geschichte als auch der lit-
teraturforschung zu gute kommen. Denn „das erwachende bewusstsein nationaler eigen-
aii zeigt schon die neigung sich auf geistige Interessen zurückzuziehen" und unter den
„grossen perioden der geschichte des deutschen nationalbewusstseins^' steht sein „Verhält-
nis zum humanismus und zur reformation" ebenbürtig neben seinem Verhältnisse „zum
alten kaisertum, zu den wahlkönigen" und „zum dynastischen sondertum" (einl. s. 7).
Ebenso wird auch die Untersuchung selbst sowol auf historischem als auf litterarischem
gebiete geführt. Der Verfasser ist jedoch in erster linie historiker und seine ausbeutung
unserer mittelalterlichen dichtung, wie sie im vorliegenden ersten bände zu tage tritt,
ist abhängig von fremden — dazu vielfach einander entgegengesetzten — urteilen.
So ziemlich die meisten probleme der litteraturgeschichte , gelegentlich auch der
Sprachforschung, werden in die darstellung einbezogen, oline dass immer diejenigen
Seiten gestreift würden, in denen die neuere forschung den anschauungen des Ver-
fassers entgegen kommt. Auch scheint mir als ob der Verfasser die wurzeln, aus
denen das nationalgefühl erwächst, nicht genügend blossgelegt habe, als ob er im
gegensatz zu den forderungen semer einleitung in der Untersuchung selbst zu viel
mit den entwickelten formen operiere. So legt er wol zu wenig gewicht auf die
äusserungen des sippen- und Stammesgefühls, die sich auch litterarisch kund geben,
und hat sich die reichen belege entgehen lassen, die neuerdings für das bairische
Stammesgefühl aus den dichtungen des 11./12. Jahrhunderts dargeboten werden. Das
ganze Verhältnis unserer nationalen dichtung zur romanischen hat in seiner darstel-
lung weder neue beleuchtuug noch überhaupt eine eindringende widergabe gefunden.
Das höfische epos, das so manchen wichtigen beitrag für diese frage hätte liefern
können, hat dem Verfasser durchweg nur negative züge geboten, am dürftigsten
aber ist unsere politische Spruchdichtung ausgebeutet worden. Sie hätte tiefere ein-
blicke in ihre entwicklungsgeschichte eröffnet, wenn Schultheiss nicht gleich mit
"Walther begonnen hätte, imd in ihren späteren beziehuugen zu den Böhmeukönigen
hätte sie das deutsche nationalgefühl seltsam widergespiegelt. Schultheiss hat sich
hier für Eeinmar von Zweter, dem er fast ausschliessend sein augenmerk widmet,
gerade denjenigen gewährsmann entgehen lassen, der am weitgehendsten auf dem
grenzgebiet von geschichte und litteratur bescheid weiss, Gustav Eoethe. Anderer-
seits soll dankbar anerkannt werden, dass aus den historischen quellen des Verfassers
zahlreiche mitteilungen fliessen, die dem litterarhistoriker von wert sind.
HELDELBERG, OKT. 1895. H. WUNDERLICH.
FRÄNKEL, BÜHGERIANA 5f)l
MISCELLEN.
Personalien und stoff^eschiclitliches zu G. A. Bürger.
1. Bürgers erste gattin dichterin?
Dass das ihm 1774 „angetraute weib ein weib von gemeinem schlage" nicht
war, bestätigt Bürgers bedeutsame „Beichte eines niannes, der ein edles mädchen
nicht hintergehen will" ^. Trotzdem darf man über die geringfügige teilnähme, die
er als dichter bei seiner treuen Dorette fand, nicht den mindesten zweifei hegen.
Als sie nach grenzenlos unglücklicher ehe am 30. juli 1784 „an der auszehrung, die
in ihrer familie erblich war" — so heissts ebenda — starb, widmete er ihr öffent-
lich einen rührend innigen nachmf. Dabei ist Julius Sahr^ recht zu geben: „Der
tod seiner frau, einer edlen, stillen dulderin, erlöste ihn aus dem qualvollen doppel-
verhältnis; es war, als heitere sich sein leben auf", und unsere gründlichsten Bür-
gerkenner. Ed. Grisebach und A. Sairer^ voran, betrachten die Sachlage ebenso''.
Um so mehr sollte man da erwarten, in jenem nekrolog, der ihre Vorzüge genugsam
pries, jede bemerkliche fügend durch ihn gleichsam wie eine mittelbare entschul-
digung vor sich und der weit herausgestrichen zu finden. Von einem poetischen
talente der entschlafenen oder gar von bezüglichen erzeugnissen, die vor das publi-
kum getreten, Hess er darin keine silbe verlautbaren. Und dazu wäre in dieser breit
ausgesponnenen Würdigung vollauf anlass gewesen. Auch sonst wird nirgends etwas
der art direkt gemeldet; der älteste, der Bürgers leben einigermassen litterarhisto-
risch behandelte, C. F. R. Vetterlein ^, imd dann Jördens,*^ im rein biographischen
fast sklavisch ihm nachschreibend, hätten sich bei ihrer verliebe für alles anekdotische
1) Bürgers Sämtliche werke, 1844, IV, 198 fg.; Strodtmann, Briefe von und
an Bürger IV, 19. Dieses Schriftstück ist zwar psychologisch interessant, darf aber
nur vorsichtig zu Schlüssen verwendet werden, da es mit vollster absichtlicbkeit für
die zu gewinnende noch nicht gesehene braut, „das Schwabenmädchen" (s. unsere
m\ 2), ausgearbeitet war.
2) In seinem knappen, deutlich umrissenen säkularartikel „Zum gedächtnis
G. A. Bürgers", Ztschr. des allgem. dtschn. Sprachvereins IX (1894), 13.3, wo er sein
lieblingsthema (vgl. Ztschr. XXVII, 414), Bürger als lehrer und pfleger dei- deut-
schen Sprache, vortrefflich behandelt.
3) Aus einem von diesem in seinem hochwichtigen abdrucke des briefwech-
sels zwischen Bürger und Goeckingk (Vierteljahrschr. f. litteraturgesch. III) veröffent-
lichten biUet Bürgers vom 31. juli (s. das. s. 451 fg.) scheint mir dieselbe empfin-
dung zu sprechen. Ebd. s. 434 findet Dorette in Stimmungsberichten an Goeckingk
für lyrische Sentimentalität allerdings eine gute prosa.
4) Vgl. meine unten s. 555 anm. 1 angezogene abhandlung s. 1208 a.
5) „Handbuch der poetischen litteratur der Deutschen, d. i. Kurze nachrich-
ten von dem leben und den Schriften deutscher dichter. Ein anhang zu seiner Chre-
stomathie deutscher gedichte. Köthen 1800", ein heute vergessenes buch, das aber
gar manche brauchbare notiz, öfters sogar nicht üble ansätze zu einer Charakteristik
enthält, so über Bürger s. 539 — 555, sogar auch schon 4 englische Leuore- Über-
setzungen nach den drucken 1798/99, d. h. von 1796 fgg. nennt, womit A. Brandl's
katalog darüber in seiner bibliographie bei Erich Schmidt, Charakteristiken s. 245 fg.
(nach neuerer brieflicher mitteilung hat Brandl seitdem seine notizen vervollständigt)
vorgearbeitet war (eine neuere in A. Mercer Adam's [f anfg. decbr. 1895] „Flowers
of Fatherland transplanted iuto English soil", 1870).
6) In seinem bekannten vielbenutzten „Lexikon deutscher dichter und pro-
saisten" I (1807) 251 — 273; s. 271, 8 nennt er Vetterleiu's aufsatz. Sollte etwa die
wörtliche Übereinstimmung auf der Identität der quelle beruhen ?
552 FRÄNKEL
dieses pikante kui-iosum kaum entgehen lassen. Sauer, Bürger -ausg. s. XVni fg. und
111 hält auf grund des briefs an Boie vom 7, aug. 1777 das im folgenden erwähnte
gedieht für „wirklich von Bürgers erster frau und von ihm nur überarbeitet". Pro hie,
G. A. Bürger. Sein leben und seine dichtungen (1856) gibt s. 62 eine fussnote, auf
deren Inhalt er bei keiner späteren Bürgerpublikation zurückgekommen ist:
„Folgende seltsame notiz in einem buche, betitelt: „„Deutschlands Schriftstel-
lerinnen. Eine charakteristische Skizze. King -Tsching in der kaiserlichen Drukkerei
1790"" (s. 12 — 13), ist auf sie zu beziehen: „„Madam Bürger, Gattin unseres
ersten deutschen Volksdichters und Privatlehrers ^ der schönen Wissenschaften zu Göt-
tingen, ist todt. Sie war eine Anverwandte des berühmten Egyptischen Usurpator
Ali-Bey, der vor einigen Jahren so viel Aufsehen machtet Sie soll ein gutes wack-
res "Weib gewesen sein, und das Liedcheu in der poetischen Blumenlese 1780*, Mut-
tertändeley betitelt, ist eine schöne poetische Frucht, die beweist, dass sie vom Geiste
ihres Gatten etwas in sich gezogen habe."" Das gedieht „Muttertändelei" (august 1778)
versah Büi'ger mit dem zusatze: „Für meine Dorette", es ist also von ihm selbst.
Man findet es S. w. Ausg. v. 1844, I, s. 253 und 254." Vgl. Sauer a. a. o. s. 111.
Ob Pröhle die genannte quelle selbst vorgelegen hat, oder ob er die nachricht
zweiter band verdankt, weiss ich nicht; mir gelang es nicht, jenes merkwürdig beti-
telte buch aufzustöbern. Sollte man nun, wo es zudem nirgends, auch nicht in dem
hilfsmittel- Verzeichnisse des mnsichtigen C. W. 0. A. v. Schindel, Die deutschen
Schriftstellerinnen des neunzehnten Jahrhunderts (Lpz. 1823 — 25), der viele Zeitge-
nossinnen von Bürgers frau aufnimmt, citiert wird, an seiner existenz überhaupt
zweifeln? Dass wenigstens der Inhalt obiger eröffnung nicht apokryph, ist mir unwi-
derleglich, da ich vor kenntnis dieser Pröhlischen armierkung auf dieselbe angäbe
in dem anonymen, von K. F. "VV. Erbstein und Joachim Christoph Friedrich Schulz*,
hauptsächlich wol von letzterem, herausgegebenen „ALmanach der Belletristen und
Belletristinnen für's Jahr 1782. Ulietea bei Peter Jobst, Edlen von Omai, Königl.
Hofbuchhändler und Buchdrucker"^ s. 25 stiess. Es heisst daselbst:
„Madam Bürger. Gattin des vorigen. Eine Anverwante, von dem berühm-
ten Egiptischen Usurpator Ali-Bey, der vor einigen Jahren so viel Aufsehn machte.
Sie sol ein gutes wakres Weib sein , die vom Geiste ihres Gatten etwas in sich gezo-
1) Damalige bezeichnung für unser „privatdocent". Grimm, D. wb. Vn,2138 fg.
gibt nichts näheres über die zeitliche abgrenzung beider im 18. Jahrhundert gebrauch-
ten ausdrücke an. Vgl. auch unten s. 553 anm. 2.
2) Ah Bei war der bedeutendste nnd berühmteste der mamelukenf ührer , die
sich in ihren provinzen fast unabhängig machten und den türkischen pascha - gouver-
nem- ignorierten. Er empörte sich 1771 gegen die pforte, schlug die truppen der
regierang wie seine eigenen genossen und ward auf sein geheiss durch den scherif
von Mekka zum grosssultan Ägyptens und herrscher beider meere ernannt, aber
1773 von seinem geueral und günstling Abu-Dahab ermordet.
3) Die beiden wichtigsten authologieu damaliger lyrik, der von Boie gegrün-
dete Göttiuger Musenalmanach, den von 1779 bis zu seinem tode Bürger herausgab,
imd der 1776 als konkurrenzunternehmen durch J. H. Voss ins leben gerufene, führ-
ten den nebentitel „oder poetische blumeniese auf das jähr...."; hier ist natürhch
der erstgenannte gemeint: 1780, s. 78, unterschritt „D. M. Bürger geb. Leonhart".
4) Vgl. Allgem. dtsch. biogr. XXXII, 742 (nicht 744!).
5) In Wirklichkeit war Himburg, der berüchtigte Berliner nachdrucker und
einige jähre vorher Veranstalter der unrechtmässigen ausgäbe von „D. Goethens Schrif-
ten" (die im „Almanach der B. und B." s. 65 gerühmt werden), der Verleger.
BÜRGERIANA 553
gen hat. Das Liedchen im Aknanach von 1780, Mutter tändelei betitelt, macht
uns nach mehr aus ihrer Hand und ihrem Herzen begierig."
Ersichtlich fusst auf dieser auslassung die obige jüngere, wie nicht nur der
Wortlaut, sondern auch die zusätze und änderangen — z. b. im titel des angezogenen
Sammelwerks — beweisen. Der im „Almanach der B. und B." auf s. 23 — 25 vor-
angehende überschwengliche panegyrikus Bürgers hebt nämlich mit dem empha-
tischen ausrufe „Unser Volksdichter !" an und enthält gegen das ende die superla-
tivische apposition „Er, der Einzige unsrer neusten Dichter!", woraus die vorderhälfte
der einleitenden Standesbezeichnung in jener 1790er notiz zusammengeflossen ist.
Friedrich Schulz, wahrscheinlich der urheber der ganzen fabel, oder wenigstens der
der sie in die weit gesetzt, ist wenige jähre danach, 1786, in seiner „Litterarischen
reise durch Deutschland"^ nicht wider darauf zuiückgekonamen , ich vermute, aus
einem gewissen Zartgefühl, weil mittlerweile Dorette und auch ihre Schwester, teil-
haberin und nachfolgerln- in Bürgers herzen, „Molly" rasch danach gestorben war.
Der Verfasser bez. kompilator von „Deutschlands Schriftstellerinnen" besass nun ent-
weder keine kenntnis von diesem Situationswechsel oder ihn kümmerte eine solche
rücksicht nicht; übrigens liegt die annähme nahe, er habe überhaupt mit der bemer-
kung auf „Molly", die von Bürger hochgefeierte, für die man dinim ein stärkeres
Interesse der pikanterie hatte, gezielt. Denn, das sei nun hiermit festgestellt, dieses
buch ist wirklich in umlauf gekommen; das zeigt sein Vorhandensein in neueren
bücherlagern verschiedener Jahrzehnte^. "Woher aber die annähme einer poetischen
ader bei Bürgers ehefrau im gründe stammt, wird sich kaum ermitteln lassen.
2. Bürgers dritte gattin.
Die biographen Büi'gers sind stets mit leicht erklärlicher scheu daran vorbei-
gegangen, das gewebe des geheimnisses , das über seiner dritten, unheiligsten und
unheilvollsten ehe, mit dem „schwabenmädchen" Elise Hahn, lagert, zu lüften. Die
bündigste und verlässlichste aller lebensskizzen, diejenige, die Ä. Sauer seiner vor-
trefflichen ausgäbe in Kürschner's „Deutscher uationallitteratur " vorausschickte,
erkläi-t ausdrücklich, darauf verzichten zu wollen, und Ed. Grisebach's streng urkund-
liche „Einleitungen" zu seinem kritischen gesamtdrack und der imten berührten ver-
diensthchen Sammlung der „Werke" streifen das heikle 'thema nicht weiter als ein
1) Eine unveränderte „Zweyte aufläge" dieses bei Wucherer in "Wien heraus-
gekommenen büchleins erschien „Frankfurt und Leipzig, 1780" unter der aufschrift:
„Litterarische Anekdoten auf einer Reise durch Deutschland an ein Fi-auenzimmer
geschrieben", anonym wie jene. Die begeisterung für Bürger (der s. 51 und 212
erwähqt, s. 258 fg. eingehend charakterisiert wird) ist hier schon stark abgeblasst imd
der ton klingi sogar etwas an Schillers „recension" von 1791 (AUg. lit.-ztg.) an.
2) Nebenbei sei bemerkt, dass die amtliche registrieruug dieser, wol aus dem-
selben grimde wie zwei Jahrhunderte früher (bei Shakespeare) eilig vollzogenen hoch-
zeit „aus dem aufgebots- und trauungsbuche der parochie Bisseudorf 1785" (17.juni)
bei K. Goedeke, G. A. Bürger in Göttiugen und Gellinghausen. Aus Urkunden (1873)
s. 114 fg. ausgezogen ist, obwol Goedeke's nachforschungen im übrigen mit 1773
abschliessen. Bürger erscheint darin als „Dichter und Lehrer des teutschen Stils zu
Göttingen".
3) Ich nenne da bloss „F. H. v. d. Hagen's Bücherschatz", d. i. den katalog
der „ Bücher- auction von K. Friedländer und söhn in Berlin den 18. niai 1857",
s. 83 nr. 2006, ausserdem das „153. Verzeichnis des antiquarischen bücherlagers von
A. Bielefelds hofbuchhandlung Liebermann und cie. in Karlsruhe" (o. j.; 1892), s. 27
nr. 646, wo die notiz „selten" und in pai'enthese „Ulm Stettin" beigefügt ist.
554 FEÄNKEL
gewissenhafter chronist muss. Für die breiteren leserschichten, auf die diese aus-
gaben rechnen, mag es so recht sein; dagegen halte ich es für geboten, als faktum
der litteraturgeschichte ein für alle mal festzustellen, dass die schuld für den bmch
des völlig unleidlichen Verhältnisses auf Seiten der jungen frau war. Denn diese
„rettung" des anderweit gerade genug belasteten dichters ist ein erfordernis der ehr-
lichkeit. "Wer die dicken akten dieser tieftraurigen Vorgänge zu jenem behufe wäl-
zen mag, wird freilich reichlich schmutzige wasche waschen müssen. Doch braucht
er dann aus dem romau nur die hauptpunkte auszulesen. Im übrigen Hessen sich
die Studien zu einem charakterbilde der äusserst interessanten^ und später auf der
bühne wie im salon noch zu hervorragendem rufe gelangten frau, deren Vernachläs-
sigung dui'ch die zahllosen sensationslüsternen erzähler der von ihr gefesselten Jahr-
zehnte billig auffallen muss, erweitern. Zu dem ende seien hier sämtliche fundorte
des weit zerstreuten materials verzeichnet, wobei die flüchtigen erwähnungen in den
ältesten litterarhistorischeu handbüchern, wie bei Vetterlein a. a. o. s. 545 fg. und
bei Jördens a. a. o. I, 255 fg., in den meisten fällen auch Verweisungen, die an
citierten stellen anzutreffen sind, fortbleiben:
Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller, vom 4. — 12. mai 1802, = Goethe's
werke, Weimar. (Sophien-) ausg. , 4. abtlg., XVI (1895) 76.2 ^^^^ '^^n't C."\V. 0. v. Schin-
del, Die deutschen schi'iftstellerinnen des neunzehnten Jahrhunderts, I (1823) s. 84 —
87, III (1825) s. 56 — 59; ß. B. * in: Blum, Herlosssohn und Marggraff, Allgemeines
theater-lexikon, neue [unveränderte] ausgäbe, II (1846) s. 61 fg. und I s. 156 ^;
H. Pröhle, G. A. Bürger, s. X, 67, 70, 73 — 75, 161; Fr. W. Ebeling, Mosaik.
Kleine schritten zur geschichte und litteratur (Lpz. 1867), s. XII — XV und 223 —
270: „Elise Bürger. Zur geschichte der letzten lebensjahre des dichters." Letztere
mit seichtem geschwätz kolossal aufgebauschte apologie aus der feder eines durch
persönliche motive, vielleicht wesentlich den wünsch, eine gefälligkeit zu erweisen*
angetriebenen advokaten der längst verstorbenen ist trotz des mancherlei neuen und
des nimbus der authenticität mit äusserster vorsieht zu gebrauchen^; unter dem titel
„Bürger und Elise Hahn" erschien sie unverändert als selbständiges buch 1868,
2. aufläge 1871. Die für den Sachverhalt wichtigen „Briefe Bürgers an Marianne
Ehrmann [die in Stuttgart die korrespondenz und das weitere eingefädelt hatte] , her-
atisgegeben von [deren gatten] Th. F. Ehrmann" ("Weimar 1802) scheint Ebeling —
s. s. 359 anm. 3 — im urtext gar nicht gesehen zu haben. Die sonstigen biogra-
phien und Charakteristiken Bürgers, Goedeke's Grundriss z. g. d. d. d., die „All-
gemeine deutsche biographie", die (älteren auflagen der) konversationslexika**, die ja
sonst an derartigem detail nicht arm sind (auch die 1. ausgäbe des „Pierer", Ency-
1) So sind ihre verschiedenen poetischen spenden keineswegs schlechthin ver-
achtenswert. Eese's guter Bürger -artikel, Ersch-Gruber's Encyclopädie XIII (1824),
371 — 379 behandelt die leidensgeschichte der dritten ehe richtig (375 — 377), gibt aber
nichts über die frau. Im allg. vgl. Sauer's ausg. s. XXXVIII — XLII.
2) Eobert Blum, der bekannte 48er, damals sekretär am stadttheater zu Leipzig.
3) Unter Stichwort „Attitüde"; vgl. meinen artikel „Attitüde" in der neuen
(14.) aufläge von „Brockhaus' Konversationslexikon" II sp. 65 a.
4) Vgl. s. XII fg. , 367 fg. u. ö.
5) Wie seine aufschwellende Umarbeitung von Flögel's „Geschichte des gro-
tesk-komischen" (1887), sein buch über „Friedrich Taubmann" (vgl. meine bemer-
kung Allg. dtsch. biogr. XXXVII, 440 und Euphorien II, 765 anm. 1), das über „Die
Kahlenberger" (1889) u. a.
6) "V"gl. in Brockhaus' neuestem "III 758 a meinen kurzen artikel.
BÜRGERIANA 555
klopädisches Wörterbuch , IV, 1825, 485b bietet uichts besonderes), usw. liefern keine
über das hier zusammengestellte hinausführende materialien. Meine anlässlich der
hundertsten widerkehr von Büi-gers todestag Yeröifentlichte abhandlung „Bürger im
Spiegel seiner zeit und der gegenwart. Mit unbeachteten zeitgenössischen und eigenen
äusserungen" » berührt diese dinge mit sorgsamer reserve. Da ich daselbst wol
sämtliche 1894 zum Jubiläum hervorgetretenen neuen beitrage registriert habe, so
muss ich hier nachtragen, dass die kurz darauf dazugekommene 5. aufläge der ge-
schickten einbändigen ausgäbe der „Werke", die Eduard Grisebach , als erster die prosa
nach gebühr berücksichtigend, besorgt hat, auf s. XXXIX fg. der knappen doch aUe
tatsachen enthaltenden biographischen „Einleitung" die dritte ehe richtig erledigte.
Aus der ruhelosen wanderperiode, die Elise nach lösung des zwieträchtigen
bundes durchgemacht hat, müssen wir ergänzungs- und berichtigungshalber ihren
Berliner auf enthalt herausgreifen. Ein solcher ist erst für später, nach ihres gatten
tode sicher bekannt, als sie der theaterleidenschaft Berlins begeisterte verse entlockte.
L. Geiger hat in seine auslese „Berliner gedichte 1763 — 1806" (1890)- unter nr. 78
zwei bezeichnende belege dafür eingereiht (s. 195 fg.): der eine ist von Rüdiger, der
andere von , Christoph Bias MacKonley' (!), worüber Geigers notiz ebd. s. XLVII zu
vergleichen. Dagegen ist die bei E. B. in dem obgenannten artikel des „Theaterlexi-
kons" II s. 61 fg. aufgetischte Variante: „ .. kam später nach Berlin, von wo aus
sie dem bekannten dichter G. A. Bürger ihre hand antrug" gewiss völlig
grundlos. Jedoch unterlasse ich nicht, auf bezügliche andeutungen über ihre etwaige
mit öffentlichem auftreten verbundene anwesenheit zu Berlin unmittelbar nach der
officiellen ehescheidung aufmerksam zu machen, die Bürger in einem vom 11. Sep-
tember 1792 datierten briefe seinem freunde Goeckingk* macht:
„Dass Madame Hahn nicht mehr in AYolfenbüttel ist, das weiss ich; dass sie
sich aber wieder nach Stuttgard begeben haben soUte, daran ist wol gai" sehr zu zwei-
feln. Hier sind mü* zwei Sagen von ihr zu Ohren gekommen, eine, dass sie sich
nach "Wien in die Dienste Sr. Kaiserl. Majestät, die andere, dass sie sich nach Ber-
lin , vennutlich in die Dienste des Publikums unter der Direktion der Madam Schupitz
begeben habe. Letzteres ist mir das Wahrscheinlichste; und wenn es noch nicht
geschehen sein sollte, so dürfte es doch wol über kurz oder lang noch dazu kom-
men. In der That sind auch ihre Talente da ganz allein an ihi'er rechten Stelle. Zum
ein oder zweimaligen Versuch in dieser Qualität kann ich sie auch jedermann mit
gutem Gewissen empfehlen, allein keinem, auch meinem Feinde nicht, zur beständigen
Mätresse, viel weniger zur Frau."
Übrigens hatte Bürger, der im selben schreiben sagt: „In der That es kommt
mir seit einigen Wochen vor, als sähe ich weit besser aus, und fühlte mich auch an
Leib und Seele weit besser, als vor 25 Jahren ", den mit dieser trennung verknüpften
ärger rasch überwunden; „wahi-lich kein Liebesabenteuer hat je mein ganzes Wesen
so sehr in sich hinein verstrickt, als das gegenwärtige grosse Weltabenteuer, von
welchem ich keinen Ausgang sehe, ja nicht einmal zu ahnden im Stande bin",
schreibt er am 9. april 1793 demselben jugendgenossen*.
1) Westösthche nindschau, I (1894), heft 16 (15. aug.), s. 1206 f gg.
2) In seiner Sammlung „Berliner neudrucke" nr. 3; (vgl. Unterhaltungsbl. d.
Tägl. rundschau, 1890, s. 485fg. , meine notiz Blatt, f. lit. unterh. 1890, s. 516 fg.).
3) In Sauers publikation der korrespondenz a. a. o. s. 464 fg. ; weder Sauer noch
das register (s. 622 b) erklären die „Hahn" als Bürgers ehegattin.
4) Ebd. s. 468; gemeint sind natürlich die französischen revolutionsereignisse.
556 FKÄNKEL
3. Bürger's denkmal.
Da sich fast alle persönlichen beziehungen Bürgers aus seiner reifeepoche an
Göttingen anlehnen, wenigstens dort der ganze härm der drei ehen sich abspielte,
mag denn auch hier der genugtuung darüber ausdruck verliehen werden, dass es
nun endlich gelungen ist, die grabstätte des dichters in der stadt, wo er leid und
freud so bitter gemischt zu kosten hatte, würdig zu schmücken. Der 29. juni 1895 —
die Verspätung ist durch das langsame eingehen der nötigen gelder verschuldet — ist das
datum der enthüUung einer bronzebüste Bürgers auf dem friedhofe vor dem "Weendertor,
die Professor Eberlein in Berlin schön ausgeführt hat. Die mittel sind bekanntlich
durch freiwillige Sammlungen aufgebracht worden, nachdem der auf ruf dazu, selbst
ein stück deutscher litteratur- und kulturgeschichte, in tagesblättem und germanisti-
schen Organen, so auch in dieser Zeitschrift XXVII, 144 möglichst weit verbreitet
worden war. Danach hätte man allerdings einen tiefern nachhall hoffen imd erwai'ten
sollen, dass die gegenwart eine ehrenpflicht leistet, an die man bald nach des dich-
ters tode in schwierigeren zeitläuften sich gewagt hatte; denn schon Yetterlein mel-
det a. a. 0. s. 548 : „ Auf Veranstaltung des herrn doktor Althofs ^ haben die freunde
Bürgers und seiner muse ihm ein steinern denkmal verfertigen und in dem Ul-
richschen garten bei Göttingen im jähre 1799 aufstellen lassen", welche notiz Jör-
dens a. a. o. s. 257 beinahe wörtlich übernahm. Unter den neueren, die sich mit seinen
äusseren Schicksalen näher beschäftigt haben , ist keiner auf die entstehungsgeschichte
dieser idee und das scheitern jüngerer plane eingegangen, — wie lehrreich wäre es
z. b. , die personen, die sich bereit erklärten, das andenken des arg verketzerten zu
fördern, kennen zu lernen! Grisebach's neuere ausgäbe der , "Werke' (s. o.) s. XL VI fg.
teilt das genaue Ziffernergebnis jener Althof'schen subscription und die fakten der
ältesten aufstellung von leichen- und denkstein genau mit.
4. Zu den quellen einiger „episch-lyrischen gedichte" Bürgers.
Für die meisten der nicht der rein subjektiven lyrik angehörigen gedichte Bür-
gers ist die quellenfrage ziemhch befriedigend, wennschon nicht endgiltig gelöst. Das
suchen der vorlagen hat angesichts seiner besondern gäbe, die fremden stoffe sich
ganz zu eigen zu machen und, auch bei enger anlehnung, auf den ihm eigtümlichen ans
volksmässige anklingenden ton zu stimmen, einen ungewöhnlichen reiz. Freilich
ist dabei meistens mehr für die parallelen -Schubfächer der vergleichenden litteratur-
geschichte als für die kenutnis seiner belesenheit und die erkeuntuis seiner dicht-
manier herausgesprungen. Das umfänglichste an material über die mit entlehnten
motiven arbeitenden nummern bietet immer noch der zeit seines lebeus, zwar ein-
seitig, aber doch mannig-fach erfolgreich für Bürgers rühm und Verständnis tätig
gewesene Heinrich Pröhle in seinem schmächtigen büchlein von 1856, das so ziem-
lich alle bis zu diesem jähre zugänglichen mitteilungeu auszog. Seitdem haben ver-
schiedene auf diesem felde weitere umschau gehalten, darunter in einem gewissen
zusammenhange widerum Pröhle, selten mit glück, dann Bürgers engerer landsmann,
der motivkundige Robert Sprenger, letzterer in mehreren germanistischen Zeitschrif-
ten gelegentüche Schnitzel spendend.
Doch hat Sprenger auch eins der fesselndsten stücke, den schwank von kai-
ser und abt, ausführlich betrachtet, in den oft übersehenen „Akademischen blättern.
1) Des dichters hausarzt, testameutsvollstrecker, erster biograph und heraus-
geber, sowie vormimd der kiuder.
BÜRGERIÄNA 557
Beiträge zur litteratur- Wissenschaft herausg. von 0. Sievers" (1884) s. 324 — 330,
wo das bei Pröhle a. a. o. s. 115 — 123 zusammengetragene, soweit ich sehe, voll-
ständig verwei-tet ist, obwol Pröhles name fehlte Trotzdem lässt sich, selbst wenn
man Pröhle's und Sprenger's winke sämtlich zusammenfasst, noch mancherlei, älteres
sowol wie neueres, ergänzen. Geachtet hat man auf die vielen Wanderungen und
Wandlungen des Stoffes schon lange, so K. Veith 1839 -: „Ich will nicht behaupten,
dass spätere dichter jedesmal aus Johannes Pauli geschöpft, wenn sie einen stoff
behandeln, der bei ihm schon vorkommt, ich will bloss einige fälle dieser art bemerk-
bar machen", worauf vor andern durch neuere poeten aufgegriffenen themen drei
weitverbreitete internationale erscheinen: „die schöne fabel vom vater, söhn und
esel, welche es dem kritisierenden publikum auf keine weise recht machen können,
ferner Geliert's "Witwe ^ femer Bürgers Kaiser und der abt von St. Gallen." Beson-
ders auffällig ist es mir, dass R. Sprenger, der sonst durch umsieht im herbeiholen
von materialien oft staunen hervoiTuft, die beiden neueren ausgaben von B. Wal-
dis' „Esopus" (daselbst m, nr. 92 die fabel), die von Heinr. Kurz und die von
J. Tittmann, nicht nachgeschlagen und somit ihre reichen parallelenlisten unbenutzt
gelassen hat. Ersterer gibt sie bd. 11, anmerkungen s. 339fg. , letzterer beim text,
II s. 91, worauf hier einfach verwiesen sei. Beide steuern auch zum urteil über
die fortpflanzung und Umbildung des Inhalts beachtenswestes bei: Kurz bertihrt
I s. XXXVII die durch Waldis erfolgte oder wenigstens bei ihm zuerst entgentre-
tende Übertragung des verlangten klugheitsbeweises auf einen gelehrten manu, die
nicht eben glücklich ist*, Tittmann I s. LX fussnote argumentiert aus der, zuerst
von Mittler in seinen mitteilungen über Waldis" s. 41 beobachteten erwähnung und
vei'wertung von G. Forsters Liedersammlung (nr. 120)'' die niederschrift von "Wal-
dis' fassung „nach 1533" ''. Ferner ist Sprenger Reinhold Köhlers auseinandersetzung
über die vier fragen in der „ Elite des Contes " des Ant. de Metel sieur d' Ouville
entgangen, die sich in seiner abhandlung über Nasr-eddins Schwanke, Benfey's
„Orient \md occident" I, 431 fgg. , auf s. 440 findet. Damit deckt sich sodann „fast
wörtlich" das märchen „Le Meunier Astrologue" in den „Nouveaux Contes A Rire,
Et Aveutures Plaisantes de ce temps; ou Recreations Francoises. A Amsterdam
1) Freüich kam es Sprenger wol darauf an, in grösstmöglicher kürze seine
wertvollen zusätze einer gedrängten Übersicht des bisher vou verschiedenen selten
festgestellten einzufügen. Dieser artikel Spreugers ist für die art, die ergebnisse
seines viel zu wenig gewürdigten forschens zu eröffnen, typisch.
2) Über den Barfüsser Johannes Pauh und das von ihm veriasste Volksbuch
„Schimpf und ernst" nebst 46 proben aus demselben, s. 22.
3) Das problem, das Grisebach musterhaft begleitet in „Die wauderung der
novelle von der treulosen witwe durch die weltlitteratur" (2. ausg. der Umarbeitung
1889; s. 112); zur fabel vou vater, söhn nnd esel s. Oesterley's J. Pauli s. 599, nr. 577.
4) So auch der neueste herausgeber, E. "^^olff, in „Reinke de vos und sati-
tirisch- didaktische dichtung" (Kürschners Deutsche nationallitteratur , XIX) s. 299:
„"Waldis kehrt leider die tendenz um."
5) Sonderabdruck aus „Hessisches Jahrbuch" 1855 (vgl. Vilmar [-Goedeke],
Geschichte der deutschen national -litteratur"", s. 678).
6) V. 198 fg. bei "Waldis lauten:
„Und solchs in ein kurz liedlin gfasst
zu Nüi'uberg durch ein gierten man",
worauf das citat folgt.
7) Über diese Persönlichkeit und die Chronologie vgl, jetzt Erk- Böhme, Deut-
scher liederhort I, s. XXX VU.
558 FEÄNKEL
M.DC. XCIX" s. 230 fgg.\ worauf Ad. Wolff in Wagners „Archiv f. d. gesch. dtschr.
Sprache u. dichtung'^ (1873/74) s. 328 aufmerksam machte. Wie mancherlei noch
aus dem oder jenem nicht abgegrasten winkel beigebracht werden kann, zeigt der
umstand, dass allein 1891/92 vier neue beitrage hervortraten. In modernen, insbe-
sondere ungarischen volksüberliefemngen sticht E. Binder kongruenzen auf-; Wlis-
locki' holt aus seiner domäne, der volksjjoesie der osthälfte der Habsburger -monar-
chie, Seitenstücke aus armenischem, magyarischem, slovakischem, südslavischem
Sprachgebiete herbei und statuiert das der Bukowinaer Armenier als anfangsglied in
der kette der ableitungen der von ihm vorausgesetzten morgenländischen urfassimg;
während Wlislocki wie bei „Lenore"* Bürger am liebsten an mündhche deutsche volks-
überlieferung anknüpfen zu sehen meint, findet E. Sprenger, nochmals auf den plan
getreten^, in dem werte ,,kreuzchen'' bei Bürger ein direktes missverständnis von
crozier in der alteuglischen ballade in Percy's „Reliques'' und damit einen sichern
beweis der benutzuug dieser; für letztere stellt nun B. Honig gar in einer serie von
einzelheiten durchschlagende belege fest (,, Percy's ballade" King John and the Ab bot
of Canterbui7"''6).
In einem erst neuerdings, durch Ferd. Gerhard', näher betrachteten schwank-
und anekdoteu-kompendium des 17. Jahrhunderts, Johann Peter de Memel's „Lusti-
ger gesellschaft", stosse ich nun auf eine Variation unseres themas, das mit derBür-
ger'schen „Abt"-gi'uppe zwar nicht in der Situation, wohl aber im kerne der erzählung,
nämlich in den drei aufgegebenen fragen völlig übereinstimmt. Sie folge hier, zumal
Gerhard bei seiner besprechung ausgehobener nummern nicht darauf eingeht, ver-
gleichshalber, und zwar nach dem. auch von ihm kollationierten und verzeichneten
exemplar der Münchner hof- und Staatsbibliothek* s. 165 fg. nr. 047:
„Eine Königin hatte einen Gefangenen, sprach: Wann er folgende drey Dinge
sagen könte, solte er ledig sein, nemlich:
Wie viel sie, die Königin werth wäre?
Wo das Centrum oder das Mittelst in der Welt wäre? und
Was sie gedächte?
Der Gefangener [!] lag in Sorgen, wie diese Dinge auffzulösen, es kommt aber
zu seinem Glück ein Bauer zu ihm, der ihm sehr ähnlich sähe, dieser verwechselte
die Kleider mit dem Gefangenen , und lösete der Königin die drey Fragen, sagte auff
der ersten, Sie wäre neun und zwantzig Silberling werth, denn der Herr Christus
hätte [s. 166] dreyssig gegolten, Sie müste ja einen geringer gelten. Auff der andern,
1) In demselben höchst seltenen buche entdeckte ich eine enge parallele zu dem
seit Yriolsheimar (s. meinen artikel AUg. dtsch. biogr. XL, 374) oft bearbeiteten
schwank vom angeblichen ohrenabschneiden (vgl. auch die notiz am Schlüsse mei-
nes H. Sachs - referats Litteraturbl. f. germ. u. rom. phil. XVII).
2) Ztschr. f. verglchd. litteraturg. n. f. V s. 466 — 469.
3) Ebd. IV s. 106 — 112; vgl. Holzhausen i. d. Ztschr. XV s. 321.
4) Zu dieser sammle ich behufs abschUessender gruppierung alle motivvarian-
ten und bitte um mitteüungeu bez. hinweise (vgl. meine uotizeu: Ztschr. d. Vereins
f. volkskd. IV s. 218; Am ur- quell V, 128; Archiv f. d. stud. d. neueren spr. u. litt.
VC heft 4, referat über Thimm, Dtschs. geistesleben ; Westöstl. iimdsch. I. 1214'').
5) Ztschr. f. d. dtsch. unterr. V, 275 fg.
6) Englische Studien XVIII (307 — 315)" s. 313 — 315.
7) Joh. Peter de Memels Lustige gesellschaft nebst einer Übersicht über die
schwank - litteratur des XVII. Jahrhunderts. Heidelberger dissertation. Halle 1893.
8) L. eleg. m. 536". „Gedruckt zu Franckenau im Drömling" (o. j.), duodez,
306 Seiten, 1208 nummern.
BÜRGERIANA 559
SO machte er mit der Kreide einen Punct vor ihr auffn Tisch , sagte : Das wäre recht
das Mittelste in der Welt, wers nicht glauben wolte, solte die "Welt nach diesem
Punct messen. Und auff der dritten frage sagte er, Sie gedächte dass er der Gefan-
gener wäre , er wäre aber ein Bauer und nicht ein Gefangener."
Ich bin überzeugt, dass noch viele volkstümliche vexier - rätsei im umlaufe
sind, die sich mit den hier verwendeten eng berühren; allein die beiden Jahrgänge
IV und Y von Fr. Krauss' Monatschrift für Volkskunde „Am Ur- quell" (vgl. die regi-
ster!) bieten allerhand verwandtes. So scheint auch. Bürger für den Wortlaut seiner
rätselfragen beim volksmunde auleihen gemacht zu haben wie sonst.
Zu Bürger's Stellungnahme zur sagenlitteratur liefert Karl Hessel's aufsatz
„Eine verlorene und widergefuudene Rheinsage" in der Kölnischen zeitung^ einen
charakteristischen beitrag, obzwar seine angaben keineswegs unbemerktes aufstöbern,
wie er vermeint. Danach verdankte Bürger den stoff seiner ballade „Der wilde
Jäger" dem „Chronicon ffirsaugiense" des abts Johannes Tritheim[ius] (1462 — 1516) ^
des aus der geschichte der Faustsage bekannten^, und zwar dem eintrage zum jähre
1354, wie ja auch seine „Weiber von Weiusberg"* auf diesem beruhen. Die zu
grande liegende fabel ist eine echte Rheinsage, und Hessel räumt ein, in seiner
ueuauflage von K. Simrock's „Rheiusagen" das bisher für Bürger'sche ei-findung ge-
haltene gedieht widerrechtlich ausgemerzt zu haben. Seine jetzige genaue uach-
erzählung der tradition beweise unwiderleglich diese, wie er glaubt, bisher von kei-
nem Bürger -forscher^ erkannte tatsache. Hessel blieb nun aber, wunderbar genug,
unbekannt, dass der vorzüglichste fachmaun auf dem felde des mittelrheinischen
litterarischen folklore *', Alex. Kaufmann , in seinen höchst gehaltvollen „Nachträgen zu
den „Quellenangaben und bemerkungen zu Karl Simrock's Rheinsagen""' s. 30 fgg.
diese Sachlage gründlich, mit belegen und sogar im unmittelbaren anschlusse an
Simrock (Handbuch d. dtsch. mythol., 3. auf., s. 581 fg.) vorgetragen hattet Die
andern allerdings wussten nichts davon. H. Pröhle, G. A. Bürger s. 124 — 129 —
Simrock a. a. o. polemisiert hingegen wider Pröhle's auzapfung in dessen „Harz-
sagen" betreffs der lokalisiei-ung von Bürgers gedieht — behandelt den „Wilden
Jäger" nach quelle und Varianten eingehend, ohne aber zu bemerken, dass der
(s. 127 aum.) von ihm citierte Nikolaus Hocker, ebenfalls ein feiner Rheinsagen -ken-
1) 1894, nr. 876 (28. oktbr.), 2. beilage zur sonntags - ausgäbe , s. 1.
2j Weniger merkwürdig ists, dass sein sagenbelesener landsmann Uhland ihn
zur vorläge wählte (vgl. P. Eichholz, Quellen - Studien zu Uhlands bailaden, s. 75,
79,80). freilich zu dem nachlass - gedieht „Das kloster Hirschau" erst diu'ch Lessing's
(Lachmaun-Maltzahn'sche ausg. IX, 222 fgg.) Vermittlung: vgl. meme Uhland -ausg.
I, 515, minutiöse vergleichung bei R. M. Werner, Lyrik und lyriker, s. 339—344.
3) Vgl. meine neuerlichen nachweise im „Euphorien" II, 760 und 762.
4) Auch hier weicht Pröhle a. a. o. s. 129 — 132 gänzhch ab und bewegt sich
lediglich auf dem boden von lokalsagen ohne sichern anhält, wie zumeist.
5) Selbst dem specialisten Honig (Ztschr. XXVI, 529), worauf mich Erdmann,
der verstorbene mitherausgeber dieses organs, hinwies; Sauer's ausg. s. 184 u. 231.
6) Mein nekrolog „Gegenwart" 44 nr. 36 und der H. Hüffer's Kölnische Zei-
tung 1893 nr. 398 brachten das wol zum bewusstsein.
7) Annalen des historischen Vereins für den Niederrhein XLI (1884), s. 1 — 56;
die erste reihe von glossen ebd. XIX, s. 37 — 60.
8) S. 33 fg. auch ein hübscher absatz über die gestaltung des „Lenore"-themas
gegenüber dem „Wilden Jäger". Die sage vom „W. j." in der Lüneburger haide
(Poeck, Germ. XXXVII, 119 fg.) Bürger war wol erreichbar! Ungedruckt ist gröss-
tenteils ein werk über die ganze sage von H. G. F. Wohlthat (s. Am Urds-brun-
nen VI, 1889, s. 17 fg.)
560 FEÄNKEL, BÜRGKRIANA
ner und ein intimer arbeitsgenosse Simrocks\ die sage ersichtlich nicht für willkür-
lich verpflanzt gehalten hat-. Man vergleiche auch G. Bonet — Maury, G. A. Bür-
ger et les origines anglaises de la bailade litteraire en AUemague (1889), s. 154— 160 ^
Endlich möge hier aus einem abgelegenen zeitungsblatte zu einem vielumstrit-
tenen gedichte, das etlichen Spezialisten, wie Grisebach*, als perle der Bürger'schen
lyrik gilt, und bei dem es gerade deshalb besonders auziehend wäre den grad der
abhängigkeit von einem vorbilde zu fixieren, eine notiz wortgetreu ohne kommentar
widerholt sein. Im „Leipziger tageblatt" stand anfang april 1886 unter chiffre = o. ^
folgendes :
fl Gottfried Bürger's Ballade „Die [!] pfarrerstochter von Taubenheim [!]" hat
tausende von thränen für das unglückliche mädchen entlockt und tausende von fluchen
auf den herzlosen junker Falkenstein entfacht und doch — ist an der ganzen herzbre-
chenden geschichte kein wort wahr. Hätte dagegen der genannte dichter die alte,
berühmte Wallfahrtskirche Ebersdorf bei Chemnitz mit ihren Sehenswürdigkeiten,
darunter der köpf einer kindsmörderiu mit reichem voUen bloudhaar, gekannt, dann
gäbe es wol keine dichtung „Die pfarrerstochter von Taubenheim", sondern eine „Pfar-
rerstochter von Ebersdorf ", die in Wahrheit ihrem düsteren Schicksal vei'fiel. Die
geschichte ist kurz. Liebe, heisses blut, verrat, Verzweiflung und ein henkerschwert,
das ist ihr Inhalt. Der edelherr vom schlösse droben verliess das arme pfarrerskind,
das schönste mägdlein weit umher. Und als er wider heimkehrte, rauschten die
alten buchen um das hochgericht, von dessen pfähl der köpf der kindesmörderüi
niederstarrte. Da erwachte in dem junker das gewissen und trieb ihn zur Verzweif-
lung, Er liess der kindesmörderin an geheiligter statte ein grab bereiten, und dann
ist er fortgezogen in den kiieg und nimmer widergekehrt."
Das von Pröhle s. 132 — 137 hierfür gewährte materiaP ist nicht ohne wert,
im ganzen genommen aber ebenso zu beurteilen wie wir es oben in der fussnote zu
seinen sachlichen glossen über „Die weiber von Weinsberg" getan haben (s. 559 anm. 4).
1) Seine sagensammlungeu , die namentlich den Moselbezirk betreffen, über-
gehend, weise ich auf sein nettes büchlein über Simrock (1877) hin, das Edw. Schrö-
der in der Allg. dtsch. Biogr. XXXV, 385 nicht vergass. Ich meine, Hessel hätte
den ihm so leicht erreichbaren Hocker persönlich zu rate ziehen sollen.
2) Wie freilich da sogar ein geschulter und gewitzigter sagenkundiger wie
Simrock einmal über's ohr gehauen werden kann, erläutert ein köstlicher wahrer
scherz, den ich in meinem aufsatze über sein „Amelungenlied" (Ztschr. f. d. dtsch.
unterr. X. band, von mir in erwartung früheren abdrucks Ztschr. XXVII, 412 schon
für 1894 augekündigi) , „Ein neudeutsches heldenepos altdeutschen stoffs", erzähle.
3) Dies fleissige werk birgt für die reale, d. h. rein biographische und die
stoffgeschichtliche aufgäbe der Bürger - forschimg wenig eigenes; ich versuchte seine
bedeutuug zu kennzeichnen „Magazin f. d. litteratur des in- und auslands", 59. jhi-g.
1890, nr. 52 („Das gegenwärtige Studium der deutschen litteratur in Frankreich").
4) Auch nach mündlicher mitteilung an mich. Vgl. Sauer's ausg. s. LXu. 241.
5) Wahrscheinlich der alte Leipziger lokalchronist Otto Moser, der seit vielen
Jahren im „L. t." unter ähnlichen chiffren kulturhistorische kuriosa in einzelnen
schnitzeln einrückt und damit aus seinen langjährigen, aber unkritischen und ihm
selbst unkontrollierbaren koUektaneen bisweilen nicht unwichtige einzelheiten zu tage
fördert, wie z. b. Fr. Zarncke bei seinen Chr. Keuter - forschungen erfuhr (s. dessen
notiz in den „Berichten der kgl. Sachs, gesellschaft der Wissenschaften. Philolog.-
histor. klasse" 40, 1888, s. 73; vgl. den artikel zu Mosers 80. geburtstag im „L. t."
vom 20. novbr. 1895, beilage.
6) Vgl. zum Stoffe auch Sauer's ausg. der „Stürmer u. dränger" (1891) I, s. VV.
MtJNCHEN. LUDWIG FRÄNKEL.
FEÄNKEL, FRÄULEIN 561
Materialien zur begriffseutiylcklung von nM. „fräulein".
In nummer 14 des 53. jalu'gangs der „Grenzboten" veröffentlichte Ernst Mül-
lenbach s. 33 — 37 einen artikel „Demoiselle — fräulein — gnädiges fräiüein", der
der ablösimg dieser ausdrücke im sprachgebrauche des achtzehnten Jahrhunderts mehr
kulturhistorisch als sprachgeschichtlich nachgeht, ja in letzterer hinsieht mannigfach
angreifbar, besonders stark ergänzungsfähig ist. Uns betrifft hier der s. 35 stehende
Satz: „Die bis dahin" — "Wielands ausdrucksregulierungen im „Teutschen Merkur"
sind gemeint — „seit etwa fünfzig jähren herrschende anscliauung beschränkte recht-
lich den gebrauch des wertes fräulein auf die töchter adlichen Standes." — Wieland
verwarf damals in einer abhandlung „Über den Vorschlag, unsere bisherigen demoi-
sellen künftig fräulein zu betiteln" das auftauchende streben nach dieser umtaufo.
Wir haben diesen Standpunkt gebührend in anschlag zu bringen, wenn wir z. b. die
gleichzeitigen prosadramen — denn nur diese können natürlich in betracht kommen
— des jungen Schiller daraufhin durchsehen. Amalia von Edelreich („Eäuber") heisst
stets „das fräulein", sowie auch „das fräulein von Barnhelm", wie Lessing die Minna
sich bei aufnähme des personale selbst bezeichnen lässt. Aber auch „gnädiges fi-äulein"
dringt bereits ein, wofür Karl Moors erste anrede IV, 4. scene ein typisches beispiel
zeigt. In „Kabale und liebe" wird Luise von allen sie siezenden „mamsell" genannt,
die Milford „(Mi)lady" oder „gnädige frau", -was der „madame" in „Fiesco" entspricht;
so redet dort die gräfin Imperiali Leonoren geringschätzig an. Man vergesse nicht,
dass Gretchens absage an den ihr erstmals begegnenden Faust „bin weder fräulein",
was seine nachherige bezeichnung „die dime" — dies selbstverständlich ohne jeden
Übeln beigeschmack — bestätigt, auf demselben brette liegte Mag auch sein, dass
Goethes verliebe für die ausdrucksweise des 16. Jahrhunderts, insbesondere Hans
Sachsens, mit grund für die betonung von „fräulein" in diesem sinne war-. Bei
dem volkstümlichen Nürnberger poeten wird z. b. eine verheiratete frau besseren
Standes angeredet: freiclein, tviltu mir thun ein sehenek^, woneben freilich das
(krumb) frewelem = weiblein steht, wie „Des knaben wunderhorn" bereits in älte-
ren nummern „fahrende fräulein" in einer bedeutung gebracht, die nichts weniger als
an den ehemaligen rang des ritterbüi-tigen oder wenigstens ritterwürdigen anklingt.
Auch altgriechisch )/j;^(/i>; schwankt in der bedeutung zwischen xögr], ywri, ncdXay.tg.
Zwei Zeugnisse aus dem anfange des vorigen Jahrhunderts mögen beweisen,
dass der von Wieland gesetzte terminus a quo ein gut stück weiter hinauf zu rücken
ist. Bei Albert Joseph Loncin von Gominn (d. i. Conhn)*, Der Christliche W^eltweise,
band n (Augsb. 1706) s. 33 heisst es: „0 wie manches Fräide (also wii'd bey jetziger
1) In Fr. Strehlke's „Wörterbuch zu Goethes Faust" s. 47a werden folgende
steUen des Vorkommens citiert: 2605, 2906, 3020 (aUes nach der neuen Weünarer
ausgäbe), Urfaxist 457, 459, 760, 874, i;nd als eriäuterung gesagt: „ein junges mäd-
chen von adel oder wenigstens den höheren ständen angehörig".
2) Die neueren Untersuchungen von Goethes Verhältnis zu H. Sachs, verzeich-
net bei Sahr, Ztschr. f. d. dtsch. unterr. IX, 676 fgg., und Koch, Berichte des freien
dtsch. hochstifts n. f. IX, 226 fg. (vgl. mein referat über „Hans Sachs -festschriften"
„Litteraturbl. f. germ. u. roman. philoL", XVE) erwähnen davon nichts.
3) KeUers ausg. (Litterar. verein) YI, 121, die folgende steUe VI, 304.
4) Über diesen nachäffer Abrahams a Sta. Clara vgl. meine angaben Engl,
stud. XIX, 203, und Euphorien H, 771 (Flögel-Ebeling, Gesch. des grotesk- komi-
scheu* [1887] nennt falsch s. 423 Cobui-g als veiiagsort, s. 470aConnus als namen).
ZEITSCHRIFT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XXVIII. ^"
562 FRÄNKEL
zeit fast ein jede Vogts Tochter titulivQi^ und will keine kein Jungfraii ^ mehr seyn,
wie es dann auch vielleicht in der That sich also befindet) 0 wie manches Fräule , sag
ich, wann sie sihet, wie dass die Natur einer armen Burgers Tochter mehr galanterie
und Schönheiten hat in das angesicht gesetzet, als ihr, die sie doch ein gebohme
von Adel , wann sie siebet , wie bey manichem Baurn - Grettl ^ die Oratien so Hauifen-
weiss Quartier nehmen, wann sie sihet, wie maniches Bettel Mädl Corallen und Ala-
baster gnug zu verkauiTen hat, ist einer solchen um ihr schöne Gestalt .... neidig." —
Ebenda s. 210 lesen wir: „erst kürtzlich hat er ein junge Princeßin ausgeh eurathet,
da hat mau gleich ein Fräule Steuer gemacht .... ja sollte einer schier wünschen,
dass solche theure frälen in der Thonau schwummen." Andrerseits freilich liest
man bei Christian ^'^ernike um dieselbe zeit: „wenn das Wort der Sache nutzt, so
geb' ich alles nach, und ich bin nicht entrüst, dass man die Fräulein heisst, die
keine Jungfer ist" : Kürschners Deutsche national -litteratur bd. XXXIX, 544.
Übrigens wogte der streit auch nach Wieland noch längere zeit ohne entscheiduug
hin und her''. Im feuilleton der „Frankfurter zeitung" vom 13. juh 1894, zweites
morgenblatt, steht in einem anonymen, manches gute enthaltenden eingesandt „Zur
geschichte der sprachreiuigung " folgende mitteilung, die den kämpf um den rang
von „fräulein" bis ins zweite Jahrzehnt unseres Jahrhunderts lebendig zeigt: „Im
mai 181G zerbricht man sich in Berlin den köpf mit der Übersetzung von madame
und mademoiselle: die hauptschwierigkeit findet man darin, dass bei den neuen
bezeichnungen der unterschied zwischen adeligen und nichtadeligen frauen und
fräuleins verwischt wird. ,Hohe frau, edle frau, edles fräulein, herrin' — all das
findet man geschmacklos. Endlich behilft man sich mit dem auswege: frau und fräu-
lein sind die einzig richtigen ausdrücke; wer seinen adel besonders betonen wolle,
der möge sich eben baron, baronin und so weiter betiteln lassen. Schon ein jähr vor-
her war aus dem schoosse einer Berliner „Deutschen gesellschaft" der verschlag her-
vorgegangen, fräulein beim adeligen, fraulein beim bürgerlichen mädchen zu sagen".
Zu letzterem entschluss entnehme ich ferner der sehr dankensweiien abhandlung
über „Die ehemalige Berlinische gesellschaft für deutsche spräche und ihre bücher-
sammlung", die John Koch als „Wissenschaftliche beüage zum Jahresbericht des
Dorotheenstädtischen realgymnasiums zu Berlin. Ostern 1894" (Berlin, R. Gärtners
Verlagsbuchhandlung) vorlegte, s. 29, dass der jeuer bücherei entstammende sammel-
band nr. 470 an 18. stelle enthält:
„Der Freimüthige. Num. 30, den 11. febr. 1815, Anzeige. (Geschriebenes blatt).
Überzeugt, dass bei einer Reinigung der Sprache, che, wenn Grundsätze weiser
Mässigung sie leiten, so sehr zu wünschen ist, die Herausgeber öffentlicher Blätter
mit einem guten Beispiel vorangehen müssen, erkläre ich mich, für mich und den
Freimüthigen , hiermit öffentlich für die so überaus glückliche Verwandlung der fran-
zösischen Ausdrücke: Madam und Mamsell in Frau und Fräulein, welche durch eine
1) Abgesehen von der Zweideutigkeit in diesem zusammenhange, ist hierzu
eben das spätere mamsell, wie es Schiller (z. b. in „Kabale und hebe" neben Jung-
fer) gebraucht, zu vergleichen.
2) In diesem sinne war der name wol auf bairisch[-schwäbisch]em boden im
Schwange (Schmeller- Frommann I, 1017); J. Bolte im register seines neudrucks von
Val, Schumanns „Naclitbüchlein" (Litterar. verein, 197, 1893) s. 425 erklärt Gräte
(245, 14 und 20) und G]-etl(e)in (55, 16 und 56, 1) direkt als bauerndirne. Vgl.
W. Wackernagel, Kl. rchr. III. 130—146 (aus Germ. IV/V),
3) Sanders I, 487, Grimm IV, 1, 87 fg. (auch frä[u]le) setze ich voraus.
FRÄULEIN 563
aclituiigswerte Spracligesellschatt in Erfurt zur Sprache gebracht worden ist, und ver-
banne jene, in einem deutschen Munde wirklich albern klingende werte aus dieser
Zeitschrift, wie von der Aufschrift meiner, an deutsche Frauen und Mädchen gerich-
teten, Briefe. Überlassen wir es in Zukunft den koketten Weibern, sich Madams, den
Freudenmädchen, sich Mamsells nennen zu lassen.
Berlin, d. 8. februar 1815. D. August Kuhn.'"
"Wenige jähre später, in der von K. B. Schade besorgten 5., völlig umgearbei-
teten aufläge von J. Chr. Adelungs „Kleinem deutschen Wörterbuch" (1824) — die
als eine art gradmesser des damaligen Sprachgebrauchs angesehen werden darf —
fehlt mamsell ebenso wie madam, und s. 147 steht fräulein ohne weitere erklärung
unter dem stich woiie frau. In büchern wie F. A. Brandstäter, „Die gallicismen in
der deutschen Schriftsprache mit besonderer rücksicht auf unsere neuere schönwis-
senschaftliche litteratur" (1874), sucht man vergebens nach belegen für das 19. Jahr-
hundert; s. 99 ist in einer alphabetischon liste „madame, als anrede zur eigenen
frau" bei Schiller, Neffe als oukel H, 7 nachgewiesen, also einfach beibehalten! ^Ma-
dame" ist übrigens, wie ich nach vielfacher eigener erfahrung in laden usw. bestä-
tigen kann, heute in Paris die fast alleinige anspracheform. Sachs -Villatte, Ency-
clopäd. wörterb.*^ (1894), s. 928c erklärt es sehr gut, zu mehreren obigen stellen
parallelen bietend: „Titel und anrede (ehem. nur der wirklichen ritterfrauen , jetzt)
joder verheirateten frau oder auch einer unverheirateten (wenn man nicht bestimmt
weiss, ob sie noch unverheiratet), auch einer unverheirateten dame der demi-monde";
nach Villatte's „Parisismen"'' (1895) s. 176a ist madame im Argot der hauptstadt
„titel der bordellvorsteherin".
Der hübsche artikel von dr. Paul Bartels, „Titelwesen und anrede in Deutsch-
land", Allgemeine konservative monatsschrift f. d. christl. Deutschland, 52. jahrg.
(1895; märz) s. 268 — 274 bezieht sich nur auf die anrede -prouomina sowie hoch-
und wolgeboren, erwähnt fräulein, madam usw. nicht.
MÜNCHEN. LUDWIG FßÄNKEL.
Berg' iiud vögleiu.
Zu der die owigkeit versinnbildenden parabel vom demautberg (., dahin kommt
alle hundert jähr ein vögelein und wetzt sein schnäblein daian, und
wenn der ganze berg abgewetzt ist, dann ist die erste Sekunde von der
ewigkeit vorbei") in den märchen der brüder Grimm hat R. Sprenger (oben
s. 71 — 72) zwei Strophen aus einem im „Wunderhorn" (bd. 2, Heidelb. 1808, s. 220)
nach mündlicher quelle aufgezeichneten Volkslied verglichen:
„AVeun berg und tal aufeinander stand',
viel lieber wollt' ich sie tragen,
als dass ich soll stehn vor dem jüngsten gericht,
soll all meine sünden beklagen."
„Und kam' alle jähr' ein vögelein
und nahm' nur ein schnäblciu voll erden,
so wollt' ich doch die hoffnuug haben,
dass ich könnt' selig werden."
Es sei gestattet, auf eine weit ältere ähnliche stelle aufmerksam zu macheu.
Das zu München im jähre 1510 aufgeführte spiel vom jüngsten gericht, welches ich
36*
564 HÄRTMANN, nKRG UND VÖGLEIN
nach der bandschrift (cgm. 4433) auszugsweise in seinen charakteristischen partien
widergegeben habe*, lässt die verdammten seelen klagen:
„Wir armen seien wollten geren,
das ain perg auf gieng bis an die steren,
der alls prait war alls das gantz erdtrich,
und alle jar ain vogel erschwunge sich
und von dem perg füert ainer arbais gros;
wann dann der perg wurd erdtrichs plos,
das wir erledigt wurden von der pein,
dieweil weiten wir geren in der helle sein
und leiden pein, die da unseglich ist,
das wir darnach sehen Jhesu Crist.
das mag unns aber widerfaren nicht;
wir sein ewigklich on end gericht"
Wie man sieht, schliessen sich diese verse den beiden durch Sprenger erwähn-
ten stellen, näher jedoch der in dem volksliede an.
Das Münchener spiel von 1510 ist, wie ich a. a. o. s. 421—422 nachgewiesen
habe*, eine jüngere bearbeitung des alemannischen weltgerichtspieles , das sich, vom
jähre 1467 datiert, in einer bandschrift des klosters Eheinau bei Schaffhausen findet^.
Das Rheinauer spiel enthält die obigen verse noch nicht. Ältere quelle des Mün-
chener Spiels in bezug auf die fragliche Symbolik war möglicherweise ein theologisches
werk (predigt?) in prosa, vielleicht aber auch schon ein volksrätsel, wie wir es im
besagten märchen als frage des königs und antwort des hirtenbübleins vernehmen.
Etwas abgeändert und auf zwei bilder verteilt widerholt sich unser gleichnis
in einem protestantischen erbauungswerke des 17. Jahrhunderts, dem „Neu vermehr-
ten Nürnbergischen handbuch" von Dominicus Beer, der pfarrkirchen zu S. Lorentzen
diacono und seniore, Nürnberg 1659. Hier heisst es in dem „betrachtung der ewig-
keit" überschriebenen 70. büchlein, s. 1272:
„Komme herbey, du allerbester rechenmeister, und rechne mir diese summe,
die ich dir fiirlege, so will ich dich für einen meister passieren lassen. Ich setze,
der gantze erdboden sey ein grosser mächtiger sandberg von den allersubtilsten sand-
körnlein, ein engel vom himmel käme alle jähr einmal und nehme mehr nicht,
als ein einiges körnlein mit sich hinweg, wie viel 1000 mal 1000 millionen jahr
würden dazu gehören, biss der berg abgetragen würde"; dann auf der nächsten Seite
(1273):
„Ich vermeine, mein lieber christ, es werde dir nicht zuwider seyn, anzuhö-
ren , was die lieben alten für gedancken hiervon gehabt haben. Sie pflegten zu sagen,
dass die verdambten in der höll nichts höheres wünschen und begehren würden , dann
1) „Volksschauspiele" (Leipzig 1880 bei Breitkopf & Härtel) s. 411— 422.
2) Seltsamer weise hat weder K. Th. Gaedertz („Ein Münchener mysterien-
spiel im jahr 1510" Magazin f. d. liter. des in- und ausländes 1890, s. 527 — 529
und 544 — 546), noch H. Jellinghaus („Das spiel vom jüngsten gericht" Ztschr.
XXni, s. 426 — 436) meine doch ausführlichen nachrichten einer berücksichtigung
wert gefunden. Gödeke Gmndr. I^ 322 (Dresden 1884) verweist nur auf die band-
schrift (cgm. 4433).
3) Mone, Schaupiele des mittelalters I, 265 — 304. Über eine noch etwas frü-
here fassung vgl. Barack, „Die haudschriften der hofbibliothek zu DonauescMngen"
s. 135 — 136.
WALLNER, ZUM PARZIVAL 565
dieses, dass die gantze weit ein grosses meer wäre, welches vom untersten ab-
grund biss an den höchsten himmel reichte, und kam alle tausend jähr (o der
langen zeit!) nm- ein kleines vöglein und neme nur ein tröpfflein heraus, so wür-
den sie so froh seyn, als wann ihnen die allererfreulichste zeitung verkündiget würde,
ungeacht diss eine solche zeit erforderte, die kein mensch aussprechen kan: noch
dennoch hätten sie eine hoffnung, dass es einmal zum end kommen müste, wenn es
imzehlich viel 1000 mal 1000 jähr gewehret hätte."
MÜNCHEN. AUGUST HARTMANN.
Zu Parzival 826, 29.
Stosch weist (oben s. 55) mit recht Bartschs erklärung der stelle zurück; sei-
ner eigenen deutung aber kann man ebenfalls nicht zustimmen. Ganz richtig
bemerkt er: „Soll rede hier in dem sinne von oratio stehen, so kann mit rede sich
rechen nur heissen: mit werten sich rächen, schelten", findet das aber im zusam-
menhange höchst trivial und meint: „Auch schalt Erec Eniten ja nicht". — Es seien
die stellen angeführt, auf die Wolframs anspielung sich bezieht.
Erec verbietet 3095 seinem weibe niim-an hi dem Übe, ihn je anzui'eden. Als
Enite ihn vor den räubern warnt, fährt er sie an 3238:
^wie nü, ir wunderliche^ wtp?
ja verbot ich iu an den lip
dax ir niht ensoldet sprechen:
iver hiex iuch da'x, gebot brechen"?
da% ich von ivWen iian vernomen,
dax ist war, des bin ich komen
wol an ein ende hie:
swax man in unx her noch ie
also tiiire verbot,
dar nach tcart in also not
dax six 77iuosten bekorn.
ex ist doch vil gar verlorn
swax tnan iuch m/iden heixet,
wan dax ex iuch reixet
dax irx niht mtiget verniiden:
des sult ir lasier liden.
swax ein wtp nimer getcete,
der irx nimer verboten hcete,
niht langer si dax verbirt
ivan U71X ex ir verboten wirt:
son mae sis langer niht verlän.
Er verzeiht ihr gegen das versprechen, sein gebot von nun an zu halten. Als sie
abermals ihr schweigen bricht, um ihn vor den Wegelagerern zu retten, fragt er 3404:
y^sagt, ir wtp vil ung exogen^
war umbe habt ir aber gelogen?
wan ich ex iu von erste vertruoc,
nü dühte iuch dar an niht genuoe,
im taetets aber mere.
566 WALLNER, ZUM PARZIVAL
und mohte dehein ere
mmi an wibe begdn,
ex solde nilit so ringe stän,
ich ncevie iu hie xehant den lip.'^
Nachdem sie ihm noch rechtzeitig den geplanten Überfall des grafen verraten hat,
schüt er 4122:
y,frou Ernte,
ir habt iuch %e strite
%e vaste wider mich gesät.
dax ich da laxen bat
und ex iu an den Itp verbot,
dax ist mir ein michel not.
dax ir des deste mere tuot.
nü sage ich iu mttien muot:
ich tvilx von iu niht lidsn;
und weit ir ex niht midcn,
ex get iu benamen an den Zip."
Gleich darauf warnt sie ihn vor dem anreitenden Verfolger, nu verweix er froicen
Entten dax dax si sin gebot so dicke brach, sin xorn wart grox und ungemach
und unsenfter danne e (4261 fgg-)-
Viermal also droht Erec Eniten den tod au, wenn sie ihr schweigen breche,
jedesmal aber begnügt er sich so ziemlich mit langatmigen scheltreden. Er ist in
diesem punkte das gegenstück zu Loherangrin, der seine drohuug unerbittlich wahr
macht. In teilnehmendem scherze meint nun Wolfram: „Da gehörte Erec her, der
wusste mit worten zu strafen, der hätte nur- wider gescholten!"
Innsbruck, 19. juni 1895. amton wallner.
Bericlitiguug.
Durch ein versehen ist Seite 448 ausgedruckt worden, ehe ich die zweite kor-
rektur eingesandt hatte. Da der herausgeber in der ersten korrektur auch die von
mir aus gewissen gründen beibehaltenen abbreviaturen für das einfache r und er auf-
gelöst hat, so ist in der anmerkung 1 nun statt ver zu lesen er und r. In der
1. zeile des textes ist zwischen der und in, in der 2. zwischen hatt und die Schräg-
strich, in der 6. hören statt hören, in der 1. zeile der zweiten Überschrift zwischen
liebe imd vttd punkt zu setzen. Einige stellen des textes hat herr dr. Rosenhagen
während des dr-uckes freundlichst noch einmal verglichen.
F. VOGT.
An die mitarbeiter und leser der Zeitschrift.
Vom nächsten hefte ab wird mein College, professor dr. Friedrich Kauff-
mann hierselbst, in die redaction der Zeitschrift eintreten. Die arbeitsteilung wird
im allgemeinen in der weise stattfinden, dass die aufsätze zur ostgermanischen und
angelsächsischen philologie meiner durchsieht unterliegen werden, während alles übrige
NEUE ERSCHEINUNGEN 567
herrn prof. Kauffmauu zufällt. Die correspoudenz mit den herreu mitarbeiteru habe
ich übernommen und bitte daher, briefe und manuscripte wie bisher an mich zu
adressieren.
KIEL, JANUAR 1896. HUGO GERING.
NEUE ERSCHEINUNGEN.
Altsäehsische spraclulenkmäler , herausgegeben von J.H. Gallee. Leiden, E. J. Brill.
:'-894. LI, 366 s. 8. Dazu Facsimilesammlung. Leiden 1895. 29 tafeln
fol. 45 m.
Düntzer, Heinrich, Goethe, Karl August und Ottokar Lorenz. Ein denkmal. Dres-
den, Verlagsanstalt (V. W. Esche), 1895. 124 s. 2 m.
Festgabe für Karl Weiiiliold. Ihrem ehi-enmitgüede zu seinem fünfzigjährigen doc-
torjubiläum dargebracht von der gesellschaft für deutsche philologie in Berlin.
Leipzig, Rcisland 1896. VI, 135 s.
Inhalt: R. Bethge, die altgermanische hundertschaft. — W. Luft, zur
handschiift des Hildebrandsliedes. — Derselbe, zum dialekt des Hildebrandslie-
des. — W. Scheel, die Berliner Sammelmappe deutscher fragniente. — J. Bolte,
in dulci jubilo. — P. Kaiser, Schillers schrift vom ästhetischen umgang.
(iartenreclit , dat, in den Jacobsfjorden vnndt BeUgarden, med overssettelse ved
W. D. Krohu og B. E. Bendixen. [Skrifter udgivne af Bergens historiske
forening nr. 1.] Bergen, Griegs bogtrykkeri. 1895. 68 s. und 1 facsim.
Heimskriiigla, Noregs konunga SQgur af Snorri Sturluson udgivne for Samfund til
udgivelse af gammel nordisk litteratur ved Flimur Jönsson. 3. hfefte. Kopen-
hagen, Gyldendal in comm. 1895. S. 433 — 460 u. 3 — 128. 4 kr.
— De bevarede brudstykker af skindbögerne Kringla og Jöfraskinna i fototypisk
gengivelse udgivne for Samfund til udgivelse af gammel nordisk litteratur ved
Fiunur Jöussou. Kopenhagen, Gyldendal in comm. 1895. (IV), XX s. 4" und
7 taf. 7 kr.
Kaiiifinaiiii , Fr., Deutsche grammatik. Kurzgefasste lautlehre des gotischen, alt-,
mittel- und neuhochdeutschen. 2. vermehrte und verbesseiie aufläge. Marburg,
N. G. Elwertsche Verlagsbuchhandlung. 1895. VI, 108 s. 2,10 m.
Merkes, P., Beiträge zur lehre vom gebrauch, des Infinitivs im neuhochdeutschen
auf historischer grundlage. Erster teil. Leipzig, J. H. Robolsky. 1896. 171 s.
Momimeuta Geriuauiae historica. Deutsche Chroniken und andere geschichtsbücher
des mittelalters. Band I, abt. 2: Der Trierer Silvester, herausg. von Carl
Kraus; Das Annolied, herausg. von Max Roediger. Hannover, Hahnsche
buchhandlung. 1895. VI, 145 s. 4.
Noreeu, Adolf, Abriss der altnordischen (altisläudischen) grammatik. [A. u. d. t. :
Sammlung kurzer grammatiken germanischer dialekte, herausg. von W." Braune.
C. Abrisse. Nr. 3.] HaUe. M. Niemeyer. 1896. 60 s. 1,50 m.
Dieser auszug aus Noreens ausführlicherem werke , der nur den altisländischen
Sprachgebrauch vor 1300 berücksichtigt, kann anfängeru zur einführuug in das
Studium des altnordischen bestens empfohlen werden,
568 NEUE ERSCHEINUNGEN
Pfaff, Friedlich, Deutsche Ortsnamen. Berlin, Trowitzsch und söhn. 1896. 16 s.
0,40 m.
Borges gamle lOTe indtil 1387. Femte binds 2det hefte, indeholdende glossarium
og anhang 1 — 3 samt tillpeg og rettelsor, udg. efter offentlig foranstaltning ved
Gustav Storni og Ebbe Hertzberg. Christiania 1895. lex. 8. s. I — XVI
und 57 — 864.
Sclierer, Wilhelm, Karl MüUeuhoff. Ein lebensbild. Berlin, AVeidmann. 1895.
VII, 173 s. imd 1 porträt. 4 m.
Schöuhach, Anton E., Der windadler Heinrichs von Veldeke. (Sonderabdruck aus
der festgabe für Eranz v. Krones.) Graz, im verlage des. Verfassers. 1895. 13 s.
Seelmann, Emil, universitätsbibliothekar , "NViderauffindung der von Karl dem grossen
deportierten Sachsen. Köln 1895. 13 s. (Separatabdruck aus der Kölnischen
zeitung.)
Seelmann kündigt in diesem artikel eine reihe ausfülirUcher abhaudluugen
au, in denen er den beweis führen will, dass die wallonische bevölkerung im
südöstlichsten zipfel Belgiens (in der Umgebung der Ardennenstädtchen Florenville
und Chiny) von durch Karl den grossen hierher deportierten Sachsen abstamme.
Auf germanischen, speciell niederdeutschen, Ursprung deutet der ganze typus der
bewohuer, die articulatiou der laute und eine nicht unbeträchtliche zahl im Sprach-
schatze erhaltener deutscher Wörter, wie auch die Ortsnamen z. t. nur aus dem
germanischen sich erklären lassen.
Sociu, Adolf, Basler mundart und Basler dichter. 74. neujahrsblatt, herausg. von
der gesellschaft zur beförderung des guten und gemeinnützigen. Basel; E. Reich.
1895. 63 s. 4» und 1 lichtdruck.
Spina, Franz, Der vers in den dramen des Andreas Gryphius. Abdruck aus dem
Jahresbericht des stiftsobergymnasiums der Benedictiner in Braunau (Böhmen)
1894/95. (In comm. bei Fr. Bocksch in Braunau.) 80 s.
Wenker, I. G-. und Wrede, F., Der Sprachatlas des deutschen reiches. Dichtung
und Wahrheit. Marburg, N. G. Elwertsche Verlagsbuchhandlung. 1895. 52 s. Im.
NACHRICHTEN.
Der ausserordentl. professor dr. Max Koch in Breslau wurde zum Ordinarius
befördert.
I. SACHREGISTER
569
I. SACHEEGISTER.
I
alemannisch-schwäbisch, siehe schwäbisch.
alliterierende ungleiche vokale 546 — 549.
altnordisch : datierung der f ragmente Bra-
gis des alten und des Ynglingatal von
I'j6{)olfr 121—127. vgl. beide.
altsächsisch : heimat der Genesishandschrift
142. — Unterscheidung verschiedener
bände in der vorläge der Münchener
Heliandhandschrift nach der form des
accus, sing. masc. des betimmten arti-
kels 433—436.
Arigos Blumen der tugend, Über-
setzung des Fiore di virtvi 470 fg. Ver-
hältnis zum italienischen original 471 —
474. nachweis der identität des Über-
setzers des Fiore und des Übersetzers
des Decamerone 474 — 482.
Arndt, E. M. , briefe an iraw Zanders
509 — 515.
berg und vöglein, parabel 563 fgg.
Boccaccios Decamerone, deutsche Über-
setzung, siehe Arigo.
Bragis des alten fragmente, datierung 121
— 127. vgl. altnordisch.
Brittonum historia, siehe dieses.
Bürger, G. A.: seine erste gattiu dichte-
rin? 551 fgg. seine 3. gattiu 553 — 56.
— quellen einiger episch - lyrischer ge-
dichte Bürgers 556 — 560.
czechische übertragirng von Warbecks
schöner Magelone 392. vgl. Magelone.
diphthonge: quantitätsunterschiede , siehe
dieses.
Felix: mittelhochdeutsches gedieht vom
mönch F. 35 — 38.
Fenriswolf, siehe mythologie.
fiebersegen ans einer mittelhochdeutschen
band Schrift 39 fg.
Fiore di virtü, deiüsch von Arigo, siehe
diesen.
Frauja, Fraujo, siehe mythologie.
Freyr-Freyja, siehe mythologie.
Goethes stil im alter 410, aus wähl des
Wortschatzes 410 fg. einfluss des dik-
tierens ai;f den stü 411 fg. rechtfer-
tigung von spracheigentümhchkeiten 412
fg. — Tasso, ausgang, enthält keine
anspielung auf selbsterlebtes 56 fg. an-
klänge au antike dichter 58. worter-
klärung 58 fg. 67 fg. deutung des
Goethischen ausdruckes „Verklärung Tas-
sos" 59 — 62. deutung des innei'en Zu-
sammenhanges 62 fg. 66 — 71. bedeu-
tung des gedankenstriches in Goethe-
handschriften 63 — 66. schluss des Tasso
66 fg. gedieht: die geheimnisse,
kritik der von dem alternden Goethe
gegebenen erklärung 483 — 489. gleich-
zeitige Überlieferung der entstehiuig des
gedichtes 489 — 499. benennung des
gedichtes 500 fg. analyse des inhaltes
501 — 509.
gotische grammatik, siehe dieses.
grammatik, gotische: optativ in be-
dingungssätzen 132 fgg. in relativsätzen
133 fg. in temporalsätzen 134 fg. in
aussagesätzen 135 fg. in folgesätzeu
136. — analogieu der ein Wirkung des
hauptsatzes auf den modus des neben-
satzes im mittelhochdeutschen 136 fgg.
handschriften, aus mittelhochdeut-
schen: Dietrich von Plieniugeus Seneca-
übersetzung 17 — 26; vgl. dieses. —
Heinrich Munsingers buch von den fal-
ken USW. 26 — 31; siehe dieses. — he-*
besbrief 33 fgg. — Vom mönch Felix
35 — 38. — Unser lieben trauen ritter
38 fg. — Diz ist ein sogen für den
riten 39 fg. — Ein new hed von Haus
und Lienhardt dem Yittel 40 fgg. —
Wie man den Schwartzen rieht 42 fg.
Heliand: vorläge der Münchner hand-
schrift, siehe altsächsisch.
historia Brittonum, entstehungsge-
schichte: Brittengeschichte aus dem
jähre 679 86 fg. Interpolation des alten
werkchens 87 — 93. die Harleian-re-
cension 93 fg. nordwelsche recension
94 — 99. die genealogien 99 — 102.
civitates und mirabilia 102 fg. tätigkeit
des Nenuius 103. Schema der historia
des Nennius 103 fgg. der Irenapostel
Patrick (Patricius) 105 — 109. Hispe-
rica Famina 109 — 112.
historische Volkslieder aus mittelhochdeut-
schen handschriften: Von Hans und
Lienhardt dem Vittel 49 fgg. — Wie
man den Schwartzen rieht 42 fg.
jagd : Heinrich Munsingers buch von den
falken usw. 26 — 31. vgl. dieses.
Ingväonischer Nerthuscultus, siehe mytho-
logie.
Interpunktion: grundsätze Dietrich von
Plieningens in seiner Senecaübersetzung
22 — 26.
lehnwörter im deutschen: grund der ent-
lehnung 378. lehnwörter in mundarten
378.
liebesbrief ans emer mittelhochdeutschen
handschrift 33 — 35. vgl. handschriften.
Lokis beziehung zum Fenriswolfe, siehe
mythologie.
Loreley, name 427 fg.
märchen, siehe parabel.
570
I. SACHREGISTER
Magelone, die schöne, aus dem fraozö-
sischen übersetzt vou Veit Warbeck,
czechische Übertragung 392.
nietrik , siehe vokale.
mundartliche lehnwörter 378.
Munsingers, Heinr., buch von falken,
habichten, sperbern und hunden 26.
mythologie: begriff, umfang, einteilung,
methode der forschung 156 — 180. —
der Fenriswolf, deutungen, Zeugnisse
180—183. namen 183 — 188. beina-
men 188 — 191. genealogische verbin-
dimg mit Loki 191 — -196. gegensatz
zu Tyr (Zeus) 196 fg. mythus von der
fesselung des wolfes 297 — 305. deu-
tung des gefesselten wesens als Stern-
bild ulfs keptr 305 — 313. teiloahme
des gottes Tyr an der fesselung 313 —
317. beziehung des dämonisch aufge-
fassten \volfes zu Loki 317 fgg., kämpf
des befreiten götterfeindes mit Odinn
und Vidarr 320 fg. gleichsetzung des
Fenriswolfes mit dem sonnenwolfe 322
— 328. das f reiwerden des wolfes und
das flottwerden des Schiffes Naglfar als
zeichen des Weltunterganges 328 — 341.
— excurse: heimat der götter 341 —
345. eiuzclheiten des berichtes von der
fesselung des wolfes 345 — 348. — Ver-
kehrtheit der trennung von höherer und
niederer mythologie 246 fg. , der meteo-
rologischen und psychopathologischen
deutung 247 fg. — Identität von Frauja-
Nerthus (männlich) und Fra\ijo-Ner-
thus (weiblich) 289 fg. Ingväonischer
urspning des North uskultus 290 fg.
sprachliche erklärung der entstehung
von Nerthus - Ni(;)rJ)r und Frevr-Frevja
291 — 294.
Nennius' tätigkeit hinsichtlich der historia
Brittonuni, siehe diese.
Nerthuskult, siehe mythologie.
nordische mythologie, siehe dieses. —
nordische runeninsehrifteu, siehe dieses.
Odins kämpf mit dem Fenriswolf e, siehe
mythologie.
paral3el (märchen) vom berge und vöglein
563 fgg.
Patrick (Patricius), siehe historia Britto-
uum.
Plieningen, Dietrich von, Übersetzer Se-
necascher und Pseudo - Senecascher
Schriften 18 — 22. fühi-t bestimmte
grundsätze der Interpunktion ein 22 — 26.
quantität der silbeu: zurückführuug von
quantitätsunterschieden bei vokalen und
diphthongen heutiger mundarten auf
voralthochdeutsche apokope 515fg. deh-
uung und erhaltung alter kürzen im
schwäbisch - alemannischen 516 — 524.
Ru n e n i n s c h r i f t e n : des AVedelspangstei-
ues und des Gottorpsteines 236 fgg. des
Danewirkesteines 238 fg. der beiden
ungarischen spangen 239 fg. der spange
von Engers 240. von Freilaubersheim
240 fg. 244. von Osthofen und Char-
nay 241. 244. des Tunesteines 242. der
Spange von Founaas 243. des steines
von Einang 243. des steines von By
243 fg. der spange von Nordendorf 244.
Salomosage, ihr fortleben in der Spiel-
mannsdichtung 536.
schwäbisch -alemannischer dialekt: quauti-
tätsunterschiede der vokale 516 — 524. —
angebliche Wanderungen von lautwand-
lungen 540 fg. entwicklung der vokale
und diphthonge 541 fgg.
schwedisch: wörtei'buch der schwedischen
akademie I 394—398.
schretel und wasserbär 429.
Seneca, Übersetzung Senecascher und Pseu-
do - Senecascher Schriften durch Dietrich
von Plieningen 17 — 26. vgl. diesen.
Shakespeare, tagelied bei, siehe dieses.
Spielmannsdichtung nimmt motive der Sa-
lomosage auf 536.
Stricker: sein Daniel älter als sein Karl
43 — 47.
Syntax: einfluss des hauptsatzes auf den
modus des nebensatzes im gotischen,
siehe grammatik.
tagelied bei Shakespeare 265 fgg.
f*j6{)olfs Ynglingatal, datierung 121 — 127.
vgl. altnordisch.
Tyrs Verhältnis zum Fenriswolfe, siehe
mythologie.
Unser lieben frauen ritter, gedieht aus
einer mittelhochdeutschen handschrift
38 fg. vgl. handschriften.
Vidars kämpf mit dem Fenriswolfe, siehe
mythologie.
vokale : quantitätsunterschiede, siehe diese.
— alliteration imgleicher vokale 546 —
549.
Volkslieder, historische, 40 — 43. vgl.
historische lieder.
Warbecks Übersetzung der französischen
Magelone 392. vgl. Magelone.
wasserbär und schretel 429.
Wolfram von Eschenbach : sein Verhältnis
zum katholischen glauben und zur hei-
denweit 537 fg.
Zanders, fi'au: briefe an sie von E.M.Arndt
509 — 515.
n. VERZEICHNIS DER BESPROCHENEN STELLEN
571
II. VERZEICHNIS DER BESPROCHENEN STELLEN.
AltsUchsisch.
Heliaud 2481 fgg. s. 1.
4290 fg. s. 1 fg.
5738 s. 2.
Genesis I. bruchstück.
9 fg. s. 146.
10 s. 138.
12 fgg. s. 188 fg.
14 s. 146 fg.
17 s. 147.
22 s. 139. 147.
II. bmchstöck.
30 fg. s. 148.
32—42 s. 140.
33 fg. s. 148.
72 fgg. s. 140.
77 s. 149.
III. bruchstück.
114 — 116 s. 149.
154 fg. s. 150.
160 fgg. s. 140.
164 fgg. s. 140 fg.
177 fg. s. 150 fg.
180 s. 141.
180" s. 150 fg.
182 fgg. s. 151.
209" s. 151 fg.
254 s. 152,
258 fg. s. 152.
264" s. 152.
277 fgg. s. 141.
287 s. 141.
287 fg. s. 152 fgg.
321 fgg. s. 141 fg. 154 fg.
335 fgg. s. 142.
Mittelhoehdeutscli .
Der von Büweuburg (v. d.
Hageu MS. U, 262^ =
Bai-tsch, Schweiz. MS.
XXIII, 4) s. 295 fg.
Deutsche gedichte des 12. jh.
(ed. Kraus)
IV Adelbreht 7 s. 258.
65 s. 258.
Hartmanu von Aue, Gregorius
5 fg. s. 47 fg.
36 fg. s. 48.
41 s. 48.
66 — 78 s. 48fg.
84 s. 49.
100 s. 49.
Mai und Beaflor (ed. Pfeiffer)
10, 17 s. 437.
19, 5 s. 437. 444.
21, 11 S.437. 444.
25, 7 s. 437. 444 fg.
27, 4 s. 437. 445.
28, 10 s. 438. 445.
28, 28 s. 438.
37, 23 S.438. 445.
41, 8 s. 438.
42, 38 s.438.
46, 18 s. 438. 445 fg.
52, 17 s.438.
53, 7 s. 438 fg.
79, 7 s. 439.
87, 36 s. 439. 446.
92, 11 s. 443.
111, 20 s. 439.
118, 39 fgg. s. 439 fg.
122, 29 s. 440.
130, 12 fg. S.440. 446.
138, 31 fg. s. 440. 446.
139. 8 fg. s. 440. 446 fg.
150, 32 s. 440.
172, 16 s. 440.
174, 32 s. 440 fg.
176, 19 s. 441. 447.
177, 6 s. 441.
178, 7 s. 441.
181, 22 s. 441.
184, 13 fgg. s. 441. 447.
184, 22 fgg. s. 441. 447.
187, 9 s. 441.
189, 26 s. 441.
192, 4 s. 442.
204, 24 s. 442.
207, 6 s. 442. 447.
209, 18 s. 442. 447.
211, 17 fgg. s. 442.
216, 13 s. 442.
218, 38 s. 443.
234, 28 s. 443.
236, 14 s. 444.
242, 5 s. 444.
Munsinger, buch von den
falken usw. (ed. Hassler)
2, 28 s. 29.
2, 2 V. u. s. 29.
20, 13 s. 30.
27, 13. 19 s. 30.
30, 7. 8 V. u. s. 30.
31, 23 s. 30.
33, 21 s. 30.
36, 2 s. 30 fg.
43, 6. 7 s. 31.
55, 2 V. u. s. 31.
58, 5 V. u. s. 31.
94, 1 V. u. s. 31.
95, 24 s. 31.
Das rädlein (v. d. Hagen Ge-
samtab. III, 118)
285 fgg. 2429 fg.
Ulrich von Lichtenstein,
Frauendienst
10,16. 21, 23 fgg. 22,29.
24, 5. 32. 26, 16 s. 199.
28, 2 fgg. s. 199 fg.
31, 20. 32, 12. 33, 17.
25. 44, 6. 52, 32. 53,
1 s. 200 fg.
53, 26. 30. 54, 32. 60,
25. 61. 28. 62, 13 fgg.
s. 201 fgg.
66, 1 fgg. 5. 13. 17. 21.
29. 67, 1. 3 fg. 7 s.
203 fg.
67, 11. 15. 19. 25 fg. 30.
31. 68, 3. 70, 1. 13.
72, 23. 75, 8. 77, 14.
25 s. 204 fg.
78, 2 fg. 23. 79, 21. 29.
81, 16. 82, 14. 16. 26.
86, 9 fg. 20. 89, 26.
90, 8 s. 205 fg.
91, 25. 92, 16 fg. 9.3, 1.
9. 25. 94, 1 s. 206 fg.
95, 6 fgg. 96, 30 fg. 98,
2. 8. 99, 27 fg. 101, 4
s. 207 fg.
102, 20. 107, 11. 109,
20. 110, 5 fgg. 124,13.
127, 26. 128, 17 fgg.
130, 15 s. 208 fg.
131, 9. 21 fgg. 1.32, 1.
8. 23. 137, 16. 139,
3 fg. 140, 7. 23. 141,
10 s. 209 fg.
144, 3. 147, 6. 155, 24
fgg. 156, 29 fgg. 157,18.
163, 5 fgg. s. 210 fg.
165, 7. 166, 17 fgg. 168,
9 fgg. 170, 13. 32 fgg.
s. 211.
174,8. 10. 177, 17. 178,
17 fgg. 180, 29. 181,
30 s. 212.
196, 29. 197, 6. 199, 3.
8. 10. 200, 11. 201,
26. 202, 1 s. 213 fg.
202, 4. 5. 10. 13. 16.
203, 21. 25. 32. 205,
16. 206, 17. 18. 30
s. 214 fg.
572
in. WORTREGISTER
Ulrich A^on Lichtensteiu,
Frauendienst
208, 17.f209, 31fgg. 211,
23. 29. 212, 30. 216.
14. 17. 220,16 s. 215 fg.
219, 24. 220, 9. 221,
29 fg. 225, 21 s. 216.
242, 21. 250, 4 s. 217.
262, 10. 263, 16. 266,
4fgg. 271, 11. 19. 274,
20 s. 218.
276, 4. 282, 14. 288,
21. 297, 4. 303. 28.
312, 26 s. 219.
340, 9. 347, 14, 353,
18. 365, 21 s. 220.
383, 9. 409, 19 fgg. 418,
27 fgg. 438, 10. 452,
19 s. 221 fg.
454, 4. 458, 28. 460,
20. 461,9. 11s. 222 fg.
461, 27. 474, 25. 494, 8.
495, 7 fgg. s. 223 fg.
528, 4. 544 7 s. 224.
Frauenbuch
601, 27. 603, 1. 605, 29.
612,21. 613,1s. 224 fg.
613, 8. 21. 616, 18 fgg.
618, 11 fgg. s. 225.
Wolfram von Eschenbach,
Parzival
1, 15 fgg. s. 50 fg.
12, 27 fg. s. 51 fg.
15. 22 s. 52.
367, 9 s. 53.
487, 1 s. 53 fg.
817. 28 s. 54.
825, 9 s. 54 fg.
826, 29 s. 55. 565 fg.
Mittelniederdeutsch.
Reinke de Yos 3774 s. 32.
Neulioclideiitseli.
Goethe, Weimar, ausgäbe,
2, 166 s. 226.
16, das neueröffnete mo-
ralisch-politische Pup-
penspiel s. 354 fgg.
Parabeln und legenden
V. 1797 s. 356 fg.
H. Sachsens poetische Sen-
dung s. 357.
künstlers erdenwallen
s. 357.
künstlers apotheose s. 357.
die romantische poesie
s. 357.
des Epimenides erwachen
s. 358.
Schillers totenfeier s. 358
fg-
kantate s. 359.
17. Triumph der empfind-
samkeit s. 359 — 361.
die aufgeregten s. 361.
Grosskophta s. 361 fg.
26, 381 s. 226.
Tagebücher 6 s. 362—68.
Briefe 15. 16 s. 368—75.
Faust I
525 (878) s. 349.
1658 (2011) s. 349.
' 1720 (2073) fgg. s. 350.
3222 (3575) s. 350.
3437 s. 351.
II, 397 (5909) s. 351 fg.
3190 (7802) s. 352. '
5524 (10136) s. 352 fg.
6604 (11216) s. 353 fg.
Iphigenie I, 3 (164 fgg.)
s.'428.
Goethejahrbuch
XIV, 286 s. 226 fg.
XIV, 289 s. 227.
Brüder Grimm, Kinder- u
hausmärchen 152 s. 71 fg.
Altnordisch.
Fenja s. 187 fg.
Fenrisiüfr s. 183 fg.
Fensalir s. 185 fg.
ulfr s. 189 fgg.
vargr s. 189 fgg.
Altsächsisch.
griat s. 148.
luokoian s. 152.
III. WORTREGISTER.
scür s. 147.
waran c. acc. s. 148.
Mittelhochdeutsch.
artisen s. 421 fgg.
arthouwe s. 423 fgg.
Neuhochdeutsch.
fräuleiu s. 561 fgg.
gären s. 525.
gaul s. 525 fg.
geifern, geifer, geifelu, gei
fei s. 526.
haschen s. 526 fg.
hode s. 527.
kracke s. 527.
schenken, Schenkel, schin
ken s. 528 fg.
wäre s. 529 fg.
Halle a. S., Bucluliiickeroi des Waiseiüiauses.
II
BINDING SECT. AÜG l8f)6S
PF
3003
Z35
Bd. 28
Zeitschrift für deutsche
Philologie
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