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Full text of "Zeitschrift für deutsche Philologie"

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ZEITSCHRIFT 


FÜR 


DEUTSCHE  PHILOLOGIE 


BEGRÜNDET  von  JULIUS  ZACHER 


HERAUSGEGEBEN 


VON 


HUGO    GERING 


ACHTUNDZWANZIGSTER  BAND 


HALLE   A.  S. 

VERLAG    DER    BUCHHANDLUNG    DES    WAISENHAUSES. 

18  96. 


3öc3 


INHALT. 

Seite 

Zum  Heliand.     Von  F.  Holthausen •  1 

Zwei  bruclistüche  aus  der  Christherre-weltchrouik.     Von  E.  M.  "Werner      .     .  2 
Mitteilungen  aus  deutschen  bandschriften  der  grossherzoglichen  hofbibliothek  zu 

Darmstadt.     Von  A.  Schmidt 17 

Zu  Reinke  de  vos.     Von  E.  Sprenger 32 

Mitteilungen  aus  mhd.  bandschriften.     Von  F.  W.  E.  Eoth 33 

Das  chronologische  Verhältnis  von  Strickers  Daniel  und  Karl.   Von  A.  Leitzmaun  43 

Zur  textkritik  von  Hartmauns  Gregorius.     Von  0.  Erdmann 47 

Beiträge  zur  erklärung  Wolframs.     Von  J.  Stosch 50 

Der  Ausgang  von  Goethes  Tasse.     Von  H.  Düntzer    .     .     • 56 

Zu  den  Kinder-  und  bausmärchen  der  gebrüder  Grimm.     Von  R.  Sprenger    .  71 

Zu  Johann  Easser.     Von  J.  Bolte •     .     .     .  72 

Zur  altsächsiscben  Genesis.     Von  B.  Symons 145 

Der  Fenriswolf.     Eine  mythologische  Untersuchung.     Von  E.  Wilken  .     .      15G.  297 

Zum  Fraueudienst  Ulrichs  von  Lichtensteiu.     Von  A.  E.  Schöubach  ....  198 

Zum  Goetbetext.     Von  A.  Schöne 226 

Die  göttin  Nerthus  und  der  gott  NiQr{)r.     Von  Axel  Kock 289 

Zu  dem  von  Büwenberc.     Von  F.  Bech 295 

Zur  erkläi-ung  von  Goethes  Faust.     Von  R.  Sprenger 349 

Zur  Vorgeschichte  des  Müncbener  Heliandtextes.     Von  H.  Klinghardt   .     .     .  433 

Zu  Mai  und  Beaflör.     Von  R.  Spreuger  und  F.  Schultz 437 

Arigos  Blumen  der  tagend.     Von  Fr.  Vogt 448 

Goethes  brucbstück  „Die  Geheimnisse".     Von  H.  Düntzer 482 

Gedichte  und  briefe  von  E.  M.  Arndt  an  eine  freundin.     Von  A.  Schmidt     .     .  509 

Zur  frage  nach  der  ausgleichung  des  silbengewichts.     Von  K.  Bohnenberger  515 

Beiträge  zur  westgermanischen  wortkunde.     Von  E,  Wadstein 525 

Nekrologe. 

Rudolf  Hildebrand.     Von  E.  Wolff 73 

Oskar  Erdmaun.     Von  H.  Gering 228 

Traugott  Ferdinand  Scholl.     Von  H.  Fischer 430 

Miscellen. 

Zur  altsächsischen  bibeldichtung.     Von  Tb.  Siebs 138 

Zur  alliteriereuden  doppelconsonanz  im  Heliand.     Von  R.  Meyer 142 

Erklärung.     Von  H.  Gering 285 

Artisen  und  arthave.     Von  H.  Haupt  und  E.  Schröder 421 

Germanistische  Studien  in  den  Vereinigten  Staaten  von  Amerika.  Von  H.  Schmidt- 
Wartenberg      425 

Der  name  der  Loreley.     Von  R.  Sprenger 427 

Zu  Goethes  Iphigenie.     Von  demselben 428 

Zum  Schretel  und  wasserbär.     Von  demselben 429 

Langez  här  —  kurzer  muot.     Von  J.  Stosch     ...         429 

Bericht  über  die  Verhandlungen  der  germanistischen  section  auf  der  philologen- 

versammlung  zu  Köln 530 

Personalien  und  stoffgescbichtliches  zu  G.  A.  Bürger.     Von  L.  Fränkel  .     .     .  551 

Materialien  zur  begriffseutwickluug  von  nhd.  „ü'äulein".     Von  demselben  .     .  561 

Berg  und  vöglein.     Von  A.  Hartmann 563 

Zu  Parzival  826,  29.     Von  A.  Wallner 565 

Berichtigung.     Von  Fr.  Vogt 566 

An  die  mitarbeiter  und  leser  der  Zeitschrift.     Von  H.  Gering 566 

Litteratur. 

Zimmer,  Nennius  vindicatus;  von  R.  Thurneysen 80 

Kühnemann,  Herders  persönlichkeit  in  seiner  Weltanschauung ;  von  H.Meyer  113 

Bugge,  Bidrag  til  den  jeldste  skaldedigtuings  bistorie;  von  H.  Gering  .     ,     ,  121 

Wolfskehl,  Germanische  werbungssagen ;  von  E.  Mogk 127 

Kahle,  Die  spräche  der  skalden;  von  0.  Jiriczek 128 

Mourek,  Eintluss  des  hauptsatzes  auf  den  modus  des  nebensatzes  im  gotischen; 

von  E.  Bernhardt 130 


IV  INHÄLT 

Seite 
Neuere  Schriften  zur  rimeukuude  (W immer,  S0nderjyliands  historiske  runemin- 

desma?rker;  W immer,  De  tyske  runemindesmrerker;  Bugge,  Norges  inskrif- 

ler  med  de  asldre  ruuer);  vou  H.  Gering 236 

Meyer,  Germanische  mythologie;  von  Fr.  Kauffmann 245 

Minor,  Neuhochdeutsche  metrik;  von  H.  Wunderlich 248 

Hench,  Der  althochdeutsche  Isidor;  von  demselben 254 

Kraus,  Deutsche  gedichte  des  12.  Jahrhunderts;  von  demselben  .     .  '  .     .     .  256 

Valentin,  New  high  german;  von  0.  Erdmann 259 

Schröder,  Zwei  altdeutsche  rittermären;  von  A.  Leitzmann 260 

Holz,  Zum  Rosengai-ten  und  Derselbe,  Die  gedichte  vom  Eosengarten  zu  "Worms ; 

von  demselben 261 

Fränkel,  Shakespeare  und  das  tagelied;  von  G.  Sarrazin 263 

Ho  ff  mann.  Dar  einfluss  des  reims  auf  die  spräche  Wolframs  von  Eschenbach; 

von  0.  Erdmann 267 

Bolte,  Xystus  ßetiüius  Susanua;  von  H.  Holstein 269 

Hartfelder,  Philipp  Melanchthon  Declamationes;  vou  demselben     ....  270 

Griesebach,  G.  A.  Bürgers  werke;  von  0.  Erdmann 271 

Hermann,  Albrecht  von  Eyb;  von  E.  Matthias 273 

Elliuger,  E.  T.  A.  Hoffmann;  von  C.  Heine 280 

Höber,  Eichendorffs  jugenddichtungen;  von  A.  Bredfeldt 282 

Schreiber,  Die  vagantenstrophe  der  mittellat.  dichtung;  von  J.  Seh  nie  des     .  284 

Goethes  werke  (Weimar,  ausgäbe);  von  H.  Düntzer 354 

Bremer,  Deutsche  phonetik;  von  H.  Pipping 375 

Seiler,    Die  entwicklung  der  deutschen  kultur  im  Spiegel   des  lehnworts;    von 

G.  Hinz 377 

Cook,  A  glossary  of  the  Old  northumbrian  gospels;  von  demselben      .     .     .  378 

Ausfeld,  Zur  kritik  des  griechischen  Alexanderromans;  von  H.  Becker      .     .  379 

Siebert,  Tannhäuser;  vou  J.  Wahner 382 

Bolte,  Die  schöne  Magelone  übers,  von  Veit  Warbeck;  von     A.  Hauffen.     .  390 

Schnorr  von  Carolsfeld,  Erasmus  Alberus;  von  E.  Matthias 392 

Ordbok  öfver  Svenske  spräket  udg.  af  Svenska  akademien;  von  H.  Gering  .     .  394 

Schwartz,  Esther  im  deutschen  und  neulat.  drama;  von  P.  Bahlmaun      .     .  398 

Birket  Smith,  Niclaus  Manuels  satire  von  den  syge  Messe;  von  J.  Bolte      .  399 

Wolkan,  Das  deutsche  kirchenlied  der  böhmischen  brüder;  vou  demselben   .  401 

Bolte,  Die  Singspiele  der  englischen  komödianten;  von  G.  Elliuger  .     .     .     .  402 

Gerhard,  Peter  de  Memels  Lustige  gesellschaft;  vou  demselben 403 

Wolff,  Gottscheds  Stellung  im  deutschen  bildungsieben;  von  A.  Leitzmann    .  404 

Schönbach,  Über  Hartmann  von  Aue;  von  demselben 405 

Altenkrüger,  Fr.  Nicolais  jugeudschriften;  von  G.  Witkowski 407 

Elliuger,  Fr.  Nicolais  briefe  über  den  itzigen  zustand  der  schönen  Wissenschaf- 
ten; von  demselben 407 

Knauth,  Von  Goethes  spräche  und  stil  im  alter,  von  E.  Bruhn 409 

"Wolff,  Goethes  leben  uud  werke;  von  A.  Leitzmann 413 

Meyer,  Goethe;  von  demselben 415 

Poppenberg,  Zacharias  Werner;  von  F.  Ahlgrimm 417 

Farinelli,  Grillparzer  und  Lope  de  Vega;  von  J.  Schmedes 419 

Schröter  und  Thiele,  Lessings  Hamburg,  dramaturgie;  von  A.  Leitzmann  .  420 

Tardel,  Untersuchungen  zur  mhd.  spielmannspoesie;  von  F.  Ahlgrimm      .     .  535 

Sattler,  Die  religiösen  anschauimgen  Wolframs  v.  Eschenbach;  von  G.  Bötticher  537 

Bohnenberger,  Zur  geschichte  der  schwäb.  mundart;  von  Fr.  Kauffmann  .  540 
Bremer,  Deutsche  phonetik  und  Mentz,  Bibliographie  der  deutschen  mundart- 

forschung;  von  demselben .  543 

Kock   und    af  Petersens,    Östnordiska   och   latinska   medeltidsordsprak ;    von 

0.  Jiriczek 545 

Schultheiss,  Geschichte  des  deutschen  nationalgefühls  von  H.  Wunderlich  550 

Nachrichten 144.  288.  432  568. 

Neue  erscheinungon 143.  286.  431.  567 

Eegister  von  E.  Matthias 569 


ZUM  HELIAND. 

Y.  2481  fgg.  e7icli  the  uuard  godes 

nahor  fnikilu  nahtes  endi  dages, 

anttat  sie  ina  hrengead, 
schreibt  Behaghel  mit  M,  während  C  das  gewöhnliche  dages  endi  nah- 
tes aufweist.  Das  erste  verstösst  gegen  die  regeln  der  inetiik,  das 
andere  zeigt  unregelmässige  alliteration  (vgl.  Beitr.  XII,  349).  Ich 
glaube,  dass  keine  der  beiden  handschriften  hier  das  richtige  bewahrt 
hat,  sondern  die  zweite  vershälfte  von  2482  eine  blosse  widerholung 
von  V.  2480  a:  dages  endi  nahtes  ist.  Wenn  wir  die  verse  betrachten, 
in  denen  nähor  gebraucht  wird,  so  finden  wir  es  häufig  mit  niud 
gebunden,  vgl.  v.  182:  nähor  miJdlu  :  uuas  im  niud  mikil,  v.  1448: 
that  man  is  nähiston  niutlico  scal,  v.  2468:  siouto  7iiudltco  endi  näho?' 
sied,  V.  4971:  nähor  ntähiiata  endi  ina  nindltco,  v.  5204:  nähor  gan- 
gan  endi  ina  niudltco,  v.  5825:  nähor  mikilu  —  ik  uiiet  that  is  iu 
ist  niud  sehan.  Versuchen  wir  hiernach  eine  ergänzung  der  lücke, 
die  zugleich  zum  folgenden  passt,  so  liegt  wol  am  nächsten,  nach 
V.  182  b  is  im  niud  mikil  als  die  ursprüngliche  lesart  anzusehn.  Der 
gleiche  schUiss  beider  halbzeilen  erklärt  auch  genügend  die  auslassung 
der  zweiten.  —  Bemerkenswert  ist  übrigens  der  plötzliche  Wechsel  im 
numerus! 

V.  4290  fg.  a7i  thenne  ^niddilgard,  mankivnnie 
te  adeliennc,  dödim  endi  quikun? 
So  Behaghel  mit  C  gegen  das  adömien7ie  von  M.  Dass  keins  von  bei- 
den hier  passt,  bemerkt  richtig  Kaulfmaun  Beitr.  XII,  348  fg.  Er  nimmt 
eine  lücke  an  „in  der  Orist  gestanden  haben  mag,  worauf  /"rö  mtn 
the  gudo  [4292a]  hinweist;  dann  ist  quikun  endi  dodun  zu  lesen,  wie 
durchweg  üblich  ist."  Da  Crist  allein  nicht  in  der  lücke  gestanden 
haben  kann,  ergänze  ich  nach  v.  3139:  Krist  alouualdo  als  ersten  halb- 
vers  zu  quikun  endi  dddun  als  zweitem;  zwischen  vers  4290  und  dem 
so  hergestellten  4291  mag  gestanden  haben: 

dömos  te  adelienne  an  themo  dage  selbo, 

ZEITSCHRIFT   F.    DEUTSCHE   PHILOLOGIE.     BD.    SXVIH.  1 


2  HOLTHATJSEN,   ZUM  HELIAl^D 

Vgl.  V.  5255:    dömos  adeldi.     He  uuas  ök  cm  tliemu  dage  selho.     Für 

die  Verbindung  dömos  adelian   mit  dativ   der  person   vgl,    v.  3315  fg.: 

irminthiodun  \\  dömos  adelicn,    und   ohne  einen    solchen   (ausser  dem 

angeführten  v.  5255)  v.  5419:  huö  tlmi  thiod  haMa  duomos  adelid.  — 

Ich  würde  schliesslich  noch  als  stilgerechtere  Interpunktion   das  frage- 

zeichen  erst  nach  gödo  in   v.  4292   setzen   und   das  ganze  also  folgen- 

dermassen  schreiben: 

mankunnie 

[dömos]  te  adelieniie  [a7i  themo  dage  selbo, 

Krist  alouualdoj  quikun  endi  dödun, 

frö  min  the  gödo? 
Yon  der  ursprünglichen  lesart  dömos  te  adelienne  hat  M  sowol  wie  C 
etwas  bewahrt! 

V.  5738  gumon  ne  bigruohiin.  Thar  sia  that  godes  barn 
schreibt  Behaghel  mit  Sievers  gegen  barn  godes  der  handschrift.  Kauff- 
mann  weist  a.  a.  o.  darauf  hin,  dass  dies  dem  rhythmus  nicht  genüge. 
Dui'ch  einsetzung  des  gleichbedeutenden  und  öfters  überlieferten  thena 
godes  simo  (vgl.  Sievers,  Heiland  s.  402,  20  fgg.)  —  im  acc.  wegen  des 
bifulhun  in  v.  5740  —  wird  die  halbzeile  korrekt. 

GÖTEBOEG,    7.  NOV.    1894.  F.    HOLTHAUSEN. 


ZWEI  BEUCHSTUCKE   AUS  DER   CHEISTHEEEE- 
WELTCHEONIX. 

Das  Salzburger  gemeindearchiv  besitzt  eine  grosse  reihe  von  ,  spi- 
tall-raittungen',  die  in  fragmente  von  pergamenthandschriften  gebunden 
sind.  Nur  die  beiden  bände  nr.  13  und  14  aus  den  jähren  1590  und 
1591  zeigten  reste  eines  deutschen  textes.  Mit  erlaubnis  und  freund- 
licher hilfe  des  herrn  direktors  L.  Pezolt  habe  ich  wähi-end  der  oster- 
ferien  des  Jahres  1890  von  diesen  bänden  zwei  doppelblätter  abgelöst, 
die  einer  und  derselben  läge  einer  mit  schöngezierten  initialen  aus- 
gestatteten foliohandschrift  der  Christherrechronik  aus  dem  14.  Jahr- 
hundert entstammen.  Die  handschrift  war  etwa  35  cm  x  26,5  cm  gross, 
denn  ausser  den  ecken  dürfte  kaum  viel  durch  den  buchbinder  abge- 
schnitten worden  sein.  Für  die  zwei  spalten  und  die  zeilen  sind  linien 
vorgezeichnet;  die  anfangsbuchstaben  der  ungeraden  verse  sind  heraus- 
gerückt und  ebenso  wie  die  mehrzahl  der  eigennamen  rot  durchstrichen. 
Die  Überschriften   der  kapitel  und  der  blätter  selbst  sind  rot,    die  ini- 


WEENER,   BBUCHSTÜCKE   DER   CHRISTHERRE  -  CHRONIK  3 

tialeu  abwechselnd  rot  und  blau;  auf  jeder  spalte  stehen  50  zeileu  mit 
den  abgesetzten  versen.  Das  äussere  doppelblatt  diente  der  spitall- 
raittung-  von  1591,  das  innere  jener  von  1590  als  einbanddecke;  auf 
dorn  ersten  steht  der  schluss  des  buches  Genesis  und  der  beginn  des 
buches  Exodus,  welchem  das  andere  blatt  ganz  angehört. 

Der  dialekt  unseres  fragmentes  ist,  wie  sich  auf  den  ersten  blick 
zeigt,  der  bairisch- österreichische  mit  ei  <  t ,  ai  <  ei,  o  •<  a,  au  <:  ü 
und  Oll  usw.  Hervorgehoben  seien  die  formen:  iveleiben  für  helihen 
(v.  51)  und  diern  (v.  623). 

Ein  teil  des  in  diesen  fragmenten  enthaltenen  textes  geht  mit  dem 
von  Zupitza  Ztschr.  f.  d.  a.  18,  105  fgg.  veröffentlichten  \Yiener  bruch- 
stücke  suppl.  2715  parallel,  wozu  in  den  anmerkungen  die  fassung  der 
AViener  handschrift  2690  citiert  wird.  Bei  Schütze,  Die  historischen 
bücher  ist  dieser  teil  der  Weltchronik  nicht  abgedruckt.  Ich  gebe  in 
den  noten  die  wichtigeren  abweichungen  und  ergänzungen  nach  W  (der 
Wiener  hdschi-.  2809  bl.  95 *"  fgg.),  um  so  den  vergleich  zwischen  dem 
werke  Rudolfs  von  Ems  und  der  Christherrechronik  zu  ermöglichen. 
Damit  wird  der  abdruck  eines  an  versteckter,  schwer  zugänglicher  stelle 
erhaltenen  bruchstücks  aus  dem  leider  noch  immer  ungedruckten  werke 
vielleicht  etwas  mehr  berechtigung  gewinnen. 

Herrn  direkter  L.  Pezolt  sage  ich  hiermit  auch  noch  öffentlich 
dank  für  seine  liebenswürdige  erlaubnis  zur  benutzung  der  handschrift. 

LE5IBERG.  RICHAED    MAEIA   WEENER. 


Erstes  doppelblatt.    I*. 

.fis. 


Waz  si  nu  beten  e.  getan 

si  trügen  zweifeleichen  wan 
Yon  sorgleichen  Sachen  doch 
si  vorchten   daz  er  gedächt 
noch 
5  Dar  an  waz  si  im  taten  e. 

die  zweifelz  vorcht  tet  in  we. 
Vnd  giengen  einez  tagez  hin 

Vor  V.  1  steht  in  W:  do  diz  zil  ein  ende  nam  Vnd  Joseph  wider  Ivom  Haim 
in  Egippen  lannt  Die  prüder  wui-den  ermant  Was  si  im  beten  getan  —  3  sacken] 
förchten  —  Nach  v.  14  folgt  in  W  noch;  Wann  vnser  vater  zu  vns  sprach  Den- 
noch do  man  in  lehn  sach  Das  wir  dich  peten  das  du  Gen  vns  die  suld  liessest  nu 
Das  tu  durch  vns  vnd  durch  in  Lass  den  zorn  vnd  leg  in  hin  So  das  dem  werde 
hulde  Vergess  gen  vus  der  sulde  Gegen  vns  als  ein  prüder  sol  Tust  du  gen  vnserm 
vbel  wol     So  wii-t  das  lob  die  ere  dein     So  wir  gegen  dir  in  sulde  sein 

1* 


Ynd  vielen  wainud  für  in 
Vnd  sprachen  prüder  herr 
10     swaz  Dir  gen  vnz  w^err 
Daz  la  durch  die  genad  dein 

gen  vnz  genädikleichen  sein 
Wir    haben    vil    vbel    an    dir 
getan 
Daz  solt  du  herr  varn  lan. 


15   TOseph  der  gotez  erweit  man 
mit  in  wainen  do  began 
Er  sprach  lieben  prüder  mein 
lat  gen  mir  den  zweifei  sein 
Ynd  furcht  ew  vmb  die  geschiht 
20     Vnd  vmb  die  schnld  nimmer 
nicht 
Ynder  fnz  ist  liepieich  erchorn 

aller  vnfreumtleicher  zorn 
Daz  ist  gilt  vnd  pruderlich 
Der  red  fräwten  si  sich 
25  Daz  er  sie  also  wol  trost 

vnd  von  den  vorchten  lost 
Da  von  si  zweifelhaft  warn 
Joseph  het  in  seinen  iarn 
Gelebt  vnd  in  seiner  zeit 
30       Daz  er  seiner  chind  chinder 
seit. 
Pis  an  daz  vierd  chünn  ansah 

Der  aller  vrhab  geschah 
Mit  der  gepurd  an  Effraym 
Der  geporn  waz  von  im 
35  Manasses  het  einen  sun  hiez  Ma- 
chir 
Den  die  geschrift  also  nant  mir 
Der  gewan  auch  werder  chind 
vil 
Dar  nach  seit  Josephen  zil 
Im  ser  mit  iar  nahen  began 
40     Do  sprach  der  rain  gut  man 
Ze  chinden  vnd  ze  den  priidern 
sein 
got  tut  ew  noch  die    genad 
schein 


Also  daz  ir  wert  gesant. 

Von  im  in  daz  gehaizzen  laut. 
45  Daz  er  hat  vnserm  chünn  erchorn 
vnd  ze  geben  vnz  gesworn 
Nu  wil  ich  ew  piten  daz  ir 

Daz  lobt  vnd  auch  swert  mir 
Mit  trewen  all  gemain 
50     Daz  ir  mein  gepain 

[Spalte  2]  Lat  hie  weleiben  nicht 
so  got  ew  füg  die  geschieht 
Ynd  die  sälikleichen  zeit 
Daz  ir  von  hinnen  seit 
55  Ynd  sagt  ez  auch  ewrn  chinden 
Daz  si  sein  nicht  erwinden 
Si  behalten  dar  an  ewrn  ait 

dez  aidez  warn  si  do  berait. 
Ynd  swurn  im  daz  si  ez  täten 
60       vnd  ez  vil  gern  stat  hat.  [sie] 
Dez  er  gepeten  het  sie 

Dar  nach  schier  do  daz  ergie 
Joseph  begund  siechen  vnd  starb 
in  der  zeit  do  er  verdarb 
65  Do  waz  er  hundert  iar  alt 

vnd  zwaintzik.    die   im  warn 
gezalt 
Sein  leip  nach  chunikleicher  art 

reichleich  gepalsemt  wart 
Nach  hocher  wogender  wirdikeit 
70       ward  er  in  Egipto  geleit 
Do  rüt  er  fntz  an  die  zeit 
alz  die  geschrift  vnz  vrchünt 
geit. 
Daz  die  Israhelischen  diet 
von  Egipten  land  schiet 


21  vercborn  —  22  Awer  vnuermxBftigl eicher  zorn  —  35  Manasses  Sun 
machir  —  38  seit  do  Josebs  —  39  mit  iar]  fehlt  W  —  41  ze  den]  fehlt  W  — 
45  chunne  gesworn  —  46  vns  erchorn  —  47  piten  auch  daz  —  51  Enlat  —  54  von 
hinnen  farnd  seit  —  58  do]  im  —  59  im]  fehlt  W  —  60  heten  —  63  starb]  ster- 
ben —  64  verdarbn  —  66  die  im]  fehlt  W  —  69  begernnder  —  70  Vnd  ward  in  — 
74  Von  demselben  Lannde  schiet 


BRUCHSTUCKE    DER    CHRISTHERRE  -  CHRONIK 


75  Do  vol  fürten  si  den  ait 

sein  gepain  ward  in  Ebron 
gelait 
Die  andern  sein  prüder  gar 

Die  wurden  auch  gefurt  dar 
Vnd  in  Ebron  begraben  seit 
80       Alz  vuz  die  geschrift  vrchunt 
geit 
vnd  alz  ich  noch  sagen  wil 
so  ich  chüm  an  daz  zil. 
Hie  hört  nu  u'a%  'pey  der  zeit 
haidenischer   chunig   ivaz   und 
waz  sie  begierigen:  — 
T)ey  der  zeit  do  ditz  waz  alsus 
ein  chimig  hiez  Amiricus 
85  Der  trüg  do  in  Assiria 


dez  landez  die  zwelft  ebron 
alda 
Argus  den  ich  da  vor  nant. 

in  der  Argiven  lant 
Der  lebt  noch  in  seiner  chraft 
90       mit  chünikleicher  herschaft. 
Ynd  in  der  selben  zeit 

waz  in  dem  land  ze  Creit 
Ein  chimik  Citropes  genant 
\Tid  het  vnder  im   daz  lant 
95  Mit  chiinigez  gewalt  der 
w^olt  also  daz  Jupiter 
war  der  Allmächtig  got 
er  macht  im  durch  dez  tew- 
fels  spot. 


Erstes  cloppelblatt.    I". 


.UV.  Exü. 


100 


Einen  alter  hartt  reich 

vnd  opfert  im  herleich 
Er  waz  der  erst  der  im  slüg 

vich.  vnd  im  ez  zeopfer  ti'üg 
In  den  zeiten  alz  man  do  got 

opfert  nach  gotez  pot. 
105  Auch  waz  in  den  zeiten  do  • 

der  listreich  Appollo 
Der  half  mit  ertznei  vil 

lawten  an  demselben  zil 
Der  selb  ze  sun  seit  gewan 

auch    einen    chunstreichen 


110 


man 
Der  hiez  der  weiz  Ascolopus 
ein  artzt  maister  hiez  er  alsus : 


Hie  ist  nu  Moises  püch  daz 
erst  auz. 
Daz  Genesis  ist  genant  nu 
hebt  sich 
An  daz  ander,  daz  ist  Exodus 
genant,  ode' 
daz    püch    de'   Israhelische 
chind  auzgank  : 
IITit  gotez  Weisung 

hat  ew  nu  hie  mel  züg 
115  beschaiden  vnd  auch  berich 
gesait  vn  getichtet  [tet 

Daz  erst  puch  vö  Moise 

Daz  er  schraib  vö  de'  alte.  e. 
Daz  ist  Genesis  genant. 


80  —  82  Statt  dieser  verse  hat  W:  Igleich  nach  seiner  zeit—  Die  Überschrift 
nach  V.  82  fehlt  W.  —  86  Lanndes  chron  die  zwellfte  da  Also  das  er  als  ich  das  las 
Des  Lanndes  zwölfter  chunig  waz  —  91  denselben  zeiten  —  92  ze  chriehen  — 
93  Ceorpes  —  94  het  er  im  dasselb  —  95  chunnige  gewaldes  —  101  in  —  102  Vie  — 
im  sein  opher  —  105  Nu  was  auch  —  111  Aselopius  —  Die  Überschrift  nach  v.  112 
hat  einen  anderen  Wortlaut  in  W.  —  115  betichtet  —  116  berichtet 


120       vnd  han  ew  gemacht  erchant. 
Die  drei  weiit  wie  die  zergien- 
gen 
vnd  von  erst  an  vieugen 
Die  erst  waz  alz  ich  sprach  .e. 
von  Adam  piz  an  Noe. 
125  Ynd  von  Noe  an  Abrahamen 
Wie  die  von  erstvrhab  namen 
Vnd  von  Abraham  piz  her 
Nu  pis  meiner  sinn  wer 
Vnd  meinez  lebenz  herr  christ 
130       seit -du  ein  angeng  pist 
Vnd  ein  end  aller  Weisheit. 

Allew  Weisheit  von  dir  treit. 
Vrhab  chunst  vnd  end 

Aller  chunst  weishait  eilend 
135  Ist  nicht  an  dem  trinitat 

Die  Allew  dink  bestricket  hat. 

Der  witz  vrhab  der  vater  geit 

Die  weishait  an  dem  sun  leit 

Von  der  die  chunst  hat  vollaist. 

140       so  erfüllt  der  heilig  gaist 

Die  fruch  mit  Deiner  gut 

Der  chunst  da  mit  ir  blünt 
An  dem  vater  vnd  an  dem  sun 
blünt 
Die  an  menschleichen  witzen 
grünt 
145  TTerr  got  nu  wil  ich 

in  den  drein  namen  piten 
dich 
Daz  du  gerüchest  meinen  sin 
wan  ich  nicht  wol  beweiset 
pin 
Also  hochew  red  ze  tichten 


150       vnd  so  reichew  mär  zebe- 
richten 
Alz  ich  mich  han  an  genomen 
Wan  daz  ichs  mit  dir  ze  end 
chomen 
Müz  nach  den  genaden  dein 
nu  nim  dich  an  die  sinn  mein 
155  So  daz  du  sinnikleichen  mir 
gehst  die   sinn  von  dir 
Daz  ich  die  mär  also  gesag 

Daz  si  deinen  hulden  behag. 
Wie  dein  gotleich  gepot 
160       himlischer  cheiser  vnd  got. 
Begieng,  hocher  wunder  vil 

Pey  dez  rainen  mannez  zil 
Mit  dem  ich  wil  heben  an 
Daz  ist  Moises  dein  dienst 
man 
165  Dem  du  vil  manigew  stund 
von  muud  ze  mund 
Deinez  gewaltez  willn  chür 
nach  Deinem  willen  legatzt 
fiir 
Vnd  wie  dein  chraft  ie  dem- 
diet. 
in  allen  noten  wol  beriet 
Alz  er  selber  die  warheit 
von  deinen  genaden  hat  ge- 
seit. 
Dez  wil  ich  auer  beginnen  hie 

ze  tichten.    nu  hört  wie. 
T  ang  nach  den  zeiten  seit 

ich  main  nach  Josephen  zeit 
Do  der  gestarb  vnd  wart  geleit 
alz  ich  ew  hie  vor  seit 


170 


175 


121  Dew  werlt  —  zergieukch  —  122  anefienkch  —  131  angeng]  anefenge  — 
133  chunst  wicz  vnd  —  135  dem]  deiner  —  141  Deiner]  seiner  —  142  Die  chunst 
die  mit  der  plüde  —  143  blüt  —  144  Gen  menschleihn  —  grüt  —  148  beweiset] 
versinnet  —  156  Besinnet  werden  von  Dir  —  161  Beginnet  —  168  -willen  leitest 
füi-  —  169  chraft  yedem  diet  —  177  starb  vnd  gelait 


BRUCHSTUCKE    DER    CHRISTHERRE  -  CHRONIK 


Ez  waz  vüd  wuchs  ein  chünick 
aldo 
180       mit  chreften  in  Egipto 
Der  do  dez  landez  chron 
trüg  nach  dem  chünig  Pha- 
raon 
Vnder  dem  der  gotez  weigant 
Joseph  bericht  Egipten  lant 
185  Nach  ienera  an  der  achten  zal 
Der  land  chünig  fber  al 


Alz  die  warheit  vnz  tut  gewis 
Der  waz  genant  Amolophis 
Sein  zu  nam  waz  auch  Pharao 
190       Also  hiezzen  dez  landez  chü- 
nig do 
Swie  si  auch  hiezzen  Da. 
Der    selb    chünig  waz  an- 
derswa 
Mit  haus  also  iehent  die  mär 
dann  Josephs  herr  war 


Zweites  doppelblatt.    V. 


Dus. 


195  Vnd  hie  von  Egipten  lant. 

in  einem  newen  sit  erchant 
Wan  der  chünig  erchant  nicht. 
Der  hochen  tat,  die  hochen 
geschieht. 
Die  Joseph  dem  land  pot. 
200       mit  rat  in  dez  hungerz  not. 
Vnd  vergaz  der  gütat  also  gar 
Daz  er  ir  nam  chainen  war 
Vnd  niemant  in  dem  land 
an  Josephs  chünn  erchand 
205  Wie  er  daz  land  von  chumber 
schiet 
in  hungerz  not  vnd  si  beriet. 
In  notürftiger  Aveiz 

chorns  vnd  auch  speis. 
Wan  ez  waz  aldo  für  war 
210       vergangen  hundert  iar 
Vnd  sechs  iar  mit  not 

Pis  auf  den  chünik  vö  Jo- 
sephe tot 
Da  von  si.   der  gütat  do 
heten  vergezzen  hie  also. 


215 


D 


er  chünig  waz   dem   chünn 


gram 

vnd  daz  lant  volk  alsam 
Si  hazzten  si  ze  aller  zeit 
Dm'ch  den  has  vnd  diu'ch 
den  neit. 
Si  has  gen  im  gewunnen 
220       da  von  daz  si  sich  paz  ver- 
sunnen 
Vnd  witziger  warn  dann  sie 
vnd  daz  ez  in  paz  zehanden 
gie 
Nach  wunschleicher  1er 
mit  Salden  gut  vnd  er 
225  Vnd  an  gesläcez  edelkait 

Ditz  waz  den  lant  lawten  leit 
Vnd  heten  ez  für  vngemach 
Der  chünig  do  zu  den  sei- 
nen sprach 
Ditz  fremd  le'^wt  gewachsen  ist. 
230       vnd  wächst  ser  ze  aller  frist 
Vnd  beleibt  ez  also  die  leng 
Daz  ez  vnz  eben  streng 


184  richtt  das  lannt  —  188  Apolophis  —  198  die  grossen  geschieht  —  200 
der  hungers  not  —  209  —  314  fehlen  W  —  217  Die  horten  sie  —  220  —  221  Daz 
si  was  versunnen    An  witze  warn  danne  Sie 


8 


Wirt  vnd  sterker  dann  wir  sein 
so   tunt    si    vnz    vngenaden 
schein 
235  Wirt  vnz  ein  not  an  gent 
vnd  vrlewg  bestent. 
So  cliernt  si  zu  der  veint  her 
vnd  helffent  in.  in  streitlei- 
cher  wer 
Daz  si  mit  in  an  vnz  gesigent 
240       Alz  si  vnz  dann  ob  geligent. 
So  beraubent  si  daz  lant 

vnd  varnt  liin  frei  zehant. 
Nu  ratt  wie  wir  daz  bewarn 
Ynd  ez  weisleich  vnder  varn 
245  Wir   süllen    an   si   legen   mit 
chlükeit 
mit  dienst  so  vil  arbeit 
Daz  an  in  allew  chraft  zerge 
Daz  ir  fürbaz  werd  nicht  me 
T\gv  rat  begund  in  allen 
250         behagen  vnd  wol  genauen 
Ir  rat  gemainlichen  daz  riet 
Daz  er  die  Israhelisch  di'^t 
Mit  arbeit  nider  druckt 
Vnd  in  da  mit  enzuckt 
255  Wollust  an  ii'm  leib 

Also  daz  pey  seinem  weib 
Ir  chainer  da  nicht  lag 

vnd  churtzweil  mit  ir  pfläg 
Von  der  stachen  arbeit 
260       die  an  si  wurt  geleit 

Mit  manigem  peinleichem  sit 
Vnd  daz  do  wurd  erwendet 
mit 


Menschleichez  samen  art 
Daz  lewtt  do   ser  gearbaitt 
wart. 
265  Si  müsten  pawen  daz  lant 
erd  tragen  vnd  auch  sant 
Ziegel  prennen  vnd  auch  chalk 
als  ein  gechauft  aigen  schalk. 
Arbaiten  si  nacht  vnd  tag 
270       ein  maister  der  ir  pflag 
Schilf  man  der  gesellschafft  zu 

iegleicher  spat  vnd  fru 

Vnd  müst  daz  ir  ainer  wesen 

vber  den  ward  auz  gelesen 

275  Ein  lantman  der  sein  pflag. 

vnd  ze  allen  zeiten  ob  in  lag. 

Vnd  in  mit  siegen  dar  zu  twang 

ob  ir  rü  in  daucht  ze  lang 


So  müst  er  si  twingen 


280 


M' 


vnd  mit  slegendar  zupringen 
Daz  si  an  allen  vnder  lazzen 

arbaitten  müsten  an  mazzen. 

'it  so  getaner  leibez  not 
man  ze  pawen  in  gepot 
285  Mit  hertten  siegen  sunder  Ion 

ein  stat  die  hiez  Phiton 
Vnd  Ramazzen  die  haubt  stat. 

die  vest  wurden  wol  besät 
Mit  werleicher  läwt  wer 

die  mit  chreftikleichem  her 
Ze  wer  dem  lant  do  lagen 

vnd  daz  dem  land  do  pflagen 
Dez  landez  do  werleich 

vnd  daz  in  daz  reich. 


290 


236  vnd  vrleugent  leicht  zestuude  —  238  in  zu  reicher  wer  —  244  weisleich] 
mit  sinne  —  245  Wir  legen  an  sew  —  258  Vnd  minne  churczleich  pflege  — 
264  Das  Lande  sere  gearbait  —  271  man  in  sterkleichen  —  272  Paidew  spat  vnd 
auch  —  277  —  280  siegen  ob  im  lang  Danicht  ir  ruh  in  ze  lanng  Das  er  sew 
must  twingen  Vnd  mit  —  292  ans  den  vesten  do  pflagen  —  294  daz  in  allen 
reichen 


BRÜCHSTUCKE    DER    CHRISTHERREr  CHRONIK 


Zweites  doppelblatt.   I". 


Exo. 


295  Yemtleich  niemant  mocht  cho- 
men 
Waz  in  dem  land  wart  ge- 
men 
Zinsez  do.  den  hiez  vil  gar 

Dez  landez  chimig  fürn  dar 
Die  wurden  do  mit  reicheit 
300       Aldo  ze  samen  geleit 
Daz  si  der  chünik  sold 

Da  vinden  swenn  er  wold 
In  not  ze  chainen  stunden 
Die  stet  da  begunden 
305  Ser  reichen  von  der  arbait 

Die  daz  Israhelisch  chiinn  da 
lait 
Wan  si  dar  dienten  ser 

noch  müsten  si  mer 
Leiden  arbaitleichew  not 
310       ze  vegen  man  in  gepot 
Der  stet  weg  pey  den  tagen 
vnd  daz    hör  von  dannen 
tragen. 
Tier  dritten  not  ward   in  ge- 
^  dacht 

daz  si  wurden  für  pracht 
315  Mit  pein  an  lebleicher  chraft 
man  gepot  all  derchünnschaft. 
Daz  si  sunder  lonez  gelt. 

vor  den  steten  hin  daz  velt. 
Durch  grüben  an  allen  selten 
S20       mit  tieffen  graben  weiten 

So  die  wazzer  erguzzen 
/  Daz  si  in  die  graben  fluzzen 


Hin  dan  von  den  vesten 
swaz  die  lantläwt  westen 
325  Zerdenken  daz  tet  man  in 

won  si  ze  verderben  wont 
ir  sin 
Also  taten  si  in  wirz  dan  we 
so  ward  er  iemer  vnd  me. 
So  man  si  ie  serr  druckt  nider 
330       so  si  ie  serr  wuchsen  wider 
Irwardievil.  vnd  mer  dann  vil 
si  wüchsen  mernt  aUew  zil 
Warn  si  alz  got  gepot 
mit  chainer  band  not 
335  Mochten  die  lantlat  sie 

verdiigen  noch  vertreibe  nie 
Si  wüchsen  dar.  an  irn  dank 
Die  grozz  arbait  waz  in  ze 
lank. 
Wan  si  wert  daz  ist  war 
340       an  dem  chunn  vier  hundert 
iar 
T\o  dem  chünig  wart  gesait 

vnd  daz  beuand  mit  warhait 
Daz  ditz  allez  nicht  veruie 
sein  arger  Avill  in  do  nicht  lie. 
345  Er  gedacht  nu  wie  daz  docht 
daz  er  verderben  mocht 
Die  rainen  Israhelisch  diet 
Zwain  weisen  weihen  er  do 
riet 
Der  selben  hiez  Ainew  Phua 
350       vnd  die  ander  Sephora 
Die  solicher  chunst  pflagen 


303  chainen]  allen  —  315  fehlt  W  —  nach  316  steht  in  W:  Si  warn  junkch 
oder  alt  —  323  Vnd  dann  ein  igleich  grabe  Die  wasser  solt  wesen  abe  Hindan  — 
325  das  vand  —  326  Si  zu  verderben  wann  ir  sin  —  327  Vil  vbels  vnd  wierses 
dan  ee  —  333  Wurden  ir  raer  als  got  —  335  lanntlewt  nie  —  336  nie]  sie  — 
837  Si]  fehlt  W  —    345  fehlt  W  —     349  phita 


10 


swo  die  fraAven  gelagen. 
Vnd  chint  sollen  gepern 
An   die   beund   der  chunik 
gern 
355  Daz  si  destei'  öfter  warn 

Do  die  jüdischen  weip  gepärn 

Vnd  alz  ain  sun  wurd  geporn 

Daz  der  zehant  wurd  verlorn 

E.  die  gepurd  solt  geschehen 

360       Vnd  daz  si  dann  selten  iehen 

Daz  si  den  sun  e.  sähen  tot 

Da  pey  er  in  mit  pet  gepot 
Daz  si  der  sinn  wielten 
vnd  die  maidlein  behielten 
365  Lebent  vnd  vnverderbt 

An  dem  leib  vnd  vnersterbt 
Vnd  dar  vmb  gehiez  er  in. 

miet  vil.  vnd  grozzen  gewin 
Tl^ar  vmb  der  chnnik  tat  daz 
Daz   er   si  ie  mit  vorcht 
entsaz 
Do  het  im  .e.  mit  warhait 
ainer  seiner  weissagen  gesait 


370 


Daz  daz  selb  chunn 
vil  churtzleich  gewunn 
375  Ein  chint  daz  mit  gewaltez  band 
solt  alz  Egipten  lant 
Drucken  vnd  Diemüten 

Daz  wolt  er  do  also  behüten 
Daz  daz  nimmer  geschäch 
380       Nu  waz  die  red  vil  späch 
Vnd  verderbt  si  durch  daz 

Wan  er  die  vorcht  ser  entsaz 
Daz  er  die  maid  behalten  hiez 
Vnd  in  frid  werden  liez 
385  Daz  geschäch  durch  den  list 
so  si  nach  reclitez  alterz  Mst 
Dar  nach  zu  irn  tagen  chomen 
Daz  si  dann  der  haiden  siin 
nämen 
Vnd  sie  ze  weib  bäten 
390       vnd  irn  mütwillen  täten 
An  in  swie  si  däucht  gut 

Alz  ez  gert  ir  gern  der  müt 
Durch  daz  beMt  er  irn  leib 
Auch  west  er  wol  daz  die  weib. 


Zweites  doppellblatt.  IP 


.Dus. 


395  Die  morn  in  Egiptenlant 

si  wüsten  mit  gewaltez  haut 
An  allen  wider  satzez  wer 

Von  Memphin  piz  an  daz  mer 
Daz  lant  alz  ez  gelegen  waz 
400       Daz  lantvolk  an  sich  do  laz 
Die  wer  die  si  mochten  han 
mit  den  si  weiten  wider  stan. 


Den  morn  die  si  an  riten 
si  chomen  mit  gemainen  siten 
405  Für  irn  got  vnd  paten 
Daz  er  in  solt  raten 
"Wie  si  gen  der  veint  her 

sich  beraiten  wol  ze  wer 
Do  ward  in  daz  für  geleit. 
410       vnd  von  irm  got  daz  geseit 


353  gepern  solden  Das  si  die  haben  woldea  Als  si  die  chind  solten  gepern  — 
356  Judinne  gepern  —  357  sun]  degen  —  358  zehant]  same  —  361  sun  sterben 
tot  —  362  Darmit  er  in  gepot  —  363  sinn]  Sune  —  370  Die  Sun  er  mit  forchten 
besaz  —  388  dann  die  Sune  nemen  —  391  Äinen  Sun  den  daucht  gut  —  393  befri- 
det  —  Nach  394  stehen  in  W 376  verse,  die  den  Salxburger  fragmenten  fehlen.  — 
395  Der  satz  beginnt  inW:  In  denselben  zelten  Sach  man  mit  chreften  reiten  Die 
morn 


BRUCHSTUCKE    DER    CHRISTHERRE- CHRONIK 


11 


Nach  irr  warheit  vngelogen 

si  solten  nemen  ze  hertzogen 
Einen  Ebraischen  degen 
daz  er  irz  herz  solt  pflege 
415  Der  war  Moisez  genant 

Do  gie  daz  lewt  alzehant. 
Für  dez  chimigez  tochter  hin 

Vnd  paten  si  ser  vmb  in 
Daz  si  in  mit  in  sant 
420       Zeliilff  vnd  ze  wer  dem  land 
Wan  sein  werleichew  hant 

befriden  miiz  vnz  daz  lant. 
Alz  in  ir  got  mit  warhait 
Het  gecliündet  vnd  gesait. 
425  Tiie  fraw  ez  ser  versprach 
wan  si  sich  mit  vorchten 
versah 
Daz  si  in  verderbten  auf  der 
vart 
mit  aiden  ir  daz  versichert 
wart. 
Vnd  mit  gewissener  warhait. 
430       Daz  si  im  nimmer  chain  lait. 
Noch  vngemach  taten 

Vnd  in  ze  herren  gern  baten 
Nach  sein  selberz  1er 
Do  säumt  nicht  mer 
435  Termüt.  si  lie  den  rainen  man. 
Mit  den  lantläwten  do  von 
dan 
Die  namen  in  ze  herren  do 

Do  ditz  geschehen  waz  also 
Daz  sie  warn  in  seiner  pfleg 
440       Do  lie   er  der  wazzer  umb 
weg. 
Vnd  fiirt  si  nach  weiser  art 


N' 


ein  gar  nachnew  durchvart 
Daz  si  den  Morn  für  chonien 
E .  daz  si  ir  chunft  veruomen. 
445  Vnd  in  dann  entwichen 
einen  weg  si  strichen 
Der  durch  ein  wüst  gie 

in  der  selben  wüst  hie 
Schedleich  würm  lagen 
450       Die  der  strazz  also  pflagen 
Daz  niemant  dar  durch  mocht 
chome 
nu  het  Moises  genomen 
Starchen  die  in  den  iarn 
Aldo  gezemt  warn 
455  Mit  den  daz  her  auf  der  vart 
befridetvonden  slangenwart. 
V  chom  an  der  morn  her 
Moises  mit  solher  wer 
Daz  in  vermaid  ir  streit 
460      Vnd  chertenan  der  selben  zeit 
Sunder  wer  mit  flucht  da 

in  dez  chunigez  vest  von  Saba 
Ich  main  in  sein  haubstat 
Die  waz  mit  reicher  w'er  besät 
465  Si  nant  der  chünik  Cambises 
seit  nach  den  zelten  Merores 
Vnd  waz  so  wol  ze  wer  gestalt 
Daz  si  nie  mannez  gewalt. 
Mocht  an  den  zelten 
470       erstürm  noch  erstreiten. 
Dar  inn  lie  der  Morn  her 

sich  besitzen  do  mit  wer 
Die  si  heten  aller  täglich 
her  auz  mit  chraft  werten 
si  sich 
475  So  werleich  das  in  nieman 


422  vnz]  Im  —  435  Termut  vnd  si  liessen  den  man  —  442  nachent  dui'ch- 
fart  —  447  wüst]  büchs  [!]  —  448  wüst]  wuchst  —  453  Stockclie  dew  in  den 
Jarn  —  456  Befridet  auf  der  Strasse  —  465  CampMses  —  473  Das  si  paten  alle 
tag  tegleich 


12 


480 


Die  stat  mocht  gewinnen  an 
E.  von  geschieht  daz  gesehach 

Daz  dez  chünigez  tochter  sah 
Moises  schonen  leib 

In  begund  daz  iung  weib 
In  sendez  hertzen  sinnen 

so  hertzleichen  minnen 
Daz  si  sich  chiirtzleichen  ver- 
wag 

aller  der  fräwden  der  si  pflag. 


485  Oder  er  wurd  ir  ze  man 

si  ti'ug  ins  mit  pet  an 
AVolt  in  dez  gen  ir  gezemen 

Daz  er  si  ze  weib  wolt  nemen 
Dez  si  gert  vnd  pat 
490       so  wolt  si  im  geben  die  stat 
Also  ward  in  churtzen  tagen 

Vnder  in  vber  ain  getragen 
Daz  si  im  gab  vnd  seinem  her 

stat  vnd  läwt  sunder  wer. 


Zweites  tloppelblatt.    II' 


495  Vnd  nam  si  do  ze  weib  sa 

waz  er  den  läwten  tat  alda 
Ob  er  si  sing  oder  anderz  icht 
tat.    daz    sait    die    geschrift 
nicht. 
Doch  ward  mir  so  vil  erchant 
500       Der  mär.  daz  er  betwang  daz 
lant. 
Do  er  sich  an  den  morn  rah 
die  morinn   man  in  nemen 
sah 
Ze  w^eib  alz  er  ir  gehiez 
Die  im  sich  vü  die  vest  liez 
505  Tarbis  waz  die  fraw  genant 
Daz  si  im  ze  weib  waz  er- 
chant 
Vnd  ir  minn  waz  sein  Ion 
dez  zürnt  vil  ser  Aaron 
Vnd  Maria  die  swester  sein 
510       die  tet  im  so  vil  zorns  schein 
Daz  ez  got  sider  an  in  rah 
wie  die  räch  an  in  gesehach 


Daz  wirt  ew  her  nach  gesagt 
do  Moises  da  waz  getagt. 
515  So  lang  er  wolt  in  der  stat 
sein  weib  er  mit  im  ehern  pat. 
Von  dann  in  Egiptenlant 

Die  wider  redat  ez  zehant 
Vnd  wolt  mit  dem  werden  man 
520       nicht  ze  land  ehern  dan 
Si  wolt  in  nicht  von  ir  lan 

er  miist  alda  pey  ir  bestan. 
"VTv  tet  der  edel  degen  gut 
alz  manik  man  noch  gern  tut 
525  Der  mit  willen  allew  frist 

gerner  pey  den  seinen  ist 
Dann  in  dem  land  anderswa. 
in  seinen  sinen  gedacht  er  da 
Wie  im  der  list  zäm 
530       daz  er  von  dannen  chäm 
Mit  solher  füg  daz  sein  weib 
Der  er  waz  lieber  dann  ir  leib 
Nicht  beswort  wurd 
vnd  swärez  iamerz  purd 


483  sich  churczweil  bewag  —  485  Ee  der  ir  wurd  ze  —  486  is  mit  poten  — 
489  und  490  in  W  umgestellt.  —  495  Vnd  er  nam  —  515  So  lannge  von  der 
Stat  —  519  werden]  weisen  —  521  Si  wolt  auch  von  dem  chrieg  nicht  lan  — 
526  Gern  pey  den  trennten  ist  —  527  in  eilende  anderswo  —  534  Nicht  gesweret 
wurde 


BRUCHSTUCKE   DER   CHRISTHERRE  -  CHRONIK 


13 


535  Den  si  nach  im  trug 

so  man  in  sein  zu  gewüg 
Ditz  waz  in  seiner  tracht 

von  clmnst  raaniger  acht 
Ynd  listikleicher  wunder 
540       von  Astronomie  chund  er 
Daz  liez  er  chiesen  do  dar  an 

Der  edel  chunstreich  man 
Macht  im  zwai  vingerlein 
Zwai  chlainew  pild  guidein 
545  Die  warn  wunderleich  genüg 
swer  daz  ain  pe)^  im  trüg 
Der  vergaz  in  seinem  müt 

swaz  im  ie  ze  gut 
Oder  ze  lait  geschach 
550       swen  mau  daz  ander  tragen 
sah 
Den  müt  sein  hertz  zehant  geuie 
swaz  im  waz  geschehen  ie. 
Also  daz  er  der  geschiht 
mocht  vergezzen  nicht 
555  Daz  vergezzen  vingerlein 
liez  Moises  der  mörein 
Do  vergaz  si  sein  so  gar 
Daz  si  nam  chain  war 
Ob  si  sein  ie  chünn  gewan 
560       Der  edel  rain  weiz  man 
Chert  wider  haim  ze  haut 
vnd  für  gen  Egiptenlant 
Da  er  von  chindhait  waz  erzöge 
der  werd  an  sälden  vnbetrogen 
565  Gen  Jerssen  do  chert 


alz  in  die  lieb  lert 
Die  er  seinem  chünn  trüg 
Do  sah  er  iamerz  genüg 
Vnd  not  an  seinen  magen  da 
570       vnd  in  dem  land  anders wa 
Wan  si  mit  dienstleichen  siten 
manik  hochew  swär  erliten 
von  Dienstleicher  arbeit 
die  si  da  wurden  an  geleit. 
575  Alz  ich  ew  vor  veriah 
Moises  der  gut  sah 
Daz  ein  Egiptisch'  man  do  slüg 

vngezogenleichen  genüg 
Ainen  seiner  magen  da 
580       An  den  selben  chert  er  sa 
Vnd  slüg  in  zetod  zehant 

vnd  parg  in  vnder  den  sant 
Daz  man  innen  wurd  nicht 
von  im  der  selben  geschiht. 
585  "Drü  an  dem  andern  tag 

gie  Moises  nach  der  war- 
hait  sag 
Zu  dem  werch  hin  do  vand  er 
zwen  Ebraisch   die  mit  ein 
ander 
Chriegten.  ich  waiz  vmb  waz 
590       in  paiden  wert  er  daz 
Vnd  straft  ienen  genüg 

der  die  schuld  auf  im  trüg 
Dem  waz  ez  zorn  vn  vngemach 
vil    zorinkleichen    der    selb 
sprach. 


595  Wer  hat  dir  gewalt  gegeben 


Daz  du  wild  richten  vnser 
leben 


Erstes  doppelblatt.   II  ^ 

Wez  vnder  windest  Du  dich 
ich  wän  du  woldest  slahen 
mich 


559  chunn]  chunde  —  563  von  chiude  was  gezogen  —  565  yesse  —  577  ein 
lanntman  do  —  585  Do  au  dem  dritten  —  587  weg  liin  wider  do  —  589  Yrleu- 
gen  ich 


14 


Alz  du  auch  ienen  gestern  slügd 
600       Ynd  in  vnder  den  sant  grubd 
Yon  hinnen  einen  laut  man 
Moses  sei-  wundern  began 
Wer  die  verhohi  warhait 
hiet  so  recht  im  gesait 
605  Vnd  ez   doch   haimeleich  ge- 
schach 
im  waz  laid  do  iener  sprach 
Gen  im  so  paldikleich  daz  wort, 
wan  ez  von  dem  chiinig  dort 
Waz  vil  churtzleich  gesait 
610       Der  chimig  hiez  dem  degen 
vnuerzait 
Zehant  mit  suchen  nach  iagen 
vnd  wolt  in    haben   lazzen 
erslagen 
Da  von  der  rain  weiz  man 
Dem  chunig  von  dem  land 
enti'an. 
Hie  hört  nu  wo  Moises  hin- 
chom.  vn 
waz  climder   er   vnd  sein 
prüder  Aaron  gewö 
615  T\o  nu  der  gotez  weigant 
geräumt  het  Egiptenlant 
Do  cham  er  alz  ich  gelesen  han 
durch  ein  wüst  in  Madian 
Daz  waz  ein  reichew  haubtstat 
620       Die  het  an  daz  rot  mer  ge- 
sät 
Mit  päw  da  vor  Madian 

den  ich  auch  genennt  han 
Wan  Abraham  von  seiner  diern 
Cetura 
in  gepar.  der  pawet  alda 


625  Die  selben  stat  in  dem  lant 

Die  er  nach  im  selb  nant 

Alz  ir  sein  nani  wol  gezam 

Moises  für  die  gegangen  cham 
zu  einem  prunnen  vor  der  stat 
630       Durch  rü  er  do  nacher  trat 
Vnd  wolt  Do  Die  ru  han 

nu  waz  gesezzen  in  Madian 
Ein  edler  Ewart  do 

der  waz  gehaizzen  Jetro. 
635  Siben  tochter  het  Der 

Die  chomen  do  gegangen  her 
Nach  irm  sit  vnd  weiten 

trenken  als  si  selten 
Ir  vidi  daz  waz  ir  sit  Do 
640       vnd  do  si  stünden  also 

Pey  dem  prunnen  do  chamen 

stach  liirtten  die  namen. 
Den  iunkfrawen  den  prunnen 
Den  si  alda  gewunnen 
645  Vnd  wolten  ir  vich  trencken  e. 
Ditz  tet  den  iunkfrawen  we. 
Pis  Moises  der  gut 
gewaltez  si  behüt 
Vnd  half  in  wol  zerecht 
650       hin  ab  slüg  er  die  chnecht 
Die  chomen  do  zu  in  nie 
e.  die  maid  getrenckten  hie 
kie  maid  do  wider  cherten 
mit  danken  si  in  erten 
655  Zu  dem  vater  waz  groz  ir  pet. 
Wan  er  in  ditz  ze  ern  tet. 
Daz  er  dem  fromden  werden 
man 
danckt.  der  si  die  er  het  ge- 
legt an 


D' 


Die  Überschrift  vor  615  feJilt  W.  —  619  reichew]  michel  —  623  Abraham 
von  cethura  —  651  chomeu  darnacher  nie  —  652  hie]  ie  —  657  Das  die  fromdeu 
weren  man  —  658  Der  sew  er  het  gelegt  an 


BRUCHSTÜCKE   DER    CHRISTHERRE  -  CHRONIK 


15 


Vnd   beschirmt,     do   in   Jetro 
ersah 
660       er  danckt  im.     Do  daz  ge- 
schach. 
Do  fürt  er  in  mit  im  hain 

vnd  wart  Daz  mit  im  enain 
Daz  im  der  will  gezäm 
Daz  er  seiner  tochter  näm 
665  Ainew  die  hiez  Sephora 

Die  nam  der  do  ze  weib  da 
Einen  sun  si  im  gewan 

dem  edlen  gotes  dienstman 
Der  wart  Gerson  genant 
670       dar  nach  auer  seit  zehant 
Gewan  si  seinez  hertzen  ger 
einen  sun  der  hiez  Eliezer 
Gotez  hilff  bedäwtt  der  nam 
gütleich  vnd  an  allew  schäm 
675  Lie  im  sein  sweher  Jetro 

gewalt  vber  alz  sein  vich  Do 


N^ 


Daz  waz  die  grost  reichait 
die  do  ieraant  waz  berait 
Wan  hin  vnd  her  warn  die  lant 
680       in  gantzem  päw  nicht  erchant 
Da  von  waz  vich  die  reichest 
hab 
do  sich  betrüg  iemant  ab. 
'v  han  ich  ew  vor  chunt  ge- 
tan 

Daz  Jacobs  sun  Leuy  gewon 
685  Gersson  Caaht  vnd  Merary 
die  selben  prüder  drj. 
Mit  irm  geslächt  geparn 

Die  Leuiten  in  den  iarn 
Chaat  der  Leuy  sun  waz 
690       der  gewon  alz  ich  ew  vor  laz 
Amram  vnd  ysuar 

Der    selb    ysuar   einen   sun 
gepar. 


Erstes  doppelblatt. 

Exo 


IV 


Der  waz  gehaizzen  Chore 


.e. 


710 


Amraran  den  ich  naut 
695  Moyses  vater  der  waz 

vnd  Aaronez  Alz  ich  ew  laz 
Aaron  ze  weib  nam 

ein  weib  die  im  wol  zam 
Auz  dem  geslächt  von  Juda 
700       Amynadabes  tochter  da. 
Die  waz  Elysabet  genant 
der  selben  waz    ze   prüder 
erchant 
Ein  werder  man  hiez  Naason 
pey  Elyzabet  gewon  Aaron 
705  Nadab  Abyu  vnd  Eleazar 

vnd  einen  sun  hiez  ythamar 
Eleazar  ze  weib  do  nam 

659  Vnd  beschirmet  do   er  in  sach  —     663  fehlt   W 
683  —  716  fehlen   W,  ebenso  die  Überschrift  darnach. 


ein  weib  die  im  wol  zam 
Die  selb  im  do  gewan 

einen  sun  dem  guten  man 
Der  waz  Phynees  genant. 

Der  slug  seit  mit  seiner  haut 
In  gotez  Dienst  Zambry 
Ditz  geslächt  ist  von  Leuy 
715  Vil  gar  von  im  chomen 

Alz  ir  hie  habt  vernomen. 
Hie  hört  nu  waz  got  tvunderx 
vn  zaiche 
mit  Moises  vn  Aarö   begie. 
vn  waz  er  mit  in  sehüof 
T\o  ditz  geschehen  waz  also 
in  der  zeit  starb  der  chü- 
nig  Pharao. 
671  si]  fehlt  W  — 


16 


Nach  im  ward  ein  chnnig  in 
Egipte  lant 
720       vilweiz.  der  ward  auch  genant 
Alz  e.  die  andern  Pharao 

Der  tet  den  Israheliten  do 
Vil  wirz  dann  in  e.    waz  ge- 
schehen 
Alz   wir   die    warheit   hom 
iehen 
725  Da  von  si  von  hertzen  sauften 
tiefPen 
hin  ze  got  do  rieffen 
Die    chint    der  Israhelischen 
schar 
Die  Israhelisch  fruch  gepar 
Alz  si  twang  raanik  arbait 
730       do  gedacht  got  an  die  sicher- 
hait 
Die  er  hie  vor  irn  vätern  tet 

vnd  erhört  do  ir  gepet 
Daz  si  heten  in  irm  laid 
nu  het  Moises  auf  ein  waid 
735  Sein  vich  do  getriben 

in  einer  wüst  waz  ez  beliben 
Von  dem  perg  Synay. 

Do  gie  daz  vich  nahen  py 
Der  perg  dar  an  frey  belaib 
740       Daz  niemant  sein  vich  dar 
an  traib 
Wie  da  war  süzzez  graz 

wan  der  läwt  gelaub  waz 
Daz  man  dicker  säch  da 
gotez  heilikait  dann  anderswa 
745  Indert  da  pey  vber  daz  lant. 
ein  hörn  dez  pergz  waz  ge- 
nant. 
Oreb.  pey  dem  selben  perg  hie 


A 


Moises  vich  da  selbe  gie 
An  der  wüsten  waid 
750       waident  auf  der  haid 

vf  dem    selben    perg    Oreb 

geschach 
ein  wunder  groz  daz  sah 
Moyses  der  rain  man 

Da  stand  auf  ein  pusch  vn 
pran 
755  Vnd  waz  dez  fewrez  flammen 
plick 
prinnent  starch  vnd  dick 
Laub  vnd  holtz  dar  an  wart 
von    dem    fewr    doch  nicht 
verschart 
Ez  stund  in  seiner  aigenschaft. 
760       gantz.    daz    fewr    pran    mit 
chraft 
Daz  doch  der  pusch  waz  behüt 

Moyses  der  rain  gut 
Gedacht,  ich  wil  gen  besehen 
Daz  wunder  daz  hie  ist  ge- 
schehen 
765  Daz  diser  pusch  also  print 

vnd  doch  nicht  mail  gewint 

Von  disem  grozzem  fewr  hie 

hin  zu  dem  pusch  er  do  gie 

Do  er  ditz  grozz  wunder  sah 

770       got  erschain  im  vnd  sprach 

Moises  Moises  zehant 

Do  im  die  gotez  stimm  ward 

erchant 

Do  sprach  er  herr.  hie  pin  ich 

loz    dein    schlich   vnd   ent- 

schüch  dich 

775  Wan  die  stat  auf  der  du  stast 

vnd  die  erd  dar  auf  du  gast 


745  In  der  die  do  vber  das  Lannt  —  751  Auf  oreb  dem  perg  do  geschach  — 
754  stund  ein  pusch  der  pran  —  760  Ganz  das  verpran  mit  chraft  —  761  Das  den- 
noch des  pusches  hüte  —  766  Vnd  is  nicht 


BRUCHSTÜCKE   DER   CHRISTHERRE  -  CHRONIK 


17 


8int  paidew  samt  heilig 
vnd  mit  heilikait  vnmeilig 

Got  sprach  auer  wider  in 
780       Abrahams  got  ich  piu 

Ysaackes  vnd  Jacobs  got 
Die  gern  laisten  mein  gepot 

Ich  han  die  grozzen  arbeit 
Die  mein  lewt  ist  an  geleit 


785  In  Egipto  wol  gesehen 

waz  in  da  laidez  ist  gesche- 
hen 
Vnd  irn  clilagenden  ruf  ver- 
vernomen 
nu  pin  ich  her  nider  chomen 
Daz  ich  si  da  von  losen  wil 
790       vnd  fürn  in  churtzem  zil. 


788  her  wider  —  nacli  790  schliesst  der  satx,  in  W:  In  das  erbnnscht  suzz  lannt 
Das  milich  vnd  honig  ist  erchant  Baide  ternde  vnd  fliesseude  Vnd  wü  sew  machen 
niessende  Dew  laut  die  Chananeus  Beresus  vud  Ebuseus  Jergessens  vnd  Euseiis  usw. 

75  rote  initiale.  83  blaue  initiale.  113  grosse  rote  initiale,  die  weit 
über  den  freien  seitenrand  hinab  und  hinauf  reidd.  145  rote  initiale.  175  rote 
und  blaue  initiale.  191.  Da]  auf  rasur,  darnach  stand  anderswa,  vgl.  v.  192.  211 
iar  mit  not  aiif  rasur.  215  rote  initiale.  225  l.  geslähtes.  249  rote  initiale. 
259  /.  starchen.  283  blaue  initiale.  313  7-ote  initiale.  341  blaue  initiale.  369  rote 
initiale.  421  hant  aus  hent  corrigiert.  425  rote  initiale.  457  blaue  initiale. 
523  rote  initiale.  585  blaue  initiale.  615  rote  initiale.  653  blaue  initiale. 
683  rote  initiale.  717  blaue  initiale.  745  hinter  pey  ist  an  rot  gestrichen. 
751  rote  initiale.  779  blaue  initiale.  Die  verse  1.  51.  99.  145.  195.  245.  295.  345. 
395.  445.  495.-  545.  595.  643.  693.  741  beginnen  neue  spalten. 


MITTEILUNGEN  AUS  DEUTSCHEN  HANDSCHßlETEN 
DER  GEOSSHEEZOGL.  HOFBIELIOTHEK  ZU  DAEMSTADT. 

I. 

Dietrich  von  Plieiiiiigeiis  Seiiecaübersetzimgeii. 

Als  Karl  Hartf eider  1884:  das  Heidelberger  gymnasialprogramm 
„Deutsche  Übersetzungen  klassischer  Schriftsteller  aus  dem  Heidelber- 
ger humanistenkreis"  veröffentlichte,  kannte  er  von  Senecaübersetzungen 
des  schwäbischen  ritters  und  humanisten  Dietrich  von  Plieningen^  nur 
die  in  dem  Münchener  Codex  germ.  977  erhaltene  Verdeutschung  der 
„Consolatio  ad  Marciam",  sowie  die  zu  Landshut  1515  gedruckte  Über- 
setzung des  dem  Seneca  zugeschriebenen  werkes  „De  moribus."  Eine 
dritte,  von  Plieningen  in  der  vorrede  der  letzten  schrift  selbst  er- 
wähnte Übersetzung  von  Senecas  „De  ira"  war  ihm  nur  dem  namen 
nach  bekannt    (anm.  4  zu  s.  7).     Der  zufall  wollte   es,    dass  nicht  nur 

1)  Vgl.  ausser  der  bei  Hartfelder  s.  5  anm.  2  angegebenen  litteratur  Th.  Schott 
in  der  „Allg.  deutschen  biographie"  26,  297.  1888. 

ZEITSCHRIFT    F.    DEUTSCHE    PHILOLOGUC.       BU.    XXVHI.  2 


18  A.    SCHMIDT 

diese  schrift,  sondern  ausser  den  beiden  oben  genannten  noch  zehn 
andere  von  Plieningen  verdeutschte  werke  Senecas  sich  handschriftlich 
in  seiner  nächsten  Ucähe,  in  der  Darmstädter  hofbibliothek  befanden. 
Dass  Hartfelder  von  ihnen  keine  kenntnis  erlangte,  darf  man  ihm 
natürlich  nicht  zum  Vorwurf  machen,  da  die  liofbibliothek  leider  immer 
noch  keinen  gedruckten  handschriftenkatalog  besitzt.  Die  einzige  frü- 
here erwcähnung  der  handschrift  in  Walthers  „Beiträgen  zur  näheren 
kenntnis  der  gr.  hofbibliothek  zu  Darmstadt''  (Darmstadt  1867)  s.  129 
nr.  3  kann  in  ihrer  unbestimmten  fassung  kaum  in  betracht  kommen. 
Möge  man  die  nachfolgenden  ausführungen  als  ergänzung  zu  Hartfelders 
interessantem  programm  aufnehmen. 

Die  in  einen  braunen  lederband  mit  eingeprägten  Verzierungen 
gebundene  Darmstädter  handschrift  nr.  290  in  fol.  ist  31,5  cm.  hoch 
und  21,5  cm.  breit  und  besteht  aus  309  blättern,  die  in  einer  spalte 
mit  meist  30  zeilen  in  deutscher  schrift  aus  dem  anfange  des  16.  Jahr- 
hunderts beschrieben  sind.  Die  Überschriften  und  randbemerkungen  sind 
rot.  Eine  menge  farbiger  und  goldener  initialen,  zu  anfang  der  ein- 
zelnen bücher  mit  farbigen  rankenverzierungen ,  schmücken  den  band. 
Keine  andeutung  in  der  handschrift  gibt  uns  künde,  von  wem  und  für 
wen  die  abschrift  angefertigt  wurde.  Dass  es  nicht  Plieningens  origi- 
nalmanuskript  ist,  dürfen  wir  aus  dem  fehlen  aller  korrekturen  und 
der  gleichmässigen  schrift  in  allen  von  1515  bis  1517  datierten  teilen 
annehmen.  Das  schliesst  aber  nicht  aus,  dass  wir  es  mit  einer  auf 
Plieningens  anordnung  angefertigten  abschrift  zu  tun  haben,  die  der 
prächtigen  ausstattung  nach  vielleicht  zum  geschenk  für  irgend  eine 
hochgestellte  persönlichkeit  bestimmt  war. 

In  die  Darmstädter  bibliothek  gelangte  der  band  1813  mit  der 
bibliothek  des  in  Grossgerau  verstorbenen  kirchenrats  Georg  Nikolaus 
Wiener. 

Die  handschrift  enthält  die  Übersetzungen  folgender  Seneca'schen 
oder  Pseudo- Seneca'schen  Schriften: 

1.  Blatt  la  —  84b  4:  Ad  Novatum  de  ira  libri  tres.  Über- 
schrift: Lucy  Annei  Senece:  von  Corduba  vom  Zorn  das  Erst  Buch 
dem  Nouato  zugeschriben:  von  mir  Dietrichen  vonn  Pleningen  zu  Schou- 
begk  vnd  Eysenhouen  Kitter  vnd  doctor  zu  teutsch  gepracht  ec'  |. 
Schluss:  Hye  Endet  sich  das  Trit  Buch  Senece  vom  Zorn  ec';  |  Sei- 
tenüberschriften: Das  Erst  (Ander,  Trit)  Buch  |  Senece  vom  Zorn/|. 

2.  Blatt  85a  —  115a  25:  Ad  Neronem  Caesarem  de  demen- 
tia. Überschrift:  Hie  facht  an  das  Erst  Bucli  Lucy  Annei  Senece  von 
der  senfftmutigkait  dem  kaiser  Nero  zugeschriben  durch  mich  Dietrichen 


HANDSCHRIFTEN   IN   DÄRMSTADT  19 

von  Pleningeu  zu  Schoubegk  vnd  Eysenhofen  ritter  vnd  doctor  geteutscht 
ec' !  I  Schlusii:  Hje  Endet  sich  das  anuder  vnd  letzst  Buch  Senece 
von  der  sennfftmutigkait:  auf  Sant  Maria  Magdalena  aubent  zu  Lands- 
hut durch  mich  Dietrichen  von  Pleningen  ec'  geteutscht  Anno  1515/ 1. 
Seitenüberschriften:  Das  Erst  (Ander)  Buch  Senece  ]  von  der  Senft- 
mutigkait  | . 

3.  Blatt  115b  —  130b.  28:  Ad  Lucilium  quare  aliqua  in- 
commoda  bonis  viris  accidant,  cum  Providentia  sit.  (De  Pro- 
videntia.) Überschrift:  Hye  facht  an  das  Erst  Buch  Lucy  Annei 
Senece  zu  Lucilio  geschriben:  von  regierung  der  weit  vnd  gotlicher 
fursichtigkait /  vnd  das  vil  onfalls  den  guten  männern  zustande:  durch 
mich  dietrichen  von  Pleningen  zu  Schoubegk  vnd  Eysenhofen  ritter 
vnd  doctor  geteutscht  ec' c^  |  Schluss:  Hie  Endet  sich  das  Buch  Senece 
von  der  gotlichen  fursichtigkait  A*^  1515/  ]  Seitenüberschriften:  Seneca 
von  regierung  der  weit  vnd  gotlicher  für  |  sichtigkait  vnd  das  viel  onfals 
dem  guten  mann  (resp.  den  guten.)  zustand;  |  ,  von  bl.  117b  an:  Das 
Buch  Senece  warumb  den  guten  |  männern  (oder  dem  guten  |  mann) 
vil  onfalls  widerfare. 

4.  Blatt  131a— 157b  28:  Ad  Gallionem  de  vita  beata. 

5.  Blatt  157b  28  —  165a  7:  Ad  Serenum  de  otio.  Letztere 
Schrift,  die  erst  von  Lipsius  abgetrennt  wurde,  schliesst  sich  ohne  jeden 
absatz  an  erstere  an.  Die  gemeinsame  Überschrift  lautet:  Hie  facht  an 
das  Buch  Lucy  Annei  Senece  zu  Gallioni  seinem  bruder  geschriben 
von  dem  säligen  leben  /  durch  mich  dietrichen  von  Pleningen  ge- 
teutscht/ !  .  Schluss:  Hie  Endet  sich  Seneca  vom  säligen  leben  auff 
den  Ain  vnd  treyssigisten  tag  des  monats  octobris  Anno  1515  durch 
mich  Dietrichen  von  Pleningen:  Ritter  vnd  doctor  geteutscht  ec'  |  Sei- 
tenüberschriften: Das  Buch  Senece  |  vom  Säligen  (Saligen,  Seligen) 
leben  |  . 

6.  Blatt  165b  —  189b  17:  Ad  Paulinum  de  brevitate  vitae. 
Überschrift:  Das  Buch  Lucy  Annei  Senece  vonn  kurtzen  des  lebens  zu 
Paulino  geschriben:  durch  mich  Dietrichen  von  Pleningen  zu  Schou- 
begk vnd  Eysenhouen  Ritter  vnd  doctor  geteutscht  ec';  |.  Schluss: 
Finis  ec'  |.  Seitenüberschriften:  Das  Buch  Senece  \  von  kurtze  (kurtz) 
des  lebens  |  ,  zuletzt:  vom  kurtzen  leben  |  . 

6.  Blatt  190a  — 193b  19:  De  paupertate.  Überschrift:  Das 
Buch  Lucy  Senece  von  der  Armut  von  mir  obgemelten/  |  Dietrich  von 
Pleningen  geteutscht  |  .  Schluss;  Hie  Endet  sich  das  Buch  Senece  von 
der  Armut  ec'  |  .  Seitenüberschriften:  Das  Buch  Senece  |  von  der 
Armut  |. 

2* 


20  A.    SCHJIIDT 

8.  Blatt  194a  — 226a  23:  Consolatio  ad  Marciam.  Über- 
schrift: Hie  facht  sich  an  die  loblich  trostuiig  Senece  die  Er  zu  der 
Irrleuchten  frawen  Marcia  des  Caton  weyb:  die  Irn  Sun  Drusum  ver- 
lorn het/  geschriben  hat/  durch  mich  Dietrichen  vonn  Plenyngen  auch 
geteutscht  ec'  •;•  '^  ^^  |  Schluss:  Finis-:'^  |  Seitenüher Schriften: 
Der  Seneca/  |  Ain  Tröstung  zu  der  Marcia  |  ,  von  blatt  197b  an:  Des 
Senece  |  Tröstung  zu  der  Marcia/  |. 

Den  anfang  dieser  Übersetzung  bis  blatt  200  b  2  hat  Hartfelder 
nach  dem  Münchener  Cod.  Germ.  pap.  977  fol.  1  —  20  auf  s.  13—18 
seines  programms  zum  abdruck  gebracht.  Beide  handschriften  stimmen 
nicht  ganz  überein.  Gleich  in  der  Überschrift  hat  die  Darmstädter 
iiandschrift  den  fehler  Caton  für  Cordus,  dann  fehlt  die  widmung  an 
Kunigunde,  erzherzogin  von  Österreich  d.  d.  München  10.  märz  1519, 
und  auch  in  dem  eigentlichen  text  zeigen  sich  mannigfache  abwei- 
chungen. 

9.  Blatt  226  b  — 233b  21:  Ad  Gallionem  de  remediis  for- 
tui forum.  Überschrift:  Hie  facht  sich  an  das  Buechlin  Luci  Annei 
Senece  das  Er  zu  seinem  Bruder  Gallioni  geschriben  hat  von  Artzneyen 
gegen  allen  Einlouffung  des  onfalls  vnd  do  redent  wider  einander:  die 
Synn:  vnd  die  Vernunft,  der  kaiserlichen  maiestat  meinem  aller  gne- 
digisten  herren  zu  Ern  durch  mich  Dietrichen  von  Pleningen  geteutscht 
ec'  • :  ^^  j  Sehhfss:  Hie  Endet  sich  das  Buch  Senece  vonn  Ertz- 
neyen  gegen  allen  vnfallen  von  mir  Dietrichen  von  Pleningen  '^  • :  ge- 
teutscht • :  ^^  I '  Seitenüberschriften:  Des  Senece  Buch  |  von  artzneyen 
gegen  allen  onfällen  | . 

10.  Blatt  234a  —  264a  30:  Ad  Serenum  de  tranquillitate 
animi.  Überschrift:  Hie  facht  an  das  Erst  Buch  Lucy  Annei  Senece: 
das  Er  zu  Sereno  geschriben  hat  dar  jnnon  begriö'en  ist:  wölhe  ding 
das  styll  vnd  onbetruebt  leben  beschirmen:  vnd  woUiche  ding  das  selb 
widergeben  mögen:  wölliche  ding  auch  den  ein  kriechenden  lästern 
widerstand  thuend.  durch  mich  Dietrich  von  Pleningen  zu  Eysenhofen 
Riter  vnd  doctor  dem  durchleuchtigisten  fursten  vnd  herren  herren 
Fridrichen  Hertzagen  zu  '^  • :  geteutscht  • :  "^  |  Die  schlussschrift  blieb 
weg,  offenbar  nur  weil  blatt  264  a  vollgeschrieben  Avar.  Seitenüber- 
schriften: Das  Buch  Senece  |  vom  styllen  rwigen  vnd  onbetrubten 
leben  |  . 

11.  Blatt  264b —284  a  30:  Ad  Serenum  nee  iniuriam  nee 
contumeliam  accipere  sapientem.  Überschrift:  Hie  facht  an  das 
ander  Buch  Lucy  Annei  Senece  zu  Sereno  von  dem  onbetrubten  leben : 
vnd  wie  in  ainen  wevsen  mann  schmachen  nit  einfallen  moffen:  durch 


J 


I 


HANDSCHRIFTEN   IN   DAKMSTADT  21 

mich  Dietrichen  von  Pleningen  jn  vigilia  Ephiphanie  dominj  Anno  ec' 
1517  ~  :•  goteutscht  :•  ~  |  Schluss:  Hye  Endet  sich  das  ander  Vnd 
das  letzste  Buch  Lucy  Annej  Senece  von  dem  stillen  vnd  onbetrubten 
leben:  durch  mich  Dietrichen  von  Pleningen  geteutscht  Anno  1517  zu 
Landshut  ec'  |.  Seitenüberschriften:  Das  Ander  buch  Senece  vom  stil- 
len vnd  onbetrubten  leben/  |  vnd  wie  kain  schmach  in  (ain)  weisen  man 
fallen  mog/  |. 

12.  Blatt  284b  — 290b  15:  Liber  de  moribus.  Überschrift: 
Hie  nach  uolgt  das  Buch  Lucy  Senece  von  sytten  dar  Jnn  er  gantz 
schönlich  vnd  nutzlichen  des  lebens  sytten  erzelt  hat  durch  mich  Die- 
trichen von  Pleningen  zu  Eysenhofen  ritter  vnd  doctor  geteutscht 
ec'  •:■  ^^  |.  Schluss:  Hye  Endet  sich  das  Buch  Senece  vonn  sytten 
ec'  |.     Seitenüberschriften:  Das  Buch  Senece  |  von  Sytten  |. 

Aus  dem  ganzen  Inhalt  unserer  handschrift  ist  diese  schrift  die 
einzige,  die  zu  lebzeiten  des  Übersetzers  gedruckt  worden  ist.  Da  mir 
die  seltene  zu  Landshut  bei  Johann  Weyssenburger  1515  in  4<^  ge- 
druckte ausgäbe,  deren  genauer  titel  bei  Weller,  Rep.  typ.  nr.  946  und 
s.  455  zu  finden  ist,  nicht  vorliegt,  vermag  ich  nicht  festzustellen,  wie 
weit  der  druck  mit  der  handschrift  übereinstimmt.  Aus  Hartfelders 
besprechung  a.  a.  o.  s.  7  ergibt  sieh,  dass  er  eine  in  der  handschrift 
fehlende  vorrede  Plieningens  enthält. 

13.  Blatt  291a— 309a  30:  Proverbia  Senecae.  Voraus  geht 
auf  b]att291a — b  28  eine  widmung  dieser  Übersetzung  an  den  „her- 
ren  Fridrichen  Hertzogen  zu  Sachsen",  etc.  „Geben  zu  Landshut  vff 
den  Sechzechenden  tag  Decembris  nach  Cristi  vnsers  hailmachers  gepurt 
Anno  1515"  ~  |  Es  heisst  darin:  „Genedigister  fürst  vnd  herr/  wiewol 
ich  neben  deß  durchleuchtigen  hochgepornen  fursten  vnd  herren/  her- 
ren  Ludwigen  pfaltzgrafen  bey  Rein  Hertzogen  in  Obern  vnd  Nidern 
Bairn  ec'  meins  gnedigen  herren  fürstlichen  beuelchen  vnd  obligenden 
geschafften:  mitler  zeit  vnd  ich  euren  Curfurstlichen  gnaden  meinen 
geteutscliten  Salustium  zugeschickt  vber  angekorten  vleis  gar  wenig 
niüssig  tage  erlangen  mögen !  so  hab  ich  doch  die  selben  tag :  nyemants 
anderm  dann  allain  Euren  Curfurstlichen  gnaden  zu  Ern  vnd  gefallen: 
vndertcänigklichen  zuuerzern  furgenomen.  In  besonderer  bewegung  die- 
weil  ich  hieuor  durch  vielfaltig  glaubliche  vnd  grundtliche  erfarung 
wares  wissen  empfangen  han:  das  die  selb  eur  Curfürstlich  gnad  vor 
allen  andern  geistlichen  vnd  weltlichen  Curfursten  des  heiligen  Römi- 
schen Reichs  aller  loblichen  kunsten  vnd  guter  sytten  besonderlichen 
der  philosophi  ain  getrewer  furdrer  liebhaber  vnd  gnediger  vatter  ist: 
also  bewegt  worden  die  Sprichwort:  deß  heiligen  hochberompten  manß 


22  A.    SCHMIDT 

Seneco  aiiß  launischer  jn  teutsche  also  jn  mein  muterliche  sprach  zu 
pringen]"  etc.  Nach  einer  längeren  ausein  andersetz  uug,  wariuu  Seneca 
ein  heiliger  mann  zu  nennen  sei,  fährt  Plieningen  fort:  „Dem  allem 
nach:  vnd  auf  das  eur  Curfurstlich  gnad  meiner  willigen  vnd  gevlissen 
dienstparkait :  wares  vnd  grundtlichs  wissen  empfachen  mögen:  so  vber- 
schick  ich  den  selben  Eurn  Curfurstlichen  gnaden  dits  mein  tranßlacion 
mit  vndertäniger  Bit  die  selben  wollen  sollichs  von  mir  mit  gnaden  an 
uemen.  vnd  wil  mich  hiemit  also  Eurn  Curfurstlichen  gnaden  vnder- 
tänigklichen  beuolchen  haben/". 

Die  (schwarze)  Überschrift  der  Übersetzung  lautet:  Hye  fachent 
an:  die  Sprichworter  Lucy  Annej  Senece:  die  Er  zu  Paulino  geschri- 
ben  haben  soll.  Durch  mich  Dietrichen  von  Pleningen  zu  Schoub- 
Egk  vnd  Eysenhofen  Ritter  vnd  doctor:  dem  durchleuchtigisten  vnd 
hochgeporneu  Curfiu-sten  vnd  lierren/  herren  Fridrichen  Hertzogen  zu 
Sachsen  ec'  meinem  gnedigisten  herrn/  zu  ern  geteutscht;  |  Schluss: 
Finis-:^^  |  Seitenüberschriften:  Die  Sprichwort  Senece/ |. 

Proben  aus  unserer  handschrift  hier  zu  geben,  halte  ich  nicht  für 
nötig,  da  das  von  Hartfelder  veröffentlichte  stück  aus  der  Verdeutschung 
der  Consolatio  ad  Marciam  vollständig  genügt,  um  die  art  und  weise 
der  Übersetzungen  Plieniugens  kennen  zu  lernen,  und  neue  züge  zu 
der  von  Hartfelder  in  seinem  programm  s.  7  und  8  und  in  der  „Zeit- 
schrift für  allg.  geschichte"  H,  677  fg.  1885  gegebenen  treffenden  Cha- 
rakteristik der  Übersetzertätigkeit  dieses  humanisten  sich  auch  aus  den 
vorliegenden  arbeiten,  die  ja  gleichzeitig  mit  den  früher  bekannten  ent- 
standen sind,  nicht  gewinnen  lassen. 

Dagegen  möchte  ich  noch  auf  eine  andere  leistuug  Plieningens 
aufmerksam  machen,  die  von  seinen  neueren  biographen  mit  stillschwei- 
gen übergangen  wird,  obgleich  gerade  sie  von  besonderem  Interesse  ist. 
Plieningen  gehört  nämlich  zu  den  ersten  deutschen  Schriftstellern,  die 
sich  um  die  einführung  einer  geregelten  Interpunktion  in  deutschen 
Schriften  verdient  gemacht  haben.  Alexander  Bieling  weist  in  seinem 
buche  „Das  princip  der  deutschen  Interpunktion  nebst  einer  übersicht- 
lichen darstellung  ihrer  geschichte"  (Berlin  1880)  nach,  wie  die  uot- 
wendigkeit  sorgfältig  zu  interpungieren  sich  bald  nach  der  ausbreitung 
der  buchdruckerkunst  eingestellt  hat,  und  wie  zuerst  Mklas  von  Wyle 
1462  und  Steinhöwel  1471,  dann  erst  viel  später  die  grammatiker  Kol- 
ross  1529  und  Ickelsamer  1531  feste  grundsätze  der  Interpunktion  auf- 
gestellt haben.  Die  äusserung  Plieningens  aber  ist  ihm  entgangen;  sie 
wird  auch  in  der  neuesten  arbeit  über  „Die  historische  entwickelung 
der  deutschen   Satzzeichen  und  redestriche"    von  0.  Glöde    (Zeitschrift     ^ 


HANDSCHRIFTEN   IN   DARMSTADT  23 

f.  d.  deutschen  Unterricht  8,  6  fgg.  Lpz.  1894)  nicht  erwähnt.  Daher 
lasse  ich  sie  liier  wortgetreu  folgen  nach  dem  der  Göttin ger  nniversitäts- 
bibliothek  gehörigen  exemplar  des  druckes:  Gay  Pliny  des  andern  lob- 
sagung  . . .  Durch  . .  Dietrichen  vonn  Pieningen  . . .  getheuscht.  Landß- 
hiit.  Johann  Weyssenburger.  1515.  Dez.  14.  Fol.i  In  der  „Yorrede" 
genanten  widmung  an  den  herzog  Wilhelm  von  Bayern,  die  1511  auf 
S.  Jörgen  tag  in  München  geschrieben  ist,  sagt  der  Verfasser  (Bl.  A  iiij 
verso):  Nun  hab  ich  gnediger  Fürst!  souil  mir  möglichen:  vnnd  (Bl. 
A  V  recto)  es  vnser  muterliche  sprach  erleiden  hat  mögen:  dy  arte  auch 
dy  natur  diser  lobsagung  die  Plinius  in  latin  gepraucht  hat:  mit  figu- 
ren  vnd  punctil  onuerändert  behalten:  vii  den  anhengig  pliben!  die 
wort  nit  leichtlichen  vmbrodt:  "Wollicher  auch  auff  die  punkte:  Auch 
auff  sich  selbs  jm  lösen  merckung  haben:  vnd  auf  ains  yeden  puncten/ 
aigenschafft  zw  pausiern  sich  fleissen  -will/  der  Avurdet  an  grosse  mue: 
die  verstantnus  pald  haben,  wo  nit:  so  mochte  einem  yeden  löser  nit 
allain  der  sententz  sonnder  auch  dy  wort  tunckl  vnd  onuerstendig  plei- 
ben.  dan  wie  Plinius  nichts  vberflissigs  im  latin  in  diser  seiner  lobsa- 
gung sonnder  allain  was  zur  nottorfft  vnnd  der  gezierde  gedint:  ge- 
praucht hat:  des  hab  ich  mich  meiner  verstentnus  nach  auff  dz  kur- 
tzest:  dz  auch  auf  die  selben  arten/  zu  teutsche!  auch  geflissen.  Ich 
mächte  auch  gedecken  mancher  löser  sein  Avürde:  Der  diser  od'  der 
gleichen  rode  der  lobsagüg  in  irn  naturn  nit  erkent!  oder  d'  puncto 
onwissenhaft:  were:  (daraus  doch  der  mangel  der  pronuctiation  vnd  der 
geperden  entsteen  mueste) :  der  wurde  mich  meiner  kurtz  halber  strouf- 
fen  wollen.  Den  pite  ich  aber:  Das  der  selbs  sich  fleiß  nach  den 
puncten  zw  lösen  /  So  wurdet  auff  hörn  sein  onverstäntnus  vnd  tunckel- 
hait  /  Die  puncten  habe  ich  auch  mit  einer  kurtz :  (Bl.  A  v  verso)  gleich 
nach  diser  Missiuen  vnnd  vor  des  püchs  anfanng:  wie  man:  nach  eins 
yeden  puncten  aigenschafft:  pausirn  solle:  endeckt  vn  angezaigt. 

Die  auseinandersetzung  über  die  Satzzeichen  lautet  dann:  (Bl.  B 
recto)  Cj  Ich  Dietrich  von  pieningen  hab  in  meiner  vorröde  verspro- 
chen Natur  der  puncten  in  einer  kurtz :  vor  anfanng  der  lobsagung  an 
zuzaigen  das  thun  ich  also  / 

1)  In  der  Schlussschrift  Weyssenbui'gers  heisst  es:  „jm  durch  herm  Dietrichen 
von  pieningen  zu  gelassen  sub  priuilegio  jruperiali:  mit  grossen  penen  verpunde  das 
nyemauts  dises  Buch  jn  acht  Jarn  nach  trucke  soll."  Aus  diesen  werten  dürfen  wir 
vielleicht,  zumal  da  Plieningen  1515  in  Landshut  ansässig  war,  schHessen,  dass  der 
Verfasser  auch  den  druck  überwacht  hat,  der  uns  dann  in  der  von  ihm  beabsichtigten 
form  vorläge. 


24  A.  scnmDT 

Cj  Aiu  punct:  ist  ain  zaiclie  das  do!  oder  durch  figur  oder  sein 
verziechen:  die  clausel  zertailt!  die  sty^"  vnderschait:  das  gemuet  wid' 
erkuckt,  vnnd  verlast  aiu  zeit  den  gedencken.  das  geschieht  oder 
durch  Verzug  des  ausprechens  vnud  der  zeit!  oder  durch  zaichen  der 
feder.  Wollicher  puncten  ainer  des  andern  zaichen  ist.  Dan  Avan  der 
durch  die  feder  gerecht  formirt:  so  zaigt  er  dem  loser:  an  de  wege: 
aus  zu  sprechen  vn  verstentliche  zu  losen,  vnd  domit  thüt  er  aus 
trucken  vn  ein  pilden  im  selbs  vnd  den  zuhorern  dy  begirlichen  vn 
rechte  verstendnus  der  worter  vnd  der  Oration.  Es  sind  auch  man- 
cherlay  figurn  der  puncten  die  dan  dy  versamelten  worter:  von  recht 
erfordern  thünd.  domit  die  begirde  des  rodners  vn  seiner  sententz  zu 
bedeuten  Nämlichen  tbund  dy  latinische  sechserlay  puncten  sich  ge- 
prauche.'  Ainer  halst  virgula  /  Der  ander  Coma!  Der  dryt  Colum: 
der  fierdt  Interrogatio  /  ain  fragender  punct  ^  Der  funfft  parentesis: 
vnnd  der  letzst  periodus; 

Virgula:  ist  ain  hangende  lini  gegen  der  rechten  handt  sich  auf- 
richten /  die  man  ordenliche  thüt  setzen  nach  Worten  die  do  noch  vol- 
bekomenhait  der  bedewtuus  oder  worter  in  mangi  stende; 

(Bl.  B  verso)  Coma.  ist  ain  punct  mit  ainem  virgelein  obe  erhebt! 
gleicherweis  wie  die  erst  virgel:  also!  wirt  geschicklichen  gesatzt  nach 
wortern  die  do  ain  volkomen  bedeutnus  band  das  man  haist  ein  zer- 
tailung.  vü  wie  wol  das  der  zimlichen:  nach  volkomender  bedeutnus 
vnnd  werten  gesatzt:  so  bezaichet  er  doch  das  man  der  rode  so  ain 
namen  ainer  clausel  behalten  noch  was  nit  ongehörlichs  zufuegen  möge; 

Colum.  ist  ain  punct  mit  zwayen  tüpflen  also:  Wirt  schier  gleich 
mit  ainer  weniger  mere  auffhaltung  der  zeit  dann  Coma  gepraiicht  aber 
auch:  noch  so  mag  was  zierlichs  angehenckt  werden; 

Interrogatio.  ain  frageder  punct  ist  ain  püct  mit  ainem  virguli 
herumb  gekrompt  also? 

Parentesis.  diso  puncten  prauchent  die  latinischen  so  sy  in  einer 
noch  onuolendter  angefangner  clausein  eingeworffne  worter  vnder  schai- 
den  wollend,     das  thünd  sy  mit  zwayen  halben  zirckel  also  (2c.) 

Periodus.  ist  ain  punct  mit  einer  virgel  vnden  angegenckt  also  ; 
wurd  gepraucht  am  ende  ains  gantzen  sententzien. 

Das  sind  die  puncto  domit  man  die  clausein  thüt  vnderschaiden 
vnd  so  duYirgulam  in  deiner  aussprechung  recht  bedeuten  wilt:  bedarff 
der  in  der  pronunction  vn  der  zeit  ainer  ganntzen  kurtzer  auff  hal- 
tung  /  Coma  ainer  klainer  zeit  mere  Parentesis :  ainer  hupffend'  auspre- 
chung.  Der  frogend:  erfordert  seins  selbs  geperde  /  Periodus.  ains 
guete  erholten  Autemps/das  ist  mein  vnderricht; 


HANDSCHRIFTEN   IN   DARMSTADT  25 

Um  Plieningens  bestrebmigen  auf  dem  gebiete  der  interpunktion 
würdigen  zu  können,  müssen  wir  uns  daran  erinnern,  dass  die  bemü- 
hnngen  seiner  Vorgänger  Niklas  von  Wyle  und  Steinliöwel  ziemlich 
Avirkungslos  geblieben  waren.  In  den  beiden  ersten  Jahrzehnten  des 
16.  Jahrhunderts  finden  wir  in  den  meisten  druckwerken  nur  strich 
und  punkt  ziemlich  willkürlich  gebraucht  oder  mich  gar  keine  Satz- 
zeichen. Dass  er  diesen  übelstand  erkannte  und,  als  humanist  natür- 
lich im  anschluss  an  die  lateinischen  Vorbilder,  zu  beseitigen  suchte, 
zeigt  uns  den  schwäbischen  ritter  als  einen  denkenden  und  dabei  prak- 
tischen mann.  Namentlich  die  allgemeinen  sätze  zu  anfang  und  in  der 
vorrede  lassen  erkennen,  dass  er  sehr  wohl  wusste,  wie  notwendig  imd 
wertvoll  die  interpunktion  für  das  Verständnis  der  Schriften  ist.  Sein 
System  ist  reicher  gestaltet  als  das  des  Niklas  von  Wyle  und  Stein- 
höwels,  die  beide  zwischen  virgula  und  punkt  nur  ein  Satzzeichen  haben, 
wofür  jener  den  doppelpunkt:  (Bieling  s.  70),  dieser  unser  ausrufimgs- 
zeichen!  (D.  L.  Z.  2,  1231)  wählt,  während  Plieningen  noch  zwischen 
Coma!  und  Colum:  unterscheidet.  Auffallend  ist,  dass  er  in  seiner 
auseinandersetzung  neben  periodus  ;  den  einfachen  punkt .  nicht  erwähnt, 
der  in  dem  druckwerke  selbst  ungemein '  häufig  vorkommt,  während 
jenes  unserem  Semikolon  gleich  geformte  zeichen  sich  fast  nur  vor 
grösseren  absätzen  findet.  Dies  führt  uns  auf  die  frage,  wie  sich  über- 
haupt die  anwendung  seiner  regeln  in  dem  druckwerke  gestaltet.  Es 
war,  wie  es  scheint,  auch  in  diesem  falle  leichter  die  regeln  aufzustel- 
len, als  sie  immer  genau  zu  beobachten;  denn  an  vielen  stellen,  wo 
Plieningen  unbedingt  ein  zeichen  hätte  setzen  müssen,  fehlt  es,  an 
anderen,  wo  man  mit  dem  besten  willen  beim  lesen  keine  pause  ma- 
chen kann,  steht  es  überflüssiger  weise.  Auch  mit  der  wähl  der  ein- 
zelnen zeichen  können  wir  uns  nicht  immer  einverstanden  erklären. 
Für  jeden  dieser  lalle  hier  nur  ein  beispiel,  die  ich  den  oben  mitgeteil- 
ten Sätzen  entnehme.  Ein  notwendiges  zeichen  fehlt  zwischen  „zu 
bedeuten"  und  „Nämlichen"  (s.  24  z.  12),  ein  überflüssiges  steht  zwi- 
schen „on wissenhaft"  und  „were"  (s.  23  z.  23),  falsch  gewählt  ist  die 
vii'gula  statt  des  punktes  zwischen  „tunckelhait"  und  „Die  puncten" 
(s.  23  z.  27).  Allerdings  wissen  wir  ja  nicht,  was  hierbei  auf  rech- 
nung  des  ^Verfassers,  was  auf  die  des  druckers  kommt,  da  die  an- 
nähme, Plieningen  habe  die  drucklegung  selbst  überwacht,  immerhin 
nur  eine,  wenn  auch  begründete  Vermutung  ist. 

Sehr  sorgfältig  interpungiert  ist  unsere  Senecahandschrift;  ein 
umstand,  der  die  annähme,  dass  uns  eine  auf  Plieningens  veranlassung 
angefertigte  abschrift  vorliege,    zu  bestätigen  geeignet  ist.     Dass  Hart- 


26  A.    SCHMIDT 

felder  in  dem  längeren  aus  der  Consolatio  ad  Marciam  in  seinem  Pro- 
gramm abgedruckten  stück  die  Satzzeichen  des  Originals  durch  seine 
eigenen  ersetzt  hat,  ist  recht  schade. 

Interessant  ist  es,  die  erste  zu  Landshut  1515  gedruckte  ausgäbe 
der  Lobsagung  mit  einem  trotz  den  in  dem  kaiserlichen  privileg  ange- 
drohten „grossen  penen"  schon  fünf  jähre  später  veranstalteten  nach- 
druck  (GAy  Plinij  des  Andern  Lobsagung:  ...  Durch  ..  Dietrichen  vö 
Pleninge  ...  geteütscht.  o.  0.  1520.  Juli  18.  Fol),  von  dem  die  Darm- 
städter hofbibliothek  ein  exemplar  besitzt,  zu  vergleichen.  Der  unge- 
nannte nachdrucker  (es  ist  der  druckermarke  nach  Martin  Flach  der 
jüngere  in  Strassburg)  gibt  Plieningens  interpunktionsregeln  getreulich 
wider,  aber  er  kehrt  sich  seinerseits  durchaus  nicht  an  die  Satzzeichen 
des  Originals.  Manche  fehler  hat  er  verbessert,  z.  b.  zwischen  „zu  be- 
deuten" und  „Nämlichen"  (s.  24  z.  12)  setzt  er  richtig  einen  punkt,  zwi- 
schen „onwissenhaft"  vnd  „were"  (s.  23  z.  23)  tilgt  er  das  überflüssige 
kolon:,  in  der  aufzählung  der  Satzzeichen  (s.  24  z.  14)  heisst  es  bei  ihm 
richtiger:  Der  fünfft  Parentesis  (.  Im  allgemeinen  aber  hat  er  das  bestre- 
ben Plieningens  interpunktion  zu  vereinfachen,  indem  er  meist  statt; 
(periodus)  den  punkt  allein,  statt  coma !  und  colon :  die  virgula  /  setzt, 
ohne  aber  die  drei  andern  zeichen  ganz  aufzugeben.  Ein  rechtes  prin- 
cip  der  interpunktion  fehlt  ihm,  vielmehr  scheint  er  schon  auf  dem 
Standpunkt  zu  stehen,  den  später  Ickelsamer  mit  den  werten  ausspricht: 
Es  leyt  auch  so  vhast  nit  daran  wie  die  zaichen  sein  /  Aveü  allain  die 
reden    vnnd  ire  tail  recht  damit  getailt  vnd  vnterschaiden  werden. 

IL 

Heinrich  Miiiisiiigers  Ibiicli  von  den  Mken,  lialbiclitcn ,  sperhern 

und  liundcn. 

Die  für  die  geschichte  der  mittelalterlichen  beizjagd  hoch  interes- 
sante Schrift  Munsingers  wurde  zuerst  1863  unter  dem  titel:  „Hein- 
rich Mynsinger.  Von  den  Falken,  Pferden  und  Hunden"  als  bd.  LXXI 
der  „Bibliothek  des  litterarischen  Vereins  in  Stuttgart"  von  K.  D.  Hass- 
ler nach  einer  in  seinem  besitz  befindlichen,  1473  von  Clara  Hätzlerin 
in  Augspurg  geschriebenen  handschrift  veröffentlicht.  Eine  zweite 
„noch  dem  15.  Jahrhundert  angehörende"  handschrift  der  reichsgräflich 
Nostizischen  bibliothek  zu  Lobris  bei  Jauer  beschrieb  Heinrich  Meisner 
1880  in  der  „Zeitschr.  f.  d.  phil.."  XI,  480  —  482.  Die  grossherzogl. 
hofbibliothek  besitzt  eine  dritte  abschrift,  die  deshalb  eine  genauere 
beschreibung  verdient,  weil  sie  nicht  nur  die  älteste  bis  jetzt  bekannte 


HANDSCHRIFTEN   IN   DARMSTADT  27 

ist,  sondern  auch  das  werkchen  in  einer  augenscheinlich  älteren  fassung 
bietet. 

Die  in  mit  rotgefärbtem  leder  überzogene  holzdeckel  gebundene 
papierhandschrift  nr.  448  in  4*'  ist  21  cm.  und  14,5  cm.  breit  und  be- 
steht aus  120  blättern,  die  vom  rubrikator  mit  den  blattzahlen  qj  — 
q  CXX.  versehen  sind.  Die  Signaturen  a  ^  — k  g  rechts  unten  in  den 
ecken  geben  die  reihenfolge  der  blätter  an,  während  die  der  aus  je  6 
doppelblättern  gebildeten  10  lagen  durch  die  als  kustoden  auf  der  letz- 
ten Seite  jeder  läge  unten  stehenden  anfangsworte  der  folgenden  läge 
geregelt  wird.  Die  volle  seite  enthält  24  zeilen,  die  mit  schöner  und 
sorgfältiger  deutscher  schrift  beschrieben  sind.  Überschriften  und  blatt- 
zahlen sind  rot,  einzelne  buclistaben  und  worte  im  texte  rot  durch- 
gestrichen oder  unterstrichen,  die  einfachen  kunstlosen  initialen,  für 
die  der  Schreiber  dem  rubrikator  kleine  schwarze  buchstaben  an  den 
rand  gesetzt  hat,  sind  rot  oder  schwarz  mit  roten  Verzierungen. 

Der  Inhalt  der  handschrift  (D.)  ist  folgender:  Auf  blatt  la  begint 
ohne  jede  Überschrift  die  widmung,  die  ich  hier  vollständig  abdrucke, 
da  sie  mit  der  Hasslerschen  handschrift  (H)  und  der  Lobriser  (L)  nicht 
ganz  übereinstimmt.  Die  nur  selten  vorkommenden  abkürzungen  löse 
ich  auf,  die  fehlende  Interpunktion  (in  der  hdschr.  finden  sich  nur 
wenige  striche  und  punkte)  füge  ich  bei. 

HOchgeborner,  gnediger,  lieber  herre:  Als  vwer  gnade  die 
von  angeborner  arte  zu  adelichen  dingen  vnd  zu  allem  dem,  das 
den  adell  geczieren  magk,  furtrefi'liclien  geneyget  ist,  zu  den  zcijten, 
als  ich  zcum  lösten  zu  weybelingen  bij  derselben  vwer  gnade  gewe- 
sen bin,  mir  geboten  halt  zu  dutschtem  vnd  jnn  dutsch  zu  beschriben 
Solichs,  das  die  Philosophi  vnd  meistere  von  der  natuer  der  falcken, 
der  hebich,  der  Sperber  Ynd  darczu  auch  von  der  natuer  der  hunde 
jn  latine  beschrieben  haut,  Ynd  domit  auch  waz  sie  von  derselben  jre 
nature  geschrieben  haut,  als  die  yczu  jn  gebresten  vnd  suchte  gefallen 
ist,  wie  man  die  mit  arczenye  zu  gesuutheit  (bl.  Ib)  widderbriugen 
solle:  Also  gnediger,  lieber  herre  nach  dem  vnd  es  billich  ist,  das  ich 
nach  allem  mynem  vermögen  derselben  vwere  gnaden  jn  den  vnd  jn 
andern  Sachen  jtzunt  vnd  zu  allen  zcijten  gehorsame  vnd  willig  sij.  So 
hau  ich  hie  jn  diesem  buche  nach  begrifflichkeit  myner  synne  vnd 
nach  vermogunge  myner  vernunfft  mit  der  hulff  gotis  volnbracht  solichs, 
das  mir  vwere  gnade  also  jn  den  obgeschrieben  stucken  zu  thunde 
geboten  halt,  mit  solicher  ordenunge  vnd  wijse,  das  ich  daz  Buche 
jnn  dru  teyle  geteylet  han.  Vnd  das  erste  teyle  diß  buchs  saget  von 
den  falcken,  Das  ander  von  den  hebichen  vnd  von  Sperbern,  Vnd  das 


28  A.    SCHMIDT 

dritteyle  saget  von  den  hunden.  Vud  ein  jglich  teyle  halt  sin  vnder- 
sclicydt  vnd  Cappitel  (bl.  2  a)  nach  dem  vnd  man  sie  nacheinander 
ordinglichen  geczeichent  findet.  Vnd  vor  dem  anfangt  eins  jglichen 
vnderscheidt  vnd  Cappitel,  so  findet  man  mit  roter  schrifft  geschrieben, 
wo  von  die  redde  des  Cappitels  vnd  vnderscheidt  saget,  als  es  auch 
liio  jn  diesem  register  hirnachgeschrieben  geschrieben  stett. 

Auf  bl.  2  a  9  —  9  b  3  folgt  nun  das  register  über  die  drei  teile  des 
ganzen  werks.  "Während  in  H.  die  register  und  zwar  nur  über  die 
hauptkapitel  vor  den  einzelnen  teilen  stehen,  sind  sie  hier  zu  einem 
gesamtregister  vereinigt  und  enthalten  neben  den  kapitelüberschriften 
auch  sämmtliche  rubriken  mit  angäbe  der  blätter,  wo  die  betreffenden 
abschnitte  zu  finden  sind. 

Bl.  10  a — 117  a  1  geben  den  text  der  drei  bücher.  Der  erste  teil 
begint  ohne  hauptüberschrift  mit:  „Das  erste  Capitel  das  saget,  wie  die 
falcken  vnd  die  hebiche  vnd  auch  die  Sperbere  nit  eynes  geslechtes 
sint"  und  schliesst  bl.  61b  13  mit:  „Vnd  domit  halt  ein  ende  diß  erste 
teile  diß  ßuchs  daz  da  saget  von  den  falcken."  Es  schliesst  sich  un- 
mittelbar die  Überschrift  des  zweiten  teiles  an:  „Das  ander  teyle  diß 
Buchs  ist  das  da  saget  von  den  hebichen  vnd  von  den  Sperbern"  etc. 
Ende  bl.  103a  9:  „Vnd  domit  hait  das  anderteyle  diß  buchs  ein  ende, 
das  da  saget  von  den  hebichen  vnd  den  Sperbern."  Der  dritte  teil 
beginnt  bl.  103a  10:  „Das  dritte  vnd  leste  teyl  diß  buch  jst  daz  da 
Sagett  von  den  hunden  vnd  ist  geteylt  jnn  dru  Capitel"  etc.  und  endet 
bl.  117a  1:  „Vnd  domit  hait  auch  ein  ende  dritteteyl  diß  buchs  vnd 
domit  daz  gantz  buche,  das  gemacht  hait  Meister  heinrich  Munsinger, 
Doctor  jnn  Arczenij  2c'.  dem  woilgebornen  herren  Ludewigk  Grauen  zu 
Wirtenbergk  2c'. 

Der  Schreiber  fügte  dann  noch  zu:  Deo  gracias  (rot.) 
Also  hait  diß  buch  ein  ende, 
Got  wolle  vns  von  sunden  wende. 
Lobe  vnd  ere  sij  got  geseyt 
Vnd  marien  der  reynen  meyt. 
Anno   domini  millesimo   quadrin-  |  gentesimo   Sexagesimo  |  sexta  post 
onuiium  sanctorum  (letzte  zeile  rot).     Johannes  glockener  zu  vrsel  2c', 
hait  I  diß  Bnchelin  geschrieben  | 
Die  schon  liniierten  und  foliierten  blätter  117b  —  120b  sind  leer. 

Über  die  früheren  besitzer  der  handschrift  gibt  sie  selbst  keine 
auskunft.  Wenn  das  einliegende  blatt  mit  einem  von  Daniel  Moser  in 
Göppingen  unterschriebenen  rezept  „Für  die  Vogelsucht"  von  einem 
der  eigentümer  stammt,  muss  sie  von  Ursel  in  die  heimat  des  Verfassers 


Handschriften  in  darmstadt  29 

zurückgo wandert  sein.  Von  dort  brachte  sie  wol  der  Hessen -Darmstäd- 
tische leibmedicus  und  professor  in  Giessen  Johann  Daniel  Horst  (iG16  — 
1685,  vgl.  Strieder  YI,  195  fgg.),  der  in  Tübingen  promoviert,  hatte, 
lind  dem  sie  nach  dem  Jiing'schen  kataloge  der  Darmstädter  bibliothek 
von  1717  s.  398  vormals  zugehört  hatte,  nach  Darmstadt.  Zu  ende  des 
17.  Jahrhunderts  wird  sie  bereits  in  dem  ältesten  erhaltenen  handschrif- 
tonkatalog  der  landgräflichen  bibliothek  als  deren  eigentum  aufgeführt. 

Aus  der  obigen  beschreibung  der  handschrift  D  ergibt  sich,  dass 
Munsingers  schrift  in  ihr  aus  drei  teilen  besteht,  während  in  H.  und 
L.  zwischen  dem  zweiten  und  dritten  teile  ein  weiterer  abschnitt  „von 
den  pferden"  eingefügt  ist,  so  dass  hier  die  hunde  im  vierten  teil 
behandelt  werden.  In  den  allen  handschrifteii  angehörigen  drei  teilen 
ist  der  text  in  D.  und  H.  ziemlich  der  gleiche,  nur  bietet  D.  fast 
durchweg  bessere  Jesarten,  die  manche  dunkle  stelle  in  Hasslers  abdruck 
zu  erhellen  vermögen.  Da  voraussichtlich  die  schrift  nicht  so  bald  mit 
benutzung  aller  handschriften  herausgegeben  werden  dürfte,  lasse  ich 
hier  die  hauptabweichungen  der  handschrift  D.  von  H.  folgen,  soweit 
sie  zur  erklärung  des  textes  etwas  beitragen. 

Seite  2,  28  des  Hassler'schen  textes  ist  davon  die  rede,  „das  das 
geschlächt  der  häbich  vierlay  sey",  es  werden  aber  nur  drei  arten 
genannt.  In  D  heisst  die  stelle  bl.  10  a  13:  Vnd  also  vnder  dem  namen 
falcken  begrieffen  sie  beyde  die  hebich  vnd  die  Sperbere  vnd  fürbaß 
vnder  dem  namen  habiche  begrieffen  sie  den  Sperbere,  wann  sie  spre- 
chen, das  das  gesiecht  der  habiche  vierley  sij.  Das  erste  heißent  sie 
den  großen  babich,  vnd  das  ander,  das  darnach  großer  ist,  heißent  sie 
Tritzelin,  Das  dritte  heißent  sie  Sperber,  Das  vierte  heißent  sie  muscer. 
Statt  „muscer"  hat  H.  immer  „mustet",  ein  wort,  das  nach  Lexer  I, 
2258  nur  bei  Munsinger  vorkommt  und  von  Lexer  =  müs-toet?  gesezt 
wird.  Albertus  Magnus,  Munsingers  quelle,  hat  „muscetus"  (=  frz. 
mouchet).  In  Munsingers  original  stand  wol  muscet,  und  beide  abschrei- 
ber  haben  das  ihnen  unverständliche  wort  falsch  widergegeben.  Ein 
späterer  Übersetzer,  Walther  Kyff  (Thierbuch.  Alberti  Magni.  Franck- 
fort.  1545)  übersetzt  dieses  wort  mit  „Wanneber'',  wozu  Lexer  III,  682 
wannen -wehe  und  Diefenbach-Wülcker,  Hoch-  u.  ndd.  Wörterbuch 
s.  894  wannen -weher  zu  vergleichen  sind. 

2,  2  V.  u.  muss  es  statt  „allem  widerm  vederspil"  heissen  „an- 
derm".  Derselbe  lesefehler  des  abschreibers  von  H.  oder  Hasslers  kommt 
öfter  vor,  so  s.  16,  22:  „So  fahen  sy  tauben  vnd  nit  vogel"  statt  „tau- 
ben vnd  antfogel". 

10,  4  st.  vermischet  lies  vermißt. 


A.   SCHMIDT 


13,  8  denn  —  haißens  1.  den  —  lieißent. 

13,  27  st.  der  Marck  1.  denmarckt  (=  Dänemark). 

18,  3  st.  als  sy  tünd  1.  als  man  nu. 

18,  18  st.  in  Clusen  1.  jnn  Küssen;  st.  in  S wenden  1.  jun  Swed- 
den  (Schweden). 

20,  13  st.  gewel,  die  man  vnderweilen  macht  von  vedern  vnd 
vnderweilen  von  pamöle  1.  geweile  die  man  ynderwylen  von  feddern 
macht  vnd  vnderwijlen  von  Baumwollen.  (Albertus  Magnus  lib.  23 
cap.  17:  purgatoria  quae  vulgariter  Germani  guel  vocant,  et  fiunt  ali- 
quando  de  pennis,  sed  melius  fiunt  de  bombace.) 

27,  13  1.  übereinstimmend  mit  dem  original  cap.  18:  gense  miste 
oder  tuben  miste  vnd  die  vber  Rinde  von  der  worczeln  des  baumes, 
den  man  nennet  Eiben,  vnd  wachssen  bij  dem  wasser,  Vnd  sal  man 
die  Rinden  sieden  jnn  wasßer  als  lange  biß  das  wasßer  dauon  Roit  wirt. 

27,  19  1.  So  sal  man  nemen  Roit  wachsß  vnd  muscaten  vnd  die 
fruchte,  die  zu  latein  heisßent  mirabolones  Citrini  vnd  koment  vber 
mere  here,  vnd  findet  man  sie  jnn  der  apoteken,  vnd  steyne  salcz, 
daz  man  auch  jn  der  appoteken  findet  vnd  heißet  zu  latin  Sal  gemma 
vnd  ist  glich  als  yse,  vnd  ein  harcz,  heißet  zu  latin  Gummi  arabicum, 
vnd  etwann  viel  korner  von  kern  (=  grana  tritici)  etc. 

28,  5  st.  vernychen  1.  vermischen. 

28,  25  st.  sincket  das  ayter  1.  smacket  dasselbe  eyter  vbel. 

30,  7  und  8  v.  u.  1.  wer  es  an  der  zcijt,  das  man  sieben  (st. 
flech)  funde.  So  mochte  man  vff  den  flecken  treuöfen  drij  droppen  von 
dem  sieben  safft  (st.  flehen).  (=  acacia  quae  sunt  pruna  spinarum  sil- 
vestrium.) 

31,  1  st.  schwarwoll  1.  scharewollen. 
31,  6  st.  zu  stund  1.  vff  zcwo  stunde. 

31,  23  st.  so  sol  man  nemen  von  der  Hawt  ains  rauchen  ygels 
1.  So  sal  man  nemen  von  der  hut  eyns  rohen  slijgen  (=  abstrahatur 
cruda  pellis  piscis  quae  tincha  vocatur,  quem  Germani  sligen  vocant). 

33,  21  1.  sprachen  segen,  wann  sie  des  morgens  den  falcken  vff 
die  band  namen;  dafür  fehlt  33,  23  so  haben  sy  die  gesegent,  das  der 
Schreiber  von  H.  zugesetzt  hat. 

34,  6  V.  u.  st.  der  Ar,  der  da  vich  faucht  1.  der  are,  der  da 
fische  facht. 

35,  10  st.  der  ze  vil  ist  1.  der  zu  vol  ist. 

35,  7  V.  u.  st.  die  herfliegen  1.  die  sie  erfliegent. 

36,  2  1.  VOrbaß  ist  zu  wijssen,  das  der  Sperber  nach  dem  latiu- 
schen  namen,  den  er  halt,  heißet  (st.  paißet)  begirig.     (Albertus  Magnus 


HANDSCHRIFTEN    IN    DAKMSTADT  31 

lib.  23  s.  194a  1  der  ausgäbe  Venetiis  1519  foL:  Nisus  ...  a  nisu  hoc 
est  conamine  prede  sie  vocatur.) 

43  zwischen  zeile  6  und  7  fehlt  in  H.  ein  ganzer  absatz:  Wann 
der  habich  luse  hait  2c'.  Saltu  also  vertriben:  Du  salt  nemen  wechhol- 
der  mit  Rinden  vnd  alle,  vnd  eynen  Rick  dem  habich  daruß  machon 
vnd  yne  darufi'  stellen,  vnd  yme  zcwo  ader  drij  mentschen  luse  an 
sinen  halß  lauffen  laßen,  vnd  so  der  habich  ein  zcijt  vff  dem  Rick  also 
gestanden  hait,  vergeen  die  luse  gantz  vnd  gar. 

47,  13  V.  u.  st.  sol  es  in  seinen  mund  nemen  1.  sal  wyne  jnn 
sinen  mundt  nemen. 

48,  22  hat  D.  richtig  vor,  nicht  von. 

48,  1  V.  u.  st.  mit  Eppfkrautt  fest  zesamen  vermischen  1.  mit 
Eppenkrut  safft. 

52,  7  1.  in  dem  kopff. 

52,  8  st.  solen  1.  vlen. 

53,  22  1.  Dann  wann  es  also  ist.  So  kan  er  vor  lenge  des  sna- 
bels  das  asß  nit  verslinden. 

55,  2  V.  u.  1.  Hait  das  federspielo  die  febres  vnd  viele  vnnatur- 
liche  hitze.  So  sal  man  yme  geben  das  safft  von  dem  krude,  das  man 
heisßet  buckeln  oder  Bijfusß  mit  hunerfleisch  zu  essen. 

56,  4  V.  u.  st.  gundelres  1.  Gundelrebe. 

57,  10  1.  als  die  Appteker  thunt,  so  etc.  st.  vnd  so. 

58,  5  V.  u.  1.  Darnach  sal  man  yne  stellen  vff  ein  dennen  oder 
Saigon  Stangen,  d.  h.  auf  eine  stange-  von  tannen-  oder  weidenholz. 
(Albertus  Magnus  lib.  23  cap.  23  super  lignuni  Salicis  aut  abietis  seni- 
per  sedeat.)  Hasslers  „Tennen  oder  felchen  Stangen"  gibt  ganz  fal- 
schen sinn. 

89,  22  1.  Ynd  wan  sie  wunt  sint,  so  ist  yre  zcunge  etc. 

90,  4  V.  u.  1.  jnnewendig  wole  suber  werden. 

91,  23  st.  damit  1.  vnd  nit. 
93,  1  V.  u.  st.  üiech  1.  flöhe. 

93,  3  V.  u.:  in  D.  steht  richtig  anderswo  hat. 

94,  1  V.  u.  st.  gerent  für  milich  1.  gereute  sure  milche  ==  geron- 
nene sauere  milch.  Statt  „gereute"  von  geronnen  (Lexer  I,  878),  das 
ihm  wol  nicht  verständlich  war,  setzte  der  abschreiber  von  D.  geremte, 
wobei  er  vielleicht  an  „abgerahmt"  dachte.  Albertus  Magnus  lib.  22 
bl.  175  a  hat:  lac  acidum  et  bene  commixtum. 

95,  24  1.  vnd  den  kopff  woil  schern  st.  beswarn.  (Albertus  Mag- 
nus lib.  22  bl.  176b:  caput  radatur  et  bene  depiletur.) 

nARMSTADT.  ADOLF    SCHMIDT. 


32  SPRENGER 

ZU  EEmKE  DE  VOS. 

3774.   Isegrim  sprach:  „ivat  scJwlde  dat  wesen, 

Dat  ik  nicht  scholde  lesen,  wat  yd  ock  sy? 

Ja,  dudesch,  tvalsch,  latin,  ok  franxoss  dar  by. 

Hcbbe  ick  doch  to  Er  fort  de  scliole  ylieholdenl 

Ock  hebbe  ick  myt  den  tvysen  olden 

Qiiestien  yhegeuen  unde  sentencien. 
scliole  holden  bezeichnet  jetzt  in  Niederdeiitschland  allgemein  die  tätig- 
keit  des  lehrers.     Da  aber  diese  bedeiitung  hier  nicht  in  den  Zusam- 
menhang zu  passen  scheint,  und  man  im  Reinaert  v.  4048  fg.  der  älte- 
ren ausgaben  liest: 

op   Westvalen  ende  Provin 

(liebbik)  geyaen  ter  hager  scolen, 
so  bemerkt  Lübben  in  seiner  ausgäbe  des  Reinke  Oldenburg  1867  in 
der  anmerkung  zu  v.  3778  auf  s.  258  (vgl.  auch  das  glossar  unter  Itol- 
den):  „(fe  schale  Jiolden  hier  vom  schüler  gesagt,  der  die  schule  be- 
sucht." Ihm  hat  sich  auch  Karl  Schröder  in  seiner  ausgäbe  (Leipzig 
1872)  angeschlossen,  indem  er  ausdrücklich  erkLärt:  schale  (gc)halden 
nicht  „schule  halten"  sondern  „die  schule  besuchen",  während  in  Fr. 
Prions  ausgäbe  (Halle  1887)  die  stelle  unerörtert  blieb.  Auch  im  Mnd. 
wb.  bd.  4,  s.  111  wird  v.  3778  ähnlich  erklärt  durch:  „habe  ich  mei- 
nen Unterricht  empfangen   =  studiert." 

Nun  liest  aber  E.  Martin  in  seiner  ausgäbe  des  Reinaert,  Pader- 
born 1874,  s.  217  V.  4038  fg.: 

Op  Westvalen  ende  te  Pravijn^ 

hebbe  ic  die  Scalen  gehouden. 
Da  also  der  niederdeutsche  text  sich  auch  an  dieser  stelle  als  genaue 
Übersetzung  des  niederdeutschen  erweist,  und  da  jeder  nachweis  fehlt, 
dass  das  mnl.  scole  lioiiden  wie  das  mnd.  scliole  holden  in  anderer  als 
der  jetzigen  bedeutung  vorkommt,  so  sind  wir  genötigt,  uns  nach  einer 
anderen  erklärung  des  ausdrucks  umzusehen.  Nach  meiner  meinung 
heisst  de  schale  holden  auch  hier  nichts  anderes  als  „schule  halten" 
und  erklärt  sich  aus  dem  damaligen  studiengauge  der  Universitäten. 
Diese  teilten  sich  bekanntlich  in  die  vier  fakul täten  der  theologie,  Juris- 
prudenz, medicin  und  der  „freien  künste".  Die  artistenfakultät  war 
den  anderen   untergeordnet  und   vertrat  die  stelle  unserer  gymnasien: 

1)  Martin  vermutet  einl.  s.  XXU  mit  recht  eine  entstelhing  dieses  verses  und 
möchte  lesen:  te  Westvalen  op  d'Erfortijn.  In  der  Delffter  prosa  heisst  es:  ie  hebbe 
terffortden  ter  scolen  ghegaen. 


zu   EEINKE   DB   VOS  33 

unter  der  leitiing  eines  magisters  hatte  der  scholar  zunächst  hier  einen 
lehrgang  durchzumachen;  dann  wurde  er  baccalaureus  und  hatte  als 
solcher  weiter  zu  studieren,  zugleich  aber  sich  selbst  lehrend  zu 
versuchen  (vgl.  F.  Kurze,  Deutsche  geschieh te  im  mittelalter.  Stutt- 
gart, Göschen  1894  s.  178).  Da  aber  die  erlangung  der  magisterwürde, 
welche  an  diese  Vorbedingungen  geknüpft  war,  von  einem  jeden  gefor- 
dert wurde,  der  in  eine  der  höheren  fakultäten  eintreten  wollte,  so 
geht  daraus  hervor,  dass  Reinke,  der  es  nach  v.  3781  zum  licentiaten 
der  rechte  gebracht  hat,  auch  selbst  lehrend  aufgetreten  sein  muss.  Es 
scheint  aber  durchaus  angemessen,  wenn  Reinke  seine  Sprachkenntnis 
dui'ch  die  bemerkung  zu  erweisen  sucht,  dass  er  in  Erfurt  die  würde 
eines  magisters  der  freien  künste  erlangt  habe. 

NORTHEIM.  R.    SPRENGER. 


MITTEILUNGEN   AUS   MITTELHOCHDEUTSCHEN 
HANDSCHEIFTEN. 

Im  nachlasse  des  am  12.  juni  1812  an  der  landesbibliothek  zu 
Wiesbaden  angestellten,  am  4.  december  1817  entlassenen  und  am 
9.  Oktober  1858  zu  Endenich  bei  Bonn  gestorbenen  dr.  Helferich 
Bernhard  Hundeshagen  finden  sich  die  nachstehenden  stücke  1 — 4 
in  säubern  abschriften  vor,  die  derselbe  wol  herausgeben  oder  jeman- 
den mitteilen  wolte.  Da  Hiindeshagen  1817  nach  Bonn  zog  und  gänz- 
lich herabkam,  unterblieb  diese  absieht. 

1.   Liebesbrief  ^ 

Vil  liber  brif,  nun  var  mit  heil, 
Du  gewinnest  aller  seiden  teil. 
Als  ich  dich  bescheiden     kan. 
Dich  sieht  mein  frouwe  selber  an. 
5  Daz  were  [ist]  dir  ein  groze  er. 
Dir  widervert  noch  eren  mer. 
Darumb  sei  [Davon  bis]  fro,  daz  ich  dich  sende, 
Sie  beut  nach  dir  ir  weissen  [weisse]  hende. 

1)  Dieses  interessante  stück  ist  nach  einer  aus  Regensburg  durch  v.  Gemeiner 
mitgeteilten  handschrift  (original?)  abgedruckt  im  Morgenblatt  für  gebildete  stände 
1815  nr.  167;  vgl.  Zeitschrift  f.  d.  alt.  36,  358.  Der  ältere  druck  enthält  zahlreiche 
abweichungen  von  dem  hier  durch  Roth  gebotenen  texte,  die  ich  —  soweit  sie  ganze 
woi-te  betreffen  —  in  klammern  oder  unter  dem  texte  hinzufüge.  o.  e. 

ZEITSCHEIFT   F.    DEUTSCHE   PHILOLOGIE.     BD.  XXVM.  3 


34  ROTH 

Dir  mag-  noch  mer  werden  kimt, 
10  Si  list  dich  mit  irem  roten  mund. 

Daz  wolte  got,  daz  selbes  [halb  es]  mir 

Mocht  wider  varn,  waz  man  dir 

Grozer  ere  dort  enbeut  [erbeut]! 

Wie  selig  wer  mir  solche  zeit! 
15  So  var  nun  hin,  du  verst  mit  ere, 

Und  grnzze  mir  die  minnigliche  here, 

Gruz  mir  iren  rosen  varben  mund, 

Gruz  sie  von  mir  zu  tausend  stund, 

Gruz  mir  ir  wenglein  rosen  var, 
20  Graz  mir  ir  spilden  auglein  klar, 

Gruz  mir  ir  helslein  hermelnweiss  [harminweiss], 

Gruz  die  übe  mir  mit  fleisz, 

Gruz  mir  ir  herz  und  iren  sinn  [ire  sinne], 

Gruz  mir  meines  herzens  konigin  [königinnej, 
25  Gruz  mir  ir  danch  und  iren  mut, 

Gruz  mir  die  herzens  frouwe  gut. 

Gruz  mir  sie,  der  ich  gutes  gan, 

Gruz  sie  von  mir  eilendem  man, 

Und  sag  ir  meinen  dienst  von  herzen  gar, 
30  Sie  möge  [Ich  lass  sie]  wissen  offenbar. 

Wie  ich  getracht  hab  lange  stund, 

Dass  [Wo]  ich  ein  frouwe  finden  kunt. 

So  [Die]  minnigliche  wer  gestalt. 

Mit  züchten  fro,  zu  rechte  bald. 
35  Der  wolte  ich  mich  eigen  geben. 

Mein  leib  und  mein  leben. 

Ich  bin  fro,  ich  hab  gefunden, 

Wan  ich  bey  meinen  stunden 

So  trautes  [liebes]  lib  noch  nie  gesach  [nie  ich  sach]. 
40  Euer  äuge  in  mein  herze  brach. 

Da  ich  zuerst  euch  erblickte  [an  erblickte], 

Vor  vrouden  ich  erschrickte, 

Ich  dachte,  daz  solde  sie  [die]  sein. 

Die  mir  so  [mir  die]  senecliche  pein 
45  Keren  [Wenden]  sol,  die  ich  getragen 

35  —  37:    Der  wolte  ich  füi'  eigen  geben     Beide   leib  und  leben     Nun  wol  ich 
hab  euch  funden 


I 


MITTKILUNGEN    AUS    MHD.    HANDSCHRIFTEN  35 

So  [Hab]  lange  her  bey  meinen  tagen. 
Ir  seid  [seit's]  ein  engel  an  gemüte, 
Und  eine  turteltaub  an  gute, 

Der  tugend  [Und  seid  der  tugend  ein]  blühender  stam; 
50  Gepreist  sei  [Des  ist  gepreist]  euer  edler  nam! 

Ir  seid  gebild  von  gotes  banden, 

An  euch  ist  kein  fei  vorhanden. 

Ach  herzens  liebste  [herze  liebe]  frouwe  mein, 

Nu  lazzet  an  mir  werden  schein, 
55  Daz  euch  die  werlt  des  besten  gicht, 

Ich  hab  kein  ander  [doch  andre]  hofnung  nicht, 

Als  die  ich  gen  euch  frouwe  [froue  gen  euch]  han. 

Des  solt  ir  mich  geniezen  lan. 

In  meinem  herzen  seid  ir  verslossen, 
60  Dar  inne  seid  ir  gar  vervlossen, 

Darin  must  ir  gehauset  sein 

Nu  bis   [Nun  stets  bis]  an  daz  ende  mein. 

Ob  euer  gute  mir  heiles  gan. 

So  helfet  [ratet]  mir  eilendem  man, 
65  "Wo  ich  euch  [Wo  die]  heimlich  mög  ergan, 

Daz  ich  euch  frouwe  wol  getan 

Kan  sprechen,  als  ich  willen  han 

Und  doch  on  allen  valschen  wan. 

Nu  lieber  brif,  bis  mir  [mir  ein]  guter  bot, 
70  Damit  verleih  der  liebe  got, 

Dazu  alles  himelische  her, 

Daz  sie  sich  üblich  gen  mir  ker. 
Amen. 

3.  Vom  mönch  Felix  ^ 

Ein  heyliger  mönch  einest  was, 
Der  gerne  von  got  las, 
Was  er  geschriben  fand. 
Der  was  Felix  genant. 

52  Dess  seid  ir  gar  on  allen  wandel 

1)  Jüngere,  gekürzte  bearbeitang  der  bei  Hagen  Gesammtabenteuer  III,  613  — 
623  abgedruckten  legende;  andere  Fassungen  bei  Grimm,  Altdeutsche  wälder  II,  70. 
Zeitschr.  f.  d.  a.  V,  433.  Pfeiffer,  Germania  IX,  260.  Vgl.  Wackernagel,  Litt.-gesch. 
I^,  214.  Gering,  Islendzk  a^ventyri  II,  120  — 122.  Zu  den  dort  erwähnten  moder- 
nen behandlungen  des  Stoffes  ist  nachzutragen:  Elise  Polko,  Neue  novelleu,  6.  folge 
(Leipzig  1866)  s.  277  fgg.  red. 

3* 


36  BOTE 

5  Des  morndes  ging  er 

Mit  einem  buch  aus  dem  münster, 
Alda  er  zu  lesen  began 
Und  traf  diese  stelle  an, 
Dass  in  dem  himel  were 
10  Stets  freud  one  schwere 
Ewiglich  one  ende. 
Bejde  äugen  und  hende 
Erhob  er  zu  dem  herrn: 
0  got,  ich  glaubte  das  gern, 
15  Was  diss  buch  mir  spricht, 
Doch  ich  begreife  es  nicht. 
Da  kam  ein  vogelein, 
Das  war  gar  merklich  cleyn. 
Doch  tat  es  so  minniglichen  sang, 
20  Dass  der  mönch  aufsprang. 
Und  das  buch  verschloss. 
Sein  freud  die  war  gross. 

Im  ward  noch  nyemals  so  wol, 
Sein  herze  war  freuden  voll. 
25  Das  Beste,  so  im  gescheen  was. 

Das  hoechst,  so  er  an  büchern  las 

Dunckte  im  kein  freud  zu  sein 

Als  der  gesang  des  vögeleyn. 

Wer  es  hörte  singen, 
30  Dem  wars  wie  Harfen  klingen. 

Alle  tone  waren  nit  so  süsse 

Wie  dieser  Tone  grusse. 

Dem  heilig  mann 

Nun  in  sinnen  kam, 
35  Dass  er  mögt  das  voglein  fangen, 

Da  flog  dasselb  von  danneu. 

Er  sprach:  Eya,  lib  vögeleyn 

Du  hast  erfreut  das  herze  meyn. 

Mir  dauchte  gleich 
40  Ich  war  im  hymelreich. 

Deiner  stimme  klang 

Ist  über  allem  menschlichen  gesang. 

Ze  band  eine  glock  erklang, 

Ze  läutende  den  mittag  gang. 


i 


MITTEILIjyGEN    AUS    MHD.    HANDSCHRIFTEN  *>' 

45  Da  begann  der  mönch  zu  bangen, 
Dass  er  nit  ins  kloster  gangen. 
Grross  reu  er  da  empfing, 
Gegen  die  pfort  er  eilends  ging. 
Der  pfortner  zur  pforten  lief, 
50  Der  mönch  aussen  rief: 
Eva  bruder  lass  mich  eyn! 
Der  pfortner  sprach:  wer  magst  du  sein? 
Ich  bin  der  mönch  Felix  gnant, 
Dem  abte  wol  bekant. 
55  Wye  seid  ir  her  gekomen, 

Hab  nye  was  von  dir  vernomen. 
Dreissig  Jar  seind  es  an  der  zeit, 
Dass  ich  mich  diesem  haus  geweiht, 
Doch  ich  dich  nimmer  sach. 
60  Der  mönch  zum  bruder  sprach: 
0  lasse  deynen  groben  spott. 

Auch  ich  sah  euch  nye,  bey  Gott! 
Ich  ging  vom  münster  zur  prim. 

Gar  grosse  freud  ich  da  empfing 
65  Von  eynem  kleinen  vögeleyn. 

So  gross  ward  die  Freude  meyn, 

Dass  nicht  gang  ins  kloster  eyn. 

So  ist  mir  die  zeit  entpflogen 

Und  ward  ich  um  die  stund  betrogen. 
70  Der  pfortner  red  gar  unverdrossen: 

Die  pforte  wird  nicht  aufgeschlossen, 

Ich  kann  euch  nicht  einlassen. 

Drum  gehet  gemut  euer  Strassen. 

Der  mönch  begann  zu  flehen, 
75  Er  solle  doch  zum  abte  gehen, 

Dass  er  zur  stelle  käme 

Und  seine  red  vernehme. 

Der  pfortner  zu  dem  abte  ging 

Und  sagte  im  den  anbeging. 
80  Ein  mönch  steht  vor  der  pforten 

Und  spreche  offenbar  von  werten 

Er  sei  gewesen  vierzig  Jar 

In  diesem  kloster  gar. 

Der  abt  die  Ältesten  nam 


38  ROTH 

85  Und  vor  die  pforte  kam, 

Doch  keiner  hat  in  je  gesehen. 

Da  hiess  in  der  abt  ins  siechhaus  gen, 

Wo  ein  viel  alter  mönch  gelag, 

Den  frng  der  abte  um  die  sach. 
90  Der  sprach:  Do  ich  war  novitius 

Und  läse  in  canonibus, 

In  diesem  kloster  ein  mönch  was, 

Der  gern  von  got  las, 

Der  was  Felix  genant. 
95  Zur  prime  zeit  er  einst  entschwand, 

Der  ist  jetzt  zurück  gekommen, 

Das  soll  dem  kloster  frommen, 

Ein  vil  heiliger  man 

Do  in  das  kloster  kam. 
100  Felix  war  es  gewesen  eine  stund   an  zeit, 

Die  däucht  im  eine  ewigkeit, 

Von  stund  an  er  gern  von  got  las 

Und  von  got  begriff  er  das, 

Dass  des  himels  freude  one  ende 
105  Der  her  den  seinigen  zuwende.     Amen. 

3.   Unser  lieTbeii  fraiieii  ritter^ 

Eyn  ritter  kün  und  weiss, 
Sucht  ritterlichen  preiss, 
Dabey  from  und  dugenthafft 
Maria  zugethan  in  grosser  krafft 
5  Und  liebe,  die  er  ir 
Stets  bot  in  frommer  zier. 
Er  wolt  zu  eyni  turney 
Gewinnen  ehren  mancherley 
Nach  ritters  art  einst  reiten. 
10  Am  müuster  sah  er  die  mess  bereiten. 
Der  ritter  dachte  fromm  im  sinn 
Zu  hören  eine  mess  zu  ehr  Marien. 
Er  ging  ins  münster  und  hört  die  messe  bass, 
Doch  als  die  messe  nicht  zu  ende  was, 

1)  .Jüngere,    gekürzte    bearbeitung    der    bei  Hagen  G.  A.  lU,   466  fg.     Hahn, 
Passional  142,  75  fgg.  abgedruckten  erzählung.  bed. 


MITTEILUNGEN    AUS    JIHD.    HANDSCHRIFTEN 

15  Hub  schon  eine  ander  an. 

Da  wolt  er  nicht  von  dannen  gähn 

Bis  die  zu  end  gesprochen  war. 

So  blieb  er  in  dem   Gottes  haus 

Bis  Mittags  war  die  letzte  messe  aus. 
20  Als  alles  gebracht  zum  ende  was, 

Er  schnell  auf  sein  ross  gesass 

Und  reitet  eilig  zum  turney 

unwissend,  dass  es  längst  vorbey. 

Die  leute  ritten  im  entgegen 
25  Und  lobten  ihn  als  wackem  degen 

Auf  Työst  und  schwerthieb  fest 

Noch  keiner  sei  also  gewest. 

Je  keinen  ritter  sye  gesehn 

So  kühn  die  ritterschafft  begehn, 
30  Dass  er  mit  seinem  grossen  mut 

Erstritten  viel  hohes  gut, 

Dass  ihm  ein  hohes  los  gefallen 

Ehr,  Preis  und  gut  vor  allen. 

Den  ritter  nam  gross  wunder  das, 
35  Do  er  nicht  beim  turney  was, 

Alsbal(f  er  begann  zu  schauen 

Ein  wunder  unser  lieben  frauen, 

Die  gestritten  hat  für  in. 

Erzält,  dass  er  am  turney  kein  gewin, 
40  Dass  er  nicht  dabey  gewesen, 

Dieweil  er  im  münster  messe  hören  lesen. 

Drumb  ihn  sein  hoher  sinn 

Zog  ganz  zu  Marien  hin, 

Marien  weiht  er  seine  ritterschafft 
45  Im  closter  mit  aller  tugend  kraft, 

Zu  ir  zog  in  sein  ganzer  sin 

Zu  des  himels  konigyn. 

4.   Diz  ist  ein  segeii  für  den  Riten.  ^ 

Eit  vil  böse  ich  beswere 

Dich  bey  der  heiligen  lere. 

Die  got  in  dem  Jordan  hat  entphangen, 

1)  Parallele  zu  dem  Ztschr.  f.  d.  a.  17,  430  mitgeteilten  fiebersegea.       red. 


39 


40  ROTH 

Daz  du  am  dritten  tag  seyst  vergangen. 

Eit  du  solt  gedencken, 

Daz  sich  Jhesus  Christ  liss  hencken 

An  daz  frone  crucze  here. 

So  virmide  mich  heut  und  immermere. 

Do  Jhesus  an  der  marter  hing 

Und  seyn  bitter  leyd  anfing, 

Do  sprach  ein  Jude  in  seinem  spott: 

Hast  du  den  riten,  herre  gott? 

Wan  ich  den  Kiten  nit  enhan 

Und  ich  den  riten  nye  gewan, 

Noch  der  in  nymer  darf  gewynnen, 

Der  disse  wort  gesprechen  kan: 

Ez  ging  sich  über  lande 

Der  gut  herre  sante 

Johannes. 
Da  kamen  zwen  vnd  sibentzig  riten  gegangen:  Herre  meister, 
wo  wolt  ir  hin?  Da  wil  ich  in  diesen  walt  und  wil  zwey  vnnd  sibent- 
zig widen  hawen  und  wil  euch  binden.  Herre  meister,  daz  lant  sin, 
wir  wollen  euch  geloben,  daz  wir  nimmer  kommen  an,  ez  seye  frauwe 
ader  mann,  der  dis  wort  gesprechen  kann. 

5.   Ein  new  lied  von  Hans  und  Lieuhardt  dem  VitteP. 

1.  Nun  wollen  wir  aber  heben  an 
Ein  newes  lied  zu  singen, 

Was  zu  Augspurg  gesehen  man. 

Es  soll  mir  wol  gelingen. 

Vittel  Hanss  ist  er  genant, 

Vorm  kaiser  er  gelegen  wäre 

Um  ein  Sach,  das  sag  ich  euch  fürwahre. 

2.  Er  kam  gen  -Augspurg  eingeritten 
Wohl  in  die  werte  Stadt, 

Wann  er  thät  nach  seinen  Sitten, 

Und  auf  das  Rathaus  er  trat. 

Auf  dem  Rathaus  solt  er  geschworen  han. 

Das  wollt  er  nicht  gethun. 

Er  wollts  vor  dem  kaiser  austragen  lan. 

1)  Nach  stark  verunstalteter  Überlieferung  mitgeteilt  bei  Liliencron,  bist.  Volks- 
lieder nr.  149. 


MITTEILUNGEN    AUS    MHD.    HANDSCHEIFTEN  41 

3.  Er  stund  bis  auf  den  andern  Tag, 
Man  eilet  also  gach, 

Hans  Yittel  an  den  Eisen  lag, 
Lienhardt  thät  man  es  auche. 
Das  Recht  liess  man  über  sie  gehn, 
Ihr  Leben  mussten  sie  geben. 
Sollt  das  sejn  Recht  oder  Eben. 

4.  Sie  hiessen  inen  Dinten  und  Feder  bringen, 
Ein  Brief  thaten  sie  schreiben 

Iren  Kindern  vor  allen  Dingen 
Und  ihren  ehelichen  Weihen: 
Um  Unschuld  müssen  wir  sterben, 
So  hilf  uns  Maria  die  reine  Magd, 
Lass  uns  dein  Kind  Gnad  erwerben. 

5.  Fürsten  und  Herren  mit  Bitten  anliegen 
Herzog  Albrecht  hochgeboren. 

Dem  Bischof  war  sein  Bitt  verzigen, 
Dem  Abt  von  Sant  Ulrich  verloren 
Und  andern  mehr  Thumherrn, 
Dabey  sechshundert  Fräuwlein 
"Wolt  man  ihr  Bitt  nit  gewähren. 

6.  Man  zog  die  Sturmglocken  an, 
Die  Söldner  zogen  dort  here, 
Da  liefen  die  Frauen  und  Man 
Und  weinten  gar  sere. 

Sie  stiegen  die  Berlachstigen  hinab, 
Sie  traten  Hende  und  Füsse,  ich  sag. 
Man  meint,  es  kam  der  jüngste  Tag. 

7.  Und  da  man  die  Vittel  führt  am  Tage 
Und  man  ausrufen  wolt  lan. 

Vor  manicher  grosser  Klage 

Das  Rufen  könnt  man  nit  verstahn. 

Da  stunden  die  Vittel  die  werthen  Leut, 

Sie  riefen  dem  Schwartzen  dahere 

Und  redten  im  an  sein  Ehre. 

8.  0  Schwartz,  du  bist  ein  rechter  Dieb, 
Umb  Unschuld  willst  du  uns  tödten, 
"Wir  haben  dir  kein  leid  gethan  nie 
Und  stehn  in  grössten  Nöthen. 


42 


Um  Unschuld  müssen  wir  sterben, 
So  hilf  uns  Maria  die  reine   Maid, 
Lass  uns  dein  Kind  Gnacl  erwerben. 
9.    und  da  sie  auf  die  Eichtstatt  kamen 
Und  jeder  sein  Beicht  het  gethan, 
Die  brüder  von  einander  Urlaub  nahmen: 
Ach  Bruder  durch  Gott  solt  du  ablan. 
Durch  Gott  solt  du  vergeben. 
Was  wir  um  Unschuld  leiden  müssen^ 
So  faren  wir  ins  ewig  leben. 

6.   Wie  man  den  Schwartzen  richte 

1.  Augspurg  ist  eine  werthe  Stadt, 
In  einem  Jahr  eben,  ja  eben 
Dem  Burgermeister  es  do  gabt 
Gar  an  sein  Leben,  ja  Leben. 

Die  Vittel  thaten  die  Warheyt  sagen, 
Drumb  man  diesen  ihr  Haubt  abgeschlagen, 
Dem  Kurtzen  es  an  das  Leben  ging, 
Schwartz  und  Taglang  an  dem  Galgen  hing. 

2.  Der  Schwartz  nahm  sich  an  des  Handels  viel, 
Do  er  nur  an  der  Steuer  sass  im  Sause, 

Es  war  ihm  gar  ein  eben  Spiel, 

Da  er  das  Geld  in  Hüten  aussmasse. 

Mangmeister  wollt  kein  Theil  daran  han. 

Er  hub  sich  auf  und  schlich  von  dann, 

Mangmeister  ihm  that  Verrath, 

Und  legt  die  Sache  hintern  Rath. 

3.  Bleib  morgen  daheim  mein  Herre, 
Seine  Frau  gen  den  Schwartzen  sprach. 
Mir  hats  geträumt,  ein  Traum  gar  schwere, 
Dass  man  euch  morgen  fach. 

So  schweig,  so  schweig,  lieb  Freüwelein, 
Bist  du  Kaiserin,  so  will  ich  Kaiser  sein. 
Die  Gewalt  will  ich  über  sie  han. 
Bin  gar  ein  listiger  man. 

4.  Des  Morgens  da  er  ging  in  Rath, 
Man  ihn  mit  den  andern  fangen  that, 

1)  Sehr  abweichend  bei  Lüiencron,  bist,  vollislieder  nr.  150. 


MITTEILUNGEN    AUS    MHD.    HANDSCHRIFTEN  43 

Den  Schwartzen  warf  man  an  die  Eisen  ein, 

Er  hat  geschenckt  Most  für  Wein, 

Er  hat  gestohlen  also  viel. 

Mehr,  als  ich  euch  sagen  will, 

Mit  seinen  guten  Gesellen, 

Die  haben  ihm  helfen  stehln. 

5.  Der  schwartz  Kapp  macht  ein  Capittel, 
Da  musten  sterben  beyde  Vittel, 

Da  sah  man  Weib  und  Kleinen 
Allenthalben  auf  den  Gassen  weinen. 
Des  Kappen  Nest  das  wurd  zerstört, 
Da  Jesus  Christus  Jahrzahl  wehrt 
Im  Jahr  mit  einem  M  geschrieben, 
Yier  C,  ein  L,  zwey  X  und  sieben. 

6.  An  des  aprillen  achtzehenten  Tagen 
Für  das  Rathaus  kam  ein  Wagen, 
Den  thät  der  Schwartz  betreten. 
Auf  denselben  zu  sitzen  empor 

Ihn  zum  Galgen  führen  vor  das  Thor. 
Da  ward  nm  ihn  kein  Beten, 
Manniglich  sich  erfi'euen  that, 
Dieweyl  er  das  Hencken  verdinet  hat. 

Nr.  5   und   6    aus    handschrift    des    15.  —  16.  Jahrhunderts,    zwei 
blätter  folio,  in  Hundeshagens  nachlass. 

GEISENHEDI.  F.  W.  E.  ROTH. 


DAS   CHEONOLOGISCHE   VEEHÄLTKES   VON   STßICKEKS 
DANIEL  UND  KAEL. 

Fast  allgemein  nahm  man  bisher  an,  dass  des  Strickers  poetische 
tätigkeit  mit  der  dichtung  seines  Artusromans  Daniel  von  dem  blühen- 
den tal  begonnen  habe  (ausser  den  litteraturgeschichten  vgl.  besonders 
Bartschs  einleitung  zum  Karl  s.  III);  begründet  wurde  diese  ansieht 
immer  einzig  und  allein  "durch  die  mancherlei  freiheiten  in  spräche 
und  Versbau,  die  der  Daniel  gegenüber  des  Strickers  andern  werken 
zeigen  sollte  (obwol  man  darüber  eigentlich  ohne  Untersuchung  der 
handschriftlichen  Überlieferung  und  ohne  ausgäbe  des  gedichts  gar  kein 


44  LEITZMANN 

urteil  haben  konnte),  und  die  man  nur  einem  anfänger  glaubte  zu  gute 
halten  zu  können.  Die  Chronologie  der  andern  gedieh te  des  Strickers 
war  schwankend:  einige  setzten  den  Karl,  die  erneuerung  des  alten 
Rolandslieds  vom  pfaffen  Konrad,  unmittelbar  nach  dem  Daniel  an; 
Bartsch  versuchte  in  der  oben  citierten  einleitung  eine  reihenfolge  zu 
begründen,  wonach  der  Karl  etwa  in  den  beginn  der  zweiten  hälfte 
von  des  Strickers  dichterischer  produktion,  jedenfalls  nach  dem  frauen- 
lob  gefallen  sein  solte.  Fest  schien  aber  immer  das  zu  stehen,  dass 
der  Daniel  des  Strickers  erstes  werk  war.  Nur  bei  Wilhelm  Grimm 
finde  ich  in  einer  allerdings  erst  nach  seinem  tode  gedruckten  abhand- 
lung  „Deutsche  wörter  für  krieg"  eine  andere  auffassung;  dort  heisst 
es  bei  gelegenheit  des  wortes  ivigant  (Kleinere  Schriften  3,  527):  „mer- 
kenswert ist  Stricker,  weil  er  in  seinem  Karl  das  wort  absichtlich  in 
allen  den  stellen  übergeht,  wo  er  es  bei  dem  pfaffen  Konrad  vor  sich 
hatte  —  nur  erscheint  es  einmal  in  dem  später  gedichteten  Daniel 
und  zwar  im  reim",  wozu  Grimm  in  der  anmerkung  hinzufügt: 
„Stricker  hat  es  aus  Roland,  denn  der  Daniel  ist  später  gedichtet." 
Wie  Grimm  sich  diese  ansieht  begründete,  habe  ich  nicht  auffinden 
können;  trotzdem  er  sie  so  sicher  ausspricht,  hat  sie  doch  niemals 
jemand  geteilt. 

In  jüngster  zeit  nun  hat  Gustav  Rosenhagen,  der  erste  her- 
ausgeber  des  vollständigen  Daniel textes,  in  seinen  Untersuchungen  über 
Daniel  s.  110  und  in  der  ausgäbe  des  gedichts  s.  IX,  unabhängig  von 
Grimm  und  ohne  seine  eben  citierte  ansieht  zu  kennen,  die  zeitliche 
Priorität  des  Karl  vor  dem  Daniel  behauptet.  Die  kritiker  seines 
buches  haben  sich  nach  beiden  selten  hin  entschieden:  Seemüller  hat 
seiner  ansieht  ohne  rückhalt  zugestimmt;  Meier  und  Singer  haben  — 
allerdings  ohne  nähere  begründung,  als  dass  sie  bekannten  von  Rosen- 
hagens  argumenten  nicht  überzeugt  zu  sein  —  sich  abweisend  dagegen 
verhalten.  Bei  gelegenheit  der  besprechung  von  Rosenhagens  arbei- 
ten für  diese  Zeitschrift  27,  543  hatte  ich  mich  eingehend  mit  dieser 
frage  zu  beschäftigen  und  will  meine  gleichfalls  von  Rosenhagen  abwei- 
chende ansieht  hier  des  genaueren  darlegen. 

Zunächst  wären  also  Rosenhagens  argumente  für  die  priorität  des 
Karl  zu  entkräften,  was  nicht  schwer  faUeu  kann,  da  sie  tatsächlich 
(obwol  er  s.  112  bemerkt  „die  angeführten  stellen  beweisen  nun  klar 
und  deutlich,  dass  der  Karl  älter  ist  als  unser  gedieht")  auf  sehr 
schwachen  füssen  stehen.  Er  findet  nämlich,  dass  die  stellen  im  Da- 
niel, welche  die  Avirkung  des  geschreis  des  tieres  schildern,  notwendig 
die  Schilderung  der  Wirkung  von  Rolands  blasen  auf  dem  hörn  Olifant 


STEIOKEBS   DANIEL   UND   KAEL  45 

im  Karl,  der  dem  Rolandsliede  nacherzählt,  voraussetzen;  die  betreffen- 
den stellen  (Roland  10,  4.  18.  214,  30;  Karl  772.  7096;  Daniel  752. 
2900.  2944.  5746.  5766)  hat  er  daher  zweimal  (Untersuchungen  s.  110 
und  ausgäbe  s.  X)  neben  einander  gestelt;  ich  brauche  sie  nicht  aus- 
führlich zu  eitleren.  Mir  scheinen  die  geschilderten  dinge  zu  sehr  auf 
der  band  liegend  und  zu  einfach,  als  dass  man  überhaupt  an  „remi- 
niscenzen"  zu  denken  brauchte.  Der  schall  des  tieres  und  des  hornes 
ist  so  gross,  dass  keiner  den  andern  hören  kann,  und  dass  viele  vor 
schrecken  und  betäubung  wie  tot  zur  erde  nieder  und  von  den  rossen 
fallen.  Diese  naheliegenden  Vorstellungen  sind  in  allen  drei  gedichten 
schmucklos  ausgedrückt,  zwingende  wörtliche  Übereinstimmungen  sind 
nicht  zu  entdecken.  Ich  bekenne  mich  von  Rosenhagens  beweisführung 
gänzlich  unüberzeugt  und  glaube,  dass  andere  bei  vorurteilsfreier  betrach- 
timg  denselben  eindruck  haben  werden. 

Wir  müssen  also  auf  einem  andern  wege  zur  entscheidung  der 
chronologischen  frage  zu  gelangen  versuchen.  Bei  der  vergleichung 
des  Stils  aller  drei  werke  nun  kann  man  folgende  für  die  prioritäts- 
frage  recht  wol  verwertbare  beobachtung  machen:  der  Daniel  ist 
durch  den  Roland  in  sprachlichen  Wendungen  beeinflusst, 
die  im  Karl,  auch  an  den  dem  Roland  entsprechenden  stel- 
len, entweder  vermieden  oder  doch  nicht  mit  der  verliebe 
wie  im  Daniel  gebraucht  sind.  Das  material  ist  nur  gering,  doch, 
wie  mir  scheint,  nur  so  richtig  zu  deuten: 

ie  haz  u?ide  bax  (Roland  1,  24.     159,  2.     265,   10)  steht  Daniel  5225. 

6488;  im  Karl  fehlt  es  an  allen  drei  stellen,  steht  dagegen  10512; 

später  ist  es   ein  lieblingswort   des   Strickers    (vgl.  frauenlob  1338. 

1581;   gäuhühner  17;  melker  Sammlung  7,  193); 
eilen    (Roland  10,   9.     39,   16.     190,   12.     196,  9.     211,  19.     218,  7. 

221,  8.     222,  4.     225,   23.     226,  4.     227,   2.     233,   3.     273,    18. 

300,  8)    steht  in  der  formelhaften  Verbindung   baldez  eilen   Daniel 

992.  3180.  3928.  5598,  im  Karl  nur  7292.  7584; 
ergremen  (Roland  142,  9.     146,  5.     226,  21.    266,  23)  findet  sich  im 

Daniel  1142.  7480,  im  Karl  nur  5122  (vgl.  auch  Amis  1905); 

goltmäl  (Roland  174,  6)  steht  Daniel  5120;  im  Karl  ist  die  stelle  ver- 
ändert; 

xebrechen  sam  daz  huon  (Roland  135,  16)  wendet  der  Stricker  im  Da- 
niel zweimal  an  (2761.  3191),  wo  auch  sonst  (3512.  4429)  das  huhn 
in  vergleichen  auftritt;  im  Karl  steht  die  wendung  nur  an  der  ent- 
sprechenden stelle  (4643); 


46  LEITZMAXN,   STRICKERS   DANIEL   UND   KARL 

qneln  (Roland  29,  33.    197,  1)  begegnet  im  Daniel  2094.  2520.  3756. 

3916,  im  Karl  nur  5652; 
den  vergleich  der^kämpfer  mit  arbeitenden  schmieden  finden  wir  zwei- 
mal im  Roland  (145,  18.   174,  8),    zweimal  im  Daniel  (3626.  5050), 
aber  nur  einmal  im  Karl  (5124);  vgl.  darüber  meine  Zusammenstel- 
lung in  Paul-Braunes  Beiträgen  16,  356; 
sin  herze  ime  spilete  (Roland  210,  29)  reflektiert  sich  in  si?i  herze  vor 
vreuden  spute  (Daniel  3012),  während  an  der  entsprechenden  stelle 
im  Karl  die  wendung  vermieden  ist; 
entwischen  steht  Roland  75,  13  und  Daniel  3293.  3392  (wo  auch  3648. 
5173  hin  wischen  und  4397  üf  wischen  vorkomt),   während  es  im 
Karl  fehlt; 
endlich  sei  bemerkt,  dass  das  schöne  poetische  bild  si  begunden  einan- 
der vären  mit  des  tödes  knehtoi  (Karl  6592:   gemeint  sind  tötliche 
Verwundungen,    nicht,    wie  Bartsch  in  der  anmerkung  erklärt,    die 
Waffen)  nur  verstanden  werden  kann,  wenn  den  zuhörern  die  stelle 
im  Daniel  4054  er  begimdc  im  solhe  siege  geben,  die  wol  des  tödes 
hnehte  viohten  stn  mit  rehie  bekant  war,  an  die  es  deutlich  erinnert. 
Gibt  man  mir  richtigkeit    und    tragweite   dieser  beobachtung  zu, 
so   hätten  wir  uns   die   dichterische  entwicklung  des  Strickers  etwa  so 
zu  denken.     Mehr  als  durch  alle  zeitgenössische  höfische  dichtung  fühlt 
sich  der  Stricker  von  früh  an  ergriffen  und  erfüllt  von  der  urwüchsigen 
kraft  und  lebendigkeit  der  deutschen  dichter  des  12.  Jahrhunderts,   vor 
allem  vom  Rolaudsliede,   das  ihm  frühe  als  eine  art  kanon  erzählender 
poesie  erschienen  sein  muss.     Sein  erster  schriftstellerischer  versuch  ist 
der  Daniel,  im  Inhalte  teilweise  ein  kompromiss  mit  der  ihm  unsympa- 
thischen herrschenden  geschmacksrichtung,  in  form,  stil  und  färbe  stark 
beeinflusst  vom  Rolaudsliede.     Mangelnder  erfolg  und  -wol  auch  erstar- 
ken der  eigenen  Selbständigkeit  heissen  ihn  dann  die  bahn  des  höfischen 
romans,    auf  der  ihm  lorbeern  nicht  beschieden   waren,    verlassen;    er 
modernisiert  sein  geliebtes  Rolandslied,    wobei   er  jedoch   die   im  Da- 
niel noch  vielfach  hervortretende  archaistische  färbung  der  spräche  und 
des  Stils  vermeidet;    die  grosse  zahl  von  handschriften ,    in   denen  uns 
der  Karl  überliefert  ist,  spricht  dafür,    dass  sein  beginnen  beifall   und 
anerkennung  fand,    wenn   er  auch   natürlich  dem  geist  der  Vergangen- 
heit, den  er  verehrte,  nicht  die  herrschaft  über  die  gegen  wart  erringen 
konnte.     Erst  später  hat  er  dann  im  gebiete  der  kleinen  erzählung,  die 
er  zum  ersten  male  zur  meisterschaft  bringt,  das  richtige  feld  der  tätig- 
keit  für  sein  talent  gefunden. 


ERDMANN,    ZUE   TEXTKRITIK   DES   GEEGORIUS  47 

So  muss  es  denn  doch  bei  der  alten  ansieht,  dass  der  Daniel 
des  Strickers  frühstes  werk  ist,  der  Karl  erst  sein  zweites, 
meiner  Überzeugung  nach  sein  bewenden  haben. 

WEDIAE,     14.    OKTOBEE    1894.  ALBERT    LEITZMAXN. 


ZUE  TEXTKEITIE  VON  HAETMANNS  GEEGOEIUS.   I. 

Eine  neue  ausgäbe  des  Gregorius  auf  grund  des  durch  die  auf- 
findung  der  Konstanzer  handschrift  (K)  sowie  der  lateinischen  Über- 
setzung Arnolds  von  Lübeck  (herausgeg.  von  G.  v.  Buchwald.  Kiel 
1886)  erheblich  erweiterten  und  verbesserten  materiales  der  textkritik 
ist  ein  dringendes  bedürfnis.  Ich  hatte  eine  solche  selbst  in  angriff 
genommen,  bin  aber  von  diesem  plane  zurückgetreten,  seitdem  dr. 
K.  Zwierzina  in  der  Zeitschr.  f.  d.  alt.  37,  129  —  217.  356  —  416  seine 
eingehenden  Studien  über  den  wert  und  die  gruppierung  säramtlicher 
Gregoriushandschriften  veröffentlicht  und  mir  mitgeteilt  hat,  dass  er 
selbst  die  Veranstaltung  einer  ausgäbe  beabsichtige.  Möge  dieselbe  nicht 
zu  lange  auf  sich  warten  lassen!  Vielleicht  können  ihr  die  beobach- 
tungen  und  bemerkungen  in  etwas  zu  gute  kommen,  die  ich  —  um 
meine  vorarbeiten  und  namentlich  meine  vergleichung  der  hss.  K  und  I 
(jetzt  in  Berlin  auf  der  königl.  bibliothek,  Germ.  qu.  979)  nicht  ganz 
unbenutzt  zu  lassen  —  in  dieser  Zeitschrift  veröffentlichen  will,  und 
zwar  zunächst  zu  dem  texte  der  einleitung,  den  Zwierzina  Ztschr.  f.  d.  a. 
37,  407  fg.  nach  IK  und  den  in  G  erhaltenen  fragmenten  konstruiert 
hat.  Ich  zähle  die  170  verse  der  einleitung  für  sich;  am  anfange  des 
hauptwerkes  würde  ich  raten,  von  neuem  mit  1  zu  beginnen,  um  die 
in  aUen  lexikalischen  und  grammatischen  hülfsmitteln  eingeführte  Zäh- 
lung Lachmanns  beibehalten  zu  können. 

5  fg.  Zwierzina  schreibt:  daz  rieten  im  (dem  herzen)  diu  tum- 
ben  jär;  die  Verbesserung  des  nü  in  K  ist  sehr  ansprechend  und  kann 
sich  gegenüber  dem  mir  der  in  der  einleitung  oft  wenig  zuverlässigen 
handschrift  I  wol  behaupten.  Was  den  Inhalt  der  ganzen  stelle  betrifft, 
so  brauchen  die  tumben,  d.  h.  jugendlichen  jähre  noch  gar  nicht 
vorbei  gewesen  zu  sein,  als  der  dichter  diese  verse  schrieb;  vielmehr 
passt  die  entgegengesetzte  annähme,  dass  sie  noch  in  Hartmanns  frühere 
zeit  zu  setzen  sind,  viel  besser  zu  v.  12  — 16,  was  schon  Naumann 
Ztschr.  f.  d.  a.  22,  40  mit  recht  betont  hat.  Die  ansieht  Schönbachs, 
der  in  seinen  Untersuchungen  (Graz  1894)   s.  455   den  Gregorius  sogar 


I 


48  ERDMANN 

später  als  den  Iwein  ansetzen  will,  findet  in  dieser  stelle  der  einlei- 
tung  ebenso  wenig  eine  stütze  wie  in  den  bisherigen  beobachtungen 
über  spräche,  stil  und  versbau  beider  dichtimgen.  —  Y.  6  hat,  wie  ich 
glaube,  K  die  echte  lesart:  nu  iveiz  ich  doch  clax  für  ivär,  vgl.  z.  b. 
Iw.  1188  icli  tveiz  doch  ivol,  daz  ex  geschach.  1623  7iu  iveix  ich  doch 
ein  dinc  ivol.  Wenn  IG  beide  für  doch  ein  ivol  setzen,  so  ist  darüber 
ebenso  zu  urteilen  wie  über  viele  ähnliche  fälle,  die  Zwierzina  selbst 
37,  393  angeführt  hat.  —  7  lese  ich  auch  in  K  des,  nicht  der,  w^as 
Zwierzina  angibt. 

21  fg.  sind  von  Zwierzina,  wie  ich  glaube,  richtig  hergestellt. 
Über  den  rührenden  reim  rihtet  :  bfejrihiet  s.  zu  99  fg. 

28.  K  bietet  ohne  anstoss:  und  solt  im  sin  sele;  das  7nit  in  Gl 
halte  ich  für  einen  unechten  zusatz,  veranlasst  vielleicht  durch  das  mit 
in  V.  27. 

36  fg.  deutet  der  text  von  K  auf  die  ursprüngliche  fassung:  ze, 
sprechenne  vo?i  tvärheit,  daz  gotes  wille  waere  =  wahrhaftig  (etwas) 
zu  reden  (d.  h.  dichterisch  vorzutragen),  das  Gottes  wille  wäre  (d.  hJ 
Gottes  willen  entspräche).  Mit  v.  38  fg.  wird  dann  ein  wider  auf  36l 
zurückgreifender  folgesatz  angereiht:  und  (so  zu  reden),  dass  die  grosse 
last  meiner  Sünden  etwas  geringer  werden  möchte.  40  ringer  ist  durcl 
IK  sehr  gut  bezeugt;  dagegen  wird  die  lesart  von  G  geringet  empfoh- 
len durch  Iw.  4264  geringet  wart  ir  schoene. 

41.  Von  dem  in  I  und  mit  voller  deutlichkeit  auch  in  K  über- 
lieferten missekeit  ==  missecheit  abzugehen  liegt  kein  grund  vor.  Das 
wort  war  bisher  nur  belegt  im  Pass.  58,  20:  si  (Christus  und  Jacobus) 
ivdren  an  dem  antlitze  vil  nach  geVich  beide  äne  missecheide;  es  kann 
hier  entweder  ebenfalls  bedeuten:  abweichung ,  verschiedenes  oder  un- 
stetes benehmen  (indem  Hartmann  sich  bald  mit  göttlichen,  bald  mit 
irdischen  dingen  beschäftigt  habe);  oder  es  bedeutet:  abweichung  vom 
rechten  und  guten,  bosheit  oder  Sündhaftigkeit,  vgl.  46  missetät. 

51.  In  K  ist  (mit  recht)  ein  abschnitt  bezeichnet,  nicht  in  I.  Die 
mehr  oder  weniger  häufig  in  allen  handschriften  —  teils  durch  Zwi- 
schenräume, teils  durch  Initialbuchstaben  —  bezeichneten  abschnitte 
durchweg  anzugeben,  halte  ich  für  pflicht  des  kritischen  herausgebers. 

57.  elliu  sündigiu  diet;  die  in  K  überlieferten  adjectivformen 
sind  nicht  zu  ändern. 

60.  noch  ist  wol  nur  zusatz  von  I;  das  überlieferte  deheiner  (K 
mit  geringer  Verderbnis:  da  kainer)  ist  nicht  zu  ändern. 

71  steht  in  K  hinter  der  ein  m  mit  einem  /-punkte  darüber; 
das  bedeutet  bei  diesem  Schreiber:  iyn,  wie  gleich  darauf  74  ün,  ebenso 


ZUR    TEXTKRITIK    IJES    GREGORIUS  49 

41  miner,  103  sinne,  281  ungewinne  und  oft  ähnliche  Wörter  mit  erspa- 
riing  eines  Striches  geschrieben  sind.  Diese  von  dem  Schreiber  von  K 
gemeinte  fassung  der  im  sicJi  niht  enruoclie  ist  vielleicht  die  ursprüng- 
liche; vgl.  das  Mhd.  wb.  2,  798''  zweimal  aus  geistlichen  gedichten 
(fi-eilich  ohne  dativ)  belegte  reflexive  riiochen.  Der  sinn  wäre  dann: 
(Gott,)  der  ihm  sich  nicht  rücksichtsvoll  (d  h.  gnädig,  barmherzig)  be- 
weise; vgl.  138.  Geläufiger  freilich,  aber  in  keiner  liandschrift  bezeugt, 
ist  Zwierzina's:  der  sin  7iiht  e?iruoche.  Sonst  stimme  ich  in  der  her- 
stellung  der  satzreihen  66  —  78  fast  ganz  mit  Zwierzina  überein;  nur 
betrachte  ich  69  als  beginn  des  nachsatzes  zu  64  fgg.  und  halte  in  70 
das  er  für  fehlerhaften  zusatz  von  K. 

84.  mos,  welches  in  der  bedeutang  sumpf  recht  gut  in  den 
Zusammenhang  passen  würde,  scheint  mir  durch  I  gegenüber  GK  zu 
wenig  gestützt  zu  sein.  Ich  schreibe  mit  GK:  noch  gebirge  noch 
tvcdt,  so  dass  auch  dieser  vers  wie  82  und  84  ein  par  von  gegensätzen 
enthält. 

97:  abschnitt  in  K,  nicht  in  I. 

100.  I:  er  was  kotnen  in  im  gehalt;  K:  er  ivas  komen  in  ir 
ivalt.  Das  zweite  halte  ich  für  das  richtige,  da  gehalt  Mhd.  wb.  1,  623 
nur  in  jüngeren  quellen  belegt  ist,  und  auch  nicht  genau  in  der  hier 
geforderten  bedeutung.  Der  gebrauch  rührender  reime  wie  gewalt  : 
walt  bei  Hartmann  ist  noch  festzustellen,  vgl.  oben  21  fg. 

108.  vingerbluz  aus  ungehloss  K  halte  ich  für  eine  glückliche 
conjectur  Zwierzina's,  obwol  mir  der  ausdruck  sonst  nicht  bekannt  ist. 

110.  dene  heit  in  K  ist  doch  wol  zu  ändern  in  done  het  =  do 
ejihet. 

123.  In  K  steht:  warbende  (vgl.  15  arstarb,  16  aricarb  u.  v.  a.) 
=  tverbende  I;  Zwierzina's  iveibende  verstehe  ich  nicht,  doch  aus  I 
beizubehalten  habe  ich  keinen  grund. 

138.  beruochen  conjiciert  Zwierzina  wol  richtig  aus  vcrruochen  in 
K,   da  dieses  in  einer  hier  passenden  bedeutung  sonst  nicht  belegt  ist. 

148.  149  sind  von  Zwierzina  glücklich  hergestelt. 

154  halte  ich  für  richtig  (nach  K):  ob  ieman  %e  gotes  hulden, 
mit  Überladung  des  ersten  fusses.     I  hat:  ob  ex  %e  g.  h. 

KIEL.  0.    EKDMANN. 


ZEITSCHRIFT    F.    DEUTSCHE   PHILOLOGIE.      BD.    XXVIII. 


50  STOSCH 

BEITElaE  ZUR  EEKLÄEUNG  WOLFEAMSi. 

I. 

1)  Parz.  1,  15  fgg.     diz  vliegende  Mspel 

ist  tumhen  Uuten  gar  xe  snel, 

sine  mugens  niht  erdenken: 

tvand  ez,  Ican  vor  in  tvenken 

rehte  alsam  ein  schellec  hase. 
Diese  stelle,  auf  welche  man  wol  mit  recht  die  bitteren  worte  von  des 
hasen  gesellcji  in  Gottfrieds  Tristan  4636  fgg.  bezieht,  hat  —  wie  es 
scheint  —  auch  noch  einen  andern  dichter,  den  Stricker,  zu  einer 
polemischen  anspielung  bewogen.  Doch  knüpft  er  nicht  wie  Gottfried 
an  das  bild  von  dem  hasen,  sondern  an  das  von  dem  fliegenden  bei- 
spiel  an.  In  seinem  „Frauenlob"  (Ztschr.  f.  d.  a.  VII,  478  fgg.)  verkün- 
digt er  nämlich  v.  86  fgg.  ein  gedieht, 

daz,  i7i  den  sinnen  höhe  sivebe 

und  iedoch  in  der  mä^e 

da^  ichs,  niht  v liegen  lä^e 

nach  sinem  wilden  onuote, 

daz,  ichz,  so  habe  in  huote 

daz,  man  ez>  rincUchen  sehe 

unde  im  doch  der  hoehe  jehe 

daz,  ez,  niht  an  schrien 

weder  die  krän  noch  wien. 
Die  vorstellimg  von  dem  fluge  des  maeres  ist  ja  im  mittelhochdeut- 
schen nichts  ungewöhnliches  (vgl.  Myth.  *  747,  Grimm  z.  Freid.  136,  3, 
Frommann  z.  Herb.  13704  u.  a.);  aber  die  nachdrückliche  betonung  des 
Strickers,  dass  sein  frauenlob  nicht  nach  stnem  luilden  muote  fliegen, 
sondern  in  massiger  höhe  sich  halten  solle,  um  weder  unverständlich 
noch  trivial  zu  werden,  scheint  doch  nur  motiviert  durch  die  annähme, 
dass  er  einen  bestimmten  autor  dabei  im  äuge  hatte,  dessen  vliegendez, 
bispel  gar  xe  snel  war.  Er  hat  dann  den  ausdruck,  wie  auch  Albrecht 
im  j.  Tit.  Str.  50'^,  einfach  wörtlich  genommen,  während  Wolfram  doch 
offenbar  meinte:  „Dies  gleichnis  von  etwas  fliegendem,  nämlich  von 
der  elster." 

1)  Diese  beitrage  bilden  die  fortsetziing  zu  den  Zeitschr.  f.  d.  alt.  37,  138  fgg. 
veröffentlichten, 

2)  Nach  Lachmanns  abdruck  (str.  46  bei  Hahn):    Diu  flüge   dirre  spelle  fuor 
den  tufnben  Uuten  für  oren  gar  %e  snelle. 


ZUR  ERKLÄRUNG  WOLFRAMS  51 

Die  Vermutung,  dass  die  angeführte  stelle  aus  dem  „Frauenlob" 
eine  spitze  gegen  Wolfram  enthalte,  wird  dadurch  bestärkt,  dass  in 
demselben  gedieht  noch  eine  zweite  äusserung  auf  ihn  gemünzt  zu  sein 
scheint.     Es  heisst  nämlich  wenige  zeilen  später,  v.  120  fgg.: 

solt  ich  die  not  besorgen, 

iva2,  si  sprechen  begimden, 

die  niht  gemerken  künden 

iva$  ich  sagte  oder  sprceche, 

uns,  ich  die  schulde  gerceche: 

das,  borgen  unt  das,  gelten 

die  brühten  Ithte  ein  schelten  

iveis,  ich  selbe,  ivas,  ich  sage 

und  ivelher  verte  ich  nach  jage, 

son  darf  7nans,  diutschen  Hüten 

niht  an  der  st  unt  bediuten. 
Die  Worte  erinnern  lebhaft  an  die  bekannte  Willehalmstelle  (237,  8  fgg.), 
wo  Wolfram  über  die  dunkelheit  seiner  ausdrucks weise  scherzt: 

seht  ivaz,  ich  an  den  reche, 

den  ich  diz  mcere  diuten  sol: 

den  z-cetne  ein  tiutschiu  spräche  wol: 

min  tiutsch  ist  etsivä  doch  so  krump, 

er  mac  mir  lihte  sUi  ze  tump, 

den  ichs  niht  gähs  bescheide: 

da  siime  ivir  uns  beide. 
Auch  das  wort  rechen  kehrt,  wie  man  sieht,  beim  Stricker  wider. 

Angeregt  sind  die  beiden  polemischen  stellen  im  „Frauenlob" 
offenbar  durch  Gottfried  von  Strassburg,  der  ja  gleichfalls  den  vlndce- 
ren  ivilder  mcere,  bei  denen  er  gewiss  zunächst  an  Wolfram  dachte, 
vorwirft  (4682  fg.): 

si  müez,en  tiutcere 

mit  ir  mceren  läs,en  gän. 
Natürlich  kann  Wh.  4,  19  fgg.,    wo    der    dichter  von    vielen    tadlern 
seiner  muse  spricht,  der  Stricker  nicht  mit  eingeschlossen  seiu:   seinen 
angriif  hat  Wolfram  wol  nicht  mehr  erlebt. 

2)  Parz.  12,  27  fg. :  swer  selbe  sagt,  wie  ivert  er  st, 

da  ist  lihte  ein  iingelonbe  b'i. 

Bartsch:    „solcher  aussage   wohnt  leicht  ein   Unglaube    (von   selten  der 

hörenden)  bei."      Ähnlich   Simrock:     „da    steht    Unglaube   jedem    frei." 

Was  ein  ungeloube  heisst,  ergibt  sich  deutlich  aus  einer  stelle  in  dem 

beispiel   „Des  vögleins  lehren",    das  Pfeiffer  in  der  Ztschr.  f.  d.  a.  VII, 

4* 


52  STOSCH 

343  fgg.  veröffentlicht  hat.  Eine  gefangene  lerche  erkauft  sich  leben 
und  freiheit  dadurch,  dass  sie  dem  vogelsteiler  drei  gute  lehren  mit- 
teilt; die  eine  davon  lautet  v.  13  fg.: 

swä  ein  ungeloube  geschiht, 

des  sult  ir  ouch  gelouben  niht. 
Fortfliegend  redet  das  vöglein   dem  manne    dann   vor,    dass  es    einen 
edelstein,  grösser  als  ein  straussenei,  in  seinem  magen  trage.     Als  aber 
der  leichtgläubige  über  den  verlust  unglücklich  ist,  ruft  es  v.  32  fgg.: 

du  hast  übergangen 

mine  lere  und  min  gebot. 

nu  verbot  icli  dir  hl  got 

niht  %e  glouben  das,  vncere^ 

daz,  ungeloubec  ivmre. 
Also  ein  ungeloube  ist  etwas  unglaubwürdiges,  ein  mcBre,  das,  ungelou- 
bec ist.     In   derselben  konkreten   bedeutung  haben   wir  das  wort  oben 
bei  Wolfram:    „wer  sich  selbst  rühmt,    sagt   leicht  etwas  unglaub- 
würdiges, eine  lüge  mit  dabei." 

3)  Parz.  15,  22:  das,  er  ivas  gegenstrttes  vri 
vor  ies liehe m  einem  man. 
An  der  Wortstellung  ieslichem  einem  nehmen  Bartsch  und  Bucheuau 
(Über  gebrauch  und  Stellung  des  adjectivs  in  Wolframs  Parzival,  Strass- 
burger  dissertation  1887,  s.  23)  mit  unrecht  anstoss.  einem  ist  hier 
nicht  unbestimmter  artikel,  sondern  zahlwort;  es  heisst  nicht  „vor 
einem  jeden"  sondern  „vor  jedem  einzelnen  manne."  Nur  mehrere 
gegner  zusammen  waren  Gahmiu-et  gewachsen,  so  dass  er  eigentlich 
wie  Gramoflanz  (604,  12  fgg.  685,  4  fg.  15.  705,  19  tgg.  707,  24) 
niivan  mit  xivein  hätte  kämpfen  müssen. 

In  ganz  analoger  weise  findet  sich  ein  gebraucht  Iav.  5347  tg.: 
lüande  ie  sin  einer  slac 
vaste  ivider  ir  ziveüi  ivac, 
wo    der   neueste    herausgeber    nicht  von  seinen   Vorgängern    und  Paul 
(Beitr.  I,  386)    hätte  abweichen  sollen,     sin  einer    (so  A,    ainiger  dl) 
slac  ist  keineswegs  gleichbedeutend  mit  ein  sin  slac,    sondern   heisst 
„der  einzige  schlag  von  ihm"  und  steht  gegenüber  den  zwei  schlagen, 
welche  gleichzeitig  die  beiden  gegner  tun.     Eine  reihe  von  handschrif- 
ten  liest  allerdings  sin  eines  slac,  wie  Henrici  in  den  text  gesezt  hat. 
Gregen  diese  lesart  spricht  aber  das  folgende  wider  ir  %ivei7i:  es  müsste 
vielmehr,    um    den    gegensatz    zu    sin   eines    auszudrücken,    tvider   ir 
xweier  siegen  lauten.     Die  Überlieferung  von  Adl  wird  ausserdem,  wie 
Paul  a.  a.  o.  gezeigt  hat,  durch  das  frz.  original  bestätigt. 


ZUR  ERKLÄRUNG  WOLFRAMS  53 

4)  Parz.  367,   19  fgg.: 

min  herre  mir  geivalt  tvil  tuon, 
20  durch  daz,  ich  hän  decheinen  suon. 

mir  sulen  ouch  tohter  lieber  stn 

siver  sol  mit  stner  tohter  wein, 
25  swie  ir  verbote?i  st  de§  swert, 

ir  teer  ist  anders  als  ivert: 

si  ericirht  im,  kiuschecliche 

einen  sun  vil  ellens  riche. 

des  selben  ich  gedi7igen  htm. 
Bartsch  sucht  in  der  gesperrt  gedruckten  zeile  unnötig  Schwierigkeiten. 
Er  bemerkt:  „der  ausdruck  ist  dem  erb  rocht  entnommen  und  lautet 
vollständig  teilen  und  iveln,  wobei  der  ältere  bruder  zu  teilen,  der 
jüngere  zu  wein  pflegt.  Wem  als  erbschaft  vom  Schicksal  eine 
tochter  zufällt."  Allein  dann  müsste  es  doch  wol  heissen  eine 
tochter  wein,  nicht  aber  mit  sin  er  tochter  tveln^.  Dieses  kann 
nur  bedeuten  „vermittelst  seiner  tochter  wählen",  imd  dass  objekt  ist 
aus  dem  zusammenhange  zu  ergänzen,  ausserdem  im  nachsatze  v.  28 
noch  ausdrücklich  genannt.  Lippaut  redet  von  einem  söhn,  den  ihm 
das  Schicksal  versagt  hat.  „Was  schadet's?"  tröstet  er  sich,  „mir  sind 
tochter  sogar  lieber.  Denn  wer  sich  durch  seine  tochter  einen  söhn 
(sc.  Schwiegersohn)  wählen  soll  —  si  erwirbt  im  usw."  Der  sinn  ist: 
„durch  tochter  kann  ich  mii-  söhne  wählen,  während  ich  den  eignen 
söhn  nehmen  müsste,  wie  ihn  das  Schicksal  bescherte.  Darum  siden 
mir  tohter  lieber  stn.^'-  25  und  26  enthalten  einen  zwischengedanken. 
Die  juristische  formel  teilen  und  iveln  kommt  also  in  dem  bezeichneten 
verse   gar  nicht  in  anwendung. 

5)    Parz.  487,  1  fgg.     Von    dem    kargen,    nur   ans   wurzeln    und 
kräntern  bestehenden   mahle,    das  Parzival  bei  Trevrizent  genoss,    be 
merkt  der  dichter: 

sivas,  da  tvas  spise  für  getragen, 

beliben  si  da  nach  ungetivagen, 

das,  enschadet  in  an  den  ougen  niht, 

als  man  fischegen  handen  giht. 
Auch  im  Wälschen  gast  526   wird    das  reinigen  der  bände    nach   der 
mahlzeit  mit  rücksicht  auf  die  äugen   empfohlen,    da^  ist  hilf  seh  und 
guot  xen  ougen;   und  Petrus  Alfonsi  sagt  in  der  disciplina  clericalis 

1)  In  ähnlicherweise  ist  das  mit  von  Bartsch  misverstanden  826 ,  30,  worüber 
weiter  unten. 


54  STOSCH 

(ed.  F.  W.  V.  Schmidt,  Berlin  1827)  c.  XXVIH,  9:  post  prandium 
manus  ahlue,  quia  pliysieiim  est  et  curahile.  ob  hoc  ermn  multorum 
oculi  deterioi^antur,  qnoniciDi  j^ost  prandium  manihus  non 
ablutis  tercju7itur.  Aber  warum  spricht  Wolfram  grade  von  „fischi- 
gen" händen?  Galt  die  berühruug  der  äugen  mit  ihnen  für  besonders 
schädlich?  Ich  finde  das  in  der  mhd.  litteratur  sonst  nirgends  ausge- 
sprochen i,  obwol  doch  das  verhalten-  bei  tische  darin  häufig  genug 
erörtert  wird.  Die  in  rede  stehende  bemerkung  des  dichters  erklärt 
sich  wol  einfach  aus  dem  tage,  an  welchem  der  besuch  Parzivals  bei 
dem  einsiedler  statt  fand:  es  war  der  karfreitag  (448,  7.  470,  1),  an 
dem  ja  fische  wegen  des  fastengebotes  die  gewöhliche  speise  waren, 
die  meisten  menschen  also  nach  dem  essen  eben  „fischige"  bände 
hatten. 

6)  Parz.  817,  28.  Bei  der  taufe  des  Feirefiz  zählt  der  priester 
verschiedene  heilsame  eigenschaften  des  wassers  auf: 

25  von  wa^^er  boume  sint  gesaft. 

tvas,z,e7~  früht  al  die  geschaft, 

der  man  für  creatiure  giht. 

mit  dem  waz,z,er  man  gesiht. 

ivaz,z,er  git  maneger  sele  schtn, 
30  das,  die  engl  niht  Hehler  dürften  sin. 
Zeile  28  wird  gewöhnlich  dahin  verstanden,  dass  das  wasser  das  äuge 
„frisch  und  sehkräftig"  mache  (vgl.  Bartsch  und  die  Übersetzer).  Ich 
glaube  aber,  das  ist  nicht  gemeint:  die  stelle  ist  vielmehr  ganz  wört- 
lich zu  nehmen.  Nach  der  ansieht  des  mittelalters,  die  wir  aus  Kon- 
rad von  Megenberg  kennen,  lag  nämlich  in  der  wässerigen  füllung  des 
auges  (dem  sg.  glaskörper)  die  Sehkraft:  K.  v.  M.  10,  9  fgg.  Baz,  aug 
ist  gesetzt  in  sibcn  röche,  da^  sint  siben  häulel,  da  mit  ist  diu  er is tal- 
lisch fäuht  verhüllt^  dar  an  des  gesihtes  kraft  ligt.  93,  10 fgg. 
(der  blitz  kann  den  menschen  blind  machen.)  da^  ist  da  von,  da§  er 
im  die  cristallischen  fäuhten  verprent  in  dem  augapfel,  dar 
an  des  gesihtes  kraft  ligt.  Nach  dieser  auffassung  konte  Wolfram 
den  priester  wol  sagen  lassen:   „vermittelst  des  wassers  sieht  mau." 

7)  Parz.  825,  9:    mit  triwen  milte  an  äderstoz,. 

Seine  frühere   erklärung    (Germ.  7,  302  fg.),    dass    statt  äderstdz,  mit  d 

1)  Mit  unrecht  vergleicht  K.  Hofmann  (Münchener  SB  1864  II,  188  fg.) 
Helmbr.  783  fgg.:  het  ich  dan  alle  visclie,  im  twalä  bi  viinem  tische  durch  e^^en 
nimmer  iuwer  haut.  Hier  handelt  es  sich  ja  um  das  handwaschen  vor  dem  essen. 
Nach  Bartsch  soll  allerdings  in  Mecklenburg  der  aberglaube  bestehen,  dass  fischige 
bände  den  äugen  schaden. 


ZUR  ERKLÄRUNG  WOLFRAMS  55 

understöz,  zu  lesen  sei,  hat  ßech  nach  den  benierkimgen  Scherers  in 
der  Ztschr.  f.  d.  österr.  gymnasien  1869  s.  833  (=  Kleine  Schriften  I, 
376)  selbst  zurückgenommen  (vgl.  Germ.  19,  55  fg.).  Obwol  eine  ent- 
scheidende parallelstelle  leider  noch  fehlt,  kann  der  sinn  von  mute  an 
äderstdz,  doch  kaum  zweifelhaft  sein:  „freigebig  ohne  pulsschlag",  d.  h. 
„ohne  erregung,  ohne  Widerwillen",  also  etwa  gleichbedeutend  mit  Hart- 
manns  mute  äne  riiiwe  (Er.  2735,  vgl.  auch  Wh.  462,  8)  oder  "Walthers 
(84,  13)  man  sach  Linpoltes  hant  da  gehen,  das,  si  des  niht  erschrac. 
Eine  reihe  ähnlicher  ausdrucks weisen  hat  Bech  in  seinem  zweiten  auf- 
satz  (Germ.  19)  zusammengestellt.  Ich  möchte  hier  noch  auf  eine  nie- 
derdeutsche redensart  aufmerksam  machen,  welche  die  Verwendung  von 
äderstö^  in  dem  gedachten  sinne  zu  stützen  vermag:  dar  sleit  my 
nick  en  ade?'  na  =  „das  ficht  mich  gar  nichts  an,  das  beunruhigt 
mich  nicht."  Vgl.  Brem.  wb.  I  s.  v.  ader  und  Kosegarten,  Wörterbuch 
der  nd.  spräche  s.  119,  wo  die  formel  aus  Firmenich  I,  292  für  das 
Münsterische  belegt  wird.  Ohne  nähere  geographische  angäbe  verzeich- 
net sie  Berghaus,  Der  Sprachschatz  der  Sassen  I,  10 1.  Im  Mnd.  wb. 
fehlt  sie. 

8)  Parz.  826,  29  fg.:  hie  solte  Ereck  nu  sprechen: 

der  kund  7nit  rede  sich  rechen. 
Bartschs  erklärung  „w»Y  rede,  was  reden  betrifft;  es  könnte  auch  heissen 
der  künde  rede  reellen'"''  ist  unzulässig.  Soll  rede  hier  in  dem  sinne  von 
oratio  stehen,  so  kann  mit  rede  sich  rechen  nur  heissen  „mit  werten  sich 
rächen,  schelten."  Das  wäre  aber  im  zusammenhange  höchst  trivial; 
auch  schalt  Erec  Eniten  ja  nicht,  sondern  bestrafte  sie  vielmehr  durch 
harte  Zumutungen  für  ihr  warnendes  reden.  Folglich  bleibt  für  das 
vorliegende  mit  rede  nur  die  bedeutung  „nach  gebühr,  wie  es  recht  und 
billig  war"  (=  adv.  redelichc).,  die  Benecke  z.  Wig.  1605  [tnit  rede  het 
er  den  valschen  man)  belegt  hat';  und  es  ist  zu  übersetzen:  „der 
wusste  gehörig  (ordentlich)  sich  zu  rächen." 

1)  Nach  mündlichen  mitteilungen  ist  sie  auch  in  Göttingen  und  Witzenhausen 
bekannt. 

2)  Vgl.  auch  M.  v.  Craon  2,  wo  es  Schröder  mit  recht  gegenüber  Haupts  ände- 
rung  wider  eingesetzt  hat. 

IvIEL,    J^VNUAE    1895.  JOHANNES    STOSCH. 


56  DÜNTZER 

DER  AUSGANG  VON  GOETHES  TASSO. 

Das  vollendetste  drama  des  meisters  der  darstellung  und  lösung 
von  herzensirrungen  hat  die  entschiedensten  misurteile  und  misdeu- 
tungen  hervorgerufen,  nicht  durch  eigene  schuld,  sondern  weil  man  bei 
der  beurteilung  des  „Tasso"  den  begriff  von  dramatischer  handlung  zu 
beschränkt  fasste  und  beziehungen  auf  des  dichters  leben  hereintrug, 
worüber  man  den  dichterischen  faden  übersah,  'ler  die  ganze  dichtung 
durchzieht  und  zu  lebendiger  einheit  zusammenschliesst.  Und  doch 
hatte  Goethe,  als  er  an  der  Vollendung  des  „Tasso"  arbeitete,  Herders 
gattin  gebeten,  ihn  nicht  zu  deuten,  obgleich  er  viel  deutendes  über 
seine  eigene  person  habe;  dadurch  würde  das  stück  ganz  verschoben, 
dessen  sinn  die  disproportion  des  talentes  und  des  lebens  sei;  was 
doch  nur  heissen  kann,  diese  werde  in  dem  Schauspiel  durch  den  erlit- 
tenen Verlust  überwunden.  Leider  geht  die  vorwaltende  richtung  der 
neuern  Goetheforschung  darauf  aus,  persönliches  in  seinen  dichtungen 
auszuspüren,  in  dem  beiden  immer  Goethe  selbst,  in  den  andern  per- 
sonen  abdrücke  seiner  bekannten  zu  entdecken ;  ja  man  will  uns  neuer- 
dings gar  einreden,  ein  hauptfehler  seiner  dramen  liege  darin,  dass 
sie  biographisch  seien.  „Selbsterlebtes  in  Goethes  Tasso"  hat 
Wilhelm  Büchner  im  15.  bände  des  „Goethe -Jahrbuchs"  ausgeführt^ 
wobei  er  an  das  in  Eom  im  februar  1787  der  frau  von  Stein  gemachte 
bekenntnis  anknüpft,  dass  der  gedanke,  sie  nicht  zu  besitzen,  ihn  auf- 
reibe und  verzehre.  Die  äusserung  desselben  briefes:  „Ich  bin  heute 
konfus  und  fast  schwach"  wird  mit  dem  bekenntnis  von  Goethes  prin- 
zessin  an  Leonore  zusammengestellt,  sie  sei  geschwätzig  und  verbärge 
besser,  wie  schwach  und  krank  sie  sei.  Von  diesem  archimedischen 
punkte  geht  der  neue  entdecker  aus,  um  das  vermeinte  rätsei  zu  lösen. 
Wahr  ist  nur,  dass  bei  der  frühern  dichtung  der  beiden  ersten  akte 
die  glühende  liebe  zu  frau  von  Stein  ihn  so  mächtig  erregte,  dass  er 
einmal  gegen  diese  äusserte,  was  er  heute  geschrieben,  sei  als  anruf 
an  sie  gewiss  gut,  aber  er  wisse  nicht,  ob  auch  als  scene  und  an  der 
stelle;  und  zweitens,  dass  bei  der  spätem  umdichtung  er  der  idealen 
Schwärmerei  für  die  beherrscherin  seiner  ersten  elf  Weimarer  jähre  ent- 
sagt hatte,  die  bei  der  kälte,  womit  die  geliebte  den  aus  Italien  heim- 
kehrenden empfing,  und  bei  dessen  natürlichem  verlangen  nach  sinn- 
licher befriedigung,  die  er  in  seiner  Christiane  gefunden,  nicht  bestehen 
konte.  Übergangen  wird,  dass  er  schon  auf  der  seefahrt  nach  Sicilien 
einen  plan  des  ganzen  „Tasso"  entwarf,  und  dass  jener  brief  an  frau 
von  Stein  der  letzte  ausbruch  seiner  wilden  leidenschaft  war,    dass  er 


DER    AUSGANG    VON    GOETHES    TASSO  57 

dieser  schon  in  Palermo  schrieb,  sein  herz  sei  bei  ihr  und  wider 
brenne  und  leuchte  die  schöne  flamme  der  liebe,  treue  und 
anhänglichkeit.  Deshalb  kann  der  schmerz,  den  ihm  zwei  jähre 
später  die  völlige  abweudung  der  gekränkten  geliebten  von  ihm  erregte, 
auf  die  handlung  des  dramas  keinen  einfliiss  gehabt  haben,  wenn  auch 
die  ausführung  von  der  damals  ihn  häufig  ergreifenden  bewegten 
Stimmung  begünstigt  werden  mochte.  "Wol  zu  beachten  war,  dass  der 
dichter  auch  die  Schwungkraft  besitzt,  sich  in  die  seinem  wirklichen 
zustande  widersprechendste  läge  zu  versetzen,  ohne  die  ein  dramatiker 
gar  nicht  denkbar  ist.  Dass  der  schluss  genau  ebenso  in  der  gleich- 
zeitigen Seelenstimmung  Goethes  wurzele  wie  in  den  beiden  ersten 
akten,  ja  der  bruch  mit  Charlotte  und  dessen  verboten  während  Goe- 
thes italienischer  reise  (?)  die  Vorbedingung  für  den  abschluss  der  dich- 
tung  gewesen  seien,  beruht  auf  blosser  Verwechselung  des  schon  in  Palermo 
entworfenen  planes  mit  der  erst  im  Spätherbst  1788,  nach  abschluss  des 
„Faust",  begonnenen,  bis  zum  sommer  1789  erfolgten  ausführung.  Wenn 
Büchner  sagt,  zurückgedrängte  liebe  mache  Tasso  wie  Goethe  unglück- 
lich, so  war  im  dichter  damals  die  leidenschaft  der  liebe  zu  frau 
von  Stein  längst  gelöscht;  nur  wünschte  er,  ihr  allerinnigstes  vertrauen 
möge  ihm  bleiben,  empfand  schwer  ihre  kälte  und  ihren  bitterern 
groll.  Dagegen  wird  Tasso  unglücklich,  als  er  seine  glühend  ausgebro- 
chone  liebe  von  der  prinzessin  entsetzt  zurückgewiesen  und  so  das 
höchste  glück  seines  lebens  zerstört  sieht.  Solche  vergleichungen  füh- 
ren eben  zu  nichts;  sie  zerstieben  wie  nebelbilder,  wenn  sie  als  beweise 
dafür  dienen  sollen,  selbsterlebte  zustände  hätten  die  dramatische  fabel 
eingegeben,  zu  welcher  der  dichter  die  Überlieferung  umgeschaffen  hat. 

Auf  den  spuren  Schölls  wandelnd,  behauptet  Büchner  (s.  184): 
„Goethe  entlässt  uns  mit  dem  gedanken,  dass  Tasso  in  einer  furchtbaren 
gefahr  schwebt."  Er  kenne  sich  so  wenig  mehr,  dass  er  die  Zuflucht 
sogar  bei  Antonio  suche,  obschon  er  in  ihm  den  felsen  sehe,  an  dem 
er  scheitern  sollte.     Man  verkenne  die  bedeutung  der  schlussverse: 

Ich  fasse  dich  mit  beiden  armen  an. 

So  klammert  sich  der  schiffer  endlich  noch 

Am  felsen  fest,  an  dem  er  scheitern  sollte, 

wenn  man  in  ihnen  etwas  anderes  sehe  als  den  versuch  eines  abschlus- 
ses.  Was  damit  gesagt  sein  soll ,  verstehe  ich  nicht.  Freilich  ist  es  ein 
abschluss;  es  handelt  sich  nur  um  den  sinn  dieses  abschlusses,  den 
wir  nicht  als  einen  versuch,  sondern  als  eine  dem  dichter  endlich  ge- 
lungene ausführung  betrachten.     Nur  genaue  auslegung  mit  besonderer 


58  DÜNTZER 

erwägung  des  Zusammenhangs  kann  darüber  wirklich  aufklären.  Hier 
Averden  wir  bloss  mit  der  anmerkung  abgespeist:  „Eine  andere  erklä- 
rung  der  werte:  ,an  dem  er  scheitern  sollte',  ist  sprachlich  und  sach- 
lich unmöglich."  Wunderlich  mutet  es  uns  an,  wenn  Büchner  von  der 
leicht  errungenen  Stellung  frohgemut  besitz  nimt:  „Hätte  Goethe  es 
auch  nur  für  möglich  gehalten,  dass  dieser  mann  von  Antonio  zur 
Selbstbestimmung  gebracht  wird,  welch  schöner  stoff  hätte  sich  dem 
dichter,  der  die  heilung  des  Orest  geschildert  hat,  geboten?"  Nun,  er 
hat  es  nicht  bloss  für  möglich  gehalten,  sondern  es  glänzend  geleistet: 
freilich  nur  für  solche,  die  dem  Verständnisse  nicht  widerstreben.  Wie 
eine  schönere  heilung  denkbar  sei,  möchte  ich  wissen.  Ein  bewunderns- 
wertes meisterstück  ist  es,  wie  Antonios  entsetzte  bestürzuug,  zuspräche, 
ruhe,  rührung,  hinweisung  auf  Tassos  dichtergabe,  endlich  sein  stum- 
mes nähertreten  und  ergreifen  von  Tassos  band  den  wütenden  allmäh- 
lich beruhigen  und  sein  volles  vertrauen  erwecken. 

Halten  wir  uns  zunächst  an  die  von  Büchner  in  ihr  gerades  gegen- 
teil  verkehrten  schlussverse,  so  schweben  bei  dem  bildlichen  ausdruck 
stellen  alter  dichter  vor.  Herr  v.  Loeper  hat  einmal  darüber  gespottet, 
dass  ich  so  viel  von  vorschweben  spreche,  und  es  für  ein  leeres 
wort  halten  wollen:  und  doch  wüsste  ich  keine  passendere  bezeichnung 
fär  das  anklingen  bestimmter  dichterstellen  oder  werke  der  bildenden 
kunst,  das  nicht  zu  einer  wirklichen  anspielung  sich  steigert.  An 
unserer  stelle  schwebte  zunächst  die  rettung  des  Odysseus  im  fünften 
buch  der  Odyssee  vor.  Auf  der  seefahrt  nach  Sicilien  hatte  Goethe 
den  plan  zu  Tasso  vollständig  entworfen.  In  Palermo  kauft  er  sich 
einen  Homer  mit  lateinischer  Übersetzung,  worin  er  zu  einem  eben 
ihm  aufgegangenen  trauerspiel  „Nausikaa"  die  betreffenden  bücher  der 
Odyssee,  das  sechste  bis  dreizehnte,  liest,  aber  auch  die  stelle  des  fünf- 
ten vom  Schiffbruch  bis  zum  landen  an  der  insel  der  Phäaken,  worin 
geschildert  wird,  wie  Odysseus,  als  die  flut  ihn  an  schroffe  felsen  zu 
schleudern  droht,  mit  beiden  armen  einen  felsen  fasst,  von  dem 
ihn  freilich  nach  einiger  zeit  die  gewalt  des  rückflutenden  meeres  weg- 
reisst.  Auch  dürfte  er  im  vierten  buche  die  erzählung  von  der  rück- 
reise  des  Menelaos,  und  in  ihr  den  Untergang  des  Lokrischen  Ajax  an 
den  Gyräischen  felsen  gelesen  haben.  Der  held  rettete  sich  aus  dem 
meere  auf  einen  felsen;  aber  dieser,  auf  dem  der  gerettete  übermütig  der 
macht  der  götter  spottet,  wird  durch  einen  blitz  gespalten  imd  das 
abgerissene  stück  mit  Ajax  ins  meer  geschleudert.  Seinem  zweck  ge- 
mäss führt  Goethe  das  bild  nur  bis  zum  fassen  des  felsens  aus,  über- 
geht das  hinaufschwingen,  wie  er  es  auch  bei  römischen  dichtem  fand. 


DER    AUSGANG    VON    GOETHES    TASSO  59 

Vergüs  Palinurus  rettet  sich  aus  der  meerflut,  indem  er  „mit  geboge- 
nen liänden  den  gipfel  eines  berges  fasst".  Auch  die  stelle  des  Satiri- 
kers Persius  könnte  ihm  bekannt  gewesen  sein  (VI,  27  fgg.),  wo  der 
gestrandete  freund  die  Bruttischen  felsen  gefasst  hat  und  nun  elend 
am  iifer  liegt.  Horaz  am  Schlüsse  der  fünften  ode  des  ersten  buches 
bedient  sich  des  bildes  von  dem  aus  dem  Schiffbruch  geretteten,  der 
dankbar  im  tempel  des  meergottes  seine  kleider  aufgehangen  hat  und 
ein  Aveihetäfelchen  mit  der  abbildung  seiner  rettung.  Dass  Goethe  diese 
stelle  gekannt  hat  und  sie  ihm  im  gedächtnis  geblieben  war,  ergibt 
sich  daraus,  dass  der  aus  der  Leipziger  Zerrüttung  seiner  gesundheit 
gerettete  Student  seinem  Leipziger  freunde  Langer  bei  dessen  besuch 
zu  Frankfurt  im  September  1769  in  den  ilmi  geschenkten  abdruck  sei- 
ner „Neuen  iieder  in  melodien  gesetzt"  die  werte  aus  Horaz  als  Wid- 
mung schrieb.  Lebhafte  erinnerung  an  stellen  des  Horaz  werden  wir 
auch  weiter  im  Schlüsse  des  „Tasso"  finden.  Aber  nicht  bloss  aus  den 
alten  kannte  Goethe  die  gefahr  des  Scheiterns  und  das  glück  der  ret- 
tung, er  hatte  beides  erlebt,  wie  auch  Horaz,  der  unter  den  gefahren, 
aus  denen  die  gunst  der  museu  ihn  gerettet,  auch  einen  stürm  bei  dem 
vorgebii"ge  Palinurus  nent.  Auf  der  rückfahrt  von  Messina  nach  Nea- 
pel wäre  das  schiff,  auf  dem  er  sich  befand,  beinahe  gescheitert,  wo- 
rüber sein  bericht  vom  13.  und  14.  mai  1787  vorliegt.  In  der  raeer- 
enge  von  Capri  schwankte  und  schwippte  das  schiff  immer  stärker  nach 
den  schroffen  felsen  hin,  avo  kein  auch  nur  fussbreiter  vorsprang,  keine 
bucht  rettung  bot.  Oben  auf  den  bergen  schrieen  schon  die  ziegen- 
hirten,  unten  strande  ein  schiff,  und  freuten  sich  auf  die  beute.  Ver- 
gebens suchte  man  mit  grossen  stangen  das  schiff  vom  felsen  abzuhal- 
ten; diese  brachen,  und  der  Untergang  schien  unvermeidlich,  als  endlich 
ein  leiser  Windhauch  sich  erhob,  der  sich  allmählich  verstärkte,  sodass 
man  die  segel  aufziehen  konnte.  Wenden  wir  uns  zu  unserer  Tasso- 
stelle zurück,  so  geht  scheitern  sollte  freilich  auf  den  durch  das 
Schicksal  ihm  bestimmten  wirklichen  Schiffbruch,  aber  nur  das  schiff 
scheiterte  und  ging  in  stücke  (noch  Klopstock  braucht  die  scheiter). 
Nur  in  gangbarer  Übertragung  spricht  man  auch  vom  scheitern  eines 
menschen,  wie  ähnlich  auch  stranden  gebraucht  wird.  Der  schiffer 
selbst  hat  hier  das  leben  gerettet,  was  im  gegensatze  zmn  scheitern 
durch  das  festhalten  am  felsen  bezeichnet  wird;  das  wegreissen  vom 
felsen  durch  die  flut  ist  durch  die  nichterwähnung  ausgeschlossen. 

Dass  der  dichter  die  heilung  des  Tasso  von  seinem  wahn  im  sinne 
gehabt,  habe  ich  ausser  inneren  gründen  auch  dadurch  erwiesen,  dass 
er  den  schluss    des    dramas  als  Tassos    Verklärung    bezeichnet.     An 


60  '  DÜNTZER 

Herder  schrieb  er  den  2.  märz  1789:  „Von  ,Tasso',  der  nun  seiner 
Verklärung  sich  nähert,  habe  ich  die  erste  scene  im  kreise  der  freunde 
publiciert.  Deine  frau  und  Knebel  haben  sie  am  meisten  genossen. 
Ich  habe  diesen  prologus  mit  fleiss  dem  Averke  selbst  vorausgeschickt." 
Wie  hier  der  erste  akt  als  prologus  bezeichnet  wird,  so  der  schluss, 
wo  Tasso  einsieht,  wie  sehr  er  die  weit  verkannt,  als  dessen  Verklä- 
rung. Als  Herder  am  7.  august  1788  die  reise  nach  Italien  antrat, 
wusste  er,  dass  Goethe  den  plan  des  „Tasso",  den  er  auf  seiner  See- 
fahrt entworfen,  zum  teil  schematisiert,  auch  mehrere  einzelne  stellen 
auszuführen  begonnen,  in  derselben  reinen  form,  die  er  der  „Iphigenie" 
gegeben,  noch  vor  ablauf  des  Jahres  vollenden  wollte.  Dem  vertrauten 
freunde,  dessen  geschmack  und  urteil  er  so  hoch  schätzte,  hatte  er  viel 
davon  gesprochen,  so  dass  dieser  die  wendung  kannte,  welche  das  stück 
am  Schlüsse  nehmen  sollte.  Doch  der  zerrissene  zustand  seines  dama- 
ligen lebens  gab  ihm  nicht  die  zur  ausarbeitung  einer  so  feinen,  in  die 
tiefe  der  seele  dringenden  dichtung  nötige  Stimmung.  Freilich  hatte  er 
schon  anfangs  September  ernstlich  die  ausführung  bedacht,  am  7.  bei 
einer  fahrt  im  mondschein  drei  geistreichen  frauen  manches  von  seinem 
plane  erzählt,  am  1.  Oktober  gegen  den  herzog  die  hoffnung  ausgespro- 
chen, über  diesen  „das  übergewicht  zu  kriegen",  da  er,  je  weiter  er 
komme,  seiner  sache  um  so  sicherer  werde;  ja  er  las  drei  tage  später 
Herders  gattin  einige  stellen,  denen  diese  beifall  gab.  Aber  gleich 
darauf  Hess  er  den  „Tasso"  ganz  liegen,  so  dass  er  am  ende  des  Jah- 
res beschämt  Herder  bekennen  musste,  dieser  sei  noch  immer  nicht 
fertig,  ja  bald  dürfe  er  von  ihm  nicht  mehr  reden.  Eifrig  nahm  er 
ihn  erst  während  der  anwesenheit  seines  geistreichen  freundes  Moritz 
wider  auf,  so  dass  er  ihn  vor  dessen  abreise  vollenden  zu  können 
hoffte.  Doch  am  18.  Januar  1789  machte  er  wider  eine  pause.  Herder 
hörte  in  den  beiden  ersten  monaten  des  Jahres  von  Tasso  nur  durch 
seine  gattin,  die  ihm  am  20.  februar  die  erste  vor  kurzem  ganz  fer- 
tig gewordene  scene  des  Stückes  sante.  Ihr  gatte  hatte  sie  am  2.  märz 
noch  nicht  erhalten,  als  Goethe  die  oben  erwähnte  äusserung  tat.  Erst 
mehr  als  vierzehn  tage  später  gab  er  Herders  gattin  die  zweite,  am 
20.  den  grössten  teil  der  dritten  scene.  So  langsam  ging  es  mit  der 
reinigung,  der  durcharbeitung  bis  zur  letzten  feile,  nach  welcher  er  sie 
als  fertig,  vollendet,  absolviert  erklärte.  Geschrieben  waren 
damals  schon  viele  scenen,  fertig  nur  diese  drei.  Dem  herzog  mel- 
dete er  fünf  wochen  nach  dem  briefe  an  Herder  vom  2.  märz,  seine 
freude  über  die  drei  ersten  scenen  lasse  ihn  desto  mutiger  dem  ende 
entgegengehen;    was    darauf  hindeutet,    dass    damals    (am   6.  april)    die 


DER    AUSGANG    VON    GOETHES    TASSO  61 

erste  ausfülirung  schon  recht  weit  fortgeschritten  sein  musste,  wenn 
auch  nur  drei  scenen  fertig  waren.  Bestätigt  wird  dies  durch  die 
sich  unmittelbar  anschliessende  bemerkung:  „Ich  habe  noch  drei  scenen 
zu  schreiben,  die  mich  wie  lose  nymphen  zum  besten  haben,  mich  bald 
anlächeln  und  sich  nahe  zeigen,  dann  wider  spröde  tun  und  sich  ent- 
fernen." Es  können  nur  die  schlussscenen  des  Stückes  (wol  die  vier 
letzten,  da  das  kurze  Selbstgespräch  in  der  dritten  mit  zur  zweiten 
gezogen  war)  darunter  gemeint  sein,  zu  denen  ihn  der  beifall,  den  der 
herzog  dem  anfang  gegeben  habe,  ermutigte;  denn  so  hätte  er  unmög- 
lich sich  äussern  können,  wenn  es  sich  um  scenen  der  mitte  handelte, 
die  er  noch  unausgeführt  gelassen.  In  demselben  briefe  heisst  es:  sehi- 
glücklich  wäre  er,  wenn  er  noch  vor  den  feiertagen  (dem  17.)  die  letzte 
(vierte)  scene  des  ersten  aktes  fertigen  könte,  woran  er  fast  zweifele; 
schicken  werde  er  sie,  sobald  sie  geschrieben  sei.  An  dieser  fehlte  wol 
noch  der  durch  fragen  hervorgerufene  bericht  Antonios  über  seine 
]-ömische  gesantschaft,  der,  wie  so  manche  notwendige,  aber  für  den 
dichter  weniger  ergiebige  ausführungen ,  besonders  schwer  zu  machen 
war,  sollte  er  nicht  zu  sehr  von  dem  anziehenden  leben  des  vorigen 
auftrittes  und  dem  Schlüsse  des  vierten  selbst  abfallen.  Auffallend  ist 
freilich,  dass  er  von  derselbigen  scene  schreiben  neben  fertigen 
gebraucht.  Den  entwurf  wird  er  damals  vielleicht  mit  ein  paar  Kicken, 
bis  zum  Schlüsse  von  V,  1  ausgeführt  haben;  aber  fertig,  gereinigt 
waren  auch  damals  nur  die  drei  ersten. 

Schon  hierdurch  allein  wird  Büchners  sonderbarer  versuch  wider- 
legt, die  Verklärung  des  Tasso  durch  die  deutung  wegzuschaffen, 
„dass  der  dichter  ihn  von  den  letzten  schlacken  reinigte,  damit  er  sei 
wie  ein  verklärter  leib",  w\as  dem  Verfasser  freilich  auf  der  band  zu 
liegen  scheint,  obgleich  eine  reinigung,  eine  ausfeil ung  himmelweit 
verschieden  ist  von  einer  Verklärung,  einer  höhern  begeistigung,  die 
den  irdischen  stoff  umgestaltet,  mit  hölierm  leben  erfüllt,  nicht  bloss 
die  schlacken  entfernt.  Und  wollen  wir  einmal  annehmen,  Verklä- 
rung habe  von  der  reinigung,  dem  limae  labor  gesagt  werden  kön- 
nen, so  hiesse  seiner  Verklärung  sich  nähern  der  reinigung  sich 
nähern,  bald  zur  reinigung  kommen,  deutete  also  darauf,  dass  das 
geschäft  der  reinigung  bevorstehe,  was  hier  gar  nicht  passt.  Wollte 
man  aber  noch  kühner  sein  und  die  vollendete  reinheit  verstehen,  die 
fast  erreicht  sei,  so  würde  man  Goethe  etwas  ganz  unwahres  sagen 
lassen:  denn  so  wenig  war  „Tasso"  damals  der  reinheit  nahe,  dass  erst 
drei  scenen  fertig  w^aren,  wenn  auch  die  erste  ausführuug  bis  auf 
wenige  scenen  vorlag.     Den   dichter  drängte  es  mehr  zur  ausführung 


62  DÜNTZEB 

als  zur  durchsieht  des  ausgeführten:  war  einmal  der  guss  gelungen, 
so  konnte  die  sorgfältige  ausfeilung  leichter  geleistet  werden. 

"Wenn  Groethe  von  den  fortschritten  seiner  dichtung  berichten  wollte, 
so  lag  nichts  näher  als  es  durch  die  angäbe  zu  tun,  bis  zu  welchem 
punkte  der  handlung  er  gekommen  sei;  statt,  wie  sonst,  geradezu  das 
ende  zu  nennen,  wählte  er  die  läge,  in  welche  sein  held  dort  gelangt 
ist,  und  so  braucht  er  Tassos  Verklärung,  da  Herder  die  art  des 
ausganges  des  Stückes  kannte.  Büchner  meint,  bei  meiner  deutung  sei 
ich  von  meiner  philologischen  akribie  entschieden  im  stiche  gelassen 
worden.  Er  sieht  nicht,  dass  die  von  mir  gegebene  sachlich  allein 
möglich  ist,  da  Goethe  unmöglich  das  sagen  konnte,  w^as  er  ihm  in 
den  mund  legt,  weil  es  unwahr  wäre,  und  dass,  wo  man  zwischen  der 
annähme  einer  sprachlichen  ungenauigkeit,  besonders  im  leichten  brief- 
stile,  und  einer  Unwahrheit  in  dingen,  die  der  redende  genau  wusste, 
zu  wählen  hat,  die  entscheidung  nicht  schwer  fällt.  Freilich  wird 
„Tasso"  am  anfange  vom  stücke  gebraucht,  wogegen  seiner  vor 
Verklärung  sich  auf  das  vorhergegangene  Tasso  als  bezeichnung 
der  person  bezieht;  aber  dies  ist  eine  fi-eiheit,  der  sich  der  ausdruck, 
wenn  ein  misverständnis  kaum  möglich,  des  leichtern  flusses  wegen 
bedienen  kann,  wenn  man  es  nicht  als  nachlässigkeit  entschuldigen 
will.  Einen  ähnlichen  gebrauch  finden  -wir  in  einer  zwillingsstelle,  von 
der  Büchner  freilich  wol  nichts  ahnt.  Am  9.  juni  1814  schrieb  Goethe 
von  seinem  festspiel  „Des  Epimenides  erwachen"  an  Riemer:  „Epime- 
nides  naht  sich  seinem  erwachen",  zur  andeutung,  dass  dieses  bald  bis 
zu  ende  gedichtet  sei;  denn  jener  erwacht  erst  im  einundzwanzigsten  der 
siebenundzwanzig  auftritte  (nach  der  ersten  Zählung).  Auch  nahen 
steht  dort  ganz  ähnlich  wie  hier  nähern.  AVir  erinnern  noch  an  den 
scherz  in  der  „Xenie"  von  1814:  „Epimenides,  denk'  ich,  wird  in 
Berlin  zu  spät,  zu  früh  erwachen."  Hier  wird  unter  Epimenides 
zuerst  das  festspiel  gedacht,  dann  aber  bei  erwachen  die  person. 
Hierdurch  glauben  wir  unsere  beziehung  der  Verklärung  des  Tasso 
auf  das  erwachen  aus  seiner  verkennung  der  weit  und  dem  wahne,  er 
sei  von  einer  Verschwörung  von  feinden  umgeben,  gesichert,  und  somit 
den  äussern  beweis  erbracht  zu  haben,  dass  das  drama  mit  dessen 
ungeahnt  auf  rauhe  weise  erfolgter  heilung  schliesse. 

Den  Innern  beweis  bietet  die  ganze  schlussrede  Tassos,  nachdem 
Antonio  mit  stummer  rührung  zu  dem  unglücklichen  getreten  ist  und 
ihn  bei  der  band  ergriffen  hat.  Sie  ist  von  anfang  bis  zu  ende  von 
der  vergleichung  des  Unglücks  mit  einem  Schiffbruch  beherrscht.  Tasso 
beginnt  mit  der  völligen  Verschiedenheit  ihres  wesens,    das  aber  eine 


DER   AUSGANG    VON    GOETHES    TASSO  63 

gäbe  der  iiatur  sei.  Antonio  stehe  „fest  und  still",  wobei  schon  die  ver- 
gleich ung  mit  einem  felsen  vorschwebt,  die  gleich  darauf  hervortritt 
und  am  Schlüsse  widerkehrt:  er  selbst  scheint  nur  die  sturmerregte 
welle,  ein  spiel  der  ihn  willenlos  umtreibenden  einbildung.  Das  schei- 
nen deutet  auf  Antonios  übersehen  seines  von  der  natur  ihm  verlie- 
henen tiefen  gefühls,  wozu  ihn  dessen  eigene,  ganz  entgegengesetzte 
natur  verleitet  hat.  Dies  tritt  entschiedener  in  der  sich  unmittelbar 
anschliessenden  mahnung  hervor:  „Bedenk'  und  überhebe  nicht  dich- 
deiner  kraft!"  die  den  leisen  Vorwurf  enthält,  dass  er  dies  gegen  ihn 
getan  habe.  Einen  solchen  konnte  Tasso  nur  bei  völligster  beruhigung 
und  im  bewusstsein,  dass  Antonio  ihm  nicht  feindlich  gesinnt  sei,  ge- 
gen ihn  erheben,  und  gerade  in  so  leiser,  ihn  nicht  beschuldigender 
weise.  Dies  führt  ihn  zu  einer  weit  ausgeführten,  mit  bewegtestem 
gefühl  ihn  ergreifenden  bildlichen  darstellung  seiner  natur  im  gegen- 
satze  zum  felsen  Antonio,  Avobei  auch  der  stürm  leidenschaftlicher 
erregung  als  naturkraft  bezeichnet  wird,  der  sich  die  welle,  das  empfind- 
liche dichterherz,  nicht  entziehen  kann.  „Wind  ist  der  welle  lieblicher 
buhle"  hatte  Goethe  schon  1779  in  der  Schweiz  gesungen,  hier  aber 
ist  von  der  sturmerregten  welle  die  rede.  Mit  unendlicher  rührung 
muss  er  hier  des  seligen  glückes  gedenken ,  das  er  im  wahne  der  liebe 
der  Prinzessin  und  ihres  vollen  besitzes  genossen,  wo  sein  zärtlich 
bewegtes  herz  süsse  himmelsruhe  empfunden.  Aber  leider  ist  diese 
höchste  Seligkeit  für  ihn  vorüber.  „Verschwunden  ist  der  glänz,  ent- 
flohn  die  ruhe." 

Nach  dem  diesen  satz  schliessenden  punkte  findet  sich  schon  in 
der  handschrift  ein  gedankenstrich ,  dessen  bedeutung  bisher  unbeachtet 
geblieben.  Noch  immer  spuken  in  den  ausgaben  unserer  klassiker  fal- 
sche gedankenstriche,  die  nach  der  unart  der  zeit  häufig  statt  eines 
punktes  gesetzt  wurden.  Da  dieser  gebrauch  heute  nicht  mehr  besteht, 
so  sollten  sie  endlich  ein-  für  allemal  verbanntsein ,  zumal  da  sie  nur  zu 
misverständnissen  führen.  Ich  habe  den  unfug  bei  Goethe,  Schiller 
und  Herder  in  meinen  „Erläuterungen"  verfolgt,  ohne  dass  dies  von 
anderer  seite  die  gebührende  beachtung  gefunden  hätte.  So  hat  auch 
die  Weimarische  ausgäbe  keine  rücksicht  darauf  genommen,  weder  bei 
den  werken  noch  bei  den  briefen;  wie  sie  überhaupt  bei  der  Inter- 
punktion grundsätze  aufgestellt  hat,  ohne  genaue  (freilich  nicht  augen- 
blicklich zu  erlangende)  kenntnis  der  Sachlage.  Auch  in  den  briefen 
finden  sich  solche  gedankenstriche,  selbst  statt  Semikolon  und  komma, 
wie  bd.  II  s.  27,  8  fg.  In  den  brieten  der  frau  rat  an  ihren  söhn 
ergiessen  sie  sich  fast  seuchenhaft.     Mir  war  dieser  misbrauch  zuerst 


64  DÜNTZER 

in  Herders  handschriften  und  ausgaben  aufgefallen.  Es  verlohnt  sich, 
den  gebrauch  des  gedankenstriches  in  „Tasso"  mit  vergleichung  der 
„Iphigeuie"  zu  verfolgen,  die  hierin  einige  Verschiedenheit  zeigt.  Nur 
kurz  deuten  wir  den  gebrauch  des  gedankenstrichs  als  parenthesezei- 
chen an  (Tasso  212.  1996.  2384  fg.  Iphigenie  1566.  1718)  und  zur 
Scheidung  von  wechselreden  (Tasso  2899  —  2910).  Im  „Tasso"  findet 
sich  ein  gedanken strich  geradezu  statt  eines  punktes,  auch  eines  aus- 
rufungs-  oder  fragezeichens  mehrfach  (1542.  1742.  2018.  2123.  2398. 
2536.  2543  nach  las  st.  3252.  3350.  3382.  3384.  3394.  3494  nach 
trägt).  In  einigen  dieser  stellen  könnte  man  meinen,  es  sollte  eigent- 
lich noch  eine  starke  interpunktion  vor  dem  gedankenstrich  stehen. 
„Iphigenie"  bietet  auch  einen  fall  dieser  art  1632,  wo  man  aber  auch 
lieber  vor  dem  gedankenstrich  noch  punkt  sähe.  „Tasso"  zeigt  ein 
paarmal  gedan kenstriche  auch  am  ende  einer  nicht  abgebrochenen  rede 
(196  und  3263),  wogegen  er  das  abbrechen  bezeichnet  1821  (die  zweite 
ausgäbe  hatte  hier  das  wort  „freund"  irrig  gestrichen).  2286.  3162.  In 
der  „Iphigenie"  schliesst  ein  solcher  gedankenstrich  349  die  rede,  wo- 
gegen er  zeichen  des  abbrechens  ist  628.  Entsprechend  dem  heutigen 
gebrauche  steht  der  gedankenstrich  vor  überraschendem  und  bei  der 
scheu,  etwas  auszusprechen.  Im  „Tasso"  gehören  hierher  2500.  2506. 
3213,  wogegen  1277  der  gedankenstrich  auf  ein  innehalten  deutet, 
weil  Tasso  Antonios  antwort  erwartet,  der  überrascht  schweigt,  wes- 
halb davor  noch  ein  punkt  stehen  sollte.  Dreimal  steht  er  so  in  der 
„Iphigenie"  1852.  1925.  1936.  Eigen  ist  in  dieser  der  gebrauch  der 
gedankenstriche  1889  bei  der  Verwirrung,  worin  Iphigenie  nach  einem 
sie  am  wenigsten  verratenden  ausdrucke  sucht:  „Sie  sind  —  sie  schei- 
nen —  für  Griechen  halt'  ich  sie."  Häufig  steht  ein  gedankenstrich 
vor  dem  nachsatze  statt  des  sonst  von  Goethe  gebrauchten  Semikolons, 
wenn  dieser  von  grosser  bedeutung  ist  oder  des  gegensatzes  wegen 
besonders  hervorgehoben  werden  soll,  auch  um  ihn  entschieden  nach 
einem  längern  Vordersätze  trotz  seiner  kürze  lebhaft  zu  betonen.  Hier- 
her gehören  Tasso  873  (wo  mir  statt  Mir  zu  schreiben  ist).  945.  1472. 
2249.  2400.  2560.  In  der  „Iphigenie"  finde  ich  keinen  ähnlichen  fall. 
Ein  gedankenstrich  steht  im  „Tasso"  auch  dann,  wenn  das  gesagte 
mit  gesteigerter  kraft  weiter  ausgeführt  wird.  So  steht  1173  — 1177 
„Und  wagte  gern  das  leben,  das  ich  nur  Von  ihren  bänden  habe  — 
forderte  usw.,  3429  fg.  „Und  mir  noch  über  alles  —  Sie  liess",  wo 
eine  andere  wendung  eintritt  statt  des  erwarteten  „verlieh  sie". 

Von    dem   gebrauche    eines    einfachen    gedankenstriches   in  einer 
rede  und  innerhalb  eines  satzes  sind  die  fälle,  wo  ein  solcher  zwischen 


DER   AUSGANG   VON   GOETHES   TASSO  65 

einem  mit  starker  interpunktion  geschlossenen  und  einem  neu  anheben- 
den satze  steht.  Hier  kann  er  nur  eine  pause  bezeichnen,  welche  der 
redende  macht.  1927  tritt  eine  solche  ein  vor  der  ausführung,  welch 
ein  glück  die  nähere  Verbindung  mit  Tasso  für  Leonoren  hat,  2230  vor 
dem  die  eingetretene  Veränderung  einführenden  „Ja",  2530  vor  der 
antwort,  2543  vor  der  warnung,  sich  nicht  mehr  betöreu  zu  lassen. 
Goethe  hatte  ihn  hier  nachträglich  hinzugefügt.  Die  „Iphigeuie"  hat  ihn 
359  bei  der  rückkehr  zur  erzählung,  426  bei  dem  übergange  zur  ret- 
tung,  880  vor  mitteilung  der  ermordimg  Agamemnons,  1696  bei  dem 
gegensatze  zum  ewig  währenden  fluch,  1970  bei  der  erinnerung,  wie 
der  könig  Iphigenien  die  rückkehr  zugesagt.  Im  „Tasso"  werden  neben 
solchen  kurze  pausen  bezeichnenden  gedankenstrichen  auch  absätze  ver- 
want  in  den  Selbstgesprächen  IV,  3  und  5,  während  Y,  3  einmal  die 
scenarische  bemerkung  „Nach  einer  pause"  steht,  die  sich  auch  Y,  5  nach 
3330  findet.  Einen  absatz  hat  „Iphigeuie"  nur  1718,  wol  weil  hier 
gedankenstriche  als  zeichen  der  parenthesen  gebraucht  sind.  Gedanken- 
striche stehen  so  in  ihr  1243  bei  dem  übergange  zimi  schrecklichen  aufruf 
des  Schattens  der  mutter,  1504  vor  der  ausführung  der  frühern  unend- 
lichen freude  im  gegensatze  zum  jetzigen  schrecken,  1516  vor  dem 
Übergang  zur  darstellung  des  1510  erwähnten  unmöglichen.  Ebendort 
1189  deuten  die  gedankenstriche  vor  und  nach  „Schwelle  brüst!"  eine 
doppelte  kiu'ze  pause  an.  Häufig  bedient  sich  Goethe  eines  gedanken- 
strichs,  wo  der  redende  vorher  etwas  selbst  tut  oder  etwas  von  einem  an- 
dern geschieht,  was  eigentlich  eine  scenarische  bemerkung  angeben  sollte. 
Wir  finden  1189:  „So  soll  es  sein!  —  Hier  kommt  der  rauhe  freund", 
weil  Leonore  den  Antonio  kommen  sieht,  1283  „Noch  einmal.  —  Hier 
ist  meine  band",  weil  Tasso  diese  entgegenstreckt.  In  der  „Iphigeuie" 
findet  sich  388  gedankenstrich  vor:  „Du  wendest  schaudernd  dein 
gesiebt,  0  könig",  weil  die  priesterin  dies  eben  bemerkt  hat.  793  deu- 
tet das  zeichen  vor  „Still!"  darauf,  dass  Pylades  eben  sieht,  wie  Iphi- 
geuie sich  naht.  Der  gedankenstrich  vor  882  „Ja  du  verehrest  dieses 
köuigshaus"  bezieht  sich  darauf,  dass  Iphigeuie  ihre  bewegung  über  die 
eben  vernommene  schreckenskunde  nicht  verbergen  kann.  1049  steht 
gedankenstrich  vor:  „Sage  mir  Yom  ungiücksel'gen",  weil  Iphigeuie, 
nachdem  sie  den  göttem  freudigsten  dank  dargebracht,  sich  wider  an 
Orest  wendet.  1255  finden  wir  den  gedankenstrich  vor  „Wo  bist  du, 
Pylades?"  da  sie,  nachdem  sie  längere  zeit  stehen  geblieben,  davon- 
zueilen begonnen,  was  freilich  auch  eine  am  schluss  stehende  scena- 
rische bemerkung  besagt.  Yon  ähnlicher  art  sind  die  gedankenstriche 
1265.  1267.  1274.  1286.  1290,  wogegen  darauf  1294  einer  die  anreden 

ZEITSCHRIFT   F.    DEUTSCHE   PHILOLOGIE.     BD.  XXVm.  5 


66  DÜNTZER 

an  die  mutter  und  an  beide  eitern  trennt.  1415  fgg.:  „Mich  dünkt,  ich 
höre  gewaffnete  sich  nahen.  —  Hier!  —  Der  böte  Kommt  von  dem 
könige  mit  schnellem  schritt."  Zuerst  glaubt  sie  waffengetöse  zu  hören, 
dann  sieht  sie  jemand  kommen,  zuletzt  erkennt  sie  den  Arkas.  1607  fgg.: 
„Orest  ist  frei,  geheilt!  —  Mit  dem  befreiten  0  führet  uns  hinüber, 
günst'ge  winde,  Zur  felseninsel,  die  der  Gott  bewohnt."  Der  gedan- 
kenstrich  bezeichnet  den  Übergang  zur  dringenden  mahnung,  die  von 
Apoll  ihnen  gnädig  gewährte  hülfe  zur  Vollendung  ihrer  rettung  nach 
der  heimat  zu  benutzen.  Pjlades  wendet  sich  flehend  an  die  winde, 
was  auch  die  erhebung  seiner  bände  zum  himmel  andeutet.  1918  fgg. 
Nachdem  Iphigenie  die  Götter  angefleht,  ihren  kühnen  entschluss  zu 
segnen,  tritt  sie  zum  könige,  ihm  den  betrug  zu  verraten.  Der  vor: 
„Ja,  vernimm  o  könig",  stehende  gedankenstrich  deutet  an,  dass  sie 
zum  könige  sich  zurückwendet,  ähnlich  wie  1049.  Dagegen  bezieht  er 
sich  1942  vor:  „Was  sinnst  du  mir",  darauf,  dass  sie  einige  zeit  auf 
eine  günstige  antwort  gewartet.  Hier  könnte  auch,  wie  vor  1892,  die 
scenarische  bemerkung  stehen:  „nach  einigem  stillschweigen"  oder 
„nach  einer  pause"  wie  im  „Tasso"  vor  3311, 

In  diesen  kreis  gehört  nun  auch  der  gedankenstrich  nach  Tassos 
verse:  „Yerschwunden  ist  der  glänz,  entflohn  die  ruhe":  er  vertritt 
eine  scenarische  bemerkung.  Vor  der  schlussrede  Tassos  hat  Antonio 
ihn  bei  der  band  genommen,  dieser  sie  nicht  zurückgezogen.  Da  Tasso 
3451  bei  den  worten:  „Ich  fasse  dich  mit  beiden  armen  an!"  Antonios 
band  ergreift,  muss  er  sie  vorher  losgelassen  haben.  Dies  ist  eben 
nach  3445  geschehen  vor  den  worten:  „Ich  kenne  mich  in  der  gefahr 
nicht  mehr."  Durch  den  fürchterlichen  gedanken  seines  erlittenen  Ver- 
lustes ganz  ausser  sich  geraten,  lässt  er  Antonios  band  fahren  und 
tritt  mit  der  gebärde  eines  verzweifelnden,  der  die  bände  voll  schrecken 
erhebt,  zur  seite,  wie  es  auch  Iphigenie  1039  tun  muss,  die  1049 
wider  zu  Orest  tritt;  wogegen  nach  1093,  wie  die  scenarische  bemer- 
kung besagt,  Orest  sich  entfernt,  damit  der  dichter  Iphigenien  ihr  dank- 
gebet allein  sprechen  lassen  kann.  Sein  lebhaft  geschautes  verderben 
schildert  Tasso  durch  die  not  des  Seefahrers,  dessen  schiff  der  stürm 
mitten  auf  dem  meer  zertrümmert;  es  ist  ein  wirkliches  gesiebt,  das 
ihm  die  erregte  einbildungskraft  vorspiegelt: 

Ich  kenne  mich  in  der  gefahr  nicht  mehr. 
Und  schäme  mich  nicht  mehr  es  zu  bekennen. 
Bisher  hat  der  beginnende  stürm  ihn  nicht  ausser  fassung  gesetzt,  sei- 
nen tapferen  mut  nicht  erschüttert;    aber  jetzt,    wo  er  den  stürm  sein 
Zerstörungswerk  am  schiffe  beginnen  sieht,    kennt  er  sich  nicht  mehr, 


DER   AUSGANG   VON   GOETHES   TASSO  67 

er  ist  jetzt  ein  naata  pavidus,  tiraidus  (Hör.  carm.  I,  1.  14.  14.  14) 
geworden,  der  vor  schrecken  erblasst  ist  (Ovid  Trist.  I,  4,  11);  wie 
römische  dichter  den  schiffer  in  äusserster  not  selbst  weinen  lassen, 
wovon  der  gegensatz  an  einer  sehr  bekannten  Horazischen  stelle  (carm. 
I,  3,  9  —  20)  sich  findet.  Auf  ganz  unglaubliche  weise  hat  Büchner 
die  ganz  deutlichen  worte:  „Und  schäme  mich  nicht  mehr,  es  zu  be- 
kennen" misverstanden,  da  er  sie  auf  Tassos  wirklichen  zustand  bezieht, 
obgleich  dieser  den  festen  boden  des  schlossgartens  unter  den  l'üssen 
hat.  Er  übersieht,  dass  sie  im  bilde  des  entsetzten  schiffbrüchigen 
stehen,  eng  verbunden  mit  dem  vorangehenden:  „Ich  kenne  mich  in 
der  gefahr  nicht  mehr",  also  eine  weiterführung  dieses  vergessens  sind, 
und  macht  den  seltsamen  fehlschluss:  „Also  hat  er  sich  bis  jetzt  ge- 
schämt, seinen  wahren  seelenz ustand  zu  enthüllen,  und  was  er  vorher 
über  seine  Zukunft  gesprochen  hat,  ist  ihm  eingegeben  von  dem  stol- 
zen bestreben,  nicht  allzu  klein  vor  Antonio  zu  scheinen."  Und  auf 
einen  solchen  groben  Schnitzer  sich  stützend,  triumphiert  er:  „Wie 
kann  man,  da  Tasso  dies  eingesteht,  die  vorausgehende  partie  als  Zeug- 
nis für  sein  zukünftiges  leben  ansehen?"  Diese  albernheit  dichtet 
Büchner  dem  Tasso  nur  an!  Mehr  bezeichnet  offenbar  den  gegensatz 
zu  d3r  zeit,  wo  der  stürm  das  schiff  noch  unversehrt  gelassen ,  es  bloss 
auf  und  ab  getrieben  hatte.  Solcher  leichtfertigkeit  ist  alles  möglich. 
Aber  auch  abgesehen  davon,  wer  kann  es  für  möglich  halten,  dass 
Tasso  bei  der  anrede  „0  edler  mann"  (3434)  und  dem,  was  weiterfolgt, 
sich  verstelle;  wer  übersehen,  dass  die  verscheuchung  von  Tassos  Wahn- 
vorstellung durch  Antonios  benehmen  auf  das  treffendste  begründet  ist? 
Bei  der  Schilderung  der  Zertrümmerung  des  schiffes  schwebt  die  vier- 
zehnte ode  des  ersten  buches  des  Horaz,  die  berühmte  allegorie  des 
Staates  als  schiff,  unverkennbar  vor.  Aber  der  von  der  äussersten  Ver- 
zweiflung hingerissene  erkennt  jetzt,  dass  ihm  in  aller  not  ein  edler 
freund  in  dem  geblieben  ist,  den  er  für  seinen  grimmigsten  feind 
hielt.  So  tritt  er  denn  zu  diesem,  der  ihn  mit  teilnehmendster  rührung 
anblickt,  und  bietet  ihm  die  band  mit  dem  vollsten  vertrauen,  dass  er 
sein  zuverlässiger  fi-eund  sei.  Freilich  sollte  auch  nach  3450  ein  ge- 
dankenstrich  als  Vertretung  der  scenarischen  bemerkung  stehen;  aber 
auch  sonst  fehlen  mehrfach  die  notwendigen  scenarischen  bemerkungen 
oder  die  sie  ersetzenden  gedankenstriche.  Vermissen  wir  ja  auch  am 
ende  von  II,  4  jede  andeutung,  dass  Tasso  das  wirklich  tut,  was  er 
sagt,  dass  er  den  degen  und  darauf  den  kränz  über  diesen  zur  erde 
legt;  ja  die  wirklich  am  Schlüsse  stehendo,  darauf  wenigstens  rücksicht 
nehmende  anweisung:    „Auf  des  fürsten  wink  hebt  ein  page  den  degen 

5* 


68  DÜNTZER 

mit  dem  kränze  auf  und  trägt  ihn  weg"  hat  Goethe  erst  nachgetragen. 
Wenn  der  dichter  sagt,  er  fasse  Antonio  mit  beiden  bänden  an,  so 
schwebt  ihm  schon  das  in  den  beiden  folgenden  versen  ausgeführte 
bild  des  auf  einen  felsen  sich  rettenden  schiffbrüchigen  vor.  Hier  ist 
nicht,  wie  eben,  von  einem  auf  offenem  meere  zerstörten  schiffe,  son- 
dern vom  scheitern  an  kuppen  die  rede.  So  (3452)  gehört  der  ver- 
gleichung  an,  da  der  dichter,  statt  mit  wie  anzuknüpfen,  einen  neuen 
satz  anhebt;  es  ist  keineswegs  mit  fest  zu  verbinden.  Den  eigent- 
lichen Vergleichungspunkt  bildet  die  hoffnung  auf  sichere  rettung.  In 
Antonio  erwartet  Tasso  mit  solcher  Sicherheit  seine  rettung  wie  der 
schiffbrüchige  von  dem  ihm  festen  boden  bietenden  felsen.  Der  fels, 
an  den  der  schiffbrüchige  sich  anklammert,  statt  sich  vom  meere  ver- 
schlingen zu  lassen,  ist  seine  rettung.  Die  allerneueste  deutung  des 
„Tasso"  fasst  das  anklammern  an  den  felsen  gar  als  ein  „stürzen  ins 
Schwert!"  So  schliesst  denn  das  stück  mit  Tassos  Überzeugung,  dass 
er  in  Antonio  seinen  retter,  seinen  ihm  treu  zur  seite  stehenden  freund 
gewonnen  habe.  Alle  versuche,  welche  man  macht,  die  dauernde  Ver- 
bindung Tassos  mit  Antonio  als  unmöglich  nachzuweisen,  sind  nichtig. 
Tasso  ist  geheilt,  freilich  auf  rauhe  weise,  durch  den  rauhen  Anto- 
nio (1694),  während  Alphons  die  schuld  des  rauhen  arztes  nicht  hatte 
auf  sich  laden  wollen  (333  fg.).  Einen  zweifei  des  Zuschauers,  ob  Tasso 
nicht  wider  in  seinen  wahn  zurückfallen  werde,  lässt  die  rührung  nicht 
aufkommen. 

Eine  äusserst  seltsame  deutung  hat  Louis  Lewes  eben  in  seiner 
Schrift  „  Goethes  frauen gestalten "  von  Tassos  schlussrede  gegeben. 
Über  Tassos  zukunft  urteilt  er:  „Das  bittere  geschick,  Avelches  ihn 
zerschmetternd  getroffen  hat,  wird  freilich  in  zukunft  eine  unversieg- 
lich  sprudelnde  quelle  für  seine  lieder  sein,  und  die  poesie  wird  zwar 
immer  wider  die  alten  wunden  aufs  neue  aufreissen,  aber  auch  immer 
wider  heilenden,  lindernden  baisam  auf  dieselben  träufeln."  Die  schluss- 
steile soll  nach  ihm  über  den  eigentlichen  Schlusspunkt  hinausgehen 
und  beides  in  der  zukunft  zeigen,  Tasso  also  gleichsam  der  seher  sei- 
ner eigenen  zukunft  sein.  Der  anfang  bis  3445  sei  mit  einem  tiefen, 
aber  ruhig  gefassten,  besinnungsvollen  schmerz  gesprochen  zu  denken; 
derselbe  ton  solle  in  diesen  worten  angeschlagen  werden,  welcher  in 
Zukunft  der  bleibende  für  den  dichter  Tasso  sei.  In  den  letzten  acht 
versen  breche  allerdings  die  leideuschaft  hervor,  sie  beweise  aber  nur, 
wie  mit  jenem  poetisch  verklärten  schmerze  auch  das  unmittelbar  in 
der  erinnerung  sich  erneuernde  wideraufleben  desselben  abwechseln 
werde  und  doch  zugleich-  für  solche  augenblicke  die  freundschaft  An- 


DER    AUSGANG    VON    GOETHES    TASSO  69 

tunios,  die  hüte  desselben  und  dadurch  die  rückkehr  zu  jener  poeti- 
schen erhebung  und  Verklärung  des  Schmerzes  gesichert  sei.  Und  so 
fehle  denn  auch  nicht  der  trost  einer  echt  tragischen  erhebung,  wenn 
sie  auch  gegen  den  schmerz  in  den  hintergrund  trete.  Bei  dieser 
phantastischen  deutung  sind  der  offenbare  dramatische  fortschritt  und 
der  wirkliche  gehalt  der  stelle  geradezu  verflüchtigt.  Das  drama  bedarf 
eines  wirklichen  abschlusses,  und  dieser  ist  hier  vortrefflich  gelungen, 
wenn  man  ihn  nur  recht  verstehen  will.  Die  gangbare  art  der  auf- 
fassung  unserer  klassischen  dichtungen  leidet  daran,  dass  man  auf 
kosten  der  dichter  geistreich  zu.  sein  trachtet,  unbekümmert  um  das 
Verständnis  aller  einzelnen  stellen  und  sorgfältige  beachtung  der  leitung 
des  ganges  der  handlung,  woraus  allein  die  vollkommene  einsieht  in 
das  ganze  gewonnen  wird. 

„Tasso"  ist  kein  marionettenspiel,  in  dem  die  laune  ihre  wunder- 
lichen Sprünge  macht,  sondern  alles  entwickelt  sich  nach  dem  ausge- 
prägten Charakter  der  hauptperson  und  den  gesetzen  menschlichen  den- 
kens,  fühlens  und  handelns  in  lebendigem  fortschritte.  Tassos  heilung 
ist  das  ziel  der  handlung;  die  Unmöglichkeit  derselben  darzustellen, 
ziemte  kaum  dem  koraiker.  Büchner  versichert  ernstlich:  wer  an  einen 
düstern  ausgang,  dass  Tasso  in  der  krankenstube  bleiben  müsse,  nicht 
glauben  wolle,  der  verkenne  Goethes  behandlung  geschichtlicher  stoffe, 
die  wesentlich  der  Überlieferung  folge;  der  erdgeruch,  der  seine  ge- 
summten dichtungen  durchwehe  {?!),  mache  sich  in  seinen  dramen  dop- 
pelt geltend.  Stärker  kann  man  die  Wahrheit  nicht  verletzen.  Tatsäch- 
lich ändert  unser  dichter  regelmässig  sogar  den  ausgang,  gestaltet 
diesen  entsprechend  dem  Charakter  und  den  Verhältnissen,  die  er  seinem 
beiden  gibt.  Büchner  stützt  sich  auf  „Götz"  und  „Egmont",  als  ob 
diese  für  die  in  seiner  reifen  zeit  geschaffenen  meisterwerke  irgend 
zeugen  könnten!  Aber  auch  sie  beweisen  das  gerade  gegenteil.  Den 
Götz  lässt  Goethe  zu  Heilbronn  im  gefängnis  sterben  in  folge  seiner 
Verwundung  und  des  Schmerzes  über  sein  eigenes  und  des  Vaterlandes 
Unglück,  in  dem  feigheit  und  treulosigkeit  herrschen.  In  Wirklichkeit 
führte  er  noch  viele  jähre  auf  seiner  bürg  ein  tatenloses  leben!  Wie 
wesentlich  Goethe  sonst  die  handlung  verändert,  liegt  vor  aller  äugen. 
Egmont  stirbt  freilich  wie  in  der  geschichte  auf  dem  schaöbt,  aber  als 
mutiger  held,  in  der  Überzeugung,  dass  der  schmähliche  wortbruch 
und  sein  opfertod  die  tyrannen  stürzen  und  sein  volk  befreien  werden; 
während  er  in  Wirklichkeit  ganz  gebrochen  war  durch  sein  Schicksal, 
nicht  um  das  Vaterland,  sondern  bloss  um  frau  und  kinder  bekümmert 
war,    weshalb   er   untertänig  gegen  den  feigen   tyrannen  war,    der  ihn 


70  DÜNTZER 

mordete,  um  die  freiheit  zu  unterdrücken.  Büchner  muss  dieses  nicht 
wissen,  er  muss  die  vielen  andern  Umgestaltungen  nicht  kennen,  nichts 
von  Schillers  berühmter  beurteilung  gehört  haben,  die  dem  dichter 
seine  Verletzung  der  geschichtlichen  Wahrheit  scharf  als  verderbung  vor- 
rechnete! Goethe  hat  alle  geschichtlichen  stoffe  frei  umgestaltet,  immer 
erst  aus  der  geschichte  eine  dichterische  fabel  gebildet.  Laut  sprechende 
zeugen  sind  „Iphigenie",  „Faust",  „Die  natürliche  tochter",  „Der  ewige 
Jude",  der  beabsichtigte  „Wilhelm  Teil".  Und  angesichts  dieser  unleug- 
baren tatsache  soll  Goethe  nicht  gewagt  haben,  Tasso  durch  seinen 
wirklichen  grossen  verlust  und  Antonios  schöne  menschlichkeit  genesen 
zu  lassen!  Büchners  Tasso  wirft  sich  als  unheilbarer  kranker  Antonio 
in  die  arme,  eine  torheit,  die,  nebenbei  bemerkt,  doch  auch  eine  ab- 
weichung  von  der  Überlieferung  wäre.  Ja  wir  werden  belehrt,  Goethes 
dramen  könnten  uns  sittlich  nicht  befriedigen,  weil  er  zu  sehr  der 
geschichte  folge,  die  er  in  ein  Prokrustesbett  spanne.  Goethes  Tasso 
ein  Prokrustesbett  ist  wirklich  ein  ganz  einziger  gedanke!  Jeder  dra- 
matiker  ist  gezwungen,  sich  auf  einen  geringen  räum  zu  beschränken; 
dies  mit  geschick,  ohne  Verzerrung  zu  tun,  ist  die  aufgäbe  des  drama- 
tischen plans,  und  im  entwerfen  desselben  ist  Goethe  unzweifelhaft 
nicht  weniger  glücklich  als  Schiller,  wenn  beide  auch  im  einzelnen 
Verschiedenheiten  zeigen,  wie  jeder  von  ihnen  der  eigenheit  des  Stoffes 
sein  verfahren  anpassen  musste.  Wer  solche  allgemeine  sätze  aufstel- 
sen  will,  sollte  durch  allergenaueste  kenntnis  der  sache  sich  die  berech- 
tigung  dazu  erworben  haben. 

Ebenso  nichtig  ist  der  beweis,  Goethe  habe  im  stücke  selbst 
andeutungen  gegeben,  dass  Tasso  nie  zur  ruhe  kommen  werde.  Als 
ob  der  dichter  überhaupt  andeutungen  dieser  art  durch  eine  seiner  per- 
sonen  zu  geben  vermöchte,  wie  es  nur  in  einem  prolog  oder  einem 
chor  allenfalls  geschehen  könnte!  Keine  der  handelnden  personen  darf 
darauf  ansprach  machen,  dass  sie  die  zukunft  sicher  erkenne,  wie  ja 
selbst  der  kluge  Antonio  in  seiner  behandlung  Tassos  in  den  vier  ersten 
akten  ganz  irre  geht.  Auch  wären  solche  hindeutungen  an  sich  undra- 
matisch. Der  dichter  hat  uns  bloss  die  handlung  anschaulich  zu  ver- 
gegenwärtigen. Büchners  nachweise  sind  geradezu  ergötzlich.  Wenn 
Alphons  Y,  2  Tasso  wolmeinend  rät,  nicht  durch  zu  strengen  fleiss  und 
zu  grosse  rücksicht  auf  die  stimmen  anderer  seine  dichtung  zu  verder- 
ben, so  soll  dies  darauf  deuten,  dass  dieser  wirklich  in  Rom  durch  die 
erinnerungen  der  kritiker  in  Verzweiflung  geraten  werde!  Die  düstere 
Schwermut,  die  ihm  V,  4  auf  der  prinzessin  erinnerung  an  den  noch 
auf  ihm  ruhenden   bann  einredet,    in  keiner   Unternehmung  werde  er 


DER    AUSGANG    VON    GOETHES    TASSO  71 

g'Iück  haben,  nie  sich  der  höchsten  Vollendung  seines  gedichtes  freuen, 
müsse  die  Wahrheit  sprechen!!  Wenn  er  unmittelbar  darauf  sich  im 
hirten-  oder  pilgerkleide  nach  Neapel  fliehen,  mit  wildem  haar,  ver- 
düstert, von  staunenden  knaben  umringt,  das  haus  seiner  Schwester 
in  Sorrent  betreten  sieht,  so  ruft  Büchner  jubelnd  aus:  „Wer  kann  im 
ernst  bestreiten,  dass  Goethe  Tasso  diese  Prophezeiungen  (?)  in  den  mund 
legt,  um  auf  sein  späteres  Schicksal  hinzuweisen?"  Mit  demselben 
unrecht  würde  man  behaupten,  dass  Leonorens  wort  von  Tasso  und 
Antonio  (III,  2)  in  erfüllung  gehen  müsse: 

Dann  stünden  sie  für  einen  mann  und  gingen 
Mit  macht  und  glück  und  lust  durchs  leben  hin. 

Der  dramatiker  soll  nicht  im  gange  der  handlung  auf  die  Zukunft  hin- 
deuten, wenn  dies  nicht  etwa  durch  die  handlung  selbst  geboten  wird; 
aber  am  Schlüsse  muss  er  eine  lösung  geben,  die  uns  einen  blick  in 
die  Zukunft  gestattet.  Durch  den  bittersten  verlust  ist  Tasso  von  der 
schwäriuerischen  leidenschaftlichkeit,  die  ihn  die  weit  verkennen  liess, 
geheilt  und  hat  an  dem  als  todfeind  gehassten  Antonio  einen  freund 
und  sicheren  halt  gewonnen;  die  holde  gäbe  der  dichtung  ist  ihm  ge- 
blieben und  sein  verdüsterter  geist  verklärt.     Er  ist  geheilt,  gerettet! 

KÖLN.  H.    DtlXTZER. 


zu   DEN   KINDER-   UND   HAÜSMÄKCHEN   DEE 
GEBRÜDEE  GRIMM. 

In  nr.  152  der  grossen  ausgäbe  erwidert  „das  hirtenbüblein"  auf 
seine  frage  „Wie  viele  Sekunden  hat  die  ewigkeit?"  dem  könige:  „In 
Hinterpommern  liegt  der  demantberg;  der  hat  eine  stunde  in  die  höhe, 
eine  stunde  in  die  breite  und  eine  stunde  in  die  tiefe;  „dahin  kommt 
alle  hundert  jähr  ein  vögelein  und  wetzt  sein  schnäblein 
daran,  und  wenn  der  ganze  berg  abgewetzt  ist,  dann  ist  die 
erste  Sekunde  von  der  ewigkeit  vorbei."  Im  3.  (erläuterungs-) 
bände,  3.  aufl.  s.  256,  wo  W.  Grimm  auch  zu  diesem  märchen  zahlreiche 
parallelstellen  aus  andern  erzählungen  nachgewiesen  hat,  findet  sich 
für  die  obige  bildliche  bezeichnung  einer  undenklich  langen  Zeitdauer 
kein  beleg.  Ähnlich  ist  der  gedanke  im  2.  bände  von  „Des  knaben 
wunderhorn"  (neudruck  der  ausgäbe  von  1806  — 1808)  in  Meyers  Yolks- 
büchern  nr.  1046  —  1050,  s.  190: 


72  zu   GRIMMS   KINDER-    UND   HÄUSMÄRCHEN.    —    ZU   JOHANN   EASSER 

„Wenn  berg  und  thal  aufeinander  stand', 

Yiel  lieber  wollt'  ich  sie  tragen, 

Als  das  ichs  soll  stehen  vor  dem  jüngsten  gericht, 

Soll  all  meine  sünden  beklagen, 

„Und  kam'  alle  jähr'  ein  vögelein, 

Und  nahm  nur  ein  schnäblein  voll  erden, 

So  wollt  ich  doch  die  hoffnung  haben, 

Dass  ich  könnt'  selig  werden." 

NORTHEDI.  E.    SPEENGER. 


ZU  JOHANN  EASSER 


In  dieser  Zeitschrift  XXVI,  480  hat  Gr.  Binz  über  ein  aus  alten 
bücherdeckeln  von  ihm  zusammengestelltes  exemplar  von  J.  Rassers 
„Spil  von  kinderzucht"  (Strassburg  1574)  berichtet.  Da  dasselbe 
aber  verschiedene  lücken  aufweist,  so  mache  ich  darauf  aufmerksam, 
dass  weitere  exemplare  auf  den  öffentlichen  bibliotheken  zu  Dresden 
und  Wolfenbüttel  vorhanden  sind.  Auch  Merklen  (Histoire  de  la  ville 
d'Ensisheim  2,  191.  1841)  wird  das  stück  gesehen  haben.  Binz  hätte 
noch  bemerken  können,  dass  Rasser  seine  fabel  von  dem  ungeratenen 
Aleator  und  dem  wolgeratenen  Hänslein  ebenso  wie  fünf  jähre  später 
der  Oltener  dramatiker  Schertweg  seineu  Bigandus  aus  Jörg  Wickrams 
Knabenspiegel  (vgl.  Spengler,  Der  verlorene  söhn  im  drama  des 
16.  Jahrhunderts  1888  s.  126)  geschöpft  hat. 

Zu  Martins  artikel  über  Rasser  in  der  Allgemeinen  deutschen 
biographie  notiere  ich,  dass  das  titelbild  von  Rassers  zweiter  komödie 
„vom  könig,  der  seinem  söhn  hochzeit  machte"  (1575)  von  C.  Oerdel 
(Über  die  pflege  des  dramas  auf  deutschen  gelehrtenschulen.  Tübinger 
dissertation  1870,  tafel  1)  reproduciert  ist.  Ebendort  s.  75  —  89  steht 
auch  ein  auszug  aus  Baumgartens  Juditium  Salomonis  (1561)? 
der  W.  Kawerau  (Yierteljahrsschrift  für  litteraturgeschichte  6,  1)  ent- 
gangen ist. 

BERLIN.  J.    BOLTE. 


WOLFF,    RUDOLF    HILDEBRAND  73 

Rudolf  Hil(lel)rand.i 

Sonntag  den  28.  Oktober  1894  starb  in  Leipzig  Rudolf  Hildebrand.  Sein 
tod  kam  nicht  unerwartet:  seit  jähren  war  der  nunmehr  dahingeschiedene  an  die 
krankenstube  gefesselt  —  und  doch  hat  er  rastlos  bis  zum  letzten  tage  für  die  Wis- 
senschaft gewii'kt;  so  reisst  sein  tod  eine  klaffende  lücke  in  unsere  reihen.  Fürwahr 
ein  schöner  tod!  Fast  wie  ein  feldherr  auf  dem  schlachtfelde  ist  meister  Hildebrand 
verschieden:  noch  Sonnabend  revidierte  erden  jetzt  Ztschr.  f.  d.  a.  39,  1 — 8  abgedruck- 
ten aufsatz  über  Spervogel  und  schrieb  an  einem  aufsatze  über  „wache  stehn  und 
dergleichen"  —  mitten  in  der  arbeit  musste  er  abbrechen;  schmerzlos  ist  er  in  der 
nacht  verschieden.  Die  schöne  feier  des  tages,  an  dem  er  das  siebente  Jahrzehnt 
vollendete,  hatte  er  noch  erlebt  und,  tiefgerührt  von  allen  ihm  dargebrachten  zeichen 
der  liebe,  des  dankes  und  der  Verehrung,  es  aussprechen  dürfen,  dass  er  sich  wie 
auf  dem  höhepunkte  seines  erdenlebens  fühle.  Köstlichere  freude  konnte  ihm  nicht 
mehr  zu  teil  werden.     So  klagen  wii-  auch  nicht. 

„Völlig  vollendet 
Liegt  der  ruhende  greis,  der  sterbliehen  herrliches  muster." 

Hildebrands  leben  ist  ganz  mit  Leipzig  verknüpft.  Dort  wurde  Heinrich  Ru- 
dolf Hildebraud  sonntag  den  13.  märz  1824  als  söhn  eines  Schriftsetzers  geboren. 
Wie  der  vater  eifrig  bemüht  blieb,  sich  selbst  fortzubilden,  so  sorgte  er  auch  für 
des  Sohnes  erziehung  in  aufopferungsvollster  weise.  Zuerst  besuchte  Rudolf  eine 
privat  schule;  1836  kam  er  auf  die  Thomasschule,  zu  der  er  später  durchgebildet  als 
lehrer  zurückkehren  sollte.  Schon  als  quartaner  gefiel  er  sich  in  dem  wachen  träume, 
wie  er  einst  ein  deutsches  Wörterbuch  schreiben  wolle!  Von  1843  bis  1848  studierte 
er  an  der  Universität  seiner  Vaterstadt  —  anfangs  theologie,  bald  philologie,  die  klas- 
sische lind  in  zunehmendem  masse  die  deutsche.  Eng  schloss  er  sich  hierbei  an 
Moriz  Haupt  an.  Wenige  monate  nach  bestandenem  statsexamen  beginnt  Hildebrands 
lehrtätigkeit  an  der  anstalt,  der  er  seine  Vorbildung  für  die  akademischen  Studien 
verdankte.  Bis  1869,  volle  zwanzig  jähre,  ist  er  der  Thomasschule  treu  geblieben; 
dann  übernahm  er  eine  professur  an  der  Universität. 

Nicht  eigentlich  das  akademische  lehramt  rief  ihn  ab:  sollte  dieses  doch  zu- 
nächst nur  die  müsse  zur  arbeit  an  einem  gross  angelegten  wissenschaftlichen  unter- 
nehmen gewähren.  Von  anfang  an  war  unserm  Hildebrand  auf  Haupts  empfehlung 
die  korrektur  des  Deutschen  Wörterbuches  übertragen,  welches  die  brüder  Grimm 
seit  18.52  herausgaben.  In  seiner  zaghaft  bescheidenen  weise  bat  er  über  der  kor- 
rektur, hie  und  da  ergänzende  zusätze  vorlegen  zu  dürfen.  Hierbei  bekundete  er 
alsbald  eine  solche  Fähigkeit  zur  mitarbeit,  dass  ihm  zunächst  die  unumschränkte 
erlaubnis  zu  eigenmächtigen  Zusätzen  erteilt,  später  die  bearbeitung  des  buchsta- 
ben  K  übertragen  ward.  Jakob  Grimm  hatte  schon  in  der  von-ede  des  ersten  bandes 
sp.  LXVII  HUdebrands  ungemeine  Sachkenntnis  und  neigung  zur  deutschen  spräche 
gerühmt,  in  der  des  zweiten  (1860)  sp.  VI  ihm  volle  befähigung  zur  mitarbeit  zuer- 
kannt. Nachdem  Jakob  Grimm  1863  gestorben  war,  gewährte  schon  1865  der  rat 
der  Stadt  Leipzig  dem  fortsetzer  des  grossen  nationalwerkes  eine  wesentliche  erleich- 
terung  durch  die  erlaubnis,  dass  Hildebrand  auf  drei  jähre  nur  acht  stunden  wöchent- 
lich zu  unterrichten  brauche.     Noch  vor  ablauf  dieser  fi'ist  veranlasste  Julius  Zacher 

1)  Durch  auskunft  haben  den  Verfasser  zu  dank  verpflichtet  die  herren  Oberlehrer  dr.  Rudolf 
Hildebrand,  prof.  dr.  Friedrich  Vogt  und  privatdocent  dr.  Georg  Witkowski.  —  "Vgl.  namentlich  auch 
die  nekrologe  in  der  „Zeitschrift  für  den  deutschen  Unterricht",  band  IX,  s.  1  fgg.  (Otto  Lyon);  in 
der  „Leipziger  zeitung"  vom  3.  nov.  1894  abends  vind  im  ,, Leipziger  tageblatt"  vom  4.  nov.  1894. 


74  WOLFF 

in  der  deutsch -romanisclien  abteilung  der  philologen- Versammlung  zu  Halle  1867 
einen  beschluss,  die  so  eben  verheissungsvoU  gestiftete  nationale  gemeinschaft,  den 
Norddeutschen  bund,  um  Unterstützung  des  nationalen  Unternehmens  anzugehen. 
Die  folge  davon  war,  dass  die  sächsische  regierung  Hildebrand  1869  zum  ausser- 
ordentlichen Professor  der  „neueren  deutschen  litteratur  und  spräche"  ernannte,  wie 
die  hessische  in  ähnlicher  weise  für  seinen  mitarbeiter  Karl  Weigand  in  Giessen  sorgte. 
Fünf  jähre  später  wurde  Hildebrands  professur  in  ein  Ordinariat  verwandelt.  Inzwi- 
schen hatte  er  1873  die  bearbeitung  des  buchtaben  Z"  vollendet  und  die  des  0  begon- 
nen. Wenn  die  arbeit  nur  langsam  vorrückte,  wenn  es  Hildebrand,  auch  bei  späterer 
Unterstützung  durch  einen  hilfsarbeiter,  nur  vergönnt  war,  in  der  ausarbeitung  bis 
zum  artikel  „GestorZe"^  zu  gelangen,  so  liegt  der  grund  nicht  nur  in  dem  langen  Siech- 
tum des  bearbeiters  und  nicht  nur  in  der  äussern  fülle,  die  das  G  (schon  wegen  der 
Zusammensetzungen  mit  ge-)  umfasst,  sondern  vor  allem  auch  in  der  Innern  fülle, 
die  ein  schier  unerschöpflicher  reichtum  an  wissen   und  feinheit  hier  ausbreitete. 

Auch  Hildebrands  ai'beit  an  den  späteren  auflagen  (seit  der  2.)  vonWeiskes  ausgäbe 
des  „Sachsenspiegel"  berührte  sich  wesentlich  mit  seiner  tätigkeit  als  wortforscher:  im 
glossar  konnte  er  die  entstehung  vieler  Wörter  aus  alten  rechtszuständen  verfolgen. 
Anderseits  bekundet  seine  fortsetzung  von  Soltaus  Sammlung  „Historischer  Volkslie- 
der" (1856)  seinen  eifer  und  sein  feinsinniges  Verständnis  für  volksmässige  poesie. 

Neben  der  arbeit  am  Deutschen  wörterbuche  gieng  fortlaufend  die  akademische 
lehrtätigkeit  her.  Schon  als  gymuasiallehrer,  als  lehrer  der  Thomasschule  hatte  Hil- 
debrand ein  privatissimum  für  geistig  rege  primaner  und  Sekundaner  abgehalten;  vor- 
wiegend brachte  er  hier  altdeutsche  dichter  zur  lesuug  und  erläuterung.  An  der 
miivei-sität  lehrte  er  in  Vorlesungen  und  Übungen  über  das  Volkslied,  über  Walther 
und  die  mionesänger,  über  das  Nibelungenlied,  die  Gudrun,  den  Sachsenspiegel, 
Wickrams  Rollwagenbüchlein,  besonders  auch  über  Goethe  und  die  litteratur  des 
18.  Jahrhunderts  u.  a.  Auch  sonst  besprach  Hildebrand  allerlei  wissenschaftliche  fra- 
gen mit  den  mitgliedern  seines  kränzchens  auf  gemeinsamen  Spaziergängen  in  der 
ihm  eigenen  gemütvollen  und  gemütlichen  weise.  Die  langwierige  krankheit  nötigte 
ihn  in  den  letzten  jähren  seine  lehrtätigkeit  auf  ein  privatissimum  einzuschränken, 
das  er  mit  um  so  eindringlicherer  Wirkung  in  seiner  wohnung  abhielt. 

Hildebrands  familienleben  war  gesegnet.  Er  fand  eine  verständnisvolle  frau, 
mit  der  er  21  jähre  (1853  —  74)  in  glücklichster  ehe  lebte.  Nach  dem  tode  der  lebens- 
gefährtin  blieben  ihn;  zwei  söhne  und  zwei  töchter  zurück,  von  denen  er  eine  tochter 
bis  an  sein  lebensende  im  hause  behielt,  so  dass  er  der  treu  sorgenden  band  nie  ent- 
behrte. Wenige  jähre  vor  seinem  tode  traf  Hildebrand  mitten  in  seinem  Siechtum 
ein  schwerer  schlag  durch  den  in  geistesumnachtung  selbstgewählten  tod  seines  älte- 
sten hoffnungsvollen  sohnes.  Nun  ist  der  meister  selbst  von  uns  geschieden,  und  wir 
blicken  mit  wehmütiger  dankbarkeit  auf  die  reichen  fruchte,  die  sein  wirken  in 
unserer  Wissenschaft  und  unserm  leben  gezeitigi  hat. 

Mit  wie  weitem  blicke  Eudolf  Hildebrand  seine  mitarbeit  am  Deutschen  Wör- 
terbuch auffasste,  zeigt  seine  antrittsvorlesung  „Über  Grimms  Wörterbuch  in  seiner 
wissenschaftlichen  und  nationalen  bedeutung"  (1869);  noch  bedeutendere  anfschlüsse 
gibt  die  vorrede  zum  V.  bände  des  Wörterbuches  (1873).  In  den  Vordergrund  stellt 
er  für  die  Wortforschung  natürlich  das  geschichtliche  verfahren,  wie  es  Jakob  Grimm 
in  die  grammatische  betrachtung  der  sprachen  eingeführt  hat.     Aber  ganz  im  geiste 

1)  Der  letzte  bei  Hildelirands  leben  gedruckte  aushängebogen  geht  bis  Gespiele.  0.  E. 


RUDOLF    HILDEBRAND  75 

dieses  grössten  meisters  unserer  Wissenschaft,  ja  vielleicht  noch  in  weiterem  umfange 
gilt  für  Hildebrand  das  Wörterbuch  auch,  als  stiller  mitarbeiter  zum  begreifen  unse- 
rer Vorzeit  wie  unserer  eigenen  gedankenweit.  Die  geschichte  fast  jedes  wertes  wird 
ihm  ein  beitrag  zur  inneren  geschichte  unseres  kulturlebens ,  ein  Spiegel  der  entwick- 
lung  unseres  volkes.  So  betrachtet  Hildebrand  den  wortvorrat  der  deutschen  spräche 
im  höchsten  und  vollsten  sinne  als  nationalschatz.  "Wol  lässt  er  dabei  als  getreuer 
Eckart  nicht  ausser  acht,  dass  andre  Völker  meist  dann  erst  in  solchem  umfange  ihre 
geschichte  zu  schreiben  begannen,  wenn  sie  sich  anschickten,  mit  ihrem  leben  abzu- 
schliessen.  Uns  aber  soll  vielmehr  nach,  seiner  meinung  der  blick  in  den  Spiegel 
unserer  entwicklung  bald  zur  anfeuerung,  bald  zur  heilung  dienen.  Das  kann  frei- 
lich nur  geschehen,  wenn  die  Wissenschaft  zum  leben  hinstrebt,  nicht  aber,  wenn  sie 
in  Selbstgenügsamkeit  verknöchert. 

Als  denkmäler  und  Zeugnisse  der  kulturentwicklung,  gleichsam  als  abdrücke 
oder  abspiegelungen  vergangener,  aber  noch  fortwirkender  sitten  und  zustände  sind 
die  Wörter  für  Hildebraud  in  erster  linie  von  Interesse.  „Wie  die  spräche  altes  leben 
fortführt",  lautet  eines  seiner  liebliugsthemata.  Mit  umfassender  gelehrsamkeit  und 
eindringender  sachkentnis  liebt  er  es  nachzuweisen,  wie  viele  Wörter  und  Wendungen 
ein  stück  alter  sitten  und  anschauungen  vor  unsern  blick  zaubern.  Indem  er  die 
redewendungen  bis  auf  ihren  xirsprung  zurückzuverfolgen  sucht,  greift  er  gern  in  die 
deutsche  1  rechtsanschauungen  und  -gebrauche  sowie  in  die  sitten  und  gebrauche  des 
Volkslebens  hinein;  das  familienleben  wie  die  öffentlichen  einrichtungen  zieht  er  heran; 
bald  holt  er  aus  dem  ritterweseu  und  dessen  kampfspielen,  bald  aus  kinderspielen 
aufklärung  über  den  eigentlichen  sinn  unserer  rede.  So  verstand  Hildebrand  meister- 
haft, uns  gleichzeitig  unsere  spräche  und  unsere  Vergangenheit  lebendig  zu  machen; 
so  strebte  er  die  „freie,  fröhliche  innere  anschauung"  anzuregen,  ein  gegenständ- 
liches, ein  sach-denken  im  gegensatz  zum  bloss  logischen  oder  wort-denken  auszu- 
bilden. Hier  wusste  er  sich  ganz  auf  Goethes  bahnen;  er  selbst  verweist  in  der 
vorrede  zum  V.  bände  auf  dessen  werte  50,  93  fg.  (Hempel  27,  1,  351  fg.).  Mochte 
auch  das  eifrige  spüren  nach  zusammenhängen  und  anknüpfungspunkten  hie  und  da 
zu  voreiligen  hypothesen  führen,  so  besass  doch  Hildebrand  zu  strenge  philologische 
Schulung,  um  sich  nicht  der  uferlosen  phantasieflut  mancher  sprachvergleicher  ent- 
gegenzustemmen.  Sehr  verständig  betonte  er,  dass  es  nicht  die  aufgäbe  des  Wörter- 
buches sein  könne,  ein  wort  über  seine  erste  fest  nachweisbare  form  hinaus  zu  ver- 
folgen, um  durch  kombination  und  ansetzen  hypothetischer  formen  zu  einer  älteren, 
möglichst  urgeboreu  anmutenden  wurzel  zurückzuschreiten.  Desto  entscheidenderes 
gewicht  leg-te  Hildebrand  auf  eutwicldung  des  begriffs  vom  greifbaren  auftreten  bis 
zum  heutigen  gebrauche;  auf  entwicklung,  wie  besonders  betont  werden  darf: 
denn  nicht  bloss  auf  statistische  aneinanderreihung  der  wechselnden  gebrauchsweisen 
geht  er  aus ,  sondern  er  schreibt  eine  innere  geschichte  des  wertes  und  des  begriffes. 
So  nehmen  manche  artikel  den  umfang  einer  kleinen  abhandlung,  unter  umständen 
selbst  einer  grossen  abhandlung  an;  über  Geist  z.  b.  wird  auf  118  spalten  gehandelt. 
Vielleicht  ist  bisweilen  zu  viel  differenzieii,  wo  das  gespannte  feingefühl  unterschiede 
zu  empfinden  glaubte,  die  doch  im  wesentlichen  auf  denselben  grundtypus  hinaus- 
kommen. Dafür  erhalten  wir  an  der  band  eines  wortes  aber  auch  meist  eine  tief- 
gi'eifende  und  voll  ausschöpfende  seelengeschichte  des  deutschen  volkes,  die  nir- 
gends ihres  gleichen  hat.  Dies  zeigt  besonders  die  meisterhaft  behandelte  gruppe 
der  Wörter  gedanke ,  geist,  gemüt,  genie,  aus  der  allein  schon  die  epochen  und  Wen- 
dungen des  deutschen  gefühlslebens  klar  heraustreten!     Mit  verliebe   und  mit  vollem 


76  WOLFF 

rechte  lässt  er  scharf  den  Umschwung  hervortreten,  der  in  der  deutschen  Volksseele 
nm  die  mitte  des  18.  Jahrhunderts  vor  sich  gieng:  die  verinnerlichung  und  Vertiefung 
gelangen  zu  kongenialer  nachzeichnung,  und  auch  das  allmähhche  eintreten  des  Über- 
schwangs lind  der  verstiegenheit  wird  an  der  wortgeschichte  kenntlich  gemacht.  Es 
gehört  zu  Hildebrands  eigenartigsten  Verdiensten,  aufgewiesen  zu  haben,  wie  die 
empfind ungsfülle  der  genie-periode  bis  auf  Geliert  zurückgeht;  von  „Sentimentalität", 
von  „stürm  und  drang"  wollte  er  da  nichts  hören,  ganz  erfüllt  war  er  von  pietät- 
vollem danke  für  die  positive,  schöpferische  gewalt,  die  sich  in  jener  Überwindung 
des  nüchternen  Verstandes  durch  die  gewalt  des  herzens  offenbarte.  Glücklich  wusste 
er  auch  die  epoche  der  romantik  an  der  entwicklung  der  begriffe  aufzuweisen.  Einen 
früheren  grossen  abschnitt  unserer  geistesgeschichte  fasst  er  als  unsere  Franzosenzeit 
zusammen,  die  er  bis  weit  ins  18.  Jahrhundert  hinein  datiert.  Im  hinbhck  auf  sie 
namentlich  geht  er  von  der  blossen  wortgeschichte  zur  wortkritik  über,  wo  er  findet, 
dass  die  ruhige  entwicklung  eines  deutschen  begriffes,  welcher  der  sache  und  dem 
bewusstsein  nach  längst  vorhanden  war,  von  einem  fremden  eindringling  durchkreuzt 
und  auf  Seitenwege  oder  gar  auf  abwege  gelenkt  ward.  Vom  rein  sprachlichen  boden 
auf  die  gesammte  kultur  ausgreifend,  polemisierte  Hildebrand  ähnlich  gegen  die  soge- 
nannte renaissance:  nicht  eine  widergeburt,  wie  der  name  bedeutet,  sondern  eine 
wider  er  weckung  des  altertums  fand  statt.  Eine  rechte  widergeburt  sei  nur  aus 
unserer  natur  heraus  möglich  und  freilich  jetzt  vonnöten. 

Gewähren  die  wöiier  so  viel  stoff  zum  nachdenken  wie  zu  kultur -rückblicken, 
dann  liegt  es  nahe,  sie  zu  solchen  zwecken  methodisch  fruchtbar  zu  machen.  Die 
logik  des  Sprachgeistes  soll  die  „ geistesbildung  nach  dem  Innern  zu"  fördern,  zum 
sachdenken  anregen.  Spricht  doch  Hildebrand  als  ziel  des  deutschen  Unterrich- 
tes gleicherweise  aus,  „dass  jener  Spiegel  der  nation  in  jedem  gebildeten  deutschen 
sich  widerholend  darstelle."  Daraus  ergibt  sich,  wie  unauflöslich  Wortforschung  und 
Sprachunterricht  in  dem  interessenkreise  unseres  mannes  verknüpft  waren.  Sein  lebe- 
lang blieb  er  bemüht,  die  forschung  und  deren  ergebnisse  auch  der  schule  nutzbar 
zu  machen.  "Welche  bedeutung  Hildebrand  dadurch  für  unser  gesammtes  erziehungs- 
wesen  gewonnen,  lässt  sich  schon  aus  jener  schritt  ermessen,  welche  neben  seinen 
beitragen  zum  Deutschen  wörterbuche  seinen  namen  vor  allem  in  ehi'en  lebendig  erhal- 
ten wird:  „Vom  deutscheu  sprachunteiTicht  in  der  schule  und  von  deutscher  erzie- 
hung  und  bildung  überhaupt,  mit  einem  anhang  über  die  fremdwörter  und  einem 
über  das  altdeutsche  in  der  schule"  (erste  aufläge  1867,  zweite  1879,  dritte  1887, 
vierte  1890).  Mit  feuereifer  verficht  der  Verfasser  hier  folgende  grund-  und  leitsätze: 
1)  „Der  Sprachunterricht  sollte  mit  der  spräche  zugleich  den  Inhalt  der  spräche, 
ihren  lebensgehalt  voll  und  frisch  und  warm  erfassen."  2)  „Der  lehrer  des  deut- 
schen sollte  nichts  lehren,  was  die  schüler  selbst  aus  sich  finden  können,  viel- 
mehr alles  das  sie  unter  seiner  leitung  finden  lassen."  3)  „Das  hauptgewicht  sollte 
auf  die  gesprochene  und  gehörte  spräche  gelegt  werden,  nicht  auf  die  geschrie- 
bene und  gesehene."  4)  „Das  hochdeutsch,  als  ziel  des  Unterrichts,  sollte  nicht  als 
etwas  für  sich  gelehrt  werden ,  wie  ein  anderes  latein ,  sondern  im  engsten  anschluss 
an  die  in  der  klasse  vorfindliche  Volkssprache  oder  haussprache." 

Im  einzelnen  macht  Hildebrand  namentlich  darauf  aufmerksam,  wie  doch  unser 
ganzer  sprachbesitz  eigentlich  aus  lauter  kleinen  eigenen  schöpfungsakten  entstehe  und 
bestehe:  diese  schöpfungsakte  nun  wären  im  Unterricht  unter  anleitung  des  lehrers  zu 
widerholen.  Dabei  ist  stets  an  bekanntes  anzuknüpfen,  bis  sich  wort  und  sache  im 
köpfe  des  Schülers  vermählen.     „  Nur  zehn  solcher  augenblicke  in  einer  stunde "  — 


RUDOLF    HILDEBKAND  77 

ruft  der  feine  kenner  der  kinderseele  —  ^wo  bleiben  da  leere  und  langeweile!"  Aber 
er  will  nicht  einmal,  dass  der  lehrer  die  gegenstände  in  die  seele  der  kinder  hinein- 
arbeite, vielmehr  soll  er  sie  hinein  spielen  —  in  Schillers  ästhetischem  sinn  des 
begriffes.  An  das  unmittelbare  leben,  au  die  kindliche  Sphäre  will  er  angeknüpft 
wissen:  die  methode  hat  überall  im  Unterricht  an  die  stelle  des  einseitig  systema- 
tischen Vortrags  zu  treten.  So  soll  denn  also  der  deutsche  Unterricht  nicht  bloss  zum 
logischen,  sondern  zum  begrifflichen  selbstfinden  und  nicht  bloss  zum  selbstfinden, 
sondern  zum  selbstbeobachten  anleiten.  Nimmer  ward  unser  dahingeschiedener  mei- 
ster  müde,  gegen  jenes  rein  gedächtnismässige  wissen  zu  eifern,  das  in  fächern  wol- 
geordnet  ruht,  aber  abstrakt  bleibt.  „Ja,  es  ist  für  eine  frische  zukunft  eine  grosse 
Umkehr  nötig!"  Widerum  berührt  er  sich  eng  mit  Goethe.  —  Man  weiss,  wel- 
chen umfang  der  von  Hildebrand  neu  begonnene  kämpf  gegen  die  Vorherrschaft 
der  geschriebenen  spräche  vor  der  gesprochenen  angenommen  hat.  Die  ausartungen 
dieser  bewegung  hat  er  sich  nie  zu  eigen  gemacht.  Eng  zusammen  Meng  mit  die- 
ser rettung  der  mündlichen  rede  seine  forderung,  dem  hochdeutschen  nicht  eine 
falsche  Vornehmheit,  der  mundart  nichts  schlechtweg  verächtliches  zu  geben.  Ler- 
nen soll  der  schüler  vielmehr  von  seiner  mundart  aus  das  hochdeutsche  und  noch 
vieles  andere. 

Noch  enger  gehen  der  wortforscher  und  der  erzieher  Hildebrand  in  dem 
abschnitte  des  buches  zusammen,  welches  „Vom  bildergehalt  der  spräche  und  sei- 
ner Verwertung  in  der  scliule"  handelt.  Jene  bilder  aus  dem  leben,  die  in  festen 
Wendungen  niedergelegt  sind,  werden  darin  für  den  Unterricht  fruchtbar  zu  machen 
gesucht.  Mit  recht  betont  Hildebrand,  dass  der  überlieferte  verrat  solcher  bildlicher 
rede  Wendungen  den  eigentlichen  geist,  gehalt  und  reichtum,  das  eigentliche  innerste 
leben  der  spräche  darstelle.  Mit  ihrer  hilfe  müsse  die  schule  wider  eine  deutliche 
anschauung,  eine  gesättigte  bildlichkeit  pflegen;  das  denken  müsse  in  ein  sehen,  ja 
in  ein  bewegen,  ein  mitleben  und  mittun,  ein  nachschaffen  übergehen.  Sehr  fein 
wird  entwickelt,  wie  auch  die  namen  ein  stück  kulturgeschichte  spiegeln. 

Selbst  die  fremdwörter,  so  lebhaft  Hildebrand  für  ihre  einschränkung  ficht, 
weiss  er  noch  in  ähnlicher  weise  für  den  Unterricht  fruchtbar  zu  machen.  Denn 
natürlich  bewahrt  ihn  seine  sprachgeschichtliche  bildung  bei  sprachreinigenden  bestre- 
bungen  vor  Übertreibung  und  geschmacklosigkeit.  Mit  glücklicher  Vereinigung  von 
gelehrsamkeit  und  Ironie  weist  Hildebrand  nach,  wie  viele  fremdwörter  ihren  gebrauch 
in  Deutschland  der  blossen  bildungsstreberei  verdanken,  und  wie  viel  gedankenlosig- 
keit  sich  dabei  kundgebe.  Auch  die  gesichtspunkte  der  klarheit  und  Schönheit  lässt 
er  in  Verurteilung  des  übermasses  unserer  fremdwörter  nicht  ausser  acht.  Eindring- 
lich schärft  er  den  satz  ein:  „Das  bloss  nachgeahmte  und  andern  nur  nachgelebte 
leben  ist  gar  kein  wahres  leben."  Aber  dennoch  verwahrt  er  sich  dagegen,  alles 
ausweisen  zu  wollen,  was  sich  nicht  schon  fest  eingebürgert  hat.  Nur  müssten  wii" 
verstehen,  den  leben  hemmenden  wüst  in  eine  fröhliche  ernte  zu  verwandeln,  die 
leblosigkeit,  die  den  fremdlingen  anhängt,  wider  in  volles  förderndes  leben  umzu- 
setzen. Wodurch?  Auch  die  fremdwörter,  soweit  sie  nicht  entbehrlich  sind,  will 
Hildebrand  als  kulturbilder  behandelt  wissen,  die  nach  ihrem  Ursprünge  wie  nach  der 
zeit  und  veranlassung  ihrer  einführung  im  Unterricht  gesondert,  somit  in  einen  kul- 
tm-geschichtlichen  rahmen  gerückt  werden. 

Mit  alle  dem  hat  die  Wissenschaft  nun  freilich  aufgehört,  Selbstzweck  zu  sein; 
sie  ist  in  den  dienst  der  erziehung  wie  des  lebens  getreten.  Hildebrand  tat  diesen 
schritt  mit  vollem  bewusstsein.     Er  war  von  der  Überzeugung  durchdi'ungen,    dass 


78  WOLFF 

jede  Wissenschaft  verdorren  und  verknöchern  niuss,  die  sich  selbstgenügsam  auf  sich 
zui'ückzieht,  die  sich  nicht  mit  dem  leben  wechselseitig  befruchtet.  Darum  stellte 
er  schliesslich  sein  ganzes  iuteresse,  soweit  es  nicht  vom  wörterbuche  gefesselt  war, 
in  den  dienst  des  Unterrichtswesens.  Aus  diesem  gründe  begrüsste  er  die  begrün- 
dung  dieser  Zeitschrift  ganz  besonders  mit  freude,  wie  es  die  bd.  20,  409  mitgeteilte 
stelle  aus  einem  briefe  an  ihren  begründer  Julius  Zacher  bezeugt^.  Später  (seit  1887) 
beteiligte  er  sich  eifrig  an  der  „Zeitschrift  für  den  deutschen  Unterricht",  die  er  zu- 
gleich als  fleissigster  und  gediegenster  mitarbeiter  förderte.  In  welchem  geiste  er 
dieses  unternehmen  ausgeführt  wissen  wollte,  das  bezeugen  seine  geleitworte:  für  ims 
Deutsche  handele  es  sich  jetzt  darum,  „ein  neues  leben  eben  als  Deutsche  zu  begin- 
nen." Der  deutsche  Unterricht  müsse  deshalb  in  den  mittelpunkt  der  erziehung  tre- 
ten. Für  uns  seien  Lessing,  Goethe,  Schiller  diejenigen,  die  uns  „mehr  mensch" 
werden,  uns  eine  „höhere  menschheit"  erreichen  Hessen;  sie  also  stellten  für  Deutsch- 
land die  hiimaniora  dar.  Auch  später  noch  kam  er  mit  folgerechter  beharrlichkeit 
auf  diesen  bedeutsamen  gedanken  zurück:  jetzt  erst  laufe  die  periode  der  sogenannten 
renaissance  ab,  und  wir  erlebten  den  beginn  der  deutschen  periode.  In  dieser  denkt 
er  sich  vor  allen  Goethe  als  führer.  Im  anschluss  an  Goethe  müsse  das  deutsche  in 
die  mitte  der  höchsten  deutschen  bildung  rücken,  wie  ja  auch  schon  das  ausländ 
beginne,  eben  im  anschluss  an  Goethe,  unserer  geistesweit  für  das  allgemein  mensch- 
liche eine  bestimmende  niittelstellung  einzuräumen. 

So  erhoffte  und  erstrebte  Hildebrand  einen  unmittelbaren  einfluss  der  deutschen 
Philologie  auf  das  leben.  Ihm  war  die  Wissenschaft  eben  nicht  blosse  kalte,  interes- 
selose verstandessache ;  wie  er  sie  ausübte,  war  die  Wissenschaft  vielmehr  zugleich 
ein  ausfluss  des  gemütes  und  des  gewissens.  „Das  blosse  wissen",  rief  er  aus,  „der 
blosse  verstand  gibt  uns  von  einem  gegenstände  nur  die  umrisse  und  die  fläche,  gibt 
ihn  uns  nui-  als  äusseres  Schauspiel;  die  färbe  aber  und  den  duft  und  die  seele  oder 
das  volle  leben,  die  tiefe  gibt  uns  allein  die  eigenste  beteiligung,  d.  h.  das  empfin- 
den, das  gemüt!" 

Wie  in  dem  entschlafenen  verstand  und  gefühl,  wissen  und  gemüt  zusammen- 
wirkten, das  offenbaren  besonders  charakteristisch  die  „Tagebuchblätter  eines  sonu- 
tagsphilosophen ",  die  er  1887  imd  1888  in  den  „Grenzboten"  ohne  seinen  namen 
veröffentHchte.  Ein  sonntagsphilosoph !  Mit  sichtlicher  Vermeidung  alles  systema- 
tischen streut  Hildebrand  denn  hier  eine  fülle  gelegentlicher  anregungen  aus,  ganz 
wie  es  für  seine  lehrart  überhaupt  charakteristisch  war.  Mit  Vorliebe  wirkt  er  auch 
hier  für  gemütsbildung  und  nationale  tatkraft.  Nicht  nur  für  gegenständliches  den- 
ken in  Goethes  sinne  tritt  Hildebrand  widerum  ein ;  auch  für  das  leben ,  für  das  liandeln 
gegen  ein  blosses  denken  kämpft  er  im  geiste  von  Goethes  „Faust",  und  er  widerholt 
Goethes  ausruf:  „Armer  mensch,  an  dem  der  köpf  alles  ist!"  In  einem  dieser  tage- 
buchblätter  spricht  er  „Vom  zusammenleben",  widerum  auf  Goethe  fussend,  dessen 
„Natürliche  tochter"  er  geschickt  als  zeugnis  gegen  den  egoismus  heranzieht.  Ein 
andermal  verfolgt  er  an  der  band  der  Htteratur  „Deutsche  Prophezeiungen  über  sie- 
ben jakrhunderte  hin",    mit  einer  verständnisvoll    rettenden    auslegung  von  Goethes 

1)  In  unserer  Zeitschrift  erschienen  folgende  arbeiten  R.  Hildebrands:  I,  442  ,,ein  wunderlicher 
rheinischer  accusativ"  (vgl.  noch  11,  190);  I,  448  ,,die  bedeutung  der  krypta";  II,  188  ,,zu  Schil- 
lers Teü";  II,  253  ,,zur  geschichte  des  Sprachgefühls  bei  den  Deutschen  und  Eömern";  II,  468  ,,zur 
Gudrun";  III,  358:  anzeige  von  Dietz,  Wörterbuch  zu  Luthers  schritten;  IV,  356:  anzeige  von  Kudrun 
herausgegeben  von  Martin.  —  Mehrere  von  diesen  arbeiten  und  viele  andere  zerstreute  aufsätze  Hilde- 
brands sind  vereinigt  erschienen  als :  Gesammelte  aufsätze  und  vortrage  zur  deutschen  philologie  und 
zum  deutschen  Unterricht.    Leipzig  1890.  0.  E. 


RUDOLF    HILDEBRAND  79 

festspiel  „Des  Epimenides  erwachen."  Gleicherweise  zieht  unser  sonntagsphilosoph 
musik  und  bildende  kunst,  menschen-  und  tierseele,  leben  und  sterben,  trauer  und 
treue  heran;  auch  stiftet  er  eine  Versöhnung  zwischen  der  guten  alten  zeit  und  dem 
fortschritt,  unter  der  bedingung,  dass  man  den  ton  auf  das  erste  attribut  „gut"  lege. 

Alles  nationale,  alles  volkstümliche  und  alles  individuelle  nährt  Rudolf  Hilde- 
brand; das  nächstliegende  heisst  er  uns  ergreifen  —  wie  Goethe,  von  den  kindern 
lernen  —  im  geiste  des  Heilandes.  Denn  er  war  eine  voll  harmonische  und  tief  reli- 
giöse natur.  Engherzigkeit  war  ihm  aber  auf  religiösem  und  nationalem  wie  auf  wis- 
senschaftlichem gebiete  zuwider.  Zuwider  war  ihm  auch  jede  Wissenschaft,  die  nur  an 
der  materie  klebt.  Die  einseitig  grammatische  wie  die  rein  physiologische  betrachtung 
der  Sprache  wies  er  ab,  ohne  ihr  begrenztes  recht  zu  verkennen:  die  psychologie 
habe  in  der  Sprachwissenschaft  ergänzend  neben  die  physiologie  zu  treten;  ihre  ein- 
hoit  wird  beiden  gegeben  in  betrachtung  der  spräche  als  kunstwerk,  welches  das 
geistige  leben  in  seiner  ganzen  erscheinung,  seinem  ganzen  wesen  einfängt.  Diese 
bedeutsame  auffassung  ist  für  Hildebrand  bezeichnend:  er  war  eine  künstlerische, 
positive,  schöpferische  natur.  Wie  sehr  seine  persönlichkeit  wol  an  Geliert  erinnern 
mag  —  seir  geist  war  doch  vielfach  Herder  und  Jakob  Grimm  verwant.  Demgemäss 
schienen  ihm  in  der  litteraturwissenschaft  diejenigen  betrachtungsweisen  nicht  anspre- 
chend, die  sich  in  kühlem  feststellen  von  tatsachen,  in  mechanischer  handhabung 
eines  äusseren  apparates  gefielen.  Ihn  fesselte  mehr  die  methode  als  das  System, 
mehr  die  nachschaffende  („rekonstruierende")   als  die  kritische  Seite  der  Wissenschaft. 

Das  erklärt  den  zauber,  den  Hildebrand  als  akademischer  lehr  er  ausübte. 
Nicht  freilich  was  man  „schwarz  auf  weiss"  „nach  hause  tragen"  kann,  erwarben  wir 
bei  ihm ;  aber  auregung  für  alle  selten  der  philologischen  arbeit  und  fürs  ganze  leben. 
Von  scheinbaren  nebensachen  aus  und  durch  Seitensprünge  eröffnete  er  ausblicke  ins 
unbegrenzte.  An  das  gemüt,  nein,  an  die  ganze  persönlichkeit  der  hörer  wandte  sich 
meister  Hildebrand,  indem  er  zeigte,  wie  viel  mehr  an  dem  philologischen  lernstoff 
haftete  als  etwa  blosses  denkwerk.  So  wusste  er  hunderte  von  jugendlichen  herzen 
zu  begeistern  —  für  die  Wissenschaft  von  deutscher  spräche  und  dichtung  wie  unwill- 
kürlich auch  für  den  meisterlichen  lehrer  selbst.  Doch  weiter  reichte  seine  persön- 
liche Wirkung.  "Wer  wäre  je  von  ihm  ohne  anregung,  ohne  erquickung  gegangen? 
Noch  in  der  langen  krankheit  seiner  letzten  jähre  leuchtete  sein  äuge  auf,  sobald  im 
gespräch  ein  gegenständ  berührt  wurde,  der  ihm  am  herzen  lag;  und  wie  viel  lag 
ihm  nicht  am  herzen,  zum  besten  unserer  Wissenschaft  wie  unseres  Volkes!  Dann 
konnte  er,  je  nachdem  gegenständ  und  Stimmung  es  mit  sich  brachten,  jubeln  und 
weinen,  begeistert  anfeuern  oder  grimmig  auffahren.  Alles  in  ihm  gieng  durch  das 
gemüt.  Wer  ihm  je  als  Schüler  oder  freund  nahegetreten  ist,  den  wird  sein  bild 
nimmer  lassen.  Und  wie  es  sich  unauslöschlich  in  die  herzen  seiner  jünger  und  in 
die  geschichtsbücher  der  Wissenschaft  vom  deutschen  eingegraben  hat,  so  steht  es 
mahnend  und  bahnweisend  an  der  pforte  der  zukunft,  auf  dass  unsere  Wissenschaft 
gedeihe  in  Schöpferkraft  und  Wetteifer  mit  dem  frischen,  befruchtenden  leben! 

KIEL.  EUGEN   WOLFF. 


80      .  THURNETSEN 

LITTEEATUR 

Nennius  vindicatus.     Über  entstehung,   geschichte  und  quellen  der  Historia  Brit- 
toaum.   Von  Heinrich  Zimmer.    Berlin,  Weidmann.  1893.  VIII  u.  342  s.  8.  12  m. 

Die  frage  nach  geschichte  und  Verfasser  der  Historia  Britonum  schien  nach 
den  letzten  Untersuchungen  sich  in  nebel  auflösen  zu  wollen;  Zimmers  buch  hat  ihr 
wider  einen  festeren  rückgrat  gegeben.  Ein  glücklicher  gedanke  war  jedesfaUs  die 
veränderte  fragestelluug.  Während  man  bisher  vor  allem  nach  der  zeit  der  entste- 
hung der  einzelnen  bestandteile  zu  forschen  pflegte,  wobei  die  durch  das  werk  zer- 
streuten widerspruchsvollen  zahlen  wie  irrlichtev  jeden  in  eine  andere  Sackgasse  ver- 
lockten, fragt  Zimmer  zunächst  nach  dem  „wo?".  Die  beautwortung  dieser  frage 
erleichtert  dann  auch  die  auffindung  von  etwas  sichereren  daten.  Auch  der  beinahe 
schon  aufgegebene  „Nennius"  wii'd  als  wirklicher  Verfasser  einer  redaktion  der  Hi- 
storia erwiesen;  daher  der  titel  des  buches.  Die  grundlage  bildet  das  handschrift- 
liche material,  das  Mommsen  für  die  ausgäbe  des  Nennius  in  den  Monumenta 
gesammelt  hat  (s.  das  vorwort). 

Das  buch  zeigt  denselben  Charakter,  wie  die  andern  arbeiten  des  Verfassers: 
einen  ungeheuren  Impetus,  der  vor  keiner  folgerung  zurückscheut.  Jede  einmal 
geäusserte  Vermutung  wird  zum  weiterbau  verwendet  (vorrede  IV);  hierdurch  ent- 
steht für  den  rein  ästhetischen  beurteiler  ein  bild  A'on  berückender  eiuheitüchkeit  — 
wie  einige  erschienene  recensionen  des  Werkes  zeigen  — ,  für  den  dem  zweifei  zugäng- 
lichen leser  aber  ein  unbehagliches  gefühl,  wie  wenn  er  ein  hochragendes  gebäude 
auf  einem  fuudament,  in  dem  sich  luftsteine  unter  die  quadern  mischen,  aufrichten 
sähe.  Das  umfangreiche  buch  mit  all  seinen  detailuntersuchungen  hätte  einen  aus- 
führlichen index  verlangt,  der  aber  fehlt;  das  Verzeichnis  der  quellen  der  Historia 
(s.  265  fgg.)  bietet  einigen,  aber  ungenügenden  ersatz;  so  werden  auch  manche  gute 
gedanken,  die  in  dem  meere  von  hypothesen  schwimmen,  leicht  übersehen  oder  ver- 
gessen werden. 

Zimmers  hauptresultate  sind  (s.  275  fgg.):  Im  jähre  679  schrieb  ein  Britta  des 
nördlichen  Kymrenstaats  eine  geschichte  der  Angeln  und  Britten  des  nordens  bis  auf 
seine  zeit  (§57  fgg. ^  der  späteren  Historia);  sie  war  als  fortsetzuug  gedacht  zu 
dem  überblick  über  die  britannische  geschichte,  welche  die  einleitung  bildet  zu  der 
von  Gildas  um  540  verfassten  schrift  De  excidio  Britamiiae.  Aus  jener  geschichte, 
die  inzwischen  einige  Zusätze  erhalten,  schuf  der  Südkymre  Nennius,  der  auf  der 
grenze  von  Brecknock-Eadnor  und  Herefordshire  lebte,  im  jähre  796  die  Historia 
Brittonum  (nach  Zimmer  Volumen  Britanniac  genannt;  s.  u.  s.  90),  namentlich  indem 
er  aus  sehr  verschiedenen  quellen  einen  ersten  teil  dazu  neu  komponierte  (bis  §  56). 
Sie  ist  nur  in  verwirrtem  zustande  auf  uns  gekommen,  indem  in  früher  zeit  zwei 
blätter  einer  handschrift  herausfielen,  an  falscher  stelle  eingelegt  imd  kopiert  wurden. 
Der  beste  Vertreter  dieser  redaktion  ist  cod.  A  (Harleian  3859);  doch  kommen  dane- 
ben die  handschriften  DE  in  betracht  (s.  171*,  280).  Auch  die  vaticanische  recension 
(die  sog.  Marcus -handschriften^)  ist  nicht  altertümlich,  sondern  aus  dieser  Harleian - 
recension  im  5.  jähre  könig  Eadmunds  (946)  durch  einen  Engländer  umgearbeitet 
(s.  167  fgg.).     Vor  der  Verwirrung  hatte  ein  auf  Anglesey  lebender  schüler  eines  pres- 

1)  Ich  citiere  hier  und  im  folgenden  nach  der  ausgäbe  von  San-Marte  (Ste- 
venson). 

2)  Über  den  Ursprung  des  titeis  Marctis  anachoreta  s.  G.  Paris,  Romania  12,    1 
370;  Zimmer  169.  ' 


ÜBER    ZIMMER,    NENNIUS    VINDICATUS  81 

byters  Beulan  um  810  eine  neue  redaktioa  mit  einigen  Zusätzen  und  mit  kürzung 
der  geschichte  des  nordens  veranstaltet,  die  Zimmer  als  „nordwelsche  recension" 
der  „südwelschen"  (=  Harleian)  gegenüberstellt.  In  lateinischer  gestalt  ist  sie 
verloren,  liegt  dagegen  der  irischen  Übersetzung  zu  gründe,  die  der  irische  dich- 
ter und  annalist  Gilla  Coemgin  vor  1072  angefertigt  hat;  daher  ist  diese  von  hervor- 
ragender Wichtigkeit.  Auszüge  aus  der  lateinischen  fassung  finden  sich  als  randnoten 
in  mehreren  hand'=chriften  der  südwelschen  recension  und  sind  in  einigen  haudschrif- 
ten  in  deren  text  aufgenommen.  Eine  solche  handschrift  ist  L  (13.  jh.),  die  ein  spä- 
tes bombastisches  machwerk  (§1.  2)  als  erste  vorrede  vorschiebt  (s.  48). 

Soweit  Zimmer.  Einige  lokalisierungen  und  daten  scheinen  mir  begründet; 
dagegen  was  über  gestalt  und  inhalt  der  älteren  recensionen  erschlossen  ist,  hat  sich 
im  wesentlichen  als  irrig  herausgestellt.  Den  hauptstoss  hat  das  gebäude  erlitten 
durch  Mommsens  nach  weis,  dass  die  handschrift  von  Chartres  (9.  — 10.  jh.),  die  auch 
Zimmer  (s.  201  fg.)  gekannt,  aber  in  ihrem  wert  nicht  erkannt  hat,  eine  abschrift  der 
Eist.  Britt.  enthält  in  der  gestalt,  die  sie  vor  Nennius  gehabt  hat\  Sie  ist  jetzt  all- 
gemein zugängiich  durch  Duchesnes  abdruck  in  der  Eevue  Celtique  15,  174  fgg., 
der  auch  einige  bemerkungen  daran  knüpft-.  Ich  bezeichne  sie  mit  Ch.  Die  vorläge 
dieser  —  im  einzelnen  sehr  fehlerhaften  —  handschrift  war  unvollständig,  so  dass  sie 
leider  mitten  in  §  37  abbricht.  Doch  so  wie  sie  ist,  genügt  sie,  um  auf  den  ersten 
blick  folgendes  zu  lehren:  1.  Auch  der  erste  teil  der  Eist,  rührt  in  seinen  wesent- 
lichen bestandteilen  nicht  von  Nennius  her,  sondern  gehörte  schon  dem  älteren  werke 
an.  Dieses  war  also  nie  als  fortsetzung  von  Gildas  gedacht.  2.  Die  scheinbare 
Unordnung  der  „südwelschen  recension"  beruht  nicht  auf  ausfall  von  blättern,  son- 
dern ist  altererbt;  im  gegenteil  hat  Nennius  durch  ein  paar  eingestreute  sätze  den 
weg  gewiesen,  sich  in  dem  etwas  chaotischen  gemengsei  zurechtzufinden.  Also  sind 
auch  die  daten  in  §  16  nicht  erst  später,  beim  kopieren  einer  verwirrten  handschrift 
eingefügt.  3.  Die  „nordwelsche  recension"  hat  also  gleichfalls  nie  einen  „geordneten" 
text  besessen;  sie  ist  nicht  verloren,  sondern  bestand  von  anfang  an,  ausser  in  der 
kürzung  des  Schlusses,  in  ein  paar  rand-  oder  interlinearnoten,  wie  sie  noch  mehrere 
handschriften  bieten.  4.  Die  vaticanische  recension  hat  neben  Nennius  eine  handschrift 
des  vornennianischen  Werkes  benützt  und  verarbeitete  5.  Das  gleiche  gilt  von  der 
irischen  Übersetzung.  Schon  Heeger  hat  in  seiner  anzeige  des  buches*  —  ent- 
gegen seiner  eigenen  früheren  ansieht  —  ausgesprochen,  dass  ihre  verständigere  anord- 
nung  nicht  der  lateinischen  vorläge  (Zimmers  x) ,  sondern  dem  Übersetzer  zu  verdanken 
sei,  was  jetzt  keines  beweises  mehr  bedarf.  Mit  recht  bezweifelt  er  auch  die  autor- 
schaft  des  GiUa  Coemgin.  Zimmer  (s.  13  fg.)  gründet  sie  auf  den  Untertitel  in  der 
einen  der  4  vollständigen  hss.,  im  Book  of  Hy-Mane  (vor  1423  geschrieben):  In- 
cipit  de  Britania  airte  quam  Nenius  constriixit ;  Qilla  Coemain  ro  rmpai  i 
scotic^  d.  h.  „G.  C.  übersetzte  [sie]  ins  ii-ische" ".     Die  notiz  könnte   nur  wert  haben, 

1)  Neues  archiv  der  ges.  für  ältere  deutsche  geschichtskunde  19.  283  fgg. 

2)  Ein  störender  druckfehler  ist  dort  s.  176  die  zahl  [11]  statt  [10]  nach  §  9. 

3)  Mommsen,  a.  a.  o.  288. 

4)  Gott.  gel.  anz.,  mai  1894,  s.  399  fgg. 

5)  Zimmer  korrigiert  airte  in  aiste  und  übersetzt:  ex  ea,  quam.  Vor  einem 
relativsatz  kann  aber  ex  ea  irisch  nicht  aiste  (este)  heissen,  wie  ja  wol  Zimmer  sel- 
ber weiss.  Vielmehr  steht  airte  nach  irischer  Schreibweise  für  arte.  Die  Überschrift 
umschreibt  ungeschickt:  hicipit  eulogium  hrevissimum  Britanniae  inszdae,  qiiod 
Ninius  Elvodugi  diseipulus  congregavit,  wonüt  mehrere  Nenniushss.  beginnen;  sie 
gibt  also  eidogümi  durch  ars  wider. 

ZEITSCHRIFT    F.    DF.UTSCHE    PHILOLOGIE.      BD.  XXVHI.    .  t> 


82  THURNEYSEN 

weim  sie  iu  alte  zeit  hioaufreichte.  Hiergegen  spricht  nicht  nur,  dass  sie  in 
der  parallelhs.  D  (H.  3.  17  Trin.  Coli.,  Dublin)  fehlt \  sondern  namentlich  auch 
die  Schreibung  des  namens.  Der  Verfasser  der  Historia  heisst  für  den  irischen 
Übersetzer  durchaus  Nenmius  oder  Nemnus:  in  §  3  (Todd  s.  24)  liest  D  Niimnus, 
L  Netmtius,  B  Neimnus,  in  der  Überschrift  von  §  13  (Todd  s.  42)  D  und  B  Nemnus, 
L  Nemius  (Todd  s.  VIII),  in  §48  (Todd  s.  104)  hat  die  älteste  hs.  TJ  Nemnus, 
D  Neamnos,  L  Nemnes,  nur  B  Nenus.  Die  Überschrift  mit  Nenius  geht  also  nicht 
in  die  zeit  des  Übersetzers  zurück.  Ist  sie  aber  späterer  zusatz,  so  hat  sie  keine 
bedeutung,  da  Gilla  Coemgin  als  Verfasser  annalistischer  gedichte  auch  in  späteren 
Jahrhunderten  wolbekannt  war,  sein  name  sich  also  leicht  für  ein  historisches  werk 
dai'bot.  Die  frage  ist  insofern  weniger  wichtig,  als  ein  fragment  der  Übersetzung  sich 
bereits  in  dem  vor  1106  geschriebenen  Lebor  na  h-Uidre  findet,  sie  also  nicht  spä- 
ter ist  als  das  11.  Jahrhundert  (der  terminus  -post  quem  ist  das  jähr  910;  s.  u.).  Es 
ist  somit  der  zeit  nach  möglich,  aber  freilich  nach  allem  sonstigen  sehr  unwahr- 
scheinlich, dass  sie  von  Gilla  Coemgin  herrührt. 

Die  grundlage  für  den  Ii-en  bildete,  wie  sich  aus  Zimmers  Untersuchungen 
ergibt,  ein  Nennius  mit  randnoten,  die  „nordwelsche  recension",  und  zwar  steht  ihr 
im  allgemeinen  hs.  G  am  nächsten  (Zimmer  s.  43).  Heegeri  hat  aber  nicht  erklärt, 
ja  merkwürdiger  weise  die  frage  gar  nicht  berührt,  woher  die  zum  teil  besseren  les- 
arten  des  Iren  stammen,  die  sich  entweder  nur  in  der  vaticanischen  recension  oder 
selbst  da  nicht  widerfinden;  und  doch  hatte  sie  Zimmer  s.  19  fg.  zusammengestellt. 
Das  rätsei  löst  sich  jetzt  aufs  einfachste.  Der  irische  bearbeiter  hat,  wie  ein  blick  in 
Todds  ausgäbe  lehrt,  verschiedene  andere  quellen  beigezogen.  Eine  derselben  war 
nun  sicher  eine  Hist.  Britt.  in  vornennianischer  gestalt.  Er  hat  sie  da  verwendet, 
wo  sie  ihm  richtigeres  und  genaueres  zu  bieten  schien  als  sein  Nenmus,  dagegen  ihre 
verwoiTenen  partieen  bei  seite  gelassen.  Aus  ihr  stamt  die  notiz  in  §  31  (Todd  s.  78), 
dass  im  jähre  347  nicht  Gratianus  Aequantius,  wie  alle  Xenniushss.  lesen,  sondern 
Gratianus  und  Aequitius  „herrschten"-.  Ferner  hat  er  ihr-  offenbar,  wie  die  vatica- 
nische  recension,  die  zahl  der  12  magi  (§40,  Todd  s.  90),  das  wort  nitilsaxum  (= 
Middelsaxum)  am  schluss  von  §46  (Todd  s.  102)=*  und  den  satz:  stagnum  figura 
(der  Ire  las  regniim)  hujus  mundi  est  in  §  42  (Todd  s.  96)  entnommen.  Die  irische 
Version  komt  also  für  die  Nenniustradition  nur-  in  dem  grade  in  betracht,  wie  die 
vaticanische  recension. 

Stellen  sich  so  Zimmers  misgiiffe  als  recht  beträchtlich  heraus,  so  erscheinen 
sie  doch  darum  verzeihlich,  weil  sie  eigentlich  alle  in  dem  autem  des  zweiten  satzes 
von  §  10  wurzeln.  Und  in  der  tat,  wer  einmal  die  bedeutung  von  Ch  verkannte, 
konnte  nicht  wol  erraten,  dass  das  autem  des  Nennius  den  gegensatz  zu  einer  dar- 
stellung  bezeichnet,  die  gar  nicht  mehr  vorhanden  ist,  weil  sie  eben  Nennius  in  sei- 
ner recension  unterdrückt  hat.  Es  ist  der  anfang  von  §  10  in  Ch,  den  auch  die 
vaticanische  recension  leicht  geändert  wider  aufgenommen  hat.  Anstatt  nun  Zimmers 
aufstellungen ,  die  durch  Mommsens  nachweis  fast  alle  in  eine  schiefe  läge  geraten 
sind,    einzeln  zu  durchgehen,    glaube  ich  den  lesern  dieser  Zeitschrift  einen  besseren 

1)  s.  Heeger,  a.  a.  o.  401  fg.         2)  Rev.  Celt.  15,  178. 

3)  Der  fehler  des  Nennius  erklärt  sich  dai'aus ,  dass  in  der  handschrift  Middel- 
saxum und  der  zu  §47  gehörige  satz:  ut  ab  illicita  conjunctione  se  scpararet  aus- 
gelassen, aber  am  rande  nachgetragen  waren.  Durch  falsche  beziehung  der  verwei- 
sungszeichen  kam  der  satz  an  stelle  von  Middelsaxum  ans  ende  von  §  46  und  letz- 
teres wui"de  übersehen. 


ÜBEK    ZIMMER,    NENNIUS    VINDICATUS  83 

dienst  ZU  erweisen ,  wenn  ich  kurz  zu  bestimmen  suche,  wie  sich  auf  grund  des  Zim- 
merschen  buches  einerseits,  der  Bemerkungen  Mommsens  und  Duchesnes  anderseits 
die  g-esehichte  der  Historia  Brittoinim  gestaltet. 

Die  handschrift  Ch  führt  den  titel:  Incipiunt.  exberta.  flnirhaoen^  de  libro 
sei.  Germani  inventa  et  origine.  et  genelogia  Britonum.  de  aetatihus  micndi. 
Das  zweite  wort  kann  nur  excerpta  bedeuten,  da  Nennius  §  3  über  seine  tätigkeit 
berichtet:  Ego  Nennius  .  . .  aliqua  excerpta  scribere  curavi,  qtiae  hebetudo  gentis 
Britanniae  dejecerat.  Es  lag  ihm  also  ein  werk  mit  ähnlichem  titel  vor.  Das 
dritte  wort  ist  natürlich  fll  (d.  i.  fdii)  TJrbagen  zu  lesen  und  erinnert  sofort  an 
Rum  (besser  Run).,  söhn  des  Urbgen,  der  sich  in  §  63  der  Historia  des  Nen- 
nius ziemlich  unmotiviert  in  den  Vordergrund  drängt.  Dort  wird  dem  bericht,  dass 
der  nordhumbrische  herrscher  Eadguin,  ein  jähr  nach  der  taufe  seiner  tochter 
Eanfled,  mit  :'2000  mannen  sich  taufen  liess  (nach.  Beda  i.  j.  627),  beigefügt:  Si 
quis  scire  voluerit.^  quis  eos  baptixavit,  Rum  map  Urbgen  baptixavit  eos;  et  per 
qiiadraginta  dies  non  cessavit  baptixarc  omne  genus  A7nbronuni^  et  per  praedi- 
eationem  illius  tnulti  crediderunt  in  Christo,  eine  notiz,  die  auch  die  Annales 
Cambriae  a.  626  aufgenommen  haben.  Ein  namhafter  map  Urbgen  im  7.  Jahrhun- 
dert kann,  da  der  name  nicht  häufig  ist,  fast  nur  ein  söhn  des  brittenfürsten  Urbgen 
(später  Uryen)  sein,  der  auf  einem  feldzuge  gegen  den  Nordhumbrerkönig  Theodric 
(572  —  .'Ö79)  auf  anstiften  seines  brittischen  bmidesgenossen  Morcant  ermordet  wurde 
(Nennius  §  63)',  also  ein  bruder  des  sagenberühmten  Euein  {Yivein,  Owein)  mab 
Uryen.  Da  Run  map  Urbgen  ein  geistlicher  war,  also  latein  konnte,  werden  wir  in 
dem  ßlius  Urbagen  der  alten  Überschrift  kaum  einen  dritten  bruder,  sondern  wol 
eben  diesen  Sun  zu  sehen  haben.  Diese  Übereinstimmung  des  namens  macht  Duches- 
nes annähme  (a.  a.  o.  187),  der  zweite  teil  der  Hist.,  die  geschichte  des  nordens, 
habe  dem  ursprünglichen  werke  gefehlt,  ganz  unwahrscheinlich.  Vielmehr  drängt 
sich  sofort  die  frage  auf,  ob  dieser  söhn  Urbgens ,  auf  den  laut  dem  titel  die  excerpta 
de  libro  sancti  Germani  zurückgehen,  welche  wir  längst  aus  Nennius  als  haupt- 
quelle der  geschichte  Guorthigirns  kannten,  nicht  überhaupt  das  ganze  ältere  werk- 
chen verfasst  habe.  Da  der  erste,  in  Ch  erhaltene  teil  keine  daten  liefert,  kann  nur 
der  dort  fehlende  Schlussteil  (ab  §  56  ende)  die  antwort  geben. 

Dieser  gewöhnlich  unter  dem  falschen  titel  genealogiae  Saxomim  zusammen- 
gefasste  abschnitt  besteht  bei  Nennius  aus  zwei  ganz  verschiedenen  bestandteilen. 
An  die  kämpfe  Arthurs  wird  §  56  mit  kühner,  nicht  ungeschickter  wendung  eine 
geschichte  des  nordens  von  der  regierungszeit  des  Ida,  den  der  Verfasser  für  den 
ersten  einheimischen  fürsten  der  Nordhumbrer  hält,    bis  auf  Ecgfrid  angehängt.     Sie 

1)  So  Duchesne;  bei  Mommsen:  fu  Urbacen. 

2)  Weil  in  glossaren  ambro  mit  devorator  erklärt  wird  und  Güdas  §  14  die  ein- 
fallenden Bieten  und  Iren  quasi  ambrones  lupi  nennt,  übersetzt  Zimmer  s.  105: 
,40  tage  liess  er  nicht  nach,  bis  er  die  ganze  räuberbande  getauft  hatte"  (!). 
Ich  brauche  kaum  darauf  hinzuweisen,  dass  der  schluss  der  Hist.  überhaupt  keine 
animosität  gegen  die  germanischen  stamme  dm-chbhcken  lässt,  dass  eine  solche  aber 
gerade  bei  ihrer  taufe  besonders  unangebracht  wäre.  Vielmehr  waren  die  latinisten 
Britanniens  in  Verlegenheit,  wie  sie  „Nordhumbrer"  ins  lateinische  übersetzen  soll- 
ten, und  gebrauchten  dafür  den  alten  völkerhamen  Ättibrones.  Vielleicht  erst  Beda 
hat  die  form  Nordanhymbi-i  gewagt;  in  dem  von  ihm  citiei-ten  briefe  des  erz- 
bischofs  Theodor  vom  jähre  680  heisst  Ecgfrid  noch  rex  Eymbronensium  (Hist. 
eccl.  4,  17),  eine  leichte  Variante  zu  Ambrones. 

3)  Die  Zeitrechnung  bei  Zimmer  95**  verstehe  ich  nicht. 

6* 


84  THÜRNEYSEN 

steht  in  §  56  ende  und  in  §  61  ende  bis  §  65.  Störend  schieben  sich  wie  ein  keil 
in  diese  fortlaufende  geschichte  und  zwar  mitten  in  den  bericht  über  Ida  die  §§  57 
bis  61  ein,  enthaltend  genealogieen  der  fürsten  von  Bernicia,  Kent,  Ostangeln,  Mercia 
und  Deira.  Sie  nehmen  zwar  deutlich  auf  jene  geschichte  des  nordens  bezug;  aber 
diese  ihrerseits  lässt  sie  völlig  unberücksichtigt.  Es  finden  sich  selbst  genealogische 
Widersprüche.  Nach  §63  ist  Aedlric  söhn  des  Adda,  nach  den  genealogieen  §57 
bruder  desselben;  nach  §65  ist  Eegfrid  söhn  des  Osbiu,  nach  den  genealogieen 
§  57  ist  Aechßrd  söhn  von  Osbius  bruder  Osguid.  Demnach  sind  die  genealogieen 
nach  Vollendung  der  geschichte  eingefügt  worden^  und  fallen  für  die  verfasserfrage 
ausser  betracht.  "Wann  und  von  wem  sie  eingeschoben  worden,  darüber  imten.  Die 
alte  geschichte  des  nordens ,  in  der  §  63  die  erwähnung  Run  map  TJrbgens  vorkommt, 
reichte,  wie  Zimmer  s.  96  richtig  konstatiert  hat,  bis  zu  dem  satze:  Eegfrid  filius 
Osbiu  regnavit  novem  annis,  also  bis  zum  9.  jähre  des  Nordhumbrerkönigs  Eegfrid, 
d.  h.  678/679.  Die  notiz  über  den  tod  des  bischofs  Cudbertus  und  was  in  §  65  wei- 
ter folgt,  sind  spätere  zusätze.  Nun  ist  klar,  dass  ein  söhn  des  vor  579  gestorbenen 
Urbgen  zwar  sehr  wol  die  taufe  Eduinis  a.  627  erleben,  aber  unmöglich  noch  lun  679 
Schriftstellern  konnte.  Da  die  erzählung  in  einem  tenor  weitergeht,  wir  also  kein 
recht  haben,  den  urspmnglichen  schluss  etwa  nach  der  taufe  Eduinis,  vor  §  64  zu 
setzen,  kann  Run  map  Urbgen  nicht  der  Verfasser  des  ganzen  sein. 

Somit  steht  zunächst  nur  fest,  dass  der  Verfasser  des  jahres  679,  den  ich  in 
ermangelung  eines  namens  im  folgenden  den  „Historiographen"  nennen  will, 
excerpte,  die  der  bis  627  lebende  Run  map  Urbgen  aus  einem  liber  saneti  (oder 
beati'^)  Qermani  ausgezogen  hatte,  zu  einer  geschichte  Britanniens  verarbeitete.  Map 
Urbgen  hatte  diejenigen  stellen  aus  dem  Heiligenleben  excerpiert,  die  sich  auf  Britten- 
fürsten,  auf  Catell  den  Stammvater  der  könige  von  Powis  (§32  —  35)  imd  namentlich 
auf  Guorthigirn  bezogen.  Aber  die  ganze  geschichte  Guorthigirns  stammt  keines- 
falls daher.  Bei  seinem  tode  werden  ausdrücklich  zwei  andere  berichte  neben  dem 
des  liber  beati  Germani  erwähnt  (§  47.  48).  Auch  z.  b.  die  magiergeschichte  §  40  bis 
42,  die  zur  gründung  von  Cair  Guorthigirti  führt  und  nichts  christliches  enthält  — 
Guorthigirn  flieht  dort  nicht  vor  dem  heil.  Germanus,  sondern  vor  den  Germanen  — , 
kann  in  keinem  Heiligenleben  gestanden  haben;  bestätigt  wird  dies  dadurch,  dass  in 
§  42  die  Germanen  gens  Anglorum  genannt  werden,  während  sie  sonst  in  diesem 
abschnitt  (§  36.  45.  46)  Saxones  heissen.  Der  §  43  verdankt  seinerseits  erst  der  Pro- 
phezeiung in  §  42  seinen  Ursprung.  Dreimal  jagen  sich  die  schlangen  und  Ambro- 
sius  verheisst:  ^Postea  gens  nostra  surget  et  gentem  Anglorum  frans  mare  dejiciet."' 
Da  nun  tatsächlich  das  gegenteil  einer  völligen  vertreibmig  der  Germanen  eintrat,  hat 
ein  späterer  die  prophezeiung  dahin  gedeutet,  dass  Guorthemir,  Guorthigirns  söhn, 
sie  dreimal  auf  die  insel  Tanet  (also  t?-ans  mare)  verjagt  habe.  Die  Situation  ist 
dem  folgenden  §  44  entnommen,  der  also  älter  ist.  "Welche  von  diesen  Zusätzen  auf 
Run  selbst,    welche  auf  den  historiographen  zurückgehen,  will  ich  nicht  entscheiden. 

1)  Ursprünglich  wird  an:  auxiliimi  a  Germania  petebant  et  augebantur  mul- 
tipliciter  sine  iitterniissione  et  reges  a  Germania  deducebant,  ut  regnarent  super 
illos  in  Brittannia,  usque  ad  tempus  quo  Ida  regnavit,  qui  fuit  Eobba  filius  (§56) 
direkt  angeschlossen  haben:  Ida  teniiii  regiones  in  sinistrali  parte  Brittaniae  i.  e. 
Umbri  maris  et  regnavit  annis  XII  usw.  (§61).  Der  satz:  ipse  fuit  usw.  (§56 
schluss)  und  die  worto  filius  Eobba  (nach  Ida  §  61)  sind  zugleich  mit  den  genealo- 
gieen eingefügt  worden. 

2)  So  §  47. 


ÜBER    ZIMMER,    NENNIUS    VINDICATUS  85 

Doch  scheint  mir  sicher,  dass  jener  ausser  den  Exeerpta  einiges  weitere  aufgezeich- 
net hatte ;  denn  der  bericht  von  Eadguins  taufe  §  63  geht  doch  sicher  auf  eine  notiz 
von  ihm  zurück'.  So  ist  denn  die  weitere  Vermutung  gestattet,  dass  die  berichte 
über  ältere  nordbrittische  ereignisse,  vielleicht  namentlich  die,  bei  denen  sich  kym- 
rische  spräche  unter  das  latein  mengt,  von  ihm  herrühren.  So  möglicher  weise  schon 
die  12  bclla  des  dux  bellornm  Arthur  §56.  Sicherer  der  satz:  Ida  ...  [jjunxit 
Din  Quayrdi"^  guiii-th  Berneich  (§  61),  „Ida  vereinigte  Din-Guoaroi  (das  heutige 
Bamborough)  mit  Bernicia",  nebst  der  notiz  über  die  änderung  dieses  namens  in 
Bebbanhurch  (§  63).  Ebenso  der  bericht  über  Dutigirn  und  die  zu  seiner  zeit  blühen- 
den Barden  (§  62),  da  Zimmer  s.  103*  scharfsinnig  erkannt  hat,  dass  et  Neirin  durch 
missverständniss  des  a-  aus  Aneirin  entstanden  ist.  Vermutlich  die  notiz  über  Mail- 
cunus  und  Cunedag  (§  62).  Sicher  die  über  die  kämpfe  der  Brittenfürsten  Urbgen, 
Eiderch  Heu,  Guallanc,  Morcant  und  den  tod  des  ersteren,  der  wol  in  Runs  knaben- 
zeit  fiel  (§  63);  der  satz  „[Urbgen]  jtigulatiis  est  Moreanto  destinante  pro  invidia, 
qiiia  in  ipso  prae  omnibiis  regihus  virtus  maxima  erat  [in]  instattratione  belli" 
schmeckt  deutlich  nach  familientradition.  Endlich  wol  auch  die  bemerkung  über  die 
eroberung  von  Elmet  (§63).  Ich  denke  mir  die  sache  etwa  folgendermassen ,  wenn 
auch  hier  natürlich  jede  Sicherheit  aufhört.  Der  historiograph  fand  eine  ziemlich  aus- 
führliche geschichte  Guorthigirns  und  manche  notizen  über  spätere  brittische  ereig- 
nisse vor.  Letztere  brachte  er  in  Zusammenhang,  indem  er  sie  an  eine  nordhum- 
brische  königsliste  anschloss,  die  ziemlich  genau  derjenigen  entsprach,  M'elche  von 
Petrie  Mon.  Bist.  Brit.  s.  290  aus  einer  handschrift  des  8.  Jahrhunderts  abgedruckt 
ist;  nur  ist  sie  hier  an  der  hand  von  Beda  bis  auf  Ceoluulf  (Beda  5,  23)  ergänzte 
Anderseits  hat  der  historiograph  den  zweiten  könig,  Glappa,  mit  einem  regierungs- 
jahr  übergangen,  weil  er  in  seine  regierung  nichts  cinziu'eihen  wusste.  Sonst  hat  er 
Dutigii-n  und  Mailcunus  an  könig  Ida  (547  —  559)  angeschlossen,  die  kämpfe  von 
Urbgen,  Eiderch  Hen,  Guallanc,  Morcant  an  die  fünf  könige  Adda  (560  —  568),  Aedl- 
ric  (568  —  572),  Deodric  (572  —  579),  Friodolguald  (579  —  585),  Hussa  (585  —  592); 
es  folgen  Eadfered  Flesaur(s)  592  —  616,  Eadguin  616  —  633,  Oswald  633  —  642, 
Osguid  642  —  670,    Ecgfrid    (seit  670)   bis   zu  seinem  9.  regierungsjahr*.     Unter  aU 

1)  Freilich  auf  eine  misverstaudene.  Die  erzählung  Bedas  2,  9  — 14  von  der 
bekehrung  und  taufe  Eduinis  durch  Paulinus,  sowie  über  dessen  36tägiges  katechi- 
sieren  und  taufen  der  Nordhumbrer  (2,  14)  ist  so  ausführlich,  dass  an  ihrer  glaubwür- 
digkeit  kaum  zu  zweifeln  ist.  Run  kann  also  nicht  die  taufe  sich  selber  zugeschrieben 
haben,  da  wir  keinen  grund  haben,  ihn  für  einen  lügner  zu  halten,  und  da  der 
kämpf  zwischen  Rom  und  den  altchristen  in  betreff  der  osterberechnung  damals  im 
norden  noch  nicht  entbrannt  war.  Vermuthch  war  er  bei  der  taufe  anwesend  gewe- 
sen und  hatte  eine  notiz  darüber  hinterlassen,  die  der  historiograph  so  auffassen 
konnte,  als  sei  ihm  die  hauptroUe  dabei  zugefallen.  Auch  der  satz  ^Eanfled  filia 
illius  XII.  die  post  Pcntccosten  baptismtim  accepit  cum  universis  hominibus  suis'^ 
usw.  sieht  gegenüber  Bedas  .„anno  DCXXVI.  Eanfled  fdia  Aeduini  regis  bapti%ata 
cum  XII  in  sabbato  Pentecostes"-  (5,  24)  wie  ein  missverständniss  der  zahl  XII  aus. 

2)  Nach  §  63  Din  Ouayroi  oder  Bin  Ouoaroi  zu  lesen. 

3)  Sie  lautet:  Anno  DXLVII  Ida  regnare  coepit,  a  quo  regalis  Nordanhym- 
broruin  i^rosapia  originem  tenet,  et  XII annis  in  regno  permansit  (vgl.  Beda  5,  24). 
Post  Juinc  Glappa  I  anno.  Adda  VIII.  Acdilric  IUI.  Theodrie  VII.  Friduuald  VI. 
Hussa  Vn.  Aedilfrid  XXIIII  Aeduini  XVII  Osuald  Villi.  Osuiu  XXVIU. 
Ecgfrid  XV.     Aldfrid  XX.     Osred  XI     Coinred  II     Osrid  XI.     Ceoluulf  VIIl 

4)  Schon  hieraus  ergibt  sich,  dass  der  abschnitt  y,Penda  filius  Pybba  regna- 
vit  X  annis"-  usw.  (§  65)  späterer  zusatz  ist,  da  Penda  nichts  mit  der  nordhumbri- 
schen  königsliste  zu  schaffen  hat. 


86  THURNEYSEN 

diesen  regierungen  aber,  auch  den  späteren,  wo  der  historiograph  selbständig  arbei- 
tet, wird  ausser  der  regierangsdauer  nur  das  erzählt,  was  direkt  die  Britten 
angeht  oder  wobei  Britten  beteiligt  sind.  Wenn  Zimmer  s.  105  diesen  teil  eine  „ge- 
schichte  der  Angeln  und  Britten"  nennt,  so  geschieht  es,  weil  er  die  später  einge- 
schobenen genealogieen  mit  hinzurechnet,  die  allerdings  mehrere  daten  der  Angeln- 
geschichte nachtragen. 

Dieser  Brittengeschichte  von  Guorthigirn  bis  679  hat  der  historiograph  eine 
einleitung  vorausgeschickt.  Sie  ist  uns  glücklicherweise  in  Ch  erhalten,  wenn  auch 
nicht  ganz  rein,  doch  nur  mit  wenigen,  leicht  auszuscheidenden  interpolationen.  So 
können   wir  uns   denn   ein   sehr  genaues  bild  machen  von  der 

Brittengeschichte  aus  dem  jähre  679 ^  Der  titel  mochte  lauten:  Inci- 
piunt  excerpta  fdii  Urbagen  de  libro  sancti  Germani  inventa,  et  genelogia 
Britonum.  Nennius,  der  den  titel  excerpta  auch  kennt  (s.  oben  s.  83),  scheint  den 
folgenden  nanien  bereits  nicht  mehr  haben  lesen  zu  können.  Denn  wo  er  sich  nach- 
weislich auf  diese  quelle  beruft,  nennt  er  sie  unbestimmt:  traditio  veterum,  qui 
incolae  in  pri?no  fuertint  Brittanniae  (§  17),  tetiis  traditio  seniorion  nostrorum 
(§27),  veteres  libri  veterum  nostrorutn  (§17  anfang)^  Dass  der  historiograph  als 
haupttitel  excerpta  fdii  Urbagen  beibehalten  hat,  bestätigt  wol  unsere  Vermutung, 
dass  ihm  nicht  nur  für  das  mittelstück,  sondern  auch  für  den  Schlussteil  aufzeich- 
nungen  map  Urbgeus  vorgelegen  haben. 

Die  einleitung  des  werkes  (betitelt  de  aetatibus  mundi?)  bildete  eine  unvoll- 
ständige, mit  Nabuchodonosor  abbrechende  periodisierung  der  Weltgeschichte  §4^  und 
eine  einteilung  der  weltzeit  in  sex  aetates  mundi  §  6.  Es  folgte  die  beschreibung 
der  britannischen  insel  (§7  —  9),  beginnend  mit  Britannia  instda  a  qi/odam  Bruto 
conside  Romano  dicta  und  schliessend  mit  Britones  olim  impleverunt  Britanniam 
a  mari  usque  ad  mare"^.  An  diese  erwähnung  der  Britten  schloss  sich  sofort,  wol 
mit  dem  sondertitel  de  genelogia  Britommi,  §  17  an:  Tres  fdii  Noe  diviserunt 
orbetn  terrae  in  tres  partes  post  diluvium  usw.  Primus  homo  venit  ad  Europam 
de  genere  Jafeth  Älanus  cum  tribus  fdiis  suis,  c/iiorion  nomina  sunt  Hissicion 
Armenon  Neugo.  Hissicion  habuit  quatuor  fdios:  Francus  Romanus  Ahnannus 
Brito  usw.  Ab  Hissiciotie  atdem  quatuor  gentes  ortae  sunt:  Franci  Latini  Al- 
manni  Britones  usw.  Istae  autem  gentes  subdivisae  sunt  per  totani  Europam.  Es 
ist  die  nach  MüUenhoff  um  520  entstandene  fränkische  völkeiiafel,  auf  Japheth  zurück- 
geführt^. Die  lücke  von  Alanus  aufwärts  füllt  ein  anschhessender  Stammbaum  aus, 
der  Alanus  dui'ch  eine  reihe  fiktiver  namen  mit  Jouan  (Javan),  dem  söhne  Japheths, 
verbindet  und  Japheths  Stammbaum  bis  auf  Adam  filius  Dei  verfolgt.  Dieser  Stamm- 
baum kann  dem  ursprünglichen  werkchen  angehören,  da  er  den  Zusammenhang  nicht 
wesentlich  unterbricht.  Die  namen,  die  er  enthält,  tauchen  in  der  irischen  gelehr-  i 
tenlitteratur  des  10.  und  11.  Jahrhunderts  wider  auf  und  Zimmer  s.  234  fgg.  glaubt, 
sie  seien  aus  Irland  entlehnt.  Der  umgekehrte  weg  der  entlehuung  ist  mir  wahr- 
scheinlicher. 

1)  Vgl.  Duchesne  a.  a.  o.,  dem  ich  aber  nicht  durchweg  beistimme. 

2)  So  auch  in  der   einleitung  §  3 :  traditio  veterum  nostrorum. 

3)  Dass  der  spätere  §  5  nicht  etwa  in  Ch  ausgelassen,  sondern  von  Nennius 
ergänzt  ist,  ergibt  sich  aus  seiner  fassung. 

4)  Zu  den  quellen  des  abschnitts  vgl.  Zimmer  s.  265. 

5)  S.  Heeger,  Trojanersage  der  Britten  s.  31  fgg.;  Zimmer  s.  232  fg. 


ÜBER   ZBIMER,   NENNIUS   VINDICÄTUS  87 

Naclidem  durch,  die  völkertafel  die  Eömer  neben  den  Britten  eingeführt  sind, 
begint  die  gesohichte  (§  19  —  20  mitte):  Romani  autem  cum  aceepissent  dominitim 
toti'us  mündig  ad  Britannos  iniserunt  legatos,  ut  obsides  et  censum  acciperent  usw. 
Der  abschnitt  erzählt  Caesars  dreimaligen  angriff  auf  Britannien  nach  verwirrter 
quelle,  in  der  man  Gildas,  Euseb-Hieronymus  und  des  Orosius  bericht  über  Caligu- 
las  (!)  zug  nach  Britannien  unterscheiden  kann^  Das  ist  alles,  was  der  historiograph 
von  den  Eömern  zu  berichten  weiss;  er  schliesst  den  abschnitt  mit  dem  satze:  Tri- 
bus  vicibus  oceisi  sunt  duces  Romcmorum  a  Britannis,  den  später  Nennius  an  den 
anfang  seines  §  30  gestellt,  aber  auch  in  §  28  verwertet  hat.  Dann  geht  es  sofoit 
weiter  (§  31):  Factum  est  auteln  post  supradicticm  bellum  qicod  fuit  inter  Britoncs 
et  Romanos ,  qtiando  duces  eontm  oceisi  sunt ,  et  post  occisionem  Maximi  tyranni, 
per  XL  azinös  fuerunt  sub  metu.  Guorthigirnus  regnavit  usw.  Mit  post  occisio- 
nem Maximi  setzen  deutlich  map  Urbgens  excerpte  aus  dem  leben  des  Germanus 
ein,  da  Maximus  vorher  gar  nicht  erwähnt  worden  ist.  Die  werte  können  kein  spä- 
teres einschiebsei,  etwa  auf  grund  der  intei-polatiou  über  die  römischen  kaiser  in  Bri- 
tannien (hinter  §  10)  sein,  da  auch  jenes  Verzeichnis  nicht  mit  Maximum  absehliesst. 
Im  vorhergehenden  abschnitt  hiess  es ,  Julius  habe  das  imperium  Britanniae  47  vor 
Chr.  erhalten;  hier,  nur  ein  paar  sätze  weiter,  steht,  die  Sachsen  seien  regnante 
Oratiano  secundo  cum,  Aequitio,  347  jähre  post  passionem,  Christi  von  Guorthigirn 
aufgenommen  worden,  so  dass  die  zwei  daten  unvermittelt  aufeinander  stossen.  Die 
letztere  vielbesprochene  Jahreszahl  -  stammt  also  gleichfalls  aus  dem  liber  S.  Germani. 
Da  sie  nach  dem  Zusammenhang  40  jähre  nach  Maximus'  tod  (f  388  n.  Chr.)  bedeu- 
ten muss,  sehe  ich  in  .cccxluii.  einen  alten  lesefehler  für-  .cccxcuii.  (397),  so  dass 
des  Maximus  todesjahr  auf  357  yjos^  passionem  Chr.  angesetzt  war.  Secundär  sind 
die  namen  der  jatresconsuln  aus  Victorius  Aquitaaus  oder  Prosper  beigefügt,  aber 
vor  der  einverleibung  in  die  Hist.,  welche  keine  römischen  Chroniken  benutzt  hat. 

Die  erzählungen  von  Hengist,  S.  Germanus  und  Guorthigirn  bis  zu  dessen 
tode  (§31 — 48  mitte)  sind,  wie  der  in  Ch  erhaltene  anfang  zeigt,  von  Nennius  nicht 
verändert  worden.  Es  folgte,  mit  in  illo  tempore  an  Guorthigirns  tod  anknüpfend, 
der  spätere  §  56,  Hengists  tod  und  Ai-thurs  kämpfe;  endlich,  wie  oben  erörtert,  daten 
aus  der  geschichte  der  Dritten,  angeknüpft  an  die  nordhumbrische  königsreihe  von 
vor  der  Ida  bis  zum  neunten  jähre  Ecgfrids  (§  56  ende,  §  61  ende  bis  §  65  mitte). 

Der  historiograph  ist  also  zwar  nicht  wählerisch  in  seinen  quellen  gewesen, 
hat  aber  ein  einheitliches,  festgefügtes  werk  eben  geschaffen.  Diese  einheit  wurde 
bald  durch  Interpolationen  gesprengt  und  so  der  boden  für  Nennius'  grosse  erweite- 
rung  vorbereitet. 

Interpolation  des  alten  werkcliens.  Den  ersten  einschub  bildet  deutlich 
der  abschnitt  „  de  origine  Britonuvi "  in  Ch ,  der  sich  zwischen  den  titel  „  de  gene- 
logia  Britonutn"-  und  den  zugehörigen  §  17  eingedrängt  hat^.  Die  vaticanische  recen- 
sion  nimmt  ihn  in  den  §  10  des  Nennius  auf.  Ich  habe  den  eindruck,  dass  ihn  Hee- 
ger.  Über  die  Trojanersage  der  Dritten,  —  er  nennt  ihn  bericht  B  —  nicht 
ganz  verstanden  hat.  Was  dieser  bericht  über  die  Silvii  soll,  ist  in  der  tat  nicht 
auf  den  ersten  blick  zu  erkennen;  erst  der  Wortlaut  der  quelle,  Euseb-Hieronymus 
a.  Abr.  878,  klärt  darüber  auf.     Dort  heisst  es:  Latinorum  UI  Sylvius  Aeneae  filius, 

1)  Zimmer  s.  189.  191.  199.  266.  271. 

2)  Zuletzt  darüber  Zimmer  s.  199  —  206. 

3)  Dass  er  auch  der  quelle  des  Nennius  ursprünglich  eignete,  geht  aus  dem 
folgenden  hervor. 


88  THÜRNEYSEN 

an.  XXIX.  Sylvius  Posthumus ,  quia  post  tnorteni  patris  editus  ruri  ftierat  edu- 
catus,  et  Sylvii  et  Posthiimi  nonien  aceepit,  a  quo  omnes  Albanoruvi  reges  Sylvii 
rocati  sunt.  Offenbar  sind  die  Albani  als  „bewohner  Albious"  verstanden  worden. 
Das  ist  besonders  leicht  begreiflich,  falls  die  quelle  des  interpolators  aus  Irland 
stammte;  denn  der  bewohner  der  englischen  insel  heisst  altirisch  fer  Alban  (mann 
Albions)  oder  Albanach.  Doch  war  das  misverständniss  auch  sonst  möglich  ^  Der 
Verfasser  des  abschnittes  will  also  zweierlei  erklären:  erstens,  warum  die  (reges)  Bri- 
tones  den  namen  Silvii  führten.  Die  erklärung  lieferte  dieselbe  quelle,  aus  der  die 
nachricht  geschöpft  war.  Zweitens,  warum  Britannia,  also  auch  die  Britones.,  a 
quodam  Brtito  consule  Romano  benannt  sind  (§  7).  Hier  hilft  ihm  seine  künde,  dass 
Brutus  erster  konsul  von  Rom,  also  offenbar  bei  dessen  gründung  beteiligt  war;  fer- 
ner dass  er  den  ganzen  westen  erobert  hatte.  Letztere  nachricht  fliesst,  wie  schon 
mehrfach  bemerkt  worden,  aus  Euseb-Hieronymus  a.  Abr.  1875:  Brutus  (gemeint  ist 
D.  Brutus  Callaicus)  Hiberiam  tisqtie  ad  Oeeanum  subigif.  So  bietet  der  abschnitt, 
den  ich  nach  Ch  und  Vat.  einigermassen  emendiert  hiehersetze  ^,  keine  Schwierigkeit 
mehr,  sobald  man  im  äuge  behält,  dass  in  der  excerpierten  quelle  vorher  davon  die 
rede  gewesen,  dass  die  Britones  (eigentlich  ihre  könige)  Silvii  hiesseu. 

De  Rornams  et  Oraecis  trahunt  etymologiam,  id  est  de  matre  Lavina,  filia 
Latini  regis  Italiae,  et  patre  Silvii  Aenea^,  filio  Anchisae*,  [filii  Troi],  filii  Dar- 
dani.  Idem  Dardanus ,  filius  Saturni  regis  Oraeconcm ,  j^errexit  ad  partem,  Asiae 
et  Trous  filius  Dardani  aedificavit  urbem  Trojae.  Trotts  pater  Priami  et  Anchi- 
sae, Anchises  jjater  Aeneae,  Aeneas  pater  Ascanii  et  Silvii.  Silvius  filius  Aeneae 
et  Lavinae,  fdiae  regis  Italiae.  Et  de  stirpe  Silvii,  filii  Aeneae  ex  Lovina,  orti 
sunt  Remus  et  Romuius  et  Brutus,  tres  filii  reginae  sanctimonialis  Reae,  qui 
feeerunt  Roma/m.  Brutus  consul  fuit  in  Roma  primus,  quando  exptcgriavit  Hispa- 
niam  ac  detraxit  in  servitutem,  Romae;  et  postea  tenuit  Brifanniam  insidam, 
quam  habitabant  Britones  Silvii^,  olim  Silvio  Posthumo  orti.  Ideo  dicitur  Post- 
humus, quia  post  mortem  Aeneae  patris  ejus  natus  est.  Et  fuit  mater  ejus  La- 
vina semper  clandestina,  quando  fuit  praegnans ;  ideo  Silvius  dictus  est,  quia  in 
silva  natus  est.  Et  ideo  Silvii  dieti  sunt  reges  Romani  et  Britones,  quia  de  eo 
nati  sunt;  sed  a  Brtito  Britones^. 

Dieser  einschubl,  wie  ich  ihn  nennen  will,  hat  zahlreichen  weiteren  gerufen. 
Zunächst  ermöglichte  er  die  Zeitbestimmung  (einschub  II):  Quando  regnabat  Brito 
in  Britannia ,  Heli  sacerdos  judicabat  in  Hisrael.,  et  tunc  archa  testamenti  possi- 
debatur  ab  alienigenis;  Postumus  frater  ejus  regnabat  apud  Latinos.  Der  Verfas- 
ser dieser  notiz  kennt  aus  der  völkertafel  (§  17)  Brito  als  ersten  Britten  und  weiss 
aus  einschub  I,  dass  er,  wie  alle  Britones,  den  namen  Süvius  führte  und  söhn  des 
Silvius  Postumus  war.  Zur  Unterscheidung  des  Süvius  (-Brito)  von  einem  in  Latium 
herrschenden  bruder  Postumus  mochte  Euseb-Hieronymus  a.   Abr.  908    den   anlass 

1)  Ganz  anders,  mir  nicht  wahrscheinlich  Zimmer  s.  249  fg. 

2)  Ich  glaube  allerdings,  dass  er  schon  mit  vielen  fehlem  in  die  Hist.  aufge- 
nommen wurde,  bilde  mir  also  nicht  ein,  den  ur.sprünglichen  text  genau  zu  bieten. 

3)  et  patre  Silvianiae  Ch,  et  progenie  Silvani  Vat. 

4)  filii  Enaehi  Ch,  f.  Inachi  Vat. 

5)  Britones  filius  Uli  Ch,  Britones  Roynanorum  filii  Vat. 

6)  Das  folgende:  et  de  stirpe  Bruti  surrexerunt  hat  ein  späterer,  \aeUeicht 
der  interpolator  von  §  18  beigefügt.  Es  widerspricht  dem  vorhergehenden,  wonach 
die  Britones  von  Brutus  wol  den  namen  führen,  aber  nicht  abstammen. 


i 


ÜBER   ZIMMER,    NENNIUS    VINDICATUS  89 

geben,  wo  vom  nachfolger  des  Silvias  Postuums  bemerkt  ist:  Latinorum  IlII Aeneas 
Sylvius,  an.  XXXI.  In  alia  historia  reperinius,  IV.  Lat.  Sylvium  regnasse,  La- 
viniae  et  Melampodis  filiwn,  uterimim  fratreni  Posthumi,  et  V.,  qui  mmc  hie 
IV.  ponitur,  Sylvium,  Äeneam  Posthumi  filkim.  Die  nächst  vorhergehenden  daten 
der  hebräischen  geschichte  sind  bei  Euseb-Hierouymus  a.  Abr.  861:  Hell  sacerdos 
annis  XL  und  900:  Mortuo  Hell  sucerdote  arca  testamenti  ab  alienicjenis  posside- 
tur.     So  gelang  es,  den  ersten  Britten  zeitlich  zu  fixieren. 

Das  ist  aUes,  was  Ch  vom  späteren  §  11  enthält.  Allein  noch  blieb  die  lebens- 
geschichte  dieses  Brito  filius  Silvii  Postum i  zu  schreiben  und  zu  erklären,  wie  er 
nach  Britannien  gekommen;  denn  der  einschub  I  bot  ja  nur:  Britanniam,  .  .  quam 
hahitabant  Britones  .  .,  olim  Silvio  Posthmno  orti.  Das  ist  dann  später  durch  den 
fabelhaften,  mit  weiteren  citaten  aus  Euseb - Hieronymus  geschmückten  bericht  bei 
Nennius  §  10.  11  (Heegers  bericht  A)  bestens  besorgt  worden.  Er  hat  den  einschub  I 
dort  völlig  verdrängt;  nur  das  verräterische  autem  in  §  10  ist  stehen  geblieben.  Dass 
Nennius  den  kern  dieser  erzählung  selbst  erfunden,  bezweifelt  man  mit  recht,  beson- 
ders da  er  sich  dabei  ausdrücklich  auf  annales  Romanoriim  beruft,  eine  quelle,  die 
nach  der  vorrede  §  3  von  den  chronica  Hieronyvii  zu  unterscheiden  ist.  Heeger 
und  Zimmer  vermuten  irischen  Ursprung;  letzterer  denkt  bei  der  stelle:  in  nativi- 
tate  illius  mulier  mortua  est  ...  et  vocatum  est  nomen  ejus  Brito  an  ein  Wort- 
spiel mit  irisch  brith  „geburt"  (s.  246). 

Wie  dem  auch  sei,  schon  in  hdschr.  Ch,  also  vor  Nennius  hatte  ein  dritter 
adnotator  den  Widerspruch  zwischen  einschub  I,  der  die  Britten  aufDardanus  zurück- 
führt, und  §  17,  wo  als  Stammvater  Alanus  und  weiter  hinauf  Japheth  genannt  ist, 
durch  einen  beide  verschmelzenden  Stammbaum  zu  beseitigen  gesucht  (§  18).  Indem 
er  auf  grimd  der  Schlussworte  von  einschub  I:  a  Bruto  Britones  den  Eponymen 
Brutus  mit  dem  Stammvater  Brito  (in  §  17)  identificiert,  setzt  er  einen  Stammbaum 
aus  drei  stücken  zusammen:  1.  von  Adam  bis  Elisa  (Flisa).,  grosssohn  des  Japheth; 
2.  von  Dardanus  über  Aeneas  bis  Rea  Silvia,  tochter  des  Numa  Pampilius  (gemeint 
ist  Nuraitor) ;  3.  von  Alanus  über  Hissicion  auf  Brutus  (=  Brito)  ^  Dieser  Stammbaum 
nebst  den  notizen  über  die  von  Japheth  abstammenden  völker  ist  längere  zeit  randnote 
geblieben;  daher  erscheint  er  in  hdschr.  Ch  und  bei  Nennius  an  abweichender  stelle 
eingereiht  ^. 

Um  die  ganze  genealogienfrage  gleich  hier  im  Zusammenhang  zu  erledigen, 
sei  noch  die  randnote  erwähnt,  die  die  „nordwelsche  recension",  d.  h.  wol  ebenfalls 
Nennius  (s.  u.),  zu  §  10  beifügt  und  zwar  zu  der  stelle:  et  erit  exosus  omnibus 
hominibus.  Sic  evenit,  . .  .  et  vocatimi  est  nomen  ejus  Britto.  Die  note  lautet 
(Zimmer  s.  25):  Haec  est  genealogia  ist  ins  Bridi^  exosi  (nunquam  ad  se  nos*,  id 
est  Britones,  ducti,  quandoque  volebant  Scotti  neseientes  origüiis  sui  ad  istum 
do7nari) :  Bridus^  vero  fuit  filitis  Silvii  fil.  Ascanii  fd.  Äeneae  fil.  Anchise  ßl. 
Capen  fil.  Asaraci  fil.  Tros  fil.  Aerectonii  fil.  Dardani  fil.  Jovis  de  genere 
Cam  filii  maledicti  videntis  et  ridentis  patrem  Noe.  Tros  vero  usw.  (folgen  nach- 
richten  über  Tros'  nachkommen).     Sie  inveni,    ut  tibi  .  . .  scripsi;    sed  haec  genea- 

1)  S.  Heeger,  Trojanersage  s.  25.  Durch  weitere  vermengung  nennen  dann 
einige  hss.  des  Nennius  den  beiden   von  §  10.  11  Bruto  statt  Brito  oder  Britto. 

2)  S.  Mommsen,  a.  a.  o.  239. 

3)  So  San-Marte  und  Zimmer.  Petrie  gibt  als  lesart  von  hs.  K  und  N  (bei 
ihm  B  und   C)  Briti  und  unten  Britus,  von  hs.  Tj  (bei  ihm  A)  Brito. 

4)  ad  saevos  San-Marte. 


90  THURNEYSEN 

logia  non  scripta  in  aliquo  volumine  Britanniae ,  sed  in  seriptione  mentis  scriptoris 
fuit.  Nach  dem  schlusssatz  schreibt  der  Verfasser  diese  notiz  aus  dem  köpfe  und,  wie 
das  schlechte  latein  des  anfangs  vermuten  lässt,  sehr  flüchtig  nieder.  Darf  man  dort 
in  ad  istum  einen  flüchtigkeitsfehler  für  ab  isto  sehen,  so  lässt  sich  etwa  folgendes 
herauslesen:  „Auf  den  Brutus,  dessen  Stammbaum  ich  gebe,  sind  wir,  die  Britten, 
niemals  zurückgeführt  worden,  obschon  die  Iren,  die  ihre  eigene  Urgeschichte  nicht 
kannten,  von  \\\m  bezwungen  sein  wollten"  ^  Das  bedeutet  wol:  irische  antiquare 
behaupteten,  jener  konsul  Brutus,  der  den  ganzen  Westen  erobert  (s.  oben  s.  88), 
habe  Irland  (und  Britannien)  bezwungen  und  die  Britten  stammten  von  ihm  ab.  Sie 
scheinen  diesen  Brutus  an  die  steUe  des  Brito,  söhn  des  SUvius,  der  annales  Roma- 
norum  gesetzt  und  seinem  ahnen  Aeneas  einen  genaueren  Stammbaum  gegeben  zu 
haben,  als  er  im  alten  einschub  I  besessen.  Der  brittische  glossator  citieii  diesen 
Stammbaum  nach  dem  gedächtniss,  nimmt  aber  die  theorie,  dass  der  Stammvater  der 
Britten  Brutus  und  nicht  Britto  gewesen,  nicht  an.  Dass  er  ausdrücklich  bemerkt, 
diese  genealogie  finde  sich  in  keinem  buche  Britanniens  geschrieben,  geschieht  wohl 
darum,  weil  ja  einschub  I  der  alten  Hi st.,  den  schon  die  Harleian-receusion  als  irrig 
und  unverständlich  unterdriickt  hatte,  allerdings  anklänge  bot,  aber  doch  tatsäch- 
lich abwich.  Kaum  geht  aber  daraus  hervor,  dass  eine  frühere  recension  der 
Hist.  den  titel  Volumen  Britanniae  gefühi't  habe  (Zimmer  s.  41).  Der  irische 
Übersetzer  hat  den  Stammbaum  —  mit  einigen  weitern  Zwischengliedern  zwischen 
Cam  und  Juppiter  —  in  den  text  von  §  10  eingefügt  (wie  hs.  L)  und  vermittelt  zwi- 
schen beiden  bestandteilen,  indem  er  sowol  den  Britto  als  den  Brutus  der  Hist. 
Britus  nennt.  Er  bemerkt  zum  Stammbaum  (Todd  s.  36):  „So  hat  unser  erhabener 
senior  Guanach  die  genealogie  der  Britten  aus  den  chroniken  der  Römer  ausgezogen." 
Todd  und  Zimmer  vermuten,  dass  damit  Über  Cuanach  „Cuana's  buch"  gemeint  sei, 
das  in  den  Ulsterannalen  vom  jähre  467  bis  628  öfters  als  quelle  citieri  wird.  Das 
ist  wahrscheinlich.  Dieses  frühe  werk  hat  dann  aber  gewiss  nur  den  älteren  teil  des 
Stammbaums  etwa  bis  auf  Aeneas  oder  Ascanius  enthalten;  denn  die  sage  von  Bru- 
tus, dem  söhne  des  Silvius,  kann  damals  noch  nicht  gebildet  gewesen  sein.  Immer- 
hin wird  dadurch  bestätigt,  dass  die  quelle  des  Adnotators  der  „nordwelschen  recen- 
sion" in  Irland  zu  suchen  ist. 

Auf  derselben  kombination  des  Brutus  der  randnote  mit  dem  Britto  von 
§  10.  11  beruht  dann  der  so  berühmt  gewordene  Brutus  des  Galfred  von  Monmouth. 

So  lässt  die  neue  handschrift  das  lawinenartige  anschwellen  des  genealogieen- 
chaos  mühelos  erkennen,  an  dem  bisher  so  viel  vergeblich  henungeraten  worden  ist, 
weil  eben  bei  Nennius  gerade  der  urkern,  einschub  I,  fehlt. 

Die  durch  einschub  I  in  das  einheitliche  werkchen  gerissene  lücke  ist  aber 
früh  noch  durch  interpolationen  andern  Inhalts  erweitert  worden.  Der  historiograph 
hatte,  wie  oben  bemerkt,  von  der  römischen  kaiserzeit  nichts  zu  berichten  gewusst. 
Dies  bewog  einen  kundigeren,  ein  verzeichniss  der  imperatores  qui  in  Britanniam 
venerunt  einzulegen,  genauer  eine  liste  der  römischen  herrscher,  die  in  Britannien 
geweilt  haben.  Sie  steht  in  Ch  hinter  einschub  I-.  Auf  den  ersten  blick  scheint  sie 
aus  Beda,  Hist.  eccl.  1,  2  — 11  ausgezogen,  an  den  sie  oft  wörtlich  ankhngt.  Da 
aber  die  betreffenden  kapitel  bei  Beda  grossenteils  aus  wörtlichen  excerpten  aus  Oro- 

1)  Etwas  anders  Zimmer  s.  25  *  und  39  fg. ,  dem  ich  nicht  folgen  kann. 

2)  Vat.  bringt  ebenfalls  die  imperatorenliste  am  aufang  hinter  den  calculi, 
aber  geändert  nach  dem  text  des  Nennius  §  19  —  29. 


I 


ÜBER    ZIMMER,    NENNIÜS    VINDICATUS  91 

sius  bestehen,  so  fragt  sich,  ob  die  liste  nicht  vielmehr  direkt  oder  durch  andere 
Zwischenglieder  aus  diesem  geflossen.  In  der  tat  spricht  hiefür  verschiedenes.  Sie 
beginnt  mit:  Julius  imperator  primus  in  Britaniani  venit  per  Remmi  et  Oerma- 
niam  usque  Tamensis  bellum.  Das  missverständniss,  dass  Caesar  über  den  Rhein 
und  Germanien  nach  Britannien  gelangt  sei,  erklärt  sich  leicht  aus  Orosius  YI  8,  23  — 
9,  2,  aber  kaum  aus  Beda  1,  2.  Die  berichte  über  die  folgenden  Imperatoren 
2.  Claudius,  3.  Soverus  (Reversus),  4.  Carausius  tyrannus  (Guratius  tirenus)  ent- 
scheiden nichts.  5.  Constantinus  Constantini  magni  paier,  vir  tranquillissimus ; 
nie  Constantinus  in  Britannia  morte  ohiit;  qui  Constantinum  ßlium  ex  concu- 
bina  Helena  creatum  imperatorcm  Oalliarum  reliquit;  qui  in  Britannia  ohiit. 
Dieser  Constantinus  berulit  wol  auf  einer  vermengung  des  Constantius,  vater 
Constantins  des  Grossen,  mit  dem  britannischen  tyrannen  Constantinus  (Orosius  VLL 
40,  4  fgg.  =  Beda  1,  11).  Der  satz:  „qui  Constantinum  filium"  usw.  steht  genau 
so  bei  Orosius  VIT  25,  16,  während  Bedal,  8  schreibt:  „hie  Constantinum"  usw., 
allerdings  ein  unwesentlicher  unterschied.  Es  folgt  6.  Maximus  imperator  in  Bri- 
tania  ordinatur  invittis,  cum  quo  Martimis  sepe  locutus  est.  Den  zusatz  von  Mai'- 
tinus  kennt  weder  Orosius  VII  34,' 9  noch  Beda  1,  9;  er  weist  vielleicht  auf  ein 
Zwischenglied.  Endlich  7.  Gracianus  Valentiniani  films,  qui  in  Romam  a  Bre- 
tannia  exiit  et  ibi  a  Maximo  ocisus  est;  cujus  sanguinetn  vindicavit  Eugenius  de 
Maximo,  et  postea  Eugetiitim  oecidit  pro  Valentiniano  Graciano  frater  (etwa  zu 
bessern:  et  jjostea  Eugenium  oecidit  Theodosius  pro  Valentiniano  Gratiani  fratre). 
Dieser  Graciamis  ist  sicher  ein  mischprodukt  aus  kaiser  Gratianus,  dem  söhne  Va- 
lentinians,  der  nie  in  Britannien  gewesen,  und  dem  britannischen  tyrannen  Gratianus 
(Orosius  VII  40,  4  =  Beda  1,  11).  Der  schluss  kann  gar  nicht  aus  Beda  stammen, 
da  dieser  den  Eugenius  nirgends  erwähnt,  wol  aber  aiis  Orosius  VII  35,  11  fgg. ^ 
Somit  ist  die  liste  nicht  aus  Beda  geschöpft.  In  welchem  verhältniss  steht  sie  nun 
zu  ihm?  An  und  für  sich  könnten  zwei  historiker  der  englischen  insel  selbständig 
auf  denselben  gedanken  gekommen  sein,  die  römischen  heiTscher,  die  Britannien 
gesehen,  aus  Orosius  auszuziehen;  merkwürdig  wäre  aber,  dass  sie  in  der  excerpie- 
rung  so  oft  übereinstimmen,  da  das  thema  doch  immerhin  einigen  Spielraum  liess. 
Das  begreift  sich  besser,  wenn  Beda  dasselbe  oder  ein  ähnliches  Verzeichnis  vorlag, 
das  ihm  die  anregung  zu  jenen  kapiteln  gab  und  das  er  dann  nach  Orosius  sehr 
gründlich  ergänzte  und  verbesserte. 

Diese  ansieht  wird  bestätigt  durch  die  von  Zimmer,  Mommsen  und  Duchesne 
besprochene  legende,  die  sich  gleichfalls  in  jenen  anfangskapiteln  Bedas  findet,  dass 
Iaicius  Brittaniarum  rex  durch  papst  Eleuther  das  Christentum  erhalten  habe  -.  Zwar 
stammt  Bedas  text  aus  dem  liber  pontiflcalis  (um  520  verfasst,  hs.  seit  ende  7.  Jh.), 
nicht  aber  die  Jahreszahl  167  (Beda  5,  24),  die  zu  papst  Eleuther  nicht  stimmt. 
'Die  legende  fehlt  der  liste  in  Ch,  taucht  aber  bei  Nennius  §  22  mit  demselben  datum 
wider  auf^.     Der  abschnitt  §  20  mitte  bis  §  29   bei  Nennius,    der  in  Ch  noch  nicht 

1)  Das  ist  der  Oicein  oder  Yivein  ab  Maxen  Wledie  „Eugenius,  söhn  des 
tyi'annen  Maximus "  der  w'elschen  Triaden.  Der  nachfolger  des  Maximus  ist  zu  sei- 
nem söhne  geworden. 

2)  S.  Zimmer  s.  140  fgg. ;  Mommsen  a.  a.  o.  291 ;  Duchesne  a.  a.  o.  186  A.  2. 

3)  Hier  heisst  der  papst  Eucharistus;  eljeuther  mag  in  der  tradition  zu 
eucharfistus  verderbt  worden  sein.  Die  lesart  einiger  hss.  Euaristus  ist,  wie 
Mommsen  zeigt,  eine  gelehrte  verschlimmbesserung,  indem  kein  papst  Eucharistus,  wol 
aber  ein  Euaristus  (96  — 108)  bekannt  war. 


92  THURNETSEN 

vorhanden  ist,  erzählt  von  den  Römern  in  Britannien  und  beruht  deutlich  auf  der 
imperatorenliste  von  Ch,  ergänzt  und  ausgeschmückt  nach  Euseb  -  Hieronymus  und 
Prosper,  nur  §  27  (und  30)  wol  nach  einer  von  Gildas  abhängigen  secundärquelle 
(Zimmer  s.  197.  267).  Nennius  hatte  aber  eine  doppelte  vorläge  für  diese  Paragra- 
phen. Er  citiert  §  27  erstens  die  traditio  seniorum  nostrorum,  welche  7  impera- 
tores  aufzählte;  das  ist  die  liste  in  Ch.  Nur  nennt  er  den  7.  nicht  Oratianus ,  son- 
dern durch  irgend  ein  weiteres  missverständniss,  vielleicht  nach  der  Gildasquelle, 
Maximiamis  (§  27,  vgl.  §  29  anfaug),  schreibt  ihm  aber  taten  des  Maximus  zu. 
Dann  fährt  er  fort:  Romani  aiäem  dicunt  novem  fuisse,  und  fügt  noch  einen  alius 
Severus  und  einen  Gonstantius  bei*.  Er  hatte  also  neben  der  interpolierten  Brit- 
iengeschichte  noch  eine  zweite,  etwas  erweiterte  imperatorenliste,  die  er  als  „römisch" 
bezeichnet.  Aus  dieser  muss,  da  wir  seine  quellen  ziemlich  vollständig  überblicken, 
auch  §  22,  die  legende  vou  könig  Lucius  und  das  datum  167,  übernommen  sein.  So  ist 
das  erweiterte  verzeichniss  der  Imperatoren,  welche  Britannien  besucht,  gewiss  die 
gemeinsame  quelle  von  Beda  und  Nennius  gewesen.  Ferner  wird  aus  ihr  die  angäbe 
stammen,  dass  die  Römerherrschaft  in  Britannien  409  jähre  gedauert  habe  (Nennius  §28). 

Eine  vei'mutung  liegt  nahe.  In  §  10,  für  die  geschichte  des  Britto,  wurden 
annales  Romanorum,  die  nach  Irland  zu  weisen  schienen,  als  quelle  angeführt. 
Hier  wird  die  imperatorenliste,  die  den  ersten  brittischen  Christen  Lucius  enthielt, 
den  Romani  zugeschrieben.  Beide  abschnitte  sind  erweiterungen  von  kapiteln  der 
vornennianischen  Hist. ,  wie  sie  in  Ch  vorliegt.  Sollte  es  sich  nicht  um  ein  und 
dieselbe  quelle  handeln?  Zimmer  erwähnt  s.  145,  dass  könig  Lucius  in  der  kym- 
rischen  litteratur  Les  (Lies)  heisst  und  gibt  eine  unhaltbare  erklärung.  Nun  bedeutet 
Ics  altirisch  (aber  nicht  kymrisch)  „licht".  Also  ist  wol  entweder  Les  die  irische 
1  I  ersetzung  von  Lucius  oder  umgekehrt  Liicius  die  latinisierung  eines  irischen  Les. 
Sollte  nicht  der  Bi'itannierkönig  Lucius  nebst  seiner  legende  überhaupt  eine  irische 
erfindung  sein  und  auch  der  Über  pontißcalis  von  nach  Rom  pilgernden  Iren  die 
notiz  übernommen  haben?  Auch  dies  spricht  dann  für  gemeinsamen  urspnmg  bei- 
der abschnitte. 

Hätte  Mommsen  (a.  a.  o.  292  fg.)  mit  der  annähme  recht,  dass  auch  die  namen 
Vurtigermis ,  Hcngist  und  Horsa  bei  Beda  auf  engen  Zusammenhang  mit  Nennius 
weisen,  so  hätten  wir  wol  dieselben  annales  Romanorum  als  Bedas  nächste  quelle 
anzusehen;  sie  hätten  dann  also  noch  weitere  bestandteile  der  Hist.  Brit.  enthalten. 
Doch  bin  ich  mit  Zimmer  der  ansieht,  dass  Beda  diese  namen  nicht  aus  der  Hist. 
haben  muss,  ja  dass  ihre  form  diese  annähme  gar  nicht  empfiehlt.  Somit  können 
wir  den  annales  Romanorum  mit  einiger  Wahrscheinlichkeit  nur  die  Britto -geschichte 
und  die  erweiterte  kaiserliste  zuschreiben.  Über  eventuelle  weitere  bestandteile 
s.  die  folgende  seito. 

Die  ältere  imperatorenliste  zeigt  in  hs.  Ch  vorn  und  hinten  einen  auswuchs. 
Jemand,  der  wusste,  dass  vor  den  römischen  kaisern  Caesai'  nach  Britannien  gekom- 
men,   diesen   aber  in  dem  Julius   imperator   der  liste  nicht  erkannte,    schickte  ihr 

1)  Das  missverständniss  hat  er  offenbar  aus  seiner  quelle  übernommen,  die  für 
den  „zweiten  Severus"  die  Epitome  des  Aurelius  Victor  benutzt  zu  haben  scheint 
(Zimmer  s.  196).  Es  mag  auf  einer  älteren  notiz  beruhen,  dass  in  zwei  Imperatoren 
der  alten  liste  je  zwei  personen  zusammengeflossen  sind,  im  5.  Constautius  und  dor 
tyrann  Constantinus,  im  7.  kaiser  Gratian  und  der  tyrann  Gratian.  Die  letztere  notiz 
ist  dann  fälsclüich  auf  den  dritten,  Severus,  bezogen  worden  und  durch  ein  weiteres 
versehen  erscheinen  nun  bei  Nennius  2  Constantii  und  2  Severi. 


ÜBER    ZIMMER,    NENNIUS    VINDICATDS  93 

voran,  dass  Gajus  Julius  .Caesar,  inissus  ab  imperatore  Latino,  dreimal  mit  Casa- 
bellaunus  gekämpft  und  ihn  schliesslich  getötet  habe.  Nennius  konnte  diesen  passus, 
auch  wenn  er  ihn  vorfand,  nicht  brauchen,  da  er  inhaltlich  mit  §  19.  20  zusammen- 
fällt. Endlich  hinter  der  liste  steht  die  notiz,  Libine  (Leofwine?)  abt  von  Inripum 
(Ripon)  habe  als  jähr  der  Sachsenankunft  500  n.  Chr.  berechnet.  Das  datum  hat  also 
nicht  erst  in  der  ueuzeit  viele  köpfe  beschäftigt.  Aus  dem  verderbten  schlusssatz 
liest  Ducliesne  (s.  182)  heraus,  dass  diese  note  a.  801  entstanden  sei.  Nennius  scheint 
sie  nicht  gekannt  zu  haben. 

Die  nächste  gestalt,  in  der  uns  die  Brittengeschichte  entgegentritt,  ist  der  sog. 
Nennius.  Und  zwar  sind,  wie  Zimmer  mit  recht  annimmt,  die  hss.  die  altertüm- 
lichsten, die  den  schluss  ungekürzt  erhalten  haben;  sie  bilden  die 

Harleian-receusion.  Einige  ihrer  ueuerungeu  sind  schon  besprochen,  so 
der  Wegfall  von  einschub  I,  ferner  §  10.  11  (geschichte  des  Britto),  §  20  mitte  bis 
§  30  (die  Eömer  in  Britannien).  Ausserdem  ergänzt  diese  recension  die  unvollstän- 
dige Zeitberechnung  in  §  4  durch  die  fragwürdigen  zahlen  von  §  5,  von  denen  die 
drittletzte  {Adam,  bis  passio  Christi  5228  jähre)  wol  auf  Prosper  Tiro  als  quelle 
weist.  In  der  Revue  Celtique  6,  105  fgg.  habe  ich  darauf  aufmerksam  gemacht,  dass 
eine  entsprechende  rechnung  mit  demselben  hexeneinmaleins  sich  in  dem  um  987 
gedichteten  irischen  Saltair  na  Rann  findet.  Ich  dachte  damals  an  eine  gemein- 
same quelle,  wie  jetzt  auch  Zimmer  (s.  185  fg.).  Da  aber  §  4  und  §  5  sich  erst  in 
derHist.  zusammengefunden  haben,  muss  die  rechnung  des  Saltair  —  wol  indirekt 
—  aus  Nennius  selber  stammen. 

Mit  §  12  — 14  werden  die  sagen  von  der  einwanderung  der  Picten  und  Iren 
eingeschoben  (vgl.  dazu  Zimmer  s.  221  fgg.);  wieso  Duchesne  zweifeln  kann,  ob  nach 
irischer  quelle,  ist  mir  bei  dem  irischen  ausdruck  Dam  Hoctor  „truppe  der  acht 
mann"  in  §  14  unverständlich  (s.  Zimmer  s.  222).  Da  sie  unmittelbar  hinter  den  aus 
^Qu  annales  Romanoruni  geschöpften  paragraphen  10.  11  stehen,  obschon  die  berichte 
über  den  Brittenurspiung  im  §  17  wider  aufgenommen  werden,  können  sie  leicht  aus 
derselben  quelle  geflossen  sein;  dann  ist  deren  irische  herkunft  zweifellos.  Sicher  ist 
die  annähme  darrnn  nicht,  weil  in  der  vorrede  §  3  auch  annales  Scottorum  erwähnt 
werden.  Der  schluss  von  §  14  (über  Cuneda)  enthält  ein  versehen  des  brittischen 
redaktors,  veranlasst  durch  §  62,  wie  Zimmer  s.  92  gut  nachweist. 

Da  diesen  erzählungen  genauere  daten  fehlten,  lieferten  peritissimi  Scottorum 
dem  redaktor,  wol  auf  sein  verlangen,  einige  anhaltspunkte  durch  die  angaben,  die 
in  §  15  niedergelegt  sind.  Wahrscheinlich  geschah  diess  mündlich  (mihi  nunciave- 
runt);  daher  das  ängstliche  vermeiden  irischer  eigennamen  in  diesem  abschnitt  und 
wol  auch  der  grobe  Schnitzer  in  der  Zeitrechnung,  den  Zimmer  s.  186  fgg.  aufdeckt. 
Der  pai"agraph  enthält  den  ältesten  bericht  über  den  irischen  eponymen  Goidel  Glass 
und  seine  auswauderung  aus  Ägypten,  nachdem  Pharao  im  roten  meere  ertrunken. 
Man  beachte,  dass  er  hier  durch  Afrika  wegwandert,  während  er  schon  in  dem 
gedieht  des  Mael-Mui-u  Othna^  (t  887)  und  dann  im  Saltair  na  Rann  (um  987)  auf 
libiu'nen  zum  kaspischen  meer  und  nach  Scythien  fährt,  von  späteren  umgestaltun- 
tungen  im  Lebor  Gabdia  zu  schweigen'.  Doch  ist  hier  nicht  der  ort,  auf  diese 
irischen  gelehrtenfabeln  einzugehen. 

1)  ed.  Todd,  Irish  Nennius  s.  220  fgg. 

2)  s.  Rev.  Celt.  6,  101.  Nicht  geschickt  ist  es  und  führt  leicht  irre,  wenn 
Zimmer  eine  erschlossene  quelle  des  Lebor  Gabdia  „Über  occupationis",    das  wol  im 


94  THURNEYSEN 

Es  folgen,  nachdem  §  15  mit  excerpten  aus  Gildas  abgeschlossen  worden,  in 
§  16  noch  solche  irische  daten,  die  vermutUch  gleichfalls  peritissimi  Scottorum. 
geliefert  hatten,  die  aber  in  der  Brittengeschichte  nicht  anzubringen  waren,  vermischt 
mit  ein  paar  eigenen.  Da  sich  einige  der  älteren  darunter  auf  Patricius'  ankimft  in 
Irland  beziehen ,  mögen  sie  den  anstoss  gegeben  haben  zu  der  nächsten  grossen  Inter- 
polation, das  leben  des  heil.  Patricius  betreffend,  §50  —  55.  Dass  sie  erst  von  die- 
sem redaktor  herrührt,  lässt  sich  freilich  insofern  nicht  strikte  beweisen,  als  eine 
direkte  vergleichung  mit  der  älteren  version  für  diese  teile  nicht  mehr  möglich  ist. 
Da  der  abschnitt  aber  keinesfalls  ursprünglich  ist  und  da  diese  recension  auch  sonst 
irische  quellen  benutzt  hat,  bietet  die  annähme  keine  bedenken.  Die  Patriciuslegende 
ist,  wie  Stokes  (The  Tripartite  Life  of  Patrick  I  s.  CXVIII)  andeutet  und  Zim- 
mer (s.  llü  fgg.)  näher  ausführt,  aus  zwei  irischen  denkmälern  geschöpft,  die  aus  der 
zweiten  hälfte  des  7.  Jahrhunderts  zu  sein  behaupten  und  nach  der  Schreibung  der  ein- 
heimischen eigennamen  wirklich  sind,  aus  den  lateinischen  notizen  des  Muirchu  maccu 
Machtheni  i;nd  des  bischofs  Tirechän.  Diese  quellen  werden  also  in  der  vorrede  §  3 
mit  annales  Scottorimi  „geschichtsbücher  der  Iren"  gemeint  sein. 

Vor  dieser  inte rpolation,  gleich  nach  dem  bericht  über  Guorthigirns  tod,  findet 
sich  §  48  mitte  bis  49  ein  abschnitt,  der  sich  speciell  auf  zwei  landstriche  von  Wales 
bezieht,  auf  Biielt  und  Guorthigirniaiin  im  norden  der  heutigen  grafschaft  Breck- 
nock  und  im  süden  von  Radnor  (Zimmer  s.  67).  §  49  mit  dem  Stammbaum  Fern- 
mails,  des  fürsten  dieser  gegenden,  qtii  regit  modo,  aufwärts  über  Guoiihigirn  bis 
auf  Glovi^,  den  angeblichen  gründer  von  Gloucester,  ist  wegen  der  lebenszeit  dieses 
fürsten  sicher  ein  einschiebsei.  So  wird  auch  §  48  (von  Tres  filios  an)  gleichzeitig 
eingefügt  sein;  er  steht  mit  der  übrigen  geschieh te  in  keinem  rechten  Zusammen- 
hang, indem  er  erzählt,  Ambrosius,  qiii  fuit  rex  inter  omnes  reges  Britannicae 
gentis,  habe  Pascent,  dem  dritten  söhne  Guox-thigirns ,  diese  zwei  bezirke  geschenkt-. 
Man  darf  wol  eine  landestradition  darin  sehen,  und  mit  recht  schliesst  Zimmer,  dass 
der  interpolator  aus  dieser  gegend  stamme  oder  in  ihr  gelebt  habe.  Auch  hat  er  die 
zeit  des  fürsten  Fernmail  einigermassen  festlegen  können,  indem  er  in  Stammbäumen 
des  Morgant  Hen  eine  cousine  Fernmails,  Braustud,  tochter  seines  väterlichen 
oheims  Cloud  und  frau  eines  südwelschen  fürsten  Arthvael,  entdeckt  hat  (s.  68).  Die 
nächsten  daten  sind:  Arthvaels  und  Braustuds  grosssohn  Howel  (Hywel)  ist  894  hoch- 
betagt gestorben;  dessen  söhn  Ewein  (Owein)  erscheint  schon  vorher,  892,  als  füllst 
von  Glamorgan.  Anderseits  ist  Arthvael  urenkel  von  Rees  f.  Judhael,  dessen  lebens- 
zeit durch  den  tod  seines  bniders  Fernvail  a.  775  annähernd  bestimmt  ist.  Danach 
setzt  Zimmer  Braustuds  vetter  Fernmail ,  fürst  von  Buelt  und  Quorthigirniaun,  rund 
um  785  —  815  an. 

Bevor  wir  uns  zu  den  andern  daten  dieser  recension  und  zum  Schlüsse  des 
Werkes  wenden,  müssen  wir  einen  blick  auf  die  vei'sion  werfen,  welche  wir  im 
anschluss  an  Zimmer  vorläufig 

Ifordwelsche  recension  nennen  wollen.  Sie  wird  gebildet  durch  die  hss. 
GKN  und  IL,  und  unterscheidet  sich  von  der  Harleian- recension:   1)  diu'ch  die  vor- 

11.  Jahrhundert  aus  verschiedenen  bestandteilen  zusammengesetzt  wurde,  selber  wider 
Lebor  Gahdla  nennt. 

1)  Zu  diesem  namen  vgl.  eine  Vermutung  von  Zimmer  (s.  174  fgg.). 

2)  Wäre  §  48  alt,  so  müsste  er  wol  schon  aus  dem  liber  S.  Germani  stam- 
men, da  nur  dieses  auf  die  pro\'inz  Powis,  zu  der  die  landschaften  gehören,  bezug 
nimmt.     Das  ist  aber  ganz  unwahrscheinlich. 


ÜBER    ZIMMER,    NENNIUS    VINDICATUS  95 

ivde  §  3  (Apologia).  2}  Duicli  weitere  gemeinsame  Zusätze,  die  in  KNG  mehrfach 
noch  als  rand-  oder  interlinearnoten  erscheinen  (Zimmer  s.  38).  Sie  sind  zusammen- 
i;L'stellt  bei  Zimmer  s.  24  fgg. ;  doch  gehört  noch  dazu  s.  42  gruppe  I  und  s.  43  die 
note  zu  §  5  über  Anaraut^  3)  Dui'ch  die  kürzung  des  Schlusses  der  eigentlichen 
Brittengeschichte.  Sie  wird  in  GEL  durch  eine  bemerkung  motiviert,  die  nach  Petrie 
und  San-Marte  in  K  gleichfalls  auf  dem  rande  steht. 

Die  vorrede  (§3)  beginnt:  Ego  Nennius  sancti  Elvodugi  discipulus  aliqua 
excerpta  scribere  curavi,  qtiae  hebetudo  gentis  Britanniae  dejecerat  usw.  und  be- 
richtet: Ego  autem  coacervavi  omne  quod  inveni,  tarn  de  annalibus  Romanorutn 
quam  de  chronicis  Sanctorum  Patrum,  id  est  Hieronymi  Eusehii  Isidori  Pro- 
speri  et  de  annalibus  Scottorum,  Saxonumqtie  et  ex  traditione  veterttm  nostrorwn. 
Man  sieht,  es  passt  alles  so  haai'genau  auf  die  tätigkeit  des  Verfassers  derHarleian- 
recension,  dass  ein  zweifei  daran,  dass  dieser  sich  hier  selber  nennt,  gar  nicht  auf- 
kommen kann.  Das  hat  Zimmer  mit  recht  hei"vorgehoben.  Er  meint  zwar  s.  263, 
den  Isidor  habe  Nennius  nirgends  direkt  benützt ;  ich  vermag  es  nicht  geradezu  zu 
widerlegen,  möchte  aber  bei  der  genauigkeit  der  übrigen  angaben  doch  vermuten, 
dass  sich  bei  der  nachprüfung  dieses  oder  ienes  datums  die  möglichkeit  herausstel- 
len wird,  dass  Isidor  mit  beigezogen  wurde ^.  Durchaus  unpassend  wäre  anderseits 
die  vorrede,  wenn  sie  sich  nur  auf  die  änderungen  der  „nordwelschen  recensiou" 
beziehen  sollte.  Mit  den  paar  randnoten,  die  diese  beifügt,  hat  jener  apparat  nichts 
zu  schaffen,  und  annales  Saxonum  konnte  derjenige  gar  nicht  brauchen,  der  gerade 
den  schluss  der  Eist,  unterdrückte. 

Eher  kann  man  fragen,  ob  der  name  Nennius  buchstäblich  richtig  sei.  Der 
irische  Übersetzer  las,  wie  oben  s.  82  bemerkt,  Nemnius  oder  Nemnus;  und  die  in 
einer  wol  gleichzeitigen  hs.  erhaltene  anekdote,  die  ihm  die  ei"findung  eines  brittischen 
alphabets  zuschreibt,  nennt  ihn  Nemnivus^.  Also  zwei  selbständige  quellen  haben 
mn  statt  nn. 

"Wie  dem  sei,  seine  zeit  lässt  sich  aus  den  daten,  die  die  Harleianrecension 
den  früheren  beigefügt  hat,  annähernd  genau  bestimmen.  Drei  Jahreszahlen  beziehen 
sich  auf  die  gegenwart  des  schreibenden.  In  §  5  haben  die  besten  hss.  (Zimmer 
s.  126  fg.):  a  passione  Christi  anni  796,  ab  inearnatione  831.  Ist  auch  der  abstand 
von  35  Jahren  von  incarnatio  bis  passio  ungewöhnlich,  ein  rechenfehler  also  nicht 
ausgeschlossen,  so  wird  das  datum  c.  831  n.  Chr.  doch  ungefähr  richtig  sein. 

In  §  16  sind  irische  daten  in  zwei  verschiedenen  Zeitpunkten  eingetragen  worden; 
zuerst  wird  die  ankunft  des  Patricius  in  Irland  a.  405 ,  später  a.  438  n.  Chr.  angesetzt. 
Vor  der  ersten  angäbe  steht:  A  primo  anno,  quo  Saxones  venerunt  in  Brittanniam, 
usque  ad  anmmi  quartum  Mermini  regis  suppufanttcr  anni  CCCCXXIX  (429). 
Dass  unter  Merminus  nur  Merfyn  frych  verstanden  werden  kann,  darin  stimme  ich 
Zimmer  (s.  164  fgg.)  bei.     Merfyn  erbte  Nordwales  von  seinem  schwiegei-vater  Cynan 

1)  Dass  diese,  obschon  sie  in  die  irische  bearbeitung  aufgenommen  ist,  bei 
der  ersten  auf  Zählung  fehlt,  ist  unbegreiflich  und  führt  den  leser  —  man  möchte  fast 
sagen  absichtlich  —  irre. 

2)  Dass  in  §4.  5  kein  Zusammenhang  mit  Isidor  vorliegt,  wie  ich  Rev.  Celt. 
6,  105  gemeint  hatte,  hält  mir  Zimmer  s.  185  mit  recht  entgegen. 

3)  Gramm.  Celtica-  XXYII  und  1059,  Zimmer  s.  131.  Dass  unser  Nennius 
gemeint  sei,  ergibt  sich,  wie  Zimmer  gesehen,  mit  Sicherheit  aus  der  angäbe,  er  habe 
die  ei"findung  gemacht,  ut  hebitudinem  dcjeceret  gentis  suae,  eine  deutliche  anleh- 
nung  an  den  anfang  der  vorrede  §  3. 


96  THÜRNETSEN 

Tindaethwy  und  dazu  Powis,  weil  seine  mutter  tochter  des  Powisfürsten  Cadell  war; 
auch  wird  er,  wie  sein  Schwiegervater,  den  titel  „könig  aller  Kymry"  geführt  haben. 
Im  Brut  y  Tywysogion  der  Myvyrian  Archaiology  (s.  687)  wird  der  tod  Cy- 
nans  sub  a.  814  n.  Chr.  erzählt,  der  tod  von  Cadells  söhn  Griffri  a.  815  und  Mer- 
fyns  antritt  der  doppelherrschaft  a.  818  angesetzt;  danach  wäre  das  4.  jähr  der  regie- 
rung  822.  Die  bedeutend  älteren  Annales  Cambriae  setzen  Cynans  tod  ins  jähr 
816;  Zimmer  zählt  Merfyns  königtum  von  diesem  jähre  an,  also  das  4.  jähr  =  820. 
In  jedem  falle  steckt  in  der  zahl  429  ein  fehler;  aber  als  nindes  datum  dürfen  wir 
c.  820  ansetzen  ^  Damals  wird  der  Verfasser  auch  die  vorausgehenden  irischen  wan- 
derungssagen  in  die  Hist.  eingefügt  haben. 

Nach  dem  späteren  datum  von  Patricks  ankunft  findet  sich  (§16  schluss)  eine 
neue  berechnung  des  gegenwärtigen  Jahres,  die  die  Jahreszahl  859  n.  Chr.  zu  ergeben 
scheint.  Dass  diese  verschiedenen  daten  verschiedenen  personen  oder  verschiedenen 
ausgaben  entsprechen,  wie  man  angenommen,  scheint  mir  durch  nichts  angedeutet; 
im  gegenteil,  die  vorrede  macht  wahrscheinlich,  dass  die  Zusätze  der  Harleianrecen- 
sion  von  einem  manne  und  zwar  von  Nennius  herrühren.  Zu  den  festen  daten  kommt 
noch,  dass  er  früher  ein  discipulus  des  809  gestorbenen  bischofs  von  Bangor,  El- 
bodgw,  gewesen,  der  in  "Wales  eine  wichtige  rolle  gespielt  hatte,  so  dass  die  Schü- 
lerschaft als  ein  ruhmestitel  erscheinen  mochte.  Nimmt  man  beispielweise  an,  Nen- 
nius  sei  bei  Elbodgw's  tode  18  jähre  alt  gewesen,  so  hätte  er  die  ersten  irischen 
daten  etwa  in  seinem  30. ,  die  ergänzung  der  calculi  (§  5)  etwa  im  40.  und  das  letzte 
datum  (859)  im  68.  lebensjahre  eingetragen.  Doch  kann  er  ein  paar  jähre  jünger 
gewesen  sein.    Jedenfalls  hat  er  ziemlich  sein  lebenlang  für  die  Historia  gesammelt. 

Die  Apologia  steht  nun  aber  nicht  in  der  Harleian-recension,  sondern  nur  vor 
der  gekürzten,  Zimmers  „nordwelschen".  Auch  hier  war  sie,  wie  es  scheint,  erst 
nachträglich  eingetragen  wol  in  derselben  kleineren  schrift  wie  die  randnoten,  was 
spätere  kopisten  zum  teil  beibehalten  habend  Kann  sie  ursprünglich  mit  dieser 
recension  verbunden  gewesen  sein,  d.  h.  ist  Nennius  auch  Verfasser  der  gekürzten 
Historia?  Zimmer  verneint  die  frage,  Heeger  und  Duchesne  bejahen  sie.  Ich  denke, 
mit  recht.  Die  die  kürzung  motivierende  note  (Zimmer  s.  31)  schliesst  nach  dem 
bericht  über  Eduini's  taufe  (§  63):  Si  quis  scire  voluerit,  qiiis  baptixavit  eos,  sie 
mihi  Renchidus  episcopus  et  Elbodus  episcoporum  sanctissimus  tradiderunt ,  Run 
map  Urbeghen,  id  est  Paulinus  Eboracensis  archiepiscopus ,  eos  baptizavit;  et  per 
XL  dies  non  cessavit  baptixare  om.ne  genus  Ambronum  et  per  praedicationem  illius 
multi  crediderunt  in  Christo.  Sed  ctim  imäiles  magistro  meo,  id  est  Beulano 
presbytero,  visae  sunt  genealogiae  Saxonmn  et  aliariim  genealogiae  gentium,  nolui 
eas  scribere.  Sed  de  civitatibus  et  mirabilibus  Brittanniae  insidae  ut  alii  scriptores 
ante  me  scripsere,    scripsi.     Sie   enthält  also   zunächst  eine  Verbesserung  des  §  63 

1)  Nimmt  man  als  wirkliches  jähr  821  an,  und  rechnete  Nennius  hier  wie  in 
§  5  das  passionsjahr  =:  35  unserer  Zeitrechnung,  so  wäre  DCCLXXXVI  (786)  post 
passionem  Chr.  das  von  ihm  gemeinte  jähr.  Davon  abgezogen  das  jähr  der  Sach- 
senankunft 347  p.  pass.  Chr.  ergäbe  439;  in  CCCCXXIX  betrüge  der  rechenfehler 
also  nur  ein  X. 

2)  Nur  so  kann  ich  mir  Petrie's  bemerkung  deuten,  in  allen  hss.,  welche  die 
Apologia  enthalten,  sei  sie  manu  vel  aliena  vel  aliqimnto  recentiori  geschrieben 
(Nennius  s.  48  anm.  b  und  vorrede  s.  66).  Es  ist  doch  unmöglich  anzunehmen,  dass 
die  ganze  reihe  von  hss.,  die  schon  an  sich  derselben  recension  angehören,  zufällig 
den  gleichen  zusatz  nachträglich  aufgenommen  haben. 


I 


ÜBER    ZnUIER,    NEN'NTÜS    \1NDICATUS  97 

der  Harleiam-ecension,  wo  Nennius  —  wol  nach  seiner  vorläge  —  geschrieben  hatte: 
Rum  map  Urbgen  baptizavit  eos.  Denn  Run  map  Urbeghen  ist  die  teils  rich- 
tigere teils  altertümlichere  form  des  namens*.  Die  andere  notiz,  dass  dieser  ßun 
gleich  Paulinus,  erzbischof  von  York,  sei,  ist  zwar  irrig,  beruht  aber  indirekt  auf 
Bedas  bericht,  dass  Paulinus  die  Nordhumbrer  getauft  habe.  Als  gewährsmänner 
werden  ein  —  unbekannter  —  bischof  Eenchidus  und  der  heiligste  bischof  Elbodgw 
genannt,  ersterer  aber  vorangestellt.  Das  dürfte  darauf  hinweisen,  dass  der  Schrei- 
ber die  korrektur  zunächst  Eenchidus  verdankt,  der  ihn  auf  irgend  eine  bemerkung 
oder  notiz  Elbodgw's  mag  aufmerksam  gemacht  haben.  Die  beruiung  auf  diesen  passt 
sehr  gut  für  einen  ehemaligen  discipuius  Ehodugi.  Dagegen  darf  man  nicht  anneh- 
men, dass  Nennius  schon  als  schüler  Elbodgw's  an  der  Historia  gearbeitet  habe. 
Kannte  dieser  —  wie  es  nach  obigem  scheint  —  schritten  Bedas,  so  hätte  er  ihm 
viel  mehr  neue  materialien  zuführen  können  und  wäre  gewiss  viel  öfter  von  ihm 
citiert  worden-.  Es  spricht  also  nichts  dagegen,  dass  Elbodgw  zur  zeit,  als  voixede 
und  Schlussnote  verfasst  wurden,  seit  lange  tot  war.  Somit  hat  gewiss  Nennius  sel- 
ber nach  der  Harleianrecension,  also  nach  dem  jähre  859  die  gekürzte  recension 
besorgt  und  jenen  passus  beigeschrieben.  Aus  letzterem  lernen  wir  ferner,  dass  der 
alte  Nennius  in  einem  untergeordneten  Verhältnisse  zu  einem  presbyter  Beul  an  stand, 
den  er  magister  mens  tituliert.  Demnach  rührt  gleichfalls  von  ihm  her  die  randnote 
zu  §  10  (s.  oben  s.  89),  welche  die  worte  enthält:  Sic  inveni,  ut  tibi,  Samuel,  id 
est  itifans  magistri  niei,  id  est  Beulani  presbgteri,  in  isla  (d.  h.  der  gegenüber- 
stehenden) pagina  scripsi.  Die  künstliche  Übersetzung  Zimmers  (s.  50)  ist  unnötig. 
Beulan,  dem  Nennius  diese  ausgäbe  wol  bestimmt  hatte,  mag  vor  oder  gleich  nach 
der  Vollendung  gestorben  sein;  der  Verfasser  wendet  sich  daher  in  dieser  nachträg- 
hchen  note  an  ßeulans  söhn  Samuel.  Die  einzige  Schwierigkeit  bildet  das  schlechte 
latein  im  anfang  der  note,  da  Nennius  sonst  wenigstens  verständlich  schreibt.  Aber 
die  Schwierigkeit  bleibt  immer  bestehen,  wenn  man  die  beiden  stellen,  in  denen  Beu- 
lan genannt  wird,  demselben  autor  zuschreibt,  was  doch  alle  tun;  denn  die  zweite 
hat  glattes  latein.  Darum  habe  ich  oben  s.  90  angenommen,  dass  die  mangelhafte 
Sprache  auf  grosser  Mchtigkeit  beruhe. 

Endlich  spricht  auch  der  anfang  der  motivierenden  schlussnote  für  Nennius 
als  Verfasser  der  kürzenden  recension.  In  der  Harleianrecension  hatte  §  61  den 
imverständlichen  schluss :  Ida  filius  Eobba  . .  .  unxit  Dinguayrdi  guurthberneich. 
Die  kürzende  recension  biingt  wider  eine  wenigstens  halbrichtige  korrektur^:  Ida  . . . 
junxit  arcem,  id  est  D in,  Oueirin  et  Giirdbirnech:  quae  duae  regiones  fuerimt  in 
una  regione,  id  est  Deur  a  Bernech,  Anglice  Deira  et  Bernicia.  Diese  erklärung, 
über  die  Vereinigung  von  Deur  a  Bernech  „Deira  und  Bernicia"  wii-d  doch  wol 
schon  ihrer  fassung  nach  von  demselben  manne  stammen  wie  die  bemerkung  zu 
Soemil  in  der  genealogie  von  Deira  §  61 :  ipse  primus  separavit  Deur  o  Birneich. 
Da  letztere  sich  nur  in  der  Harleianrecension  findet,  kann  sie  nur  vor  oder  von  Nen- 
nius eingetragen  sein.     Auch  diess  führt  also  wider  auf  Nennius. 

1)  In  Urbeghen  ist  wie  in  Urbagen  (überschiift  in  Ch)  der  auslautende  vokal 
des  ersten  kompositionsgliedes  (Urbi-geniis)  bewahrt,  freilich  in  schwankender  Schrei- 
bung. 

2)  Die  irische  ühersetzimg  hat  den  papstnamen  Eu(ch)aristus  der  Lucius- 
legende in  Eleutherius  verbessert.  Das  beruht  aber  nicht  auf  der  „nordwelschen 
recension"  (Zimmer  s.  141),  sondern  ist  selbständige  besseitmg  des  irischen  bearbei- 
ters  nach  Bedas  schilft  De  temporum  ratione. 

3)  Vgl.  oben  s.  85. 

ZEITSCHKliTT    F.    DEUTSCHE    PHILOLOGIE.      Bü.    XXVIU.  • 


98  THURNEYSEN 

Ob  noch  andere  der  gemeinsamen  rand-  und  interlinearnoten  auf  ihn  zurück- 
gehen, mag  dahingestellt  bleiben.  Sicher  nicht  alle.  Denn  die  randnote  zu  §  5  zählt 
6108  jähre  ab  exordio  rmmdi  usque  ad  XXX  annum  Anaraut  regis  Moniae  (Ang- 
lesey),  qui  regit  modo  regnutn  Wenedociae  regiotiis,  d.  i.  910  n.  Chr.  (Zimmer 
s.  43  fg.).  Um  diese  zeit  kann  ein  schüier  Elbodgw's  nicht  mehr  gelebt  haben.  Bald 
darauf  scheint  das  archetyp  der  hs.  G  und  wol  auch  die  vorläge  des  irischen  Über- 
setzers kopiert  worden  zu  sein;  bei  weiteren  Zusätzen  hört  daher  die  Übereinstimmung 
der  handschriften  auf. 

Zu  ganz  anderen  resultaten  ist,  wie  oben  bemerkt,  Zimmer  gelangt,  der  für  die 
Harleiam'ecension  und  die  „nordwelsche  recension"  verschiedene  Verfasser  annimmt, 
nur  für  die  erstere  Nennius.  Der  §  16  ist  nach  ihm  später  in  das  werk  des  Nennius 
eingeschoben,  seine  daten  also  für  dessen  lebenszeit  ohne  belang;  in  dem  datimi  von 
§  5  sieht  er  einen  grossen  lapsus  (s.  127  fg.)  Er  rechnet  folgendermassen.  Der  Verfas- 
ser der  nordwelschen  recension  ist  ein  jungermann,  weil  erBeulan  seinen  magi- 
ster  nennt;  er  beruft  sich  auf  eine  mündliche  mitteilung  des  bischofs  Elbodgw,  kann 
also  nicht  lange  nach  810  geschrieben  haben.  Nennius,  ein  (i/sc2)>w/z<s  dieses  bischofs, 
ist  also  noch  etwas  früher  anzusetzen.  Der  fürst  Fernmail,  dessen  Stammbaum  er  §  49 
bringt,  lebte  rimd  um  785  —  815.  Catell  Durnluc,  den  Nennius  in  einer  glosse  (§35) 
nennt,  ist  der  fürst  Catell  von  Powis,  dessen  tod  die  Annales  Cambriae  a.  808 
melden  (s.  71  fgg.)-  Die  genealogieen  von  Mercia  (§  60)  fügen  am  schluss  den  Stamm- 
baum könig  Ecgfrids  bei,  der  nach  einer  regierung  von  nur  141  tagen  a.  796  starb. 
Also  ist  796  das  jähr,  in  dem  Nennius  sein  werk  verfasste  (s.  82). 

Abgesehen  davon,  dass  wir  nun  nicht  mehr  so  leicht  wie  Zimmer  über  die 
daten  der  Harleianrecension  hinwegsehen  können,  ist  auch  Fernmails  lebenszeit  nur 
ungefähr,  durch  generationenrechnung  bestimmt  (oben  s.  94);  sie  kann  sich  leicht 
in  die  20er  oder  30er  jähre  des  9.  Jahrhunderts  erstreckt  haben,  wo  Nennius  nach 
dem  obigen  eben  an  der  arbeit  war.  Ausserdem  ist  gerade  bei  der  interpolation  von 
§  49  nicht  ganz  zweifellos,  dass  sie  Nennius  und  nicht  einem  Vorgänger  zuzuschrei- 
ben ist. 

Mit  Catell  aber  verhält  es  sich  so.  Nach  §  32  fgg.  hat  S.  Germanus  einem 
servus  des  bösen  königs  Benli,  namens  Catel,  prophezeit  (§  35):  „Non  deficiet  rex 
de  semine  tuo  —  ijjse  est  Catell  Durnhic  —  et  tit,  solus  rex  eris  ab  hodierno 
die.''  Und  so  geschah  es;  von  seinem  samen  omnis  regio  Poeisorum  regitur  usque 
in  hodiernum  diem.  —  Der  satz:  ipse  est  Catell  Durnluc  ist  ein  späterer  einschub, 
wie  Zimmer  gesehen  und  wie  hs.  Ch  bestätigt;  seiner  fassung  nach  rührt  er  von 
Nennius  her.  Am  nächsten  liegt  gewiss,  dass  mit  ipse  der  Stammvater  der  Powis- 
fürsten  gemeint  sei,  dem  Germanus  die  königswürde  verheisst.  So  haben  es  nicht 
nur  die  kopisten  des  Nennius  verstanden,  die  bei  der  früheren  nennung  des  servus 
schreiben:  cui  nomen  erat  Katel  Durnluc  dux^\  sondern  auch  in  den  alten  genea- 
logieen (Harl.  3859)  steht  Catel  Durnluc  an  der  spitze  der  könige  von  Powis.  Anders 
Zimmer;  er  denkt,  Catell  Durnlue  bezeichne  den  zu  Nennius'  zeit  regierenden  fürsten, 
gehöre  also  gewissermassen  zu  seinen  tuum.  lu  dem  Brut  yTywysogion  den  die 
Myvyrian  Archailogy  s.  685  fgg.  enthält,  auf  dessen  besonderheiten  übrigens  auch 
Zimmer  sonst  nicht  viel  baut,  heisst  es  nämlich  zum  jähre  804:  y  bu  farw  ...  Ca- 
dell  Brenin  Teyrnllwg  a  elwir  yr  aivr  honn  Powys   „da  starb   Cadell,    könig  von 

1)  Dux  scheint  die  typische  bezeichnuug  der  herrscher  zu  sein,  die  nicht  aus 
dem  brittischen  hochadel  hervorgegangen;  vgl.  Arthur  dux  bellorum  §  56. 


ÜBER   ZIMMER,    NENNIDS   VINDICÄTUS  99 

Teyrnlhvg,  das  jetzt  Powis  genannt  wird";  und  in  der  folge  wii'd  dieser  fürst  mehr- 
fach als  Cadeil  Deijrnllwg  citiert.  Dass  Deyrnllwg  mit  dem  obigen  Durnlue  zusam- 
menhängt (durch  den  lesefehler  Dlirnlnc)^  ist  an  sich  klar  und  wird  dadurch  bestä- 
tigt, dass  in  jüngeren  genealogieen  (Zimmer  s.  72)  der  Stammvater  des  geschlechts 
das  epitheton  Deernluc,  eine  andere  Variation  von  * Diirnluc,  führt.  Da  jedoch  der 
historische  fürst  gerade  in  den  älteren  quellen  einfach  Catell  (Cadeil)  von  Powis 
heisst*,  so  muss  der  name  Cadell  Deyrnllwg  in  der  Myv.  Arch.  auf  einer  Verwechs- 
lung mit  dem  urahnen  und  die  erklärung  von  Teyrnllwg  =  Powis  auf  einem  nahe- 
liegenden Schlüsse  beruhen"-.  Der  name  kommt  also  für  die  bestimmung  der  zeit  des 
Nennius  gar  nicht  in  betracht.  Dann  aber  ebensowenig  das  datum  des  königs  Ecg- 
frid  von  Mercia,  das  nur  in  Verbindung  mit  den  andern  in  die  wagsohale  hätte  fal- 
len können  (s.  darüber  unten,  s.  101).  Die  daten  aus  dem  9.  Jahrhundert  in  §  5  und 
§  16  behalten  somit  ihre  volle  beweiskraft. 

Nunmehr  sind  wir  in  der  läge  auch  die  bestandteüe  der  zweiten  hälfte  der 
Hist.  Britt.  auf  ihren  urheber  hin  zu  prüfen.  Oben  s.  83  constatierten  wir,  dass  der 
schluss  der  Brittengeschichte  zum  alten  bestände  gehört.  Als  vermutliche  Interpola- 
tionen wurden  bereits  besprochen  §  48  (von  der  mitte  an)  und  49 ,  ferner  das  leben 
des  Patricius  §  50 — 55.  Es  bleiben  ausser  dem  anhang,  den  Mirabilia  und  Civi- 
tates,  noch  die 

Geuealogieeu  §  57 — 61.  Sie  nehmen,  wie  früher  s.  84  bemerkt,  häufig  auf 
die  Brittengeschichte,  in  die  sie  eingeschoben  sind,  bezug.  Alle  enthalten  fürsten- 
namen,  die  in  dieser  vorkommen.  Eine  merkwüi'dige  ausnähme  büdet  nur  die  genea- 
logie  der  Ostangeln  §  59,  indem  sie  keinerlei  beziehuug  zur  Brittengeschichte  zeigt, 
auch  nicht  zu  dem  hysterogenen  schluss  des  §65:  Penda  .  .  Onnan  regem  Easter- 
angloruvi  .  .  occidit;  gerade  dieser  Ostangelnkönig  kommt  im  Stammbaum  nicht  vor. 
Ihre  aufnähme  lässt  sich  also  nur  so  erklären,  dass  sie  schon  in  der  quelle  direkt 
auf  die  genealogie  von  Eent  (§  58)  folgte  und,  sozusagen  aus  versehen,  mit  abge- 
schrieben wurde. 

Die  genealogieen  beginnen  mit  Bernicia  §57.  Der » Stammbaum  wii'd  von 
Woden  über  Ida  bis  auf  die  generatiou  Aechfirds  {=  Ecgfrid)  herabgeführt,  des 
letzten  in  der  Hist.  erwähnten  königs  (regiert  670  —  685).  Dann  wird  sein  tod  im 
Pictenkriege  berichtet,  der  in  der  Brittengeschichte  von  679  natürlich  fehlte.  Von 
wem?  Das  verrät  wol  der  satz:  et  nunqiiam  addiderunt  Saxones  Ambroniim,  ut  a 
Pictis  vectigal  exigerent.  Der  Verfasser  bezeichnet  also  die  Nordhumbrer,  die  Ambro- 
nes  (s.  0.  s.  83  anm.  2),  als  Saxones  Ambronum,  obschon  sie  Angeln  sind.  Mithin  ist 
für  ihn  Saxones  ein  gesammtname  für  alle  Germanenstamme  Englands;  demnach  ist  er 
ein  Südkymre ,  d.  h.  aus  Wales  oder  umgegend ,  wie  noch  heute  in  "Wales  aUe  Eng- 
länder Seison  „Sachsen"  genannt  werden.  Da  nun  auch  der  Verfasser  der  gekürzten 
recension  von  genealogiae  Saxonum  et  aliariwi  genealogiae  gentium  spricht  (oben 
s.  96),  obschon  die  Stammbäume  nur  Angeln  und  Juten,  aber  keinen  einzigen  der 
englischen  Sachsenstaaten  betreffen,  wird  wol  ein  und  derselbe  mann  beide  bemer- 
kungen  verfasst  haben,  d.  h.  Nennius.  So  wird  wahi-scheinlich ,  dass  auch  die  fol- 
gende notiz  über  Osguids  zwei  frauen  von  Nennius  herrührt;    er  fülut  sie  an,    weü 

1)  Catell  Pouis  in  den  Annales  Cambriae  a.  808,  Cadell  brenhin  Powys  in 
dem  Brut  y  Tywysogion  des  roten  buchs  von  Hergest  (ed.  Rhys- Evans  s.  258). 

2)  Dadurch  verhert  auch  die  von  Zimmer  s.  73  citierte  stelle  der  Job  Mss. 
jede  glaubwürdigkeit. 

7* 


100  THTJRNETSEN 

die  eine,  Riemmelth,  die  grosstochter ,  die  andere,  Eanfled^  nach  §  63  der  täufling 
des  dort  erwähnten  Rum  (Run)  map  Urbgen  zu  sein  schien.  Ebenso  geht  dann  der 
Zusatz  zu  Aelfret:  ipse  et  Aedlfred  Flesaur,  der  gleichfalls  auf  §  63  hinweist,  auf  ihn 
zurück. 

Die  zweite  genealogie  §58,  die  die  fürsten  von  Kent  bis  auf  Ecgberth  (664  — 
673)  herabführt,  ist  mit  rücksicht  auf  Hengist  und  seinen  söhn  Octha  (§  56)  aufge- 
nommen. Die  vorfahren  Hengists  sind  weggelassen,  weil  sie  schon  in  §  31  der  Eist. 
genannt  waren.  Zimmer  s.  82  fgg.  meint,  die  namen  seien  aus  den  genealogieen  aus- 
gezogen und  an  jener  früheren  stelle  eingefügt  worden.  Eher  werden  sie  doch  dem 
ursprünglichen  werkchen  angehören,  da  der  Stammbaum,  im  unterschied  von  den 
andern  genealogieen,  über   Wodeii  hinaufgeht  bis  auf  Oeta  filius  Dei  (s.  unten). 

Die  anschliessende  genealogie  der  Ostangeln  §  59  erstreckt  sich  von  Woden 
über  Quecha  bis  auf  einen  unbekannten  Elrie,  der  hier  als  söhn  Aldul(f)s  (663  — 
713)  erscheint  (s.  unten).  —  Die  genealogie  von  Mercia  §  60  führt  zuerst  von  Woden 
auf  Penda  (626  —  655),  der  in  §  65  der  Britteugeschichte  vorkam,  und  seinen  bruder 
E(o)ua  (t  642).  Dann  folgen  aufsteigende  Stammbäume  von  drei  späteren  mercischen 
fürsten:  1.  Eadlrit  (675  —  704),  2.  Eadlbald  (716  —  757),  3.  Ecg fr id  filius  Off a ,  der 
796  (795?)  nur  wenige  monate  regiert  hat.  —  Die  genealogie  von  Deira  §61  end- 
lich führt  von  Woden  über  Soemil  auf  Äedgtiin,  von  dem  §  63  handelte.  Sein  und 
seiner  söhne  tod  in  der  schlacht  gegen  Catguollaunus ,  der  in  der  Britteugeschichte 
übergangen  war,  wird  hier  nachgetragen,  vermutlich  gleichfalls  von  Nennius. 

An  diese  verschiedenen  genealogieen  ist  in  §  61  noch  angeschlossen:  1.  der 
Stammbaum  eines  unbekannten  Oslaph,  der  in  6.  generation  von  Osguid  (regiert 
642  —  670)  abstammt.  Rechnet  man  sechs  generationen  als  rund  200  jähre,  so  war  er 
ein  Zeitgenosse  des  Nennius.  2.  Der  Stammbaum  Eadbyrths,  des  Nordhumbrerkönigs 
von  737  —  758,  und  seines  bruders  Ecgbirth,   der  766  als  erzbischof  von  York  starb. 

Hat  nun  Nennius  nur  ein  paar  zusätze  zu  den  genealogieen  gemacht  oder  hat 
er  überhaupt  den  ganzen  abschnitt  §57  —  61  der  Historia  einverleibt?  Ich  glaube, 
die  zeit  der  quelle  der  genealogieen,  die  wir  einigermassen  bestimmen  können,  spricht 
für  die  zweite  anschauung.  Sweet,  The  Oldest  English  Texts  s.  169  fgg.,  druckt  aus 
dem  Cotton  ms.  Vespasian  B  6  fol.  108  fgg.,  einer  hs.,  die  vor  814  von  einem  Nord- 
humbrer  geschrieben  scheint,  eine  reihe  von  genealogieen  ab.  Der  titel  lautet:  Haee 
genelogiae  per  partes  Brittaniae  regum  regnantium  per  diversa  loca.  Dann  folgt 
zunächst  ein  abschnitt  mit  Stammbäumen  von  Nordhumbrerfürsten:  1.  von  Eduine 
Aelling  (616  —  633)  aufwärts  bis  Uoden  Frealafing  (vgl.  Nennius  §  61);  2.  von 
Ecgfriä  Osuing  (670  —  685)  bis  Uoden  Frealafing  (vgl.  §  57);  3.  von  Ceoluulf 
(729  —  737)  über  Ecguald  bis  Ida;  daran  angehängt  der  Stammbaum  von  Eadberht 
Eating  (737 — 758),  vgl.  Nennius  §61,  wo  Eadbyrths  bruder,  erzhischoi  Ecgbirth, 
hinzutritt;  4.  die  genealogie  von  Alhred  (765  —  774). 

Hierauf  vier  genealogieen  von  Mercia:  1.  von  Aeäilred  Pending  aufwärts  bis 
Woden  Frealafing;  2.  von  Aeäelbald  Ahving  bis  Eoiva  Pybbing;  3.  von  Ecgfriä 
Offing  bis  Eowa  Pybbing;  4.  von  Goenuulf  Cuäberhting  (796 — 819)  bis  Coenwalh 
Pybbing.  Die  drei  ersten  entsprechen  genau  den  di'ei  abschnitten  bei  Nennius  §  60: 
Eadlrit,  Eadlbald  und  Ecgfrid. 

Nach  einer  genealogie  der  Lindisfari,  die  bei  Nennius  fehlt,  folgt  die  von 
Kent.  Sie  geht  von  Aeäelberht  Uihtreding  (748  —  760)  über  Uihtred  Ecgberhting, 
Ecgberht  Erconberhting  usw.  und  Hengest  Uitting  hinauf  bis  auf  Uoden  Frealafing. 
Sie  enthält  also  zwei  generationen  mehr  als  Nennius  §  58,  der  mit  Ercunbert  genuit 


ÜBER    ZIMMER,    NENNIUS    VINDIGATÜS  101 

Ecgherth  (664  —  673)  abbricht.  Das  ist  schon  an  sich  auffällig,  da  die  andern  gleich- 
artigen Stammbäume  des  Nennius  nicht  so  früh  schliessen.  Jetzt  wird  sehr  wahr- 
scheinlich, dass  nur  ein  flüchtigkeitsfehler  des  Nennius  vorliegt;  die  ähnlichkeit  der 
naraen  Ecgberth  und  Eadlberth  hat  ihn  die  zwei  letzten  gheder  übersehen  lassen. 

Die  genealogie  der  Ostangeln  führt  von  Äelfwald  Älduulfing  (713  —  749) 
aufwärts  bis  Uoden  Frealafmg.  Bei  Nennius  §  59  schliesst  dagegen  der  Stammbaum 
mit  Aldul  genuit  Elrie.  Schon  Lappenberg  bemerkt,  dass  ein  solcher  söhn  oder 
nachfolger^  Aldulfs  sonst  nirgends  erwähnt  werde.  Da  nun  bei  Nennius  Aldul(f)s 
vater  Edric  (=  Eäilrie)  unmittelbar  vorhergeht,  scheint  mir  zweifellos,  dass  in 
Elrie  nur  ein  durch  diesen  namen  veranlasster  Schreibfehler  für  * Elfguald  steckt. 

Die  ähnlichkeit  beider  denkmäler  springt  in  die  äugen:  dieselbe  auswahl  der 
Stammbäume  (nur  Angelnstämme  und  Kent)  und  in  allem  einzelnen,  in  der  eintei- 
lung,  in  den  besonderheiten  der  Ostangeln  -  genealogie ,  überall  die  grösste  Überein- 
stimmung. Da,  soA'iel  ich  sehe,  die  annähme,  dass  diese  englischen  genealogieen 
aus  der  Historia  Brit.  ausgezogen  seien,  schon  durch  ihre  form  so  gut  wie  ausge- 
schlossen ist,  so  gehen  beide  auf  dieselbe  quelle  zurück.  Diese  scheint  nach  ihren 
hauptbestandteilen  in  die  mitte  des  8.  Jahrhunderts  zu  gehören,  befand  sich  aber 
wol  796  in  Mercia,  wo  der  Stammbaum  könig  Ecgfrids  eingetragen  wurde.  Bei  spä- 
teren daten  (könig  Ceonwulf)  stimmt  Nennius  nicht  mehr  mit  den  englischen  genea- 
logieen überein.  Immerhin  sind  wir  damit  der  lebenszeit  des  Nennius  so  nahe 
gerückt,  dass  kein  grund  vorliegt,  die  einreihung  der  genealogieen  einem  andern 
interpolatar  zuzuschreiben.  Hatte  Nennius  selbst  sie  in  der  Harleianrecension  ein- 
geschoben, so  begreift  sich  auch  das  urteil  seines  magister  Beulan  besser,  sie  seien 
inutiles. 

Nennius,  der  seine  quelle  in  der  vorrede  §  3  annales  Saxonwn  nennt  —  viel- 
leicht erhielt  er  sie  durch  den  Oslaph,  dessen  Stammbaum  §  61  beigefügt  ist  — ,  hat 
wol  einiges  weggelassen^,  namentlich  aber  vieles  nachgetragen  und  zwar  aus  brit  ti- 
schen quellen,  wie  die  brittischen  namen  der  Schlachtfelder  in  §  57  und  61  und  meh- 
rere sonstige  einschiebsei  dartun.  Als  zusatz  zu  den  genealogieen  ergibt  sich  nun  aber 
auch  der  bericht  über  die  12  söhne  Idas,  die  7  söhne  Aedlfreds  und  die  3  söhne 
Osguids  in  §  57 ;  docb  stammt  dieser  vielleicht  eher  aus  der  vorläge  als  von  Nen- 
nius selbst.  Dagegen  wird  ihm  gewiss  die  auffällige  anordnung  der  genealogieen  zuzu- 
schreiben sein:  Nordhumbrien  (ßernicia),  Kent,  Ostangeln,  Mercia,  Nordhumbrien 
(Deira).  Die  alte  reihenfolge  mag  gewesen  sein:  Kent,  Ostangeln,  Mercia,  Bernicia- 
Deira.  Da  Nennius  an  Ida  (§  56)  anknüpfen  wollte,  musste  er  Bernicia  an  die  spitze 
stellen.  Ähnlich  hat  der  nordhumbrische  Schreiber  der  englischen  genealogieen  mit 
seiner  heimat  begonnen. 

Ferner  bestätigt  sich  jetzt,  dass  der  Stammbaum  von  Hengist  und  Hors  auf- 
wärts über  Woden  bis  auf  Oeta  films  Dei  (§  31)  nicht  aus  diesen  genealogieen  aus- 
gezogen ist,  dass  wir  also  nicht  anzunehmen  haben,  die  version  der  hs.  Ch,  worin 
er  sich  bereits  findet,  habe  auch  schon  die  genealogieen  enthalten.  Freilich  steht 
auch  bei  Sweet  (s.  170)  ein  Stammbaum,  der  über  Woden  Frealafing  hinaufreicht; 
das  ist  aber  gerade  der  der  Lindisfari ,  den  Nennius  nicht  hat.  Zudem  ist  hier  als 
oberster  Stammvater  Oodulf  Geoting  (bei  Nennius:  Folcwald  fil.  Geta)  genannt;    die 

1)  In  den  genealogieen,  denen  Lappenberg  folgt,  ist  nämlich  Aelfivold  nicht 
söhn,  sondern  bruder  Aldulfs. 

2)  Ob  die  vielen  nachlässigkeitsfehler,  von  denen  einige  oben  berührt  worden 
sind,  von  ihm  oder  einer  dazwischenliegenden  vorläge  herrühren,  bleibe  dahingestellt. 


102  THDRNEYSEN 

notiz,  dass  Geta  filius  Dei  sei,  fehlt.  Überhaupt  weichen  die  namen  in  der  Schrei- 
bung zu  stark  ab,  als  dass  direkter  Zusammenhang  angenommen  werden  könnte.  Alle 
andern  englischen  genealogieen,  auch  die  von  Kent,  gehen  nur  bis  auf  Uoclen  Frea- 
lafing  hinauf,  genau  wie  bei  Nennius.  — 

Die  notiz  über  bischof  Cudbertus  am  ende  der  Brittengeschichte  §  65  stammt 
kaum,  aber  die  über  Ecgfrids  tod  sicher  von  Nennius  (vgl.  §  57).  Wer  den  schluss 
(über  Penda)  beigefügt  hat,  kann  ich  nicht  bestimmen.  Er  nennt  die  Nordhumbrer 
Nordi,  gen.  Nordonim,  was  weder  Nennius  noch  der  historiograph  tun.  JedesfaUs 
hat  ihn  Nennius  schon  vorgefunden. 

Die  28  Civitates    (San-Marte  s.  80)    und  wenigstens    ein    teil    der  Blirabilia 

(§  67  fgg.)  standen  ebenfalls  schon  in  seiner  vorläge  nach  seinen  oben  citierten  Wor- 
ten: Sed  de  cnntatihus  et  mirabilibus  Brittanniae  insulae  tit  alii  scrii^tores  ante 
me  scripsere,  scripsi.  Für  die  Civitates  die  einen  excui's  zu  §  7  bilden,  wird  das 
ausserdem  durch  die  altertümliche  Orthographie  der  namen  bestätigt,  auch  durch  das 
fehlen  von  Gloucester,  das  Nennius  wegen  §  49  gewiss  nicht  übergangen  hätte  (Zim- 
mer s.  109).  Die  vaticanische  recension,  welche  die  städtezahl  zu  33  erweitert,  hat 
denn  auch  Cair  Olovi  richtig  beigefügt. 

Die  Mirabilia  zerfallen  in  vier  abschnitte'.  Zuerst  (§67  und  §68  anfang) 
4  numerierte  wunder,  betreffend  1.  Loch  Lomond  in  der  schottischen  grafschaft  Dum- 
barton;  2.  die  mündung  des  flusses  Trent  in  den  Humber  (Zimmer  s.  112);  3.  warme 
quelle  bei  Bath-,  4.  eine  saline  in  eadem  (regione?)"^.  Diese  bilden  jedesfalls  einen 
alten  stock;  Zimmer  denkt,  die  beiden  ersten  haben  schon  zum  alten  werkchen 
gehört,  was  möglich  ist. 

Die  folgenden  10  wunder  (§68  —  74)  sind  lose  angereiht  mit:  Aliud  miracu- 
lum  est,  Est  aliud  mirahile  oder  ähnlich.  Die  genannten  lokaütäten  sind:  1.  und 
2.  Severnmündung,  3.  unsicher,  4.  fluss  "Wye,  5.  6.  7.  Monmouth - Glamorgan, 
8.  regio  Buelt  (Builth),  9.  quelle  des  Amir -'ba.oh.es, ^  der  südlich  von  Hereford  fliesst 
(Zimmer  s.  114);  10.  Cardigan;  also  die  mehrzahl  im  gebiet  des  Wye- flusses  von 
seinem  oberen  laufe  bis  zur  mündung.  Zu  wunder  7.  (bei  Chepstow  am  untern  Wye) 
und  zu  9.  (grafschaft  Hereford)  bemerkt  der  erzähler:  ego  probavi.  Dass  das  10.  wun- 
der späterer  zusatz  sei,  scheint  mir  durch  Zimmer  s.  111  nicht  erwiesen. 

Den  dritten  abschnitt  bildet  §  75  mit  4  numenerten,  summarisch  aufgezählten 
wundern  der  insel  Anglesey,  den  vierten  §76  mit  zwei  wundern  Irlands.  Diebeiden 
letzten  gruppen  scheinen  nur  in  hs.  I  Überschriften  zu  tragen:  De  mirabilibus  Mo- 
niae  insulae  und  De  mirabilibus  Hiberniae.  In  der  urhs.  sollten  sie  offenbar  nach- 
träglich eingetragen  werden,  da  der  text  auf  sie  bezug  nimmt.  Doch  lagen  sie  auch 
dem  irischen  Übersetzer  vor,  der  Monia  als  insel  Man  miss verstanden  hat. 

Alle  diese  wunder  finden  sich  sowol  in  den  guten  hss.  der  Harleianrecension 
als  in  der  gekürzten,  sie  sind  also  von  jenen  in  diese  herübergenommen  wor- 
den, da  nichts  zur  umgekehrten  annähme  zwingt.  Sie  führen  uns  zur  frage,  wo 
Nennius  gelebt  und  geschrieben  hat.  Für  Nordwales,  wol  speciell  Anglesey 
spricht:  1.  er  war  Schüler  des  bischofs  von  Bangor,  Elbodgw;  2.  vier  wunder  von 
Anglesey  sind  an  später  stelle  angehängt;  3.  am  rande  der  urhs.  der  gekürzten  recen- 
sion wird  um  910  ein  datum  nach  Anaraut,  fürsten  von  Anglesey  und  herrscher  über 

1)  Vgl.  Zimmer  s.  110,  dem  ich  aber  auch  hier  nicht  in  allem  folgen  kann. 

2)  Ich  weiss  nicht,  ob  es  bei  Bath  salinen  gibt.  Potrie,  der  wol  in  eadem  als 
in  Britannia  versteht,  bezieht  es  auf  die  saline  bei  Chester. 


ÜBER    ZIMMER,    NENNIUS    VINDICATUS  103 

Nord  Wales,  berechnet.  Nach  dem  süden  (süd-osten)  von  Wales  weisen:  der  Stamm- 
baum Fernmails,  des  fürsten  von  Buelt  und  Guorthigirniaun ,  in  §  49  und  die 
Mirabilia  aus  dem  Wye- gebiet.  Da  der  "Wye-fluss  an  Builth  vorbeiströmt,  wird 
man  mit  Zimmer  für  sehr  wahrscheinlich  halten,  dass  beide  abschnitte  denselben 
Verfasser  haben.  Anderseits  erlaubt  der  abweichende  stil,  in  dem  die  wunder  von 
Anglesey  erzählt  werden,  keinen  sichern  schluss  auf  die  Verschiedenheit  der  Verfas- 
ser; es  könnte  nur  der  Zeitpunkt  der  eintragung  ein  verschiedener  sein. 

Wir  erhalten  also  folgendes  bild  von  Nennius  tätigkeit.  In  seiner  Jugend  war 
er  Schüler  des  berühmten  Elbodgw,  bischof  von  Bangor,  der  768  die  römische 
osterberechnung  bei  den  Kymren  eingeführt  hatte  und  809  starb.  Entweder  kam  er 
später  eine  zeit  lang  nach  Südost -Wales  und  begann  dort  die  alte  Brittengeschichte, 
die  er  aufgefunden,  weiter  auszuarbeiten;  oder  er  erhielt  ein  exemplar  derselben,  in 
das  kurz  vorher  in  Südost -Wales  einige  Zusätze  eingetragen  worden  waren.  Jedes- 
falls  vollendete  er  sie  später  in  Nordwales ,  wahrscheinlich  auf  Anglesey.  Er  erscheint 
dort  abhängig  von  einem  presbyter  Beulan,  den  er  seinen  mag  ister  nennt.  An  der 
erweiterung  der  Brittengeschichte  arbeitete  er  mindestens  seit  c.  820  und  hatte  bis 
oder  nach  859  ein  exemplar  seines  Werkes  fertig  gestellt.  Es  liegt  den  hss.  der  Har- 
leianrecension  zu  gründe.  Da  der  presbyter  Beulan  die  eingeschobenen  genealogieen 
englischer  fürsten  überflüssig  fand,  liess  er  sie  in  der  definitiven  ausgäbe,  die  er 
bald  darauf  besorgt  haben  mag,  weg,  zugleich  aber  auch  den  alten  schluss  der  Brit- 
tengeschichte, in  den  sie  verarbeitet  waren  (also  §57  —  65).  NachträgHch  fügte  er 
diesem  exemplar  bei:  1.  eine  motivierang  der  kürzung,  worin  er  zugleich  einige 
partieen  des  imterdrückten  Schlusses  wider  aufnahm,  nämlich  solche,  bei  denen  er 
Verbesserungen  seiner  früheren  lesarten  anzubringen  hatte;  2.  die  vorrede  zum  gan- 
zen werke,  eine  wahiheitsge treue  aufzähkmg  seiner  quellen;  sie  kennzeichnet  ihn  als 
einen  sehr  bescheidenen  mann  und  erklärt  dadurch,  weshalb  er  so  lange  jähre  mit 
dem  abschluss  gezögert;  3.  eine  randnote  zu  §  10,  die  er  an  Beulans  söhn  Samuel 
richtet,  was  -sielleicht  auf  den  inzwischen  eingetretenen  tod  seines  „magisters" 
schliessen  lässt;  endlich  vielleicht  noch  andere  kleine  randbemerkungen.  Das  ist  die 
„gekürzte  recension  mit  randnoten",  die  sich  noch  um  910  in  Nordwales  oder  Anglesey 
befand,  imd  auf  die  auch  die  irische  Übersetzung  des  10.  oder  11.  Jahrhunderts  zu- 
rückgebt. Nun  gibt  es  aber  auch  hss.  der  gekürzten  recension  ohne  diese  zusätze 
(hauptvertreter  scheinen  DE).  Ob  sie  aus  der  definitiven  ausgäbe  vor  eintragung 
der  noten  geflossen,  oder  me  sie  sich  zu  den  andern  Versionen  verhalten,  wird  wol 
die  kommende  edition  zeigen. 

Ich  lasse,  wie  Zimmer  s.  265fgg. ,  ein  Schema  der  Historia  des  Nennius 
nach  dem  abdrucke  von  San-Marte  folgen.  So  werden  die  abweichuugen  übersicht- 
licher zu  tage  treten.  Was  sich  schon  in  der  um  679  im  norden  verfassten  Britten- 
geschichte fand,  nenne  ich  „ursprünglich'';  doch  berücksichtigeich  nur  die  haupt- 
bestandteile  der  einzelnen  paragraphen,  führe  auch  nur  die  hauptquellen  an. 

§  1.  2.  ProZo^«s.- Spätere  rhetorische  ausarbeitung  der  echten  vorrede  des  Nennius. 

§  3.  Apologia:  Vorrede  des  Nennius,  nachträglich  der  definitiven  ausgäbe  bei- 
gefügt.    S.  oben  s.  95.  96  fg. 

§4.   Unvollständige  Calculi,  ursprünglich.     S.  oben  s.  86. 

§  5.  Ergänzung  der  Calculi  durch  Nennius  um's  jähr  831.  S.  oben  s.  86  anm.  3. 
93.  95.  99. 

§  6.   Calculi:  die  6  weltalter,  ursprünglich.     S.  oben  s.  86. 

§  7  —  9.  Beschreibung  Britanniens,  ursprünglich.     S.  oben  s.  86. 


104  THURNEYSEN 

§  10.  11.  Geschichte  und  zeit  des  Britto,  söhn  des  Silvius.  Von  Nennius 
hauptsächlich  auf  grund  der  (irischen?)  annales  Romanorum  eingeschoben  an  stelle 
einer  älteren  Interpolation  (einschub  1) ;  s.  oben  s.  87  fg.  89..  In  den  schluss  von 
§  11  ist  ein  zweites  älteres  einschiebsei  verarbeitet;  s.  oben  s.  88  fg.  —  Stammbaum 
des  Brutus  (Britus)  exosiis  nach  irischem  bericht,  späte  randnote  des  Nennius  zur 
definitiven  ausgäbe  §  10;  s.  oben  s.  89  fg.  97. 

§  12  — 14.  Einwanderung  der  Picten  und  Iren;  von  Nennius  beigefügt  nach 
ii'ischen  quellen  (annales  Romanorwm?).     S.  oben  s.  93. 

§  15.  16.  Daten  zur  sagenhaften  und  wirklichen  geschichte  der  Iren,  \on  peri- 
tissimi  Seottorum  dem  Nennius  mitgeteilt  und  der  hauptsache  nach  um  820  aufge- 
zeichnet; ein  nachtrag  um  859.     S.  oben  s.  93  fg.  95.  99. 

§  17.  A.  Ursprung  der  Britten  nach  der  fränkischen  völkertafel,  ursprüng- 
lich, s.  oben  s.  86.  B.  Stammbaum  von  Adam  bis  Alaniis,  ursprünglich  oder 
früher  einschub;  s.  oben  s.  86. 

§  18.  Stammbaum  des  Brutus,  söhn  des  Hissicion.  Vornennianischer  zusatz, 
schon  in  Ch;  s.  oben  s.  89. 

§  19  —  20  erste  hälfte:  Caesars  angriffe  auf  Britannien ,  ursprünglich.  S.  oben 
s.  87. 

§  20  mitte  bis  §  30.  Die  Römerherrschaft  in  Britannien.  Von  Nennius  eingefügt, 
hauptsächlich  auf  grund  von  zwei  listen  der  Imperatoren,  welche  Britannien  besucht, 
einer  kürzeren,  die  früh  in  die  Hist.  eingeschoben  worden,  und  einer  erweiterten,  wol 
in  den  annales  Romanorum  enthaltenen;  mit  Zusätzen  aus  Hieronymus  und  Prosper, 
auch  Gildas  (?).    S.  oben  s.  90—92.     Zur  Luciuslegende  (§  22)  vgl.  s.  91  fg.  97  anm.  2. 

§31 — 48  mitte.  Geschichte  von  Hors  und  Hengist,  Guorthigirn  und  S.  Ger- 
manus, ursprünglich;  beruht  grossenteils  auf  Map  Urbgen's  excerpten  aus  einem 
über  sancti  (oder  beati)  Oermani.    S.  oben  s.  83.  84.  87. 

§  48  mitte  bis  §  49.  Über  das  fürstengeschlecht  von  Buelt  und  Guorthigir- 
niaun,  eingeschoben  entweder  von  einem  Südwelschen  kurz  vor  Nennius  oder  von 
Nennius  selbst.     S.  oben  s.  94.  98.  102  fg. 

§  50  —  55.  Leben  des  heil.  Patricius;  wol  sicher  von  Nennius,  nach  zwei 
irischen  quellen.     S.  oben  s.  94. 

§  56.     Biittengeschichte  von  Hengists  tod  an,  ursprünglich.    S.  oben  s.  87. 

§  57  —  61,  z.  13  (bis  zu  den  Worten:  de  natione  eorum).  Genealogieen  der 
fürsten  von  Bernicia,  Kent,  Ostangeln,  Mercia,  Deira  (Nordhumbrien).  Von  Nennius 
hineinverarbeitet  nach  einer  quelle,  die  oder  deren  vorläge  sich  796  in  Mercia  befand. 
S.  oben  s.  84.  99  fgg.  Diesen  abschnitt,  sowie  die  zwei  folgenden  hat  Nennius  in 
der  definitiven  ausgäbe  weggelassen. 

§  61  (von  Ida  fil.  Eobba  an)  bis  §  65  (bis:  Ecgfrid  . .  .  regnavit  IX  annis). 
Schluss  der  Brittengeschichte,  ursprünglich.     S.  oben  s.  83  fgg. 

§  65  rest.     Verschiedene  zusätze,  meist  vornennianisch.     S.  oben  s.  102. 

[§  66.     Anfang  der  Annales  Cambriae  in  hs.  A]. 

S.  80.    Civitates;  excurs  zu  §  7,  vornennianisch  und  ziemlich  alt.   S.  oben  s.  102. 

§67  —  68  anfang  (Quartum  miraculum).  Grundstock  der  Mirabilia  Britan- 
niae.  Vornennianisch;  die  zwei  ersten  wunder  vielleicht  ursprünglich  oder  sehr 
früher  anhang.     S.  oben  s.  102. 

§  68  (von  Aliud  tniraculum  an)  bis  §  74.  Zehn  wunder,  meist  aus  dem  gebiet 
des  "Wye  -  flusses ;  entweder  von  einem  Südwelschen  kurz  vor  Nennius  oder  von  Nen- 
nius selbst.     S.  oben  s.  102  fg. 


ÜBER    ZIMMER,    NENNIUS    VINDICATUS  105 

§  75.     Mirabilia  von  Anglesey.     Von  Nennius.     S.  oben  s.  102.  103. 

§  76.     Mirabilia  von  Irland.     Wol  von  Nennius.     S.  oben  s.  102. 

Von  einzelheiten  in  Zimmers  buch  möchte  ich  besonders  hervorheben:  die 
nachrichten  über  die  irischen  ansiedelungeu  in  AVales  und  auf  der  cornischen  halb- 
insel  (s.  84  fgg.),  die  meines  wissens  noch  nie  so  vollständig  zusammengestellt  wor- 
den sind,  und  den  nachweis,  dass  die  südlichsten  derselben  trotz  Nennius  §  14  durch 
Cunedag  und  seine  söhne  nicht  vertrieben  worden  sind  (s.  93),  ein  für  die  Ogham- 
ioschriften  in  Südwales  wichtiges  resultat.  Ferner  die  Vermutung,  dass  der  erweiterte 
Servius-kommentar  zu  Virgil  aus  Irland  stamme  (s.  238  fgg.).  Für  verunglückt  halte 
ich  dagegen  die  parabase  über  den  Irenapostel  Patrick  (s.  146  fgg.),  für  ebenso  ver- 
unglückt wie  Zimmers  artikel  in  der  Ztschr.  f.  d.  a.  35 ,  1  fgg. ,  auf  den  er  sich  stützt. 
Da  er  mit  einer  gewissen  verliebe  immer  wider  darauf  zuräckkommt,  möchte  ich  die 
gelegeuheit  nicht  vorübergehen  lassen,  einmal  entschiedenen  Widerspruch  gegen  seine 
auf  Stellungen  einzulegen'.  Seine  these  ist:  Patricius,  den  das  Irland  des  mittelalters 
und  der  neuzeit  als  seinen  hauptapostel  verehrt,  war  in  wirklichieit  ein  wenig  bedeu- 
tender brittischer  priester  Sucat,  der,  vom  heil.  Germanus  von  Auxerre  gesant,  dem 
Pelagianismus  der  bereits  bekehrt en  Iren  entgegentrat,  dann  namentlich  gegen 
den  Volksaberglauben  ankämpfte  und  zwischen  457  und  461  als  erster  bischof  in  dem 
von  ihm  zum  bischofssitz  erhobenen  Armagh  starb,  ohne  dass  er  in  der  nächsten 
folgezeit  über  seine  diöcese  hinaus  einen  besonderen  ruf  genossen  hätte.  Durch  eine 
lange  reihe  bewusster  fälschungen,  die  namentlich  vom  8.  bis  11.  Jahrhundert  von 
Armagh  ausgiengen,  wurde  der  mann,  dem  man  durch  eine  Verwechslung  den  namen 
Patricius  beilegte ,  zu  seiner  späteren  berühmtheit  hinaufgeschwindelt.  —  Gewiss  eine 
sensationelle  enthüUung ! 

Nun  wird  man  zwar  ohne  weiteres  zugestehn,  dass  die  ältesten  aufzeichnun- 
gen  über  Patricius  viel  legendarisches  enthalten;  auch  dass  er  niemals  in  Eom  gewe- 
sen, ergibt  sich  jetzt,  wo  die  ältesten  quellen  durch  den  druck  zugänghch  sind,  als 
sehr  wahrscheinlich.  Dass  ferner  manche  äbte  und  bischöfe  von  Armagh  nach  kräf- 
ten  ihren  cinfluss  zu  erweitern  strebten,  erscheint,  da  sie  ja  menschen  waren,  recht 
glaublich.  Aber  von  da  bis  zu  dem  Zimmerschen  Zerrbild  ist  noch  ein  sehr  wei- 
ter weg. 

Seine  beweise.  Prosper  meldet  in  seiner  chronik  zum  jthre  431:  Ad  Seottos 
in  Christum  credentes  ordinatus  a  papa  Caelestino  Palladius  primus  episcopus  mit- 
titur.  Also  —  schliesst  Zimmer  —  die  Iren  waren  damals  bereits  Christen,  und  Palla- 
dius wird  ähnliche  zwecke  verfolgt  haben,  wie  Germanus  von  Auxerre  auf  seiner 
429  unternommenen  reise  nach  Britannien,  nämlich  die  Unterdrückung  der  pelagia- 
nischen  ketzerei;  der  Britte  Sucat  (=  Patricius),  den  auch  die  spätere  legende  mit 
Germanus  verbindet,  ist  demnach  offenbar  zu  demselben  zwecke  nach  Irland  entsant 
worden,  um  Ordnung  in  der  schon  bestehenden  kirche  zu  schaffen,  nicht  um  Irland 
zu  bekehren.  ■ —  Sonst  pflegt  man  zugleich  mit  der  notiz  aus  Prospers  chronik  eine 
zweite,  sie  ergänzende  stelle  anzuführen,  die  Zimmer,  ich  weiss  nicht  weshalb,  bei 
Seite  lässt.  Sie  steht  in  dem  um  435  von  Prosper  verfassten  Liter  contra  collato- 
rem  kap.  21  und  sagt  von  dem  venerabilis  memoriae  pontifex  Caelestinus  aus:  Nee 
vero  segniore  cura  ab  hoc  eodem  morbo    (dem  Pelagianismus)  Britannias  liberavit, 

1)  "Wenigstens  soweit  sie  Patrick  betreffen.  Die  abenteuerliche  hypothese,  dass 
tuatha  Fene  (eine  alte,  halb  poetische  bezeichnung  der  Iren)  eigentlich  die  nor- 
dischen Vikinger  bezeichnet  habe,  verlangt  wol  keine  specielle  Widerlegung. 


1 06  THURNEYSEN 

quando  quosdam  inimicos  gratiac,  soliim  suae  originis  oeeupantes,  etiam  ab  illo 
secreto  exclusit  oceani,  et  ordinato  Scotts  eptscopo,  dum  Romanmn  insulam  stu- 
det  servare  Catholicam,  fecit  etiam  barharam  Christ ianam.  Mir  scheint,  da  stellt 
etwas  von  heidenmission  imd  Irlands  christianisiening  in  der  ersten  hälfte  des  5.  jalir- 
hnnderts,  und  Mnircliu  maccu  Machtheni  hätte  eigentlich  Zimmers  tadel  (s.  149)  nicht 
verdient,  wenn  er  jene  notiz  des  Prosper  i. \ngestaltet  zu:  Palladius  ordinatus  et 
misstis  fuerat  ad  hatte  insolam  sub  brumaii  rigore  positam  convertendam ,  mag 
immerhin  als  motiv  für  die  sendung  mitgewirkt  haben,  dass  man  die  eben  dem  Chri- 
stentum sich  erschliessende  insel  nicht  den  Pelagianern  in  die  hände  fallen  lassen 
wollte. 

Das  ist,  was  man  in  Rom  von  den  anfangen  des  Christentums  in  Irland  wusste. 
Als  man  aber  auf  dieser  insel  selbst  im  7.  Jahrhundert  daten  und  raaterialien  zur 
geschichte  der  irischen  kirche  zu  sammeln  begann,  strömte  zwar  eine  reiche  fülle 
von  notizen  und  angaben  über  den  brittischen  Irenbekehrer  Patricius  zusammen, 
glaubwürdige  und  unglaubwürdige;  aber  von  Palladius,  den  man  doch  aus  Prosper 
kannte,  keine  spur  und  kein  wort.  Das  geht  deutlich  aus  der  art  und  weise  hervor, 
wie  die  biographen  des  Patricius  im  7.  Jahrhundert,  Muirchu  maccu  Machtheni  und 
Tirechan,  sich  mit  Palladius  abfinden.  Der  erstere  lässt  seine  mission  scheitern: 
Nam  neque  hi  feri  et  inmites  homines  faeile  receperunt  doctrinam  ejus,  neque  et 
ipse  voltiit  transigerc  tempus  in  terra  7ion  st(a\  sed  reversus  ad  eum  qui  misit 
illum.  Auf  der  heimreise  stirbt  er  aber  in  Britonum  finibus^.  Anders  Tirechan 
(ebend.  s.  332):  Paladins  episcöjms  [a  Celestino]  primo  mittittcr,  qtoi  Patricius 
alio  nomine  appellabatur ;  qui  martyrium  passus  est  apud  Scottos,  ut  tradunt 
sancti  antiqni.  Deinde  Patricius  secundus  . .  .  mittitur,  cui  Hibernia  tota  credi- 
dit,  qui  et  eatn  pene  totam  baptixavit.  Also  Palladius  wird  mit  dem  legendarischen 
„Alt-Patrick"  (Sen-Phatric)  identificiert ,  der  in  Irland  den  märtyrertod  erlitten 
haben  sollte^.  Dass  dies  keine  böswilligen  fälschungen  sind,  sondern  einfach  naive 
versuche,  den  mangel  an  nachrichten  über  den  verschollenen  Palladius  zu  erklären, 
wird  jedermann  zugeben.  Also  das  christliche  Irland  des  7.  Jahrhunderts  weiss  nichts 
von  Palladius,  aber  sehr  viel  vom  heil.  Patricius,  dem  es  seine bekehrung  zuschreibt. 

Aber  „Beda,  mit  der  irischen  kirchengeschichte  wolvertraut,  kennt  Patrick  in 
der  Hist.  eccl.  absolut  nicht";  das  ist  Zimmers  hauptargument  (s.  148).  Von  den 
anfangen  des  Cliristentums  in  Irland  ist  aber  Beda  überhaupt  nichts  bekannt  als  die 
notiz  in  Prospers  chronik,  die  er  jedesmal  wörtlich  anführt,  wenn  er  darauf  zu 
sprechen  kommt  (Hist.  eccl.  1,  13  und  5,24;  Chronic on  unter  TÄeoc?os«2<s  minor); 
irische  berichte  lagen  ihm  also  keine  vor.  Auch  später  erwähnt  er  nur  solche 
Iren,  die  auf  der  englischen  insel  geweilt  haben,  wie  den  Pictenapostel  Columba  und 
seinen  nachfolger  Adamnan  oder  die  geistlichen,  die  bei  den  nordhumbrischen  Angeln 
tätig  waren.  Von  der  inneren  geschichte  der  irischen  kirche  bringt  er  nichts  als  bei 
gelegenheit  des  streites  um  die  osterberechnung  die  angäbe,  dass  die  Süd-Ii-en  yam- 
duduni  ostem  nach  römischer  art  berechnet  hätten  (Hist.  eccl.  3,  3),  aber  nichts 
von  all  den  irischen  heihgen,  von  den  grossen  klostergründungen  in  Irland  usw. 
Wenn  er  also  „mit  der  irischen  kirchengeschichte  wolvertraut"  war,  so  scheint  er 
von  seinen  kenntnissen  keinen  gebrauch  gemacht  zu  haben. 

1)  Stokes,  The^Tripartite  Life  of  Patrick  (Rer.  Britann. med.  aev.  scrip- 
tores),  s.  272. 

2)  Vgl.  d'Arbois  de  Jubainville,  Rev.  Celt.  9,  111  fg. 


ÜBER    ZIMMER,    NENNIÜS    VINDICATUS  107 

Diesem  argutnentiim  ex  süentio  steht  gegenüber,  dass  die  Iren  selber  seit 
dem  6.  Jahrhundert,  wo  sich  mir  eine  gelegenheit  findet,  den  Patricias  nennen  und 
zwar  als  ihren  anerkannten  Schutzpatron  und  heiligend  Dass  der  primat  der  „nach- 
folger  Patricii",  wie  sich  die  äbte  imd  bischöfe  von  Armagh  betiteln,  von  Iren  jemals 
bestritten  worden,  kann  ich  nicht  entdecken*.  Hat  es  also  zur  zeit,  als  Patrick 
nach  Irland  kam,  dort  schon  einige  Christen  gegeben,  so  hat  jedesfalls  seine  mächtige 
persönlichkeit  und  seine  wirkungsvolle  tätigkeit  alles  frühere  in  schatten  gestellt  und 
dem  gedächtniss  entschwinden  lassen. 

Der  irische  name  Patrie  (Patraicc)  ist  einfach  lat.  Patricius  mit  weggelas- 
sener endung,  also  —  sagt  Zimmer  —  •niiur  gelehrtenfabrikat  des  7.  Jahrhunderts." 
Dass  heiligeunamen  die  lateinische  form  beibehalten,  pflegt  sonst  nicht  gegen  ihr  alter 
zu  sprechen;  ist  es  nötig,  an  Bonifaz  zu  erinnern?  Zum  überfluss  kennen  wir  aber 
wirklich  eine  volkstümlichere  irische  form,  das  gut  bezeugte  Cothrige  Cothraige^ 
aus  älterem  *  Qivathriche,  das  so  regelrecht  wie  denkbar  lat.  Patricius  widergibt. 
Auch  Zimmers  zweifei  an  der  echtheit  der  Confessio  S.  Patricii  (Zs.  f.  d.  a.  35, 
79  A.)  überschreitet  meines  erachtens  die  grenzen  des  berechtigten  skepticismus  und 
hat  keinen  andern  grund  als  seine  vorgefasste  meinung.  Pflugk  -  Hartungs  ähnliche 
versuche  (Heidelberger  jahrbb.  III,  71  fgg.)  zeigen  nur  von  neuem,  wie  schwer  es 
hält,  innere  gründe  für  diese  unechtheitstheorie  aufzutreiben. 

Es  hätte  keinen  wert  im  einzelnen  zu  verfolgen,  wie  Zimmer  nun  in  jeder 
legende,  sobald  sie  Patricius  und  Armagh  günstig  ist,  „aus  habsucht  und  herrsch- 
sucht  entstandene  lügen"  sieht.  Aber  die  hauptstelle  (Ztschr.  f.  d.  a.  85,  75  fgg.), 
auf  die  er  sich  auch  jetzt  wider  (s.  149  fg.)  beruft,  darf  ich  nicht  übergehen.  Sie 
handelt  von  der  lex  Patricii. 

Von  den  verschiedenen  durch  die  irische  geistHchkeit  erlassenen  leges  (ir.  cdin) 
hat  im  Zusammenhang  Petrie,  Antiquities  of  Tara  Hill  s.  171  fgg.,  gesprochen. 
Über  ihren  inlialt  meldet  eine  glosse  zum  24.  September  des  Iheiligenkalenders,  der 
Oengus  zugeschrieben  wird,  folgendes:  „Das  sind  die  vier  cäin  Irlands:  1.  die  cäin 
Patricks,  keine  geistlichen  zu  töten;  2.  die  cäin  von  Dari  Caillech,  keine  kühe  zu  töten; 
3.  die  eamAdamnans,  die  frauen  nicht  zu  töten;  4.  die  cäin  des  sonntags,  am  Sonn- 
tag nicht  zu  übertreten."''  Die  letztgenannte  cäin  kommt  für  uns  nicht  in  betracht, 
da  sie  erst  ende  des  9.  Jahrhunderts  auftritt. 

Unter  den  übrigen  „gesetzen"  ist  das  älteste  die  cäin  Adamnäin  oder  lex 
innocentium,  das  nach  der  einen  nachricht  die  frauen  von  der  pflicht  des  kriegs- 
dienstes  befreite,  nach  der  andern  das  töten  von  frauen  und  kindern  im  ki-iege  ver- 
hindern sollte.  Adamnan,  der  nachfolger  Columbas  als  abt  von  Hi  (Jona),  brachte 
es  in  den  90  er  jähren  des  7.  Jahrhunderts  in  Irland  zur  geltung  (das  datum  schwankt 
zwischen  693  und  697).  Als  seine  reliquien  im  jähre  727  nach  Lland  übergeführt 
wurden,  wurde  das  gesetz  erneuert.  Dies  scheint  dei  lex  Patricii  gerufen  zuhaben, 
welche   das   erschlagen  von   geistlichen    (clerici)    in  den  nimmer  ruhenden    raub- 

1)  Die  Zeugnisse  bei  Stokes,  a.  a.  o.  s.  CXIV. 

2)  Selbst  in  dem  verhältnismässig  unabhängigen  Süden,  in  Munster,  begrün- 
dete man  den  ansprach  der  fürsten  von  Cashel  auf  die  königswürde  über  ganz  Irland 
mit  einer  Weissagung  von  Patricks  Schutzengel  Victor  (Leabhar  na  g-Ceart,  ed. 
O'Donovan,  s.  30). 

3)  S.  Stokes  a.  a.  o.,  Index  s.  601;  von  Tirechan  in  Cothirthiacus  latinisiert 
(ebend.  302). 

4)  S.  Petrie,  a.  a.  o.;  Stokes,  Calendar  of  Oengus,  s.  CXLVIII. 


108  THURNEYSEN 

zügen  und  kriegen  verbot.  Die  Ul  st  er  annale  n  berichten  a.  733:  Commotatio  niarti- 
rum  Petir  ocics  Phoil  ocus  Phatraice  ad  legem  perficiendam,  was  Zimmer  wol  mit 
recht  auf  die  lex  Patricii  bezieht.  Also  reliquien  von  Petrus,  Paulus  und  Patricius 
wurden  „commutiert",  um  die  lex  perfekt  zu  inachen-,  d.  h.  vermutlich:  sie  wurden 
von  ihren  bisherigen  Standorten  entferr^i  und  irgendwie  mit  der  lex  verbunden 
(daher  wol  der  name  lex  Pntricii) ,  die  von  da  an  als  wertvollstes  besitztum  Armaghs 
erscheint  und  von  jedem  flüchtenden  abt  mitgenommen  wird^  Den  erfolg  lehren  die 
ITlsterannalen  a.  736^:  lex  Patricii  tenuit  Hibernimn. .  Gewiss  ist  das  ein  zeugniss 
für  die  macht  der  geistlichkeit  und  auch  für  die  bedeutung  Armaghs  in  jener  zeit; 
aber  unberechtigte  übergriffe  Armaghs  gegen  andere  diöcesen  gehen  daraus  nicht  her- 
vor, da  das  gesetz  natürlich  alle  geistlichen  Irlands  schützen  sollte.  Freilich  mag  es 
bald  eingeschlafen  sein.  Aber  in  der  zweiten  hälfte  des  8.  Jahrhunderts  und  am 
anfang  des  9.  hören  die  oft  erfolgreichen  bemühungen  der  bischöfe  und  äbte  von 
Armagh  nicht  auf,  dieser  lex  bei  den  irischen  fiirsten  und  ihren  Untertanen  geltung 
zu  verschaffen.  Man  vergleiche  die  daten  der  ITlsterannalen:  a.  766  lex  Patricii 
(also  erneuerung  des  gesetzes);  a.  782  Promulgation  der  cäin  Patricii  in  Cruachna 
(Connaught)  durch  Dubdalethe  (bischof  von  Armagh)  und  Tipraite  mac  Taidg  (fürst 
von  Connaught);  a.  798  lex  Patricii  über  Connaught  durch  Gormgal  mac  Dindataig 
(abt  von  Armagh);  a.  805  lex  Patricii  durch  Aedh  mac  Neill  (oberkönig  von  Irland) 
—  vermutlich  ein  letzter  erfolg  fiormgals,  der  in  diesem  jähre  starb  — ;  a.  822  lex 
Patricii  über  Munster  dui'ch  Feidlimid  mac  Cremtainn  (fürst  von  Munster)  und  Artri 
mac  Concobair,  bischof  von  Armagh;  a.  824  lex  Patricii  über  die  drei  (provinzen 
von)  Connaught  durch  (denselben)  Artri  mac  Concobair.  Inzwischen  war  ein  zweites 
Schongesetz  aufgekommen,  das  verbot,  „die  kühe  zu  töten",  d.  h.  die  rinder,  die  man 
bei  den  raubzügen  nicht  wegtreiben  konnte,  hinzuschlachten,  was  vermutlich  öfters 
hungersnot  erzeugt  hatte.  Das  ist  die  lex  Darii.  Sie  wird  für  Connaught  zuerst 
erwähnt  a.  811  (d.  i.  812)  und  widerholt  a.  825;  die  Ui-Neill  nahmen  sie  an  a.  812^ 
Alle  diese  gesetze,  die  man  völkerrechtliche  nennen  möchte,  sind  dann  natürlich  in 
den  folgenden  Wikinger -wirren  untergegangen. 

Wir  haben  oben  angenommen,  dass  jene  glosse  den  inhalt  der  lex  Patricii 
richtig  angebe.  Und  man  wird  zugestelien,  dass  ein  gesetz  zum  schütze  der  geist- 
lichen im  kriege  sich  trefflich  einreiht  zwischen  eines  zum  schütze  der  trauen  und 
eines  zum  schütze  des  viehstandes.  Freilich  gab  es  auch  andere  deutungen  des  aus- 
drucks  cdin  Patraicc^  die  —  äusserlich  betrachtet  —  auf  derselben  stufe  stehen  wie 
jene  notiz,  indem  ja  wol  alle  diese  angaben  aus  einer  zeit  stammen,  wo  die  wirk- 
liche lex  Patricii  verloren  und  halb  verschollen  war.  So  steht  in  der  voiTede  des 
grossen  gesetzbuches  Seuchas  mör,  dieses  selber  sei  die  cäiti  Patraic*.  Das  gesetz- 
buch  Lebar  Aide   beruft  sich  in  der  abhandlung  über  pfänder  dreimal  auf  die  cdin 

1)  Vgl.  Ulsterann.  a.  810:  Nuadha,  abt  von  Armagh,  migravit  nach  Connaught 
cum  lege  Patricii  et  cum  armario  ejus;  a.  834:  Dermait  (abgesetzter  abt  von  Ar- 
magh) gieng  nach  Connaught  cum  lege  et  vexillis  Patricii.  —  Im  Chronic on  Sco- 
torum  lautet  der  schluss  der  ersten  notiz  (hier  a.  811):  cum  lege  Patricii  et  con-a- 
cdin  („mit  seiner  cdiii'^).,  als  ob  lex  und  cdin  zweierlei  wären;  das  ist  offenbar  ein 
versehen  dieser  späteren  quelle. 

2)  Die  Ulster annalen  datieren  in  der  regel  um  ein  jähr  zu  früh,  was  auch 
für  die  folgenden  daten  gilt. 

3)  A.  813  wird  noch  eine  lex  Quiarani  erwähnt,  von  deren  inhalt  wir  nichts 
wissen. 

4)  Ancient  Laws  and  Institutes  of  Ireland  I,  18. 


ÜBER    ZIMMER,    NENNIÜS    VINDICÄTTJS  109 

Patralc  (a.  a.  o.  III,  s.  150.  323.  325);  ich  finde  im  Senchas  mör  I,  276  fgg.  wol 
ähnliches,  aber  nichts  genau  entsprechendes.  Über  die  entstehungszeit  des  grund- 
stockes  des  Senchas  steht  noch  sehr  wenig  fest\  Dass  es  wirklich  die  lex  Patrieii 
der  alten  annalen  sei,  ist  schon  darum  unwahrscheinhch,  weil  man  nicht  begriffe, 
welch  grosses  Interesse  die  bischof-äbte  von  Armagh  an  seiner  annähme  gehabt  haben 
sollten,  und  weshalb  ein  gesetz  solchen  Inhalts  alle  paar-  jähre  hätte  aufgefrischt  wer- 
den müssen-. 

Henuessy,  der  herausgeber  der  Ulsterannalen,  nennt  s.  234  armi.  1  die  lex 
Patrieii  ein  „system  of  collecting  tribute"  und  verweist  dabei  auf  eine  stelle  in 
einer  schrift  von  Keeves ,  die  mir  nicht  vorliegt.  Zimmer  (Zs.  f.  d.  a.  35 ,  75)  nimmt  an, 
die  lex  habe  „neben  anderm  auch  die  ansprüche  Armaghs  auf  den  primat  und  sein 
recht  auf  erhebung  von  kirchensteuern  enthalten",  ja  sie  sei  der  liber  angeli  des 
buches  von  Armagh,  in  dem  alle  die  ansprüche  vorkommen,  welche  die  bischof- 
äbte  von  Armagh  auf  grund  ihres  primates  erhoben  (s.  79  anm.).  "Worauf  er  sich 
aber  bei  dieser  annähme  stützt,  weiss  ich  nicht  zu  sagen,  da  er  sie  nicht  begründet 
hat^.  So  sind  ihm  nun  alle  oben  angeführten  daten  Zeugnisse  für  einen  hundertjäh- 
rigen kämpf  Armaghs  um  den  Primat.  Wir  können  ihm  auf  diesem  wege  nicht 
folgen. 

Also  bleibt  es  vorläufig  dabei,  dass  Patricius,  seit  wir  überhaupt  Zeugnisse 
aus  Irland  besitzen,  als  der  bekehrer  und  patron  der  Ii'en  galt,  und  dass  der  primat 
seiner  uachfolger  niemals  angezweifelt  wurde,  wenn  man  sich  auch  natürlich  den 
praktischen  konsequenzen ,  die  die  bischöfe  und  äbte  von  Armagh  daraus  zogen ,  nicht 
immer  ohne  weiteres  gefügt  haben  wird.  Das  hat  aber  mit  der  anerkennung  des 
primates  ebensowenig  zu  tun  wie  auf  dem  festlande  der  widerstand  gegen  die 
ansprüche  der  nachf olger  Petri. 

Zimmers  Nennius  hat  als  anhang  (s.  291  fgg.)  einen  abschnitt  „Über  die  His- 
perica  Famina  und  andere  südwestbrittannische  denkmäler  des  6.  Jahrhunderts."  Er 
handelt  von  dem  keltischen  kunstlatein  der  Hisperica  Famina,  des  Luxemburger 
fragments ,  des  sogenannten  hymnus  loricae  und  des  alphabetischen  gedieh ts ,  das  Beth- 
man  in  der  Ztschr.  f.  d.  a.  5,  207  fgg.  und  Stowasser  in  seinen  Stolones  latini  (Wien 
1889)  herausgegeben  haben.  Da  ich  in  diesem  abschnitt  widerholt  mit  entschiedener 
missbilligung  citiert  werde  (s.  292.  299.  311*),  mich  aber  unschuldig  fühle,  möge  der 
leser  verzeihen,  wenn  ich  noch  mit  ein  paar  werten  darauf  eingehe.  Zimmer  tadelt 
mich  vornehmlich  darum,  dass  ich  irrtümer  Stowassers  ungerügt  gelassen  habe. 
Daraus  geht  hervor,  dass  wir  das  amt  eines  recensenten  sehr  verschieden  auffassen. 
Ich  halte  es  natürlich  nicht  für  meine  pflicht,  vor  allem  die  fehler  aufzusuchen  und 
wie  ein  schuUehrer  unter  jeden  lapsus  einen  roten  strich  mit  ausrufungszeichen  zu 
setzen;  sondern  womöglich  anzugeben,  was  in  der  anzuzeigenden  schrift  brauchbar 
erscheint  oder  durch  leichte  korrektur  brauchbar  wird.  Polemik  scheint  mir  im  all- 
gemeinen nur  da  am  platze,  wo  die  fehler  des  Verfassers  den  falschen  schein  der 
Wahrheit  an  sich  tragen,   also  andere  täuschen  könnten.     Dass  dies  nicht  der  fall  ist, 

1)  Zimmers  angaben  (a.  a.  o.  35,  85  fgg.)  beruhen  auf  seiner  Wikingertheorie, 
sind  also  wertlos.  [Vgl.  jetzt  auch  d'Arbois  de  Jubainville,  Etudes  sur  le  droit 
celtique,  I.  Cours  de  litterature  celtiqne,  Tome  VII.] 

2)  Vgl.  auch  Zimmer  a.  a.  o.  s.  87. 

3)  Jene  stelle  bei  Reeves  scheint  nicht  seine  grimdlage  zu  büden,  da  er  sie 
nicht  erwähnt. 


110  THÜRXETSEN 

wenn  jemand  aus  altbretonischen  glossen  auf  schottischen  Ursprung  eines 
Schriftstückes  schliesst  (Zimmer  s.  299),  wird  er  mir  zugeben,  und  dass  ich  nicht 
dadurch  zur  biiligung  des  resultats  bewogen  wurde,  vielleicht  glauben.  Dass  aber 
das,  was  ich  selber  ausgesprochen,  so  seh'-  irrig  gewesen,  davon  haben  mich  Zim- 
mers ausführungen  nicht  überzeugt. 

Nachdem  Geyer  und  Stowasser  im  Archiv  für  lat.  lexicographie  an  dem 
latein  der  Hisp.  Famina  herumgerätselt  hatten,  sante  ich  die  Archiv  3,  548  abge- 
druckte notiz  ein,  dass  durch  die  lateinischen  und  altbretonischen  glossen  des  Luxem- 
burger fragments  das  verständniss  dieser  spräche  erschlossen  werde.  Sie  wurde  vor 
dem  druck  durch  Wölfflins  Vermittlung  Stowasser  bekannt,  der  dann  das  fragment 
neu  abdruckte  und  bei  seiner  ausgäbe  der  Hisp.  Fam.  benützte.  Ich  glaubte  damals, 
einige  der  Luxemburger  glossen  bezögen  sich  direkt  auf  die  erhaltenen  Hisp.  Fam., 
ein  irrtum,  den  Stowasser  verbessert  hat.  Dagegen  schien  und  scheint  mir  sein  von 
Zimmer  s.  298  gebilligter  schluss  unberechtigt,  die  Hisp.  Fam.  seien  eine  gekürzte 
bearbeitung  eines  älteren  werkes.  Wahrscheinlicher  ist  mir  immer  noch,  wie  ich 
Archiv  4,  341  ausgesprochen,  dass  in  kap.  1  —  5  der  Hisp.  Fam.  der  alte  grund- 
stock  erhalten  ist,  das  muster  sowol  für  die  fortsetzer  als  für  direkte  nachahmer. 
In  jener  notiz  wies  ich  ferner  darauf  hin,  dass  diese  latinität  von  Kelten  herrühre 
und  setzte  mit  rücksicht  auf  die  altbretonischen  glossen  des  Luxembui-ger  fragments 
hinzu:  „vielleicht  von  einem  brittischen  Kelten" ;  ähnlich  jetzt  Zimmer.  Diebedeu- 
tung der  glossen  ist  gewiss  nicht  zu  unterschätzen;  denn  ein  solches  denkmal  kann 
nur  entweder  vom  Verfasser  selber  oder  von  einem  schüler,  dem  er  es  erklärte,  so 
richtig  glossiert  worden  sein;  das  lehren  ja  die  vergeblichen  versuche  neuerer,  dieses 
latein  ohne  die  glossen  zu  verstehn,  deutlich  genug.  Aber  die  bedeutung  der  unter 
die  lateinischen  gemischten  altbretonischen  glossen  wird  dadui'ch  sehr  verringert, 
dass  sie,  wie  ich  ebend.  3,  547  an  der  missverstandenen  glosse  zu  samo  nachwies,  erst 
aus  lateinischen  übersetzt  sind.  Sie  zeugen  also  direkt  nur  für  die  bretonische  her- 
kunft  des  Luxemburger  blattes,  nicht  für  die  seiner  vorläge,  also  auch  nicht  für  die 
der  nahe  verwanteu  Hisperica  Famina;  darum  schrieb  ich  „vielleicht".  Als  ich 
dann  gelegentlich  der  anzeige  der  Stowasserschen  ausgäbe  die  ganzen  Hisperica 
Fam  in  a  genauer  durchsah,  ergab  sich,  dass  in  der  tat  jener  schein  getrogen,  dass 
vielmehr  —  mit  A.  Mai  und  Stowasser  —  ein  Scottus  oder  mehrere  Scotti  als  Ver- 
fasser anzunehmen  seien  {Archiv  4,  341).  Das  bestreitet  Zimmer.  Die  entschei- 
denden stellen  sind  die,  wo  scottigenus  vorkommt,  Seite  9,  23  und  10,  8  der  Stowas- 
serschen ausgäbe. 

Die  Hisp.  Fam.  schildern  das  treiben  einer  christlichen  lateinschule ,  die  man 
sich  gewiss  in  einem  kloster  zu  denken  hat.  Kap.  10  wird  beschrieben,  wie  eine 
mahlzeit  bereitet  wird.  Dann  handelt  es  sich  darum,  wer  fähig  sei,  die  gelehrten 
herrschaften  zum  essen  zu  bitten  (Quis  tales  poscet  possores?)  Da  sagt  einer 
(kap.  11):  „Non  ausonica  nie  subligat  catena^;  ob  Jioc  scoUigenum  haud  cripi- 
tundo  eidogiimi  . .  (folgt  ein  unklarer  satz;  bedeutet  amwlios  „hunde"?).  Venusti 
exeusent^  acculae,  parcas  amplecti  sub  numine  aiimoiiias"  usw.  Ich  verstehe: 
„Die  ausonische  kette  bindet  mich  zwar  nicht  (d.  h.  ich  spreche  kein  gewähltes 
latein^);    darum  knarre  ich  doch  nicht  irische  rede   (d.   ich  kann  immerhin  so  viel 

1)  Stowasser  und  Zimmer  fassen  diesen  satz  als  frage,  was  möglich,  aber 
nicht  notwendig  ist. 

2)  excusant  ms.  und  Stowasser. 

3)  Oder  als  frage:  „Bin  ich  nicht  ein  guter  lateiner?" 


ÜBER    ZIStMER,    NENNIUS    VINDICATDS  111 

lateiu  sprechen ,  um  zmii  essen  einzuladen)  .  . .  Mögen  die  gütigen  herrschaften 
geruhen,  das  karge  mahl  unter  freiem  himmel  einzunehmen"  usw.  Zimmer  fasst 
scottigeiiuvi  cidogium  „irische  wolredenheit"  als  „latein,  wie  es  die  Iren  sprechen"; 
der  Verfasser  blicke  verächtlich  auf  dasselbe  herab,  sei  also  selber  kein  Ire. 
Näher  liegt  die  annähme,  dass  scottigenum  eulogium  nach  art  dieser  latinisten  ein- 
fach für  scotticum  eloquium  gesetzt  ist.  Darauf  scheint  mir  auch  die  stelle  in  kap.  2 
zu  weisen,  aus  welcher  der  ausdruck  ausonica  catena  entlehnt  ist.  Dort  wandelt 
die  schaar  der  gelehrten  prächtig  einher,  als  plötzlich  ein  abscheulicher  rüpel  (eigent- 
lich „drache",  horrendus  chelidrus)  ihnen  naht  und  spricht:  Novello  temporei  globa- 
minis  cyclo  hisjiericum  arripere  tonui  sceptrum;  ob  hoc  rudern  stemico  log  um  ac 
exiguus  serpit  per  ora  rivus.  Quod  si  amplo  temporalis  aevi  studio  ausonica 
me  alligasset  catena,  sonoreus  fandnis  per  guttura  popularet  haustus  ac  inmen- 
sus  urbani  tenoris  manasset  faucibus  tolliis,  d.  h.  „erst  seit  kurzem  habe  ich  latein 
zu  lernen  unternommen;  deshalb  ist  meine  rede  rauh  und  fliesst  kärglich.  Hätte  mich 
die  ausonische  kette  schon  lange  zeit  gefesselt,  so  würde  sie  wolküngend  und  voll 
hervorströmen. "  Er  wird  nach  einigem  hin-  und  herraten  als  gewesener  schafhirte 
erkannt  und  ihm  der  rat  erteilt,  aufs  land  zu  seiner  mutter  und  zur  alten  beschäf- 
tigung  zurückzukehren  (kap.  3).  —  Also  auch  hier  steht  der  „ausonischen  kette"  die 
Sprache  der  weniger  gebildeten  desselben  landes,  nicht  eines  ausländers  gegenüber. 

Die  andere  stelle  findet  sich  in  dem  bericht  über  die  genossene  mahlzeit  in 
kap.  11,  ende:  Farriosas  sennosis  motibus  corrosimus  crustellas,  quibus  Uta  scot- 
tigeni  pidulavit  conditura  olei  „mit  zahnbewegungen  zernagten  wir  die  mehligen 
kuchen  (die  brote),  denen  die  aufgestrichene  brühe  irischen  Öles  entquoll."  Zimmer 
meint,  die  Hisp.  Farn,  seien  in  einem  brittischen  kloster,  das  auch  irische  mönche 
enthalten  habe,  verfasst.  „Dass  einzelne  irische  confratres  das  einheimische  öl  gele- 
gentlich rühmten,  ist  doch  auch  ganz  gut  denkbar"  (s.  294);  und  er  sieht  in  der 
erwähnung  des  irischen  Öles  einen  —  mir  in  diesem  Zusammenhang  unverständ- 
lichen —  spott  brittischer  mönche.  Das  sind  aber  doch  nur  ausfluchte;  die  werte 
weisen  eben  auch  nach  seinem  gef  ühle  auf  einen  Iren ,  sagen  wir  doch  geradezu  nach 
Irland.  Dass  übrigens  scottigenum  oleum  wirkliches  öl  bedeute,  halte  ich  für  aus- 
geschlossen; es  verstösst  gegen  die  grundsätze  dieser  latinisten,  öl  „öl"  zu  nennen. 
Ob  damit  butter  oder  dickmilch  oder  sonst  etwas  gemeint  sei,  was  man  aufs  brot 
streichen  kann,  lasse  ich  gerne  dahingestellt. 

Stowasser  hat  Archiv  3,  168  nachgewiesen,  dass  sich  kap.  5  der  Hisp.  Farn, 
aus  Charisius  erklären  lasse.  Zimmer  macht  wahrscheinlich,  dass  das  recept  für 
diese  ganze  latinität  bei  Martianus  CapeUa  zu  suchen  sei  (s.  330  fgg.).  Aber  dem 
umstand,  dass  uns  keine  in  Irland  geschriebene  handschrift  des  CapeUa  erhalten  ist, 
ein  argTiment  gegen  den  irischen  ui-sprung  der  Hisp.  Fam.  zu  entnehmen,  halte  ich 
für  zu  kühn.  Zum  mindesten  der  abschnitt  kap.  6  — 13,  vermutlich  aber  das  ganze 
stammt  aus  Irland.  Gerade  die  vielfältige  berührung  irischer  und  bretonischer 
mönche  macht  begi'eiüich,  wie  glossen  dieser  litteratur  ins  bretonische  übersetzt  wer- 
den konnten.  — 

Der  htjmnus  loricae  sodann  ist  bis  jetzt  nach  4  hss.  veröffentlicht;  erstlich 
mehrfach  nach  hs.  K,  einer  Kölner  hs.  des  9.  Jahrhunderts,  zuletzt  nach  neuer  kol- 
lation  von  Zimmer  s.  337  fgg.;  ferner  nach  hs.  C,  einer  Cambridger  hs.  (Bibl.  Publ. 
Cantab.  LI.  1.  10  fol.  43),  die   der  ersten  hälfte  des  9.  jahrh.  anzugehören  scheint \ 

1)  S.  Sweet,  Oldest  English  Texts,  s.  171.  Auf  die  beiden  englischen 
handschi-iften ,  die  Zimmer  entgangen  sind,  hat  mich  Stokes  aufmerksam  gemacht. 


112  THURNEYSEN 

nebst  den  altenglischen  glossen  abgedruckt  beiCockayne,  Leechdoms  etc.  of  early 
England  I,  LXVI  fgg. ;  ebenda  die  Varianten  der  (daraus  kopierten?)  hs.  H  (Brit. 
mus.,  Harl.  585  fol.  152);  endlich  nach  hs  i3,  dem  irischen  Lebor  Brecc  (14.  jahrh.), 
nebst  den  irischen  glossen  bei  Stokes,  Irish  Glosses  s.  133  fgg.  Die  Unterschrift  in 
K  lautet:  Explieit  liymnus  quem  Lathacan  scotigena  fecit;  die  Überschrift  in  C: 
Hanc  luricam  Loding  cantavit  ter  in  omne  die;  dagegen  in  B:  Oillns  hane  lori- 
eam  fecit  ad  demoties  expellendos  eos  qui  adver saverunt  Uli.  Perv[enit]  angelus 
ad  illum  et  dixit  Uli  angelus:  Si  quis  honio  frequentavei-it  illam,  addetur  ei 
seefulumj  septimm  annis  usw.  Laidcend  niac  Büithbannaig  venu  ab  eo  in  inso- 
ta?n  Hiberniam,  transtulit  et  portavit  super  altare  sancti  Patricii  episcopi.  SaflJ- 
vos  nos  facere.  Amen.  Dieser  Gillus  ist  Gildas  sapiens  (f  um  570),  Laidcenn 
(Laidgenn)  mac  Baith-Bannaig  ein  bekannter  irischer  kleriker,  der  am  12.  januar 
661  gestorben  ist  (Zimmer  s.  302);  gewiss  ist  er  auch  mit  Lathacan  und  Loding  der 
andern  hss.  gemeint.  Unter  diesen  nachrichten  schenkt  nun  Zimmer  der  letzten,  in 
der  jüngsten  hs.  enthaltenen  glauben,  und  zwar  deshalb,  weil  es  im  Hymnus  vers  5  fg. 
heisst:  ut  non  secuni  trahat  nie  mortalitas  \  hnjus  anni  neque  mundi  vanitas. 
Eine  der  grossen  mortalitates ,  die  Irland  a.  664  und  683/684  verheerten,  habe  Laid- 
cenn nicht  erlebt,  wol  aber  Gildas  das  „grosse  sterben"  in  Britannien  a.  547;  also 
sei  dieser  wirklich  der  Verfasser.  Dass  Laidcenn  nicht  ab  eo  (von  Gildas)  nach  Irland 
kommen  konnte,  indem  er  ein  Jahrhundert  später  gelebt  hat,  stört  Zimmer  nicht;  er 
beseitigt  es  durch  conjectur  (inveniani  ab  co,  s.  305).  Aber  muss  denn  die  mor- 
talitas gleich  eine  solche  gewesen  sein,  die  ganze  länder  verheerte?  Die  vorrede 
des  Lebor  Brecc  trägt  so  deutlich  den  Stempel  junger  erfindung,  indem  sie  den  Hym- 
nus so  heilig  und  wirksam  als  möglich  erscheinen  lassen  möchte,  dass  die  grössere 
glaubwürdigkeit  der  kürzeren  und  älteren  notizen  mir  nicht  zweifelhaft  ist.  Demnach 
hat  der  Ire  Laidcenn  im  7.  Jahrhundert  die  lorica  gedichtet. 

Dagegen  das  alphabetische  gedieht  von  St.  Omer,  in  dorn  jede  Strophe, 
so  weit  tunlich,  mit  einem  griechischen  werte  beginnt,  wird  brittischen  Ursprungs 
sein  nicht  nur  wegen  der  brittischen  glossen ,  die  ja  gleichfalls  übersetzt  sein  könnten, 
sondern  namentlich  auch  wegen  des  metrums;  vgl.  meine  anzeige  Archiv  6,  593, 
auch  Rev.  Celt.  11,  86  fgg. 

Nach  Zimmer  sind  dagegen  alle  diese  werke  um  die  wende  des  5.  zum  6.  jh. 
aus  der  berühmten  schule  Iltuts  in  LlaniUtyd  fawr  (Glamorgan)  hervorgegangen,  als 
dessen  bedeutendster  schüler  eben  Gildas  erscheint.  Dass  eine  nahe  verwantschaft 
diese  spätlateinischen  produkte  verbindet,  verkenne  ich  nicht;  aber  dass  man  sie  zeit- 
lich und  örtlich  so  eng  beschränken  dürfe  oder  gar  müsse,  halte  ich  für  unerwiesen 
und  unwahrscheinlich.  Man  vergleiche  etwa  des  Iren  Muirchu  niaccu  Machtheni  im 
7.  Jahrhundert  geschriebene  vorrede  zu  Patricks  leben  (Stokes,  a.  a.  o.  s.  269)  oder 
die  angeblichen  verse  des  Nennius  (San-Marte  s.  22),  die,  mögen  sie  echt  oder 
unecht  sein,  ja  sicher  viel  später  als  das  6.  jahi-hundert  fallen;  ist  es  nicht  fast 
genau  dieselbe  technik  und  derselbe  geschmack,  wie  sie  bei  Gildas  oder  in  den  oben 
besprochenen  werken  hervortreten?  Die  ähnlichen  „kunstwerke"  in  irischer  spräche, 
die  mich  in  erster  linie  zur  beschäftigung  mit  dieser  an  sich  unerquicklichen  litteratur 
geführt  haben,  hängen  meines  erachtens  aufs  engste  mit  den  lateinischen  zusammen 
und  setzen  gleichfalls  eine  lange  dauer  dieser  geschmacksrichtung  voi'aus.  Der  schluss- 
abschnitt  Zimmers  hat  mich  also  nichts  weniger  als  überzeugt. 

[Korrekturnote.  Inzwischen  ist  Mommsens  ausgäbe  der  Historia  Britto- 
num  erschienen    (Monumenta  Germaniae  Historica,    Auctorum  antiquissi- 


I 


ÜBER    ZIMMER,    NENNIUS    VINDICATUS  113 

inorurn  t.  XIII  p.  I,  Chronica  minora  III,  1).  Sie  scheint  mir  die  obigen  auf- 
stelluugen,  von  kleinigkeiten  abgesehen,  nur  zu  bestätigen,  wenn  auch  Mommsen  sel- 
ber in  der  Schätzung  der  iiischen  bearbeitung  der  ansieht  Zimmers  folgt.  Insbeson- 
dere zeigt  Mommsen  s.  168,  dass  Isidors  Chronica  in  der  tat  benutzt  sind,  und  zwar 
schon  in  der  Harleianrecension  §  29;  diese  ist  also  sicher  von  Nennius  verfasst  (s.  oben 
s.  95).  Ferner  ergibt  sich,  dass  die  hss.  DE  (Mommsens  PQ)  imd  ihre  verwandten 
aufs  engste  zur  gekürzten  recension  gehören  (oben  s.  103),  nicht  nur  in  bezug 
auf  die  kürzuDg,  sondern  auch  auf  die  textgestalt;  sie  stellen  also  des  Nennius 
„definitive  ausgäbe"  ohne  die  secundären  zusätze  dar.] 

FREIBURG   I.    B.  B.    THUKNEYSEN. 


Herders  persönlichkeit  in  seiner  Weltanschauung.  Ein  beitrag  zur  begrün- 
dung  der  biologie  des  geistes.  Von  dr.  Eug-eu  Kühnemaun.  Berlin ,  F.  Dümm- 
1er.  1893.     XVI  und  269  s.     5  m. 

Nachdem  die  Herderforschung  lange  im  Interesse  der  litterarhistoriker  in  den 
hintergrund  getreten  war,  hat  sie  in  den  beiden  lezten  decennien  einen  höchst  erfreu- 
lichen aufschwung  genommen.  1871  schrieb  der  pfarrer  A.  Werner  sein  durch  freie 
auffassung  und  anziehende  darstellung  ausgezeichnetes  buch  „Herder  als  theologe"; 
1877  begann  das  nun  nahezu  vollendete  monumentalwerk  der  kritischen  gesamtaus- 
gabe  von  Suphan;  die  80er  jähre  brachten  uns  endlich  in  der  umfangreichen  mono- 
graphie  Hayms  eine  musterleistung  emsigen  bienenfleisses ,  tiefeindringenden  Ver- 
ständnisses und  sichern  urteiles.  Durch  diese  bedeutenden  arbeiten  ist  das  vorhandene 
material  ausgeschöpft  und  zukünftigen  Herder  -  Studien  eine  feste  grundlage  gegeben. 
Wenn  nun  eine  neue  darstellung  von  Herders  geistesentwicklung  neben  die  erwähn- 
ten werke  tritt,  so  wü-d  sie  zunächst  durch  erschliessung  neuer  quellen  oder  durch 
einführung  neuer  gesichtspunkte  ihre  daseinsberechtigung  zu  erweisen  haben. 

Unter  den  Jüngern  kräften ,  die  sich  neuerdings  der  erforschung  Herders  zugewant 
-  haben ,  begegnet  der  name  des  Verfassers  nicht  zum  ersten  male.  Schon  früher  hat  er 
in  Küi'schners  Deutscher  national -litteratur  die  Humanitätsbriefe  (band  77,  II)  und  die 
Ideen  (77,  I)  herausgegeben  und  mit  sehr  eingehenden  einleitungen  begleitet;  ausserdem 
enthalten  die  Michael  Bernays  gewidmeten  „Studien  zur  litteraturgeschichte"  (Hamburg 
und  Leipzig  1893)  auf  s.  135  —  155  von  ihm  eine  abhandlung  „Herders  lezter  kämpf 
gegen  Kant."  Lassen  sich  diese  Publikationen  als  Vorstudien  zum  zweiten  buche  des 
vorliegenden  Werkes  fassen,  so  erfahren  wir  aus  der  kurzen  Vorbemerkung  weiter,  dass 
das  erste  buch  von  der  philosophischen  fakultät  der  Universität  Berlin  mit  einem 
preise  gekrönt  ist.  Diesen  vorlautem  und  der  mehrjährigen  Versenkung  in  Herders 
philosophische  schritten  verdankt  das  vorliegende  buch  augenscheinlich  die  ungemeine 
knappheit  der  darstellung,  durch  die  es  möglich  wurde,  auf  weniger  als  250  Seiten 
den  gesamten  philosophischen  entwicklungsgang  Herders  darzulegen  und  kritisch  zu 
beleuchten.  Gleichwol  ist  es  von  den  frühern  arbeiten  des  Verfassers  durchaus  ver- 
schieden: jene  wollen  die  einzelnen  schritten  Herders  möglichst  erschöpfend  in  ihrer 
Innern  struktur  erklären,  aus  den  psychischen  motiven  des  denkers  ableiten  und 
danach  die  Stellung  jeder  schrift  in  der  geschichte  Herders  wie  der  Wissenschaft 
bestimmen ;  dagegen  ist  hier  das  Interesse  durchaus  der  gesamtrichtung  und  -entwick- 
lung  Herders  zugewandt,  und  von  den  einzelnen  werken  wird  nur  dasjenige  in  betracht 
gezogen,  was  für  die  erkenntnis  dieser    gesamtentwicklung  wichtig  ist. 

ZEITSCHRIFT    F.    DEUTSCHE   PHILOLOaiE.     BD.   XXVUI.  " 


114  MEYER 

Damit  ist  zum  teil  schon  angedeutet,  was  den  Inhalt  und  wert  des  buches 
ausmacht.  Unbekanntes  material  ist  darin  nirgends  mitgeteilt  oder  verarbeitet.  Wer 
also  den  wert  eines  buches  nur  nach  dem  stofflich  neuen,  das  es  enthält,  abwägt, 
der  kann  es  getrost  ungelesen  lassen;  er  wird  wedöl'  neuen  funden  noch  tatsächlichen 
berichtigungen  begegnen.  Wer  aber  sinn  hat  für  eine  eigenartige  und  urpersönliche 
art.  die  dinge  zu  sehen,  der  wird  das  buch  nicht  ohne  reichen  genuss  und  tiefgehende 
anregung  aas  der  band  legen.  Allerdings  mühelos  wird  dieser  genuss  nicht  sein, 
zumal  für  leser,  die  dem  Verfasser  zum  ersten  male  begegnen.  Vielleicht  wer- 
den solche  gut  tun,  sich  zunächst  durch  die  ei-wähnten  frühern  schi'iften,  die 
leichter  verständlich  sind,  mit  der  art  des  Verfassers  vertraut  zu  machen,  um 
dann  aus  dem  jezt  vorliegenden  abschliessenden  werke  den  vollen  gewinn  ziehen  zu 
können. 

Es  kann  hier  nicht  meine  aufgäbe  sein,  ein  endgiltiges  urteil  zu  fällen  oder 
gar  einzelheiten  herauszugreifen  und  zu  kritisieren;  vielmehr  will  ich  nur  versuchen 
in  kurzem  zu  zeigen,  worin  das  eigentümliche  der  methode  des  Verfassers  besteht  und 
welcher  gewinn  der  Wissenschaft  aus  ihr  erwachsen  kann. 

Über  sein  Verhältnis  zu  Haym,  das  uns  zunächst  interessiert,  äussert  sich 
der  Verfasser  selbst  in  einer  anmerkung  auf  s.  35  fg.:  .,Haym  bespricht  bei  den  ein- 
zelnen werken  die  gedanken,  weist  die  abhängigkeit  dieser  von  anderen  denkern  im 
einzelnen  nach,  bemerkt  die  keime  späterer  arbeiten  Herders  und  berührt  endlich  den 
Zusammenhang  der  gedanken  mit  Herders  lebensstellung  und  sonstigen  beschäftigun- 
gen.  Er  ist  beschreibender  anatom,  für  den  jeder  körper  etwas  abgeschlossenes,  fer- 
tiges,  seiendes  ist,  der  also  die  entwicklungsgeschichte  nur  insofern  mit  vertritt,  als 
die  einzeln  präparierten  stücke  sich  als  glieder  einer  entwicklungsreihe  aufweisen  las- 
sen. Mir  kommt  es  darauf  an,  die  treibenden  motive  in  den  arbeiten  Herders 
zu  erkennen,  danach  die  gedanken  im  Verhältnis  zu  seinem  gesamtlebensgefühl  zu 
begreifen,  zu  begreifen,  wie  er  das  einzelne  im  ganzen  seines  lebensbaues  fühlt,  die 
ganze  gedankenbildung  also  auf  die  ursprünglichen  lebensrichtungen  seiner  persön- 
lichkeit zurückzuführen  und  so  das  immer  feste,  den  gedanken,  als  ein  ewig  flies- 
sendes,  nämlich  als  ein  element  psychologischer  entwicklung  zu  erweisen.  Ich  treibe 
also  diese  arbeit  als  psycholog,  oder,  um  den  vergleich  zu  ende  zu  fühi'en,  als 
biolog." 

Weiter  entwickelt  und  begnindet  wird  diese  beti-achtungsweise  in  der  kurzen 
einleitung  (s.  1  —  .3).  Auch  die  angeblich  rein  objektive  forschung  scheint  im  zusam- 
menhange zu  stehen  mit  dem  ethischen  lebensideale  einer  zeit.  Die  ethische  grund- 
überzeugung  der  modernen  weit  ist  die  von  dem  unendlichen  und  einzigen  werte  des 
Individuums.  Daraus  ergibt  sich  für  die  Wissenschaft  die  forderung,  in  allen  geistes- 
ei'zeugnissen  die  persönlichkeit  des  erzeugers  zu  fassen ,  sie  als  erleben  der  individuel- 
len seele  zu  verstehen.  Sind  jene  aber  lebendige  geburteu  einer  lebendigen  seele,  so 
ist  es  nicht  genug  und  unstatthaft,  in  ihnen  nur  die  einzelnen  gedanken  und  züge  zu 
untersuchen  und  sie  danach  in  zusammenhänge  zu  ordnen;  sie  müssen  vielmehr  als 
Organismen  eben  aus  ihrer  psychologischen  entstehung  erklärt  werden.  Ja,  die  ganze 
Weltanschauung  des  denkers  muss  verstanden  werden  aus  den  innern  motiven,  die  sie 
aus  seiner  seele  hervortreiben,  aus  der  eigenart  seines  geistigen  erlebens.  Mit  der 
durchgeführten  jjsychologischeu  analyse  der  Herderschen  philosophie  ist  aber  zugleich 
ihre  kritik  gegeben,  indem  sich  zeigt,  inwieweit  die  Seelenvorgänge  des  denkers  zu 
reiner  entwicklung  hinstreben,  inwieweit  die  ait  seines  denkens  zur  erzeugung  der 
Wissenschaft  tauglich  ist. 


ÜBER   KÜHNEMANN,    HERDER  115 

Wir  wollen  nun  sehen ,  wie  weit  der  Verfasser  den  so  formulierten  forderungen 
genügt  hat,  indem  wir  mit  flüchtigem  blicke  den  Inhalt  des  buches  durchmustern. 

Das  erste  buch  verfolgt  die  „entwicklung  der  geschichtsphilosophie  und  Welt- 
anschauung Herders"  von  1767  —  1784  und  zerfällt  in  zwei  kapitel:  1.  entstehung  und 
ausbreitiing  der  grundanschauungen  (1767  — 1770);  2.  religiöse  begründung  der  Welt- 
anschauung Herders  (bis  1784).  Schon  der  erste  abschnitt,  die  besprechung  der  Frag- 
mente, zeigt  das  verfahren  des  Verfassers.  Er  lässt  den  ganzen  bunten  reichtum 
des  Werkes  zur  seite  liegen  und  greift  nur  ein  stück  als  eigentümlich  Herderisch 
heraus,  den  roman  ^Von  den  lebensaltern  einer  spräche",  um  daran  Herders  grund- 
anschauung  von  der  spräche  festzulegen,  ihm  sein  Verhältnis  zu  Hamann,  Winckel- 
mann  und  Kant  zu  bestimmen  und  endlich  die  art,  wie  sich  Herders  anschauungen 
bilden,  zu  untersuchen.  Als  urphänomen  w^ird  die  ästhetische  feinfühligkeit 
gefunden,  „welche  das  Sprachkunstwerk  als  ein  ganzes  in  dem  tone,  in  der  eigenart 
seiner  empündung  begreift,  darum  den  seelenzustand  des  dichters,  des  volkes  in  ihm 
deutet  lind  so  aus  dem  ästhetischen  genusse  heraus  in  psychologischer  betrachtung 
dichter,  völker,  zeiten  verstehen  lernt."  Aber  diese  anschauung,  im  innersten  erle- 
ben wurzelnd,  will  nun  wider  ins  leben  hinüberströmen ;  sie  strebt  fort  zu  pädago- 
gischer Wirkung  in  einer  reform  der  deutschen  dichtung,  und  sogleich  offenbart  sie 
ihre  schwäche:  den  man  gel  an  abgrenzung  und  an  einem  einheitlich  belebenden 
mittelpunkte ,  an  einem  bestirnten  ideal,  das  ihr  als  ziel  der  entwicklung  vorschwebt. 
—  Unter  ganz  denselben  gesichtspunkten,  wie  die  spräche,  sucht  Herder  an  der 
band  der  Hebräer  die  religion  als  ausdruck  nationaler  kultur  zu  erfassen. 

Die  folgenden  werke  zeigen  die  fortschreitende  ausbreitung  der  grundanschau- 
ungen. In  der  Archäologie  des  morgenlandes  erweitert  sich  Herders  ansieht  von 
der  poesie  zu  einer  lebensanschauung:  „Die  ursprünglichen  leidenschaften  verflüch- 
tigen sich  in  gemachter  kunst."  Indem  er  die  mo.saische  Urkunde  als  gedieht,  aus  der 
natui-empfindung  des  morgenlandes  heraus,  deutet,  befreit  er  sich  von  den  dogma- 
tischen schranken;  derselbe  sinn,  der  die  eigenart  der  alten  dichtung  versteht,  tritt 
fiir  das  eigeurecht  moderner  denkweise  und  wissenschaftlicher  forschimg  ein.  Aber 
das  wort  „natur",  mit  dem  Herder  die  werke  der  griechischen  kunst,  wie  der 
hebräischen  htteratur  bezeichnet,  verleiht  dieser  dichtung  einen  heiligen  glänz ,  „einen 
Schimmer  von  Jugend,  von  glück  und  fülle,  von  goldener  zeit";  es  drückt  sein  ver- 
langen nach  ursprünglichem  leben  aus,  es  trägt  seine  Stimmung  des  menschlichen  in 
sie  hinein. 

Das  Vierte  kritische  Wäldchen  versucht  eine  theoretische  begründung  die- 
ser interpretationsweise  auf  psychologischer  grundlage.  Aber  die  mängel  der  theorie, 
das  fehlen  scharfer,  grenzbestimmender  begriffe  und  das  abstrakte  schematisieren 
verraten  uns  seine  geheime  absieht:  nicht  Spekulation,  sondern  belebung  des  ästhe- 
tischen genusses;  den  ui'sprüngiichen  quellen  des  menschlichen  lebens  ist  der  ästhe- 
tiker  wie  der  pädagoge  zugewant. 

Im  Eeisetagebuche  von  1770  haben  sich  Herders  anschauimgen  in  die  ganze 
breite  des  historischen  problems  ausgedehnt:  das  ziel  einer  geschichtsphilosophie  als 
einer  Universalgeschichte  der  bildung  der  menschheit  steht  fest,  die  grundlage  bilden 
die  naturgesetze ,  die  methode  ist  die  psychologisch -genetische  deutung,  die  gesin- 
nung  die  eines  erziehers  der  menschheit  (s.  29). 

Mit  der  betrachtung  der  spräche  begann,  mit  der  reifen  frucht  dieser  Studien 
„Über  den  Ursprung  der  spräche"  schliesst  die  erste  periode  der  Herderschen  ent- 
wicklung,   deren  Inhalt  die  ausweitung  der  grundanschauung  in  die  historischen  pro- 


116  MEYER 

bleme  bildet.  Diese,  ausgehend  vom  ästhetischen  geniessen,  gefärbt  in  der  festste- 
henden grundstimmung  der  humanität,  verleugnet  nicht  ihr  entstehen  aus  der  per- 
sönlichkeit des  denkers.  So  empfindet  er  diese  ganze,  reiche  weit,  so  noch  die  psy- 
chologische theorie  als  ein  element  persönlichen  lebens.  Aber  die  theoretischen 
gedanken,  als  die  letzten  ausläufer  dieses  Vorganges,  haben  nicht  mehr  die  kraft  zu 
methodischem  durcharbeiten  der  probleme;  so  münden  sie  in  entwürfen  und  einfal- 
len, die  die  voreilige  hast  sogleich  für  ausätze  zur  reform  der  Wissenschaft  nimmt;  so 
zeiüattern  sie  in  unruhigen  lichtblitzen  in  der  weite  des  alls. 

Die  zweite  periode  begint  mit  rein  litterarischen  arbeiten,  die  noch  einmal 
den  keim  der  Herderschen  gedankenbildung,  das  reizbare  ästhetische  gefühl,  vor  äugen 
führen,  und  zwar  jezt  an  dem  beispiele  der  volkspoesie  und  Shakespeares.  Wider 
wird  die  dichtung  als  spräche  der  natur,  als  natur  bezeichnet;  wider  begegnet  (wie 
bei  Sprache  und  plastik)  das  bild  der  seele,  die  sich  einen  körper  schafft;  aber  es 
zeigt  sich,  dass  es  mehr  als  bild  ist:  „Die  ahnung  taucht  auf  von  der  natur  als 
einheitlicher  erscheinungsweise  eines  geistes  in  wirkenden  kräften  ... 
Eine  metaphysische  gesamtanschauung  scheint  herauszuwachsen  aus  Herders  art, 
geistige  erscheinungen  zu  deuten"  (s.  39). 

In  überraschender  mächtigkeit  und  grossartigkeit  erscheint  diese  ausgebildet  in 
den  theologischen  Schriften  der  nächsten  jähre.  Auch  hier  begint  Herder  mit  | 
der  ästhetischen  interpretation :  er  erklärt  die  Genesis  als  ein  morgenländisches  gedieht,  i 
Aber  indem  er  das  Verständnis  dieses  gedichtes  aus  seiner  eignen  natui-anschauung 
belebt,  trägt  er  sein  eignes  selbst  in  dasselbe  hinein,  findet  er  in  ihm  die  gedanken, 
die  er  als  sein  eigenstes  empfand.  Es  ist  nur  ein  ausdruck  dieses  den  gedanken 
anhaftenden  lebensgefühls,  wenn  er  sie  auf  göttliche  Offenbarung  zurückführt.  Dieser 
geheime  sinn,  dieser  psychologische  gehalt  des  gottesbegriffes  bildet  den  centralpunkt 
für  das  Verständnis  Herders;  er  komt  daher  in  jedem  abschnitt  zur  spräche.  (Vgl. 
s.  56.  57.  59.  85.  99.  150  fgg.  198.)  Gott  ist  in  Wahrheit  nur  der  objektivierte  aus- 
druck seiner  gedankenbildung;  er  gibt  seinen  gedanken  einheit  und  schwung,  er  erhält 
ihnen  die  lebenswärme,  aus  der  sie  geboren  wurden;  er  stempelt  sie  für  Herder  als 
eignen  besitz  und  schliesst  sie  ihm  ab  gegen  seine  zeit.  Auch  der  pädagogische 
drang  komt  nun  in  gott  zur  ruhe:  die  ganze  geschichte  erscheint  als  eine  direkte 
göttliche  erziehung  des  menschengeschlechts;  diese  aber  spiegelt  nur  das  ideal  einer 
erziehlichen  Wirksamkeit,  wie  sie  Herder  selbst  als  höchstes  lebensziel  vorschwebte.  — 
Da  aber  diese  einheit  lediglich  in  Herders  gemüte  besteht,  nicht  im  systematischen 
zusammenhange  der  gedanken  unter  sich,  so  tut  sich  hier  die  grosse  gefahr  für  Her- 
ders denken  auf,'  die  in  der  letzten  anläge  seiner  persönlichkeit  wurzelt.  „  Gibt 
gott  als  name  für  ihr  innerstes  wollen  ihr  schwung  und  kraft,  so  bezeichnet  er  auch 
als  name  ihi-er  wilkür  und  schwäche  den  ort,  an  dem  ihr  Verständnis  endet"  (s.  59). 

Die  religiösen  gedanken  treten  nun  aus  ihrer  absonderung  heraus  und  strömen 
über  in  die  benachbarten  gebiete  der  geschichte  ;uid  psychologie.  Beide  werden 
in  die  religiöse  Weltanschauung  Herders  eingeordnet,  mit  seinem  lebensgefühle  durch- 
drungen und  tragen  nun  das  gepräge  seiner  persönlichkeit.  Wenn  dann  jene  gedan- 
ken in  den  80er  jähren  sich  wider  in  besondern  Schriften  sammeln,  so  zeigen  sie 
einen  wesentlich  veräuderten  Charakter.  Das  überkühne ,  jugendliche  ungestüm  der ' 
ersten  entdeckerwonne  ist  verflogen;  sie  sprechen  sich  ruhiger,  abgeklärter  aus.  Sie 
sperren  nicht  mehr  ein  besonderes  gebiet  der  forschung  füi*  Herder  ab  und  beengen 
seinen  gesichtskreis;  in  die  ganze  breite  der  weit  haben  sie  sich  ergossen  und,  indem 


ÜBER   KÜHNEMANN,    HERDER  117 

sie  seiner  forschung  überall  freien  lauf  lassen ,  sie  ihm  als  persönliches  leben  zugeeig- 
net und  zum  gottesdienste  geweiht. 

Mit  dieser  beruhigung  der  gedanken  und  ausbreitung  der  religiösen  grundstim- 
muDg  hat  Herders  geist  seine  reife  erreicht.  Die  vier  preisschi-iften  der  jähre  1775  — 
1781  bestcätigen  diese  auf  litterarhistorischem  gebiete.  So  sind  die  für  Herders  ge- 
schichtsphilosophie  konstituierenden  momente  nun  alle  in  ihi'er  endgiltigen  form  zusam- 
mengeschossen,  imd  es  schliesst  die  erste,  gleichsam  aufsteigende  hälfte  von  Herders 
entwicklung. 

Das  zweite  buch  stellt  uns  die  Vollendung  der  geschichtsphilosophie 
und  Weltanschauung  Herders,  den  höhepunkt  seines  Schaffens  in  den  „Ideen", 
vor  äugen,  deren  analyse  den  hauptteil  des  vorliegenden  buches  bildet  (s.  105  —  216). 

Der  erste  abschnitt  gibt  eine  „genetische  entwicklung  des  werks", 
er  erklärt  dessen  struktur  in  ihrem  herauswachsen  aus  der  geistesform  des  Schöpfers. 
Drei  paragraphen  behandeln  Herders  weit-,  menschheits-  und  geschichtsbild.  In  dem 
ersten  wird  besonders  das  entwerfen  im  steten  hinbück  auf  den  menschen,  das  huma- 
nisieren der  gesamten  natur  hervorgehoben;  im  zweiten  die  Unsicherheit  des  ansatzes 
der  geschichte  und  die  schwankende  bedeutung  der  begriffe ,  welche  den  Übergang  zu 
ihr  bilden  imd  ihr  weg  und  ziel  bestimmen  sollen,  wie  tradition  und  humanität. 
Die  erste  z.  b.  erscheint  in  dreifachem  sinne:  „erst  besagt  sie  einfach  das  weiter- 
geben der  bildung  durch  erziehimg  und  spräche,  dann  kann  sie  als  starre  tradition 
das  stagnieren  des  historischeu  lebens  bezeichnen,  schliesslich  wird  sie  im  gegeuteil 
die  fortbildende  kraft  der  geschichte,  und  als  solche  ist  sie  die  stimme  gottes"  (s.  125). 
In  den  historischen  teilen  der  „Ideen"  sehen  wir  endlich,  wie  nach  der  ruhenden 
beschreibung  der  asiatischen  kultui-en  bei  der  darsteUung  des  Griechentums  im  13.  buche 
und  wider  bei  der  entstehung  des  neueren  Eui'opas  der  entwicklungsgedanke, 
der  die  kultur  eines  volkes  in  ihrer  gesamtheit  aus  dem  nationalen  leben  und  erleben 
verstehen  lehrt,  durchbricht,  aber  nicht  stark  genug  ist,  um  auch  im  bewustsein 
des  denkers  und  in  den  principieUen  erörterungen  der  theoretischen  bücher  klar  erfasst 
zu  werden,  sondern  hier  in  abstrakter  metaphysik  untergeht.  "Wie  wenig  formende 
kraft  diese  grundgedanken  haben,  erhellt  auch  daraus,  dass  einzelne  stücke  aus  frü- 
heren Perioden  Herders,  die  mit  seiner  gereiften  auschauung  im  Widerspruch  stehen, 
wie  die  lehre  vom  unterrichte  der  Elohim,  unverändert  in  die  „Ideen"  herübergenom- 
men sind,  ohne  daes  er  diesen  Widerspruch  empfunden  hat. 

Das  hauptstück  des  ganzen  buches  ist  der  zweite  abschnitt:  „Das  werk 
und  der  mensch.  Die  entstehung  der  Wissenschaft  aus  der  persönlich- 
keit." Zwei  hauptf ragen  werden  aufgestellt:  1.  „Wie  lebt  die  Persönlichkeit  sich  aus 
in  ihrem  werke?"  2.  „Entstehen  in  den  gedankenformen  der  persönlichkeit  die  gedan- 
ken der  wissenschaftlichen  geschichtsphilosophie?"  Aus  der  ästhetischen  empfindung 
giengen  die  gebilde  der  Herderschen  geistesweit  hervor;  indem  aber  jene  sich  mit  die- 
sen zugleich  überliefern  will,  erhalten  diese  ein  Selbstgefühl  und  werden  gleichsam 
lebendige  wesen.  Erst  wenn  sie  durch  das  gefühl  der  glückseligkeit  in  sich  abgeschlos- 
sen und  zu  künstlerischen  gestalten  abgerundet  sind,  genügen  sie  den  bedürfnissen 
dieser  reizbaren  seele;  „sie  predigen  nun  deutlich  das  ideal  der  Herderschen  seelen- 
vollen düng,  dessen  tätige  darstellungen  sie  stufenweis  waren."  Die  theoretischen 
begriffe  widerholen  nur  in  allgemeinen  ausdrücken  den  Vorgang  der  gedankenbildung. 
In  gott  endlich  schliessen  sich  die  gedanken  zu  einer  einheit  zusammen  (vgl.  o.); 
„Gott  ist  die  ganze  Herdersche  seele  lebendig  in  ihi-em  werke"  (s.  169). 


118  MEYER 

Aber  wie  nicht  das  reine  streben  nach  erkenntnis,  sondern  ein  ästhetisches 
interesse  diese  weit  hervorgetrieben  hat,  so  vermag  sie  auch  den  ansprüchen  der 
Wissenschaft  nicht  zu  genügen.  Indem  die  gedanken  ihrem  Urheber  etwas  anderes 
scheinen  (tatsachen,  in  gott  gegründete  Objekte),  als  was  sie  sind  (bewustseinszustand 
des  Subjekts),  sind  die  „Ideen"  kein  selbstbewustsein  in  gedanken.  Wol  erreicht  der 
gedanke,  überall  den  Ursprüngen  zugewandt,  die  entwickluugsgeschichte,  ja  er  ver- 
mag selbst  die  durchgehende  entwicklung  zum  europäischen  Staatensystem  zu  fassen; 
aber  das  begleitende  Stimmungsmoment  bricht  ihm  stücke  aus  dem  geschichtlichen 
gesamtbilde  (staat,  verstandeskultur) ,  und  indem  es  sich  auch  in  den  theoretischen 
begriffen  durchsetzt,  bringt  es  die  lebendige  entwicklung  der  gedanken  zum  stehen. 
Der  sieg  der  metaphysik  bezeichnet  das  erlahmen  der  lebenskraft  in  den  gedanken. 
Diese  theoretischen  begriffe,  nur  der  Stimmung  zum  ausdruck  verhelfend,  sind  keine 
zeugungskräftigen  leitgedanken  zur  erforschung  der  probleme,  wie  sie  andrerseits 
auf  die  gestaltung  der  lebensvollen  bilder  keinen  einfluss  haben.  Wie  sie  sich  nicht 
in  lebendigem  fortwachsen  in  den  Zusammenhang  der  probleme  ausbreiten  und  zu 
einem  Organismus  der  arbeit  auswachsen,  so  sind  sie  „der  zustand  einer  in  ihrem 
gefühl  beharrenden,  in  ihrem  gefühl  isolierten  person,  ein  gefühlszustand ,  der  als 
gedanke  sich  überliefern  wiU,  aber  nicht  zur  reinen  erkenntnis  sich  entwickelt"  (s.  189). 
Indem  endhch  die  begriffe  lebendige  personen  werden,  bauen  sie  jenseits  der  wirk- 
lichen eine  geistige,  transscendente  weit.  So  findet  der  naive  realismus,  der  die  dinge 
als  fertig  gegeben  nimmt,  seine  ergänzung  in  der  metaphysik.  —  Wenn  also  das  werk 
als  erkenntnis  morsch  ist,  so  liegt  die  erste  Ursache  in  der  starren,  nihenden  Stim- 
mungssittlichkeit, die  nur  dem  einzelnen  ein  abstraktes  ideal  bietet,  ohne  Verständnis 
für  die  erzeugung  der  kultur  in  der  Zusammenarbeit  aller.  Die  abneigung  Herders 
gegen  den  staat  wurzelt  in  der  gegen  den  staat  seiner  zeit.  So  ist  sein  denken  dui-ch 
eine  tiefe  kluft  getrennt  von  der  praktischen  berufsarbeit ;  es  geht  ihm  nur  am  hori- 
zonte  seines  wirklichen  daseins  auf.  Der  theoretische  maugel  erweist  sich  als  eine 
sittliche  schwäche:  der  gedanke  ist  lahm,  weil  nicht  Herders  ganzes  leben  gedanke 
wird. 

So  führt  die  genaue  analyse  des  einzelnen  denkers  selbst  zu  dem  ideale  der 
reinen  denkerpersönlichkeit,  die  in  klarem  selbstbewustsein  ihr  leben  in  gedanken  aus- 
prägt; die,  indem  sie  den  menschen  in  seiner  geschichtlichen  bedingtheit  erfasst  und 
die  kulturtaten  auf  seelische  bewegungen  zurückführt,  auch  die  geschichtsphilosophie 
erzeugt  als  ein  glied  im  complex  der  Wissenschaften,  auf  alle  gestützt,  allen  zu  ihrer 
Vollendung  notwendig,  und  so  in  der  reinen  ausbildung  des  gedankens  als  ihres  sitt- 
lichen berufes  selbst  ein  stück  idealer  kultur  verwirklicht. 

Das  folgende  kapitel  behandelt  den  „verfall  der  geistesform  Herders." 
Alle  den  „  Ideen "  gleichzeitigen  oder  späteren  schritten  sind  nur  auswickelungeu  aus 
dem  Inhalt  des  hauptwerkes,  entstanden,  indem  die  hier  zu  einem  Weltbilde  zusam- 
mengefassten  elemente  sich  sondern  und  zerbi'öckeLn ,  mit  immer  deutlichem  zeichen 
des  Verfalls.  Zurückschreitend  nimmt  Herder  die  bestrebungen  seiner  Jugend  wider 
auf,  und  vor  allen  problemen  versagt  seine  kraft;  es  bleibt  nur  der  drang,  erzieh- 
lich zu  wirken.  In  diesem  dränge  aber  offenbart  sich  uns  Herders  eigenster,  ursprüng- 
licher beruf.  Mit  diesem  dränge  von  seiner  zeit  abgewiesen,  gestaltet  er  sein  ideal 
jenseits  der  Wirklichkeit  in  dem  plane  der  göttlichen  erziehung  des  menschen- 
geschlechtes;  die  gedanken  selbst,  aus  seinem  lebensgefühle  zu  personen  belebt 
und  nach  einem  feststehenden  ethischen  ideale  gerichtet,  sind  gleichsam  seine  zög- 
Imge.     So  ist  sein  ganzes   denken  nur  abgelenkter  beruf.     Zugleich    erscheint   aber 


ÜBER    KÜHNEMANN,    HERDER  119 

seine  un Vollkommenheit  in  ihrer  sozialen  bedingtheit:  er  fällt  ein  opfer  der  zeit,  die 
seinem  wirkungsdrange  niclit  das  rechte  feld  bot,  die  ihm  nicht  gestattete,  seine  per- 
sönlichkeit rein  in  taten  auszuprägen.  Reine  darstellungen  der  persönlichkeit  aber 
waren  die  werke  der  männer,  die  er  nicht  mehr  verstand  und  in  denen  die  zeit  über 
ihn  hinausschritt,  die  philosophie  Kants  und  die  kunst  Goethes. 

Der  Schlussabschnitt  „Zur  biologie  des  geistes"  (s.  248  —  269)  zieht  aus 
der  ganzen  früheren  Untersuchung  den  methodischen  gewinn;  er  ist  für  den,  der  sich 
über  das  vorliegende  buch  und  die  Stellung  seines  Verfassers  ein  urteil  bilden  will, 
der  wichtigste.  Indes  muss  ich  mir  hier  eine  eingehende  Zergliederung  versagen; 
wie  ja  auch  die  vorstehenden  bemerkungen  in  keiner  weise  den  reichen  Inhalt  des 
Werkes  erschöpfen  konnten,  vielmehr  nur  das  verfahren  des  Verfassers  und  die  rich- 
tuug,  in  der  sein  forschen  sich  bewegt,  zu  charakterisieren  suchten. 

Kühnemann  fühlt  sich  im  gegensatze  zu  einer  geschichtschreibung  der  philo- 
sophie (und  natürlich  auch  der  litteratur) ,  welche  die  einzelnen  gedanken  und  Systeme 
als  etwas  für  sich  bestehendes  und  als  fertig  gegebenes  hinnimt,  den  bestand  registriert 
und  nach  äusserlichen  merkmalen  ordnet.  Dagegen  gilt  es  für  ihn,  den  gedanken 
zu  fassen  als  erleben,  als  Seelenbewegung  der  deukerpersönlichkeit  in  seiner  psycho- 
logischen und  sozialen  bedingiheit,  und  so  an  stelle  des  naiven  realismus,  der  die 
dinge  als  gegeben  voraussetzt,  den  Idealismus  zu  setzen,  der  allein  der  wahre  realis- 
mus ist,  insofern  als  nur  er  die  wahre  realität  ergreift,  „den  psychischen  process,  in 
dem  die  weit,  sei  es  in  Wissenschaft,  in  sittlichem  leben  oder  in  kunst,  als  reine 
darstellung  der  persönlichkeit  lebenskräftig  erzeugt  wird"  (s.  260). 

Man  sieht,  der  gegensatz  ist  derselbe,  welcher  vorhin  zwischen  Herder  einer- 
seits und  jenen  Vorbildern  reinen  erlebens  und  kulturschaffens ,  Kant  und  Goethe, 
andrerseits  festgestellt  wurde.  So  ist  denn  die  arbeit  des  Verfassers  ein  baustein  zu 
der  gewaltigen  kulturarbeit ,  die  uns  jene  grossen  genien  als  ihr  kostbarstes  Vermächt- 
nis hinterlassen  haben:  sie  ist  die  begründimg  der  geistesgeschichte  im  Kantischen 
sinne,  gegründet  auf  das  sichere  fundament  einer  transscendentalen  kritik,  d.  h.  der 
Untersuchung  der  bedingungen  ihrer  möglichkeit,  der  gesetze  ihrer  erzeugung.  Dies 
ist  der  sinn  jener  einleitenden  programmsätze.  Nun  wii'd  auch  das  zusammenwirken 
philosophisch  -  systematischer  und  psychologisch -historischer  forschung  klar:  soll  der 
einzelne  nach  der  art,  wie  seine  persönlichkeit  sich  rein  in  kulturtaten  darstellt,  ver- 
standen und  gewertet  werden,  so  bedürfen  wir  des  Ideals  der  rein  entwickelten  per- 
sönlichkeit als  massstab;  andrerseits  kann  nur  die  genaueste  analyse  des  einzelfalles 
uns  die  bedingungen  für  die  Verwirklichung  jenes  Ideals  lehren. 

Dieses  schauen  des  innersten  lebens  in  den  äusseren  werken  der  menschen, 
dieses  aufspüren  der  inneren  treibenden  motive  ist  eine  künstlertugend.  Heinrich 
V.  Kleist  redet  einmal  (Briefe  au  seine  Schwester  Ulrike  hsg.  v.  A.  Koberstein  s.  49) 
von  einer  ihm  von  der  natur  verliehenen  klarheit,  .die  ihm  zu  jeder  miene  den 
gedanken,  zu  jedem  worte  den  sinn,  zu  jeder  handlung  den  gi'und  nennt,  und  bezeich- 
net damit  ein  hauptgeheimnis  des  dichterischen  schaifens.  In  der  tat,  um  in  dies 
innerste  heiligtura  der  dichter-  und  denker- Werkstatt  einzudringen,  und  die  natur  in 
ihrer  geheimsten  arbeit  zu  belauschen,  dazu  bedarf  es  des  künstlerischen  schauens, 
das  vermag  nur,  wer  in  sich  selbst  die  wunder  schöpferischen  erlebens  erfahren  hat. 
„Wir  bedürfen  mehr  als  den  gliedernden  Scharfsinn  des  Verstandes,  wir  verlangen 
die  sittlich  erlebende,  die  anschauende  Vernunft"  (s.  259). 

Künstlerisch  ist  denn  auch  der  eindruck  des  ganzen  buches.  Wie  eine  gewal- 
tige tragödie  rollt  sich  dies  merkwürdige  denkerschicksal  vor  uns  ab  mit  scharf  mar- 


120  METER,    ÜBER   KÜHNEMÄNN .    HERDER 

kierten  einschnitten.  Drei  akte  bilden  den  aufsteigenden  teil:  das  erobei-ungslustige 
sichausbreiten  in  die  weit,  dann  das  finden  des  eignen  selbst,  endlich  die  gestaltung 
der  weit  zu  einem  abdrucke  der  eignen  persönlichkeit.  Dann  aber,  nachdem  der 
höhepunkt  überschritten,  folgen  verfall  und  katastrophe  in  immer  schnellerem  tempo, 
mit  not  wendigkeit  sich  ergebend  aus  der  ersten  anläge  des  Herd  ersehen  geistes  und 
den  umständen  und  Verhältnissen,  die  ihn  umgaben.  Auch  im  einzelnen  spüii  man 
diese  dramatische  anläge:  so  in  den  häufigen  hindeutungen  auf  das,  was  nun  kom- 
men muss;  in  der  tragischen  Ironie  (vgl.  s.  CO);  in  starken  kontrasten,  wie  s.  139: 
„fiebernd  vor  erwartung  greifen  wir  nach  den  philosophischen  abschnitten  des  dritten 
teils,  welche  die  principien  der  geschichtsphilosophie  vorlegen.  —  Welche  enttäu- 
schung!  Nichts  als  die  alten  bekannten  abstraktionen!"  Hierher  gehört  auch  der 
analytische  auf  bau  des  buches,  wo  zugleich  mit  dem  foitschreiten  der  handlung  die 
erkenntnis  rückschreitend  in  die  ersten  Ursachen  eindringt.  Es  geht  uns  beim  lesen 
desselben  wie  bei  einer  bergbesteigung:  je  höher  wir  aufwärts  gelangen,  um  so  wei- 
ter dehnt  sich  der  horizont,  um  so  vollständiger  erhellt  sieh  der  zurückgelegte  weg. 

Künstlerisch  wirkt  endlich  auch  der  stil  des  buches.  Eine  ungefähre  Vorstel- 
lung von  der  Schreibart  des  Verfassers  kann  der  leser  schon  aus  meiner  Inhaltsangabe 
entnehmen,  die  ich  vielfach  mit  den  Worten  des  buches  selbst  gegeben  habe.  Nir- 
gends verfällt  der  Verfasser  in  leere  Schönrednerei;  kein  woi"t  steht  lediglich  als  klin- 
gende phrase  da,  vielmehr  erfordert  und  erträgt  jedes  die  genaueste  prüfung  und 
wägung  seines  Inhaltes.  Die  künstlerische  gestaltung  der  gedanken,  die  sich  oft  zu 
grosser  Wirkung  erhebt,  ist  in  der  anläge  und  dem  zwecke  des  buches  begründet, 
welches  nicht  nur  dem  verstände  des  lesers  objektive  erkenntnis  übermitteln,  sondern 
ihm  in  den  gedanken  das  Seelenleben  der  schaffenden  persönlichkeit  zu  fühlen  geben 
und  in  ihrer  kritik  ein  ideal  der  Wissenschaft  und  des  lebens  predigen  wiU.  Dieser 
lebensgehalt  der  gedanken  verlangt  nach  künstlerischem  ausdruck,  um  als  leben 
empfunden  zu  werden.  Am  Schlüsse  des  buches,  wo  die  arbeit  der  erkenntnis  getan 
ist,  sammelt  sich  das  begleitende  gefühl  zu  selbständigem  ausdruck  in  einer  stim- 
mungsvollen Zukunftsphantasie,  wie  in  volltönenden  Schlussakkorden. 

Aber  wie  viele  künstlerische  momente  auch  in  dem  buche  zusammenwü'ken, 
der  zweck  und  plan  des  ganzen  ist  nicht  ästhetisch,  sondern  wissenschaftlich. 
Nicht,  um  das  geschaute  im  bilde  festzuhalten  und  das  gefühl  des  lesers  in  ästhe- 
tischem geniessen  ruhen  zu  lassen,  versenkt  sich  der  Verfasser  in  Herders  Seelen- 
leben, sondern  um  an  diesem  einen  so  tief  und  umfassend  durchforschten  beispiele 
die  gesetze  des  geisteslebens  überhaupt  zu  studieren,  und  um  aus  üini  die  methoden 
reinen,  wissenschaftlichen  denkens  abzuleiten. 

Die  äussere  ausstattung  des  buches  verdient  uneingeschränktes  lob;  auch 
die  korrektur  ist  sehr  sorgfältig.  Sehr  erwünscht  ist  das  ausführliche  Inhaltsverzeich- 
nis. "Was  den  ausdruck  betrifft,  so  sind  einige  auffallende  Wortbildungen  zu  erwäh- 
nen: wesenbar  (s.  87),  naturgemässig  (s.  127),  „Griechenheit"  statt  des  uns  aus  Schü- 
ler geläufigen  „Griechheit"  (s.  137),  entgegensatz  (s.  252).  Bisweilen  finden  sich 
weniger  geschickte  oder  unklare  satzbüdungen;  so  s.  75:  Die  bedeutung  innerer 
volkommenheit  ist  Schönheit;  s.  90:  kämpf  um  sich  selbst;  s.  137:  der  staat  als  das 
sittliche  klima,  der  das  werk  des  günstigen  physischen  fortsetzt;  s.  268:  Wie  anders 
ihr  (der  Wissenschaft)  sprachlicher  bruder,  die  poesie!;  Tgl.  noch  s.  181.  196  oben. 

Dass  die  methode  des  Verfassers  allgemein  angenommen  werden,  dass  sie  schule 
machen  werde,  glaube  ich  natürlich  nicht;  dazu  ist  sie  zu  sehr  persönlich,  zu  sehr 
ein  produkt  von  selten  vereinigten  faktoren.     Aber  die  mahnung  wird  die  litteratur- 


GERING,    ÜBER   BüGGE,    BIDRAG   TIL   SKALDEDIGTNINGENS   HIST.  121 

geschichte  allerdings  daraus  entnehmon  köunen  —  und  dies  scheint  ihr  heute  beson- 
ders not  zu  tun  — ,  dass  es  mit  dem  feststellen  und  ordnen  von  sogenannten  tatsachen 
nicht  getan  ist,  sondern  dass  es  die  aufgäbe  der  geistes-  so  gut  wie  der  naturwissen- 
schaft  ist,  die  verwirrende  fülle  der  erscheinungen,  die  sich  den  beobachtenden  sin- 
nen und  dem  forschenden  verstände  bieten,  aufzulösen  in  ein  spiel  von  gesetzen,  und 
so  „was  in  schwankender  erscheinung  schwebt,  zu  festigen  mit  dauernden  gedanken." 
Als  ein  schritt  zu  diesem  ziele  sei  die  vorliegende  schritt  hier  di'ingend  empfohlen. 

GÖTTINGEN.  HEINRICH    MEYER. 


Bidrag  til  den  jeldste  skaldedigtnings  historie  af  Sophus  Biig^ge.  Christia- 
nia,  H.  Aschehoug  &  Co.  1894.     (VIII),  184  s.     3,50  kr.  (=  3,95  m.). 

Das  vorliegende  buch,  das  von  neuem  die  ausgebreitete  belesenheit  und  das 
ungemeine  kombinationstalent  des  ausgezeichneten  norwegischen  gelehrten  auf  das 
glänzendste  betätigt,  ist  der  eingehenden  Untersuchung  der  unter  dem  namen  Bragis 
des  alten  überlieferten  fragmente  und  des  dem  norwegischen  dichter  f'j6{)olfr  or  Hvini 
zugeschriebenen  Ynglingatals  gewidmet.  Bugge  sucht  den  (bereits  Beitr.  13,  201 
angekündigten)  beweis  zu  führen,  dass  diese  dichtungen,  die  man  bisher  in  das  9.  Jahr- 
hundert zu  setzen  pflegte,  einer  so  frühen  zeit  nicht  angehören  können,  und  will  sie 
der  2.  hälfte  des  10.  Jahrhunderts  zuweisen. 

Seine  behaujjtung  sucht  Bugge  zunächst  durch  sprachhistorische  deductionen 
zu  erhärten.  Ein  hauptargument  des  Verfassers  ist,  dass  die  Synkope  der  schlusssil- 
ben vokale,  zum  mindesten  die  syukope  des  «a,  im  9.  Jahrhundert  in  Norwegen  noch, 
nicht  eingetreten  sein  könne,  da  noch  in  der  runeninschrift  des  schwedischen  Eök- 
steines,  die  or  um  900  ansetzt,  die  formen  sfrandu,  sufni,  fiaru,  karuR  sich  finden, 
in  der  dänischen  Inschrift  von  nelmies,  die  dem  9.  Jahrhundert  angehören  soll,  ebenfalls 
sunu  (acc.  sg.)  begegnet  u.a.m.;  durch  einsetzung  der  unsynkopierten  formen  in  die 
Strophen  Bragis  (ich  spreche  zunächst  nui'  von  diesen)  würde  aber  ihr  metrischer  bau 
zerstört.  Ich  will  hierauf  nicht  entgegnen ,  dass  keine  einzige  norwegische  Inschrift^ 
die  erhaltung  des  ic  auch  für  das  westskandinavische  bezeugt,  da  die  spracheutwick- 
lung  doch  wol  im  ganzen  norden  im  wesentlichen  gleichraässig  vor  sich  gieug.  Auch 
den  einwand,  dass  mir  —  bei  aller  achtung  vor  den  glänzenden  ergebnissen  der 
modernen  runenforschung  —  die  datierungen  der  einzelnen  denkmäler  noch  keines- 
wegs sicher  erscheinen ,  will  ich  nicht  erheben ,  sondörn  einfach  annehmen ,  dass  Bugge 
mit  seiner  behauptung,  u  sei  im  9.  Jahrhundert  noch  nicht  synkopiert  worden,  im 
rechte  ist.  Wenn  er  aber  daraus  den  schluss  zieht,  das  die  gedichte  von  Bragi  die- 
sem Jahrhundert  nicht  angehören  können,  so  muss  ich  gegen  die  zulässigkeit  einer 
solchen  beweisführung  protest  erheben.     Nur  soviel  liesse  sich  behaupten,    dass  die 

1)  Von  norwegischen  Inschriften  aus  dem  Jahrhundert,  das  der  besiedelung 
Islands  vorauf  gieng,  haben  sich —  wenn  die  datierung  richtig  ist —  nur  zwei  erhal- 
ten, die  von  Valby  und  Gimsö,  und  auf  beiden  sind  formen,  die  für  die  Streitfrage 
entscheidend  wären,  nicht  anzutreiTen  (auf  dem  steine  von  Gimsö  steht  zwar  NafRsun, 
aber  Bugge  behauptet,  dass  indem  enklitisch  an  den  genetiv  eines  eigennamens  ange- 
hängten stinuR  die  synkope  weit  früher  vollzogen  sei  als  in  dem  isoliert  stehenden 
werte).  Überhaupt  glaube  ich,  dass  im  9.  Jahrhundert  die  sitte,  zum  andenken  an 
verstorbene  runensteine  aufzurichten,  in  Norwegen  aus  der  mode  gekommen  war, 
denn  sonst  hätten  die  isländischen  kolonisten,  die  so  zäh  an  den  alten  gebrauchen 
hiengen,  auch  diesen  in  der  neuen  heimat  sicherlich  beibehalten.  Bekanntlich  aber 
weiss  keine  Isleudinga  saga  von  runensteiueu  etwas  zu  erzählen. 


122  GERING 

form,  in  der  wir  heute  diese  gedichte  lesen,  nicht  die  des  9.  Jahrhunderts  ist,  weil 
sie  es  eben  nicht  sein  kann,  da  in  den  vier  Jahrhunderten,  die  zwischen  der  entste- 
hung  jener  Strophen  und  unseren  handschriften  liegen,  nicht  bloss  die  sprachformen 
sich  geändert  haben,  sondern  möglicherweise  auch  die  metra  eine  Umwandlung  erlit- 
ten. Wenn  es  der  zufall  gewollt  hätte,  dass  sich  von  dem  goldenen  hörne  und  der 
auf  ihm  eingeritzten  inschrift  eine  künde  bis  in  die  litterarische  zeit  erhalten  hätte, 
so  würde  diese  inschrift  in  einem  codex  des  13.  Jahrhunderts  wahrscheinlich  lauten*: 

Hlegestr  Hyltingr  hörn  pat  ortah  (oder  gorpak). 
Bugge  würde  von  seinem  Standpunkte  aus  die  nachricht,  dass  diese  zeile  in  m'alter 
zeit,  lange  vor  der  besiedelung  Islands  abgefasst  sei,  für  erfunden  und  die  inschrift 
für  unecht  erklären,  da  das  metrum  des  fornyrdislag-verses  durch  die  widerherstel- 
lung  der  ursprünglichen  sprachformen  zerstört  würde.  Dies  wäre  jedoch  ein  fehl- 
schluss,  denn  der  auf  dem  goldenen  home  stehende  vers: 

Ek  HlewagastiR  HoltüigaR  horna  tawido,  d.  i. 
X]  -jJlX^X  I  ^XX   II   _iX  I  ^s.x. 

war  zu  seiner  zeit  eine  vollkommen  korrekte  laugzeile  im  „förnyrdislag"  ^,  das  eben 
damals  auftakte  und  mehrsilbige  Senkungen  noch  gestattete.  Ob  dem  „drottkvaett", 
falls  es  vor  der  durchführung  der  synkopierungsgesetze  schon  bestand,  nicht  diesel- 
ben freiheiten  eingeräumt  waren,  können  wir  nicht  wissen;  jedesfalls  aber  wäre  es 
voreilig  diese  möglichkeit  zu  läugnen. 

Auch  die  tatsache,  dass  bei  Bragi  bereits  einzelne  keltische  lehnwörter^  sich 
finden,  kann  meines  erachtens  nicht  beweisen,  dass  die  gedichte  erst  im  10.  Jahrhun- 
dert abgefasst  sind.  "Wir  wissen,  dass  schon  gegen  ende  des  8.  Jahrhunderts  (795) 
die  nordischen  wikinger  an  den  irischen  küsten  erschienen,  und  es  ist  daher  zweifel- 
los, dass  sie  den  weg  zu  den  nordschottischen  inselgruppen ,  die  auf  ihren  zügen 
nach  Westen  eine  natürliche  etappe  bildeten,  weit  früher  müssen  gefunden  haben. 
Nehmen  wir  an,  dass  dies  um  7,oO  geschehen  sei*,  so  lag  fast  ein  voUes  Jahrhundert 
zwischen   den  ersten  berührungen   der  Normannen   mit   den  Kelten  und   der  zeit,  in 

1)  Vgl.  Bugge ,  Tidskr.  for  phil.  VI  (1865)  s.  317. 

2)  Ihr  lassen  sich  z.  b.  altsächsische  verse  wie 

lithocdspiin  bilücan  (Hei.  2724) 
an  die  seite  stellen,   die  ich  nicht  mit  Sievers  für  „erweiterte"  A,  sondern  für  alter- 
tümliche A  ansehe.     In   einer  fornyrdislag- Strophe  der  Röksteininschrift  steht  neben 
4  silbigen  halbzeilen,    die  genau  den  regeln   der    späteren    altn.   metrik    entsprechen, 
auch  eine  5 silbige: 

Strandu  HrcBiämarar, 
also  ein  „erweitertes"  D,    das  durch  die  synkopierung  des  u  zu  einem  regelmässigen 
D  werden  inusste.     Vgl.  ferner  verse   mit  auftakt  wie:    in  wange  märir,    ek   Wncar 
after  (Bugge,  Norges  inskrifter  med  de  aeldre  runer,  s.  24). 

3)  Bugge  meint,  dass  in  Bragis  fragmenten  auch  ein  französisches  lehnwoii 
enthalten  ist,  nämlich  rosta  „lärm'',  obgleich  ein  verbum  rusta  „lärmen"  noch  heute 
im  schwedischen  und  norwegischen  lebendig  ist.  Allerdings  ist  es  bedenklich,  dieses 
neunordische  wort  zu  rosto  in  beziehung  zu  setzen,  da  der  Übergang  von  o  zu  m 
sonst  nur  in  der  proklise  erfolgt  zu  sein  scheint  (z.  b.  norweg.  gu'dag  <.  god  dag\ 
aber  nicht  minder  unwahrscheinlich  ist  die  annähme,  dass  dasselbe,  kaum  sehr 
gebräuchliche  wort  zu  zwei  verschiedenen  zeiten  nach  dem  norden  importiert  sein 
sollte. 

4)  Schon  um  725  mussten  sich  die  irischen  anacljoreten  infolge  der  angriffe 
nordischer  piraten  von  den  Fagröern  zurückziehen  (Zimmer,  Ztschr.  f.  d.  a.  32,  231). 


ÜBER   BUGGE,    BIDRAG    TIL    SKALDEDIGTNINGENS    HIST.  123 

welcher  Bragi  nach  der  gewöhnlichen  annähme  seine  drapas  verfasste,  und  dieser 
Zeitraum  war  lang  genug,  dass  „die  Impulse  von  den  keltischen  Völkern  selbständige 
formen  sich  schaffen  konnten." 

Ferner  meine  ich,  dass  die  konsequenzen  der  Buggischen  hypothese,  nach  der 
die  fragmente  Bragis  eine  fälschung  des  10.  Jahrhunderts  sein  sollen,  eine  reihe  von 
unWahrscheinlichkeiten  ergeben.  Dass  ein  dichter  Bragi  um  die  mitte  des  9.  Jahr- 
hunderts wirklich  im  westlichen  Norwegen  gelebt  hat,  gibt  Bugge  selber  zu.  Er 
räumt  ferner  ein,  dass  Eagnarr  lodbrök  (dessen  person  allerdings  von  der  sage  mit 
einem  üppigen  gewinde  fabelhafter  erzählungen  umrankt  und  zu  einem  typus  des 
wikingertums  ausgestaltet  ist)  möglicherweise  mit  dem  dänischen  piratenführer  (dux') 
Eagneri  identisch  ist,  der  um  845  in  Frankreich  brandschatzte  und  bald  darauf  aji 
der  pest  starb.  Er  meint  endlich,  dass  wir  den  schwedischen  könig,  den  die  islän- 
dischen quellen  BJQrn  at  Haugi  nennen,  in  dem  „rex  Bern"  widerfinden,  mit  dem 
nach  der  Vita  Anskari  von  Eimbert  der  apostel  des  nordens  kurz  vor  830  in  Schwe- 
den zusammentraf.  Die  beiden  fürsten  und  der  dichter  waren  also  Zeitgenossen,  und 
es  erapfienge  mithin  die  isländische  tradition,  nach  welcher  Bragi  zu  Eagnarr  und 
BJQrn  in  beziehungen  stand,  einen  rückhalt  in  der  beglaubigten  geschichte.  Nun 
glaubt  Bugge  überdies  den  beweis  führen  zu  können,  dass  in  Bragis  Strophe,  die 
die  sage  von  Gylfi  und  Gefjon  behandelt,  suecismen  sich  erhalten  haben!  Wenn 
das  wahr  ist  (ich  hege  meine  bescheidenen  zweifei),  so  würde  jeder  vorurteilsfreie 
mensch  darin  eine  hestätigung  der  nachricht  finden,  dass  Bragi  sich  tatsächlich  in 
Schweden  bei  Bjgrn  at  Haugi  aufgehalten  und  dort  seine  Strophe  verfasst  hat.  Stammt 
diese  dagegen  erst  aus  dem  10.  Jahrhundert,  so  ist  sie  das  werk  eines  fälschers,  der 
so  raffiniert  war,  dass  er  absichtlich,  um  seinem  falsificate  den  schein  der  echtheit 
zu  geben,  schwedische  formen  einflickte!  Und  dieser  raffinierte  falscher  war  zugleich 
so  geistesarm,  so  vollständig  aller  eigenen  gedanken  bar,  dass  er  seine  produkte  müh- 
sam aus  dem  material,  das  ihm  ältere  gedieh te  darboten,  zusammenleimen  musste: 
er  hat  —  als  ein  wahrer  skdldaspillir !  —  die  Ham|)ism(jl  und  Härbar{)slj6{),  die  Atla- 
kvi{)a  und  Helgakvi|)a  geplündert,  nicht  minder  Haraldskv8e{)i  und  Ynglingatal,  die 
Arinbjarnarkvi|)a  und  andere  gedichte  von  Egill  Skallagrimsson ,  den  Einarr  skäla- 
glamm,  Vetrli|)i  und  forbJQrn  disarsk;ild!  Mir  scheint  es  wahrscheinlicher,  dass  die 
parallelen,  welche  Bugge  aus  diesen  dichtungen  zu  den  fragmenten  Bragis  beibringt, 
aus  reminiscenzen  an  den  alten  skalden  sich  erklären,  wie  ich  dies  z.  b.  (Arkiv  VII, 
66)  für  I'j6{)olfs  Haustlgng  naclizuweiseu  versuchte-. 

Bei  dem  Ynglingatal  (um  nun  zu  diesem  mich  zu  wenden)  kann  man  frei- 
lich nicht  den  einwand  erheben,    dass  das  metrum  im  laufe  der  zeit  geändert  sein 

1)  Nach  Bugges  ansieht  kann  der  Verfasser  unserer  fragmente  nicht  jenen 
historischen  dux  besungen  haben,  da  das  prädikat  pengill,  das  er  ihm  beilegt,  im 
altn.  nur  den  „könig"  bezeichne.  Aber'  die  bedeutung  des  wertes  kann  sich  in  spä- 
terer zeit  verengert  haben;  ags.  pen^el  bedeutet  nur  „princeps,  dominus". 

2)  Ich  bin  weit  davon  entfernt,  heute  noch  alles  aufrecht  zu  erhalten,  was 
ich  in  meiner  kleinen,  schnell  hingeworfenen  gelegenheitsschrift  (Kvfe{)abrot  Braga 
ens  gamla,  Halle  188ö)  gesagt  habe,  und  gebe  gerne  zu,  dass  manches  darin  „ver- 
fehlt" und  übereilt  ist.  Wenn  aber  Bugge  meint,  dass  in  der  halbstro])he  Nema  svät 
gop  usw.  (nr.  2  meiner  ausgäbe)  die  lesart  des  Eegius  und  Wormianus  durch  Haust- 
iQng  1  gestützt  werde,  so  glaube  ich  doch  darauf  aufmerksam  macheu  zu  müssen, 
dass  der  text  dieser  Haustlc^ng-strophe,  wie  Bugge  ihn  citiert,  ohne  allen  zweifei 
corrumpiert  ist,  und  dass  ich  die  gründe,  die  ich  im  Arkiv  a.  a.  o.  für  meine  her- 
stellung  derselben  beigebracht  habe,  noch  immer  für  stichhaltig  ansehe. 


124  GERIN& 

könne,  denn  hier  hat  selbstverständlich  schon  in  dem  original  des  dichters  der  regel- 
mässige Wechsel  zwischen  drei-  und  viersilbigen  versen  bestanden.  Wenn  aberBugge 
aus  dem  umstände,  dass  die  einsetzung  unsynkopierter  formen  in  das  gedieht  das 
metrum  zerstört,  den  beweis  herleitet,  dass  das  Tnglingatal  erst  im  10.  Jahrhundert 
entstanden  sein  könne,  so  geht  er  dabei  von  der  durchaus  unwahrscheinlichen  —  wir 
können  geradezu  sagen:  unmöglichen  —  voraussetzring  aus,  dass  uns  die  Strophen 
fjöfjolfs  in  ihrer  echten  und  unverfälschten  gestalt,  wie  sie  aus  dem  munde  des 
dichters  kamen,  erhalten  seien.  "Wer  kann  die  möglichkeit  läugnen,  dass  verse,  die 
durch  den  eintritt  der  synkope  unkorrekt  geworden  waren,  durch  die  abschi'eiber 
geändert  sind^  und  dass  an  anderen  stellen  unabsichtliche  modifikationen  der  ursprüng- 
lichen lesart  eindrangen?  Bugges  beweis  stützt  sich  auf  drei  (ganze  drei!)  Averse. 
Der  erste  ist  Tngl.  28":  hmfis  hjqj-r.  Das  habe  im  9.  Jahrhundert  nach  Bugge  noch 
lauten  müssen:  hoefis  heruR,  was  einen  unmöglichen  vers  ergäbe.  Setzen  wir  aber 
die  beiden  Wörter  um  (was  herausgeber  aus  metrischen  gründen  unzählige  male  getan 
haben),  so  erhalten  wir:  hertiR  hoefis,  einen  vers,  der  genau  ebenso  richtig  ist  wie 
magar  poris  in  Egils  Arinbjarnarkvi^a  14^  (Sievers,  Altgerm,  metrik  §71,  4  e). 
Ebenso  lässt  sich  bragnings  buraR  (überliefert  ist  burs)  32^  umstellen  zu  buraR 
bragnings ,  vgl.  hqfiip  heiptrakt  49'.  Somit  bliebe  als  einziger  vers,  der  sich  nicht 
ohne  weiteres  emendieren  lässt,  vip  foldar  prqm  52^  übrig,  und  auf  diesen  vers 
allein  eine  hypothese  zu  begründen,  dürfte  doch  etwas  verwegen  sein.  Wer  kann 
beweisen,  dass  nicht  prqm  an  stelle  eines  anderen  wortes  getreten  ist,  das  schon  im 
9.  Jahrhundert  einsilbig  war?     Vgl.  z.  b.  jarpar  skaut,  Sn.  E.  I,  328. 

Die  sprachliche  form  des  Ynglingatals  kann  also  kaum  beweisen,  dass  das 
gedieht  erst  im  10.  Jahrhundert  entstanden  ist.  Ebensowenig  kann  dies  aber  aus  dem 
vorkommen  des  wortes  flmmingr  geschlossen  werden,  das  Bugge  wol  mit  recht  als 
„flämisches  schwert"  erklärt.  Denn  daraus,  dass  die  Norweger  erst  um  820  an  den 
küsten  Flanderns  zu  beeren  versuchten,  folgt  nicht,  dass  sie  in  Flandern  verfertigte 
Waffen  damals  zuerst  kennen  lernten;  diese  können  ja  auf  dem  handelswege  weit  frü- 
her nach  dem  norden  importiert  worden  sein,  wie  ja  auch  die  Damascener  klingen 
lange  vor  den  kreuzzügen  in  Europa  bekannt  waren.  Beweisend  ist  es  auch  nicht, 
dass  bei  fjofjolfr  poetische  formein-  und  eigennamen  sich  finden,  die  auch  in  den 
eddischen  gedichten  vorkommen,  denn  die  ersten  waren  zum  grossen  teile  altes  erb- 
gut  und  die  letzten  beweisen  doch  höchstens,  dass  die  mythen,  in  denen  die  träger 
der  namen  auftreten,  dem  T'j6J)olfr  sowol  wie  den  dichtem  der  Edda  geläufig  waren. 
Erst  dann  könnte  von  einem  beweise  die  rede  sein,  wenn  es  sich  erhärten  liesse, 
dass  jene  mythen  im  9.  Jahrhundert  noch  nicht  entstanden  waren.  Bugge  ist  ja 
allerdings  dieser  ansieht,    aber  die  zum    teil   halsbrecheuden    etymologien,    die    den 

1)  Dass  ältere  dichtungen  umgearbeitet  wurden,  um  den  anforderungen  einer 
moderneren  technik  zu  genügen,  ist  aus  der  mhd.  litteratur  bekannt.  Und  in  unserem 
falle  war  das  eine  kleiuigkeit.  Wir  dürfen  nicht  vergessen,  dass  „die  sprachform  in 
den  ältesten  isländischen  und  norwegischen  handschriften  in  allem  wesentlichen 
dieselbe  ist,  wie  die  in  der  spräche  der  ruueninschriften  von  800 — 1000"  (Wimmer, 
Die  runenschrift  s.  341). 

2)  Kenntnis  der  VqIuspq  soll  durch  Tngl.  21 :  Pas  brccp?-  tveir  \  at  bqnum 
urpiisk  (vgl.  Vsp.  54:  brocpr  munu  berjask  \  ok  at  bquum  verpask)  bewiesen  werden! 
Aber  verpa  at  bona  ist  eine  uralte,  gemeingermanische  formel  (vgl.  Hildebrands- 
lied 54,  Beow.  .587.  2203,  Hei.  644),  die  jedem  dichter,  der  davon  zu  berichten 
hatte,  dass  jemand  seines  kindes  oder  seines  bruders  mörder  wurde,  sich  von  selbst 
aufdrängen  musste. 


ÜBER   BUGGE,    BIDRAG    TIL    SKALDEDIGTNINGENS    HIST.  125 

fremden  Ursprung  der  heidnischen  götterlehre  erweisen  sollen  [Byleistr  <;  Beelzebub, 
Fornjotr  <.  Pkoroneus ,  Garmr  <  Cerbenis  u.  a.  m.),  werden  ausserhalb  des  nordens 
wenige  gläubige  finden.  Dass  Ve  der  heilige  geist  sei ,  hat  schon  E.  H.  Meyer  in  sei- 
nem buche  über  die  eddische  kosmogonie  behauptet  und  Bugge  spricht  es  nach;  wir 
dürfen  aber  wol  fordern,  dass  er  zunächst  den  beweis  liefert,  dass  das  dem  got.  iceihs 
entsprechende  adjectiv  noch  zur  zeit  der  wikingerzüge  in  den  skandinavischen  spra- 
chen existierte^:  in  den  htterarischen  denkmälern  ist  es  ebensowenig  wie  in  runen- 
inschiiften  gefunden  worden,  und  auch  die  ags.  spräche  kennt  es  nicht ^.  Dass  der 
götter-  (und  zwergen-)  name  Vili  (wofür  bei  Egill  die  nebenform  Vilir  begegnet) 
mit  vtli  „voluntas"  identisch  sei,  soll  auch  erst  bewiesen  werden.  Vorläufig  beharre 
ich  bei  der  ansieht,  dass  die  Skandinavier  (ebenso  wie  die  Inder,  Griechen  und  Li- 
tauer) selbständig  darauf  gekommen  sind,  eine  trias  an  die  spitze  ihres  götterstaates 
zu  stellen ,  und  nicht  erst  durch  die  heilige  trinität  der  christlichen  kirchenlehre  dazu 
angeregt  wurden. 

Gewichtiger  sind  zweifellos  die  historischen  gründe,  die  Bugge  für  die  spä- 
tere datieioing  des  Tnglingatals  ins  feld  führt.  Nach  der  angäbe  Suorris  in  der  vor- 
rede zur  Heimskiingla  wäi'e  l'j6{)olfr  or  Hvini  dichter  des  königs  Haraldr  schönhaar 
gewesen  und  habe  auch  auf  könig  RQgnvaldr  hei{)umh8eri,  einen  söhn  des  Olafr  geir- 
sta{)aälfr  und  brudersohn  Halfdans  des  schwarzen,  das  Ynglingatal  gedichtet.  Diese 
nachricht,  die  in  anderen  quellen  widerholt  wird,  sucht  Bugge  als  falsch  zu  erwei- 
sen. Er  meint,  dass  sie  nur-  aus  miss verstandenen  angaben  im  Ynglingatal  selbst 
construiert  ist  und  dass  ein  könig  E(?gnvaldr  von  Vestfold  oder  Grönland,  der  ein 
Zeitgenosse  von  Haraldr  schönhaai'  gewesen  sein  soll,  gar  nicht  existieii  hat,  da 
diese  Landschaften  von  anfang  an  zu  Haralds  reiche  gehörten  und  nur  während  seiner 
abwesenheit  sein  oheim  Guttormr  in  der  Vik  als  Stellvertreter  die  regierung  führte. 
Daher  glaubt  Bugge,  dass  das  Ynglingatal  einen  britannischen  könig  nordischer 
abkunft  gefeiert  habe,  wenn  er  es  auch  nicht  wagt,  einen  bestimmten  Eognvaldr  aus 
dem  10.  Jahrhundert  (die  quellen  kennen  aus  jener  zeit  mehrere  „könige"  dieses 
namens)  als  denjenigen  zu  bezeichnen,  dem  das  gedieht  gewidmet  ist.  Diese  mei- 
nimg  ist  deshalb  nicht  unwahrscheinlich,  weil  auch  die  norwegischen  könige  in  Dublin 
ihr  geschlecht  von  den  Ynglingern  ableiteten,  und  sie  gewinnt  an  glaubwürdigkeit 
durch  den  von  Bugge  geführten  nachweis,  dass  irische  gedichte  aus  dem  10.  Jahr- 
hundert und  noch  fräherer  zeit  nach  form  und  Inhalt  so  genau  mit  dem  Ynglingatal 
übereinstimmen ,  dass  sie  geradezu  als  Vorbilder  desselben  betrachtet  werden  müssen  ^. 
Endlich  macht  Bugge  darauf  aufmerksam,  dass  in  der  zweiten  hälfte  des  10.  Jahr- 
hunderts tatsächlich  ein  Norweger  mit  dem  namen  i*j6{)olfr  or  Hvini  gelebt  hat,  da 
unter  den  beiden  Olaf  Tryggvasons,  die  mit  ihm  auf  dem  „langen  drachen"  in  der 
Schlacht    bei  Svoldi-    kämpften,    ein  forgrimr    or  Hvini   l'j6|)olfsson    erscheint,    nach 

1)  Zu  iceihs  stellt  man  das  st.  n.  ve  „tempeP  (ags.  wih,  weoh;  alts.  wth)  und 
das  pl.  tantum  vear  „götter";  aber  das  adjectiv  selbst  hat  sich  nur  in  den  alten 
eigennamen  auf  -ver  erhalten,  falls  die  deutung  Bugges  (Xorges  indski-ifter  med  de 
seldre  runer  s.  12)  richtig  ist. 

2)  Vgl.  meine  ausführungen  in  der  Theol.  litt,  zeitung  XVII  (1892)  sp.  42. 

3)  Ich  möchte  mir  aber  doch  erlauben,  einen  ganz  bescheidenen  zweifei  zu 
äussern,  ob  die  keltische  philologie  (die  doch  noch  tief  in  den  kinderschuhen  stecken 
muss,  wenn  einer  ihrer  bedeutendsten  Vertreter  es  sich  nicht  zutraut,  eine  vollständige 
Übersetzung  von  einem  schwierigeren  texte  zu  geben)  wirklich  schon  soweit  vorgesuhrit- 
ten  ist,  dass  sie  eine  genaue  datierung  der  alten  denkmäler  vornehmen  kann"?  Mir  wird 


126  GERINO,    ÜBER   BUG&E,    BIDRAG    TIL    SKALDEDIGTNINGENS    HIST. 

Bugge  eiu  söhn  des  Verfassers  des  Yngiingatals,  den  man  also  mit  einem  älteren  dich- 
ter gleiches  namens,  der  zu  Harald  scbönhaars  zeiten  gelebt  haben  mag,  verwechselt 
hat.  Dieser  jüngere  t'jö|)olfr  or  Hvini  kann  dann  auch,  wie  die  isLändischen  quellen 
berichten,  auf  den  dänischen  jaii  Strutharald  (f  um  985)  gedichtet  und  für  l'orleifr 
spaki,  den  Zeitgenossen  von  Olaf  Tryggvason  und  Eiriki-  jarl,  die  Haustlgng  verfasst 
haben,  während  es  für  ausgeschlossen  gelten  muss,  dass  ein  skalde  Harald  schön- 
haar's  noch  gegen  ende  des  10.  Jahrhunderts  am  leben  war. 

Ich  meine  also,  das  wir  —  nicht  aus  sprachlichen  und  metrischen  gründen 
(diese  versagen,  wie  ich  oben  erwiesen  zu  haben  glaube,  den  dienst)  —  wol  aber  auf 
grund  historischer  und  litterarhistorischer  indicien  das  Tnglingatal  mit  Bugge  in  das 
10.  Jahrhundert  werden  versetzen  müssen.  Aber  ich  sehe  nicht,  dass  wir  dadurch 
genötigt  sind,  auch  für  die  fragmente  Bragis  eine  spätere  entstehungszeit  anzuneh- 
men, zumal  da  einzelne  spuren  altertümlicher  sprach-  und  versformen  in  ihnen  noch 
deutlich  sichtbar  sind^  Dass  in  den  eddischen  liedern  eine  einfachere  und  schmuck- 
losere darstellung  herrscht"-,  beweist  gar  nichts,  da  diese  lieder  und  die  skaldischen 
drottkvsettstrophen  ganz  incommensurable  grossen  sind  und  beide  dichtweisen  noch  lange 
neben  einander  herlaufen.  Übrigens  hege  ich  schon  seit  längerer  zeit  ernste  zweifei, 
ob  man  nicht  neuerdings  die  älteren  schichten  der  eddischen  lieder  zu  spät  datiert. 
Die  frage  würde  erledigt  sein,  wenn  die  behauptung  Zimmers,  dass  die  Nibelimgen- 
sage  in  ihrer  jüngeren  gestalt  bereits  gegen  ende  des  9.  Jahrhunderts  durch  nor- 
wegische Wikinger  nach  Irland  verpflanzt  worden  sei,  als  richtig  sicherwiese.  Aber 
die  parallelen  zwischen  irischer  und  nordischer  heldensage,  auf  welche  Zimmer  auf- 
merksam macht,  sind  nicht  zahlreich  und  nicht  charakteristisch  genug,  um  beweis- 
kräftig zu  sein:  auch  schiesst  er  augenscheinlich  in  seinem  eifer,  möglichst  viel  im 
ii'ischen    leben    und    dichten  auf    nordischen   einiluss   zurückzuführen,    über    das   ziel 

es  schwer  daran  zu  glauben,  dass  eine  so  rohe,  barbarische,  phrasenhafte  und  geistlose, 
von  den  gröbsten  zoten  wimmelnde  poesie  befruchtend  auf  die  skandinavische  sollte 
eingewirkt  haben.  Die.se  kann  keine  bessere  folie  empfangen,  als  die  irischen  „helden- 
sagen"  des  „älteren  kreises"  (man  vergleiche  z.  b.  die  schöne  geschichte  von  den  köni- 
ginnen  (!),  die  sich  dadurch  unterhalten,  dass  sie  einen  Schneehaufen  mingendo  zum 
schmelzen  bringen,  und  auf  diejenige,  die  in  diesem  geistreichen  sport  den  sieg  davon 
ti'äg-t,  so  eifersüchtig  werden,  dass  sie  sie  töten:  Ztschr.  f.  d.  alt.  32,  218).  Die  viel- 
gerähmte  „kultur'^  des  volkes  wird  ausserhalb  des  bereiches  der  klöster  nicht  gross 
gewesen  sein;  offenbar  war  das  pygmäengeschlecht  der  Iren  körperlich  und  geistig  den 
Germanen  nicht  gewachsen,  eine  inferiore,  für  fremdherrschaft  und  geistige  knech- 
tung  prädestinierte  rasse. 

1)  S.  Kvfejjabrot  Braga  ens  gamla  s.  8.  Gegen  zwei  von  den  dort  aufgestell- 
ten behauptungen  hat  Bugge  widersprach  erhoben:  das  von  mir  aus  dem  handschrift- 
lichen aptr  hergestelte  ajü,  das  ihm  1888  noch  plausibel  erschien  (Om  runeindskriften 
pan  Rökstenen  og  paa  Fonnaasspasnden  s.  6),  beanstandet  er  jetzt  wol  mit  recht  auf 
grund  der  von  Hj.  Falk  gemachten  einwendungen,  und  Ermenrekr  betrachtet  er  als 
eine  unnordische  namensform,  die  schon  bekann  tschaft  mit  der  südgermanischen  sage 
verrate  (?). 

2)  Gegen  die  auch  von  Bugge  (s.  111)  citierte  äusserung  von  Steenstrup,  der 
sich  daräber  wundeii,  dass  schon  um  850  die  norwegische  poesie  so  schwerfällige 
bilder  solle  gekannt  und  bei  den  zuhörern  eine  so  grosse  gelehrsamkeit  solle  voraus- 
gesetzt haben,  hat  schon  Gust.  Storni  (Kritiske  bidrag  til  vikingetidens  historie  s.  45) 
mit  recht  eingewandt,  dass  mau  nicht  a  priori  die  einfachere  poesie  für  die  ältere 
erklären  dürfe.  Sollte  das  ein  kritisches  princip  werden,  so  behauptet  vielleicht  ein 
gelehrter  des  3.  Jahrtausends,  dass  Goethe  und  Heine  vor  Hoifmannswaldau  gelebt 
haben. 


MÖGE,    ÜBER    WOLFSKEHL,    GERMANISCHE    WERBUNGSSAGEN  127 

hinaus*,  und  die  etymologischen  partien  verraten  liier  und  da  eine  ungenügende  kennt- 
nis  der  nordischen  spräche'-.  Es  wäre  aber  interessant  zu  erfahren,  wie  Bugge  zu 
der  hypothese  Zimmers  sich  stellt. 

Bugges  ausfiihrungen  haben  mich  also  nur-  teilweise  überzeugt.  Gleichwol 
stehe  ich  nicht  an,  sein  buch  zu  den  bedeutendsten  werken  zu  rechnen,  die  auf  dem 
gebiete  der  altnordischen  litteraturgeschichte  erschienen  sind,  da  er  eigentlich  zuerst 
die  frage  nach  der  echtheit  der  ältesten  norwegischen  skaldendichtungen  in  fluss 
gebracht  hat.  Die  zweifei,  die  andere  vor  ihm  geäussert  liaben,  wollen  wenig  besa- 
gen gegenüber  diesem  mit  der  ganzen  wucht  solider  gelehrsamkeit  und  kritischen 
Scharfsinns  unternommenen  angriffe.  Dass  die  gelegentlichen  bemerkungen  über  ein- 
zelne schwierigere  stellen  in  den  werken  altnordischer  dichter  sehr  vieles  richtige 
und  treffende  enthalten  und  das  Verständnis  dieser  poesie  erheblich  fördern,  sei  zum 
Schlüsse  noch  besonders  hervorgehoben^. 

1)  Zu  streichen  ist  z.  b.,  was  Zimmer  (Ztschr.  f.  d.  a.  32,  332)  über  nord- 
germanische züge  in  der  irischen  Ercoilsage  vorträgt:  das  isländische  hestavig  war 
etwas  ganz  anderes,  als  was  Weinhold  im  Altu.  leben  (auf  das  Zimmer  sich  beruft) 
daraus  macht. 

2)  So  operiert  er  z.  b.  in  seinem  versuche,  ir.  fiann  aus  altn.  fjändi  herzu- 
leiten (Ztschr.  f.  d.  a.  32,  92)  mit  der  lediglich  neuisländischen  pluralform  fendr; 
für  Ifpgäir,  Imgda  (ebda  s.  152)  wäre  lagäir,  lagSta  zu  setzen,  was  dem  ir.  Icegda 
rücht  mehr  genau  entspräche. 

3)  Ich  freue  mich  konstatieren  zu  können,  dass  die  s.  126  anm.  gegebene  erklä- 
rung  von  Strophe  6  der  Arinbjarnarkvi|)a  im  wesentlichen  mit  der  kürzlich  (Sagabibl. 
m,  310)  von  mir  vorgeschlagenen  zusammentrifft.  Dass  die  stelle  eine  anspielung 
auf  den  mythos  von  Q{)iun  und  GunnlgJ)  enthält,  dürfte  wol  nicht  mehr  bezweifelt 
werden.  Nur  in  der  erklärung  des  wertes  niaki  weichen  wir  von  einander  ab:  ich 
würde  Bugges  auffassuug  (als  der  einfacheren)  den  Vorzug  geben,  wenn  maki  in  der 
bedeutung  „codjux"  schon  im  altn.  nachweisbar  wäre. 

KIEL,    16.    DECBR.    1894.  HUGO    GERING. 


Germanische  werbungssagen.     Von  K.  Wolfskehl.     I.  Hugdietrich.     Jarl  Apol- 
lonius.     Darmstadt,  A.  Bergsträsser.  1893.     33  s.     1  m. 

Die  vorliegende  arbeit  ist  zunächst  nur  ein  aus  zwei  teilen  bestehendes  frag- 
inent,  das  jedoch  bereits  das  endziel  des  angekündigten  werkes  ahnen  lässt:  der  Ver- 
fasser will  die  germanischen  werbungssagen  aus  einem  altgermanischen  naturmythus 
erklären  und  in  engsten  Zusammenhang  mit  dem  nahanarvalischen  Dioskurenpaare  des 
Tacitus  bringen.  Im  ersten  teile,  in  dem  ganz  am  Schlüsse  die  Werbung  Hugdietrichs 
verarbeitet  wird,  soll  der  riese  Vasolt,  wie  er  uns  im  Eckenliede  und  bei  Caspar  von 
der  Ron  entgegentritt,  als  sturmdämon  erwiesen  werden,  dessen  kraft  in  seinem 
haupthaare  liegt,  in  dem  die  sturmgebärende,  flatternde  wölke  symbolisch  dargestelt 
sei;  durch  sein  „weibliches"  haar  sei  Vasolt  das  mythische  paraUelstück  zu  dem 
priester  jener  Dioskm-en,  der  tnuliebri  ornatu  geschmückt  war.  Mit  Vasolt  deckt 
sich  der  sturmgott  Odinn,  nur  dass  dieser  nirgends  mit  weiblichem  haare  erscheint. 
Aber  auch  dies  wird  aus  der  Überlieferung  herausconjiciert:  Odinn  ist  bei  Rindr  erst 
zum  ziele  gelangt,  als  er  in  weibsgestalt  zu  ihr  getreten  war;  diese  frauengestalt  ist 
aber  das  jüngere,  ursprünglich  waren  es  nur  die  weiblichen  haare,  durch  die  er  zu 
seinem  ziele  kam  (s.  23).  An  Odins  stelle  ist  in  der  süddeutschen  sage  Hugdietrich 
getreten,  der  die  Hildeburg  gewint,  indem  er  als  Jungfrau  verkleidet  bei  ihr  eindringt. 
Natürlich  wird  auch  die  Hartungensage  mit  verarbeitet.     Hier  baut  Wolfskehl   blind- 


128  JIRICZEK 

lings  auf  MüUenhoffs  deutung.  —  Der  Verfasser  ist  unstreitig  in  der  litteratur  seines 
themas  ■wol  bewandert,  allein  ihm  fehlt  ein  weiterer  blick  und  mit  ihm  die  wün- 
schenswerte kritik  der  quellen  und  der  litteratui-.  Seiner  metbode  vermag  ich  eben- 
sowenig beizustimmen  wie  dem  resultate  seiner  forschuug. 

Im  zw^eiten  stück  (Jarl  Apollonius)  wird  das  gedieht  „vom  Weltweib''  (Hoff- 
mann, Hör.  belg.  11  nr.  14)  mit  der  ApoUoniussage  in  der  I^idrikssaga  zusammen- 
gebracht. Ich  halte  diesen  beweis  für  gelungen.  Die  tatsache  lässt  sich  auch 
geschichtlich  leicht  erklären :  das  niederdeutsche  lied  oder  die  sage ,  aus  der  es  geflos- 
sen, kam  mit  anderen  Stoffen  nach  Norwegen,  wo  sie  der  sagaschreiber  an  die  Iron- 
sage  angeknüpft  hat.  Dagegen  mythischen  hintergrund  hier  zu  wittern,  halte  ich  für 
ebensowenig  angebracht  wie  in  der  Hugdietrichsage. 

LEIPZIG.  E.    MÖGE. 


Die  spräche  der  skalden  auf  grund  der  binnen-  und  endreime,  verbunden  mit 
einem  rimarium  von  Bernhard  Kahle.  Strassburg,  Karl  J.  Trübner.  1892.  VKI 
und  303  s.     7  m. 

Das  buch  Kahles  zerfällt  in  zwei  teile:  einen  darstellenden,  'der  nach  einem 
einleitenden  kapitel  über  die  reimtechnik  der  skalden  in  drei  abschnitten  vokalismus, 
konsonantismus  und  einigte  punkte  der  formenlehre  behandelt  und  dann  auf  zwei  sel- 
ten die  ergebnisse  zieht,  und  einen  statistischen,  das  rimarium,  das  von  seite  93  bis 
zum  Schlüsse  des  buches  reicht.  In  dem  kapitel  über  die  reimtechnik  konstatiert 
Kahle  zunächst  auf  grund  statistischer  tabellen  das  allmähliche  seltenerwerden  der 
vollreime  in  den  ungeraden  verszeilen  und  analysiert  dann  die  reimbindungen  der 
konsonanten,  zunächst  nach  der  zahl  der  gebundenen  konsonanten  (einfacher  konso- 
nant:  einfachem  konsonanten,  einfacher  konsonant:  erstem  konsonanten  einer  gruppe, 
usw.),  dann  nach  der  art  der  konsonanten  (muta:  muta  -f-  liqu. ,  usw.),  woran  sich 
belege  für  die  bindung  tonloser  und  tönender  konsonanten  schliessen.  Die  dankens- 
werten und  fleissigen  Zusammenstellungen  leiden  nur  daran,  dass  das  mduktionsma- 
terial  nicht  vollständig  ist;  eine  auswahl  von  fünf  skalden  aus  dem  11.  bis  14.  Jahr- 
hundert, wae  sie  z.  b.  Kahle  bei  der  imtersuchung  über  das  abnehmen  des  voUreimes 
an  ungeraden  stellen  zu  gründe  legt,  gewährt  doch  wol  nui'  unsichere  Schlüsse.  Auch 
die  druck-  oder  rechenfehler  sind  störend,  die  in  den  statistischen  tabeUen  schlimm 
gehaust  haben;  so  z.  b.  ergibt  die  Zusammenstellung  unter  1)  in  der  tabelle  auf 
Seite  6  nicht  560,  sondern  554,  wodurch  die  procentzahl  von  10,71  auf  10,83  steigt; 
die  summe  80  unter  1)  auf  seite  12  oben  stimmt  weder  mit  den  einzelnotierungen 
des  Verfassers,  denn  diese  geben  addiert  75,  noch  mit  der  wirklichen  zahl  der  fälle, 
denn  bei  pjöpölfr  hvinverski  ist  10  zu  14  zu  korrigieren  und  die  gesammtsumme 
beträgt  alsdann  79;  und  dergleichen  noch  öfter.  Wer  also  in  die  läge  kommt,  sich 
dieser  statistischen  tabellen  bei  einer  arbeit  zu  bedienen,  der  wird  nicht  umhin  kön- 
nen, fleissig  nachzuaddieren  und  procente  zu  berechnen,  was  füi'  einen  philologeu 
nicht  immer  die  angenehmste  arbeit  sein  dürfte.  Auch  die  citatenziffern  sind  von 
di'uckfehlern  nicht  frei;  so  begegnen  z.  b.  unter  den  wenigen  citaten  aus  Wisen  in 
tabelle  XI  (s.  23)  die  fehler  flo  (sie):  tiva  pjöß  hv.  Wis.  19  statt  9,  seite  24  zeile  2 
14  für  15,  und  auch  andere  druckfehler  haben  sich  eingeschlichen:  Brage,  Ragu.  dr. 
2,  3  heisst  es  bei  Wisen  mcere,  nicht  niceve;  leißißir  1.  leißipir  (im  zweitnächsten 
citat);  für  Skdl.  in  zeile  2  der  tabeUe  (sub  a)  muss  Skül.  stehen,  wie  überhaupt  mit 
den  abbreviaturen  Ein.  Skdl.  [Einarr  skälaglamm]  und  Ein.  Skül.  [Einarr  Skülason] 


tJBER   KÄHLF.,    SPRACHE   DEK    SKALDEN  129 

der  druckfehlertoufel  seiü  böses  spiel  getrieben  liat;  ich  notiere  nur  aus  dem  ersten 
kapitel,  dass  s.  16  Skid,  für  Skäl.  steht,  ebenso  s.  18  z.  5,  umgekehrt  Skdl.  für 
Skid.  s.  19  oben,  s.  21  sub  IX  a  [wo  es  übrigens  Wis.  58  heissen  muss],  s.  23,  s.  27 
z.  9  und  13.  —  Die  unioiTektheit  des  dructes  betiifft  übrigens  gleichmässig  das 
ganze  buch,  und  es  darf  in  dieser  beziehung  fast  als  ominös  angesehen  werden,  dass 
dem  leser  gleich  auf  einer  der  ersten  selten  unter  anderen  kleinen  fehlem  die  merk- 
würdige gleichung  „Yg  =  erste  hälfte"  entgegentritt!  Die  Unsicherheit,  die  den 
benutzer  des  buches  zwingt,  jedes  citat  nachzuschlagen,  ist  bei  einem  werke,  dessen 
grösster  teil  als  nachschlagebuch  dienen  soll,  unangenehm,  und  im  Interesse  des  Ver- 
fassers, von  dessen  fleiss  und  ehrhchem  streben  die  ganze  mühsame  arbeit  zeugt, 
muss  man  diese  äusseren  mängel,  die  sich  bei  genauer  korrektur  hätten  vermeiden 
lassen,  beklagen.  Um  biUig  zu  sein,  darf  man  allerdings  nicht  vergessen,  welche 
Schwierigkeiten  die  korrektur  einer  aus  tausenden  von  citaten  bestehenden  arbeit 
bereitet. 

Die  Kapitel  II  —  IV  beschäftigen  sich  mit  den  folgerungen,    die  sich  für  die 
grammatik,    specieU  die  lautlehre  aus  den  reimen  ergeben;   Kahle  geht  ausführlich 
auf  die  fragen  des  ic-  und  «'-Umlaufes  ein,   und  gibt  ein  (allerdings  kaum  ganz  hin- 
reichendes)  resume   über   die   schwankenden  und  widerstreitenden    erkhü-ungen  und 
Untersuchungen  des  problems,  wobei  er  sich  hauptsächhch  Wadstein  anschliesst.     Es 
folgt  die  behau dlung  der  brechung  und  einiger  anderer  vokaüscher  probleme,  wobei  — 
wie  überhaupt  in  diesem  tapitel  —  das  durcheinander  historisch -polemischer  betrach- 
tungen  und  der  darstelhmg  des  in  skaldenreimen  gegebenen  materials  vielleicht  imver- 
meidlich  war,  aber  die  Übersicht  über  die  tatsächlichen  Verhältnisse  etwas  unbequem 
macht.     Kürzer  und  übersichtlicher  ist  der  konsonantismus  behandelt,  auffallend  kurz 
das   „Aus  der  formenlehre"  überschriebene  kapitel.     Gerade  an  diesem  letzten  zeigt 
sich,    dass  die  spräche  der  skalden  nicht  auf  grand  der  binnen-  und  endreime  allein 
dargestellt  werden  kann,    sondern  zum  mindesten  auch  die  Zeugnisse  der  metrik  ein- 
gezogen werden  müssen;  und  damit  ist  der  schwache  punkt  in  der  anläge  des  ganzen 
Werkes  berührt:    die  allzu  kleine  basis,    auf  der  sich  das  gebäude  einer  darsteUung 
der  skaldensprache ,    mit  andern  worten    der  norwegisch  -  isländischen  sprachentwick- 
lung  in  einer  zeit,    für  die  uns  die  skaldenfragmente  (und  Eddagedichte)  fast  allein 
auskimft  geben,    erheben  soll.     Und  ist  diese  enge  basis  (die  der  Verfasser  übrigens 
noch  enger  gezogen  hat  als  es  wünschenswert  wäre ,  denn  er  berücksichtigt  ohne  ersicht- 
lichen giaind  nicht  das  ganze  überheferte  material)  auch  ausreichend  gesichert?    Bei 
Untersuchungen,  wie  die  in  Kahles  buche  angestellten  sindl,    muss  die  textkritik  eine 
vollkommen  gesicherte  grundlage  bereits  geliefert  haben,  ehe  eine  auf  formelle  beob- 
achtung  gegiiindete    ableitung    sprachhistorischer    resultate    beginnen    kann.     Wisens 
Carmina  Norr«na  sowie    die  Unger'schen  ausgaben  der  Heimskringla  imd  Konunga- 
sögur  können  diesen  ansprach  nicht  erheben;  ehe  aber  eine  ausgäbe  der  skalden  mit 
vollständigem   kritischen   apparat   vorliegt,    ist   es   überhaupt   fraglich,    ob   ein   ver- 
such,   die    spräche    der   skalden    darzustellen ,- zu   abschliessenden   resultaten  führen 
kann.     Die  antwort  wird  wol  im  allgemeinen  verneinend  ausfallen,  und  damit  ergibt 
sich  auch  ein  billiges  urteil  über  die  schwachen  selten  von  Kahles  versuch;  der  dar- 
stellende teil  muss  schon  wegen  der  beschaffenheit  des  benutzten  materials  an  wert 
hinter  dem  Rimarium  zurückstehen,   und  die  beständige  bezugnahme  auf  sprachhisto- 
rische theoreme,   die  in  ihi-em  umfange  weit  über  das  gebiet  der  skaldensprache  hin- 
ausreichen, zeigt  am  deutlichsten,  dass  die  meisten  der  hier  berühi-ten  probleme  ihre 
lösung   nicht   auf   diesem    engbegrenzten   gebiete  finden    können.     Unbillig  wäre  es, 

ZEITSCHRIFT    F.    DEUTSCHE   PHILOLOGIE.     BD.   XXVIH.  9 


130  feERiJHAtlt)* 

darüber  die  anerkennung  für  den  fleiss  und  die  ehrliche  mühe,  die  sich  der  Verfas- 
ser gegeben  hat,  zu  vergessen,  und  den  nutzen  unbetont  zu  lassen,  den  das  Eimarium 
für  grammatische  und  metrische  zwecke  bietet ;  ganz  leicht  zu  heben  sind  freilich 
seine  schätze  nicht,  denn  auch  hier  muss  der  benutzer  erst  die  nachprüfung  der 
citate  und  richtigstellung  der  nicht  seltenen  druckfehler  vornehmen ,  und  kein  register 
hilft  dem  benutzer,  der  aus  der  menge  gleichgiltiger  belege  diejenigen  hervorsuchen 
will,  die  etwa  über  das  vorkommen  von  doppelformen  (wie  z.  b.  fr  am  und  franim, 
fyräar  und  firäar  usw.)  auskunft  geben,  oder  sonstwie  wert  für  die  beleuchtung 
einer  wortform  oder  grammatischen  erscheinung  besitzen.  Ein  solches  Wortregister, 
das  die  stellen  anführte,  an  denen  ein  wort  nach  seinen  verschiedenen  grammatischen 
Seiten  behandelt  ist,  würde  viel  dazu  beitragen,  die  wertvollen  belege  und  erörte- 
terungen,  die  sich  zu  einzelnen  formen  und  glossen  in  dem  buche  finden,  hervorzu- 
heben und  leichter  zugänglich  zu  machen;  es  wüi'de  vielleicht  auch  bei  der  arbeit 
selbst  den  Verfasser  auf  manche  versehen  aufmerksam  gemacht  haben,  die  sich  bei 
der  isolierten  betrachtung  der  einzelnen  verszeilen  eingeschlichen  haben  (vgl.  z.  b. 
die  bemerkungen  Finnur  Jonssons  Ark.  f.  nord.  fil.  IX,  384),  ihn  manches  haben 
scheiden  lassen,  was  nach  der  reimrubrik  jetzt  zusammengeworfen  steht  (so  z.  b. 
vermindert  sich  die  zahl  der  beweissteilen  für  J  als  spirans  auf  s.  69  um  die  fälle, 
wo  g  intervokalisch  vor  palatalen  vokalen  steht;  sowol  die  Schreibungen  isländischer 
handschriften  (z.  b.  seiir)  als  auch  die  moderne  ausspräche,  die  ein  so  feiner  pho- 
netiker  wie  Henry  Sweet  in  diesen  fällen  konstant  als  halbvokal,  nicht  als  spirans 
notiert  —  vgl.  z.  b.  die  Specimens  of  Icelandic  in  seinem  Handbook  of  Phonetics  — 
machen  rätlich,  diese  fälle  von  den  übrigen  abzusondern)  u.  dgl.  m.  Seit  dem 
erscheinen  des  buches  sind  teils  direkt  durch  recensionen  berufenerer  fachmänuer, 
als  referent  es  ist,  teils  indirekt  durch  verschiedene  abhandlungen  und  werke,  von 
denen  besonders  Gislasons  Udvalg  af  oldnordiske  skjaldekvad  zu  nennen  ist,  ver- 
schiedene einzelheiten  im  darstellenden  teile  korrigiert  und  überholt  worden;  dieser 
umstand  verwehrt  mir,  der  ich  erst  in  letzter  stunde  als  ersatzmann  die  anzeige  des 
buches  ühernommen  habe,  vom  heutigen  bereicherten  Standpunkte  unsres  wisscns 
aus  ein  vor  di'ei  jähren  erschienenes  buch  in  einzelheiten  zu  kritisieren,  über  die  der 
Verfasser  selbst  inzwischen  seine  meinung  berichtigt  haben  dürfte.  Es  liegt  in  der 
art  eines  solchen  grammatisch -statistischen  Werkes,  dass  seine  mängel  mehr  ins  äuge 
fallen  als  der  nutzen,  den  es  gewährt.  Dieser  nutzen  wäre  noch  grösser  gewesen, 
wenn  der  Verfasser  das  ganze  material  in  sein  Eimarium  aufgenommen  hätte;  doch 
auch  so  bleibt  neben  dem  verfrühten  und  unzulänghchen  in  der  arbeit  der  wert  der 
tatsächlichen  beobachtungen  und  belege  bestehen  und  gibt  dem  Verfasser  das  anrecht 
auf  dankbare  anerkennung  seiner  mühe. 

BRESLAU.  0.    JIRICZEK. 

über  den  einfluss  des  hauptsatzes  auf  den  modus  des  nebensatzes  im 
gotischen.  Von  prof.  dr.  V.  E.  Mourek.  Aus  den  Sitzungsberichten  der  königl. 
böhmischen  gesellschaft  der  Wissenschaften;  vorgelegt  am  5.  december  1892  (s.  263 
bis  296). 

In  meiner  abhandlung  „Der  gotische  Optativ"  (Ztschr.  YIII,  1  —  38)  habe  ich 
in  bezug  auf  deL  einfluss  des  hauptsatzes  auf  den  modus  des  nebensatzes  folgende 
regeln  aufgestellt: 

1.  (Bedingungssatz.)  Fällt  die  bedingung  in  die  zukunft,  oder  widerholt  sich 
dieselbe  in  gegenwart  und  zukunft,  und  enthält  der  hauptsatz  den  imperativ  oder  den 


ÜBER  M0URE6,  GOt.  MODÜSLEHRE  l3l 

adliortativus,  oder  ist  er  selbst  ein  fmalsatz  im  Optativ,  so  schien  dem  Goten  auch 
die  bedingung,  von  der  jener  abhängt,  in  die  spliäre  des  gedachten  zu  gehören,  und 
der  Sprachgebrauch  erforderte  den  Optativ.  Dasselbe  gesetz  gilt  von  den  relativ-  und 
temporalsätzen  und  ist  auch  im  ahd.  in  kraft  (s.  26). 

2.  (Relativsatz.)  Häufiger  findet  sich,  wie  im  ahd.,  der  Optativ  in  solchen 
relativsätzen,  die  einen  künftigen  oder  in  gegenwart  und  Zukunft  sich  widerholenden 
fall  bezeichnen,  an  den,  wie  an  eine  bedingung,  das  eintreten  der  handlung  des 
hauptsatzes  geknüpft  ist;  an  die  stelle  des  saei  könnte  jabal  has  treten,  und  im 
griechischen  steht  oder  müsste  doch  nach  dem  klassischen  sprachgebrauche  «V  mit 
dem  conjunctiv  stehen.  Auf  diese  relativsätze  also  findet  die  regel  der  bedingungssätze 
anwendung:  sie  stehen  bei  nachfolgendem  (richtiger  „übergeordnetem")  imperativ, 
adhortativus  und  bei  übergeordnetem  finalsatze  im  optativ.  Doch  ist  wahrzunehmen, 
dass  die  regel  nicht  ganz  so  streng  durchgeführt  ist,  wie  bei  den  bedingungssätzen 
(s.  33). 

3.  Der  optativ  steht  ferner  ausnahmelos  im  relativsätze,  wie  im  ahd.,  wenn 
die  existenz  des  im  relativsätze  umschriebenen  begriifes  durch  eine  negation  im 
hauptsatze  geleugnet  oder  durch  die  fragende  (hypothetische)  form  desselben  als 
unsicher  hingestellt  wird  (s.  35). 

4.  (Temporalsatz.)  Ganz  wie  im  bedingungs-  und  relativsätze  steht  der  opta- 
tiv bei  bipe  und  pan,  wenn  der  hauptsatz  eine  aufforderung  enthält  oder  ein  finalsatz 
übergeordnet  ist  und  der  nebensatz  ein  einzelnes  künftiges  oder  in  gegenwart  und 
Zukunft  sich  widerholendes  ereignis  bezeichnet  (s.  37). 

Ganz  ähnliche  sprachliche  erscheinungen  hat  0.  Erdmann  bei  Otfrid  und  ande- 
ren ahd.  Schriftstellern,  auch  im  mhd.,  teilweise  sogar  im  nhd.  nachgewiesen,  s.  Unter- 
suchungen über  die  syntax  Otfrids  §  232  fgg. ;  Grundzüge  der  deutschen  sjTitax  §  192 
fgg.  Vgl.  auch  für  das  mhd.  Bock,  QF.  27  (Strassburg  1878);  Weingartner, 
Programm  Troppau  1881,  sowie  die  eingehenden  Untersuchungen  von  Ullsperger, 
Programme  des  staatsgymnasiums  in   Smichow  1884 — 1886. 

Gegen  meine  aufstellungen  wendet  sich  der  in  der  Überschrift  bezeichnete  auf- 
satz  Moureks.  Monrek  leugnet  zwar  die  „assimilierende"  kraft  des  Optativs  im 
hauptsatze  nicht  ganz,  schreibt  ihr  aber  geringe  Wirksamkeit  zu;  zur  erklärung  des 
Optativs  im  nebensatze  komme  man  überall  mit  dessen  eignen  umständen  aus.  Dem 
imperativ  im  hauptsatze  erkennt  er  eine  einwirkung  auf  den  modus  des  hauptsatzes 
gar  nicht  zu,  der  negation  nur  eine  beschränkte. 

Seine  darlegung  hat  mich  nicht  überzeugt,  und  es  liegt  mir  ob,  das,  was  ich 
vor  17  Jahren  behauptet  habe  und  noch  für  richtig  halte,  zu  verteidigen.  Zuvörderst 
ein  Zugeständnis:  um  möglichen  misverständnissen  vorzubeugen,  hätte  ich  auf  s.  26 
vielleicht  das  dort  aufgestellte  gesetz  so  fassen  sollen:  Fällt  die  bedingung  in  eine 
noch  nicht  gewisse  Zukunft  oder  widerholt  sich  dieselbe  in  gegenwart  und  Zukunft, 
und  enthält  der  hauptsatz  den  imperativ  oder  den  adhortativus,  oder  ist  er  selbst  ein 
finalsatz  im  optativ,  so  pflegt  der  Gote  im  nebensatz,  wenn  dessen  Inhalt  es 
gestattet,  den  optativ  zu  setzen.  Dass  ich  nicht  meinte,  der  optativ  stehe  auch  im 
widerspruclie  mit  der  beschaffenheit  des  nebensatzes  und  mit  der  logik,  ergibt  sich 
übrigens  aus  meiner  darstellung  auf  s.  27  von  selbst. 

Eine  erklärung  der  erscheinung  versucht  Erdmann  in  den  Grundzügeu  §  196. 
Ich  möchte  noch  einen  versuch  zur  erwägung  geben.  Wilmanns  gibt  in  seiner  Deut- 
schen grammatik  s.  194  folgende  erklärung  des  Timlauts:  Das  i  wurde  in  der  weise 
in  die  Stammsilbe  aufgenommen,  dass  die  zuuge,  noch  ehe  sie  den  trennenden  konso- 

9  * 


132  BERNHARDT 

nanten  artikulierte,  schon  die  Stellung,  die  das  *  verlangte,  einzunehmen  trachtete. 
"Was  hier  auf  phonetischem  gebiete  vorgieng,  könnte  sich  auch  auf  dem  logischen 
ereignet  haben;  nämlich  der  dem  gebiete  des  vorgestellten  angehörige,  fast  immer 
nachfolgende  hauptsatz  könnte  den  nebensatz  in  dies  gebiet  hineingezogen  haben. 
Freilich  darf  man  sich  den  Vorgang  nicht  als  ganz  unbewusst  denken;  das  beweisen 
die  wol  überlegten,  von  mir  auf  s.  27.  34  angeführten  ausnahmen. 

Mourek  handelt  zuerst  von  den  bedingungssätzen.  Den  s.  36  von  mir 
angeführten  belegen  für  das  aufgestellte  gesetz  habe  ich  11  ausnahmen  gegenüber- 
gestellt, die  teils  darauf  beruhen,  dass  die  bedingung  zweifellos  tatsächlich  ist  (z.  b. 
Joh.  XVIII,  8  jahai  nu  mik  sokeip,  let/'ß  paus  gaggan  ü  —  LrinTTt),  wohin  die  fäUe 
mit  dem  Präteritum  gehören  (z.  b.  Eöm.  XI,  17  jabai  simiai  pize  aste  usbrnknode- 
dun,  ip  pu  intrusgips  tcarst  —  ni  Ivop  ana  paus  astans),  oder  dass  sie,  entspre- 
chend der  ansieht  des  angeredeten,  für  den  augenblick  als  tatsächlich  angenommen 
wird  (hierher  auch  das  von  mir  übersehene  Mt.  XXVII,  42),  teils,  wie  ich  damals 
annahm,  auf  nachlässigkeit  des  Übersetzers  oder  unrichtiger  Überlieferung  zurückzu- 
führen sind  (Eöm.  Xni,  4.  I.  Kor.  VII,  12  gatcilja  ist.  11.  Kor.  X,  7;  bei  über- 
geordnetem finalsatze  IL  Kor.  IX,  4).  Mourek  hat  noch  drei  weitere,  von  mir  über- 
sehene stellen  dieser  art  nachgewiesen  (I.  Kor.  VII,  15.  21.  Gal.  V,  15).  Sehen  wir 
von  den  fällen  wirklicher  oder  angenommener  tatsächlichkeit  ab,  so  stehen  den  36 
von  mir  gegebenen  belegen  7  ausnahmen  gegenüber;  meine  behauptung  (s.  27)  „die 
ausnahmen  sind  selten"  dürfte  demnach  unanfechtbar  sein.  Über  einige  von  Mourek 
falsch  ausgelegte  stellen  s.  unten. 

Über  die  ausnahmen  darf  man  sich  nicht  wundem;  sie  stehen  in  gleicher  reihe 
mit  manchen  anderen  grammatischen  Unregelmässigkeiten  der  gotischen  Übersetzung. 
Wulfila  fand  keine  litteraiisch  durchgebildete  und  gefestigte  spräche  vor;  wenn  er 
nicht  überall  mit  strenger  folgerichtigkeit  verfährt,  so  ist  sein  werk  im  ganzen  darum 
mcht  weniger  der  bewunderung  wert.  Vielleicht  ist  daher  der  verdacht  imrichtiger 
Überlieferung  für  jene  stellen  unbegründet. 

Neben  diesen  ausnahmen  fühi't  Mourek  als  beweis  gegen  das  von  mir  aufge- 
stellte gesetz  ferner  an,  dass  der  modus  des  nebensatzes  neben  imperativischem  haupt- 
satze  bisweilen  wechsele,  welche  fälle  ich  auf  s.  27  einzeln  erklärt  habe;  ferner,  dass 
sich  der  optativ  des  nebensatzes  auch  bei  indicativ  im  hauptsatze  finde  (s.  meine 
abhandlung  s.  24),  was  niemand  als  beweis  gegen  meine  ausführungen  ansehen  wird; 
endlich,  dass  der  optativ  des  nebensatzes  in  allen  fällen  aus  dessen  eigner  beschaf- 
fenheit  erklärbar  sei:  er  sei  entweder  euktiv  (d.  h.  er  drücke,  neben  der  bedingung, 
den  wünsch  des  redenden  aus),  oder  dubitativ  (d.  h.  er  stelle  die  bedingung  als 
zweifelhaft  hin),  oder  potential.  Die  beiden  letzten  kategorien  fallen  im  gründe 
zusammen;  die  erste  erkenne  ich  nicht  an:  ich  glaube  nicht,  dass  ein  bedingimgssatz 
seiner  form  nach  so  gestaltet  werden  könne,  dass  daraus  der  wünsch  des  reden- 
den, die  bedingung  )nöge  sich  verwirklichen,  zu  erkennen  sei.  „Euktiv"  soll  z.  b. 
sein  Mc.  IX,  22  Jabai  mageis,  hilj:)  unsara;  wenn  ich  Mourek  recht  verstehe,  soU 
also  jabai  mageis  dort  bedeuten:  „wenn  du  kannst —  und,  dass  du  könnest,  wünschen 
wir."  Dies  halte  ich  für  undenkbar.  Auf  solche  weise  erkläi't  Moui-ek  Joh.  XII,  26, 
eine  stelle,  die  ich  als  deutlichen  beweis  für  den  einfluss  des  adhoiiativus  her- 
vorgehoben hatte:  y, jabai  niis  Ivas  andbahtjai  (und  das  wünsche  ich),  mik  laist- 
jai  —  jah  jabai  has  mis  andbahteip  (ob  er's  tut  oder  nicht,  ist  seine  Sache, 
ich  will  es  nicht  entscheiden,  aber  sicher  ist:)  swcraip  ina  atta.'^  Ist  das  artd- 
bahtjan  an  zweiter  stelle  wemger  wünschenswert,    als  au  der  ersten?     Woher  denn 


ÜBER   MOUREK,    GOT.    MODÜSLEHEE  133 

die  verschiedene  Wendung  des  gedankens,  wenn  nicht  der  einfluss  der  verschieden 
gestalteten  hauptsätze  siö  hervorrief? 

Potential,  d.  h.  subjektive  annähme  und  ungewissheit  über  das  eintreten  der 
bedingung  ausdrückend,  ist  der  optativ  des  nebensatzes  in  allen  diesen  fällen.  Ob 
er  auch  „ironisch  potential"  sein  könne  [jabai  has  habai  ausona  hausjandona 
„wenn  jemand  etwa  obren  hat  zum  hören  —  und  er  düi'fte  sie  wol  haben"  s.  272) 
ist  mir  sehr  zweifelhaft. 

Drei  stellen,  die  Mourek  unter  den  ausnahmen  aufführt,  hat  er  entschieden 
falsch  aufgefasst.  Zu  Joh.  IX,  22  gaqepun  sis  Judaieis,  ei,  jabai  has  ina  and- 
haihaiti  Xristu,  titana  synagogais  wairpai  bemerkt  er,  jabai  has  andhaihaiti  sei  ein 
irrealer  Vordersatz,  was  undenkbar  ist;  in  direkter  rede  würde  es  heissen:  jabai  has 
ina  andhaitai  —  wairpai.  ü.  Kor.  XI,  20  {uspulaip,  jabai  has  i^vvis  gapiwaip 
gehört  nicht  unter  die  ausnahmen  von  meiner  regel,  denn  uspulaip  ist,  wie  das 
griechische  uvs/tadt  yÜQ  beweist,  indicativ.  II.  Kor.  XIII,  5  gehört  ebenso  wenig 
dazu;  der  satz  mit  nibai  (nisi  forte  — )  ist  von  den  imperativen  fraisip  und  kauseip 
durch  einen  Zwischensatz  getrennt,  so  dass  jene  keinen  einfluss  üben  konnten. 

Auf  s.  271  'snrft  mir  Mourek  Widerspruch  vor;  y^jabai  mit  optativ",  sagte  ich 
s.  24,  „bezeichnet  die  becUngung  als  rein  gedacht;  ob  sie  sich  verwirklichen  kann 
oder  nicht,  kommt  nicht  in  betracht."  Dies  soll  sich  mit  s.  2  nicht  vereinigen:  „Es 
findet  (beim  optativ)  ein  subjektiver  anteil  des  redenden  von  grösserer  oder  geringe- 
rer stärke  statt,  durch  welchen  sich  die  aussage  als  wünsch,  geheiss,  Vermutung 
oder  annähme  darstellt."  Unter  „annähme"  verstand  und  verstehe  ich,  was  ich  s.  24 
als  „rein  gedacht"  bezeichnete,  z.  b.  ti  tu  tihqu  rolg  ülloig  eiSeirjg  xuxk,  äa/xevoe 
t^oig  iiv,  NixoqGiv,  il  vOv  f/tt,g  (denken  wir  uns  einmal,  nehmen  wir  an,  dass  — ). 
Über  den  unterschied  dieser  satzart  von  jabai  =  ti  mit  indicativ  (eines  haupttempus) 
möge  sich  Mourek  aus  einer  beliebigen  schulgrammatik ,  z.  b.  der  griechischen  von 
Curtius  §  536.  546,  oder  aus  meiner  gotischen  §  182  unterrichten.  Bei  seiner  defini- 
tion  der  letztgenannten  satzform  (s.  268)  vermisse  ich  klarheit. 

Ich  gebe  noch  folgende  zalilen  zur  erwägung:  jabai  mit  indicativ  des  präsens 
findet  sich  nach  Schulze  Glossar  136 mal,  teils  giiechischem  al  mit  indicativ  des  prae- 
sens, teils  idv  mit  conjunctiv  des  praesens  oder  aorists  entsprechend.  Mit  dem  opta- 
tiv des  praesens  steht  jabai  48 mal;  danmter  36 mal  so,  dass  imperativ  oder  adJior- 
tativus  oder  ein  finalsatz  im  optativ  übergeordnet  ist;  da  ist  doch  wol  der  schluss 
gerechtfertigt,  dass  nicht  zufall  gewaltet  hat,  sondern  ein  sprachliches  gesetz  vorliegt. 

Im  zweiten  abschnitt  redet  Mourek  von  den  relativsätzen.  Wie  ich  auf 
s.  32  deutlich  gesagt  habe,  handelt  es  sich  dabei  mn  die  relativsätze ,  die  einen  künf- 
tigen oder  in  gegenwart  und  Zukunft  sich  widerholenden  fall  bezeichnen  und  durch 
einen  bedingungssatz  ersetzt  werden  können.  Den  unterschied  zwischen  Sätzen,  wie 
„wer  gestohlen  hat,  ist  ehrlos"  und  „dieser  mann,  der  gestohlen  hat,  ist  ehrlos" 
scheint  aber  Mourek  nicht  anzuerkennen;  indem  er  es  unternimmt  meine  regel,  dass 
jene  hj^othetischen  relativsätze  im  optativ  stehen,  wenn  ein  imperativ  oder  adhorta- 
tivus  oder  finaler  optativ  übergeordnet  sei,  zu  widerlegen  („von  einer  solchen  regel 
kann  gar  nicht  die  rede  sein"),  führt  er  eine  menge  von  beispielen  an,  die  gar  nicht 
hierhin  gehören,  weil  der  relativsatz  teils  tatsächliches  aus  der  gegenwart  enthält, 
teils  sogar  vergangenes  bezeichnet;  diese  stellen  soUen  beweisen,  dass  der  modus  des 
hauptsatzes  ohne  einfluss  sei!  Schon  sein  erster  beleg  gehört  nicht  hierher:  in  Mt.  X,  27 
patei  qipa  izwis  in  riqi%a,  qipaip  in  liuhada  (o  Hym,  nicht  «  uv  h'yw)  bedeutet 
patei  qipa  ixtcis  „das,    was  ich  euch  (jetzt  tatsächlich)    sage",  nicht   „was  ich  euch 


134  BERNHARDT 

künftig  etwa  sagen  werde."  Ebenso  unrichtig  ist  das  zweite  beispiel  gewählt,  mit 
dem  praeteritum :  Mc.  I,  44  athair  fravi  gahraineinai  peiiiai  patei  anabau])  Moses. 
Moureks  auf  solche  belege  begriindete  beweisfühi'ung  ist  daher  durchaus  hinfällig. 
Dass  das  gesetz  nicht  ohne  ausnähme  durchgeführt  ist,  dass  zuweilen,  wo  man  den 
Optativ  erwartet,  der  futurische  indicativ  des  praesens  steht,  habe  ich  selbst  s.  34 
anerkannt. 

Auch  dass  bei  übergeordnetem  finalsatze  im  relativsatze  der  optativ  stehe, 
leugnet  Mourek;  aber  auch  hier  hat  er  seine  belege  zum  teil  übel  gewählt.  In 
Joh.  V,  36  {po  waurstwa,  poei  atgaf  viis  atta,  ei  ik  iattjau  po)  ist  nicht  der  final- 
satz,  sondern  der  relativsatz  übergeordnet.  In  Kol.  IV,  16  (aipistaule)  poei  ist  us 
Laudeilcaion  {ei)  jus  iissiggivaid  liegt  kein  hypothetischer  relativsatz  vor;  ebenso 
wenig  Mc.  X,  35.  II.  Kor.  XII,  6.  I.  Thess.  IV,  12.  Mehrere  belege  waren  am 
praeteritum  als  nicht  hierher  gehörig  auf  den  ersten  blick  zu  erkennen. 

Bei  Moureks  eigener  erklärung  der  optative  wird  der  euktiv  wider  mit  heran- 
gezogen, z.  b.  Phil.  3,  15  swa  managai  sive  sijaima  fullawitans,  pata  hugjaitna 
(also  „aUe,  die  wir  vollkommen  sind",  mit  dem  nebengedanken  „dass  wir  es  doch 
alle  wären?").  In  I.  Thess.  V,  21  pata  gop  sijai  gahabaip  soll  sijai  potential,  in 
Eph.  V,  10  galciiisandans  patei  sijai  ^cailagaleikaip  fraujin  dubitativ  sein;  ich  ver- 
mag keinen  unterschied  zu  erkennen. 

Noch  auffallender  als  in  deu  bisher  besprochenen  abschnitten  tritt  Unklarheit 
des  grammatischen  wissens  und  denkens  in  dem  hervor,  was  Mourek  über  den  opta- 
tiv nach  negativem  hauptsatze  sagt.  In  dem  satze  Luc.  I,  61  ni  ainshun  ist  in 
kunja  peinanima  saei  haitaidau  panuiia  namin  trifft  die  negatiou  den  Inhalt  des 
nebensatzes:  das  nennen  mit  diesem  namen  findet  nicht  statt.  Dagegen  Mt.  X,  37 
saei  frijop  attan  seinana  aippau  aipein  seina  ufar  mik,  nist  meina  tvairps  trifft 
sie  ihn  nicht:  es  sind  ja  fälle  vorhanden,  in  deuen  das  mehr -lieben  stattfindet,  vgl. 
Joh.  XII,  35  saei  gaggip  in  riqixa,  ni  wait  hvap  gaggip  usw.  Nur  auf  jene  erste 
gattung  von  sätzen  bezieht  sich  meine  regel,  dass  hier  der  optativ  stehe;  sie  erleidet 
keine  ausnähme;  die  von  Mourek  zur  Widerlegung  angeführten  beispiele  gehören 
sämtlich  der  zweiten  an,  soweit  sie  nicht  —  ein  ebenso  auffallender  Irrtum  —  indi- 
rekte fragesätze,  nicht  relativsatze,  sind,  wie  Joh.  VII,  27  Xristus  bipe  qimip,  ni 
manna  wait,  hapro  ist. 

Bei  übergeordneter  frage  ist  zu  unterscheiden ,  ob  die  frage  negativen  sinn  hat 
und  rhetorisch  ist,  und  ob  die  darin  liegende  negatiou  sich  auf  den  nebensatz  erstreckt; 
in  diesem  falle  ist  der  optativ  erforderlich,  z.  b.  IL  Kor.  XII,  13  Jua  ist  pizei  icanai 
weseip  „ihr  habt  nichts  entbehrt";  II,  2  hvas  ist  saei  gailjai  mik  „niemand  erfreut 
mich."  Ganz  anders  geartet  sind  fälle,  wie  Lc.  XX,  2  has  ist  saei  gaf  pus  pata 
tcaldufni,  denn  das  geben  hat  stattgefunden;  vgl.  Lc  VI,  3  niu  pata  ussnggtvud 
patei  gatatcida  Daveid  usw.  Auch  hier  wirft  Mourek  die  verschiedenen  arten  durch 
einander;  doch  hat  er  eine  von  mir  übersehene  ausnähme  von  meiner  regel  ange- 
führt: I.  Kor.  IV,  7  ha  habais  patei  ni  namt,  wo  man  nemeis  erwartete 

Ebenso  wenig  glück  wie  mit  den  relativsätzen  hat  Mourek  mit  den  tempo- 
ralsätzen  gehabt.  Meine  behauptung  ging  dahin,  dass  temporalsätze  der  zukunft 
mit  pan  und  hipe  bei  übergeordnetem  imperativ,    adhortativus,    finalsatze  im  optativ 

1)  In  meiner  abhandlung  hätte  ich  die  anders  gearteten  sätze  Lc.  VII,  49  has 
ist  sa  saei  fratvaurhtins  afletai  und  Mc.  XIV,  14  ](;ar  sind  salipivos  parei  paska 
—  matjau  unterscheiden  sollen;  afletai  drückt,  wie  Mourek  richtig  sagt,  den  zweifei 
der  pharisäer  aus;  parei  matjau  „wo  ich  essen  könnte". 


ÜBER  MOUREK,  GOT.  MODUSLEHRE  135 

stehen.  Dass  bei  unte  und  und  patei  der  Sprachgebrauch  zwischen  optativ  und 
(fiiturischem)  praesens  schwankt,  habe  ich  selbst  konstatiert.  In  einem  falle  I.  Kor. 
XIV,  26  Jva  nu  ist,  pan  satnap  garinnaip?  nahm  ich  eiufluss  des  fragenden  haupt- 
satzes  an^.  Von  einer  einwirkung  der  negation  im  hauptsatze  habe  ich  überhaupt 
nichts  gesagt;  sie  könnte  bei  temporalsätzen  nur  in  Verbindungen  wie  griechisch  ovx 
fOTiv  önÖTi  eintreten,  und  solche  kommen  nicht  vor. 

Mourek  will  zuerst  beispiele  des  indicativs  nach  hortativem  hauptsatze  anfüh- 
ren; mit  pan  ist  nur  ein  von  mir  erwähntes  zu  finden:  Mc.  XIII,  29  swah  jah  jus, 
pan  yasaUvip  pata  icairpan,  Imnneip,  wo  Mourek  erklärt:  „gesetzt  den  fall,  ihr 
sehet  dies  werden",  eine  hypothetische  bedeutung,  die  pan  nicht  hat;  vielmehr 
scheint  der  indicativ  des  praesens  das  zweifellos  in  zukunft  zu  erwartende  zu  bezeich- 
nen, wie  Mc.  XII,  23  in  pixai  tisstassai,  pan  tisstandand ,  harjamma  ixe  icairpip 
qens  und  sonst.  Sodann  folgen  beispiele  des  indicativs  neben  fragendem  hauptsatze, 
die  wider  zum  teil  ein  praeteritum  enthalten,  also  gar  nicht  hierher  gehören;  dann 
eine  aufzählung  von  temporalsätzen  im  indicativ  nach  negativem  hauptsatze,  dessen 
„negation  offenbar  auch  den  Inhalt  des  nebensatzes  trifft";  hierbei  herscht  dieselbe 
Unklarheit,  wie  bei  den  relativsäten,  vgl.  Mc.  XII,  25  pan  tisstandand,  ni  liugand 
ni  liufjamla.  Mt.  XXVII,  12  mippanei  ivrohips  vas,  ni  waiht  andhof.  Wie  Mou- 
rek meinen  konnte,  der  nebensatz  werde  hier  von  der  negation  des  hauptsatzes  be- 
troffen, ist  mir  unverständlich.  Dass  die  von  finalsätzen  abhängigen  temporalsätze 
im  optativ  .stehen,  wofür  ich  neun  belege  angab,  „ist  gewiss  nur  zufall". 

Bei  Moureks  eigener  erklärung  des  optativs  in  temporalsätzen  tritt  auch  hier 
der  „euktiv"  mit  auf,  z.  b.  Lc.  I,  20  sijais  pahands  und  pana  dag  ei  wairpai  pata, 
bei  dem  worte  des  engeis  an  Zacharias:  er  würde  also  sagen:  „sei  stumm  bis 
auf  den  tag,  da  dies  geschieht,  und  dass  es  geschehe,  wünsche  ich."  Das  heisst 
zwischen  den  zeilen  lesen. 

Ich  kann  auch  bei  diesem  abschnitte  nicht  finden ,  dass  das  von  mir  behauptete 
von  Mourek  irgendwie  widerlegt  wäre. 

Es  folgen  nun  die  aussagesätze-,  d.h.  die  von  einem  verbum  der  rede,  der 
Wahrnehmung,  des  wissens  und  meinens  abhängigen  nebensätze  mit  ei,  patei  und  die 
sogenannten  indirekten  fragen.  Mourek  erklärt  hier  den  optativ  „in  den  meisten  fäl- 
len" für  dubitativ,  indem  der  redende  seine  zweifei  über  die  richtigkeit  der  aussage 
andeute  (s.  289);  in  anderen  fällen  sei  er  „eher  potential"  (s.  291),  wie  Mt.  IX,  28 
ga-u-laubjats  patei  magjaio  pata  taujan?  Nach  den  verben  des  woUens  und  der 
willensäusserung  soll  er  „euktiv  (hortativ,  final)"  sein;  fallen  diese  drei  kategorien 
zusammen?  Als  final  betrachtet  Mourek  eigentümlicher  weise  (s.  292)  auch  die  Opta- 
tive, wie  Mc.  VT  TT,  2  ni  haband  hra  matjaina.  Was  die  von  verben  der  rede,  der 
Wahrnehmung,  des  wissens  und  meinens  abhängigen  Sätze  betrifft,  so  stimmt  Moureks 
ansieht  mit  der  meinigen  (s.  12.  13)  und  der  Erdmanns  (Grandzüge  §  198,  nicht  194, 

1)  Ich  glaube  jetzt  eher,  dass  hier  ein  Schreibfehler  (für  garinnip  vorliegt; 
den  Optativ  weiss  ich  nicht  zu  erklären.  Gelegentlich  bemerke  ich  gegen  Mourek, 
dass  pande(i)  stets  causal,  nicht  zeitpartikel  ist;  Job.  XII,  35.  36,  wo  es  für  *ws  zu 
stehen  schien,  haben  die  besten  handschriften  und  namentlich  der  Alexandrinus ,  der 
dem  gotischen  texte  am  nächsten  steht,  <h;,  wonach  meine  ausgäbe  zu  berichtigen  ist. 

2)  Der  begriff  „aussagesatz"  ist  hier  über  das  ihm  dem  Wortlaut  nach  zukom- 
mende gebiet  ausgedehnt,  eine  ungenauigkeit,  deren  ich  mich  selbst  (s.  12)  schuldig 
gemacht  habe.  Mourek  rechnet  hierher  auch  die  nebensätze  nach  verben  des  wollens  und 
der  willensäusserung,  wie  befehlen,  bitten  u.  dgl.  Auf  keinen  fall  durfte  er  Lei,  43 
hvapro  mis  pata,  ei  qemi  aipei  fraujins  meinis  at  misY  hierher  rechnen  (s.  289). 


136  BERNHARDT 

■wie  Mom-ek  s.  285  citiert.  196.  197)  überein;  das  Verhältnis  des  redenden  zu  der  von  ihm 
berichteten  aussage  oder  meinung,  seiu  fürwahrhalten  oder  sein  zweifei  und  seine 
Verwerfung  sind  es,  die  den  modus  bestimmen.  Nur  in  wenigen  fällen  (s.  14)  glaubte 
ich  den  optativ  aus  dem  Verhältnis  grammatischer  abhängigkeit  an  sich,  und  in  der 
indirekten  frage  (s.  17)  durch  den  einfluss  eines  übergeordneten  Optativs  erklären  zu 
müssen.  Man  sieht  unter  diesen  umständen  nicht,  welchen  gegner  Mourek  (s.  285 
,die  regel  (welche?)  wird  vollkommen  hinfällig")  zu  widerlegen  sucht,  indem  er  eine 
lange  reihe  von  aussagesätzen  und  indirekten  fragen  im  indicativ  neben  adhortativem, 
fragendem,  finalem,  hypothetischem  hauptsatze  aufzählt;  die  indicativischen  aiissage- 
sätze  nach  negativem  hauptsatze  will  er  nur  anführen,  ohne  viel  gewicht  darauf  zu 
legen,  da  man  überall  darauf  hinweisen  könne,  dass  die  negation  den  Inhalt  des 
hauptsatze s  nicht  direkt  treffe.  Ich  will  noch  bemerken,  dass  er  die  deliberativen  fra- 
gen von  den  in  seinem  sinne  dubitativen  hätte  scheiden  sollen:  Phü.  I,  22  hapar 
waljau,  ni  kann  enthält  einen  anderen  optativ  als  Mt.  XXVII,  49  Ict  ei  sailvam 
qimaiii  Helias  nasjan  ina. 

Im  letzten  abschnitt  handelt  Mourek  von  den  folgesätzen  und  sucht  auch 
hier  nachzuweisen,  dass  kein  erufluss  des  hauptsatzes  stattfinde  und  der  modus  sich 
ausschliesslich  nach  dem  inhalt  des  nebensatzes  selbst  richte.  In  der  tat  ist  ein  sol- 
cher einfluss  kaum  wahrnehmbar  und  der  indicativ  überwiegend;  einige  fäUe  des 
Optativs  nach  sivaei,  sivasice  glaubte  und  glaube  ich  jedoch  durch  das  Verhältnis  gram- 
matischer abhängigkeit  erklären  zu  müssen  (s.  22)  und  kann  Moureks  auslegung  nicht 
billigen;  IL  Kor.  VIII,  5.  6  z.  b.  kann  der  optativ  sicaei  bedeima  unmöglich  final 
sein.  II.  Kor.  I,  8  ufarassau  kauridai  wesum  ufar  mäht,  stvasive  skaniaidedeivia 
uns  jah  liban  erklärt  er  „so  dass  wir  uns  bald  (d.  h.  beinahe)  geschämt  hätten"; 
der  ausdruck  des  „beinahe"  dürfte  dann  nicht  fehlen.  Eher  kann  ich  mich  mit  seinen 
bemerkungen  zu  Eöm.  VII,  6  (sicaei  skalkinoma  beabsichtigte  folge)  und  II.  Kor.  III,  7 
{sicaei  ni  mahtedeina  sunjus  Israelis  fairiveitjan  „so  dass  —  nicht  im  stände  gewe- 
sen wären")  befreunden. 

Zum  schluss  werden  die  elliptischen  sätze  mit  ni  patei  (peei)  besprochen,  die 
Mourek  als  causal  betrachtet.  Unzweifelhaft  ist  Joh.  VI,  26  causal,  wo  der  indicativ 
steht;  nicht  wol  denkbar  aber  z.  b.  Phil.  IV,  11.  17.  Ich  glaube  nach  wie  vor,  dass 
diese  sätze  eine  irrige  ansieht  ablehnen  sollen  und  dass  man  sie  sich  durch  qipa  oder 
skal  ahjan  (man  muss  annehmen)  vervollständigt  zu  denken  hat. 

Am  Schlüsse  meiner  beurteilung  angelangt,  fasse  ich  meine  meinung  dahin 
zusammen:  was  Mourek  in  betreff  der  bedingungs-,  relativ-  und  temporalsätze  hat 
beweisen  wollen,  hat  er  nicht  bewiesen;  seine  ansichten  über  aussage-  und  folgesätze 
enthalten  nichts  wesentlich  neues. 

Die  erneute  beschäftigung  mit  der  frage,  inwiefern  im  deutschen  der  haupt- 
satz  auf  den  modus  des  nebensatzes  einwirke,  hat  mich  veranlasst  die  gedichte  "Wal- 
thers  von  der  Vogelweide  daraufhin  durchzusehen^;  ich  glaubte  schon  längst 
bemerkt  zu  haben,  dass  im  mhd.  wesentlich  derselbe  Sprachgebrauch  hersche,  wie 
im  gotischen  und  ahd.  Dies  hat  sich  bestätigt,  und  es  sei  mir  gestattet  für  die  Über- 
einstimmung einige  belege  zu  geben.     Die  stellen  eitlere  ich  nach  Lachmanns  ausgäbe. 

Bedingungssätze,  die  einem  imperativ  untergeordnet  sind,  stehen  im  optativ: 
50,  33  sich  nider  an  inmen  fuoz,,    so  du  ba§  enmügest.     85,  34  froice'n  lät  iueh 

[1)  Vgl.  auch  die  dissertation  von  Knepper,  Tempora  imd  modi  bei  Walther 
von  der  Vogelweide.  Münster  1889.  Nicht  alle  hierher  gehörige  fälle  sind  dort 
genügend  erwogen.  o.  e.] 


ÜBER    MOUREK,    GOT.    MODUSLEHRE  137 

niht  verdrießen  mtner  rede,  ob  si  gefüege  st.  69,  16  iceliest  du  mir  helfen,  so 
hilf  an  der  xtt;  si  abe  ich  dir  gar  immaxe,  daz,  sprich  endeliche. 

Ebenso  neben  adhortativem  optativ:  74,  6  st  mir  ienian  lieber,  viaget  oder 
wtp,  diu  helle  müe^e  mir  gezemen. 

Neben  optativischem  nebensatze:  28,  24  st  abe  er  so  here,  daß  er  däzuo  sitze, 
so  tv ansehe  ich,  daz,  stn  ungetriuive  zunge  müeße  erlamen. 

Relativsätze  neben  imperativ  stehen  im  optativ:  55,  6  nü  tuo  mir,  stvie  du 
ivellest.     19,  37  iiol  üf,  siver  tanzen  welle  nach  der  gtgen! 

Ebenso  nach  wünschendem  oder  aufforderndem  optativ:  19,  2  siver  nu  des 
rtches  irre  ge,  der  schouwe,  tcem  der  tveise  ob  stme  nacke  ste.  20,  4  der  in  den 
oren  siech  von  tingesühte  st  —  daß  ist  tnin  rät  —  der  laß  den  hof  xe  Dürengen 
fri.  11,  13  siver  dich  segene,  si  gesegent;  siver  dir  fluoche,  st  verfluochet.  Recht 
bezeichnend  ist  42,  15  siver  verholne  sorge  trage,  der  gedenke  an  guotiu  ivip:  er 
ivirt  erlöst,  verglichen  mit  93,  17  siver  guotes  ivibes  minne  hat.,  der  schämt  sich 
aller  missetät. 

Bei  übergeordnetem  optativischem  nebensatze:  5,  15  nü  bite  in,  daß  er  uns 
geicer  durch  dich,  des  unser  dürfte  ger. 

Wie  im  gotischen,  so  wechseln  auch  bei  Walther  zuweilen  die  modi  neben 
einem  hauptsatze:  71,  14  der  min  ze  friunde  ger,  und  icil  er  mich  gewinnen ,  der 
laß  alselhe  unstcetekcit.     Vgl.  29,  34, 

Besonders  auffallend  sind  einige  stellen,  in  denen  der  optativ,  infolge  der 
abhüngigkeit  von  einem  imperativ  oder  optativ,  über  sein  gebiet  hinausgreifend,  un- 
zweifelhaft tatsächliches  bezeichnet.  So  in  dem  gebet  an  Christus  24,  24  als  ir 
(der  jimgfrau  Maria)  der  hcilic  enget  pflcege  —  als  pflig  ouch  min,  und  sogar  in 
einem  causalsatze:  70,  35  so  ich  in  underwilen  gerne  scehe,  so  ist  er  von  mir 
andersicä;  stt  er  da  also  gerne  st,  so  st  oitch  da.  Vgl.  die  anmerkungen  von  Wil- 
raanns  in  seiner  ausgäbe  zu  29,  26.  51,  22.  Auch  elliptischer  ausruf  pflegt  den 
optativ  nach  sich  zu  ziehen,  selbst  wenn  er  nicht,  wie  das  oben  angeführte  wol  üf, 
swer  tanzen  welle  nach  der  gtgen,  eine  auffordemng  enthält.  So  28,  21  er  schale, 
in  swelhem  leben  er  st,  der  dankes  triege;  22,  31  er  gouch,  der  für  diu  zicei  ein 
anderß  kiese. 

Die  angeführten  beispiele  sind  aus  einer  weit  grösseren  zahl  ausgewählt.  Aus- 
serhalb solcher  Satzgefüge  ist  der  optativ  des  praesens  im  bedingungs-  und  relativ- 
satze  zwar  nicht  unerhört,  aber  selten;  41,  25  rüemcere-imid  lügencsre,  swd  die  sin, 
den  verbiute  ich  mtnen  sanc,  und  ist  äne  minen  danc,  obs  also  vil  genießen  min. 
29,  22  beltbe  er  dort,  so  lachent  ir;  kom  er  uns  friunden  wider  hein,  so  lachen 
wir.  Unverständlich  ist  mir  der  optativ  5,  27  daß  üß  dem  worte  erwahsen  st  (Chri- 
stus aus  der  verkündigimg),  daß  ist  von  kindes  sinnen  frt  [s.  Erdmann,  Grundzüge 
§  203]. 

Unbedingt  notwendig  ist  freilich  der  optativ  des  bedingungs-  oder  relativsatzes 
nach  übergeordneter  aufforderung  oder  finalem  optativ  nicht,  ebenso  wenig  wie  er  im 
gotischen  folgerichtig  durchgeführt  ist.  Nicht  häufig  sind  jedoch  bedingungssätze,  die 
sich  der  regel  entziehen,  wie  95,  33  spotte  er  niht  dariimhe  min,  ob  im  sin  liep 
iht  liebes  tuot.  Relativsätze  solcher  art  sind  häufiger:  110,  22  daß  müeße  uns  bei- 
den wol  werdeti  vollendet,  swes  ich  getar  an  ir  hulde  gemuoten.  Wilmanns  s.  135 
swer  küssen  hie  ze  mir  gewerben  wil,  der  loerbe  ab  eß  mit  fuoge.  Auch  das  go- 
tische hat  bei  den  retalivsätzen  mehr  ausnahmen, 


138  SIEBS 

Beim  rückblick  auf  die  gauze  abhandlung  erkenne  ich  an,  dass  Mourek  auf 
seine  arbeit  grossen  fleiss  verwant  hat;  aber  es  ist  ihm,  wie  mir  scheint,  nicht  gelun- 
gen zu  beweisen,  dass  im  gotischen  der  modus  des  hypothetischen,  relativen  und 
temporalen  nebensatzes  von  dem  des  hauptsatzes  ganz  unabhängig  sei,  und  seine 
beweisfühiTiDg  selbst  verrät  bisweilen  unzureichende  gi'ammatische  Schulung. 

Von  demselben  Verfasser  liegt  mir,  ein  beweis  eifriger  und  fleissiger  fortsetzung 
seiner  Studien,  ein  stattlicher  quartband  vor,  betitelt:  Syntaxis  slozenych  vet  v 
gotstine,  erschienen  in  den  Schriften  der  kgl.  böhmischen  gesellschaft  der  Wissen- 
schaften, Prag  1893.  IX  und  334  s.  4.  Ein  auszug  in  deutscher  spräche  (Syntax 
der  mehrfachen  sätze  im  gotischen)  ist  s.  287  —  334  angehängt,  aus  dem  ich 
hier  nur  entnehme,  dass  der  Verfasser  (s.  312  u.  a.)  die  anschauungen  der  oben 
besprochenen  monographie  im  wesentlichen  festhält.  Auf  s.  301  —  304  werden  die 
merkwürdigen  gotischen  beispiele  von  moduswechsel  in  beigeordneten  sätzen  scharf- 
sinnig besprochen.  Genauer  auf  das  einzelne  einzugehen  muss  ich  mir  hier  versagen, 
namentlich  wegen  meiner  Unkenntnis  der  böhmischen  spräche,  in  welcher  der  haupt- 
teil des  Werkes  geschrieben  ist.  Doch  bemerke  ich,  dass  die  gotischen  belegstellen 
in  dem  hauptwerke  durchweg  völlig  ausgedruckt  sind,  so  dass  ein  ungefährer  über- 
blick über  den  gedankengaug  des  Verfassers  auch  dem  der  böhmischen  spräche  unkun- 
digen leser  möglich  wird.  [Eben  gieng  mir  noch  zu:  Mourek,  zur  syntax  des  ahd. 
Tatian.  Sitzungsber.  der  k.  böhm.  akad.  vom  12.  oktbr.  und  17.  decbr.  1894.  Prag, 
in  comm.  bei  Fr.  Eivnäc.    28  und  51  s.     o.  e.] 

ERFURT    IM    OKTOBER   1894.  E.    BERNHARDT. 


MISCELLEK 

Zur  altsächsisehen  bibeldichtuii!?.' 

Im  folgenden  will  ich  zu  der  in  so  vortrefflicher  ausgäbe  erschienenen  altsäch- 
sischen Genesis  einige  bemerkungen  macheu,  wie  sie  sich  mir  bei  der  Interpretation 
und  quellenforschung  ergeben  haben. 

I.  bruchstück. 

Vers  10.  Die  handschrift  hat  thc:  das  abkürzungszeichen  (meistens  erscheint 
es  ja  deutlicher,  vgl.  z.  b.  v.  305)  glaube  ich  noch  zu  erkennen.  Es  liegt  kein  grund 
vor,  them  in  thes  zu  ändern,  weil  es  von  dem  ags.  Übersetzer  missverstanden  ist. 
so7-ogon  for  thcvt  siäa  bedeutet  „angst  haben  vor  dem  Schicksal".  Dass  s?(f  auch  im 
as.  in  diesem  sinne  gebraucht  werden  konnte,  dazu  mussten  Wendungen  wie  vers  1/2 
uhilo  gimarakot  unkaro  selbaro  std  führen;  for  mit  dem  dativ  findet  sich  in  der 
gleichen  bedeutung  auch  Hei.  4757  dröbde  for  themu  döde. 

Vers  12  fgg.  In  der  Vulgata,  der  sich  ja  der  dichter  hauptsächlich  anschliesst, 
wird  über  die  folgen  des  sündenfalles,  von  denen  das  erste  bruchstück  handelt,  gar 
nichts  gesagt;  ebensowenig  in  den  lateinischen  kommentaren  zur  Genesis.     Gedanken, 

1)  Vgl.  meine  Übersetzung  und  abhandlung  in  der  beilage  zur  AI  lg.  zeitung 
vom  23.  febr.  1895.  —  Ferner  haben  inzwischen  über  die  as.  Genesis  gehandelt, 
konnten  aber  im  folgenden  nicht  mehr  berücksichtigt  werden:  Koegel,  E. ,  Gesch.  d. 
deutschen  htteratur,  ergänzungsheft.  Strassburg  1895;  Sijmons  (Versl.  en  mededeel. 
der  kgl.  akad.  van  wetensch.  III.  r.  XI,  149  fgg.  —  mir  leider  noch  nicht  zugäng- 
lich); Holthausen  und  Jellinek  (Zs.  f.  d.  a.  39,  52  fgg.;  151).  Betreffs  v.  10 
ti-effe  ich  mit  Koegel  und —  wie  die  red.  mir  gütigst  mitteilt — •  mit  Sijmons,  betreffs 
v.  22  mit  Koegel  und  Holthausen  zusammen. 


ZUR   ALTSÄCHSISCHEN    BIBELDICHTUNG  139 

wie    sie   der  Schilderung  der  hölle   (v.  2  —  5)   zu  gründe  liegen,   mochten   dem  dich- 
ter vielleicht  aus    manchen  homilien   geläufig  sein,    man  vgl.  z.  b.   den  Homiliarius 
des  Paulus  Diacouus  nr.  LX,LXn  (Migne,  Patrol.  95,  1206.  1209).    Anders  aber  ist  die 
komposition  in  vers  14  bis  23  zu  beurteilen:    da  ist   doch   gewiss  eine  in  sich  abge- 
rundete dichterische  vorläge  anzunehmen.     Sievers  hat  diese  bekanntlich  in  den  versen 
des   Alcimus  Avitus  III  (de  sententia  Dei),  323  fgg.  erkennen  wollen,    s.  Mon.  Germ, 
auct.  ant.  VI,  2  pag.  233.     Da  heisst  es:    „Die  elemente  brechen  ihre  fesseln.     Das 
meer  erregt  der  stürm,  und  es  schwellen  die  wogen.    Vom  schwarzen  himmel  herab, 
zur   strafe    für    die   undankbare    menschheit,    giessen  die  wölken  hagelschauer,    und 
der  himmel  neidet  der  erde  das  griin.     Ja  die  erde  selbst  erbebt  und  will  trügerisch, 
was  auf  ihr  herrlich  erwuchs,    vernichten.     Das  war  damals  beschieden  dem  ersten 
menschenpaare."     Demgegenüber  lässt  der  altsächsiche  dichter  den  Adam  klagen  über 
hunger  und  durst,  über  stürme  von  allen  himmelsrichtungen ,  über  hagelschauer  und 
kälte,    über  hitze,    die   sie   nackt  ertragen  müssen,    und  über  den  mangel   an  allem 
lebensunterhalt.     Das  einzige  gemeinsame  motiv  sind  also  die  hagelschauer.     Ferner: 
hätte  der  Sachse  hier  den  Avitus  benutzt,   so  würde  er  sich  gewiss   bei  der  Schilde- 
rung der  hölle  (vers  2  fgg.)  ebenfalls  an  ihn  angeschlossen  haben,  vgl.  v.  204  fgg. 
Angusfatur  Immus  strietutnque  gementibus  orbem 
Terrarum  finis  non  cernitur  et  tarnen  instat. 
Squalet  et  ipse  dies,  caiisantur  sole  sub  ipso 
Subduetam  lucem,  caelo  suspensa  remoto 
Astra  gemunt  tactusque  prius  vix  eernitur  axis. 
Ich  möchte  vielmehr  eine  beeinflussung  durch  das  gedieht  i?i  Genesin  ad  Leoneni 
papam  annehmen,    welches  im  5.  jalirhundert  von  einem  gewissen  Hilarius*  ver- 
fasst  ist.     Es  heisst  da  (ed.  Peiper,  Corp.  Script,  ecclesiast.  XXIII,  237)  v.  164  fgg.: 

culpa  comes  sequitur,  peccato  obnoxia  vita 

debilitat  vires,  caelo  venientia  dona, 

acthere  demissus  paulatini  deficit  ignis. 

frigore  peccati  torpentia  corda  rigescunt: 

cura  cibi  ventrisque  subit  et  ciira  legendi 

corporis,  et  saeruyn  subeunt  mortalia  pectus. 
Ferner  v.  175  fgg. 

tum  primiim  venti  coepere  incunihere  terris, 

intempestivus  descendere  nubibics  imber: 

fulvmia  tum  pritnum  caelo  deieeta  sereno^ 

horrida  tum  grando  turbatos  verberat  agros. 

tonitrua  altisono  infractus  murmurat  aether. 
Vers  22.  Ich  vermute  ni  te  skadowe  ni  te  seüra,  also  einen  vers  nach 
dem  typus  A;  vgl.  231a,  272a.  In  zeile  9  der  band schrift  glaube  ich  hinter  biuoran 
drei  m- striche  und  dann  die  reste  eines  t  zu  erkennen;  das  dann  folgende  deutliche 
e  und  sk  sowie  meine  weiteren  ergänzungen  stimmen  zu  Braunes  angaben  (s.  43). 
Der  sinn  ist:  „und  wir  haben  hier  keinerlei  schütz,  weder  schatten  (gegen  die  sonne) 
noch  schirm  dach  (gegen  das  Unwetter),  und  es  sind  uns  hier  keinerlei  Vorräte  zum 
mahle  gegeben,  scür  bedeutet,  wie  noch  heute  in  ndd.  gegenden,  „schauer  =  schirm- 
dach" und  ist  bereits  von  dem  ags.  Übersetzer  misverstanden  worden;  scat  fasse  ich 
nicht  mit  Braune  als  „geld",  sondern  allgemeiner  als  „besitz,  verrat". 

1)  Keineswegs  ist  es  Hilarius  von  Poitiers,  wahrscheinlich  auch  nicht  Hilarius 
von  Aiies  (429  —  449);  es  hat  im  5.  Jahrhundert  viele  Hilarii  in  Gallien  gegeben. 


140  SIEBS 

II.  bruchstück. 

Vers  32  —  42.  Mit  recht  meint  Braune  (s.  33),  dass  es  wenig  nützen  würde, 
einzelne  kleine  gedanken  des  dichters  als  gelehrte  reminiscenzen  nachzuweisen.  Ich 
tue  es  hier  auch  nur,  um  zu  zeigen,  dass,  wie  der  Verfasser  des  Heliand  die  expo- 
sitiones  zu  den  evaogelien,  so  der  dichter  des  alten  testamentes  die  Genesiskommen- 
tare (etwa  des  Isidor,  Beda,  Alkuin,  Hraban  und  Angelom)  benutzt  hat.  Welche 
von  diesen  erklärungen  ihm  vorgelegen  haben,  wissen  wir  natürlich  nicht;  wir  sehen 
nur,  dass  ihm  die  in  jenen  kommentaren  stets  aufs  neue  widerholten  deutungen 
bekannt  waren.  So  wird  die  frage  Gottes  (v.  32/33)  durch  den  zorn  motiviert,  vgl. 
z.  b.  interrofjat  Dens  Cain  non  tamquam  ignarus  eum^  a  quo  discat^  sed  tam- 
quam  iudex  reum ^  quem  ptmiat  (Beda,  Alkuin  und  Hraban ,  Migne  91 ,  66;  100,  525; 
107,  504).  Ebenso  vgl.  zu  v.  40  —  42  z.  b.  Isidor  (a.  a.  o.  83,  224)  fallax  enim  Cain 
inierrogatio  oder  Beda's  Hexaemeron  (91,  66)  {responsio)  stuUa,  cum  illum  falli 
posse  piäabat  oder  Alkuin,  Interr.  et  respp.  in  Genesiu  (100,  525)  cui  Cain  ad 
cumuluni  peccati  sui  fallaciter  ae  süperbe  respondit ;  vgl.  Angelom,  Migne  115,  148. 
Es  ist  nun  auch  begreiflich,  dass  der  dichter  gerade  solche  stellen  der  Vulgata, 
die  den  kommentatoren  Schwierigkeiten  machten,  fortgelassen  hat,  vgl.  unten  v.  164  fgg. 
277  fgg. 

Vers  72  fgg.  Höchst  auffällig  ist  die  fassung  des  urteils:  dem  mörder, 
der  zur  strafe  friedlos,  also  doch  flüchtig  (\gl.  ags.  fli/ma)  sein  müsste,  wird  friede 
gesetzt,  und  in  frieden  (an  treuiva)  mag  er  leben;  dann  aber  heisst  es  fluhtik  scalt 
tim  endi  freäig  libbian.  Eine  solche  Inkonsequenz  sollte  man  dem  dichter,  der  sich 
im  Heliand  mit  den  schwersten  Widersprüchen  gewant  auseinandersetzt,  nicht  zu- 
trauen! Auch  der  ganze  folgende  abschnitt  fällt  gegen  das  übrige  werk  bedeutend 
ab:  die  übermässig  breiten  klagen  v.  87b  bis  95a  könnte  man  ohne  schaden  entbeh- 
ren, und  die  langweiligen  widerholungen  (v.  103  fgg.  und  v.  115  fgg.)  sind  ebenso 
unbegreiflich  wie  die  plumpe  anknüpfung  v.  140. 

III.  bruchstück. 

Vers  160  fgg.  Dass  —  wie  Braune  meint  —  die  auffassung  des  wertes 
tabernaculuni  im  kirchlichen  sinne  zu  der  Schilderung  des  opfers  geführt  habe,  ist 
nicht  notwendig:  der  dichter  hat  wahrscheinlich  an  die  erwähnung  des  altars  in  Mamre 
(Gen.  13,  8)  angeknüpft. 

Vers  164  fgg.  Abraham  erbhckt  die  drei  engel  und  geht  ihnen  entgegen, 
verneigt  sich  aber  vor  Gott  allein.  Die  göttliche  einheit  gegenüber  der  dreiheit 
(bekantüch  wird  diese  stelle  von  den  kommentatoren  mystisch  auf  die  dreieinigkeit 
gedeutet)  ist  schon  v.  158  hervorgehoben  worden.  Eine  parallele  dazu  bietet  Clau- 
dius Marius  Victor  in  seiner  Alethia  III,  644  fgg.  (ed.  Schenkl,  Corp.  Script,  eccles. 
XVI,  431):  itixta  aedes  quippe  scdenti 

Tres  subito  adstiterimt  augusta  luee  mieantes. 

Abraham  tanti  stimidatus  imagine  uisus 

procurrit  dominumque  solo  prostratus  adorat 

tmurn,  cwn  tres  miretur 

Mit  Cl.  Marius  Victor  hat  unser  dichter  ferner  gemein,    dass  er  die  Verhandlungen 
zwischen  Gott  und  Abraham  bedeutend  abkürzt,  vgl.  673  fgg. : 

ultro  ausus  doininum  scitari,  an  perderet  nrbem 

errantis  populi  per  erimina  cuncta  noeentum, 

quinquaginta  probos  ciues  si  forte  tidisset. 


ZUR   ALTSÄCHSISCHEN   BIBELDICHTUNG  141 

„non  perdani'^  dixit.  dehinc  percunctatio  blanda 
deducens  sensini  nuvierimi  ueyiimnque  lacessens 
suppliciter  simimasque  ipsis  minuente  reeursu 
ttsque  decem  meruit  responsum  auferre  parentis, 
et  ne  se  totam  domini  dementia  mitis 
proderet,  in  medio  famulum  sermone  reliquit 
tendentem  ulterius  seque  in  sua  regna  recepit. 

Yers  180.  feivardaft  als  „priester"  oder  „männer  des  rechtes"  aufzufas- 
sen, gibt  gar  keinen  sinn.  Einmal  wären  doch  diese  , gerechten"  der  strafe  nicht  mit 
verfallen  gewesen,  dann  aber  sind  es  auch  nach  der  allgemeinen  auffassung  die  sün- 
digen Sodomiten,  deren  geschrei  zum  himmel  dringt,  vgl.  z.  b.  Alkuin,  Interr. 
et  respp.  in  Genesin  (Migne  100,  542):  quaeritur  quare  de  coelo  vindicta  data  est 
super  habitatores  impios  civitatum  illarutn?  Quia  clarnor  peccantium  in 
coehim  ascendisse  dicitnr;  idcirco  de  coelo  puniendi  erant.  Ich  halte  nun  zweier- 
lei für  möglich:  entweder  ceuuardas  steht  für  euuua^-das  und  ist  adverbialer  genitiv 
wie  fonlwardas  „immerzu";  oder  —  und  damit  wäre  auch  die  Schwierigkeit  der 
alliteration  gelöst  —  in  der  vorläge  stand  divarda,  nom.  plur.  part.  praet.  zu 
äiverdian,  also  „die  verderbten".  Das  accentuierte  d  konnte  leicht  als  ^e  verlesen 
werden  (vgl.  amnierdit  v.  125  und  Braunes  anmerkung  dazu),  und  damit  lag  das  mis- 
verständnis  nahe.  —  Erwähnt  sei  nebenbei,  dass  bei  Bosworth- Toller  s.  25  im  ags. 
m-iverd  verzeichnet  und  als  „gesetzbrecher"  gedeutet  ist;  ein  citat  fehlt  leider. 

Yers  277  fgg.  Hier  ist  ebensowenig  wie  in  vers  167  fgg.  von  der  bewirtung 
der  engel  die  rede  (Gen.  18,  4  fgg.  19,  3  fgg.).  Das  scheint  auf  den  einfluss  der 
kommeutare  zurückzugehen,  die  sich  zu  erklären  mühen,  was  immer  der  göttlichen 
natur  zu  widerstreiten  scheint.  So  fehlt  auch  die  erwäliniuig  Segors  als  einer  ocea- 
sio  infidelitatis  (Alkuin,  Interr.  et  respp.  100,  542)  u.  a.  m.  Ich  darf  es  mir  ver- 
sagen, die  einschlagenden  stellen  der  kommentare  hier  alle  anzugeben. 

Vers  287.  Gemäss  der  forderung  des  typus  C  lese  ich  fora  daga  hicoani 
„vor  tage  der  hahn."  Die  handschrift  widerspricht  dem  durchaus  nicht,  es  kann 
hier  mit  demselben  rechte  hiioani  gelesen  werden  wie  etwa  vers  240  tehani.  Das 
tioa  statt  0  macht  keine  Schwierigkeit,  vgl.  diioas  diioan  v.  19ß.  233.  Und  dass 
man  das  neutrale  hon  (gen.  comm.)  „huhn  (hahn,  henne)"  mit  dem  maskuliusuffix  der 
y«- stamme  versah,  um  mit  honi  den  hahn  zu  bezeichnen,  ist  doch  nicht  minder  begreif- 
lich als  wenn  z.  b.  ahd.  kalba  für  vitula  gebraucht  wird.  Übrigens  scheint  im  Har- 
lingischen  Ostfriesisch  ein  ganz  ähnlicher  fall  vorzuliegen,  wenn  bei  Cadovius  -  Müller 
heijne  „die  henne"  heisst  (auf  altes  Vwnjo-  zurückweisend).  —  Mit  der  ansieht  GaUee's 
dass  hier  dem  sinne  nach  ein  wort  für  hahn  nicht  am  platze  sei,  kann  ich  mich 
ebensowenig  befreunden  wie  mit  der  gewaltsamen  konjektur  liomon  (Tijdschrift  v. 
nederl.  taal-  en  letterkunde,  letztes  heft).  Die  Umschreibung  üldfugal  verlaugt 
meinem  gefühl  nach  geradezu  die  aufnähme  jenes  begriffes  durch  die  geläufigere 
bezeichnung. 

Yers  321  fgg.  lese  ich: 

al  tcard  farspildit 
Sodomartki,  that  is  seggfijo  enig 
theg  nigienas;  ac  tkus  bidodit 
an  doäseu,  so  it  noh  te  daga  stendit 
fluodas  gifullit. 


142  ß.  Meyer,  zur  allit.  doppelkonsonaKz  m  heliand 

d.  h.  „ganz  Sodom  ward  zerstört,  dass  von  seinen  männern  keiner  irgendwo  erwuchs, 
sondern  so  ertötet  im  toten  meere,  wie  es  noch  heute  dahegt,  flutengefüllt."  Ob 
segg(i)o  oder  sunfijo  ergänzt  wird,  ist  gleichgültig;  in  dem  theg  praet.  sg.  zu  tJühan 
(plur.  thigun  v.  104.  118)  macht  das  ^r  keine  Schwierigkeit;  nigienas  kani;  als  adver- 
bialer genitiv  oder  auch,  falls  man  su7i(i)o  statt  seggfijo  ergänzt,  als  possessiver 
genitiv  aufgefasst  werden.  Dass  der  des  Stabreims  unkundige  Schreiber  jene  verderbte 
stelle  der  vorläge  schliesslich  (vgl.  die  rasur)  nicht  durch  thus  —  so,  sondern 
durch  das  ihm  geläufigere  so  —  so  ergänzte,  kann  nicht  wunder  nehmen;  so  in  der 
aüiteration  findet  sich  auch  v.  218. 

Vers  335  fgg.  Dass  das  weib  des  Lot  versteinert  heute  noch  dastehe  und 
in  ewigkeit  stehen  werde,  ist  die  auffassung  der  kirchenväter  (schon  Clemens  Rom.  ad 
Cor.  I,  11;  Irenaeus  u.  a.).  Eine  parallele  bieten  auch  die  verse  121/22  eines  unbe- 
kannten autors  „de  Sodoma "■  (Corp.  Script,  eccl.  XXIII,  218): 

durat  enini  adhuc  nuda  statione  sub  aethra^ 

nee  pluuiis  dilapsa  situ  nee  diruta  uentis. 
Zum  Schlüsse  noch  ein  wort  über  die  heimat  der  handschrift.  Aus  den  auf  Mag- 
debui'g  bezüglichen  eintragen  scheint  mir  —  gegen  Zangemeister  s.  207  —  mit  Sicher- 
heit hervorzugehen,  dass  gerade  dieses  nicht  in  frage  kommt;  auch  braucht  nicht 
an  ein  benachbartes  kloster  gedacht  zu  werden.  Aus  den  uekrologischen  uotizen 
lässt  sich  schwerlich  etwas  gewinnen.  Von  den  beiden  ndd.  namensformen  vermag 
ich  Wolfhedan  nicht  nachzuweisen*;  Ibet  erscheint  zweimal  in  den  Traditiones  Cor- 
beienses  (ed.  "Wigand,  Leipzig  1843),  und  zwar  als  Ibet  §  197,  als  Ibed  §  188.  Dass 
das  kloster  Corvey  im  9.  Jahrhundert  viele  mönche  aus  den  edelsten  geschlechtern  der 
Sachsen  zählte,  lehrt  uns  die  Translatio  Sancti  Viti:  „augebatur  tarnen  qiiotidie 
numerus  monachorum  ex  nobilissimo  Saxommi  genere"  (Jaffe,  Mon.  rer.  germ. 
I,  10);  auch  in  den  Annales  Corbeienses  ist,  wie  in  so  vielen  ndd.  nekrologien,  der 
todestag  des  königs  Heinrich  verzeichnet;  und  eine  beziehung  des  klosters  Corvey  zu 
Magdeburg  ist  durch  die  Übertragung  der  reliquien  des  heiligen  Justinus  gegeben 
(Annal.  Corb.  z.  j.  949). 

GREIFSWALD,    30.    JANUAR    1895.  THEODOR    SIEBS. 


Zur  alliterierendeu  doppelkonsouauz  im  Heliand. 

Durch  Behaghels  scharfsinnige  argumentatiou  in  dieser  Zeitschrift  XXVII,  563 
scheinen  mir  meine  ausführuugen  keineswegs  widerlegt.  Es  bildet  sich  durch  sva- 
rabhakti  ja  nicht  immer  gleich  eine  voUe  silbe,  und  im  vorliegenden  falle  ist  gewiss 
nur  ein  leichter  vorklang  anzunehmen,  grade  genügend,  um  den  anlaut  von  frotoro 
dem  von  ferahes  anzunähern;  fero  bleibt  deshalb  doch  metrisch  eine  silbe.  Ohne 
einen  leisen  zwischenvokal  sprechen  wir  überhaupt  solche  gruppen  kaum  je  aus.     ^ 

"Wie  man  übrigens  immer  über  die  alliterierende  doppelkonsonanz  denken  mag  — 
die  tatsache,  dass  die  alten  dichter  fr  nicht  gern  auf  /"reimten,  glaube  ich  erwiesen 
zu  haben,  und  wenn  ein  spiel  vorliegt,  so  haben  sie  es  gespielt,  nicht  ich. 

BERLIN,    3.  JAN.    1895.  RICHARD   MEYER. 


1)  Der  fränkische  Wolfhetan  (Droncke,  Cod.  dipl.  Fuld.  nr.  220.  221)   kommt 
natürlich  nicht  in  betracht. 


NEUR   ERSCHEINUNGEN  143 

NEUE   ERSCHEINUNGEN. 
Bischoff,  Tli.,  und  Schmidt ,  A.,  Festschrift  zur  250jährigeü  Jubelfeier  des 
Pegnesischen  blunienordens.    Mit  vielen  abbilduugen.   Nürnberg,  J.  L.  Schräg. 

1894.  XVI  und  532  s.    8  m. 

Die  acht  aufsätze  dieses  bandes  beziehen  sich  hauptsächlich  auf  Harsdör- 

fers  leben,  wirken  und  Schriften. 
Breul,  K.,    a  handy  bibliographical    guide    to   the  study   of   the  German 

language  and  literature.     For  the  use  of  students    and  teachers  of  German. 

London,  Hachette  &  Co.  1895.    XVI  und  133  s. 

Diese  praktisch  angelegte   bibliographie  ist  ein  neuer  beweis  für  den  ernst 

und  die  grüudlichkeit,  mit  welcher  in  jüngster  zeit  auch  in  England  germanistische 

Studien  betrieben  werden. 
Egils  sag'ii  Slialla^rimssouar  nebst  den  grösseren  gedichten  Egils  herausgegeben  von 

Finnur  Jönsson.    Halle,  Niemeyer  1894.     (Altnordische  saga-bibliothek,  heft  3.) 

XXXIX,  334  s.     9  m. 
Förster,    Karl,    Der   gebrauch  der  modi    im  ahd.  Tatian.     Kiel,    diss.  1895. 

IV  und  62  s. 
Graz,  Friedr.,   Die  metrik  der  sog.  Caedmonschen  dichtungen  mit  berück- 

sichtigung  der  verfasserfrage.     "Weimar,  Emil  Felber.  1894.     VIII,  109  s.     (A.  u. 

d.  t.:  Studien  zum  germanischen  alliterationsvers ,  hrsg.  von  M.  Kaluza,  heft  III.) 
Hauffeil,  A.,   Die  deutsche  Sprachinsel  Gottschee.     Geschichte  und  muudart; 

lebens Verhältnisse,  sitten  und  gebrcäuche ;  sagen,  märchen  und  liedei-. 

Quellen  und  forschungen  zur  geschichte ,  litteratur  und  spräche  Österreichs  III. 

Mit  4  abbildungen  und   einer  sprachkarte.     Graz,    Verlagsbuchhandlung   „Styria" 

1895.  XVI  und  466  s. 

Holthausen,  Ferd. ,    Altisländisches    elementarbuch.      "Weimar,    Emil   Felber. 
1895.     XV,  197  s.     4  m. 

A.  u.  d.  t. :  Lehrbuch  der  altisländischen  spräche,  I.  teü.  Derselbe  enthält 
eine  kurzgefasste  laut-  und  formeulehre,  sowie  auch  einen  abriss  der  wortbilduugs- 
lehre  und  syntas.  Der  II.  teil  soll  altnordische  lesestücke  nebst  einem  glossar 
bringen. 
Leitzmaiiii ,  jA. ,  Tagebuch  "Wilhelms  von  Humboldt  von  seiner  reise  nach 
Norddeutschland  im  jähre  1796.  [Quellenschriften  zur  neueren  deutschen  littei-a- 
tur  und  geistesgeschichte  III.]     "Weimar,  E.  Felber.  1894.     X  und  163  s.     3  m. 

Die  Sammlung  —  welche  mit  briefen  "Wilhelms  von  Humboldt  an  Nicolo- 
vius,  herausgegeben  von  E.  Hayni,  eröffnet  wurde  —  wird  durch  dieses  tagebuch 
(aus  Humboldts  nachlass  in  Tegel)  über  eine  reise  von  Berlin  nach  Stettin,  Stral- 
sund, Rügen,  Rostock,  Lübeck,  Eutin,  Hamburg  um  ein  nach  vielen  selten  hin 
interessantes  stück  bereichert.  Unter  den  zahlreichen  berichten  über  persönliche 
begegnungen  und  gespräche  sind  die  auf  Eoseg arten,  Voss  und  Klopstock 
bezüglichen  hervorzuheben.  Die  erläuterungen  des  herausgebers  s.  119  —  152  sind 
vielfach  belehrend;  im  anhange  s.  155  fg.  ist  ein. gedieht  von  Sophie  Reimarus 
aus  dem  jähre  1793  {„Unser  theetisch'')  veröffentlicht.  Die  ausstattung  ist  gut; 
dennoch  wäre  ein  niedrigerer  preis  des  buches  wünschenswert  gewesen.  o.  e. 
Müller -Fraureuth,  Karl,  Die  ritter-  uud  räuberromane.  Ein  beitrag  zur  bildungs- 
geschichte  des  deutschen  volkes.     Halle,  Niemeyer.  1894.     IV  und  112  s.    2,60  m. 

Wie  in   einer  schon  1881    erschienenen  Schrift  die  lügendichtungen  bis 
auf  den    „Münchhausen",    so   charakterisiert  der  Verfasser  hier  die  umfangreiche 


144  NACHRICHTEN 

litteratur  der  ritter-  und  räuberromane,  die  seit  etwa  1775  bis  in  unser  Jahrhundert 
hinein  ihr  grosses  publikum  fanden.  Ihr  anschluss  an  bedeutende  anregungen  der 
genieperiodo  und  der  romantik  wird  klar  dargestellt;  charakteristische  stilproben 
sind  in  ausreichendem  masse  mitgeteilt. 

Musculus,  Andreas,  Vom  Hosenteufel.  Herausgegeben  von  Max  Osborn. 
[Neudrucke  des  IG.  und  17.  Jahrhunderts  125.]  Halle,  Niemeyer.  1894.  XXX 
und  27  s.     0,60  m. 

Die  scharfe  und  derbe  Schrift  des  generalsuperintendenten  der  mark  Bran- 
denburg gegen  den  unfug  der  pluderhosen  ist  nach  der  ersten  ausgäbe  (Frank- 
furt a.  0.  1555)  abgedruckt;  über  bemerkenswerte  Varianten  späterer  ausgaben, 
sowie  der  niederdeutschen  Übersetzung  gibt  die  einleitung  s.  XXIH — XXX  aus- 
kunft.  Die  einleitung  enthält  ausserdem  sehr  lehrreiche  kulturhistorische  und  bio- 
graphisclie  angaben. 

Pipping-,  Hug'O,  Zur  lehre  von  den  vokalklängen.  Neue  Untersuchungen  mit 
Hensen's  Sprachzeichner.  Separatabdruck  aus  der  Zeitschrift  für  biologie  31, 
524  —  583.     München  1894. 

—  —  Über  die  theorie  der  vokale.  Ans  den  Acta  societatis  scientiarum  Finni- 
cae  XX,  2.     68  s.  4'°  und  6  tafeln.     Helsingfors  1894. 


NACHRICHTEN. 

Die  ausserordentlichen  professoren  dr.  Rudolf  Henning  in  Strassburg  und 
dr.  Philipp  Strauch  in  Halle  sind  zu  Ordinarien  ernannt.  An  die  Universität 
Rostock  ist  als  nachfolger  R.  Bechsteius  di".  Wolfgang  Golther,  bisher  privatdocent 
in  München,  berufen. 

An  der  Universität  Basel  hat  sich  dr.  Gustav  Binz  für  englische  philologie 
habilitiert. 

Dem  privatdocenten  dr.  Johannes  Stosch  in  Marburg  ist  der  titel  eines  Pro- 
fessors verliehen.  Derselbe  ist  sodann  nach  Kiel  übergesiedelt  als  mitarbeiter  an 
band  XI  des  Deutscheu  Wörterbuches.  Er  hat  auch  dort  in  der  philosophischen  fakul- 
tät  die  venia  legendi  erhalten.  —  Die  weiterführung  von  band  IV,  1,  2  des  DWb. 
ist  nach  dem  tode  Hildebrands  von  lieferung  12  an  dem  prof.  dr.  H.  Wunderlich 
in  Heidelberg  übertragen. 

Am  17.  febr.  verstarb  zu  Halle  a.  S.  der  gymnasialprofessor  a.  d.  dr.  Julius 
Opel,  der,  besonders  durch  seine  forschungen  zur  geschichte  des  30jährigen  kiieges 
bekannt,  gelegentlich  auch  das  gebiet  der  deutschen  litteraturgeschichte  berührte  und 
einen  schätzenswerten  beitrag  zur  Waltherforschung  geliefert  hat  {Mm  guoter  klöse- 
ncBre^  Halle  1866).  Unsere  Zeitschrift,  zu  der  er  mehrere  durch  Sachkenntnis  aus- 
gezeichnete recensionen  beisteuerte,  betrauert  in  ihm  einen  ihrer  ältesten  mitarbeiter. 


Berichtigung'.     Auf  s.  32  z.  28  ist  zu  lesen:    Übersetzung    des   niederlän- 
dischen; s.  33  z.  8  und  10:  Isegrim  (statt  Reinke). 


Hallo  a.  S.,  Buctidnickerei  des  Waiseahausos. 


ZUE   ALTSÄCHSISCHEN   GENESIS. 

Die  folgenden  anspruchslosen  bemerkungen  sind  zum  teil  wider- 
holt aus  einer  in  der  letzten  oktobersitzung  der  kgl.  niederländischen 
akademie  der  Wissenschaften  gelesenen  und  in  den  Sitzungsberichten 
derselben  abgedruckten  ^  abhandlung  über  Zangemeisters  fund  in  der 
Vaticana.  "Während  es  nicht  in  meiner  absieht  liegen  konnte,  die 
eigentliche  wesentlich  referierende  und  —  mit  einer  einzigen  aus- 
nähme —  Braunes  sorgfältigen  erörterungen  durchweg  zustimmende 
abhandlung  in  deutscher  bearbeitung  zu  erneuern,  glaubte  ich  aller- 
dings mit  einer  widerholung  der  hinzugefügten  kritischen  anmerkungen 
an  einer  für  die  deutschen  fachgenossen  weniger  entlegenen  stelle  keine 
überflüssige  arbeit  zu  verrichten.  Inzwischen  haben  nun  auch  andere 
ihre  beobachtungen  veröffentlicht 2,  und,  wie  sich  nicht  anders  erwarten 
liess,  trafen  sie  mit  den  meinigen  in  vielen  punkten  zusammen.  Indem 
ich  nun  einerseits  mit  rücksicht  auf  die  in  der  note  angeführten  arbei- 
ten manches  nicht  mehr  oder  doch  nur  kurz  zu  berülu-en  brauche, 
geben  mir  dieselben  andererseits  veranlassung  zu  einigen  neuen  bemer- 
kungen, die,  wie  die  älteren,  dem  verehrten  herausgeber  füi"  eine  neu- 
ausgabe  des  textes  zur  erwägung  empfohlen  sein  mögen.  In  bezug 
auf  die  hauptfrage,  die,  von  dem  neuen  funde  angeregt,  noch  der  ent- 
scheidung  harrt,  die  beziehung  der  alttestam entlichen  bruchstücke  zum 
Heiland,  bin  ich  zwar  vorläufig  anderer  ansieht  als  Braune  und  Koe- 
gel  (s.  meine  angeführte  abh.  s.  145  — 148).  Da  aber  Siev^ers  (diese 
ztschr.  XXVII,  534)  eine  besondere  abhandlung  darüber  in  aussieht 
gestellt  hat,  scheint  es  geraten  derselben  nicht  vorzugreifen  und  auf 
eine  erörterung  dieses  punktes  bis  nach  ihrem  erscheinen  zu  verzichten. 

1)  Verslagen  en  mededeelingen  der  kon.  akademie  vau  wetenschappen ,  afdee- 
ling  Letterkunde,  3«^  reeks,  XI,  123  —  154. 

2)  Folgende  beitrage  zur  as.  Genesis  sind  mir  bekannt  geworden:  E.  Koegel, 
Geschichte  der  deutschen  litteratui-  bis  zum  ausgange  des  mittelalters.  Ergänzungs- 
heft zu  bandl:  Die  altsächsische  Genesis.  Strassburg  1895;  die  recensiou  der  Zange- 
meister-Braune'schen  publication  von  E.  Sievers  in  dieser  ztschr.  XXVII,  534  f gg.; 
F.  Holthausen,  Zeitschr.  f.  d.  a.  XXXIX,  52  fgg.;  M.  H.  Jellinek,  ebd.  151; 
J.  H.  Gallee,  Tijdschr.  voor  nederl.  taal-  en  letterk.  XHI,  303  fgg.  [nach  abschluss 
des  manuscr.  erhalte  ich  Gallee' s  recension  in  Taal  en  letteren  V,  123]. 

ZEITSCHRIFT   F.    DEUTSCHE   PHILOLOGIE.      BD.    XXVIU.  10 


146  STMONS 

Y.  9  fg.:  Nu  uuit  hriuuig  mugun 

sorogon  for  thes  sicta. 
Dass  das  the  siäa  der  hs.  nicht  mit  dem  herausgeber  zu  thes  s.,  son- 
dern zu  them  siäa  za  ergänzen  ist,  hat  auch  Koegel  s.  9  erkannt. 
Braune  ist  denn  auch  zu  seinem  thes  nur  durch  ein  leicht  begreif- 
liches versehen  gelangt,  indem  er  bei  der  constituierung  des  textes 
die  ältere  lesart  for  his  siäe  in  dem  enstprechenden  verse  der  ags. 
Genesis  (800)^  zur  richtschnur  nahm,  dann  aber,  als  er  für  den  druck 
den  ags.  text  nach  Wülkers  neuer  collation  aufnahm  und  damit  for 
pis  siäe  herstellte,  die  discrepanz  mit  dem  alts.  texte  nicht  weiter 
beachtete.  Einer  brieflichen  mitteilung  Braunes  entnehme  ich,  dass  er 
jetzt  über  dem  the  in  der  originalphotographie  noch  einen  schwachen 
rest  des  geschwungenen  stiichs  über  dem  e  zu  erkennen  glaubt;  im 
lichtdruck  ist  der  strich  zu  einem  punkte  reduciert.  Damit  wäre  them 
auch  handschriftlich  gesichert.  Der  sinn  der  stelle  ist  also  nicht: 
„besorgt  sein  wegen  dessen  (Gottes)  ankunft",  aber  auch  wol  kaum 
mit  Koegel  „bei  dieser  Sachlage,  unter  diesen  umständen."  Dass  „die 
Ursache  der  sorge  sowol  im  altsächs.  wie  im  althochd.  und  mittelhochd. 
mit  umbi  oder  bi  ausgedrückt  wird",  ist  im  allgemeinen  wol  richtig, 
doch  auch  for  findet  sich  in  dieser  Verwendung,  so  Hei.  1880 2,  Otfr. 
IV,  7,  21,  auch  im  ags.  Gudl.  209.  Adam  und  Eva  dürfen  in  sorge 
sein  wegen  ihres  Schicksals,  das  Eva's  wankelmut  ihnen  beiden  bestimmt 
hat  (vgl.  V.  1  fg.).  Bemerkenswert  ist  allerdings,  dass  das  as.  siä  sonst 
in  der  bedeutung  „sors,  fortuna,  conditio",  die  im  ags.  geläufig  ist 
(Grein  II,  444),  nicht  kennt,  allein  auch  für  v.  2  unserer  bruchstücke 
ist  diese  bedeutung  anzusetzen. 

Y.  14.  Zu  diesem  verse  bemerkt  Braune  s.  56:  „Die  ags.  ände- 
rung  on  pys  lande  ist  weniger  gut,  da  on  thesum  liohta  uuesan  syno- 
nym mit  libbian  ist  und  thit  Höht  immer  „dieses  leben"  bedeutet." 
Der  Vorwurf  gegen  den  ags.  bearbeiter  ist  aber  unberechtigt,  denn  thit 
Höht  heisst  sowol  in  unseren  fragmenten  (s.  namentlich  128  them  thitt 
Höht  giscuop  =  Hei.  3058.  5086),  als  im  Hei.  regelmässig  „diese  weit" 
und  ist  verschiedentlich  mit  thit  land  völlig  identisch:  vgl.  z.  b.  Gen.  76 
Hbbea?i  an  thesum  latida,  \  su  lango  so  ihu  thit  Hallt  utiaros^  wo  Koe- 

1)  Danach  erkläit  denn  auch  Grein  die  stelle  im  Sprachschatz  II,  444  als 
„ejus  (Gottes)  adventus." 

2)  Die  stelle  lautet:  far  thiu  gi  sorgon  sculun^  \\  that  iu  thea  man  ni  mu- 
gin  I  mödgethähti ,  \\  uuillean  aimardien.  Far  thiu  kann  dem  zusammenhange  nach 
nicht  „deswegen"  bedeuten;  es  ist  von  sorgon  abhängig  und  wird  durch  den  satz 
mit  tliat  näher  bestimmt:  „dafür  sollt  ihr  sorgen,  dass  usw." 


ZUR   ALTSÄCHS.    GENESIS  147 

gel  s.  12  den  ausdriick  misversteht  (s.  u.  zu  V.  30).  333.  Hei.  1683  und 
Sievers  Hei.  s.  406  unter  erde.  Das  ags.  on  pys  lande  tvesan  ist  somit 
ebenso wol  eine  Variation  von  Ubban,  wie  der  entsprechende  ausdruck 
im  as.  texte. 

V.  17:  kuTnit  haglas  skion     himile  oitengi. 

liaglas  skion  (im  ags.  dafür  hce^les  scilr  808)  ist  offenbar  „hagelwetter" 
(Braune  s.  56.  Koegel  s.  9).  Aber  für  hüeyigi  kommen  wir  hier  mit 
der  von  Braune  angesetzten  bedeutung  „nahe  an  etwas  heranreichend" 
kaum  durch.  Passend  ist  sie  für  v.  311,  bei  der  Zerstörung  Sodoms: 
thuo  uuarä  thär  gihlii7in  mikil  \  himile  bitengi:  das  gewaltige  getöse 
dringt  zum  himmel,  wie  in  den  beiden  Otfridstellen,  wo  sich  himilo 
gixengi,  himile  gixango  findet  (I,  20,  10.  IV,  26,  27),  das  laute  wei- 
nen der  frauen.  Aber  ein  „nahe  an  den  himmel  heranreichendes  hagel- 
wetter" ist  wunderlich.  Aus  der  ursprünglichen  bedeutung  des  adjek- 
tivs  „conjunctus,  propinquus"  {sibbeon  bite?igea  Hei.  1440,  vgl.  ags. 
^eten^e  bei  Grein  I,  463,  sowie  an.  tengja  „zusammenbinden",  te7igäir 
„verschwägerung"  usw.)  entwickelt  sich  im  räumlichen  sinne  sowoi  der 
begriff  des  heranreichens  an  als  des  lastens  auf     Letzterer  findet  sich 

z.  b.  im  Beow.  2759    ^eseah  ^old  ^litinia?i  ^rimde  ^eie)i^e   „auf 

dem  boden"  und  ist  auch  hier  anzunehmen:  „das  den  himmel  be- 
deckende hagelwetter."  In  übertragenem  sinne  vgl.  auch  Hei.  4624, 
wo  Satan  dem  Judas  sero  bite7igi  ...  umbi  is  herta  wird  (introivit  in 
eum  Satanas  Joh.  13,  27). 

Y.  22.  Wie  ich  in  dem  angefülirten  artikel  s.  150,  haben  auch 
Koegel  s.  9  fg.  und  Holthausen  Ztschr.  f.  d.  a.  XXXIX,  52  fg.  hervor- 
gehoben, dass  scür  in  dem  leider  zerstörten  halbverse  22''  nicht  „wei- 
ter" heissen  kann,  wie  der  herausgeber  es  im  glossar  fasst,  sondern 
„schütz,  schirm",  eine  im  as.  bisher  unbelegte,  aber  sowol  aus  dem 
ahd.  und  mhd.  wie  aus  dem  mnd.  genügend  bekannte  bedeutung.  Grade 
iiuf  sächsischem  gebiete  sind  schür  und  schüre  noch  heutzutage  sehr 
geläufige  bezeichnungen  für  die  allerprimitivste  Schutzvorrichtung  gegen 
das  wetter:  vier  pfähle  mit  einem  dache  darüber  sind  eine  schür. 
Der  Zusammenhang  der  stelle  fordert  diese  bedeutung  entschieden: 
Adam  und  Eva  haben  keine  kleidung  (iimmerid  miä  giuuädi),  keinen 

schütz  gegen  frost  und  hitze  (iiuiht  te  scüra) ,  keine  speise  {scat- 

tas  uuiht  te  meti).  Holthausens  ergänzung,  welche  sich  den  spuren 
der  hs.  genau  anschliesst,  [ni  l]e  skfadouua  ni]  te  scilra,  ist  gewiss 
richtig.  Wenn  das  ags.  dafür  tö  scürsccade  hat,  so  dachte  der  Über- 
setzer vermutlich  an  das  ihm  allein  bekannte  scür  „tempestas",  traf 
aber  trotzdem  den  sinn  der  stelle. 

10* 


148  STMONS 

V.  30  fg.:  legarhedd  uuaran 

guman  an  griata. 

Auch  in  der  auffassung  dieser  stelle  treffen  meine  ausführungen  s.  150  fg. 
mit  denen  Holthausens  s.  53  zusammen;  s.  auch  Koegel  s.  12.  Unstrei- 
tig ist  uuaran  inf.  =  uuaron^  guma7i  acc,  noch  abhängig  von  liet 
28;  hgarbedd  uuaran  heisst  „die  lagerstätte,  das  totenlager  hüten." 
Ergänzend  sei  zu  Holthausens  erörterung  der  stelle  noch  folgendes  hin- 
zugefügt. Mit  hgarbedd  uuaran  lässt  sich  völlig  vergleichen  die  ags. 
forme!  ivcelreste  ivimian  Beow.  2902,  mit  unmittelbar  vorangehendem 
deäähedde  fcest  =  le^erbedde  fcest  1007;  le^erbedd  ist  also  „toten- 
lager", anderswo  sogar  „grab"  (Rede  der  seele  158),  dagegen  legarbedd 
Hei.  1852  „krankheit",  eigentlich  „ krankenlager "  (das  simplex  legar 
zeigt  die  gleiche  entwicklung). 

Waran  c.  acc.  in  der  bedeutung  „teuere"  findet  sich  in  unseren 
fragmenten  noch  dreimal:  76  so  Icmgo  so  thu  thit  liaht  uuai'os  „so 
lange  du  auf  dieser  weit  weilst"^,  161  thuo  fundun  sia  Äbrahama 
....  uuaran  myia  uuthstedi  „bei  einem  tempel  stehen"  (durchaus 
identisch  dem  sinne  nach  mit  bi  eniim  ala  standan  160")  2,  endlich 
216  that  kmd  uuaran  „im  lande  bleiben"  (vgl.  237  fg.).  Braune  hat 
also  ganz  recht  daran  getan,  „die  verschiedenen  uuaran  uuarön''''  (Koegel 
s.  12)  nicht  zu  trennen,  da  sie  eben  nicht  verschieden  sind;  nur  muss 
die  Verbindung  legarbedd  uuarari  im  glossar  hinzugefügt  werden. 

Über  griat  sei  noch .  bemerkt,  dass  nur  die  bedeutung  „sand, 
kies",  nicht  „ufer"  (trotz  97)  zu  belegen  ist;  vgl.  ausser  den  Heliand- 
stellen:  glarea.  id  est  arena.  g7'at  (1.  griat)  in  den  Oxforder  Yergilglos- 
sen  (Ahd.  gl.  II,  725 ^  Gallee,  Alts,  sprachdenkm.  s.  157).  Doch  heisst 
an  griata  an  unserer  stelle  vielleicht  „im  staube",  wofür  Hei.  1373 
sprechen  könnte:  than  it  te  uuihti  ni  dög,  \\  ac  it  firiho  barn^\  fötun 
spurnat,  \\  gumon  an  greote  (ad  nihilum  valet  ultra  nisi  ut  proiciatur 
foras  et  conculcetur  ab  hominibus  Mt.  5,  13). 

Y.  33  fg.:  frägoda  huuär  he  habdi  is  bröäar  thuo, 

kindiungan  kuman. 

1)  Koegels  Übersetzung  „so  lange  als  du  dieses  licht  schauest"  {uuaron  zu 
gr.  fopäcj)  ist  nicht  zu  biUigea,  da  thit  liaht  eben  „diese  weit"  bedeutet  (s.  oben 
zu  V.  14).     [Über  -an  neben  -on  s.  jetzt  van  Helten  Idg.  Forsch.  V,  351]. 

2)  Auch  hier  ist  Koegels  erinuerung  an  die  Cyuicari  kaum  am  platze;  freilich 
seine  Übersetzung  „im  begrLEfe  die  heilige  statte  zu  besuchen"  stimmt  nicht  dazu.  Es 
ist  doch  Mar,  dass  161*  nur  epische  Variation  ist  von  160''  und  keinen  neuen  gedan- 
ken  enthält. 


ZUR   ALTSÄCHS.    GENESIS  149 

Holthaiisens  bedenken  (s.  53  fg.)  gegen  die  von  Braune  angenom- 
mene transitive  Verwendung  von  kuman  teile  ich  vollständig,  nament- 
lich auch  seine  ablehnung  der  analogie  der  altn.  construction  koma  ein- 
hverjutn.  Auch  seine  Vermutung,  dass  in  kuman  ein  acc.  sing,  guman 
stecke  als  epische  Variation  zu  brüäar,  halte  ich,  wie  die  Interpunktion 
andeutet,  für  richtig.  Es  ist  aber  wol  nicht  einmal  nötig  einen  eigent- 
lichen Schreibfehler  anzunehmen;  es  genügt  in  kuman  eine  allerdings 
seltene,  aber  nicht  beispiellose  Orthographie  zu  sehen.  Will  man  cu- 
mono  „senatorum",  cumiski  „senatum"  und  verschiedene  formen  mit 
inl.  c,  k  in  den  Düsseldorfer  Prudentiusglossen  (neben  gumiskias 
„senatus",  gusmiki  [1.  gumiski]  „senatum"  u.  a.)^  nicht  gelten  lassen, 
so  darf  doch  an  sleka  „occisioni"  im  Essener  Evangeliar  (Gallee,  Alts, 
sprachdenkm.  s.  34),  suikle  Hei.  3577  M,  und  an  die  ausl.  gutturalen 
explosivae  in  Y  selber  erinnert  werden,  die  Eoegel  s.  15  fg.  unter  den 
beweisen  für  die  angehörigkeit  des  Schreibers  der  hs.  zum  hochdeut- 
schen Sprachgebiete  anführt. 

Y.  77.  Anlässlich  der  anmerkung  Braunes  über  forhiiätan  (s.  58), 
dessen  anlaut  durch  den  Stabreim  an  unserer  stelle  gesichert  wird, 
weist  mich  Cosijn  auf  die  möglichkeit,  dass  auch  in  ahivet  (=  äJiwcett'i) 
der  ags.  Gen.  406  ein  as.  forhuätid  stecken  könnte.  In  der  phrase 
dhivet  hie  from  his  hyldo  fordert  der  Zusammenhang  die  bedeutung  „ver- 
treiben, Verstössen",  während  ags.  ähwettan  „anregen"  heisst  (Grein  I, 
25;  vgl.  das  simplex  hwettan  „acuere,  instigare,  excitare"  II,  118). 
Den  hier  geforderten  sinn  dagegen  gewährt  ahd.  firuuäzxan  „recusare" 
(s.  die  belege  bei  Graff  I,  1087  fg.).  Yielleicht  hat  also  der  ags.  bear- 
beiter  in  seinem  original  etwa  forliuätid  (im  is  huldij  gefunden  und 
die  ihm  nicht  verständliche  wendung  umgebildet  zu  dem  lautlich  an- 
klingenden dhtvetft)   usw. 

Y.  114  — 116.  In  der  herstellung  dieser  verse  bin  ich  (a.  a.  o. 
s.  151  fg.)  mit  Sievers  (diese  ztschr.  XXYII,  535  fg.)  zusammengetrof- 
fen.    Sie  sind  abzuteilen: 

hie  Idboda  thuo  mest     liodio  harnun, 

godas  huldi  gumun:      thanan  quämun  guoda  mann, 

uuordun  uutsa  usw. 

Holthausens  ergänzungsvorschläge  (a.  a.  o.  s.  54)  werden  durch  diese 
einfache  remedur  überflüssig. 

1)  AUe  vier  formen  (Ahd.  gl.  II,  581«*.  583".  587 '^  589")  von  derselben, 
sächsischen,  hand  (s.  Gallee,  Alts,  sprachdenkm.  s.  128  fg.).  Möglicherweise  stammen 
die  mit  c  aber  doch  aus  einer  hochd.  vorläge. 


150  SYMONS 

V.  154  fg.:  habdun  im  so  uüu  fiunda  harn 

lumimas  geuuisid. 
Braune  (s.  60)  versteht  flmida  barn  von  den  Gott  feindlich  gesinnten 
Sodomleiiten  und  ist  dadurch  genötigt,  uuisian  als  „zeigen,  beweisen" 
aufzufassen,  in  einem  sinne  also,  den  das  wort  in  den  altgerm.  spra- 
chen und  speciell  im  as.  nicht  hat.  Ähnlich  übersetzt  Koegel  (s.  4)): 
„es  hatten  die  teufelskinder  sehr  viel  böses  getan."  Dass  aber  mit 
fiunda  bani  nicht  die  Sodomiten,  sondern  die  teufel  gemeint  sind,  wie 
Hei.  3604,  wird  durch  die  nähere  ausmalung  in  Y.  256  fgg.  über  allen 
zweifei  erhoben:  iiuas  thär  ßundo  gimang ,  ||  uureäaro  uuihteo,  \  thea 
an  that  uuam  habdun,  \\  thea  liudi  farledid,  wozu  man  halte  Hei.  2502. 
2989  fg.  3356  fgg.;  fiund  und  uuihti  sind  Synonyma.  —  An  der  drit- 
ten stelle  freilich,  wo  unsere  fragmente  den  plural  fiiind  bieten  (294), 
liiuss  man  darunter  die  Sodomiten  verstehen",  wol  als  die  feinde  Loths.  — 
Zu  übersetzen  ist  V.  154  fg.  demnach:  „es  hatten  die  teufel  sie  so  viel 
böses  gelehrt." 

y.  177  fg.:  ^^Ni  uuilli  ik  is  tht  mithan  nu,^''  quad  he, 

^^helan  Jioldan  man,     hü  inin  hugi  gcngit^'' 
Mit  recht  bemerkt  der  herausgeber  (s.  61):    „Im  Hei.  helau  und  com- 
pos.  stets  c.  dat.  pers.  und  acc.   rei  verbunden";    so   auch   himläan   an 
der  einzigen  stelle,    wo    es    in    der   bedeutimg  '„verbergen"    erscheint 

(3803).     Man  darf  also  die  frage  erheben,    ob  nicht  auch  hier  thi 

holdan  man  als  dativ  zu  fassen  sei;  die  schwache  form  des  adjektivs 
nach  dem  pron.  pers.  bedürfte  keiner  rechtfertigung,  und  is  in  it  zu 
ändern  wäre  auch  einfach  genug.  Im  ags.  freilich  ist  der  gen.  rei  bei 
miäan  keineswegs  unerhört,  sogar  bei  persönlichem  object,  z.  b.  for- 
äon  ic  min  mäd  Cura  Fast.  (Sweet)  23,  11:  es  könnte  also  auch  eine 
mischconstruction  vorliegen. 

V.  180'':  nu  hruopat  the  ceimardas  te  mi. 

Holthausen  (s.  54  fg.)  hat  sich,  wie  ich  (a.  a.  o.  s.  152  fg.),  um  die 
beseitigung  der  ceuuardas  bemüht.  Der  metrische  anstoss  war  natür- 
lich an  erster  stelle  bestimmend:  die  allitteration  von  ce-unärdas  auf 
dem  zweiten  compositionsgliede  ist  nicht  nur  „auffällig"  (Braune  s.  61), 
sondern  geradezu  unduldbar.  Gelegentliche  tonverrückungen,  wie  itn- 
undnda  uuini  Hei.  70  u.  ä.  (s.  Rieger  Ztsclir.  f.  d.  ph.  YII,  18  anm.), 
uueroltrehtuiäson  Musp.  37,  können  diese  abnormität,  noch  dazu  im 
hauptstabe,  nicht  rechtfertigen.  Dazu  kommt,  dass  sich  mit  den  „prie- 
stern",  die  tag  und  nacht  dem  herrn  die  sünden  der  Sodomiten  klagen, 
doch  auch  nicht  viel  anfangen  lässt.  Indem  ich  ihece  uuardas  abteilte, 
glaubte  ich  darunter  die  engel  verstehen  zu  dürfen,    die  im  Hei.  2599 


ZUR   ALTSÄCHS.    GENESIS  151 

helaga  hehanuuardos ,  in  unseren  fragmenten  306  Jielega  uuardos  ge- 
nannt worden;  vgl.  noch  Hei.  1088.  2481.  Ähnlich  Holthausen,  der 
thefsJcD  uuardas  lesen  will ,  mit  bestimmter  beziehung  auf  die  gott 
begleitenden  engel.  Der  Orthographie  wegen  sind  die  formen  sicB,  sie 
303.  254  zu  vergleichen. 

Koegel  bemerkt  s.  71,  durch  meine  besserung  werde  dem  verse 
allerdings  geholfen,  „nur  wollen  leider  die  engel  nicht  recht  in  den 
Zusammenhang  passen."  Jedesfalls  besser  als  die  priester;  doch  muss 
zugegeben  werden,  dass  auch  die  engel  etwas  fremdartig  auftreten. 
Die  verse  180 — ^184  sind  offenbar  hervorgerufen  durch  Gen.  XVIII,  20: 
clamor  Sodomorum  et  Gomorrhae  multiplicatus  est  et  peccatum  eorum 
aggravatum  est  nimis.  Descendam  et  videbo,  utrum  clamorem,  qui 
venit  ad  me,  opere  compleverint.  Der  alts.  dichter  scheint  den  clamor 
in  der  weise  gedeutet  zu  haben,  dass  das  gerücht  von  den  freveltaten 
der  Sodomiten  dem  herrn  durch  seine  engel  vermittelt  wird.  Eben 
deshalb  denke  ich  auch  lieber  an  die  engel  überhaupt,  als  an  die  bei- 
den gott  begleitenden  engel,  wde  Holthausen  wilU. 

V.  182  fgg. :  Nu  uilli  ic  sclbo  uuitan, 

ef  thia  mann  imder  hini  sulic  inen  fremmiat, 
uueros  uuayyidädi. 
Die  notwendigkeit ,  hier  ein  verbum  uuitan  „sehen,  zusehen"  anzu- 
setzen (Braune  s.  61),  das  der  Holland  nicht  kennt  und  dessen  existenz- 
berechtigung  im  germ.  überhaupt  mindestens  zweifelhaft  ist,  muss  trotz 
dem  videbo  der  quelle  in  abrede  gestellt  werden.  Es  genügt  uuitan, 
„wissen,  in  erfahrung  bringen"  völlig.  Auch  mit  dem  „einzigen  beleg 
in  der  ags.  poesie"  (Gen.  511)  steht  es  bedenklich:  nach  Junius  und 
Wülker  hat  die  hs.  an  der  betreffenden  stelle  sited,  und  diese  lesart 
gibt  einen  trefflichen  sinn.  Bequemlichkeitshalber  (vgl.  v.  513  fg.), 
meint  Satan,  bleibt  gott  ruhig  sitzen  und  bedient  sich  eines  boten; 
vgl.  auch  V.  667  hivcer  he  sylf  siteä. 

V.  209":  thanna  uuilli  ik  iro  ferah  fargeban. 

Mit  rücksicht  auf  die  paralielstelle  236  (vgl.  auch  221*"),  sowie  auf  die 
bedeutung  von  fargeban,  das  nicht  „schonen",  sondern  „schenken" 
heisst,  wird  zwischen  ik  und  iro  noch  im  einzuschalten  sein.  —  Dass 
auch  V.  236,  nach  beseitigung  des  interpolierten  ferahtera  manno,  als 
zweiter  halbvers  zu   235*  zu  fassen  sei,    vermuten  Braune  s.  62   und 

1)  Au  die  vou  befreundeter  seite  mir  angedeutete  möglichkeit,  dass  der  dich- 
ter durch  misverständniss  des  elamor  Sodomorum  unter  uuardas  die  bürger  von 
Sodom  verstanden  habe,  deren  geschrei  zum  ohr  des  herrn  dringe  (vgl.  ags.  hurli- 
weardas  Exod.  39  und  dazu  Cosijn  Beitr.  19,  458),  mag  ich  doch  nicht  glauben. 


152  SYMONS 

Sievers  a.  a.  o.  s.  536  gewiss  mit  recht.  Meinen  ergänzungsversuch 
(a.  a.  0.  s.  153)  nehme  ich  zurück,  und  Koegels  annähme  (s.  31)  eines 
„paroemiacus"  leuchtet  mir  hier  so  wenig  wie  anderwärts  ein. 

V.  254.  kmin  hier  und  v.  314,  von  Braune  zu  ahd.  queran 
„seufzen",  von  Koegel  s.  12  zu  ahd.  cliara  „klage"  gestellt,  ist  nach 
Braune  s.  62  „bisher  in  keiner  germ.  spräche  belegt."  Das  wort  ist 
aber  doch  wol  identisch  mit  ags.  cirm,  cyrm  „lärm,  geschrei"  (^-stamm? 
oder,  wahrscheinlicher,  nach  dem  abgeleiteten  verbum  cirman,  cyrman 
vokalisiert,  da  das  germ.  ein  suffix  -mi-  für  derartige  bildungen 
nicht  kennt:  s.  Kluge,  Nom.  stammbildungslehre  §  152),  vgl.  mnl.  nnl. 
Carmen,  kermen,  auch  mnd.  und  in  rheinischen  quellen  (Lexer  I,  1520) 
belegt.  Der  ausdruck  fegero  karm  bedeutet  nicht  sowol  das  „seufzen" 
der  todgeweihten,  als  ihr  schreien  oder  jammern. 

V.  258  fg.:  that  Ion  imas  thuo  (h)at  handum 

mikil  miä  7norähu,  that  sia  oft  men  dribun. 
Koegels  Übersetzung  der  stelle:  „da  nahte  die  gewaltige  Vergeltung 
band  in  band  mit  dem  tode,  Vergeltung  dafür  usw."  (s.  7)  ist  gewiss 
unrichtig,  at  handum  heisst  „nahe  bevorstehend",  wie  altn.  fijr(ir) 
hqndum  (z.  b.  Grip.  26^.  36^),  nnl.  ophanden  (mnl.  in  gleicher  bedeu- 
tung  auch  an  hant,  te  hande,  voor  hande  Yerdam  III,  106),  und  miä 
moräu  ist  mit  ld7i  zu  verbinden;  die  gewaltige  Vergeltung  tritt  auf 
als  morä. 

Y.  264''.  Das  metrisch  unzulängliche  adalknöslas  {adain  knoHas 
hs.)  bessert  Holthausen  s.  55,  wie  ich  (a.  a.  o.  s.  153  fg.),  in  adaliknos- 
las,  unter  Verweisung  auf  adaligebiirdeo  Hei.  2985  M  {ediligiburdeo  C). 
Koegel  s.  29  nimmt  wider  ohne  genügenden  grund  einen  „paroemia- 
cus" an. 

V.  275.  luokoian  (ags.  löcian)  „schauen"  findet  sich  zwar  nicht 
im  Heliand,  war  aber  bereits  belegt  in  den  Strassburger  glossen  (Gal- 
lee, Alts,  sprachdenkm.  275):  so  siu  (columba)  umbüocod^. 

Y.  287  fg.:  an  allara  seliäa  gihuuem     ühtfugal  sang, 
fora  daga  ^huoam. 
Das   deutlich  überlieferte,    aber  verderbte  hiioani  hat  bereits  verschie- 
dene besserungsversuche  hervorgerufen.     Der  herausgeber  ist  s.  63  ge- 
neigt, nach  einer  Vermutung  Kluges,  hiwoi  darin  zu  suchen,  indem  er 

1)  Dass  auch  as.  freäig  ,, flüchtig"  schon  iu  den  Düsseldorfer  Prudentiusglos- 
sen  belegt  war,  bemerkt  Holthausen  s.  56.  Er  hätte  hinzufügen  können,  dass  sich 
an  der  betreffenden  stelle  {fluhtiyun  endi  frethiün  „defugas"  Ahd.  gl.  11,  583*^. 
GaUee  s.  141)  sogar  dieselbe  allitterierende  Verbindung  findet,  wie  Gen.  75. 


ZUR    ALTSÄCHS.    GENESIS  153 

an  Otfrids  singendes  huhn  (lY,  13,  36.  18,  34)  erinnert,  das  ebenso 
als  episclie  Variation  des  den  morgen  verkündenden  hahnes  erscheint, 
wie  es  hier  der  fall  sein  würde.  Allein,  abgesehen  von  dem  metrisch 
anstössigen  halbverse,  welcher,  wie  Bramie  natürlich  nicht  entgangen 
ist,  durch  einsetzung  von  huon  entstünde,  wäre  die  corruptel  eines 
so  gewöhnlichen  wertes  schwer  begreiflich,  und  das  singende  huhn 
scheint  mir  wenigstens  nach  dem  schönen  ühtfugal  recht  ernüchternd 
zu  wirken  und  besser  für  Otfrid  zu  passen  als  für  unseren  dichter. 
Koegels  eiufall  huona  (ags.  hivene)  s.  29  wird  vermutlich  wenig  bewun- 
derer  finden.  Der  sinn  des  halbverses  kann  allerdings  kaum  ein  ande- 
rer gewesen  sein  als  „vor  tagesaubruch".  Holthausen  sucht  diesen  zu 
gewinnen  (s.  55)  durch  änderung  von  huoam  in  friioimn;  die  änderung 
ist  jedoch  ziemlich  gewaltsam,  und  „vor  früliem  tage"  wird  der  Alt- 
sachse wol  so  wenig  gesagt  haben  wie  wir.  Beachtenswerter  ist  Gal- 
lee's  conjectur  fora  dagaliornan  (Tijdschr.  voor  nederl.  taal-  en  letterk. 
XIII,  303  fgg.),  die  sich  nach  seinen  ausführungen  graphisch  wol  ver- 
teidigen lässt  und  dem  sinne  voll  genüge  leistet.  Freilich  ist  das  com- 
positum bisher  nicht  nachgewiesen,  das  von  G.  aus  Cleasby-Vigfüsson 
beigebrachte  nord.  dagsljömi  ist  keine  alte  bildung. 

In  der  anm.  teilt  Braune  eine  zweite  Vermutung  Kluges  mit,  der 
auf  ags.  dcegivöma,  dcegredicöma  „das  rauschen  des  anbrechenden  tages", 
zu  ivöma  „lärm"  hinwies:  s.  die  belege  bei  Grein  I,  184  fg.  und  we- 
gen der  zu  gründe  liegenden  mythischen  Vorstellung  J.  Grimm,  Andr. 
und  El.  s.  XXX  fg.  Der  gedanke,  dass  das  von  J.  Grimm  vermisste 
as.  uiiömo  in  dem  rätselhaften  huoam  stecke,  scheint  in  der  tat  aller 
erwägung  wert.  Stand  in  der  vorläge  etwa  fora  dagafuuomä^^  so 
konnte,  worauf  mich  mein  College  van  Holten  aufmerksam  macht,  der 
Schreiber  in  dem  ihm  nicht  mehr  bekannten  werte  fuu  leicht  als  hu 
verlesen,  und  die  anticipierung  des  a  entspräche  durchaus  seinen  ge- 
Avohnheiten.  So  sei  foi^a  dagas  uuoman  nach  Kluges  Vorgang  aufs 
neue  der  erwägung  empfohlen. 

Bedenken  eiTOgt  auch  Holthausens  verschlag,  wegen  der  auf 
allara  im  gegensatz  zu  v.  255  und  den  von  Behaghel  Germ.  21,  147 
angeführten  Heliandstellen  ruhenden  alliteration  (s.  Braune  z.  st.),  in 
V.  287*'  umzustellen  sang  ühtfugal.  Dass  das  verbum  den  hauptstab 
trüge,  liesse  sich  allerdings  in  der  Schilderung  verteidigen.  H.  ver- 
weist selbst  auf  den  unmittelbar  vorangehenden  zweiten  halbvers  nä- 

1)  Der  strich  über  dem  vocal  als  abkürziing  eines  n  auch  in  sctdü  232,  gi- 
sagdü  285. 


154  SYMONS 

hida  moragan  und  auf  Sievers  Altgerm,  metrik  §  24,  3;  s.  auch  Koe- 
gel  a.  a.  o.  s.  32.  Aber  die  Umstellung  zerstört  den  rhythmus,  wie 
jeder  sich  beim  lauten  lesen  überzeugen  wird.  Die  zeile  hat  gekreuz- 
ten Stabreim  mit  der  gewöhnlichen  reimstellung  ah  ab  (vgl.  auch  v.  153. 
293),  wodurch  auch  Braunes  bedenken  sich  erledigt. 

V.  321  fgg.  Diese  schwierigste  stelle  unserer  fragmente  lautet  in 
der  hs.  aluuard  farspüdit  sodouiariki  that  is  ....  enig  theg  nig&nas 
ac  sohl  dödit  andoäseu;  Braune  gibt  sie  im  texte  folgendermassen : 

al  uuard  farspüdit 

Sodomariki :     that  is enig 

*thcg  nigiejias,     ac  so  bidödit 

an  dodseii,  usw. 
In  der  anm.  s.  64  meint  er,  indem  er  sich  über  die  ausfüllung  der 
lücke  der  Vermutungen  enthält,  323^  könne  durch  eiufügung  von  uuard 
nach  bidödit  hergestellt  werden,  wenn  nicht  etwa  ac  so  bidödit  mit 
zu  324"  zu  ziehen  sei.  Dem  letzteren  vorschlage  pflichtet  Sievers 
(diese  zeitschr.  XXVII,  536)  mit  der  einschränkung  bei,  dass  die  lücke 
nach  ac  so  anzusetzen  sei,  also:  ac  so  ....  [uuard],  ||  bidödit  an  dod- 
seu.  Auch  Koegel  s.  29  entscheidet  sich  in  ähnlicher  weise.  Mit  Sie- 
vers trifft  in  der  trennung  zwischen  v.  323  und  324  Jellinek  Ztschr.  f. 
d.  a.  XXXIX,  151  zusammen;  er  ergänzt  ac  so  [bitkuimgan  uuard] ,\\ 
bidödit  an  dodseu. 

Was  zunächst  v.  322  ^  323°'  (nach  Braunes  Zählung)  anbetrifft, 
so  hat  Jellinek  erkannt,  wie  ich  (a.  a.  o.  s.  154),  dass  in  dem  hand- 
schriftlichen lautcomplexe  nig&nas  nicht  mit  dem  herausgeber  nigenas, 
sondern  ni  ginas  (das  übergeschriebene  i  soll  wol  besserung  des  e  sein) 
zu  suchen  ist.  Die  parallelstelle  des  Heliand,  wo  die  Zerstörung  So- 
doms  geschildert  wird,  tliat  tliär  enig  guinono  ni  ginas  (4369),  erhebt 
diese  auffassung  fast  zur  evidenz.  Auch  die  „ergänzung"  von  segg 
(.•Sodomariki)  scheint  sicher.  Die  einfachste  annähme  ist  nun  aber, 
dass  dieses  segg  verschrieben  in  theg  wirklich  vorliegt  und  die  lücke  in 
Y  nach  is  bedeutunglos  ist;  d.  h.  der  auch  sonst  voreilige  Schreiber 
hatte  segg  vermutlich  zu  früh  geschrieben  und  fuhr  dann  nach  e7iig 
gedankenlos  fort  mit  dem  synonymum  thegfan],  bemerkte  aber  später 
seinen  irrtum,  tilgte  das  anticipierte  segg,  vergass  jedoch  theg  in  segg 
zu  ändern.     Bei  dieser  annähme  erhalten  wir  die  tadellose  langzeile: 

Sodomariki,    that  is  enig  segg  ni  ginas.^ 

1)  Diese  fassung  der  zeile  verdanlie  ich  Cosijn. 


ZUR   ALTSÄCHS.    GENESIS  155 

Für  das  folgende  ac  so  bidödit  an  doäseu  bleibt  dann  nur  der 
räum  einer  halbzeile  übrig,  wenn  man  nicht  eine  durch  nichts  indi- 
cierte  lücke  in  der  Überlieferung  annehmen  will.  Er  genügt  auch  völ- 
lig, wenn  man  mit  Cosijn  (in  meiner  oben  citierten  abhandlung  s.  154) 
und  Holthausen  s.  55  btdod  it  liest.  Ein  verbum  hi-dödian  „töten", 
in  seiner  bedeutung  nicht  abweichend  vom  simplex,  ist  ja  immerhin 
denkbar  (vgl.  hibrengean,  bifelleafi  u.  a.),  aber  unbelegt.  Und  der 
ausdruck,  ein  ?iJd  oder  eine  stadt  „töten",  ist  äusserst  seltsam.  Mit 
der  lesart  bidod  it  entgeht  man  sowol  diesen  Schwierigkeiten  als  der 
notwendigkeit  einer  einfügung  von  uuard.  Allerdings  muss  man  den 
accent  von  bidödit  für  falsch  erklären,  doch  der  fall  steht  nicht  allein 
(s.  Holthausen  a.  a.  o.  und  Braune  s.  22).  bido7i  „harren,  bleiben" 
findet  sich  im  Hei.  4947  M  =  bidmi  C,  wozu  Holthausen  mit  recht 
auf  altfries.  bidia  verweist.  Zur  Verwendung  ist  zu  erinnern  an  den 
ags.  Phoenix  47  se  cedela  ivon^  . . .  bided  sivä  ^eblöwen  od  bceles  cyme, 
wo  bklan  synonym  ist  mit  seomian  v.  19  und  ivunicm  v.  82. 
Die  ganze  stelle  würde  also  lauten: 

cd  uuard  farspildit 
Sodomariki,     that  is  enig  segg  ni  giiias, 
ac  so  bidod  it  an  doäseu^     so  it  noh  te  daga  stendit 
puodas  gifidlit; 
(1.  h.  „ganz  Sodom  ward  zerstört,  dass  kein  mann  mit  dem  leben  davon 
kam,    aber  so  verharrt  es  im  toten  meer,    wie   es  noch  heute   dasteht 
mit  flut  erfüllt."    —    Metrisch   wäre   dann  v.  323"  aufzufassen  als  ein 
vers  vom  typus  C  mit  einfacher  allitteration  und  sechssil biger  eingangs- 
senkung   (belege    für    diese    rhythmische    form    aus  dem  Hei.  s.   Beitr. 
12,  328). 

GEONINGEN,    30.  MÄRZ    1895.  B.    SYMONS. 


Nachtrag. 

Nachdem  die  vorstehenden  bemerkiingen  sich  bereits  in  den  bän- 
den der  redaction  befanden,  erhielt  ich  durch  die  gute  derselben  einen 
correcturabzug  des  [im  ersten  hefte  dieses  bandes  s.  138  —  142  abge- 
druckten] aufsatzes  von  Th.  Siebs:  „Zur  altsächsischen  bibeldichtung", 
welcher  neben  schätzenswerten  nachweisen  von  quellen-  und  parallel- 
stellen auch  textkritische  beitrage  enthält.  Mit  dem  oben  vorgebrach- 
ten berühren  sich  seine  bemerkungen  zu  v.  10  —  wo  aber  mit  unrecht 
behauptet  wird,  der  ags.  Übersetzer  habe  das  them  der  vorläge  miss- 
verstauden,    während   er  doch  nur  durchaus  sachgemäss   den  as.  dativ 


156  TVILKEN 

durch  den  ags.  instrumentalis  ersetzte  —  und  zu  v.  22.  In  anderer 
richtung  dagegen  wie  die  oben  mitgeteilten  bewegen  sich  Siebs'  bes- 
serungs-  resp.  ergänzungsvorsehläge  zu  v.  180.  288  und  322  fgg. :  es 
möge  an  dieser  stelle  die  bemerkung  genügen,  dass  sie  mich  nicht 
überzeugt  und  mir  demnach  keine  veranlassung  geboten  haben,  ände- 
rungen  im  vorstehenden  vorzunehmen. 

GRONINGEN,    9.   APEm    1895.  B.    S. 


DEE  FENEISWOLF. 
Eine  mythologische  untersucliung. 

I. 

Begriff,   umfang,  einteilung  der  mythologie;   methode   der 

forschung. 
1.  „Unter  mythologie  verstehen  wir  die  summe  der  bilder  und 
dichtungen,  in  denen  ein  volk  seine  religiös -poetischen  anschauungen 
von  der  es  umgebenden  natur  und  den  in  ihr  wirkenden  kräften,  die 
es  als  persönliche  wesen  auffasste,  ausgeprägt  hat;  wir  verstehen 
darunter  auch  die  Wissenschaft,  die  bestrebt  ist  den  gehalt,  gang  und 
umfang  der  in  diesen  dichtungen  enthaltenen,  inneren  geistigen  ent- 
wickelung  darzulegen  und  deren  aufgäbe  daher  notAvendig  eine  histo- 
rische ist."  (Müllenhoff,  Deutsche  altertumsk.  Y,  157.)  —  Der  in  den 
vorstehenden  werten  ausgesprochenen  ansieht  des  um  die  deutsche 
mythologie  hochverdienten  forschers  kann  ich  mich  zunächst  darin  an- 
schliessen,  dass  auch  ich  den  ausdruck  mythus,  der  ursprünglich 
überhaupt  nur  wort,  erzählung  bedeutete,  aber  schon  im  griechischen 
altertum  oft  den  nebensinn  des  erdichteten,  der  Wahrheit  nur  ähnlichen 
Wortes  annahm  (=  Xöyog  ifj&vdrjg  sIkoviLojv  dXrjd-eLav)  in  der  wissen- 
schaftlichen spräche  auf  die  darstellung  der  von  erscheinungen  der 
natur  im  menschengemüt  veranlassten  eindrücke,  welche  namentlich 
in  der  urzeit  mancherlei  täuschungen  und  ungenauigkeiten  in  sich 
schloss,  einschränken  möchte;  jeder  echte  mythus  ist  mir  also  ursprüng- 
lich ein  „naturmythus"  \ 

1)  Einige  forscher  reden  auch  von  einem  historischen ,  einem  religiösen  mythus, 
noch  andere  glauben  die  darstellung  des  Seelenlebens,  welche  für  mich  im  weiteren 
sinne  zum  naturleben  selbst  gehört  (vgl.  §§2,  12  und  19)  von  letzterem  trennen  zu 
müssen.  Ob  die  sog.  kultusmythen  sich  auf  natui-mythen  zurückführen  lassen,  ist 
für  die  german.  mythologie  eine  frage  von  untergeordneter  bedeutung. 


DER   FENRISWOLF  157 

2.  Gehen  wir  nun  zu  einer  näheren  betrachtung  der  an  die  spitze 
dieses  kapitels  gestellten  definition,  so  fragt  es  sich  zunächst:  welcher 
art  sind  die  von  Müllenhoff  erwähnten  bilder?  Ziemlich  in  demsel- 
ben sinne  gebraucht  Wislicenus  (Symbolik  von  sonne  imd  tag  s.  14) 
das  wort  symbol  („das  s.  ist  ein  bild");  namentlich  lässt  sich  die  von 
Wishcenus  als  „niedere"  Symbolik  bezeichnete  stufe  (s.  20),  auf  der 
nur  gegenstände  der  unbelebten  natur  nebst  einfachen  geraten  des 
menschen,  welche  letzteren  auch  ich  als  anhang  des  naturgebietes 
betrachten  möchte  (heisst  doch  z.  b.  der  obere  mühlstein  dem  Griechen 
üVog),  den  „bildern"  Müllenhoffs  vergleichen,  Avährend  die  „höhere" 
Symbolik,  die  belebte  wesen,  namentlich  den  menschen  selbst  zur  ver- 
anschaulichung gebraucht  und  der  sich  daraus  entwickelnde  „mythus" 
(Wisl.  s.  85,  88)  den  „dichtungen"  in  der  definition  Müllenhoffs  ent- 
spricht. —  Während  aber  Müllenhoff  durch  nichts  andeutet,  dass  zwi- 
schen „bild"  und  „dichtung"  in  diesem  falle  neben  der  verwantschaft 
auch  eine  disharmonie  besteht,  so  hebt  diese  Wislicenus  ausdrücklich 
hervor:  „bei  der  bildung'des  mythus  wird  das  symbol  umgewandelt 
und  als  solches  aufgelöst"  (s.  85).  Auf  den  grund^  weist  eine  frühere 
stelle  hin  (s.  14),  wo  es  heisst:  „das  symbol  ist  ein  bild.  Erzeugen 
von  blossen  bildern  aber  ist  nicht  die  absieht  des  geistes  bei  der  sym- 
bolbildung.  Nicht  aus  dem  streben  phantastische  Vorstellungen  ohne 
realität  zu  schaffen,  sondern  aus  dem  streben  der  versinnlichung  wirk- 
lich bestehender  Verhältnisse  ist  das  symbol  hervorgegangen.  Der 
geist  meint  im  symbol  wirklich  das  innerste  wesen  des  angeschauten 
gegenständes  zu  erfassen.  So  kann  man  sagen,  das  symbol  entsteht 
aus  der  absieht  zu  erkennen  .  .  .  jedes  symbol  schliesst  auch  urteile 
in  sich,  denn  es  wird  von  denselben,  die  es  geschaffen  haben,  für 
wahr  gehalten." 

3.  Ist  diese  auffassung  richtig-,  so  werden  wir,  auch  wenn  wir 
die  von  Müllenhoff  gewählten  ausdrücke  „bilder  und  dichtungen"  bei- 

1)  Genauer  darüber  handle  ich  noch  in  §  15.  —  Die  terminologie  der  einzel- 
nen forscher  ist  bez.  dieser  fi-agen  eine  yerschiedene :  Laistner  (Nebelsagen  s.  116) 
unterscheidet  gleichnis  (=  symbol  Wisl.)  und  mythus;  Mannhardt  (Götterwelt  der 
deutschen  und  nord.  Völker  s.  17  fg.)  mythische  anschauung  (s.  22)  oder  naturbild 
(s.  17,  24,  25)  und  wirklichen  mythus;  symbol  verwendet  Mannhardt  in  anderem 
sinne  (s.  25)  als  Wislicenus.  —  Baer  (Germ.  33,  9  fg.)  geht  vom  primitiven  mythus 
aus  imd  dann  zu  fabel,  sage,  cyklus  weiter.  Seine  scharfsinnige  auffassung  lei- 
det nur  daran,  dass  sie  mehr  auf  widerkehrende  als  auf  ruhende  erscheinungen  im 
naturleben  anwendung  findet. 

2)  Derselben  ähnlich  ist  z.  b.  die  von  Laistner  (a.  a.  o.  236)  im  anschluss  an 
den  meteorologen  Kämptz  vorgetragene.     Auch  hat  schon  W.  Müller  (Mythologie  der 


158  WILKEN 

behalten,  sie  doch  so  zu  sagen  im  sinne  von  Wislicenus  interpretie- 
ren müssen.  — •  "Wie  steht  es  ferner  mit  der  erklärung,  wonach  in 
diesen  bildern  usw.  die  „religiös-poetischen"  anschauungen  eines 
Volkes  von  der  natur  ausgeprägt  sind?  Da  hier  schritt  für  schritt 
zu  gehen  ist,  blicke  ich  zunächst  nur  auf  das  attribut  poetisch 
hin.  Meine  meinung  darüber  ist  teilweise  schon  durch  das  vorher- 
gehende klar  gelegt.  Poetische  anschauungen  liegen  in  den  mythen  ja 
zweifellos  vor,  aber  gerade  in  den  ältesten  mythenkeimen  ist  doch  die 
poesie  im  ganzen  nicht  nur  eine  niecbige,  teilweise  selbst  grobsinn- 
liche, sondern  es  werden  uns  diese  eigenschaften  gerade  dadurch  ver- 
ständlich, dass  diese  mythen  nicht  als  gedieh te  in  unserem  sinne,  son- 
dern als  erste  versuche  einer  naturerklärung  sich  darstellen  i.  Soll 
aber  der  ausdruck  „poetische"  anschauungen  zunächst  nur  besagen, 
dass  diese  anschauungen  von  objektivem  anschauen  und  begreifen  der 
natur  noch  weit  entfernt  waren,  in  diesen  urteilen  mehr  dichtuug  als 
Wahrheit  sich  zeigte,  soll  somit  in  dem  attribut  „poetisch"  eher  ein 
mangel  als  ein  vermögen  hervorgehoben  werden,  so  kann  der  ausdruck 
auch  für  die  älteste  zeit  übernommen  werden,  der  für  die  spätere  in 
etwas  anderem  sinne  zutrifft  2. 

4.  Was  ferner  das  attribut  „religiöse"  betrifft,  so  ist  hier,  wo 
Avir  es  lediglich  mit  naturreligionen  zu  tun  haben,  nicht  etwa  zweifel- 
haft,   dass  wir  in  den  mythen   eine    der  wichtigsten    quellen   unserer 

deutschen  heldensage  s.  8)  insofern  bedenken  gegen  die  definition  Müllenhoffs  geäusseii, 
als  die  dichterische  behandlung  oft  gerade  die  Veränderungen  des  mythus  bedingt. 
„Es  ist  ein  verhängnisvoller  irrtum,  wenn  einige  dichtung  und  mythus  nicht  von 
einander  scheiden."  Auch  Baer  (Germ.  a.  a.  0.)  betonte  mit  recht,  dass  die  mehr 
passive  poesie  des  mythus  von  der  eigenthchen  (mehr  aktiven)  poesie  zu  trennen  sei. 
Irreführend  scheint  mir  dagegen  der  ausspruch  desselben  (a.  a.  0.  s.  5):  nicht  der 
erkenntniswert,  der  gefühlswert  bestimmt  die  mytheu-,  wie  jede  begriifsbildung, 
so  gern  ich  anerkenne,  dass  die  am  meisten  auf  das  gemüt  einwirkenden  erschei- 
nungen  die  wirksamsten  faktoren  der  mythenbildung  wurden.  Dass  aber  eine  „auf- 
fassung  des  unbegreiflichen  nach  analogie  des  begriffenen"  nur  stattfinden  konnte, 
wenn  ein  tiefer  eindruck  das  gemüt  aufregte,  wird  durch  die  w.  u.  §  5  fg.  ausfüh- 
rungen  widerlegt  werden. 

1)  Auf  die  rohheit  der  ältesten  mythischen  anschauungen  hat  namentlich 
W.  Schwartz  widerholt  (z.  b.  Ursprung  der  mythol.  s.  11)  hingewiesen;  dass  in  die- 
sen ältesten  mythen  doch  auch  der  erste  versuch  eines  naturer kennens  vorhegt,  deu- 
tet derselbe  mehr  gelegentlich  an  (z.  b.  a.  a.  0.  s.  13). 

2)  Vgl.  M.  Müller,  Vorlesungen  über  den  Ursprung  und  die  entwickelung  der 
rel.  s.  316:  vieles,  was  für  uns  poesie  ist,  war  für  sie  prosa;  was  uns  wie  ein  über- 
mass  von  phantasie  erscheint,  war  wirklich  mehr  folge  einer  unbeholfenheit  in  der 
auffassung  usw. 


DER  FENRISWOLF  159 

keuntnis  von  der  religion  eines  Volkes  besitzen,  wol  aber,  ob  alle 
mythen  von  vorn  herein  religiösen  Charakter  hatten.  Auch  in  jenem 
weiteren  sinne,  in  dem  die  lehre  von  den  dämonen  schon  der  religion 
zugerechnet  wird,  glaube  ich  doch  die  frage  nicht  unbedingt  bejahen 
zu  dürfen.  Können  wir  nach  den  Systemen,  in  die  später  die  mythen 
gebracht  sind,  auch  jeden  mythus  an  die  gestalt  eines  gottes  oder 
heros^  oder  riesen  oder  an  elbische  geister  anknüpfen,  so  fehlt  es 
andererseits  doch  nicht  an  anzeichen,  dass  es  in  alter  zeit  auch  eine 
naiv -poetische  naturbetrachtung  ohne  eigentlich  religiösen  Charakter 
gab.  Man  braucht  dabei  nicht  an  das  kaum  bemerkliche  religiöse  ele- 
ment  in  dem  leben  einiger  naturvölker  (namentlich  in  Australien)  zu 
erinnern;  da  überall  auch  rückfälle  in  der  kultur  vorkommen-,  sind 
derartige  beispiele  nicht  ohne  weiteres  entscheidend,  um  so  mehr  als 
auch  ein  verschiedener  grad  religiöser  Veranlagung  bei  verschiedenen 
Völkerrassen  mehr  als  wahrscheinlich  ist.  Man  muss  also  die  Urkunden 
des  betreffenden  volkes  selbst  prüfen,  dessen  religiöse  entwickelung 
man  begreifen  will.  Auf  nordischem  gebiet  bietet  eines  der  deut- 
lichsten beispiele  für  eine  noch  nicht  durchweg  religiös  accentuierte 
naturbetrachtung  eine  allerdings  mehrfach  misdeutete  stelle  der  Her- 
vararsaga. 

5.  Die  dieser  sage  eingefügten,  teilweise  viel  älteren  rätseP  geben 
eine  zwar  nicht  im  modernen  sinne,  doch  relativ  objective,  rein  äusser- 
liche  naturbetrachtung  wider,  welche  erscheinungen  der  belebten  wie 
unbelebten  natur,  ja  erzeugnisse  des  menschlichen  fleisses  dicht  neben 
einander  stellt  und  nur  nach  äusseren  ähnlichkeiten  beurteilt.  Da  wer- 
den so  nach  einander  der  trank  mungdt  nach  seinen  Wirkungen,  der 
gang  über  eine  brücke,  der  nachttau  als  mittel  gegen  den  durst,  der 
hammer  des  goldschmiedes,  der  nebel,  der  anker,  der  rabe,  der  lauch, 
die  blasebälge,  der  hagel,  der  mistkäfer  usw.  vorgeführt  und  die  art 
der  betrachtung  ist  weder  unpoetischer  noch  weniger  volkstümlich  als 
manche  Strophe  der  Edda-^.  Hier  wollen  wir  nur  die  Strophe  über  den 
nebel  (Herv.  saga  ed.  Bugge  238)  betrachten.     Sie  lautet  in  Übersetzung: 

1)  Mit  diesem  nauien  bezeichne  ich  den  holden,  der  als  Umgestaltung  eines 
gottes  anzusehen  ist. 

2)  So  bezeug-t  es  z.  b.  für  die  Tupende  in  Süd -Afrika  "Wissmaun  (Unter  deut- 
scher flagge  quer  durch  Afrika,  kleine  ausg.  s.  60),  vgl.  im  allg.  Max  Müller  Über 
den  urspr.  u.  die  entw.  der  rel.  s.  74. 

3)  Im  Grundriss  der  german.  phil.  II,  1,  133  hebt  Mogk  hervor,  dass  dieser 
sage  ältere  Lieder  zu  gründe  liegen,  vgl.  auch  die  folgende  anm. 

4)  Mogk  a.  a.  o.  s.  80:  „eine  rätselsammlung,  die  sich  in  jeder  bezichung 
neben  die  Vaf{)r.  stellen  kann." 


160  VriLKEN 

„"Wer  ist  der  mächtige, 

Der  die  marken  durchfährt? 

Seen  und  sümpfe  verschlingt  er. 

Den  wind  er  fürchtet, 

Doch  wenig  den  menschen. 

Dem  Schimmer  der  sonne  er  schadet."  ^ 
Dann  folgt  die  antwort:  ,,Das  ist  der  nebel;  vor  ihm  sieht  man  die 
see  nicht,  aber  er  verschwindet  gleich,  wenn  der  wind  kommt,  men- 
schen können  ihm  nichts  anhaben;  er  lähmt  den  schein  der  sonne."  ^  — 
Wenn  Uhland  in  seiner  gelegentlichen  besprechung  des  rätseis  (Germ. 
4,  85)  sagt,  dass  hier  kein  (eigentlicher,  zur  Personifikation  fortge- 
schrittener) mythüs  vom  nebel  vorliegt,  so  ist  dies  zweifellos  richtig, 
aber  die  werte:  „mit  der  ausgesprochenen  lösung  des  rätseis  schwin- 
det die  scheinbare  persönlichkeit  des  finstern  ungenannten"  werden 
durch  die  errungenschaften  jüngerer  forscher  glänzend  widerlegt.  Bei 
diesen  hat  der  „finstere  ungenannte"  glücklich  einen  mythologischen 
namen  gefunden.  Es  ist  der  Fenriswolf,  von  dem.  es  ja  yaf|)r.  46,  4 
(Sijmons)  heisst,  dass  er  die  sonne  verschlingen  solP.  —  Da  nun  auch 
der  nebel  dann  und  wann  als  fuchs  oder  wolf  aufgefasst  wird,  so 
stimmt  die  erklärung  zu  dem  quellenzeugniss  ja  „in  jedem  zuge." 

6.  "Wer  entweder  selbst  sieht  oder  durch  Uhland  sich  daran  erin- 
nern lässt,  dass  hier  noch  kein  mythus,  sondern  nur  ein  spielender 
ansatz  dazu  sich  findet,  dem  werden  leicht  ähnliche  „mythenkeime" 
auch  sonst  in  der  litteratur  aufstossen,  wenn  auch  in  unseren  „alten" 
quellen,    die  schon  sämtlich  einen  geordneten  götterstaat  voraussetzen, 

1)  Der  von  Uhland  (vgl.  im  text  das  folg.)  benutzte  text  (Herv.  saga  1785, 
s.  150  fg.)  bietet  die  Varianten  enn  myrkvi  („der  dunkle")  statt  enn  mikli  („der 
grosse"). 

2)  In  der  antwort  erhält  der  von  Uhland  benutzte  text  noch  die  angäbe:  „Der 
finstere  nebel  steigi  auf  aus  Gymis  (des  meergottes)  sitzen  und  verschhesst  des  him- 
mels  anbhck." 

3)  Einer  gelegentlichen  bemerkuug  F.  Magnussens  (Den  seldi-e  Edda  IV,  228), 
wonach  das  rätsei  der  Herv.  auf  Fenrir  zu  beziehen  sein  möchte,  ist  leider  auch 
Laistner  (Nebels,  s.  30)  gefolgt.  Aber  wenn  dieser  gelehrte,  durch  Mannhardt  (Rog- 
genwoK  61)  bestimmt,  bei  F.  zunächst  „an  den  gewitter stürm,  der  den  hinimel 
mit  finsternis  umhüllt"  dachte,  dann  aber  lieber  an  ,, winterliche  mächte  der  finster- 
nis"  denken  woUte,  so  stimmt  keine  dieser  erklärungen  zu  einem  wesen,  das  bis 
zum  Weltuntergange  in  festen  gewahrsam  gebracht,  auch  vorher  nichts  furchtbares 
verübt  hat.  Man  vergesse  nicht,  dass  der  wolf  unter  umständen  sogar  woltätige 
wesen  bezeichnet  (vgl.  §  14).  Auch  das  von  Laistner  citierte  „wolfsalter"  hat  mit 
dem  Fenriswolfe  nichts  zu  tun,  vgl.  kap.  in,  §  7  gegen  ende. 


DER   FENRISWOLF  161 

oft  etwas  binweggedacht  werden  miiss.  Betrachten  wir  z.  b.  Gylfagin- 
ning  10  die  angäbe  über  nacht  und  tag,  so  ist  von  der  auffassung, 
dass  sie  allvater  an  den  himmel  gesetzt  habe,  leicht  abzusehen;  dass 
sie  die  erde  mit  einem  gespann  in  bestimmter  widerkehr  umkreisen, 
kann  ursprünglich  ohne  jede  beziehung  auf  die  götter  geglaubt  sein. 
Auch  die  weitere  angäbe,  dass  vom  gebiss  des  pferdes  der  nacht  der 
sogenannte  nachttau  herabtrieft,  von  der  leuchtenden  mahne  des  tages- 
rosses  aber  luft  und  erde  erleuchtet  werden,  lässt  noch  keine  deutliche 
beziehung  auf  freundliches  oder  feindliches  Verhältnis  zur  menschen- 
weit erkennen.  Da  die  meisten  naturerscheinungen  aber  nach  einer 
dieser  beiden  selten  betrachtet  werden  können,  so  wurde  jene  einfach 
physikalisch-mythische  auffassung,  welche  die  erhabeneren  naturvor- 
gäuge,  z.  b.  die  am  himmel  mit  anderen,  dem  menschen  näher  liegen- 
den erscheinungen  einfach  verglich,  meist  bald  durch  eine  mitbetei- 
ligung  des  menschlichen  gemütes  in  furcht  oder  frommer  Verehrung 
zu  einer  betrachtung  gewandelt,  von  der  aus  man  die  naturgebiete  als 
Wirkungskreise  dem  menschen  an  macht  überlegener,  bald  woltätiger 
bald  schädlicher  dämonen  betrachtete,  was  endlich  unschwer  dazu 
führte,  diese  geister  auch  als  sittlich  bestimmte,  gute  oder  böse  mächte, 
anzusehen,  mit  welcher  Unterscheidung  die  Verehrung  der  götter  in 
dem  sinne  des  späteren  heidentums  im  principe  gegeben  war^  Muss 
mau  sich  auch  davor  hüten,  die  entwickelung  des  menschlichen  be- 
wusstseins  der  natur  gegenüber  nach  einer  toten  formel  oder  Schablone 
behandeln  zu  wollen ,  liegt  dem  besonnenen  urteil  vielmehr  das  geständ- 
nis  nahe,  dass  keime  der  scheinbar  höheren  auffassung  schon  in  der 
„niederen"  liegen  müssen  und  dass  günstige  umstände  oft  einen  keim 
sehr  rasch  zur  triebkraft  bringen,  dass  somit  die  eben  angedeuteten  drei 
stufen   der  naturbetrachtung  nicht  notwendig  immer  als   chronologisch 

1)  Es  wird  leicht  erkannt  werden,  dass  diese  betrachtungsweise  mehr  in  den 
ausgangs  - ,  als  in  den  endpunkten  der  von  "Wislicenus  entspricht.  Dieser  findet  s.  88 
in  der  individualisieruug  der  Persönlichkeit  das  für  den  niythus  charakteristische, 
während  die  ., wahre  hesonderheit'-  innerhalb  der  Sphäre  des  Symbols  nicht  erreicht 
werden  könne.  Aber  gerade  der  satz  ,,das  Symbol  betrachtet  die  persönlichkeit  als 
gattimgsbegrifT "  ist  sehr  anfechtbar.  Mit  triftigen  gründen  hat  AY.  Scliwartz  (Poet, 
naturansch.  I,  154  fg.)  zu  beweisen  gesucht,  dass  in  der  urzeit  die  sonne  des  neuen 
tages  oder  die  nach  dem  unwetter  neu  erscheinende  als  ein  ganz  neues  wesen  betrach- 
tet sei,  wozu  auch  Vaf|)r.  47  deutlich  stimmt;  erst  allmählich  lernte  man  die  Identität 
der  in  deu  verschiedenen  liypostasen  der  sonne,  des  mondes  usw.  sich  zeigenden 
wesen  erkennen.  —  Nur  in  dQm  freieren  sinne  also,  dass  eine  ethische  indivi- 
dualisierung',  ein  moralischer  Charakter  dem  Symbole  noch  nicht  zukommt,  kann  ich 
jener  auffassung  von  Wislicenus  beipflichten. 

ZEITSCHRIFT   F.   DEUTSCHE   PHILOLOGIE.     BD.    XXVIII.  11 


162  WILKEN 

scharf  geschiedene  perioden  gelten  müssen  (vgl.  u.  n.  4  und  §  13),  so  wird 
andererseits  doch  für  eine  methodische  mythenerforschung  kaum  ein 
anderer  weg  offen  stehen  als  der  in  jenen  drei  stufen  sich  darstellende, 
wobei  leicht  zu  bemerken  ist,  dass  zwar  die  älteste  zeit  allen 
gegenständen,  auch  den  für  uns  toten,  eine  art  von  beseeltheit  zuge- 
stand \  die  volle  menschenähnliche  persönlichkeit  den  naturmächten 
aber  erst  zugleich  mit  der  sittlichen  bestiramtheit  geliehen  werden 
konnte. 

7.  Um  die  angenommenen  drei  stufen  an  einigen  nahe  liegenden 
beispielen  zu  erläutern,  so  stellt  sich  zu  der  naiv  physikalischen  be- 
trachtung  des  neb  eis,  die  wir  in  dem  rätsei  der  Hervararsage  (vgl.  §  5) 
fanden,  eine  art  von  dämonischer  auffassung  desselben  phänomens  in 
jenen  sagen  vom  „nebelmännlein",  die  zuerst  ühland  mitgeteilt  hat, 
während  sie  jetzt  in  reicherer  fülle  vorliegen;  zu  einer  ethischen  be- 
stimmtheit  konnte  der  nebel  nur  in  unsicheren  ansätzen  gelangen 2.  — 
Dass  auch  bei  dem  gewitter  nicht  etwa  die  dämonische  auffassung 
die  älteste  war,  geht  einmal  aus  den  Zeugnissen  über  die  auffassung 
der  naturvölker  hervor 3,  andererseits  wird  es  auch  durch  die  erwägung 
bekräftigt,  dass  erst  mit  der  gewinnnng  fester  w^ohnsitze  und  geregel- 
tem anbau  der  felder  der  blitzschlag  (nebst  dem  hagel)  seine  verderb- 
lichste Wirkung  zeigen  konnte;  doch  hatte  eine  höhere  kultur  auch  die 
woltätigen  folgen  solcher  erscheinungen  kennen  gelehrt,  so  dass  wir 
den  donnerkeil  allmählich  aus  der  band  dämonischer  wildgesellen  in  die 
der  höchsten ,  die  menschenweit  schirmend  umwaltenden  gottheiten  w^an- 
dern  sehen^.  —    Wählen  wir  das  dem  blitze  so  nahe  stehende  feuer, 

1)  Mau  ueimt  diese  Weltanschauung  jetzt  gewöhnlich  auimismus.  Über  die 
poetische  berechtigung  derselben  handelt  Grirani  Myth.^  539;  von  ihr  aus  werden 
manche  verwandeliingssagen ,  z.  b.  die  von  menschen  in  steine  fw.  u.  §  16)  eher  ver- 
ständlich. 

2)  Uhland,  Genn.  4,  82  —  87;  seitdem  hat  L.  Laistuer  in  seinem  gehaltvollen 
buche  Nebelsagen  (Stuttg.  1879)  sehr  viel  neues  hinzugefügt,  vgl.  namentlich  s.  184 
fg.  —  Insofern  der  nebel  im  hochgebirge  und  an  der  see  auch  eine  unheimlich  finstere 
macht  werden  kann,  sind  auffassungen  erklärlich  wie  die  von  Laistner  s.  235  belegte, 
wo  man  im  nebel  den  teufel  verborgen  glaubte. 

3)  So  weit  diese  Völker  von  einer  richtigen  erklärung  dieser  Vorgänge  natür- 
lich auch  entfernt  sind,  so  betrachten  sie  donner  und  blitz  doch  zunächst  nur  als 
auffällige,  gelegentlich  sogar  zum  scherz  auffordernde  phänomene,  vgl.  Schwartz 
Poet,  naturansch.  II,  123  fg.  Dazu  stimmt  die  angäbe  Wissmanns  (vgl.  oben  s.  159 
n.  2):  ein  gefühl  der  furcht  beim  leuchten  des  blitzes  und  groUen  des  donners  kennt 
der  söhn  der  wildnis  nicht  (a.  a.  0.  s.  57). 

4)  Das  angeführte  ist  nicht  so  zu  verstehen,  als  ob  immer  eine  frist  von  Jahr- 
hunderten zu  dieser  entwickelung  nötig  gewesen  sei.     Vielmehr  sind  geistig  regsamere 


DER   FENRISWOLF  163 

SO  zeigt  es  sich  einfach  als  verzehrendes  dement  aufgefasst  in  dem 
Logi  der  Gylfag.  (c.  46);  als  dämonisches,  die  weit  schliesslich  ver- 
nichtendes wesen  in  Surtr  (Gylf.  51);  als  ethisch  bestimmte,  in  diesem 
falle  fast  diabolische  persönlichkeit  in  Äsa-Loki  (Gylf  33).  Verglei- 
chen wir  diese  drei  gestalten  näher,  so  ergibt  sich  folgendes:  in  Snrtr 
ist  die  in  Logi  nur  eben  angedeutete  personificierung  so  weit  gediehen, 
dass  nun  das  dement  von  ihm  selbst  unterschieden  werden  kann  (kann 
hefir  logauda  sverä  —  ok  muri  brenna  allem  heim  7neä  eldi,  vgl.  auch 
Wisl.  s.  89);  in  Loki  endlich  ist  die  persönlichkeit  so  durchgebildet 
wie  bei  wenig  anderen  erscheinungen  der  nordischen  mythologie^;  er 
tritt  (in  Lokasenna)  allein  dem  ganzen  götterstaat  entgegen,  weiss  Baldrs 
tod  herbeizuführen  usw.  — ■  Aber  diese  entwickelung  nach  der  geistig- 
sittlichen Seite  bedingt  zugleich  eine  entfernung  von  der  natürlichen 
basis  der  mythischen  Vorstellung,  die  ihre  alte  bedeutung  nie  ganz  ein- 
büsst:  so  sehen  wir  nicht  nur  im  letzten  kämpfe  Loki  von  dem 
noch  mehr  physisch  gehaltenen  Surtr,  der  die  weit  in  flammen  setzt, 
überragt ,  sondern  selbst  bei  dem  mehr  scherzhaften  wettkampfe  im 
essen  (Gylf.  46)  erliegt  Loki  seinem  rein  elementaren  nebenbuhler 
Logi-.  —  Während  die  sonne,  rein  physikalisch  betrachtet,  von  der 
Urzeit  als  ein  eher  mit  goldenen  borsten  (=  strahlen)  aufgefasst  wer- 
den konnte 3,  ist  ihre  für  den  menschen  woltätige  macht  ganz  besonders 
in  dem  gotte  Freyr  ausgeprägt  (Gylf.  24,  Yngls.  c.  12),  welchem  die 
spätere  mythologie  dann  jenen  eher  als  attribut  beigab,  vgl.  Skälda 
c.  35.  —  Fehlt  es  diesem  gotte  an  sittlicher  bestimmtheit  auch  nicht 
völlig,    so   tritt  diese  widerum   doch  weit  deutlicher  in  dem  eddischen 

Völker  z.  b.  durch  die  gewittervorgiluge  sehr  früli  zur  vorstelhing  dämonischer  uud 
(gleichzeitig  vielleicht)  auch  göttlicher  mächte  gelangt.  Denu  indem  die  finsteren  wöl- 
ken, die  den  regen  zurückzuhalten  schienen,  dämonisch  gefasst  wurden,  sah  man  in 
dem  die  wölken  teilenden  blitz  das  schwert  eines  göttlichen  wesens;  vgl.  z.  b. 
Schwartz,  Urspr.  der  myth.  181  —  190,  282  fg. ;  das  brüllen  des  donners  wird  meist 
den  wolkenuDgetümen  zugeschrieben.  Seltener  wird  in  unseren  quellen  der  blitz 
selbst  einem  dämonischen  wesen  beigelegt,  wie  z.  b.  dem  Geirrgdr  in  der  erzählung 
der  Skälda  c.  18  (Pros.  Edda  108,  6  fg.). 

1)  Vgl.  den  warmen  liinweis  auf  Loki  und  Sigyn  als  objokt  für  eine  künst- 
lerische darstellung  (die  seitdem  mehrfach,  z.  b.  von  Märten  Eskil  Vinge,  versucht 
ist)  bei  N.  M.  Petersen  am  schluss  seiner  Nordisk  mythologi. 

2)  Über  das  Verhältnis  von  Loki  zu  Surtr  vgl.  aucli  meine  Untersuch,  zur 
Snon-a  Edda  s.  121. 

3)  Diese  deutung  des  ebers  Gullinbursti  geben  F.  Magnussen  (Lex.  mythoL); 
Schwartz,  Poet,  naturansch.  I,  122;  Kuhn,  Über  die  entwickelungsstufen  der  mythol. 
s.  136  u.  a. 

11* 


164  WILKEN 

Baldr  hervor,  der  aber  gerade  wegen  dieser  betonung  des  ethischen 
Charakters  (z.  b.  Gylf.  22)  zu  den  jüngsten  Schöpfungen  des  altnor- 
dischen götterglaubens  gehört  haben  muss;  spuren  von  einer  wirklichen 
geltung  desselben  im  Volksleben  finden  sich  nicht  ^.  ■ —  Diese  beispiele 
dürften  vorläufig  genügen,  um  statt  der  neuerdings  beliebten  und  in 
einigen  fällen  auch  ausreichenden  Unterscheidung  „niederer"  von  „hö- 
herer" mythologie,  welche  doch  das  verurteil  erwecken  kann,  als  ot 
die  geistigere  auffassung  so  zu  sagen  nur  ein  komparativ  der  natür- 
lichen gewesen  sei-,  die  oben  angenommenen  drei  stufen  der  mytheu- 
bildung  soweit  zu  empfehlen,  dass  sie  als  die  einfachste,  dem  gewöhn- 
lichen entwickelungsgange  wirklich  entsprechende  bezeichnung  gelten 
können^.  Ist  aber  erst  auf  der  dritten  stufe,  die  von  sittlich  bestimm- 
ten wesen  handelt,  ein  eigentlicher  götterglaube  möglich,  so  ergibt  sich 
daraus,  dass  ich  Müllenhoffs  fassuug  „religiös -poetische  anschauungen" 
doch  auch  nur  in  dem  sinne  adoptieren  kann,  dass  ein  gewisser  keim 
religiöser  naturbetrachtung  der  ältesten  mythischen  zeit  schon  angehört'^; 
dasselbe  Verhältnis  ergibt  sich  bez.  des  ausdrucks  „den  in  ihr  wirken- 
den kräften,  die  es  als  persönliche  wesen  auffasste",  vgl.  oben  §  6 
gegen  ende. 

8.  Noch  richtiger  wäre  es  vielleicht  der  ersten  stufe  (der  des 
mythischen  symbols  oder  der  physikalischen)  nur  eine  äussere  verglei- 
chung  fernerliegender  mit  alltäglichen  erscheinungen  zuzusprechen,   die 

1)  Dass  von  niäunlicheu  gottheiten  (ausser  Tyr)  eigentlicli  nur  I*6rr,  Odiun 
und  Freyr  (nebst  Nj^rdr)  eine  altbegründete ,  festgewurzelte  Verehrung  im  norden 
genossen  haben,  hat  H.  Petersen  überzeugend  nachgewiesen;  vgl.  Om  nordboernes 
gudedyri.  s.  98.  —  Über  Baldr  vgl.  auch  Mogk  in  Pauls  grundriss  I,  1062  fg.  Dass 
dieser  sittlich  höchststehende  zugleich  als  der  physisch  schwächste  gott  gedacht  wurde, 
geht  aus  Gylf.  49  deutlich  hervor. 

2)  Vgl.  oben  s.  157  anm.  1. 

3)  In  teilweise  ähnlicher  weise  hat  Henne  (Die  deutsche  volkssage  s.  3)  drei 
stufen  (tiergestalt ,  dämonen,  menscliengestalt)  unterschieden,  doch  sind  die  abwei- 
chungen  schon  auf  der  ersten  stufe,  die  ich  keinesweges  auf  tiergestalten  beschränke, 
deutlich  und  treten  auch  sonst  vielfach  hervor,  vgl.  u.  s.  166  anm.  2. 

4)  Dass  andererseits  die  religion  nicht  lediglich  aus  der  naturbetrachtung  abzu- 
leiten sei,  betont  mit  recht  Manuhardt  (a.  a.  o.  37):  „Ein  gewöhnlicher  Irrtum, 
dem  wir  entgegentreten  müssen,  ist  es,  dass  mythologie  und  religion  schlechthin 
eines  seien."  Über  die  allmähliche  Vermischung  beider  handelt  Mogk  im  Anz.  für 
indog.  sprach-  u.  altk.  III,  s.'  23.  Vgl.  übrigens  auch  Wislicenus,  Loki  s.  2, 
"W.  Schwartz,  Poet,  naturansch.  II,  VIII  fg.  und  die  beachtenswerten 'ausführungen 
M.  Müllers  Über  Ursprung  und  entwickelung  der  i'eligion,  besonders  in  der  2.,  4.,  5. 
und  6.  Vorlesung.  —  Eine  völlige  Scheidung  religiöser  (hieratischer)  und  volkstüm- 
licher mythen  hat  0.  Gruppe  versucht.  (Die  griech.  culte  u.  mytheu,  vgl.  Mogk  in 
Pauls  Grundriss  I,  993.) 


DER   FENRISWOLP  165 

beide  auch  im  machtbereiche  des  menschen  liegen  können  (vgl.  für 
letztern  fall  z.  b.  die  in  §  5  angeführten  beispiele  aus  der  Hervararsaga 
ausser  dem  hagel,  nebel,  nachttan);  derartige  Symbole  kann  jedes  Jahr- 
hundert neu  bilden,  vgl.  das  „schnaubende  dampfross",  das  „elastische 
stahlross"  unserer  zeit.  Aber  von  diesen  mythenkeimen  sind  nur  die 
zu  höherer,  persönlicher  auffassung  gelangt,  die  sich  auf  objekte  bezie- 
hen, welche  wenigstens  nicht  ganz  oder  überhaupt  gar  nicht  in  den 
Avillen  des  menschen  gegeben  sind  und  demnach  auch  als  nach  belie- 
ben dem  menschen  freundlich  oder  feindlich  gegenübertretend  gedacht 
werden  konnten,  so  z.  b.  das  feuer,  der  wind  und  ziemlich  alle  in  den 
Edden  berührten  mythenstofte.  Hier  entwickelte  sich,  durch  bereits 
früher  wirksame  momente  des  gemütslebens  (auf  die  n. '^  s.  164  zu  anfang 
kurz  hinweisen  wollte)  unterstützt,  bald  die  dämonische  resp.  religiöse 
auffassung  der  naturobjekte,  wobei  ich  nicht  zu  irren  glaube,  wenn 
ich  den  anfangen  dieser  „höheren"  stufe  nur  für  die  menschenweit  im 
ganzen  bedeutsame  erscheinungen  als  „gehobene"  mythenstoffe  zuge- 
stehe (vgl.  §  11  gegen  ende),  während  jede  berücksichtigung  rein  loka- 
ler erscheinungen,  weil  nicht  geeignet  ohne  weiteres  auf  das  gemüt 
jedes  hörers  zu  wirken,  einer  jüngeren,  mehr  subjektiv  gerichteten  zeit 
gehören  wird.  Dabei  ist  meist  eine  irgendwie  auffällige  lokalität  mit 
schon  vorhandenen  mythen  in  beziehung  gebracht,  vgl.  für  das  gebiet 
der  heldensage  z.  b.  Beiger,  Die  my kenische  lokalsage,  Berl.  1893, 
s.  3  fg.  Während  auch  Hirschfeld  in  den  Untersuchungen  zur 
Lokasenna  (Acta  germ.  I,  1  fg.)  gelegentlich  (s.  57)  die  verliebe  der  jün- 
geren Eddalieder  für  „geographische,  wirkliche  namen"  betont,  ist  er 
doch  selbst  mehrfach  beflissen  eddische  mythen  auf  Island  zu  lokali- 
sieren. Wer  aber  in  dieser  weise  sucht,  findet  leicht  mehr  als  genügt 
9.  Konnte  ich  so,  wenn  auch  nicht  ohne  verschiedene  vorbehalte 
der  von  Müllenhoff  gegebenen  deünition  der  mythologie  im  ganzen 
mich  anschliessen,  so  bedarf  dieselbe  doch  im  Interesse  der  nachfolgen- 
den Untersuchung  noch  einer  mehrfachen  ergänzung.  —  Zunächst  möchte 

1)  So  hat  H.  a.  a.  o.  s.  23  glücklich  die  HMarnämur  aufgefunden:  „zwölf 
grosse,  in  einer  doppelten  reihe  geordnete  kessel  voll  kochenden  schaunies,  welche 
brüllend  und  spritzend  imermessliche  säulen  eines  dichten  dampfes  in  die  luft  aus- 
senden, die  sich  dann  ausbreiten  und  die  strahlen  der  sonne  verdunkeln."  —  AYenn 
es  dann  heissi:  „jeder  dieser  kessel  gibt  ein  bild  des  Fenrisulfr",  so  fragt  man  sich 
doch:  warum  berichten  die  Edden  dann  nicht  gleich  von  einem  dutzend  solcher 
Wölfe?  —  Wie  alt  die  zeugnise  für  allgemeine  Verbreitung  des  betr.  mythus  im  nor- 
den sind,  habe  ich  s.  182  anm.  4  hervorgehoben;  auch  das  stimmt  nicht  recht  zu 
isländischem  Ursprünge  desselben. 


166  WILKEN 

ich  den  aiisdruck  „bilder"  oder  „symbole",  den  ich  zur  Unterscheidung 
der  stufe  physikalisch -mythischer  betrachtung  von  dem  ausgebildeten 
(dämonischen,  resp.  religiös -ethischen)  mythus  für  unentbehrlich  halte, 
gegen  die  bedenken  verteidigen,  die  W.  Schwartz  (ürspr.  der  myth. 
s.  12)  wenigstens  gegen  den  ausdruck  „s3^mbolik"  erhebt;  der  hochver- 
diente gelehrte  meint  z.  b.  in  den  tieren  der  ältesten  mythenkeime 
nicht  etwa  symbole  göttlicher  kraft,  sondern  für  den  glauben  jener  zeit 
wirklich  existierende  wesen  erblicken  zu  müssen  i.  Diesem  Standpunkte 
trete  ich  insofern  unbedenklich  bei,  als  einmal  jene  ältere  „symbo- 
lische" mythenerklärung,  die  jedem  durch  einfache  vergleichung  sich 
leicht  erklärenden  zuge  des  mythus  einen  verborgenen  sinn  unter- 
schiebt-, auch  an  mir  keinen  anwalt  findet,  andererseits  auch  zugegeben 
werden  muss,  dass  die  vergleichung  zweier  wesen  in  der  älteren  zeit 
etwas  mehr  als  eine  poetische  metapher  war,  vielmehr  momentane 
gleichsetzung  in  vielen  fällen  voraussetzt.  Immerhin  lässt  schon  der 
reiche  Wechsel  der  gewählten  bilder  (vgl.  z.  b.  für  die  sonne,  den  mond, 
die  Sterne,  die  wölke  das  register  bei  Schwartz  a.  a.  o.)  erkennen,  dass 
eine  gieichsetzung  dieser  art  doch  sehr  leicht  wider  aufgehoben  werden 
konnte,  um  einer  andern  platz  zu  machen,  so  dass  mehr  ausnahms- 
weise für  eine  naturcrscheinung  auch  nur  eine  bilderreihe  in  gebrauch 
kam^  Man  wird  also  ebenso  dem  historischen  Standpunkte  gerecht, 
wie  man  sich  den  leichten  Übergang  der  bilder  in  die  eigentlichen 
mythen  hinreichend  erläutert,  wenn  man  die  bildersprache  der  altmy- 
thischen zeit  als  eine  ungemein  lebendige,  zu  wirklicher  gleichsetzung 
in  manchen  föllen  leicht  führende  vergleichung  sich  klar  macht. 

10.  Zunächst  beschäftigt  uns  nun  die  doppelfrage :  Avelche  objekte 
sollten  durch  jene  bildersprache  so  zu  sagen  übersetzt  werden  und 
welche  bilder  standen  der  nrzeit  als  allbekannte  werte  und  somit  als 

1)  A.  a.  0.  s.  VI:  ,, stürm,  blitz  usw.  sind  symptooie  der  wesen  und  des  trei- 
bens  einer  andern  weit." 

2)  Vgl.  dar.  Schwartz,  Poet,  uaturanscli.  I,  221  auin.  Mehrfach  neigt  zu  die- 
ser art  von  Symbolik  unter  den  neuern  forschem  auch  Henne  (vgl.  oben  s.  164  n.  >3), 
wenn  er  z.  b.  s.  3  von  den  tieren  sagt:  ,,  dieser  umstände  wegen  glaubte  man  höhere 
wesen  in  ihnen  vei'borgen  und  verehrte  daher  solche  unter  der  gestalt  der  tiere."  — 
Dieser  für  einige  völker  des  Ostens  vielleicht  passende  satz  lässt  sich  aus  deutscher 
volkssage  nur  in  jenem  beschränkten  umfange  ei'weisen ,  in  dem  z.  b.  auch  E.  H.  Meyer 
(Germ.  myth.  s.  93)  für  eine  ähnliche  ansieht  einzutreten  geneigt  ist. 

3)  So  werden  sonnen-  iind  mondfinsternisse  wol  lediglich  als  durch  räuberische 
tiere  (wölfe,  drachen)  verursachte  Schwächungen  des  sonnen-  oder  mondlichtes  auf- 
gefasst.  —  Über  den  Wechsel  der  bilder  für  dasselbe  phänomen  sogar  in  einem 
mythus  vgl.  z.  b.  Manuhardt,  Götterwelt  s.  204. 


DER    FENRISWOLF  167 

mittel  zum  doluietscherdienste  zur  Verfügung?  die  letztere  frage  beant- 
wortet sich  fast  von  selbst:  wie  uns  jede  europäische  spräche  noch 
jetzt  manche  belege  dafür  bietet,  dass  man  neue  erscheinungen  (nament- 
lich tiere  und  pflanzen  der  fremde)  nicht  etwa  mit  einem  ganz  neuen, 
für  viele  unverständlichen  namen  zu  bezeichnen,  sondern  an  bekann- 
tere Avesen  der  heimat  durch  die  benennung  anzureihen  suchte,  ganz 
unbekümmert  um  wissenschaftliche  gruppierung  i,  so  wurden  auch  die 
erscheinungen  der  mythischen  welt^  mit  den  bekannteren  grossen  ver- 
glichen, welche  den  menschen  täglich  umgaben.  Am  häufigsten  wur- 
den die  höher  entwickelten,  teils  zahmen,  teils  wilden  tiere ^  zu  die- 
sem dolmetscherdienste  herangezogen,  doch  auch  die  menschengestalt, 
pflanzen,  steine,  einfaches  hausgerät  Avaren  keinesweges  ausgeschlossen. 
Unter  derartigen  Symbolen  noch  eine  historische  Stufenfolge,  etwa  vom 
unbelebten  zum  belebten  (zunächst  tierischen)  symbol  anzunehmen, 
erscheint  bei  schärferer  betrachtung  ziemlich  Avertlos^,  da  die  lebendige, 
ganz  oder  halb  animistische  auffassung  der  urzeit  solche  Unterscheidung 
kaum  gestattet,  auch  andere  gründe  noch  dagegen  sprechen^.  —  Nur 
soviel   ist  nicht  zu  verkennen,    dass  auf  den  stufen   dämonischer  und 

1)  Vgl.  ausdrücke  wie  hippopotamus  (nilpferd),  camelopardalis  (giraffe),  stru- 
thocamelus  (strauss),  walross,  seeliuud,  seelöwe  usw.  Die  bekannte  bezeichnung  des 
elephanten  als  bos  Luca  oder  Lucanus  seitens  der  Eömer  zur  zeit  des  PyiThus  lässt 
die  von  einigen  forschem  vorgeschlagene  ableitung  von  elephas  aus  dem  semit.  aleph 
(=  rind)  sehr  natürlich  erscheinen.  Auf  elephas  geht  dann  wider  got.  ulbandus 
(^  kamel)  zurück.  Bez.  der  pflanzenweit  genügen  wol  folgende  beispiele:  baum- 
woUe,  butterbaum,  deutscher  kaffee,  türkischer  weizen,  erdapfel,  kartoffel  (für  tar- 
tuifel  =  trüffel,  vgl.  Grimm,  D.  wb.  s.  v.).     S.  auch  Beer,  Germ.  33,  11. 

2)  Vgl.  §  11  zu  anfang. 

3)  Eine  Übersicht  der  für  die  mythologischen  Vorstellungen  wichtigeren  tiere 
gibt  ausser  Grimm,  Mji;h.*  546  fg.  z.  b.  Mannhardt,  Korndämonen  s.  1.  Ygl.  auch 
Ang.  de  Gubematis,  Die  tiere  in  der  indogerm.  mythologie,  E.  H.  Meyer,  Germ, 
myth.  93.  Wenn  aber  dieser  namhafte  gelehrte  a.  a.  o.  behauptet:  „nicht  die  tie- 
rischen Urbilder  der  Wirklichkeit,  sondern  ihre  überirdischen  "abbilder  waren  die 
massgebenden  figui'en  der  mythischen  fauna",  so  möchte  ich  mich  vielmehr  mit  der 
bemerkung  begnügen,  dass  die  irdische  tierweit  nicht  immer  ausreichte  zur  Interpre- 
tation mythischer  Vorgänge,  daher  die  häufige  Verwendung  des  drachen,  d.  h.  der 
geflügelten  schlänge,  des  flügel-pferdes,  -riudes  usw.  Solche  gestalten  lassen  sich 
zusammengesetzten  schriftzeichen,  die  doch  niu'  einen  laut  bezeichnen  sollen,  ver- 
gleichen. Der  flügel  bezeichnet  diese  wesen  als  dem  luftreiche  oder  dem  himmels- 
raume  angehörig. 

4)  Dazu  neigt  Wislicenus,  Symb.  s.  20fg. ,  66  fg.  und  in  seiner  weise  auch 
Schwartz  (Poet.  nat.  I,  XIX);  vgl.  aber  Mannhardt,  Korndäm.  s.  VII  sub  II  mid  s.  19. 

5)  So  hebt  Schwartz  selbst  hervor,  dass  als  unbelebte  symbole  oft  Werkzeuge 
des  menschen  erscheinen,  die  historisch  doch  nicht  der  allerältesten  zeit  angehören. 


168  WILKEN 

ethischer  betrachtung  ursprünglicher  naturphänomene  man  sich  der  ver- 
menschlichung, resp.  Vergötterung  immer  mehr  näherte:  für  die  dämo- 
nische auffassung  genügte  oft  noch  eine  tiergestalt,  neben  welche  aber 
die  halbmenschliche  ^  immer  häufiger  hintrat;  für  die  ethisch -religiöse 
auffassung  war  die  menschliche  das  minimum,  während  nicht  selten 
auch  die  übermenschliche,  d.  h.  idealisiert  menschliche  eintrat. 

11.  Prägen  wir  weiter  nach  den  Objekten  der  vergleichung,  so  ist 
als  die  eigentlich  „mythische"  weit  zwar  mit  W.  Seh  war  tz  (Ursp.  s.  11) 
„eine  den  menschen  geheimnisvoll  umgebende,  andere  weit,  die  nur  mit 
ihren  Symptomen  in  diese  hineinragte"  anzuerkennen,  aber  ich  möchte 
doch  nicht  gerade  sagen  „der  glaube  an  diese  weit  war  der  urquell  der 
mythologie",  denn  es  handelte  sich  bei  jenen  Symptomen  doch  um 
sichtbare  oder  sonst  leicht  zu  konstatierende  dinge  und  die  bilder- 
sprache  des  mythus^  ist  zunächst  als  erklärungsversuch  dieser  zum 
guten  teil  ganz  unbestreitbar  vorhandenen  weit  zu  betrachten,  vgl.  oben 
§  2,  Wisl.  Symb.  s.  14.  —  Dagegen  stimme  ich  A.  Kuhn  und 
W.  Schwartz  Aviderum  darin  zu,  dass  sie  mit  nachdruck  die  erschei- 
nungen  am  himmel  als  diejenigen  betont  haben,  die  als  der  erste  und 
wichtigste  weitteil  der  mythischen  weit  sich  uns  darstellen  3.  Ist  aber 
der  von  A.  Kuhn  zur  begründung  dieses  Standpunktes  vorgebrachte 
hin  weis  darauf,  dass  „das  indogermanische  urvolk  in  seinen  Stamm- 
sitzen schwerlich  ein  grösseres  meer  kannte",  nicht  durch  andere 
gründe  zu  verstärken,  resp.  zu  ersetzen?*  Dürfen  wir  nicht  sagen, 
dass  der  himmel  1)  durch  die  menge  der  hier  sich  darbietenden 
erscheinungen,  die  zu  direkter  wie  indirekter  (vgl.  §  13)  vergleichung 
auffordern,  2)  aber  auch  durch  ihre  grosse  verschiedenartigkeit 
hinsichtlich  teils  periodischer,  teils  momentaner  bewegimg  und  Verän- 
derung,   teils  wider  scheinbarer  ruhe    und    Stetigkeit^,    3)   endlich   im 

1)  Halbmenscblicli  nenne  icli  niclit  nur  niischuugeu  von  tier-  und  menschen- 
gestalt,  sondern  aucli  die  auffassung  der  menschlichen  gestalt  in  vergröbertem  oder 
verkleinertem  massstabe  (riesen,  zwerge). 

2)  Passend  vergleicht  L.  Laistner  (a.  a.  o.  208)  die  spräche  des  mythus  der 
hieroglyphen  Schrift. 

3)  So  behandelt  Schwartz  in  seinen  „Poetischen  naturausch."  zunächst  nur 
die  mythischen  bezeichnungen  für  die  am  himmel  sich  zeigenden  phänomene,  von 
denen  aber  die  übrigen  sich  als  abgeleitet  ergeben. 

4)  Herabkunft  des  feuers-  s.  25.  —  Bekanntlich  nehmen  heut  zu  tage  viele 
forscher  nicht  mehr  das  innere  Asien  als  Urheimat  der  Indogermanen  an. 

5)  Mit  recht  hebt  W.  Schwartz  a.  a.  o.  I,  XVII  fg.  hervor,  dass  sonne  und 
gestime  weit  weniger  selbständig  die  mythologischen  Vorstellungen  bedingten,  als  die 
Veränderungen,    welche  mit  ihnen  vorzugehen  schienen,    die   zunächst  die   aufmerk- 


DER    FKNRISWOLF  169 

hinblick  darauf,  dass  den  Wirkungen  der  am  himmel  vorgehenden 
dinge  kein  erdbewohner  auch  nur  auf  24  stunden  sich  völlig  entziehen 
kann,  millionen  von  menschen  aber  von  regen  und  Sonnenschein  bez. 
ihrer  existenz  direkt  abhängig  sind,  eine  ganz  unbestreitbare  präpon- 
deranz  geniesst?  Alle  anderen  gebiete  der  mythischen  weit  stehen 
nicht  nur  zurück,  sondern  finden  sozusagen  ihre  vorspiele  in  erschei- 
nungen  der  luft  und  des  Weltraumes:  so  die  unterweit  im  wolkenschat- 
ten  und  nachtgrauen,  die  meeres-  oder  flussüberschwemmung  im  wol- 
kenbruch,  das  gebirge  der  erde  im  wolkenberg  usw.  ^ 

Auf  den  dritten  der  oben  genannten  gründe  aber  lege  ich  das 
grösste  gewicht: 2  so  sind  denn  auch  nur  die  in  allen  gegenden  bedeut- 
sam hervortretenden  phänomene  des  luftraumes  als  primäre  mythen- 
stoffe  zu  betrachten,  während  allerdings  auch  dieser  mythische  weitteil 
einige  secundäre  mythenbildungen  aufweist  3. 

12.  Diese  Unterscheidung  primärer  und  secundärer  erzeugnisse  der 
mythenweit  legt  vielleicht  die  weitere  frage  nahe:  „ist  nicht  auch  eine 
Scheidung  zwischen  eigentlichen  naturmythen  und  solchen  mythen  nötig, 
die  aus  dem  seelenglauben  hervorgegangen  sind?"  (vgl.  s.  156  anm.  1).  — 
So  verdienstlich  nun  auch  die  schärfere  beachtung  des  seelenglaubens, 
wie  sie  in  den  letzten  decennien  sich  zeigte,  zweifellos  ist,  so  ist  doch 
weder  die  historische  priorität  des  seelenglaubens  irgendwie  erwiesen^ 

samkeit  fesselten,  wozu  Seneca,  Quaest.  uat.  VII  (zu  anfang)  verglichen  wird.  • —  Aber 
nachdem  die  an  so  vielen  himmelsköi'iJern  bemerkbaren  Veränderungen  die  auffassung 
gereizt  und  geschärft  hatten,  konnte  es  doch  nicht  fehlen,  dass  nun  aucli  bei  schein- 
bar unbeweglichen  körpern  gefragt  wurde:  „werden  diese  niemals  ihren  Standort 
ändern?     Gibt  es  wirklich  eine  dauer  im  Wechsel?" 

1)  Natürlich  ist  dies  nicht  auf  die  form  zu  beziehen,  die  man  von  der  erde 
her  kannte,  aber  darauf,  dass  die  möglichkeit  eines  öffnens  der  berge  und  des  gewin- 
nens  goldener  schätze  aus  ihrem  schösse  zuerst  am  himmel  sich  darstellte.  Der  ein- 
förmigen Wildnis  der  ursprünglichen  erde  gegenüber  war  der  himmel  gewissermassen 
das,  was  für  einen  landbewohner  unserer  tage  die  grossstadt  mit  ihren  immer  neuen, 
zum  staunen  oder  nachdenken  reizenden  eindrücken. 

2)  Ygl.  Schwartz  a.  a.  o.  II,  XIV:  ,,der  mensch  huldigte  nur  dem,  den  er  zu 
fürchten  Veranlassung  zu  haben  glaubte."  Dieser  gedanke  wird  durch  das  dort  citierte 
wallachische  märchen  sehr  lebendig  erläutert. 

3)  Laistner,  der  mit  so  gi'ossem  erfolge  den  nebelsagen  nachgeforscht  hat,  ver- 
kennt darum  nicht,  dass  der  grösste  teil  dieser  sagen  nicht  der  ältesten  zeit  angehört, 
vielmehr  teilweise  wenigstens  eine  Umbildung  aus  astralen  sagen  sich  wahrscheinlich 
machen  lässt,  vgl.  s.  105,  128,  209. 

4)  Vgl.  Mogk  in  Pauls  Grundriss  I,  998;  nach  dieser  Seite  neigt  ausser  Vods- 
kow  (Rigveda  og  Edda  1890)  neuerdings  auch  E.  H.  Meyer  (Germ.  myth.  1891)  und 
Golther  (Götterglaiibe  und  göttersagen  der  Germanen  1894).  Scheinbar  einleuchtend 
sagt  letzterer  s.  3:    „vom  glauben  an  seelengeister  ist  es  nur  ein  schritt  zur  natur- 


170  WILKEN 

noch  selbst  eine  Scheidung  des  stofies  iii  „dämonische"  (d.  h.  hier  dem 
natiirgebiet  entnommene)  und  „dem  seelenglaubon  angehörende"  mythen 
als  innerlich  berechtigt  zu  betrachten  i.  —  Dass  an  die  gestorbenen 
eher  gedacht  sei  als  an  die  lebenden,  kann  niemand  behaupten;  die 
seele  des  lebenden  aber  steht  dem  naturgebiet  nicht  nur  nahe,  sondern 
ist  an  das  atmen  geknüpft.  Dieses  ist  ein  natürlicher  Vorgang;  er  wird 
zeitweise  sogar  hörbar  und  (bei  einigen  kältegraden)  deutlich  sichtbar. 
Dies  atemwölkchen  ergibt  bei  gehöriger  Verstärkung  den  von  Laistner 
sog.  „seelennebel"  2,  ebenso  wie  der  hörbare  hauch,  ähnlich  verstärkt, 
zu  jenem  Sturmwinde  passt,  in  dem  ein  seelenheer  vorüberstürmen 
sollte;  auch  die  auffassung  des  Schattens  als  eines  so  zu  sagen  see- 
lischen begleiters  des  körpers  stimmt  zu  der  ansieht,  dass  der  seelen- 
glaiibe  der  urzeit  (in  ausgleichung  der  sog.  animistischen  auffassung 
des  für  uns  unbelebten)  in  der  seele  nur  eine  feinere  art  von  materie 
sah,  die  nach  dem  tode  des  menschen  neue,  aber  auch  dann  dem 
naturbereich  nicht  entnommene  Verbindungen  eingieng^. 

13.  Dagegen  erscheint  mir  ausser  der  trennung  primärer  und  secun- 
därer  mythenstoffe  noch  eine  art  der  Unterscheidung  notwendig:  die 
des  direkten  und  indirekten  Symbols '^.  Das  erste  findet  sich,  wenn 
ich  die  sonne  z.  b.  einem  goldenen  balle  vergleiche;  das  zweite,  wenn 
ich  eine  Sonnenfinsternis  dem  angriff  eines  wolfes  zuschreibe.  Dort 
wird  ein  deutlich  sichtbares  objekt  mit  einem  anderen,  näher  liegenden 
verglichen;  hier  handelt  es  sich  um  verdeutliciiung  von  vergangen,  die 
zwar  mit   den   sinnen   wahrgenommen   werden,    so   jedoch,    dass    diese 

beseelung."  —  Aber  war  dieser  scliritt  nicht  längt  geriiacht?  Gilt  nicht  der  satz: 
„der  mensch  ist  das  mass  aller  dinge"  am  allermeisten  gerade  für  das  kindesalter 
der  menschheit?  Der  mensch  lebt,  so  vermutet  er  überall  lebensspuren ;  die  bewe- 
gung  des  windes,  des  wassers,  mancher  gestirne  bestärkt  ihn  in  seiner  raeinung. 
Selbst  wo  die  natur  ganz  starr  erscheint,  liegt  ihm  der  gedanke  des  Schlummers 
näher  als  der  des  todes,  vgl.  noch  Chamisso:  „die  schätze,  die  schlummernden  alle, 
die  unter  der  erde  sind."  Oder  die  leblosen  massen  sind  wenigstens  wohuungeni 
werke  lebendiger  wesen  —  „von  geistern  der  tiefe  erbaut"  u.  ähnl. 

1)  Diese  Scheidung  versucht  Mogk  a.  a.  o. 

2)  Gemeint  ist  ein  nebelstreifen  oder  eine  nebelwolke,  die  als  andeutung  einer 
seelenschar  aufgefasst  wurde  (L.  neb.  s.  118). 

3)  Immerhin  darf  man  mit  M.  MüUer  (a.  a.  o.  s.  100)  anerkennen,  dass  mit 
der  beobachtung  des  Schattens  und  des  atems  sich  die  idee  von  einem  etwas,  das 
vom  körper  verschieden  ist  und  doch  eine  art  von  leben  besitzt,  langsam  hervor- 
arbeitet, dass  hier  die  Übergänge  vom  materiellen  zum  immateriellen  sich  finden. 

4)  Auch  bei  den  von  mir  vorgeschlagenen  treunungen  handelt  es  sich  nicht 
um  unverrückbar  feste  grenzbestimmungen ,  nur  um  mittel,  die  Orientierung  auf  dem 
mythologischen  gebiete  zu  erleichtern. 


DER   FENRISWOLF  171 

Wahrnehmung  zunächst  nur  die  Wirkung,  nicht  die  Ursache  mitteilte 
Den  Übergang  von  der  einen  zu  der  anderen  klasse  bildeten  vielleicht 
die  gewitterphäuomene,  die  in  ihrer  raschen  und  für  unsere  Wahrneh- 
mung etwas  verschobenen  reihenfolge  eine  auch  nur  annähernd  objek- 
tive auffassung  ungemein  erschwerten.  Zu  den  eigentlich  indirekten 
S}anbolen  aber  rechne  ich  z.  b.  die  bezeichnung  des  windes  als  eines 
adlers,  die  des  echos  als  zwergrede  (dvergamäl),  die  erklärung  von  Son- 
nenfinsternissen in  der  bekannten  weise  (vgl.  oben);  hierher  gehört  auch 
die  auffassung  der  nacht  als  einer  realen,  bald  auch  persönlich  gefass 
ten  grosse.  Nur  mit  dem  indirekten  symbol  zu  messen  w^ar  ferner  das 
verhalten  der  seele  im  täglichen  leben,  im  schlaf,  im  träum,  nach  dem 
tode  des  menschen  usw.  Man  sieht  aus  dieser  kurzen  aufzählung, 
dass  es  sich  hier  um  die  wichtigsten  aller  fragen  handelt,  und  ist 
man  auch  theoretisch  geneigt  der  urzeit  zunächst  mehr  ein  interesse 
an  den  deutlich  sichtbaren  erscheinungen  der  lebeweit  zuzutrauen,  so 
liegt  doch  selbst  für  ein  kindliches  gemüt  die  frage  zu  nahe:  wie  ist 
der  Wechsel  von  tag  und  nacht,  schlaf  und  wachen,  leben  und  tod  zu 
erklären?  um  annehmen  zu  können,  dass  irgend  ein  menschenalter  sie 
gänzlich  vernachlässigt  habe;  gerade  die  Schwierigkeit  des  problems 
pflegt  ja  auch   den  reiz    zu  erhöhen  2.   —    Die    priori  tat    der    direkten 

1)  M.  Müller  (a.  a.  0.  4.  voiies.)  unterscheidet  unter  den  Objekten  der  mythi- 
schen uaturbetrachtiing  greifbare,  halbgreifbare  und  ungreifbare  gegenstände;  letztere 
aber  müssten  nach  dem  grade  der  deutlichkeit,  den  sie  für  gesiebt  oder  gehör  dar- 
bieten, eigentlich  wider  gesondert  werden.  Für  die  zwecke  dieser  abhandlung  genügt 
jedesfalls  die  oben  vorgeschlagene  teilung. 

2)  So  ist  die  frage :  wer  ist  der  schnellste  ?  auch  in  volkstümlichen  kreisen  eine 
beliebte  und  von  alters  her  eifrig  erörterte  (vgl.  Laistner  a.  a.  0.  187,  322).  —  Be- 
merken möchte  ich  hier  auch,  dass  es  ausser  jener  direkten  naturbetrachtung,  die 
am  reinsten  iu  den  Symbolen  der  m'zeit  sich  ausprägte,  auch  in  dieser  zeit  an  indi- 
rekten Schlüssen  nicht  gefehlt  haben  kann ,  die  etwas  tiefer  in  den  urgrand  des  sicht- 
baren einzudringen  bemüht  waren.  Erinnert  sei  hier  an  die  schöne  darlegung  M.  Mül- 
lers, der  ausführt,  wie  mit  der  Wahrnehmung  des  endlichen  gleichzeitig  auch  eine 
gewisse  (ich  würde  sagen  indirekte)  auffassung  des  unendlichen  gegeben  sei,  vgl. 
a.  a.  0.  s.  40,  41,  sowie  über  die  bezeichnung  des  übernatürlichen  bei  den  Melanesiern 
s.  59  fg.  Hier  erhebt  sich  die  frage :  gab  es  monotheistische  glaubenskeime  schon  bei 
den  heidnischen  ISTordgermanen  ?  Allerdings  sind  die  betreifenden  stellen  der  Vatns- 
dsela  saga,  z.  b.  c.  37  (FornsQgur  ed.  Mob.  u.  Vigf.  s.  59)  „mi  vil  ek  heita  a  [)ann, 
er  solina  hehr  skapat,  |)viat  ek  trüi  hann  mättkastan"  vielfach  als  in  christlicher  zeit 
entstanden  betrachtet  (die  lit.  s.  bei  E.  H.  Meyer,  Germ.  myth.  s.  295)  imd  die 
späte  aufzeichnung  der  betreffenden  saga  ist  bekannt,  doch  versuchte  Döring,  Über 
typus  und  stil  der  isl.  saga  s.  23,  eine  vermittelung  zwischen  heideutum  und  Chri- 
stentum als  tendenz  des  Verfassers  wahrscheinlich  zu  machen.  Ohne  zweifei  christ- 
lich beeintlusst  sind  stellen  wie  Gylf.  c.  3  und  5 ,  vgl.  Untersuch,  s.  70  fg. 


172  WILKEN 

Symbole  möchte  ich  daher  auch  nur  in  dem  sinne  verti'eten,  dass 
wenigstens  die  umgekelirte  folge  "wenig  glaublich  ist,  dann  auch  im 
hinblicke  darauf,  dass  eine  jüngere  form  der  mythenbildung,  die  my- 
thische allegorie,  sich  vom  indirekten  symbol  abzuleiten  scheint,  vgl. 

§  17. 

14.  Kehren  wir  aber  zunächst  zu  den  oben  in  §  10  besprochenen 
mittein  der  vergleichnng  zurück,  so  konnte  aus  dem  an  und  für  sich  ziem- 
lich beschränkten  kreise  von  wesen  oder  dingen,  die  der  urzeit  dafür 
geignet  schienen,  einerseits  jedes  einzelne  auf  verschiedene  objekte 
angewandt  werden^;  andererseits  konnte  dasselbe  objekt  durch  ver- 
schiedene bilder  bezeichnet  werden,  je  nachdem  die  eine  oder  andere 
Seite  ins  äuge  gefasst  war-.  Erwägt  man  ferner,  dass  jede  vergleichung 
mit  lebenden  wesen  insofern  eine  dreifache  sein  kann,  als  sie  sich 
entweder  nur  auf  das  äussere  oder  nur  auf  das  innere  (den  Charakter) 
oder  endlich  auf  beides  zugleich  richten  kann,  so  wird  die  möglichkeit 
des  fehlgreifens  bei  der  erklärung  noch  deutlicher  sein.  Wol  darf  man 
sagen,  dass  die  erste  jener  drei  arten  in  der  urzeit  bevorzugt  war, 
aber  bei  jedem  indirekten  symbol  fehlt  ja  auf  der  seite  des  Objektes 
das  sichtbare  äussere;  hier  muss  man  sich  an  die  wirkimg  halten  und 
diese  ist  gewissermassen  als  symptom  innerer,  geistiger  eigenschaften 
zu  fassen,  man  denke  an  die  „Schnelligkeit"  des  Avindes,  die  zu  einer 
vergleichung  mit  dem  adler  führte.  Darnach  ist  es  erklärlich,  wenn 
W.  Schwartz  a.  a.  o.  11,  XIV  von  „einem  gewissen  chaos  gläubiger 
Vorstellungen"  redet,  wenn  A.  Kuhn  (Entwickel.  der  myth.  s.  123)  in 
Übereinstimmung  mit  M.  Müller  von  der  „polyonjmiie  und  metony- 
mie"  als  einem  nicht  unwesentlichen  faktor  der  mythenbildung  redet, 
indem  die  ältere  zeit  sich  oft  selbst  in  der  richtigen  auffassung  der 
Symbole  verirrte^.  "Wie  eine  grosse  anzahl  grammatischer  formen  heut- 
zutage als  „nach  falscher  analogie"  gebildet  betrachtet  Averden,  so  haben 
einige  mythische  demente  nicht  etwa  nur  andere  zurückgedrängt,  son- 
dern ebenso  oft  sie  sich  selbst  assimiliert  und  so   ihre  deutimg  beein- 

1)  Der  Speer  als  bild  des  lichtstrahles  konnte  z.  b.  sich  ebensogut  aiif  den 
blitz-,  wie  auf  den  Sonnenstrahl  beziehen,  und  so  wird  der  Speer  Gungnir  von  den 
forschern  verschieden  gedeutet. 

2)  Sollte  der  blitz  als  waffe  erscheinen,  so  wurde  er  speer  oder  zahn  eines 
ebers  genannt;  sollte  vor  allem  die  Schnelligkeit  betont  werden,  so  hiess  er  geflügelt, 
ein  pfeil,  ein  dahin  schiessender  fisch.  Schwartz,  Poet,  naturansch.  II,  90,  96  fg.  — 
Vgl.  auch  s.  166  anm.  3  gegen  ende. 

3)  Es  scheint  mir  auch  keinen  wesentlichen  unterschied  in  der  auffassung  zu 
ergeben,  wenn  Beer  (Germ.  33,  7)  wol  mit  recht  die  homouymie  nicht  eigentlich  als 
mythenbildendcs,  nur  als  mythenfort-  oder  umbildendes  dement  anerkennen  will. 


DER   FENRISWOLF  173 

fliisst.  Je  häufiger  und  beliebter  ein  symbol  war  (wie  z.  b.  wolf,  fuchs, 
vügel,  Speer),  um  so  stärker  ist  die  gefahr  des  irrtums  bei  der  aus- 
legung^  Hier  handelt  es  sich  nicht  etwa  darum,  einen  weg  nur  zu 
finden,  sondern  aus  einem  wirrsal  sich  kreuzender  pfade  den  richtigen 
ausfindig  zu  machen  und  ihn  bis  ans  ziel  zu  verfolgen. 

15.  Nicht  zu  vergessen  ist  ferner,  dass  die  entwickelung  nie  in 
ganz  gerader  linie  verlief^  da  der  urzeit  wol  nur  mythische  symbole 
im  sinne  einer  naiven  naturdeutung  zukamen,  während  der  poetiscli 
abgerundete  mythus,  wenn  nicht  geradezu  ein  misverständnis,  so  doch 
eine  freiere  fortbildung  des  kernes  in  einer  veränderten  richtung  auf- 
weist 2.  Dieser  entwickelungsgang  ist  nur  insofern  ein  natürlicher  zu 
nennen,  als  die  alte  symbolsprache  ihi-en  zweck  einer  deutuug  der 
naturvorgänge  bald  nicht  mehr  erfüllte,  da  die  längere  gewöhnung  und 
schärfere  beobachtung  den  menschen  bald  eine  mehr  prosaische  und 
nüchterne  auffassung  der  naturerscheinungen  lehrte.  Entweder  konnte 
nun  neben  den  bildlichen  allmählich  der  unbildliche  ausdruck  als  der 
geläutigere  treten,  bis  der  erstere  ganz  verdrängt  war^,  oder  es  erhielt 
sich  der  bildliche  ausdruck  und  gewann  sogar  an  selbständiger  bedeu- 
tuug,  vgl.  im  allgemeinen  Wislicenus,  Symb.  s.  85  fg.;  Loki  s.  2,  3. 
In  diesem  falle  aber  verlor  oder  lockerte  sich  die  feste  beziehung  zu 
den  naturobjekten  und  so  konnte  er  nur  um  so  freier  von  mensch- 
lichen Vorstellungen  erfüllt  werden.  Erst  in  dieser  zeit  kam  die  poe- 
tische ausgestaltung  zu  ihrem  vollen  rechte,  vgl.  den  in  n.  2  be- 
sprochenen Phaetonmythus.  —  Bemerkenswert  ist  aber,  dass  jenes 
verstand esmässige  dement,  jene  richtung  auf  das  erkennen,  die  Avir 
in   den   alten  Symbolen  fanden,    in  der  späteren  zeit   sich   doch  nicht 

1)  Aug.  de  Gubernatis,  desseu  Standpunkt  ich  freilich  uur  iu  eiuzelheiten  teile, 
wies  schon  darauf  hin,  dass  der  wolf  in  der  sage  keinesweges  immer  eine  den  göt- 
teru  und  heroen  feindliche  natur  zeigt:  Die  tiere  in  der  indog.  myth.  s.  450.  —  Vgl. 
auch  w.  u.  cap.  III ,  §  8  und  9. 

2)  In  dem  Sisyphosmythus  der  späteren  zeit  ist  gänzlich  verkannt,  dass  der 
gewälzte  stein  eigentlich  die  sonne  (so,  und  wol  am  richtigsten  Kuhn,  Entwickel. 
s.  147)  oder  eine  uebelmasse  (so  Laistner,  Nebelsagen  41  fg. ,  vgl.  aber  209)  bedeu- 
tete; in  dem  Phaethonmythus  ist  das  physikalische  phänomen  des  (scheinbaren)  ver- 
sinkens  der  sonne  ins  meer  durch  poetische  ausschniückuug  und  ethische  färbung 
zwar  nicht  ganz  von  dem  alten  gründe  losgerissen,  aber  doch  in  eine  ganz  andere 
beleuchtung  gesetzt;  vgl.  Mannhardt,  Götterwelt  29,  30,  86. 

3)  Der  schon  s.  168,  anm.  2  citierte  vergleich  Laistners  (Nebels.  208)  Hesse  sich 
wol  noch  passender  so  verwenden,  dass  wir  die  eigentliche  bildersprache  des  mythus 
mit  der  hieroglyphenschrift,  die  unbildliche,  doch  in  poetischer  spräche  vorgebrachte 
natui'scliilderuug  als  transscription  desselben  gedankens  nebeneinander  halten.  Dazu 
gibt  namentlich  die  Vgluspä  mehrfach  gelegenheit,  vgl.  cap.  VII,  §  10. 


174  WILKEN 

völlig  verflüchtigt  hat;  es  musste  sich  aber  jetzt  mit  der  aufgäbe  be- 
gnügen, in  dem  „chaos"  der  alten  Symbole  gewissermassen  Ordnung 
zu  schafien  und  wenigstens  die  gröbsten  Widersprüche  des  unmerklich 
gebildeten  Systems  auszugleichen.  Und  gerade  weil  die  abhängigkeit 
der  alten  symbole  von  den  naturvorgängen  halb  oder  auch  ganz  ver- 
gessen war,  mussten  nun  andere  Verknüpfungen  gesucht  werden:  genea- 
logieen,  eben  und  bundesbrüderschaften  wurden  angenommen,  die  für 
den  forscher  oft  auf  den  ersten  blick,  teilweise  erst  allmählich  als 
das  werk  der  „konstruierenden"  oder  mythen- ordnenden  periode  sich 
zu  erkennen  geben  und  nicht  selten  auf  falsche  fährte  gelockt  haben. 
In  die  urzeit  reichen  sie  selten  zurück,  weil  diese  sich  meist  begnügt 
die  einzelnen  Vorgänge  als  solche  aufzufassen  i.  Nur  wo  Übergänge 
wie  die  von  nacht  zu  tag,  von  Sonnenlicht  zu  wolkendunkel  sich  dar- 
boten, lag  es  von  jeher  nahe  einen  Zusammenhang  zwischen  beiden 
potenzen  anzunehmen,  und  so  mag  schon  die  urzeit  die  nacht  als  mut- 
ter  des  tages  betrachtet  haben 2.  Sicher  ist,  dass  solche  Vorgänge  das 
mythische  „denken"  mehr  noch  anregten  als  ruhende  erscheinungen 
und  um  so  mehr,  je  rascherund  auffälliger  sie  sich  ablösen  2.  Daher  ist 
es  nicht  abzuweisen,  mit  W.  Schwartz  (vgl.  s.  168  anm.  5)  in  den  erschei- 
nungen des  Sturmes,  des  gewitters  und  des  w^olkenhimmels  die  frucht- 
barsten keime  mythischer  Vorstellungen  anzuerkennen;  diese  Vorgänge 
legen  jedoch  den  gedanken  eines  kampfes  weit  näher  als  den  an 
friedliche  Verhältnisse.     Mau  darf  daher  im  ganzen  in  polemischen 

1)  Vgl.  ^Y.  Müller,  Zur  mythol.  der  griech.  und  deutschen  heldensage  s.  161, 
der  auch  seinerseits  dem  von  Beer  (Beitr.  von  Paul  u.  Braune  XIII,  1  fg.:  Der  stoff 
des  spielniannsgedichtes  Orendel)  ausgesprochenen  grundsatze,  dass  jede  genealogie 
in  der  göttersage  accessorisch  sei,  im  wesentlichen  beistimmt.  Diesen  Standpunkt 
verfolgte  Beer  weiter  Germ.  33,  12  fg.  Im  ganzen  ähnlich  ru'teilt  schon  Wisliceuus, 
Loki  s.  23,  27. 

2)  Vgl.  Gylf.  c.  10,  wo  das  myth.  grimdmotiv  freilich  schon  mit  jüngeren  Zu- 
sätzen vermengt  ist.  —  Ähnlich  aiich  bei  den  Griechen  (Hesiod,  Theogonie  124  fg.). 

3)  Mächtiger  noch  als  das  gewöhnliche  abenddimkel  musste  die  luunachtung 
des  himmels  mitten  am  tage,  die  das  gewitter  meist  zeigt,  die  gemüter  ergreifen, 
namentlich  in  Verbindung  mit  stürm,  blitz,  donner,  hagel,  regen  und  regenbogen. 
Dies  alles  und  die  widerkehr  der  sonne  oft  in  einem  massigen  bruchteil  einer 
stunde!  —  Gleich wol  mochte  ich  nicht  unbedingt  mit  Beer  (a.  a.  0.  11)  behaupten: 
„mit  atmosphärischen  mythen  (betr.  wölken,  wetter,  nebel)  hat  die  mythik  begon- 
nen" oder  mit  E.  H.  Meyer  nur  gewitter-,  wind_-  und  wolkengottheiteu  als  altmy- 
thische mächte  anerkennen,  so  geistvoll  diese  theorie  auch  verfochten  ist.  Gründliche 
kenner  der  indischen  mytheuwelt  wie  Hillebrandt  und  Oldenberg  (Ved.  myth.  112) 
betonen  neuerdings,  dass  gerade  die  „mistete  uatur  des  blitzes  seiner  eutwickelung 
zu  einer  gottheit  nicht  günstig  sei." 


DER   FENRISWOLF  175 

Verhältnissen  weit  eher  als  in  genealogischen  angaben  spuren  einer 
alten  tradition  vermuten;  nur  bedarf  es  bei  der  nordischen  mj^thologie 
doch  auch  nach  der  ersten  seite  besonderer  vorsieht,  da  namentlich  die 
ragnarok-mythen  zu  einer  Vervielfältigung  und  Steigerung  einfacher 
kampfesmotive  vielfach  anlass  gegeben  haben  i.  —  Fast  alle  diese  teils 
freundlichen,  teils  feindlichen  beziehungen,  durch  die  der  poetische 
reiz  eines  mythus  oft  nicht  wenig  gewonnen  hat,  müssen  als  beiwerk 
erkannt  und  bei  seite  geschoben  werden,  soll  der  kern  der  mythischen 
Vorstellung  uns  deutlich  entgegentreten. 

16.  In  diesem  zusammenhange  mag  auch  an  die  neigung  mythischer 
naturbetrachtung  erinnert  werden,  auffällige  erscheinungen  (z.  b.  in  der 
tierweit)  auf  ein  bestimmtes  datum  innerhalb  der  geschichtlichen  ent- 
wickelung  und  einen  bestimmten  anlass  ziu'ückzuführen.  Beispiele  die- 
ser historisch  -  aetiologischen  darstellung  geben  ausser  den  cap.  V, 
angeführten  stellen  aus  Gylf.  z.  b.  auch  Grimms  Märchen  nr.  171  — 173 
(zaunkünig,  schölle  usw.)  und  Grundtvig,  Dänische  volksm.,  übersetzt 
von  Strodtmann ,  2.  samml.  s.  16.  Hierhin  gehören  auch  viele  ver- 
waudlungssagen  -. 

17.  Doch  nicht  bloss  in  jener  Ordnung  und  äusseren  Verknüpfung 
(§  15)  oder  dieser  hinneigimg  zu  historischer  datierung  (§  16)  erwies 
sich  das  verstandesmässige  dement  in  der  mythologie  weiterhin  tätig: 
bei  der  reicheren  entfaltung  des  geisteslebens  lag  es  nahe  genug,  nun 
auch  phänomene  dieser  geistesweit  in  ähnlicher  weise  vergleichend 
darzustellen  wie  fi'üher  die  naturvorgänge.  Diese  geistesmythen  mag 
man  mythische  „allegorien"  nennen,  um  sie  von  den  eigentlichen  natur- 
mythen  scheiden  zu  können,  aber  der  unterschied  beider  darf  nicht 
so  scharf,    so  gegensätzlich  gefasst  werden,  wie  dies  von  dem  sonst  so 

1)  Dass  die  ragnarökmytlieu  in  der  uns  vorliegenden  gestalt  ein  produkt  der 
Wikingerzeit  seien,  hat  schon  Hammerich  (Om  raguarokrnythen  s.  39  fg.)  wahrschein- 
lich gemacht;  einzelne  züge  begegnen  überhaupt  nur  in  der  darstellung  der  pros. 
Edda.  Vgl.  Simrock,  D.  rayth.^  s.  114;  meine  Untersuch,  s.  106;  Müllenhoff,  D.  alt. 
V,  152;  Beer  a.  a.  o.  13. 

2)  Von  diesen  sind  in  der  germ.  mythol.  die  versteinerungssagen  (Grimm, 
myth."*  s.  457  u.  nachtr.)  wol  die  wichtigsten  sowie  die  nahestehenden  verwüstiuigs- 
sagen  (zur  strafe  für  ein  unrecht,  vgl.  z.  b.  Wolf,  Niederl.  sagen  m-.  21,  22; 
"W.  Müller  und  Schambach,  Niedersächs.  sagen  nr.  70),  während  die  verwaudelung 
in  pflanzen  uud  tiere  (vgl.  die  dichterische  behandlung  in  Ovids  Metamorphosen)  bei 
uns  seltener  begegnet,  abgesehen  von  den  (anders  zu  beurteilenden)  temporären  ver- 
wandeluugen  in  wölfe,  katzen,  baren  usw.,  Grimm,  Myth.'' 915  fg.  —  Ganz  verein- 
zelt stehen  angaben  wie  diese:  „alle  tiere  sind  verwünschte  menschen"  (Haas,  Eü- 
gensche  sagen  und  märchen  s.  135  (vgl.  s.  146). 


176  -WILKEN 

besounenen  Wisliceniis  (Symb.  s.  16  fg.)  geschehen  ist^  —  Das  wort 
dlXrjyoQia  bedeutet  eigentlich  nur  „vergieichung,  bildlichen  ausdruck"  und 
nicht  die  Schönheit  ist  das  erste  oder  einzige  ziel  allegorischer  darstel- 
lung,  sondern  das  bedürfnis  der  Verdeutlichung,  der  Verkörperung  eines 
gedankens  legt  ihr  die  wähl  sinnlicher  bilder  nahe;  das  bewusste  ver- 
fahren darf  ihr  dabei  auch  nicht  zum  vorwürfe  gemacht  werden,  da 
dies  mit  der  fortschreitenden  geistesbildung  von  selbst  gegeben  war-. — 
Das  wort  dllTjyoQia  ward  aber  neben  dem  oben  erwähnten  allge- 
meinen sinne  speciell  auch  so  gebraucht,  dass  man  eine  mythendeu- 
tung  so  nannte,  die  sich  nicht  mit  dem  zunächst  liegenden  sinne 
begnügte.  Mag  man  die  widerholten  misgriffe  „allegorischer"  erklärung 
verurteilen,  historisch  ist  es,  da  man  es  bei  jenem  allegorisieren  meist 
auf  abstrakte  oder  geistige  potenzen  abgesehen  hatte  3,  jedenfalls  gerecht- 
fertigt, nun  auch  auf  mythischem  gebiet  solche  Schöpfungen  allegorien 
zu  nennen,  die  nach  einem  sinnlichen  ausdruck  für  etwas  unsinnliches 
suchen;  dieser  auffassung  neigt  sich  auch  Wislicenus  seinerseits  zu^. 
Wenn  nun  auch  eine  solche  allegorie  (wie  z.  b.  die  von  Hercules  am 
Scheidewege)  gewissermassen  das  widerspiel  des  mythischen  Symbols 
darstellt,  das  ja,  von  dem  naturvorgang  ausgehend,  mehr  und  mehr 
vergeistigt  zu  werden  pflegt,    so  stellt  doch   die  betrachtung  der  indi- 

1)  Derselbe  sclieint  mehr  an  die  ullegorie  als  poetisches  oder  rhetorisches 
kuustmittel  als  an  das  gedacht  zu  haben,  was  auf  mythologischem  gebiete  passend 
so  genannt  wird.  Die  unleugbaren  bedenken  gegen  die  künstlerische  Verwendung  der 
allegorie  sollen  hier  nicht  bestritten  werden. 

2)  "Wenn  Wislicenus  a.  a.  o.  sagt:  „der  geist  kann  nie  meinen,  dass  er  durch 
ein  sinnliches  bild  das  innerste  wesen  einer  unsinnlichen  Vorstellung  ergriifeu  habe  .  . 
darum  kann  hier  die  absieht  nicht  auf  die  erkenntnis,  sondern  nur  auf  bildliche  dar- 
stellung  gerichtet  sein"  —  so  wird,  glaube  ich,  übersehen,  dass  einzelne  selten  einer 
Vorstellung  recht  wol  durch  ein  sinnliches  bild  deutlicher  werden  können;  darauf 
beruht  ja  die  Berechtigung  des  gleichnisses  wad  der  paramythie. 

3)  So  wurde  noch  in  der  reformationszeit  die  Lea  und  Rahel  der  Genesis  von 
Flacius  auf  die  philosophie  und  theologie  bezogen,  vgl.  Zöckler,  Haudb.  der  theol. 
wiss.  I,  657. 

4)  Dagegen  ist  eine  schon  bei  Cicero  (Orator  27,  §  93 ,  94  Jahn)  belegte  an- 
wendung,  wonach  allegorie  für  eine  in  längerem  zusammenhange  durchgeführte  meto- 
nymie  (oder  metapher)  gebraucht  wird,  für  den  niythologen  wertlos,  da  ihm  die 
weiter  durchgeführte  metapher  (=  Symbol)  zum  eigentlichen  mythus  wird.  —  Die 
grammatischen  abJiaudlungeu  der  Snorra-Edda  fassen  als  metaphora  auch  die  von  mir 
als  allegorie  bezeichnete  ausdrucksweise;  mit  letzterem  namen  belegen  sie  nur  solche 
bildliche  ausdrücke,  deren  wahrer  sinn  erst  durch  schärferes  nachdenken  gefunden 
wird,  z.  b.  die  Ironie  und  das  rätsei  (Kph.  II,  158  fg.  178  fg.)  —  Als  quellen  der 
abhandlung  sind  des  Donatus  Ars  minor  sowie  das  3.  buch  der  Ars  maior  zu  betrach- 
ten, s.  Olsens  ausg.  s.  XXXVIII. 


DER  FE^fRIS■WOLF  177 

rekten  Symbole  schon  eine  innere  Verbindung  beider  gebiete  vor  äugen. 
Indem  ich  von  der  an  der  Oberfläche  des  wassers,  an  den  blättern  der 
bäume,  in  Staubwirbeln  usw.  sichtbaren,  raschen  bewegung  auf  einen 
Urheber  derselben  schliesse  und  ihm  (nach  dem  raschen  fortschreiten 
jener  bewegung)  vor  allem  die  eigenschaft  der  Schnelligkeit  zuschreibe, 
so  steht  dieser,  zwar  durch  sinnliche  eindrücke  spürbare,  aber  sonst 
den  sinnen  unbekannte  urheber  schon  auf  dem  übergange  zu  den 
gedankenwesen,  welchen  die  allegorie  sinnliches  leben  zu  leihen  ver- 
sucht ^ 

18.  Sind  wir  somit  keinesweges  berechtigt  der  allegorie  das  so 
lange  genossene  gastrecht  in  den  grenzen  der  mythologie  plötzlich  zu 
kündigen,  können  wir  anerkennen,  dass  einzelne  allegorien  relativ  alter- 
tümliches gepräge  zeigen,  auch  nicht  ohne  jeden  poetischen  reiz  sind 2, 
so  ist  andererseits  doch  festzuhalten,  dass  wir  bei  einem  mythischen 
gebilde  jeder  art  dann  die  geltung  als  allegorie  uns  gefallen  lassen  dür- 
fen, wenn  eine  erklär ung  im  sinne  des  naturmythus  sich  ungezwungen 
nicht  durchführen  lässt.  Wo  aber,  wie  z.  b.  bei  dem  Fenriswolfe,  nur 
eine  gewisse  Schwierigkeit  des  nachweises  vorliegt,  ist  dieser  fall  noch 
nicht  gegeben,  lun  so  weniger,  weil  alle  das  gemüt  mächtiger  bewe- 
genden und  weite  kreise  durchdringenden  mythischen  momente  irgend- 
wie in  der  sichtbaren  Schöpfung  zu  wurzeln  pflegen,  vgl.  s.  163  den 
der  n.  2  vorangehenden  text.  Nicht  einmal  bei  dem  schiffe  Naglfar 
ist  es  geraten,  entweder  der  mislungenen  etymologie  in  Gylf.  c.  51  zu 
liebe  an  ein  schiff  aus  nageln  verstorbener  menschen  zu  denken,  da 
ein  solches  fahrzeug  nur  als  allegorie  eine  art  von  sinn  hätte'  oder 
nach   der  geistreicheren   deutuug  eines  jetzt  lebenden  forschers  an  ein 

1)  Auch  ist  zu  beachten:  da  jede  erkenntiiis  von  der  uatur  ausgeht  (uihil  est 
iu  intellectu,  quod  non  fuerit  iu  seusibus),  so  stellt  die  zui'ückbeziehuiig  geistiger 
begriife  auf  ein  der  sinnenwelt  entuomnienes  bild  gewissermasseu  einen  natürlichen 
„kreislauf  des  erkenneus"  dar.  In  etwas  anderem  sinne  gebrauchte  einen  ähnlichen 
ausdruck  E.  H.  Meyer,  Germ.  myth.  s.  11. 

2)  You  allegorien  auf  dem  gebiete  der  altnord.  mytbol.  nenne  ich  ausser  Dagr 
und  Nott,  die  noch  als  indirekte  Symbole  gelten  können,  namentlich  EIK  und  Hugi 
in  Gylf.  46  und  47  {Hugi  —  pat  var  hugr  minn).  Ferner  gehören  hierher  die  in 
Gylf.  35  als  gefolge  der  Frigg  genannten  weiblichen  gottheiten  wie  Sjofu,  Lofu,  Vär 
usw.  Aber  auch  gestalten  wie  der  urriese  Tmir  dürfen  als  allegorien  gelten,  da  die- 
ser z.  b.  den  gedanken  eines  gemeinsamen  Ursprunges  der  riesenweit  von  eiuem  ein- 
zigen wesen  in  einem  der  sinnenweit  entlehnten  bilde  ausdrückt,  Gylf.  c.  5. 

3)  Dieser  sinn  könnte  nur  der  sein,  das  sehr  langsame  heranrücken  des  Welt- 
unterganges zu  verdeutlichen  (Grimm,  Myth.-*  s.  679);  ein  solcher  gedanke  liegt  den 
ragnarok-mythen  sonst  jedoch  ganz  fern. 

ZEITSCHRIFT    F.    DEUTSCHE    PHILOLOGIE.     BD.   XXVIU.  12 


178  WILKEN 

„totenschiff"  im  allegorischen  sinne  zu  denkend  Dass  auch  dieses 
schiff  auf  ein  mythisches  symbol  aus  alter  zeit  hinweist,  ist  mehrfach 
schon  mit  recht,  wenn  auch  noch  nicht  mit  ausreichender  begründung 
beliauptet  worden;  genaueres  darüber  siehe  cap.  VIII,  §  3. 

19.  An  dieser  stelle  mag  (vgl.  n.  1)  noch  einmal  betont  wer- 
den, dass  die  animistische  auffassung  der  urzeit  ebensowenig  einen 
specifischen  unterschied  von  leben  und  tod  (vgl.  §  12),  wie  einen  sol- 
chen zwischen  natur  und  geist  kannte.  Wie  so  mancher  naturkörper 
als  „geschmiede"  der  zwerge  galt  (Skälda  c.  35;  w.  u.  c.  V),  so 
bildete  umgekehrt  das  ganze  gebiet  geistiger  tätigkeit  gewissermassen 
eine  „zweite  natur",  nur  gewissermassen  aus  einem  etwas  ferner  lie- 
genden erdteil  stammend.  Erst  da,  wo  einem  volke  speciell  angehörige, 
also  nationale  erlebnisse  von  der  volkssage  aufgefasst  werden,  tritt 
uns  ein  von  dem  wirklich  mythischen  zwar  keines weges  immer  scharf 
unterschiedenes,  aber  bei  schärferer  betrachtimg  wenigstens  unterscheid- 
bares gebiet  entgegen,  dem  dann  auch  das  der  religiösen  entwicke- 
lung,  sofern  dieselbe  mehr  durch  historische  als  physikalische  momente 
bestimmt  war,  als  verwantes  sich  anreiht. 

20.  Sollen  hier  zum  schluss  die  wichtigsten  richtungen  mytholo- 
gischer forschung  kurz  skizziert  werden,  so  liegt  es  nahe  nach  der 
schule  J.  Grimms 2  zunächst  der  vergleichenden  mythologie  zu 
gedenken,  deren  unleugbare  Verdienste  um  die  „erweiterung  unseres 
blickes  für  mythische  dinge"  nie  vergessen  werden  sollen.  Auf  das 
bedenklichere  in  dieser  richtung,  die  überhaupt  mehr  zum  vergleichen 
und  verknüpfen,  als  zum  sondern  und  unterscheiden  anläge  zeigte 
teilweise  auch  in  „etymologischen"  mythendeutungen  sich  mit  einer 
gewissen  verliebe  versuchte,  ist  in  den  letzten  decennien  mehrfach  und 
nicht  ohne  Wirkung  hingewiesen:  ihre  blütezeit  scheint  jetzt  vorüber 
zu  sein.  Gerade  deshalb  aber  und  weil  die  jetzt  mit  recht  das  grösste 
ansehen    geniessende    historisch -philologische    methode    MüUen- 

1)  Freilich  ist  aus  der  kurzen  bemerkuug  bei  Noreen,  Altuord.  grammat. - 
§  2.Ö1,  S  nicht  zu  ersehen,  ob  der  gelehrte  Verfasser  an  eine  allegorie  oder  ein  Sym- 
bol dabei  gedacht  hat.  Da  der  unterschied  von  natur  und  geist  (oder  kunst)  für  die 
urzeit  nicht  existierte,  konnte  nicht  nur  (wie  jetzt  noch  die  lokomotive  als  „danipf- 
ross"  gilt)  ein  schiff  als  wassertier  mit  flügelu,  schnabel  usw.  angesehen,  sondern 
auch  ein  naturkörpei-,  z.  b.  eine  wölke,  allenfalls  als  „schiff  der  toten"  bezeichnet, 
d.  h.  zunächst  (der  schnellen  bewegung  halber)  einem  schiffe  verglichen  und  den 
toten  als  fahrzeug  zugeschrieben  werden.  Ist  eine  allegorie  gemeint,  so  kann  man 
sich  das  fahrzeug  aus  beliebigem  stoffe  und  beliebig  gross  denken,  doch  muss  es  dann 
als  wirkliches  schiff  angesehen  werden  ohne  eine  andere  grundbedeutung  (z.  b.  wölke). 

2)  Vgl.  über  diese  Mogk  in  Pauls  Grundriss  I,  988  fg. 


DER   FENRISWOLF  179 

lioffs  II.  a.  ^  geeignet  ist  den  beregten  mangeln  ausgleichend  gegen- 
überzutreten,  halte  ich  es  heute  nicht  mehr  für  geboten  die  Warnungen 
früherer  jähre  zu  widerholen  2.  Ohne  in  meinem  misstrauen  gegen 
eine  vorwiegend  etymologische  mjthendeutung  anderen  sinnes  gewor- 
den zu  sein;  ohne  zu  meinen,  dass  direkte  vergleichung  von  mythen 
verschiedener  Völker  im  ganzen  wertvollere  resultate  liefern  wird  als 
eine  genaue  philologisch -historische  prüfung  des  einzelmythus,  der  an 
anderem  orte  gefunden,  doch  nicht  mehr  ganz  derselbe  ist,  so  kann 
andererseits  diese  philologische  erkläruugsweise  doch,  glaube  ich,  in- 
direkt aus  den  gesicherten  resultaten  der  vergleichenden  forschung 
insofern  nutzen  ziehen,  als  die  kenntnis  und  beachtung  einiger  allge- 
meiner gesetze  der  mythen -bildung  und  fortpflanzung  unserer  kombi- 
nation,  wo  wir  auf  diese  angewiesen  sind,  engere  schranken  zu  ziehen 
und  für  uns  somit  die  möglichkeit  des  irrens  zu  verringern  geeig- 
net ist^. 

21.  Yon  einigen  selten  glaube  ich  die  frage  zu  hören:  gibt  es 
auf  diesem  gebiete  allgemeine  gesetze,  die  zweifellos  anerkannt  sind? 
Vielleicht  nicht;  aber  was  ich  nicht  im  sinne  eines  axioms  anwenden 
darf,    lässt  sich  doch,    wenn  es  durch  manche   beispiele  gestützt  ist'^, 

1)  Ausser  dem  5.  bände  der  Deutsclien  altertumskunde  und  verschiedenen 
abhandlungeu  kommen  für  genaueres  Studium  auch  die  vorreden  zu  W.  Mannhardts 
Mythol.  forschungen  (Strassb.  1884)  in  betracht,  deren  eine  von  MüUeuhoff  selbst, 
die  andere  von  Scherer  herrührt. 

2)  Vgl.  namentlich  meine  anzeige  von  Cox,  Mythology  of  the  Aryan  Nations 
in  den  G.  G.  A.  1872,  st.  3.  —  Wenn  Scherer  in  seiner  vorrede  zu  Mannh.  Forsch. 
(vgl.  die  vor.  n.)  s.  XIV  bemerkt,  dass  diese  anzeige  MüUenhoffs  vollen  beifall  hatte, 
andererseits  berichtet,  dass  M.  „Benfeys  beratende  stimme  hinter  ihr  vermutete", 
so  scheint  letzteres  eine  gelegentliche  erklärucg  von  meiner  seite  nahe  zu  legen. 
Seine  gründe,  weshalb  er  selbst  die  anzeige  nicht  gerne  schriebe,  hatte  Benfey  mir 
ausgesprochen  und  mich  so  zur  Übernahme  aufgefordert,  für  die  einzelheiten  der  aus- 
führung  bin  ich  allein  verantwortlich.  Die  wenigen  ausnahmen  sind  in  der  anzeige 
selbst  (z.  b.  die  ablehnung  der  Daphne-etymologie  M.  Müllers  durch  „kompetente 
autoritäten")  genügend  angedeutet  (s.  85). 

3)  Von  einem  ähnlichen  Standpunkte  hat  vor  einigen  jähren  Beer  (Germ.  33,  3) 
darauf  hingewiesen,  „dass  man  anfängt  über  Schwartz'  einseitigkeit  und  kritischen  ver- 
iiTungen  zu  vergessen,  wieviel  man  ihm  verdankt",  wozu  neuerdings  die  äusserimg 
H.  Oldenbergs  (Relig.  des  veda  s.  34)  stimmt.  —  Dass  auch  der  Standpunkt  der  histo- 
risch-kritischen erforschung  eines  Specialgebietes  nicht  ohne  weiteres  von  der  gefahr 
aUzugrosser  kühnheit  in  den  korabinationen  entbindet,  haben  „berühmte  muster"  auch 
bereits  bewiesen.    Vgl.  Mogk  a.  a.  0.  s.  993,  §  12. 

4)  Ich  rede  hier  von  solchen  gesetzen,  wie  sie  z.  b.  Mannhardt  im  2.  cap. 
seiner  „Göttervvelt"  oder  Schwartz  in  verschiedenen  Schriften,  besonders  im  „Ursprünge 
der  mythologie"   aussprachen.      Allerdings    dürfen    diese  gesetze    (z.  b.   das  von  der 

12* 


180  WILKEN 

sozusagen  probeweise  als  regulativ  verwenden,  und  gelangt  man  so  zu 
befriedigenden  resultaten,  d.  h.  zu  erklärungen,  die  ungezwungen  die 
ganze  entwickelung  des  mythus  klar  legen  i,  so  ist  wider  ein  Aveisser 
stein  gewonnen,  der  den  angefochtenen  grundsatz  verteidigt;  anderes- 
falls  \vürde  auch  ich  bald  einem  solchen  grundsatze  meine  folge  ver- 
sagen. —  In  dieser  weise  sozusagen  eine  gegenseitige  koutrolle  des 
vergleichenden  Standpunktes  und  desjenigen  der  Specialforschung  anzu- 
streben scheint  mir  die  aufgäbe  der  nächsten  zeit  zu  sein^. 

22.  Ähnlich  aber,  wie  zu  der  vergleichenden,  linguistischen  stellt 
sich  die  philologische  richtung  auch  zu  der  anthropologischen  und  ver- 
wandten, richtungen  der  mythenforschung.  Sind  in  neuerer  zeit  manche 
forscher  geneigt  gewesen  dem  „seelenkult"  eine  dominierende  Stellung 
in  der  mythologie  einzuräumen,  so  ist  einiger  schönen  ergebnisse 
dieser  forschungsweise  ungeachtet  daran  festzuhalten,  dass  die  beseeit- 
heit  der  natur  erst  von  dem  kult  der  abgeschiedenen  seelen  abzuleiten, 
ein  hysteronproteron  ist,  das,  unerkannt  bleibend,  noch  zu  groben 
irrtümern  anlass  geben  könnte^. 


IL 

Litteratur,    Zeugnisse. 
1.    Der    mythische    Fenriswolf   wird   auch    dem    oberflächlichsten 
kenner  der  nordischen  göttersage  nicht  unbekannt  sein;    dass   die  deu- 

prioi'ität  der  himmlischeu  gewässer  vor  den  irdischen)  uielit  in  so  mechanischer  weise 
angewandt  werden,  wie  in  dem  sonst  vielfach  dankenswerten  buche  von  Henne  (Die 
deutsche  volkssage  1874),  wo  es  s.  374  heisst:  „dem  gegenüber  (d.  h.  den  sagen  von 
opfern,  die  ein  gewässer  jährlich  verlangt)  steht  die  heilkraft  vieler  wasser;  denn 
der  himmel,  der  sich  im  wasser  spiegelt,  bringt  sowol  leben  als  tod."  —  Am  wenig- 
sten gesichert  waren  die  gesetze,  welche  A.Kuhn  u.  a.  über  die  perioden  der  mythen- 
bildung  aufzustellen  versuchten. 

1)  Mit  rocht  meinte  MüUenhoff  (Scherers  vorrede  zu  Mannhardts  Forsch,  s.  XIII), 
deutung  sei  überhaupt  nicht  so  wichtig,  als  geschichte  des  mythus. 

2)  Von  einem  ähnlichen  Standpunkte  scheint  auch  Laistner  in  seinen  „Nebel- 
sagen"  ausgegangen  zu  sein  (vgl.  sein  nach  wort  s.  207  fg.);  ja,  schon  Mannhardt 
strebte  von  der  komparativen  methode  immer  mehr  der  philologisch  -  historischeu  zu. 
Wähi'end  aber  diese  beiden  forscher  von  der  vergleichenden  richtimg  ausgieugeu, 
empfiehlt  sich  für  die  gegenwart,  glaube  ich,  das  ausgehen  von  dem  philologischen 
Standpunkte. 

3)  Vgl.  s.  169  aum.  4.  —  Um  hier  zum  scbluss  noch  ein  werk  zu  nennen,  in  dem 
besonnene  Verwertung  aller  bisherigen  Systeme  mythologischer  forschung  sich  zeigt, 
so  bekenne  ich,  dass  die  „Vedische  mythologie  von  H.  Oldenberg"  noch  häufiger 
von  mir  citiert  sein  würde,  wenn  das  gehaltvolle  werk  mir  nicht  erst  kurz  vor 
abschluss  dieser  abhandlung  zugegangen  wäre. 


DER    FENRISWOLF  181 

tiing  sehr  verschiedene  wege  eiugeschhigen  hat,  ist  gelegentlich  schon 
s.  160  n.  3  berührt  worden.  Kaum  irgend  eine  möglichkeit  ist  unver- 
sucht geblieben.  Den  einen  ist  Fenrir  ein  sturmdämon  (W.  Schwartz, 
Ursprung  der  mythol.  s.  66,  vgl.  W.  Mannhardt,  Gernian.  mythen 
I,  198  und  El.  H.  Meyer,  VqI.  201  und  German.  mythol.  107,  wel- 
cher letztere  aber  auch  an  Apokal.  13,  2;  19,  5;  Jes.  63,  3  denkt), 
den  andern  ein  wasserdämon  (Weinhold,  Die  riesen  des  german. 
mythus  s.  249;  Mogk  im  Grundriss  der  german.  phil.  von  H.  Paul 
I,  1045).  Finn  Magnussen  (Lex.  myth.  68,  69;  Mdre  Edda  IV,  227) 
dachte  teils  an  den  abgrund,  teils  an  das  unterirdische  feuer;  auch 
Bergmann  (Fascin.  de  Gulli  s.  288)  wollte  in  Fenrir  eine  bezeich- 
nung  der  „feux  souterrains,  qui  sont  lances  au  ciel  par  les  volcans" 
erblicken  (ähnlich  Wislicenus,  Loki  s.  27  sowie  neuerdings  Hirsch- 
feld, vgl.  cap.  I,  §  8),  während  N.  M.  Petersen  (Nord,  mythol. ^  392) 
sich  mit  dem  „irdischen  feuer,  welches  das  menscherüebcn  in  allen 
seinen  richtungen  in  bewegung  gesetzt  hat",  begnügte.  Auch.  J.  Grimm 
(Myth.-^  s.  202)  war  geneigt  Fenrir  als  „widergeburt "  des  ihm  als 
feuergott  (s.  200)  geltenden  Loki  zu  fassen,  ähnlich  wie  neuerdings 
S.  Bugge  (Studien  über  die  entstehung  der  nord.  götter-  und  helden- 
sagen  s.  414)  die  gefangenschaft  des  wolfes  Fenrir  nur  eine  „differen- 
zierung  von  Lokis  gefangenschaft"  nennt,  welcher  letztere  ihm  freilich 
einfach  =  Lucifer  ist.  J.  Grimm  gegenüber  haben  W.  Müller  (Altd. 
relig.  s.  173)  und  neuerdings  K.  Mülle nhoff  (D.  alterturaskunde  V, 
139)  den  wolf  als  dämon  oder  „urwolf"  der  finsternis  gefasst.  Spe- 
cieller  als  „dämonisches  wesen  der  nächtlichen  finsternis"  fasst  ihn 
Mannhardt  1860  in  seiner  „Götterwelt  der  deutschen  und  nordischen 
Völker"  s.  264.  Später  variierte  er  diese  ansieht  wider,  vgl.  s.  160 
n.  3),  wo  auch  die  deutung  „nebel"  erwähnt  ist.  —  Einigen  forschem 
mochte  die  natürliche  grün d läge  des  mythus  nicht  mehr  erkennbar 
scheinen;  an  allegorische  deutung  streift  z.  b.  die  erklärung  von  Sim- 
rock  (D.  mythol.^  s.  97):  „indem  Fenrir  zum  verderben  der  götter 
bestimmt  ist  und  später  selbst  den  weltenvater  verschlingt,  ist  das  ver- 
derben der  weit,  ihr  Untergang  selbst  in  ihm  dargestellt."  In  ettvas 
bündigerer  fassung  des  gedankens  nennt  Fr.  Kauffmann  (Deutsche 
mythol.  2  s.  112)  Fenrir  den  „schauererregenden  wolf,  dem  die  götter 
beim  letzten  kämpfe  unterliegen." 

2.  Diesen  ansichten  Hessen  sich  als  Variationen  noch  einige 
andere,  z.  b.  der  von  mir  (Untersuch,  zur  Snorra-Edda  s.  121)  vorge- 
tragene erklärungs versuch  anreihen,  wenn  ich  nicht  im  begriöe  wäre 
diesen  letzteren  durch  eine  neue  erklärungsweise  zu  ersetzen,    die  den 


182  WILKEN 

kern  des  mythus  in  methodischer  weise  zu  ermitteln,  die  erweiterun- 
gen  festzustellen,  in  den  bisherigen  erklärungen,  soweit  sie  mir  bekannt 
geworden,  das  richtige  von  dem  unrichtigen  zu  sondern  versucht  hat; 
ich  gehe  aus  von  einer  kurzen  betrachtung  der  quellenzeuguisse. 

3.  Schlägt  man  das  namenregister  einer  ausgäbe  der  Lieder- 
Edda^  auf,  so  findet  man  s.  v.  Fenrir  und  Fenrisulfr  meistens  5  stel- 
len aufgeführt,  von  denen  die  erste  (VqI.  40,  2)  dunkel  und  zweideutig 
ist,  die  andere  (Yaf|)r.  46,  4  =  47,  2)  nur  eine  nebenströmung  der 
tradition  aufweist,  die  ähnlich  auch  in  dem  sehr  späten,  in  den  neueren 
ausgaben  meist  fehlenden  Hrafnag.  Odins  23,  4  zu  erkennen  ist  2. 
Deutlicher  und  im  ganzen  der  haupttradition  gemäss  sind  die  anspie- 
lungen  in  Lokas.  (prosa  vor  str.  1,  z.  6;  str.  38,  4).  Zu  diesen  4 — 5 
stellen  kommen  dann  allerdings  noch  etwa  doppelt  so  viele,  in  denen 
der  wolf  Fenrir  nur  als  ulfr  bezeichnet  ist  (YqI.  53,  2;  Vafpr.  53,  1; 
Hym.  24,  4;  Lokas.  10,  1;  39,  3;  41,  1;  58,  3;  Hyndl.  42,  1;  45,  4); 
ausserdem  das  wahrscheinlich  verderbte  viä  ulf  vega  Vol.  55,  4  nach 
R.  Doch  geben  auch  diese  stellen  nur  kurze  andeutungen  über  den 
offenbar  als  allgemein  bekannt  vorausgesetzten  mythus  3. 

4.  Die  prosaische  Edda  gibt  neben  stellen  von  geringerem 
belang  wie  Gylf  c.  25;  38  (ulfrinn  =  48,  4  Wk);  Eptirm.  Eddu;  Skäldsk. 
c.  9;  11;  16;  Fenrir  als  riesenname  c.  75  ==  Kph.  I,  555;  als  wolfsname 
Kph.  I,  591;  II,  455;  Hätt.  56,  7;  zu  Kph.  II,  431  —  32,  515  vgl. 
excurs  II)  doch  auch  die  einzigen  zusammenhängenden  berichte  über 
den  Fenriswolf,  namentlich  in  Gylf  c.  34  und  51;  in  ersterem  cap. 
wird  die  fesselung,  in  letzterem  befrei ung,  kämpf  und  tod  des  wolfes 
berichtet^.  Diese  beiden  cap.  haben  unschätzbaren  Avert,  doch  rauss 
man,    des    kompilatorischen    Charakters    der  Gylf   eingedenk,    sich    der 

1)  Bei  den  citaten  ist  die  ausgäbe  von  B.  Sijmoas  (Halle  1888),  für  die  dort 
nicht  enthaltenen  lieder  die  von  Th.  Möbius  (Lpz.  1860),  bei  citaten  aus  der  pro- 
saischen oder  Snorra-Edda  und  dort  citierten  skaldenliedern  die  grosse  Kopenhagener 
ausgäbe  (Kph.),  bei  citaten  nach  Zeilen  meine  ausgäbe  (Paderb.  1877)  daneben  zu 
gninde  gelegt. 

2)  Über  diese  nebenströmung  vgl.  cap.  VII,  §  11. 

3)  Das  wort  ulfr  wird  an  manchen  der  angeführten  stellen  (z.  b.  Lokas.  10,  1) 
beinahe  zum  eigennamen,  was  nordische  herausgeber  teilweise  auch  durch  wähl  der 
majuskel  anerkannt  haben;  andererseits  wird  in  Helg.  Hund.  I,  39,  2  mit  recht  fen- 
risulfr geschrieben,  da  das  wort  hier  nur  „bezeichnung  eines  gefährlichen  wolfes 
überhaupt"  ist.  (H.  Gering.)  Nach  beiden  selten  aber  belegt  der  Sprachgebrauch 
die  weite  Verbreitung  des  betr.  mythus. 

4)  Zu  jenem  hauptbericht  in  Gylf.  und  den  kurzen  anspielungeu  in  beiden 
Edden   kommen    aus    der    übrigen    altuord.    litteratur    noch    einige    Zeugnisse,     durch 


DER    FENRISWOLF  183 


mühe  scharfer  nachprüfuug  im  eiiizelueii  nicht  überhüben  wähnen.  Ehe 
ich  jedoch  (in  c.  V)  eine  kritische  sonderung  jener  berichte  versuche, 
sind  noch  einige  Vorfragen  zu  erledigen. 


IIL 

Namen  und  beinamen. 

1.  Von  den  erwähnten  Vorfragen  sind  zunächst  drei  in  diesem 
cap.  zu  besprechen:  ist  Fenrir  der  name  des  wolfes  selbst?  können 
wir  diesen  mit  einiger  Sicherheit  erklären?  können  wir  aus  den  bei- 
namen des  wolfes  irgendwelche  aufschlüsse  über  sein  wesen  gewinnen? 

2.  Die  erste  frage  wird  vielleicht  überraschen.  Da  an  den  in 
c.  II,  §  3  citierten  stellen  der  Lieder-Edda  (mit  ausnähme  des  prosa- 
eingangs  zu  Lokas.)  das  einfache  Fenrir  begegnet  und  zweifellos  den 
wolf  F.  bezeichnet,  scheint  die  frage  kaum  berechtigt  zu  sein;  sie  wird 
in  einer  neueren,  sehr  verdienstlichen  darstellung  der  nord.  mytholo- 
gie^  auch  nur  gestreift  mit  den  worten  „Fenrir  oder  der  Fenrisulfr, 
wie  ihn  skaldische  tautologie  nennt."'  Aber  gerade  in  echt  skaldischen 
ausdrücken  wie  Ulfs  föstri  (Sk.  9),  Ulfs  bägi  (Sonart.  24,  2),  Ulfs 
leifr  (=  leifar)  Kph.  I,  266  n.  7  und  den  ähnlich  gebildeten  Ulfs  factir 
Lokas.  10,  1,  Ulfs  hnübröäir  Hym.  24,  4  zeigt  sich  der  kürzeste  aus- 
druck,  welcher  möglich  war,  der  zunächst  nur  als  abkürzung  von  Fen- 
risulfr eine  erklärung  findet;  dasselbe  ulfr  begünstigt  auch  die  Lie- 
der-Edda (vgl.  c.  II,  3)  entschieden  mehr  als -Ferner.  Beiläufig  bemer- 
kend, dass  mir  von  skald.  tautologie  in  dem  sinne,  dass  zu  einem 
vielleicht  nicht  ganz  deutlichen  ausdruck  (Avie  Fenrir)  ein  zweiter  in 
erläuterndem  sinne  (wie  hier  ulfi')  hinzuträte,  kein  beispiel  bekannt 
ist  2,   lege  ich   mehr  gewicht  darauf,    dass   eine  solche    „tautologie"  in 

die  nur  einzelne  teile  des  mythus  beleuchtet  werden,  unter  ihnen  ist  von  höchstem 
alter  und  gewicht  die  6.  strophe  der  Eiriksmäl  (bald  nach  935)  sowie  die  20.  strophe 
der  Hakouarmäl  (bald  nach  955  verfasst);  von  blossen  anspielungen  auf  den  mythus 
von  zum  teil  noch  höherem  alter  nenne  ich  die  strophe  des  Eyvindr  in  Kph.  III,  460; 
Ynglingatal  Vm  (Vigf.  Corp.  poet.  U;  Yngls.  c.  20);  HaustlQug  8  (Vigf.;  Eph.  I,  310); 
Sonartoi-rek  24,  2;  25,  2  nach  Egilss.  ed.  Jonsson  s.  367;  Eaguarsdräpa  4  (Vigf.;  Kph. 

I,  436);  ferner  Kph.  II,  630.  Einige  weitere  belege  aus  den  versen  der  sagas  siehe 
bei  Egilsson  Lex.  poet.   s.  v.  Fenrir,    endlich  Merlinusspä  U,  118    (Vigf.  Corp.  poet. 

II,  376)  und  aus  der  rimurpoesie  I'rymlur  ed.  Mob.  I,  2. 

1)  Vgl.  Mogk  in  Pauls  grundr.  I,  1045. 

2)  Wenn  der  skaldische  ausdruck  zur  breite  neigt,  so  geschieht  es  gerade  in 
dem  umgekehrten  bestreben  für  den  einfachen,  als  trivial  geltenden  ausdruck  einen 
künstlich  gebildeten  zu  wählen,    der  das  nachdenken  etwas  mehr   beschäftigt,    z.  b. 


184  WILEEN 

diesem  falle  auch  eine  äusserst  selten  belegte  abweichung  von  dem 
altgermanischen  sprachgebrauche  darstellen  würde.  In  eigentlicher  kom- 
position  kann  die  species  durch  das  genus  expliciert  werden  (vgl.  eich- 
baum,  Walfisch  u.  ä.,  Grimm  IP,  440  fg.),  nicht  in  uueigentlicher, 
genetivischer;  hier  kennen  die  germanischen  sprachen  einen  explica- 
tiven  genetiv  von  alters  her  nicht.  Ganz  besonders  gilt  dies  von  der 
nordischen,  mit  hilfe  des  gen.  subiect.  oder  obiect.  ausgeführten  ken- 
ning  oder  Umschreibung  (vgl.  u.  a.  Vigf,  Corp.  poet.  II,  447  fg.,  meine 
Unters,  zur  Sn.  Edda  s.  190  anm.  117);  ebensowenig  wie  Mänagarmr 
jemals  bedeuten  könnte  „ein  hund  Mäni",  ebensowenig  wol  auch  Fenris- 
ulfr  „ein  wolf  Fenrir".  —  Man  hat  die  anomalie  zwar  gelegentlich 
durch  hin  weis  auf  Yggdrasill  (Vol.  19,  1  nach  den  meisten  hss.)  = 
Yggdrasils  askr  zu  erledigen  gesucht^,  das  in  demselben  sinne  VqI. 
47,  1  sowie  in  den  Grm.  (str.  29  fg.)  siebenmal,  auch  in  der  Prosa - 
Edda  stets  begegnet,  wo  nicht  das  einfache  askr  genügend  schien.  Mit 
diesem  nur  an  einer  stelle  und  nicht  ohne  widersprach  einer  der 
ältesten  hss.  belegten  Yggdrasill  hat  es  demnach  nicht  eben  viel  auf 
sich  gegenüber  dem  sonst  völlig  konstanten  Sprachgebrauch  2.  Gleich- 
wol  Avill  ich  die  analogie  dieses  wertes  nicht  ganz  von  der  band  wei- 
sen, da  nach  drei  selten  sich  eine  gewisse  ähnlichkeit  mit  unserm 
Fenrii"  zeigt.  Einmal  begegnet  der  anomal  verkürzte  ausdruck  in  bei- 
den fällen  niemals  in  prosa,  wo  nur  der  vollständige  oder  der  normal 
verkürzte  ausdruck  [askr,  resp.  ulfr)  sich  findet.  Zweitens  ist  der 
anomal  verkürzte  auch  nur  da  in  der  poesie  zu  treffen,  wo  ein  gewis- 
ser zwang  des  metrnms  mitzuwirken  scheint^.  Drittens  endlich  ist 
diese  anomale  Verkürzung  hier  ohne  gefahr  für  das  richtige  verständ- 

•wenu  statt  des  einfachen  J)6rr  gesagt  wird  fellir  fornjöts  goäa  flugstalla  =  pro- 
stratorem  praeruptorum  montium  antistitis.  (Kph.  I,  291,  III,  24.) 

1)  [Dass  Yggdrasill  der  name  der  esche  sei,  "wird  neuerdings  von  Eirikr 
Maguüsson  (Cambridge  university  reporter  1895,  febr.  5)  geleugnet.  Y.  wäre  nach 
E.  M.  eine  poetische  kenning  für  Sleipnir.    H.  G.] 

2)  Auch  hat  Sijmous  an  der  betreffenden  stelle  mit  cod.  r  Yggdrasils  {-eis) 
geschrieben  der  allgemeinen  analogie  gemäss. 

3)  So  würde  V9I.  40,  2  eine  laugzeile  wie 

ok  focddi  par  Fenrisiilfs  kindir 
metrisch  überladen  sein,  das  einfache  idfs  würde  aber  dem  Stabreime  und  dem 
metrum  nicht  genügen.  Wol  ist  nun  in  VqL  19,  1  der  gen.  Yggdrasils,  da  er 
nicht  neben  seinem  nomen  regens  steht,  etwas  auffälhg  (Bugge,  Stud.  s.  421),  aber 
nach  der  analogie  der  freien  skaldischen  Wortstellung,  an  welche  anklänge  auch  sonst 
in  der  Lieder -Edda  sich  finden  (nam.  YqI.  35,  1  —  2  nach  H)  darf  mau  doch  auch 
hier  wol  die  freiere  Stellung  mit  cod.  r  aufrecht  erhalten. 


DER   FENRISWOLF  185 

nis,  da  Yggdrasill  wie  Fenrir  nur  noch  in  der  Verbindung  mit  askr, 
resp.  ^ilfr  vorkamen,  nach  ihrer  besonderen  bedeutung  aber  wol  schon 
unverständlich  geworden  waren  i.  Ich  glaube  also  die  Verwendung  von 
Fenrir  =  Fenriswolf  nur  als  eine  aus  den  angeführten  gründen  erklär- 
liche licenz  des  poetischen  Sprachgebrauches  namentlich  der  Lieder - 
Edda,  seltener  der  skalden  (z.  b.  Kph.  III,  460)  ansehen  zu  dürfen 2. 

3.  Wie  steht  es  nun  mit  der  erklärung  des  schon  frühe  unver- 
ständlich gewordenen  wortes  seitens  der  neueren  forscher?  Weder 
J.  Grimms  noch  Bergmanns  deuteversuch  hat  beifall  gefunden'^;  die 
mehrzahl  der  heutigen  mythologen  scheint  zu  einer  anknüpfung  an 
fen,  n.  (=  sumpf,  meer)  geneigt  zu  sein.  Allerdings  ist  schon  die 
grammatische  ableitung  nicht  ganz  gesichert;  nach  dieser  seite  hat 
neuerdings  Hellquist  der  sache  aufm erksamkeit  geschenkt,  ohne  jedoch 
zu  ganz  gesicherten  resultaten  gelangt  zu  sein''.  Weit  schwieriger 
noch  scheint  mir  die  sachliche  begründung.  Da  Fenrir  bei  jener 
annähme  mit  Feiisalir  und  wol  auch  mit  Fenja  verwant  sein  müsste, 
deren  ableitung  von  fen  n.  jedenfalls  einfacher  wäre,  so  wiU  ich  eine 
kurze  betrachtung  dieser  beiden  worte  vorausschicken. 

4.  Bei  Fensalir,  der  wohnung  der  göttin  Frigg,  wird  fen  bald 
im  sinne  des  skaldischen  Sprachgebrauches  mit  „meer"  (Bugge,  Mogk, 
Golther),  bald  dem  gewöhnlichen  usus  gemäss  mit  „sumpf"  oder  „teich" 
(so  namentlich  Edzardi,  Germ.  27,  330  fg.  und  neuerdings  Hoffory,  Edda- 

1)  Dieser  umstand  ist  nicht  ohne  gewicht.  "Während  im  nhd.  z.  b.  niemand 
für  königssohn  einfach  könig  sagen  darf,  wird  das  ganz  analoge  vetter  (=  vetters- 
sohn  oder  kleiner  vetter)  unbedenklich  gebraucht,  da  vetter  im  ursprünglichen  sinne 
{=  vaterbruder)  veraltet  ist. 

2)  Auch  die  beiden  von  Schullerus  in  Pauls  Beitr.  XU,  226  noch  angeführten 
beispiele  stellen  die  sache  nicht  anders  dar.  Die  schwierige  strophe  Grm.  21  (vgl. 
dazu  Lüning  und  Müllenhoff,  D.  alt.  V,  116)  wird  nur  noch  dunkler,  wenn  man 
Pjoävitnir  für  den  namen  des  fisches  selbst  hält  und  nicht  vitnir  sonstiger  aualogie 
gemäss  =  wolf ,  zauberwesen  fasst.  —  Glasir  (Skalsk.  32  und  34)  ist  nicht  ohne  wei- 
teres =  Glasislimdr,  sondern  die  lusprüngliche  bedeutung  von  Glasir  (=  der  glanz- 
reiche, glasähnliche,  eine  bezeichnung  des  himmels  ähnlich  dem  „glasberg"  unserer 
märchen)  ist  der  Sn.  Edda  nicht  mehr  deutlich;  so  konnte  auch  hier  Glasir  wider 
als  abkürzung  für  Glasislundr  stehen,  zimial  andere  composita  von  Glasir  (wie  Gla- 
sisvellir)  dem  sprachgebrauche  der  Prosa -Edda  fremd  sind. 

3)  Der  erstere  (Myth. "*  s.  202  hatte  gefragt:  got.  f anareis?  doch  nicht  fahnen- 
träger,  pannifer?  Bergmann  hatte  (Fase,  de  Gulfi  s.  288)  an  ags.  fcem,  ahd.  feim 
erinnert. 

4)  Im  Arkiv  för  nord.  filol.  7,  s.  24  und  173.  Der  an  ersterer  stelle  gegebenen 
deutung  {Fenrir  =  Fenjarr,  wie  Viärir,  Sridrir  =  Viäurr,  Sviäiirr)  möchte  ich 
lieber  mich  anschliessen  als  der  s.  173  nach  Grimms  Vorgänge  wider  versuchten 
gleichsetzung  von  -rir  mit  got.  -areis. 


186  WILKEN 

stud.  I,  26),  gelegeutlich  auch  mit  „marschland"  (N.  M.  Petersen,  N". 
myth.  187)  übersetzt.  Diesem  schwanken  gegenüber  konstatiere  ich 
zunächst,  dass  keine  der  vorgeschlagenen  deutungen  für  eine  Woh- 
nung der  himmelsgöttin  recht  passen  will,  wie  denn  auch  Edzardi 
a.  a.  0.  335  ehrlich  einräumt,  „wenn  auch  in  unseren  eddischen  quellen 
diese  auffassung  (einer  unterirdischen  teichwohnung  der  göttin  Frigg- 
Idun-Hel)  nicht  mehr  hervortritt"  und  bestimmter  noch  338  so  sich 
äussert  „da  der  dichter  sich  Fensalir  "wol  als  himmlischen  Wohn- 
sitz dachte"  usw.  —  Veränderungen  der  mythischen  auffassung  im 
laufe  der  zeit  sind  ja  nun  freilich  ausserordentlich  häufig,  aber  diese 
fülle  der  beispiele  gestattet  doch  auch  eine  art  regel  für  den  gang  der 
Veränderung  aufzustellen.  Wer  den  Schriften  von  A.  Kuhn,  W.  Schwartz 
und  ihrer  nachfolger  mit  besonnener  kritik  gefolgt  ist,  dem  wird  der 
satz  —  trotz  mancher  Überspannung  im  einzelnen  —  im  ganzen  doch 
als  bewiesen  gelten,  dass  der  gang  der  lokalen  Veränderung  auf  echt- 
mythischem  gebiet  von  oben  nach  unten,  von  den  himmlischen  w^ol- 
kenbeigen  zu  den  irdischen  bergen,  von  den  „oberen"  wassern  zu  den 
gewässern  der  erde  führt  und  nicht  umgekehrte  Dass  die  unterwelts- 
göttin  Hei  ursprünglich  die  „verhüllende"  wölke  am  himmel  bedeutete, 
ist  leicht  zu  sehen;  ihre  Identität  mit  Frigg  lasse  ich  hier  dahingestellt; 
die  annähme  eines  „älteren"  unterirdischen  Wohnsitzes  der  Frigg  aber, 
wo  unsere  quellen  einen  himmlischen  im  sinne  haben,  verstösst  gegen 
die  eben  angeführte  „analogia  mythica"  ^.  Gerade  w-er  Fensalir  für 
eineji  älteren  mythischen  ausdruck  hält,  wofür  mehrere  gründe  spre- 
chen^,   wird  zu   der  von   Edzardi  vorgeschlagenen  lokalverlegung  sich 

1)  A^gl.  z.  h.  Schwartz,  Poet,  naturansch.  11,  s.  9  oben,  200.  —  Es  handelt 
sich  hier  nicht  um  erzähhingen ,  welclie  historische  erkläruug  eines  auffälligen  phäno- 
mens  bezwecken  wie  die  Gyli  11  (=  14,  19;  15,  4  Wk)  berichteten,  vgl.  cap.  I,  16, 
während  uns  Gylf.  10  ein  beispiel  liefert,  wie  dinge,  die  „zwischen  erde  und  him- 
mel" sich  zeigten,  z.  b.  das  tag-  und  nachtwerden,  gerne  und  im  ganzen  mit  recht 
auf  einen  himmlischen  Ursprung  zurückgeführt  werden.  Ähnlich  liegt  es,  wedn  die 
äugen  des  getöteten  stui'mrieseu  fjazi  von  den  göttern  als  sterne  zum  himmel  erho- 
ben werden  (Brag.  56  =  96,  9  Wk.). 

2)  Ob  der  wohnsitz  der  götter,  von  wo  aus  sie  uacli  der  darstellung  von 
GyK.  34  die  Hei  nach  Niflheim  und  den  miägaräsormr  in  die  tiefe  see  warfen,  der 
himmel  war,  darüber  wird  c.  V.  3,  c.  VI  und  exe.  I  weiter  gehandelt  werden.  Dass 
Tcastaäi  in  jenem  bericht  (38,  2,  5  Wk.)  =^  herabwarf  zu  verstehen  sei,  erken- 
nen auch  die  Übersetzer  au  (deiecit  Eg. ,  ähnlich  Simrock).  Nicht  ganz  unähnlich 
ist  die  gj-iechische  sage  vom  stürze  der  Titanen  in  den  Tartaros  (Hes.  Theog.  617  fg.) 
vgl.  exe.  I. 

3)  Vereinzeltes  vorkommen  in  verschiedenen  quellou  (VqI. ,  Gylf.,  Skalda  19) 
deutet  meist  auf  höheres  alter;  ebenso  scheint  mir  das  fehlen  des   namens  in  dem  so 


DER   FENRISWOLF  187 

nicht  berechtigt  fühlen;  dasselbe  gilt  auch  von  der  ansieht,  Fensalir 
sei  =  meersäle.  —  E.  H.  Meyers  ansieht  aber  (Germ.  myth.  189,  269), 
der  an  die  feuchten  „wolkensäle"  denkt,  ist  mit  der  von  mir  vertre- 
tenen eher  zu  vereinigen. 

5.  Ein  ähnliches  resultat  ergibt  sich  deutlicher  noch  aus  der 
betrachtnng  des  wertes  Fetija.  Es  ist  der  name  jenes  riesenmädchens, 
das  zusammen  mit  der  befreundeten  Menja  dem  grausamen  könig 
Frödi  gold  mahlen  soll,  schliesslich  aber  dem  unersättlichen  zwingherrn 
Unheil  mahlt.  Von  dem  seekönig  Mysingr  auf  ein  schiff  gebracht,  sol- 
len beide  salz  mahlen;  als  auch  dieser  sich  unersättlich  zeigt,  versinkt  das 
schiff  im  meer;  seitdem  ist  die  see  salzig  (Skäldsk.  c.  43).  —  Wenn  man 
bedenkt,  dass  geschwisterwesen  (vgl.  s.  188  n.  1)  im  mythus,  nament- 
lich wenn  es  sich  nicht  um  hervorragende  göttergestalten  handelt  (vgl. 
für  diese  cap.  IV,  1)  meist  nur  Vervielfältigungen  derselben  Vorstellung 
sind^,  so  können  wir  bei  der  erklärung  von  Menja  wol  ebensogut 
ausgehen  wie  von  Fenja\  ersterer  name  wird  von  „men"  haisschmuck, 
geschmeide  abgeleitet,  was  zu  dem  goldmahlen  vortrefflich  passt^.  Auf 
das  wasser  deutet  eigentlich  nichts,  wenn  man  den  mythus  ohne  ein 
etymologisches  verurteil  zu  gunsten  von  fen  n.  betrachtet.  Allerdings 
versinkt  die  mühle  schliesslich  im  meer,  aber  erst  nach  gewaltsamen 
katastrophen,  nicht  wie  A.  Kuhn  1847  (bei  Haupt  VI,  134)  noch  an- 
gab: die  mühle,  welche  gold  mahlt,  steht  ja  auf  dem  gründe  des  mee- 
res.  Die  auffassung  beider  mädchen  als  ursprünglicher  meerjungfrauen 
(Uhland,  Mogk)  erscheint  mir  darnach  ebensowenig  gerechtfertigt  als 
die  erklärnng  „gold,  das  im  sumpfe  verborgen  liegt",  die  Grimm  (Myth.-^ 
440  u.  nachtr.)  jenem  mehrbesprochenen  fen  zu  liebe  für  das  von  bei- 
den mägden  gemahlene  gold  gab.  Das  richtigere  sah  A.  Kuhn  1858 
in  seiner  „Herabkunft  des  feuers"  (vgl.  zweiter  abdr.  1886  s.  90,  102) 
und  im  anschluss  an  ihn  Simrock  (D.  myth.  ^  317),  welche  in  der  gold- 
und  glücksmühle  die  so  oft  als  rad,  scheibe,  stein  vorgestellte  sonne 
erkannten;    die  mahlenden  mägde   vervollständigen  dann  das   bild  der 

viel  jüngeres  machwerk  enthaltendea  Verzeichnis  der  götterwohnungen  in  Grm.  eher 
zu  gunsten  dieser  ansieht  als  gegen  sie  zu  sprechen. 

1)  Während  z.  b.  Gylf.  35  als  tochter  der  Freyja  nur  Hnoss  genannt  wird, 
sind  ihr  Yugliugas.  13  zwei  töchter  (Hn.  und  Gersimi)  zugewiesen,  deren  namen 
ziemlich  dasselbe  bedeuten.  Bekannt  sind  ferner  die  neun  Schwestern,  welche  müt- 
ter  des  gottes  Heimdallr  sind  (Gylf.  27),  also  sich  sehr  nahe  stehen  müssen  und  die 
töchter  des  meergottes  -iEgir,  welche  nieereswogen  bedeuten.  (Kph.  II,  493.)  —  An 
die  Nereiden,  Danaiden  usw.  der  griechischen  sage  sei  nur  kurz  erinnert. 

2)  Zu  Menja  stellen  sich  als  etymologisch  verwante  auch  Menglqd  und  andere 
bildungen  (Vigf.  s.  v.  men)^  in  denen  men  stets  =  gold  oder  goldschmuck  ist. 


188  WILKEN 

sonnenmühle  wol  nur  ebenso  wie  die  rosselenkerin  Söl  mit  den  bei- 
den sonnenrossen  (Gylf.  11)  das  bild  des  leuchtenden  sonneuwagens 
ergänzt^.  —  Unter  den  neueren  forschern  ist  Laistner  (Nebelsagen. 
s.  323  —  331)  geneigt  die  mühle  Grotti  zunäclist  als  schneemühle  (salz  = 
schnee)  zu  fassen,  die  als  wettermühle  im  weiteren  sinne  freilich  auch 
zu  Zeiten  sonnengold  zu  mahlen  im  stände  gewesen,  sei.  Dass  der 
mythus  nicht  ursprünglich  dem  meere  angehörte,  dass  man  „den  namen 
die  beziehung  auf  die  see  angebildet  habe"  wird  s.  330  mit  recht 
betont;  über  die  s.  324  versuchte  Zusammenstellung  von  Fenja  mit 
fqiin  =  schnee  entscheide  ich  nicht.  An  die  gewitterwolke  als  hand- 
mühle  denkt  E.  H.  Meyer  Germ.  myth.  90,  Fcjija  und  Menja  fasst 
derselbe  als  sturmriesinnen  s.  155,  wo  auch  die  etymologische  frage 
berührt  ist. 

6.  Selbst  wer  den  ausführungen  in  §  3 — -5  nicht  in  jeder  ein- 
zelheit  beipflichtet,  wird  doch  soviel  zugestehen  müssen,  dass  jenes 
Fen-  in  den  besprochenen  mythischen  namen  nicht  mit  irgendwelcher 
Sicherheit  auf  fen  =  sumpf  oder  meer  zurückzuführen  ist  und  bei 
dem  an  fen  vielleicht  nur  anklingenden  werte  Feiirir  sich  diese  ver- 
wantschaft  in  einem  noch  viel  zweifelhafteren  lichte  darstellt.  —  Zum 
glücke  ist  die  etymologie  nicht  die  einzige  pfadfinderin  der  mythologie; 
wer  sich  hier  zu  einem  ehrlichen  „non  liquet"  bequemt,  der  hat 
wenigstens  Irrwege  vermieden  und  sich  die  mögiichkeit  offen  behalten 
auf  anderem  wege  sein  ziel  zu  finden- 

7.  Auch  von  den  beinamen  dürfen  Avir  nicht  allzuviel  ausbeute 
hoffen.  Zunächst  scheiden  alle  die  von  selbst  aus,  die  nur  genea- 
logische beziehungen  aussprechen,  vgl.  darüber  c.  lY.     Die  meisten  der 

1)  Da  'sich  iu  der  Charakteristik  der  beiden  mägde  nirgends  ein  unterschied 
zeigt,  da  sie  nach  str.  11  langjährige  gespielinnen  und  nach  str.  9  auch  verwante 
sind,  so  durften  sie  oben  wol  als  geschwisterwesen  bezeichnet  werden.  Vielleicht 
sind  nur  darum  zwei  mahleude  genannt,  weil  wol  auch  im  norden  an  der  handmühle 
nicht  selten  von  zwei  mägden  zusammen  gearbeitet  wurde  (vgl.  für  das  morgenland 
Matth.  24,  41  und  Eiehm,  Haudwb.  des  bibl.  alt."  s.  1042). 

2)  Vgl.  W.  Schwartz,  Urspr.  der  mythol.  XXI.  —  Beiläufig  sei  hier  übrigens 
bemerkt,  dass  für  jenes  fen  n.  selbst  die  augeführten  deutungen  noch  nicht  er- 
schöpfend zu  sein  scheinen.  Dem  verwanten  sanskr.  worte  paüka  wird  auch  die 
bedeutung  „staub"  beigelegt  (Schade,  Altd.  wb.  s.  v.  fenni)]  diese  würde  luis  jeden- 
falls vom  wasserdämon  entfernen,  vielleicht  sogar  zu  gemahlenem  goldstaube  füh- 
ren. —  Andererseits  wäre  eine  entfernte  verwantschaft  mit  g.  fon,  n.  funa  =  feuer 
nicht  ganz  undenkbar,  wird  doch  z.  b.  auch  mhd.'  vewen  oder  v'dwen  (Lexer  s.  v. 
vetven)  zu  derselben  wiirzel  (skr.  inl  =  reinigen  Fick-  126)  gestellt.  —  Unter  eine 
andere  beleuchtung  wird  die  frage  noch  in  cap.  VIII,  1  gestellt  werden. 


DER    FENRISWOLF  189 

Übrigen  beinamen  können  auch  andere  Avölfe  bezeichnen,  so  zunächst 
vitnir  (Vaf|)r.  53,  4;  Grm.  23,  4)  nebst  Hröävitnir,  das  Lokas.  39,  1 
deutlich,  etwas  weniger  bestimmt  Grm.  39,  3  auf  unseren  wolf  weist; 
der  Grm.  21,  1  genannte  pjöävihiir  ist  zwar  etwas  rätselhaft,  aber 
mehrfach,  z.  b.  von  MüUenhoff  (D.  altert.  Y,  116)  als  „Fenrir  oder 
einer  seiner  grossen  söhne"  gedeutet.  —  Während  jenes  vitnir  (und 
kompos.)  der  VqI.  fremd  sind,  kommt  dort  von  andern  beinamen  des 
Wolfes  zunächst  valdijr  Vol.  54,  2  sicher  in  betracht;  in  zweifei 
sind  die  herausgeber  bei  jqtium  VqI.  47,  2  und  dem  der  hs.  H  ent- 
nommenen Surtar  sefi  47,  4;  das  erste  beziehe  ich  auf  Loki,  vgl. 
c.  IV,  2;  über  das  zweite  ist  ebendort  gehandelt.  Es  bleibt  noch  ein 
kleeblatt  zweifelhafter  benennuugen  aus  der  VqI.  übrig:  freki,  Garmr 
und  vargr.  Das  erste  dieser  werte  ist  einer  der  bekanntesten  wolfs- 
nanien^;  die  beziehung  auf  den  Fenriswolf  ist  VqI.  51,  3  sicher,  dar- 
nach auch  44,  2  und  sonst  in  der  stefstrophe  (vgl.  darüber  Sijmons 
zu  sh'.  44)  Avahrscheinlich.  Dagegen  ist  der  in  derselben  str.  44,  1 
genannte  Garmr  ebensowenig  wie  der  in  Grm.  44,  4  bezeugte.  Garmr 
auf  Fenrir  zu  beziehen;  die  gründe  hat  MüUenhoff  a.  a.  o.  138  mit 
nachdruck  hervorgehoben;  hinzufügen  Hesse  sich,  dass  Fenrir  wegen 
der  rachensperre  nicht  bellen  oder  heulen  kann,  so  lange  er  gefesselt 
ist,  wenn  auch  Gylf.  c.  34  (=  42,  5)  das  gre?ijar  illiliga  ungenau  erst 
nach  erwähnung  der  maulsperre  bietet;  die  worte  fyr  Gnipahelli  müss- 
ten  aber,  von  Fenrir  verstanden,  die  fortdauer  der  fesselung  bezeich- 
nen, da  er,  ft*ei  geworden,  sofort  losbricht  (Häkonarmäl  20).  Der 
vargr  in  VqI.  39,  5  wird  am  einfachsten  auf  den  im  vorhergehenden 
verse  genannten  drachen  NWiqggr  bezogen  (so  auch  MüUenhoff);  der- 
selbe gelehrte  deutet  in  44,  5  wegen  des  dabei  stehenden  vindqld  die 
vargqld  wol  mit  recht  auf  die  zeit  der  „sonnenwölfe"  oder  (eschatolo- 
gisch  gefassten)  Sonnenfinsternisse.  Eine  beziehung  auf  den  Fenriswolf 
wäre  wol  höchstens  in  dem  vargs  der  nur  teilweise  noch  lesbaren 
str.  55  (nach  H)  zur  not  denkbar,  vgl.  die  fassung  der  betreffenden  str. 
(=  61)  bei  Grundtvig,  Saem.  Edda  1874  sowie  die  ältere  Vermutung 
F.  Magnussens  im  Lex.  myth.  859.  —  Dass  die  zur  vertauschung  so 
geneigte  skaldische  technik  unter  den  vargs  heiti  (Kph.  I,  591)  auch 
Fenrir  bietet,  bedeutet  so  gut  wie  nichts. 

8.    Der  grund,    weshalb  ich   dies  negative  resultat  bezüglich  des 
beinamens  vargr  so  bestimmt  hervorhebe,    ist  folgender.     Neben  ulfr 

1)    Bekanntlich    beissen    auch    Ocüns   wölfe    GeH  und  Freki.    (Gylf.  38    nach 
Grm.  19.) 


190  WILKEN 

ist  vargt^  nach  aiisweis  der  wbb.  der  verbreitetste  name  für  den  wolf 
im  norden.  Wenn  auch  beide  werte  im  sprachgebrauche  sich  nicht 
selten  so  nahe  stehen,  wie  das  Sprichwort:  raäa  rargar  meä  ulfutn 
erkennen  lässt,  so  ist  andererseits  die  Scheidung  doch  unschwer  auf- 
zufinden: vargr  ist  das  gefrässige,  unheimliche  raubtier,  daher  auch 
von  menschlichen  Verbrechern,  sofern  sie  ruchlose  raubtierart  zeigten, 
gebraucht  [vargr  i  veuin),  aber  nie  als  familienname  verwandt.  Dage- 
gen bezeichnet  ulfr,  zwar  auch  das  raubtier,  aber  mehr  von  selten  der 
kühnheit  und  stärke  betrachtet,  so  dass  man  sich  nicht  verwundern 
darf,  sehr  zahlreiche  familiennamen  davon  abgeleitet  zu  finden  i;  man 
könnte  vargr  mit  raubwolf,  ulfr  mit  edelwolf  übersetzen.  ISTun  ist  es 
höchst  bemerkenswert,  dass  zwar  die  der  sonne  und  dem  monde  nach- 
stellenden wölfe  häufig  genug  vargar  genannt  werden  2,  aber  der  nach 
späterer  genealogischer  Verknüpfung  (vgl.  c.  lY)  mit  ihnen  nahe  ver- 
wante  Fenriswolf  in  prosaischen  texten  stets,  in  der  poesie  ziemlich 
ebenso  konstant  ulfr  und  zwar  oft  ohne  jede  weitere  bezeichnung  ge- 
nannt wird,  so  dass  er  gerade  hierdurch  von  den  in  der  nord.  mytho- 
logie  eben  so  bekannten  sonnenwölfen,  den  vargar,  unterschieden 
wurde.  Dieser  umstand  verbietet  allein  schon  in  dem  Fenriswolf  ein 
von  anfang  an  als  unhold  oder  götterfeind  aufgefasstes  wesen  zu 
erblicken;  es  ist  vielmehr  zu  erwarten,  dass  ulfr  entweder  auch  die 
edleren  selten  der  wolfsnatur  ausdrücken  sollte  oder  dass  hier  über- 
haupt nur  ein  äusserlicher  vergleich  (s.  c.  I,  §  14)  mit  einem  wolfe 
beabsichtigt  war.  —  Wenn  dieser  wolf  in  den  Eiriksmäl  str.  6  ulfr  inn 
hqsvi  (der  graue  wolf)  genannt  wird,  so  ist  entweder  nur  ein  poetisch - 
lebendigerer  ausdruck  gewählt,  da  der  wolf  in  poetischem  ausdruck 
sehr  häufig  so  genannt  wird  3,  oder  es  kann  das  wort  für  die  Symbolik 
selbst  bedeutung  haben,    so  dass  bei  einer  „äusserlichen"  vergleichung 

1)  Vigf.  8.  V.  idfr  III  führt  etwa  30  von  diesem  werte  abgeleitete  eigeuuameu 
auf,  darunter  königsnamen  wie  Hrödulfr  =  Hrolfr.  So  mag  auch  das  köuigsge- 
geschlecht  der  Ylfingar  (Hyndl.  11,  4)  von  ulfr  abzuleiten  sein. 

2)  So  Gylf.  12  (=  15,  23)  in  gamla  gygr  fcRÖLir  at  sonum  marga  jqtna  ok 
alla  i  vargs  likjum,  vgl.  auch  c.  50  (=  80,  10);  deutlicher  noch  spricht  die  Her- 
vararsaga  (ed.  Bugge  s.  246)  ok  kap'pask  um  pat  vargar  dvalt  —  pat  er  söl,  en  Sk. 
ok  H.  heita  vargar,  pat  eru  idfar  usw.  —  Aus  Ihre  Dial.  lex.  105  wies  Grimm, 
Myth.*  588  die  ausdrücke  solvarg,  sohtlf  für  die  nebensonne  nach;  an  den  angeführ- 
ten stellen  scheint  der  vargr  der  eigentlich  bezeichnende  ausdruck  zu  sein,  zu  dem 
teilweise  ulfr  als  der  noch  allgemeiner  bekannte  wolfsname  hinzutritt. 

3)  Belege  aus  verschiedenen  sjjrachen  gab  schon  J.  Grimm,  vorrede  zu  Reinh. 
Fuchs  XXXV,  ausserdem  vgl.  die  uord.  wbb.  —  Als  graihjri  bezeichnen  den  wolf 
die  Nafna|)ulur,  Kph.  I,  591. 


DER    FENRISWOLF  191 

jedesfalls  auch  die  färbe  in  betracht  käme.  Doch  auch  in  diesem  falle 
darf  man  bei  „grau"  nicht  gleich  an  die  düsterste  färbung  denken, 
wird  doch  z.  b.  auch  eine  eisen-  oder  stahlrüstung  und  von  dem  skal- 
den  Sküli  (Kph.  I,  330  grdnserlcs  Mdna)  sogar  das  mondlicht  „grau" 
genannt.  —  Auch  dies  attribut  macht  also  den  wolf  Fenrir  noch  nicht 
ohne  weiteres  zu  einem  dänion  der  finsternis^. 

9.  Der  einzige  dem  Fenriswolf  allein  zukommende  öbiname  Vä- 
nai'gandr  begegnet  selbst  nur  in  der  spräche  der  skalden,  ist  aber 
insofern  nicht  ohne  bedeutung,  als  der  aus  dem  munde  des  gefesselten 
wolfes  hervorbrechende  schäum-  oder  geiferfluss  Van  in  der  skaldischen 
tradition  feststand  und  als  besonders  charakteristisches  kennzeichen  galt 
(vgl.  c.  Y ^  VI,  §  9  gegen  ende;  exe.  II);  übrigens  ist  diese  be- 
zeichnung  wol  derjenigen  der  weltscMange,  dem  älteren  und  reicher 
bezeugten  ausdruck  Jqrmungandr  (z.  b.  Vol.  50,  2)  nachgebildet ^  und 
soll  die  verwantschaft  der  beiden  angeblichen  söhne  Lokis,  die  ihm  die 
riesin  Angrboda  geboren,  auch  lautlich  darstellen.  Das  wort  gandr 
selbst  wird  jetzt  meist  als  „zauberwesen"  gefasst  und  scheint  so  dem 
sinne  nach  mit  dem  oben  erwähnten  vitnir  verwant  zu  sein.  Da  diese 
etwas  dämonisch  gefärbten  beiworte  aber  neben  dem  einfachen  idfr 
oder  Fcnrisidfr  entschieden  zurücktreten,  teilweise  auch  als  skaldisches 
beiwerk  sich  verraten,  berechtigen  sie  uns  nicht  in  dem  „wolfe"  ein 
von  anfang  an  dämonisch  aufgefasstes  ungeheuer  zu  erblicken. 


IV. 

Genealogische   und  polemische  beziehungen. 

1.  Schon  in  cap.  I,  §  14  ward  hervorgehoben,  dass  es  zwar  in 
den  urmythen  an  verwantschaftlichen  beziehungen  göttlicher  wesen 
nicht  vöUig  fehlt,  der  grössere  teil  aber  der  genealogien  auf  mytholo- 
gischem fehle  nicht  der  naiven,  sondern  der  konstruktiven  mythen- 
periode  angehört,  eine  in  unseren  quellen  sich  findende  genealogische 
Verknüpfung  also  sehr  leicht  eine  irrige  sein  kann.  Übereilt  würde 
auch    die  annähme    sein,    dass    gemeinsame    zurückführung    mehrerer 

1)  Wer  an  die  Gräen  der  griechischen  sage  sich  erinuern  sollte,  darf  nicht 
den  leuchtenden  zahn  vergessen,  der  eine  andere  seite  dieser  gewitterwesen  darstellt, 
vgl.  W.  Schwartz.  Urspr.  der  myth.  s.  192  fg. 

2)  Vgl.  auch  Vigf.  Corp.  poet.  bor.  II,  471:  the  Wolf,  the  mighty  mouster — 
is  less  mentioned  by  the  poets  than  the  serpent.  —  Doch  vgl.  s.  194,  anm.  1.  —  Die 
bemerkuug  im  Gloss.  der  Pros.  Edda  s.  v.  Jqrmungandr,  wonach  diese  bezeichnung 
ursprünglich  vielleicht  dem  Fenrir  gebühre,  ist  zu  streichen. 


192  WILKEN 

mythischer  wesen  auf  einen  gemeinsamen  „vater"  in  dieser  konstr. 
periode  notwendig  den  sinn  einer  Wesensgemeinschaft  ausdrücke,  sei 
es  der  kinder  mit  dem  vater,  sei  es  der  geschwister  unter  sich.  Mögen 
nicht  selten  geschwister,  namentlich  Schwestern  dieselbe  mythische 
Vorstellung  nur  mit  der  nuance  der  Vervielfältigung  ausdrücken,  vgl. 
c.  III,  §  5;  mindestens  ebenso  oft  ist  —  in  der  griechisch-römischen 
wie  in  der  deutschen  mythologie  —  das  geschwisterverhältnis  der  typi- 
sche ausdruck  geworden  für  die  gemeinsame  Unterordnung  unter  einen 
höheren,  welcher  einer  aus  älterer  zeit  noch  lange  fortwirkenden  patri- 
archalischen auffassung  gemäss  als  „vater"  dieser  wesen  bezeichnet 
wird^  An  den  homerischen  Zevg  TtarrjQ  und  den  römischen  Jupiter 
als  „divom  pater"  (z.  b.  iEneis  I,  65)  nur  kurz  erinnernd,  weise  ich 
hier  namentlich  auf  die  Stellung,  welche  Oitinn  allmählich  im  nordeu 
gewonnen  hatte,  hin.  Die  einst  mächtigeren  götter  Tyr  und  förr  fin- 
den wir  in  unseren  quellen  ihm  untergeordnet-;  der  zweite  wird  nun 
immer,  der  erste  wenigstens  gelegentlich  zu  den  söhnen  Odins  gerech- 
net 3.  Dieser  patriarchalisch  gefassten  gruppierung  der  äsen  um  den 
aUvater  Öctinn,  wie  sie  Gylf.  20  so  anschaulich  schildert:  ok  svä  sem 
qnmir  giiMn  eru  mdting,  Jm  pjöna  liänmn  qll  svä  \sem  hqrn  fqänr, 
entspricht  nun  in  unseren  quellen  offenbar  die  gegengruppierung  der 
den  göttern  feindlichen  wesen  um  Loki,  der  namentlich  als  vater  der 
Hei,  der  weltschlange  und  des  Fenriswolfes  gefasst  wurde,  vgl.  Gylf.  34 
anf.,  wozu  viele  stellen  der  Lieder- Edda  sowie  auch  der  älteren  skal- 
den  stimmen*.  Ihrem  wesen  nach  zeigen  jene  drei  wesen  wenig  Ver- 
wandtschaft mit  dem  verschlagenen  Loki,  so  dass  F.  Magnussen  einmal 
bemerkte,  ihr  vater  sei  wol  eher  Ütgarda-Loki  als  Äsa-Loki  gewesen. 
Aber   der  erstere   hätte   zu   einem  führer    im   kämpfe   wider  die   götter 

1)  Solcher  typischen  ausdrucksweisen  finden  sich  mehrere;  die  Verschmelzung 
des  äsen-  und  vanen-kultes  stellt  Yngls.  4  und  Bragar.  57  als  einen  friedensschluss 
mit  geiselstelluug  dar;  vielleicht  ist  ähnlich  zu  beurteilen  die  blutmischung  (Loks.  9) 
oder  die  heirat  zweier  göttlicher  wesen  (Gylf.  23). 

2)  Ein  genauerer  uachweis  für  das  ältere  Verhältnis  wird  nach  den  arbeiten 
von  H.  Petersen,  K.  Weinhold  u.  a.  wol  unnötig  sein,  vgl.  übrigens  neben  Untersuch, 
zur  Snorra-Edda  s.  101  a.  148  und  s.  295  hier  w.  u.  s.  197  anm.  1.  Mit  recht  hält 
an  dem  früheren  vorrang  des  gottes  Tyr  auch  "W".  Golther,  Götterglaube  und  götter- 
sagen  der  Germanen  s.  18  fg.  fest. 

3)  Vgl.  Untersuch,  s.  115,  a.  212.  —  Wo  die  betr.  wesen  von  so  untergeord- 
neter art  sind  wie  menschliche  beiden  oder  valkyrjen  im  vergleich  zu  Odinn,  kennt 
die  nord.  spräche  den  ausdruck  oskasynir  (adoptivsöhne) ,  öskniey.  (vgl.  die  wbb.). 
"Wir  könnten  hier  von   „im  dienste"  Odins  stehenden  menschen  reden. 

4)  Gewöhnlich  wird  aber  hier  nur  eines  der  kinder  mit  dem  vater  genannt 
oder  zwei  geschwister  (ohne  den  vater),  vgl.  s.  194  anm.  1. 


DER   FENRISWOLF  193 

schlecht  getaugt,  also  auch  nicht  zum  „vater"  des  wolfes  im  sinne 
der  konstr.  periode.  Doch  vergisst  diese  im  vorliegenden  falle  nicht 
den  drei  „idealen"  geschwistern  wenigsten  eine  mutter  zu  geben, 
deren  name  schon  ausdrückt,  welche  Vorstellung  mit  dazu  führte,  jene 
drei  wesen  als  geschwister  aufzufassen:  es  ist  die  riesln  Angt'boda,  die 
furcht -bieterin  oder  -  erweck  erin^. 

2.  Im  anschluss  an  die  besprechung  der  genealogischen  Ver- 
knüpfung des  wolfes  mit  Loki  möchte  ich  hier  die  schon  im  vorigen 
cap.  §  7  berührten  ausdrücke  in  YqI.  47,  in  denen  es  zweifelhaft  war, 
ob  sie  auf  Loki  oder  Fenrir  sich  beziehen,  kurz  erörtern.  Zunächst 
47,  2:  eu  johinn  losnar.  Müllenhoff  hat  D.  alterk.  V,  146  beide  auf- 
fassungen  für  zulässig  erklärt,  die  deutung  auf  Fenrir  jedoch  bevor- 
zugt. Aber  Loki,  der  söhn  des  riesen  Färbauti  und  ursprünglich  w^ol 
identisch  mit  dem  echt  riesischen  Ütgarda-Loki,  hat  jedenfalls  noch 
näheren  anspruch  auf  den  namen  jqtunn  als  Fenrir,  der  allenfalls  auch 
so  heissen  könnte'^.  Doch  wird  letzterer  in  der  VqI.  (auch  nach  Mül- 
lenhoff) sonst  als  frekl  bezeichnet  (cap.  IV,  7);  auch  war  die  fesselung 
Lokis  in  str.  35  ausdrücklich  erwähnt,  so  dass  wir-  auch  sein  freiwer- 
den  hier  wol  eher  zu  finden  berechtigt  sind.  Endlich  entspricht  einer- 
seits der  ausdruck  renna,  der  Vol.  44,  2  von  freld  gebraucht  ist,  genau 
dem  fara  (vom  wolfe  Fenrir  in  Häkonarm.  20  gebraucht)  und  die 
besondere  hervorhebung  der  fessel  in  jeuer  strophe  lässt  an  die  berühm- 
teste aller  fesseln,  Gleipuir,  mit  recht  denken;  andererseits  entspricht 
das  dem  loskommen  des  „riesen"  in  str.  47  vorangehende  erschüttern 
des  weltbaumes  ganz  der  Schilderung,  die  Gylf.  50  von  dem  gefessel- 
ten Loki  macht:  seine  krampfhaften  Zuckungen  rufen  erdbeben  hervor. 

3.  Bei  Vol.  47,  4  kann  sogar  der  zweifei  entstehen,  ob  nicht 
vielleicht  der  40,  4;  41,  1  erwähnte  tungls  tjiigari  hier  gemeint  sei; 
da    der  schluss  von  47   aber    nur    in    der    hs.  H  überliefert    und    wol 

1)  Nach  diesen  ausführungea  wird  klar  seiu,  wie  weit  ich  der  ansieht  von 
Mogk  (im  Grundr.  der  germ.  phil.  I,  1045)  „junge  fabelei  hat  sie  (die  weltschlange) 
in  die  sippe  Lokis  gebracht  —  auch  Fenrir  ist  später  in  Lokis  sippe  gekommen"  zu- 
stimmen kann,  wie  weit  nicht. 

2)  Es  wird  der  weitere  gang  der  Untersuchung  noch  deutlicher  zeigen,  nament- 
lich in  cap.  V,  VI,  dass  erst  die  Verdunkelung  und  dämonische  auffassung  des  nlfr 
ihn  zu  einem  vitnir,  gandr,  vargr  machte  und  so,  da  vargr  in  der  skaldischeu 
spräche  etwa  -=  troll  ist  {Jwndr  er  vargr  eäa  troll  beina  Kph.  11,  513),  schliess- 
lich auch  als  troll  oder  JQtium  bezeichnen  Hess;  den  umgekehrten  Standpunkt,  wonach 
Fenrir  nur  gelegentlich  in  „wolfsgestalt"  auftritt,  nimmt  z.  b.  Schade  im  Altd.  wb. 
s.  V.  Fenrir  ein.  Vgl.  s.  194  .n.  1.  —  Meine  auffassung  Lokis  kann  hier  nicht  ein- 
gehend begründet  werden. 

ZEITSCimiFT    F.    DEUTSCHE    PlIILOLOGIK.      BD.    XXVIII.  13 


194  WILKEN 

irgendwie  verderbt  ist,  fällt  die  entscheidiing  der  frage  nicht  ganz 
leicht.  Der  ausdriick  Surtar  sefi  kann  jeden  riesen  oder  riesenverwan- 
ten  unhold  bezeichnen;  bezieht  man  den  aiisdruck  auf  Fenrir,  dann  ist 
die  auch  von  Sijmons  recipierte  konjektur  Müllenhoffs  hleypir  für  gley- 
pir  und  die  erklärung  pami  =  pari  allerdings  ansprechend  und  dieses 
of  hleypir  entspräche  dann  wider  dem  in  §  2  besprochenen  rejina  der 
Str.  44,  im  andern  falle  möchte  ich  gleypir  behalten,  aber  für  fiann 
mit  Munch  und  Möbius  Jm  (auf  aUir  bezogen)  lesen.  [Vgl.  aber  auch 
Rud.  Much,  Zeitschr.  f.  deutsches  alt.  37,  417  fg.  H.  G-.]  AUir  ä  hel- 
vegmn  aber  fasse  ich  nicht  als  „die  in  den  regionen  der  Hei"  (Müllenh. 
Y,  147),  sondern  =  „die  auf  dem  wege  zur  Hei  sind",  vgl.  troäa  halir 
helveg  52,  4  nebst  56,  2  und  41,  1.  —  Ist  diese  ältere  auffassung  nicht 
am  ende  die  einfachere? 

4.  Während  die  in  §  1  dieses  capitels  besprochene  genealogische 
Verknüpfung  des  wolfes  mit  Loki  zwar  un ursprünglich  ist,  aber  schon 
in  der  skaldischen  wie  eddischen  tradition  fest  begründet,  somit  relativ 
alt  erscheint  \  ist  eine  andere  genealogische  Verknüpfung,  die  Yol.  40,  2 
vorführt,  nicht  so  konsequent  durchgeführt  worden.  Der  ausdruck 
Fenris  kindir  kann  (vgl.  Müllenhoff  a.  a.  o.  124)  entweder  „wesen  von 
der  art"  oder  „kinder  imd  abkömmlinge"  des  Fenrir  bezeichnen  — 
„auf  jeden  fall  wölfe".  Da  nun  zu  den  bekanntesten  wölfen  der  nor- 
dischen mythologie  Skoll  und  Hau  gehören,  letzterer  aber  Gnu.  39,  3 
als  söhn  des  Hröävitnir,  welchen  namen  wir  cap.  HI,  7  als  beinamen 
des  wolfes  Fenrir  kennen  gelernt  haben,  erscheint,  so  lässt  sich  aller- 
dings   eine    entscheidung   im  sinne    der  Vaterschaft   des  Fenrir  beiden 

1)  Für  die  skaldisclie  tradition  vgl.  jetzt  Finuur  Jönsson  im  Arkiv.  f.  nord. 
fil.  IX,  9.  —  Hier  wird  hervorgelioben ,  dass  die  weltsclilange  bei  den  ältesten  skal- 
den  mehrfach  erwähnt,  aber  nicht  ausdrücklich  als  Lokis  kiud  bezeichnet  wird;  die 
belege  für  Fenrir  und  Hei  in  dieser  beziehung  sind  ebenda  gesammelt.  —  In  der 
Lieder -Edda  scheint  nur  für  den  wolf  die  genealogische  yerbindung  mit  Loki  direkt 
bezeugt  zu  sein  (Lokas.  10,  1),  indirekt  geht  dieselbe  für  die  weltschlange  aus 
Hymkv.  24,  4  hervor.  —  Die  nahe  liegende  wahruehmung,  dass  in  jener  genealogi- 
schen Verbindung  mit  Loki  der  grund  liegt,  weshalb  Fenrir  auch  einmal  (in  einem 
nachtrage  zum  hauptregister  ziemlich  an  letzter  stelle!)  unter  den  riesen  aufgeführt 
wird,  Kph.  I,  555  hätte,  zumal  bei  dem  geringen  mythologischen  werte  der  Nafna- 
{)ulur,  davor  bewahren  sollen,  den  wolf  zu  einem  dämon  zu  machen,  der  in  wolfs- 
gestalt  den  mond  oder  die  sonne  verschlingen  soll  (Schade,  Mogk).  Und  E.  H.  Meyer, 
der  Germ,  mythol.  144  (entsprechend  seinem  Systeme,  wonach  den  dämonen  in  tier- 
gestalt  die  in  menschengestalt,  d.  h.  unter  andern  die  riesen,  historisch  folgen)  von 
dem  tierdämouischen  prototyp  des  riesen  Ymir  redet,  hätte  s.  142  besser  den  zwei- 
deutigen ausdruck  vermieden:  elben  erscheinen  selten,  riesen  oft  als  ticrdämonen, 
wobei  u.  a.  der  Fenriswolf  als  beispiel  angeführt  wird. 


DER   FENEISWOLF  195 

Wölfen  gegenüber  kaum  anfechten  und  die  zweite  der  obigen  erklärun- 
gen  von  Fenris  kindir  scheint  somit  näher  zu  liegen.  Der  einwand, 
dass  von  einer  Vaterschaft  bei  einem  wesen,  welches  nach  Gylf.  34  in 
jungen  jähren  bereits  gefesselt  wurde  und  so  bis  zum  weltende  verhar- 
ren sollte,  nicht  wol  die  rede  sein  könne,  verliert  sein  gewicht,  wenn 
wir  auch  hier  an  jene  ideale  Vaterschaft  denken,  die  wir  in  §  1 
dieses  capitels  bei  Loki  besprochen;  die  alte  im  eisenwalde  darf  dann 
zwar  nicht  mit  Angrboda  gleichgesetzt  werden,  aber  doch  wol  als  nach 
ihrem  vorbilde  konstruiert  gelten.  Zu  der  „idealen"  Vaterschaft  stimmt 
auch  der  umstand,  dass  diese  Fenris  kindir,  die  ziemlich  zahlreich 
gewesen  sein  müssen  {verdr  af  J)cim  qllum  Yq\.  40 ,  3) ,  in  ihrer  haupt- 
masse  jenen  fifJmegir  zu  entsprechen  scheinen,  welche  VqI.  51,  8  auch 
im  gefolge  des  wolfes  (freki)^  aber  ohne  besondere  betonung  einer  ver- 
wantschaft  mit  ihm  anführt^;  sie  scheinen  den  wolf  in  ähnlicher  weise 
zum  letzten  kämpfe  zu  begleiten  wie  die  einJierjar  den  Ödinn^. 

5.  Wenn  auch  die  Fenris  kindir  sich  deutlich  bezeugt  nur  in  der 
YqI.  finden,  so  fehlt  es  doch  nicht  an  anzeichen  noch  kühnerer  kom- 
binationen  in  der  bezüglichen  richtung.  Während  als  verschlinger  der 
sonne  nach  dem  zeuguiss  beider  Edden  (Grm.  39,  1;  Gylf.  12  vgl.  mit 
51)  sowie  der  Hervararsaga  (s.  246  Bugge)  der  wolf  Skoll  (Skalli  Herv.) 
genannt  wird,  legt  Vaf[)r.  46  und  47  dieselbe  rolle  dem  wolfe  Fenrir 
bei;  vgl.  auch  Hrafnag.  23,  4.  Dass  hier  wol  nur  eine  freiere  fortbil- 
dung  der  in  §  4  bereits  besprochenen  genealogischen  Verhältnisse,  jeden- 
falls keine  allgemein  recipierte  auffassung  zu  tage  tritt,  wird  schon 
daraus  deuthch,  dass  in  Gylf  53  die  letztere  jener  beiden  Strophen 
citiert,  aber  nur  bezüglich  der  tochter,  welche  die  sonne  vor  ihrem 
tode  gewonnen  haben  soll,  als  Zeugnis  benutzt  wird,  während  der  Ver- 
fasser in  cap.  51  den  sonnenwolf  ganz  deutlich  von  dem  Fenriswolfe 
unterscheidet  (vgl.  81,  11  mit  82,  5  fg.  Wk.);  zu  demselben  ergebnis 
führt  jede  besonnene  sagenkritische  Untersuchung''^. 

1)  Da  Loki  nach  VqI.  51,  4  fahrtgenosse  des  wolfes  ist,  so  mag  der  ausdruck 
HeJjar  smnar,  den  Gylf.  51  (83,  4  Wk.)  für  das  gefolge  des  Loki  gebraucht,  jene 
fiflmegir  mit  einschliessen  sollen.  Bei  letzterem  werte  halte  ich  eine  Übersetzung 
nach  analogie  des  ags.  fifel  (riese)  um  so  berechtigter,  als  das  wort  etymologisch 
zunächst  auf  körperliche  gi'össe  hinweist  (vgl.  Fick  s.  v.  femfla)  und  auch  der  gewöhn- 
liche nordische  Sprachgebrauch  (=  tölpel)  sich  leicht  erläutert  im  hinblicke  auf  das 
ungeschlachte  wesen  der  meisten  riesen,  vgl.  Vigf.  und  Gering  s.  v.  api. 

2)  Da  die  einherjar  als  oskasynir  des  gottes  gelten  (vgl.  s.  192  anm.  3),  so  ist 
die  analogie  zu  den  Fenris  kindir  um  so  einleuchtender. 

3)  Grimms  versuch  (Myth."*,  nachtr.  s.  83)  in  älfrqäull  den  moud  zu  sehen, 
scheitert  au  Kph.  I,  593;  würde  überdies  die  mythologische  Schwierigkeit  nicht  heben. 

13* 


196  WILlvEN 

6.  Nur  dies  darf  zugegeben  werden,  dass  die  gleiche  bezeich- 
nung  als  wölfe  —  mag  sie  auch  bei  den  sonnenwölfen  auf  indirektem, 
bei  dem  Fenriswolf  (vgl.  c.  Y,  VI)  wahrscheinlich  auf  direktem  ver- 
gleiche beruhen  (diese  termini  sind  erläutert  c.  I,  13),  sobald  auch  der 
Fenriswolf  aus  irgendwelchem  gründe  eine  dämonische  auffassung  erfahr, 
die  Versuchung  sehr  nahe  legte,  diese  verschiedenen  wölfe  nicht  nur 
genealogisch  zu  verknüpfen  (wie  den  Fenriswolf  mit  Loki) ,  sondern  sie 
auch  sozusagen  als  mythologische  konknrrenten  und  zu  gelegentlicher 
vertauschung  geeignete  wesen  erscheinen  su  lassen,  ohne  die  schweren 
bedenken  gegen  einen  solchen  Synkretismus  in  die  wagschale  des  urteils 
fallen  zu  lassen.  Doch  kann  hiervon,  da  die  vertauschung  weder  all- 
gemein noch  auch  nur  in  dazu  neigenden  kreisen  mit  konsequenter 
schärfe  auftritt,  erst  in  cap.  YII,  6  weiter  gehandelt  werden. 

7.  Schon  in  cap.  I,  14  wurde  darauf  hingewiesen,  dass  pole- 
mische Verbindungen  zum  teil  echt  mythischen  wert  haben  können, 
sofern  sie  nämlich  nicht  etwa  nur  die  kehrseite  idealer  genealogieen  und 
Verbrüderungen  darstellen.  Dies  letztere  trifft  nun  auch  bei  dem  Fen- 
riswolfe  teilweise  zu,  bei  dem  ich  die  feindschaft  gegen  götter  und 
menschen,  welche  unsere  quellen  widerholt  (namentlich  Gylf.  51)  bezeu- 
gen, teils  auf  rechnung  des  leicht  irreführenden  namens  „wolf"  (vgl. 
§  6),  teils  auf  die  der  genealogischen  Verbindung  mit  Loki  setzen  muss^ 
Zwar  bezeugt  sich  diese  feindliche  Stellung  andeutungsweise  schon  in 
den  ältesten  unserer  quellen;  aber  diese  alle  kennen  auch  bereits  die 
Verbindung  mit  Loki.  Etwas  anders  ist  es  mit  der  rolle  des  gottes  Tfr, 
wie  sie  in  dem  berichte  von  der  fesselung  des  wolfes  in  Gylf.  34  sich 
findet.  Diese  gestalt  tritt  dem  wolfe  in  einer  weise  gegenüber,  dass 
man  den  gedanken  zunächst  ansprechend  finden  kann,    in  Tfr  gewis- 

Diese  liegt  darin,  dass  die  sonueiiwölfe  (resp.  der  sonnen-  und  mondwolf)  nach  den 
oben  goüannten  Zeugnissen  als  rastlose  Verfolger  die  sonne  oder  den  mond  bedrohen, 
während  der  Fenriswolf  hilflos  gefesselt  liegt  und  seine  eigene  freiheit  erst  vom  Welt- 
untergänge erwartet.  —  Eher  Hesse  sich  noch  mit  Mülleuhoff  und  Simrock  daran 
denken,  in  Vaf|)r.  46  nur  eine  poetische  freiheit  des  ausdrucks  zu  finden,  so  dass 
unter  dem  nanien  Fenrir  hier  der  sonnenwolf  Sk.  zu  verstehen  sei;  doch  sind  derar- 
tige einfache  namensvertauschuugen  (wie  Nanna  oder  lorun  für  Miinu  Hrafn.  8,  2; 
15,  1)  der  älteren,  auch  skaldischeu  dichtung  keineswegs  geläufig,  vgl.  Untersuch. 
s.  209,  296.  —  Die  an  letzterer  stelle  im  anschluss  an  Gislason  geäusserte  ansieht 
halte  ich  auch  jetzt  fest  gegenüber  der  etwas  freiereu  von  E.  H.  Meyer,  Germ, 
myth.  s.  34. 

1)  Mag  auch  mit  dem  losbrechen  des  wolfes  der  Weltuntergang  beginnen  (vgl. 
0.  VI,  10  gegen  ende),  so  fassen  die  nordischen  quellen  doch  nicht  ihn,  sondern  Loki 
als  den  eigentlichen  götterfeind  (Gylf.  33,  Sk.  16). 


DER  FENRISWOLF  197 

sermasseii  das  mythische  komplement,  den  geborenen  gegensatz  des  wol- 
fes  Fenrir  zu  finden.  Von  diesem  Standpunkte  aus  sind  hervorragende 
forscher  (vgl.  cap.  II,  1)  dazu  gekommen,  in  dem  gegner  des  gottes  Tyr 
einen  dämon  der  finsterniss  zu  finden.  Wird  nun  auch  neuerdings  die 
geltung  des  gottes  Tyr  als  eines  Vorgängers  von  Ödinn  im  principat  der 
götter,  teilweise  sogar  seine  geltung  als  himmelsgott  überhaupt  bestritten^, 
so  kaim  ich  diesen  letzteren  Standpunkt,  der  für  meine  auffassung  des 
Fenriswolfes  eigentlich  der  bequemste  wäre,  doch  durchaus  nicht  adoptie- 
ren. Es  genügt  mit  die  dreifache  forderung:  1)  Unterscheidung  des  späte- 
ren kriegsgottes  T^r  von  dem  älteren  himmelsgotte  Tfr  auch  in  Gylf.  34; 
2)  anerkennung,  dass  himmlische  lichtgötter  ursprünglich  stets  tages- 
götter  sind  2  und  3)  dass  der  gegensatz  zwischen  Tyr  und  Fenrir  ein 
mehr  äusserlicher  als  innerlicher  ist,  da  die  fesselung  des  wolfes  nur 
als  notwendige  Vorbeugung  künftiger  gefahren,  nicht  wegen  schon  ver- 

1)  Bedenken  gegen  die  etymologische  gleichsetzung  des' gottes  Tyr  mit  Ztvq 
sowie  gegen  die  annähme,  Tyr  habe  in  älterer  zeit  im  norden  die  rolle  gespielt, 
welche  später  Odinn  einnahm,  sind  neuerdings  namentlich  von  Beer  (Germ.  33,  4  fg.), 
E.  H.  Meyer  (Germ.  myth.  220)  und  0.  Bremer  (Indogerm.  forschungen  III,  301; 
dieses  letzte  citat  verdanke  ich  einem  gütigen  winke  H.  Gerings)  nicht  ohne  nachdruck 
voi'gebracht;  die  begründung  ist  für  mich  aber  nur  eine  teilweise  überzeugende.  Die 
etymol.  gleichsetzuiig  mit  Ztvq  mag  gerne  dahinfahren;  es  mag  auch  ohne  weiteres 
zugegeben  werden,  dass  eine  so  einheitliche  Zusammenfassung  des  götterstaates ,  wie 
sie  die  „odiiinische"  zeit  kannte,  früheren  perioden  fremd  war  —  aber  wer  wie  Beer 
den  uameu  Tyr  „der  leuchtende"  erklärt  und  fortfährt  (s.  5),  „dass  auf  indogerman. 
stufe  den  göttern  die  eigenschaft  des  leuchtens,  glänzens  als  wesentlich  zugeschrie- 
ben wurde,  mithin  ihre  atmosphäiische  natur  dominierte",  der  scheint  mir  nicht 
berechtigt  zu  sein  aus  gründen  strengerer  etymologie  wenige  zeilen  verlier  zu  sagen, 
dass  „von  einem  deutschen  himmelsgott  Tiv  keine  rede  sein  könne".  —  Ähnlich 
scheint  mir  auch  bei  Bremer  der  unterschied  von  der  älteren  auffassung  mehr  in 
Worten  urgiert,  als  sachlich  begründet  zu  sein.  Wie  wenig  zutreffend  die  bemerkung 
ist,  nur  die  etymologie  Tyr  =  Ztv^  habe  die  annähme  einer  älteren,  höheren  rolle 
des  gottes  hervorgerufen,  geht  aus  W.  Müller,  Altd.  rel.  222  hervor:  Schon  Suhm, 
om  Odin  188,  189  erkannte,  dass  der  kultus  dieses  gottes  im  norden  älter  sei  als 
der  des  Odinn.  Wenn  es  in  der  griech.  röm.  germ.  mythologie  keine  kriegsgötter 
gibt,  die  nicht  luft-  oder  himmelsgötter  gewesen  sind  (vgl.  Ares  und  Athene,  Ma- 
mers-Mars,  Jupiter;  ausser  Tyr  auch  Odinn).  so  wird  es  bei  Tyi",  dessen  name  nicht 
widerstrebt,  sich  w'ol  ähnlich  verhalten,  und  wenn  Tyr  „im  besonderen  den  gottes- 
namen  trägt",  den  im  weitereu  sinne  auch  andere  götter  (tivar)  führen,  so  scheint 
mir  der  schluss  näher  zu  liegen,  dass  dieser  gott  eine  hervorragende  rolle  unter 
ihnen  wenigstens  in  alter  zeit  besessen  haben  muss ,  als  dass  gerade  hierin  ein  beweis 
für  seine  rolle  als  (ursprünglicher)  kriegsgott  zu  finden  wäre.  —  "Vgl.  s.  192  anm.  2. 

2)  Dass  die  macht  der  himmlischen  an  den  tag  gebunden  ist,  geht  schon  aus 
dem  bekannten  sagenzuge  hervor,  dass  ihre  geguer  bei  anbruch  des  tageslichtes  in 
ihre  gewalt  fallen ,  versteinert  werden  (Vigf.  s.  v.  dmja). 


198  SCHÖNBÄCH 

übter  gewalttat,  ja  nicht  einmal  wegen  grausamer  oder  sonst  „wöl- 
fischer" Sinnesart  erfolgte  Wird  dies,  das  im  einzelnen  in  den  folgen- 
den capiteln  näher  zu  begründen  ist,  vorläufig  zugegeben,  so  ergibt 
sich  als  resultat  der  bisherigen  Untersuchung  (in  cap.  III  und  lY),  dass 
eine  dämonische  auffassuiig  des  Avolfes  aus  seinen  beinamen  mit  unrecht 
gefolgert  wird  (cap.  III,  8),  aus  den  genealogischen  Verbindungen  nur 
scheinbar  und  aus  der  gegenüberstellung  mit  T}^r  nur  soweit  wirklich 
sich  begründen  lässt,  dass  eine  gewisse  beziehung  des  wolfes  zur  nacht 
wol  nicht  bestritten  werden  darf.  Aber  zeigt  die  nacht  etwa  bloss 
schrecken,  dunkel  und  finsterniss?^ 

1)  Man  vgl.  z.  b.  diesen  bericlit  mit   dem  von   dem  schmiede,    der  sonne  und 
mond  für  sich  verlangt  (Gylf.  44)  oder  mit  der  erzähhmg  von  Hrungnir. 

2)  Vgl.  Grimm,  Myth.*  614:  beide,  tag  und  nacht,  sind  hehre  wesen. 

(Schluss  folgt.) 


ZUM  FEAUENDIENST  ULEICHS  VON  LIECHTENSTEIN. 

Die  Vorbereitungen  zur  zweiten  aufläge  meines  buches  Über  Wal- 
ther von  der  Yogelweide  sowie  die  zurüstung  meines  anteiles  an  der 
„Geschichte  der  stadt  Wien''  haben  es  mir  nahe  gelegt,  die  dichtungen 
Ulrichs  von  Liechtenstein  neuerdings  genau  durchzunehmen.  Ich  hatte 
das  schon  widerholt  getan:  1882  vgl.  Zeitschr.  f.  d.  a.  26,  307  fg.,  1888 
zum  behufe  der  recension  von  Bechsteins  ausgäbe,  DLZ.  1888  s.  1112  fg. 
Dort  hatte  ich  bereits  einen  aufsatz  über  den  dichter  versprochen,  diese 
zusage  jedoch  im  Anz.  f.  d.  a.  15,  378  wider  zurückgenommen,  weil 
damals  die  Veröffentlichung  einer  historischen  studio  über  den  Liechten- 
steiner durch  meinen  freund,  herrn  Alfred  von  Siegenfeld,  in  naher 
aussieht  stand.  Seither  erfahre  ich,  dass  diese  publikation  sobald  nicht 
erfolgen  wird,  und  zögere  nun  nicht  mehr,  meine  arbeit  den  fachgenos- 
sen vorzulegen.  Ich  beabsichtige  damit  keineswegs  die  in  jedem  be- 
trachte unzureichende  ausgäbe  des  „Frauendienstes"  durch  Bechstein 
durchweg  zu  berichtigen:  das  mag  jeder  philologische  leser  unschwer 
fü]-  sich  besorgen.  Auch  will  ich  nicht  erschöpfendes  über  die  vor- 
kommenden persönlichkeiten  mitteilen:  ich  vermöchte  das  gar  nicht, 
und  meine,  es  genüge  einmalige  urkundliche  Sicherung  eines  namens 
für  die  zwecke  unseres  faches.  Darum  habe  ich  mich  bei  der  aus- 
nutzung  des  materiales  beruhigt,  das  ich  zur  hand  hatte.  Mit  StU. 
sind  die  zwei  bände  des  Steirischen  Urkuudenbuches  gemeint,  die 
1875  und  1879  zu  Graz  erschienen  sind.     Siegel  citiere  ich  nach  den 


zu    ULRICH    VON    LIFX'HTENSTEIN  199 

prächtigen  tafeln,  die  herr  von  Siegenfeld  (Nürnberg  1893),  der  Stei- 
risclie  Uradel  (als  lY,  7  des  „Neuen  Siebmacher")  herausgegeben  hat, 
zur  zeit  noch  leider  ohne  kommentar^  —  Jedesfalls  wünsche  ich,  dass, 
was  ich  auf  diesen  blättern  biete,  zum  verständis  des  seltsamen  man- 
nes  und  seines  werkes  etwas  beitragen  möge. 

10,  16.  Will  man  mit  Bechstein  die  lesung  der  hs.  festhalten,  dann 
verlangt  es  der  natürliche  satzton,  dass  ich  (wie  gleich  dann  10,  29  u.  ö.) 
inkliniert  werde  und  auf  ir  die  hebung  falle.  —  18,  18  vgl.  Walther 
69,  26.  —  Aus  21,  13  fgg.  ersieht  man  deutlich,  dass  dieses  Verhält- 
nis eine  ivänminne  ist;  der  höhe  muot  21,  17.  19  vgl.  18,  26.  19,  4. 
11.  22,  20  usw.,  um  dessentwillen  es  unternommen  wird,  ist  dafür 
bezeichnend.  —  22,  29  Lachmauns  einschaltung  doch  beweist,  dass  er 
die  notwendigkeit  fühlte,  den  satz  mit  der  vorhergehenden  Strophe  in 
bezug  zu  setzen.  Vielleicht  wird  derselbe  zweck  besser  erreicht  durch: 
so  ivil  des  ich  niht  wesen  bot.  —  24,  5  fgg.  Die  Weigerung  des  arztes, 
vor  dem  monat  mai  zu  operieren  erklärt  sich  aus  dem  in  aderlass- 
und  planetenbüchern  verzeichneten  glauben,  dass  jedes  Siechtum  im 
monat  mai  am  besten  heile.  Ygl.  schon  Wilhelm  von  Conches,  De 
philosophia  mimdi  üb.  2,  cap.  26.  27  (Migne,  Patrol.  lat.  172,  67  fgg.). — 
24,  32  Der  knappe  bekreuzt  sich,  weil  er  Ulrich  für  verrückt  (25,  10) 
oder  bezaubert  hält.  Wenn  man  den  zustand  der  damaligen  Chirurgie 
in  Deutschland  (besser  war  es  damit  in  Italien)  bedenkt,  und  dass  jeder 
einfache  kuochenbruch  oft  zum  tode  führte  (vgl.  das  ende  herzog  Leo- 
pold y.  am  31.  december  1194  in  Graz),  so  darf  die  besorgnis  des 
knappen  25,  11  fg.  nicht  verwundern.  Ein  magister  Chunradus  phi- 
sicus  von  Graz  ist  im  2.  bände  des  Steir.  Urkdb.  mehrfach  bezeugt 
und  erhält  (s.  541)  1213  einen  zehnthof  bei  Hitzendorf  vom  erzbischof 
Eberhard  IL  von  Salzburg  zum  geschenk.  —  26,  16  Es  ist  gar 
kein  grund  vorhanden,  mit  Bechstein  an  der  richtigkeit  der  lesart 
sleijjal  zu  zweifeln:  die  modernen  vergleiche  in  solchen  fällen  (eine 
faust,  ein  kindskopf,  eine  kegelkugel)  sind  um  nichts  geschmackvoller 
und  treffender.  —  28,  2  fgg.  Bechstein  mag  wol  recht  haben,  wenn 
er  diese  grüne  salbe  für  pappelsalbe  hält,  denn  das  Xlosterneuburger 
arzneibuch  des  12.  Jahrhunderts  sagt  1.  buch,  b.  XIY.  (meiner  abschrift): 
von  den  päppeln:  papeln  sint  ehalt  und  veuht  an  dem  ersten  gradu 
und  brcchcnt  diu  geswer  diu  von  hliiot  sint  und  macJient  daz  ivarch 
(eiter).  Vgl.  Konrad  v.  Megenberg,  Buch  der  natur  340,  5  fgg.,  wo 
es  von   der  pappelsalbe  heisst:    dax  ist  gar  guot  xuo  vil  dingen  und 

1)  Die  Steir.  reimchronik  wii'd  natürlich  nach  Seemüllers  trefflicher  ausgäbe 
angeführt. 


200  SCHÖN BACH 

haixt  -xe  latein  diapopyUon.  —  und  ivaz  auxwendiger  ivunden  ist  an 
dem  leib,  die  hailt  ex  gar  krefticieich.  Sie  war  damals  schon  in  apo- 
theken  zu  kaufen,  vgl.  Megenberg  5,  23  fgg.  Nimmt  man  das  an, 
dann  findet  sich  noch  ein  weiterer  grund,  weshalb  der  arzt  den  Liech- 
tensteiner auf  den  monat  mai  bestellt,  denn  Megenberg  sagt  von  der 
bereitung  der  salbe  aus  dem  „pappelharz"  339,  32  fgg.:  aber  der  ist 
der  pest,  de7i  man  in  dem  maien  sament  und  macht  man  den  harz 
also:  man  nimt  die  probsen  oder  diu  knögerlein,  diu  xe  laub  sollen 
sein  tvorden,  und  sendet  die  in  ungesalzenr  initern,  diu  ncur  von 
rindermilch  kümt  und  die  in  dem  maien  geynacht  ist,  und  daz  sendet 
man  mitenandcr,  unx  ex  %emäl  grüen  ivirt.  dar  nach  seiht  man  ex 
durch  ain  tuoch  und  tuot  ex  in  erdein  häfen.  —  30,  23  1.  (so  mich 
besexen)  nahtes  habent  die  sorge  alsamt  die  schar.  —  31,  20  6^^  der 
Muor,  also  wol  in  Murau,  oberhalb  dessen  die  Frauenburg  lag,  nach 
der  sich  Ulrich  in  den  nächsten  versen  begibt,  vgl.  159,  14.  210,  24  i.  — 
32,  12  Die  bedeutung  hüs  =  bürg  ist  nicht  so  selten,  wie  Bechsteins 
anm.  meint,  und  sogar  heute  noch  verschiedentlich  zu  belegen.  Wel- 
ches der  markt  ist,  der  19  erwähnt  wird,  lässt  sich  bei  den  verschie- 
denen mögiichkeiten,  die  das  Murtal  darbietet,  nicht  ausmachen;  die 
stat  38,  5  ist  Avahrscheinlich  Judenburg,  die  einzige  civitas  in  der 
nähe,  ein  platz,  der  schon  am  anfang  des  12.  Jahrhunderts  markt-, 
maut-,  zoll-  und  stapelrecht  besass  (Steir.  Urkundenb.  1,  111)  und  am 
ende  des  12.  Jahrhunderts  zur  stadt  erhoben  war  (v.  Muchar,  Gesch. 
d.  herzogt.  Steiermark  2,  134.  3,  131  fg.).  —  33,  17.  25  Wol  eine 
■missa  bassa,  privata  oder  specialis  (Du  Gange  5,  414.  417  fg.),  wie 
sie  auf  reisen  üblich  war  und  noch  ist.  Dass  dabei  von  singen  gere- 
det wird  33,  10.  18.  23,  hindert  diese  auffassung  nicht,  weil  das  nur 
ein  formelhafter  ausdruck  ist.  —  44,  6  (57,  8.  59,  14)  Deutsche  gebet- 
bücher  gab  es  damals  noch  nicht,  die  frau  verstand  also  latein.  Da 
der  empfehlung  des  buehes  die  werte  beigegeben  sind  gegen  der  tiaht, 
so  ist  es  nicht  als  ein  gewöhnliches  psalterium  täuschend  aufgefasst, 
sondern  als  ein  tagzeitenbuch,  das  ja  auch  ungefähr  dem  umfange  von 
Ulrichs  gedieht  entsprach.  —  44,  27  Bechsteins  komma  ist  unberech- 
tigt, denn  28  stehen  gen.,  nicht  dat.  —  52,  24  Der  vers  hat  nicht 
drei  hebungen,  wie  Bechstein  meint,  denn  der  sinn  fordert  die  beto- 
nung  ein  herxe  und  ein  llp.  —  52,  32;  53,  1  Die  Umstellung  Lach- 
manns scheint  mir  bei  der  oft  so  gewundenen  ausdrucksweise  Ulrichs 

1)  Es  kann  übrigens  nach  den  Zeugnissen  des  Steir.  TJrkdbuchs  ebensogut  ein 
dorf  Mure,  Mtira  bei  dem  benachbarten  Judenburg  gemeint  sein. 


zu    ULRICH    VON   LIECHTENSTKIN  201 

nicht  binreichend  begründet;  auch  passt  die  wideraufuabnie  durch  des, 
die  den  entgegenstellenden  satz  einleitet,  besser  zur  handschriftlichen 
Ordnung.  —  53,  8  fg.  Wie  sich  Bechstein  den  Zusammenhang  der  stelle 
denkt,  wenn  die  beiden  verse  fehlen,  ist  mir  unklar.  —  53,  26  Viel- 
leicht nur  icax  schadet  der  riehen  beide?  das  passt  zum  folgenden: 
bluomen  mag  durch  den  Schreiber  hereingekommen  sein.  Es  scheint 
mir  merkwürdig,  dass  heide,  dieses  lieblingswort  der  minnesänger,  nur 
an  dieser  stelle  des  Frauendienstes  im  reim  steht.  —  53,  30  Lachmann 
hat  nicht  bloss  aus  metrischen  gründen  abe  hinzugesetzt,  sondern  aus 
dem  richtigen  gefühle,  dass  bluomen  brechen  hier  eben  nicht  in  der 
gewöhnlichen  formelhaften  weise  verwendet  ist.  —  54,  32  vertreten  ist 
hier  ein  ausdruck  der  rechtssprache  aus  dem  verhältniss  des  defensor, 
patronus,  vgl.  Haltaus  1906  fg.  —  59,  21  ist  er  dem  si  ie  an  gesiget.  — 
60,  25  fgg.  übersetze  ich:  „mancher  spricht,  was  ihn  sein  herz  nicht 
(anders)  zu  lehren  weiss,  ausser  dass  es  durch  fremden  einfluss  sich 
bemüht,  klug  zu  werden."  Diese  werte  werfen  dem  Liechtensteiner 
torheit  vor  und  zugleich  trauen  sie  ihm  zu,  er  lasse  seine  neigung 
nicht  durch  inneren  antrieb,  sondern  durch  äussere  einwirkungen, 
raode  u.  dgl.  bestimmen.  —  61,  28  Wie  vorsichtig  man  eine  mhd. 
altersbestimmung  durch  Idut  beurteilen  muss,  lehrt  dieser  vers:  sivie 
Idnd  ich  von  den  jären  st  —  der  Liechtensteiner  war  damals  24  —  25 
jähre  alt.  —  62,  13  fgg.  Das  furnier  zu  Friesach  ist  ein  historisches 
ereigniss,  wenngleich  Ulrich  manche  Irrtümer  in  bezug  auf  die  von 
ihm  erwähnte  anwesenlieit  bestimmter  personen  begangen  hat.  Das 
datum  ist  63,  12  deutlich  angegeben,  denn  Philippus  ist  der  apostel 
(1.  raai),  wenn  er  ohne  zusatz  genannt  wird,  und  dann  allein  gemeint. 
Von  den  kirchenfürsten,  die  Ulrich  beim  furnier  erwähnt,  hat  Eber- 
hard II.  von  Salzburg  (Frauend.  68,  13)  am  2.  mai  1224  in  Friesach 
eine  Schenkung  herzog  Leopolds  VI.  von  Österreich  an  das  kloster  Ad- 
mont  bestätigt,  Steir.  Urkdb.  2,  308  fg.  Am  22.  april  1224,  also  acht 
tage  vor  dem  tiu-nier  beurkundet  herzog  Leopold  zu  Graz  seine  Ver- 
mittlung im  streite  zwischen  Wulfing  von  Stubenberg  und  dem  spitale 
am  Semmering.  (Am  24.  april  urkundet  er  zu  Judenburg,  Steir.  Urkdb. 
2,  307  fg.,  befand  sich  also  auf  dem  wege  nach  Friesach.)  Dabei  sind 
als  ausfertiger  mit  unterzeichnet  Eberhard  von  Salzburg  und  bischof 
Ekbert  von  Bamberg  (Frauend.  77,  27),  als  zeugen  die  bischöfe  von 
Chiemsee  und  von  Seckau,  die  also  wol  zu  den  68,  13  fg.  erwähnten 
zehn  gehört  haben  Averden,  ferner  Heinriciis  marchio  Ystrie  (65,  6), 
Diepoldus  marchio  de  Hohenhjirch  (65,  11,  auch  von  Vohburg  genannt), 
Meinhardus  senior  et  Meinliardus  junior   comites   de    Gorx    (65,  15), 


202  SCHÖNBACH 

Eberliardus  nohilis  de  Sluxübercli  (65,  27),  Heinricus  et  Weriihardiis 
nobiles  de  Schoiimberch  (65,  31),  Liutoldus  nobilis  de  Pekah  (66,  4. 
72,  19?),  Cholo  de  Truhsen  et  Cholo  fdius  suus  (67,  1),  ReimbeHus 
de  Mureke  et  Beinbcrtus  filius  suus  (66,  19),  Hademarus  de  Chun- 
ringen  (67,  17),  Herniamius  de  Chranchberc  (66,  29),  Hartnidus  de 
Orte  (66,  18),  Liutoldus  et  UoJricns  de  Wildonia  (66,  15?),  Heinricus 
et  Offo  patres  de  Puten  [QQ^  31),  Otto  et  Ortolfus  fratres  de  Oraez 
(67,  3  fg.).  Aus  der  vergleichung  dieser  und  anderer  Urkunden  (z.  b. 
der  kaiser  Friedrichs  II.  vom  februar  1237  —  Steir.  Urkdb.  2,  454  fgg., 
auch  von  Karajan  schon  erwähnt  s.  667—  wo  noch  stehen:  comes  Ul- 
ricus  de  Phannenberc  65,  25  fg.;  Hademarus  et  Rapoto  de  ScJioenen- 
berc  67,  28;  comes  Willeheimus  de  Hunenberc  65,  19;  comes  Hermmi- 
nus de  Ortcnburc  65,  24)  ergibt  sich  erstens:  Ulrich  hat  die  leute 
keineswegs  zufällig  an  einander  gereiht,  wie  sie  ihm  etwa  einfielen, 
sondern  im  ganzen  nacli  ihren  rangverhältnissen  und  ihrer  bedeutung 
(66,  9  fgg.);  zweitens,  und  das  trifft  teilweise  mit  dem  ersten  zusam- 
men, er  hat  —  anders  lässt  es  sich  nicht  erklären  —  als  er  einund- 
dreissig  jähre  nach  dem  furnier  zu  Friesach  es  unternahm,  die  damals 
dort  anwesenden  aufzuzählen,  wahrscheinlich  eine  wichtigere  Urkunde 
jener  zeit  zur  band  gehabt  und  durch  ihre  zeugen,  die  er  sich  vor- 
lesen liess,  sein  gedächtniss  aufgefrischt,  allerdings  hat  er  dabei  auch 
fehler  (vgl.  noch  zu  66,  5.  78,  3)  mit  aufgenommen.  Aus  blossem  ver- 
hören bei  solcher  gelegenheit  versteht  sich  der  Liutolt  von  Peitach, 
Petach  66,  4.  72,  19.  Zwar  gibt  es  auch  einen  Liutoldus  von  Pettau, 
der  mit  seinem  bruder  Perhtoldus  eine  Urkunde  von  1224  bezeugt  (Steir. 
Urkdb.  2,  316),  allein  niemals  lautet  der  name  des  geschlechtes  und 
der  Stadt  Pettau  urkundlich  auf  ach  aus,  wie  das  hier  zweimal  durch 
den  reim  bezeugt  ist.  Daher  hat  v.  d.  Hagen  recht,  der  MSH.  4,  329, 
anm.  2  meint,  das  heutige  Peggau  oberhalb  Graz  sei  hier  zu  verste- 
hen. Neben  dem  selteneren  auslaut  auf  a  ist  in  den  Urkunden  die 
zweite  silbe  gewöhnlich  ccacli,  kkali,  ccah,  kah ,  cchac  geschrieben. 
Der  name  Leutolds  von  Peggau  kommt  im  1.  imd  2.  bände  des  Steir. 
Urkdb.  von  1188^ — 1240  vor,  wahrscheinlich  sind  das  zwei  personen, 
vater  und  söhn.  Da  nun  Liidoldus  et  Rapoto  pueri  de  Pekah  1223 
vorkommen  (sein  Siegel  von  1234  tafel  6),  so  wird  der  von  Ulrich 
erwähnte  deren  vater  Leutold  sein.  Ein  zweiter  Verstoss  in  der  liste 
ist  bekanntlich  von  Kummer  (Das  ministerialengeschlecbt  von  Wil- 
donie  s.  32  fg.)  aufgedeckt  worden.  Darnach  ist  der  66,  15  genannte 
Hertntt  von  Wildon  1224  bereits  verstorben,  und  war  ein  Wildonier 
anfangs  mai  in  Priesach,    dann  wird  es   einer  von   den  beiden  in  der 


zu    ULRICH    VON    LIECHTENSTEIN  203 

Grazer  iirkimde  vorkommenden  gewesen  sein.  Ich  schliesse  daraus,  dass 
die  von  Ulrich  bei  seiner  darstellung  benutzte  Urkunde  noch  vor  1224 
ausgefertigt  war.  Ist  meine  auffassung  richtig,  dann  entfallen  die 
an  diese  sache  geknüpften  folgerungen  von  Kummer  und  Bechstein 
(s.  XXV).  —  66,  1  fgg.  Im  Steir.  Urkdb.  ist  Otto  de  Lengenbach 
(in  Niederösterreich),  ecdesiae  mojoris  tiimadvocatus  von  1220  — 1236 
bezeugt.  —  66,  5  Auch  hier  liegt  wahrscheinlich  ein  irrtum  vor:  Ul- 
rich wird  nach  dem  gehör  einen  sehr  wol  bezeugten  Konrad  von  San- 
eck  bei  Cilli  für  einen  edlen  von  Schoeneck  bei  Scmriach  oberhalb 
Graz  gehalten  haben;  unter  den  vielen  wirkliclien  Schreibungen  für 
Saneck  kommt  ein  Schoeneck  niemals  vor.  Ich  bemerke  übrigens  aus- 
drücklich, dass  der  fehler  auch  auf  dem  wege  von  Ulrichs  diktat  zur 
niederschrift  seines  Sekretärs  begangen  worden  sein  kann.  —  66,  6 
Dieser  Kärntner  edle  ist  wahrscheinlich  Engelbert  von  Auersberg,  der 
am  4.  juni  1217  zu  Friesach  eine  Schenkung  herzog  Leopolds  an  das 
steirische  cisterzienserkloster  Reun  unterfertigt:  v.  Muchar,  Gesch.  d.  her- 
zogt. Steiermark  5,  78.  Ein  Herbord  von  Auersberg  urkundet  für  das- 
selbe Stift  1256:  Muchar  5,  263.  —  66,  8  das  Siegel  des  herrn  Diet- 
mar von  Potenstein  tafel  7.  —  66,  13  Das  ist  jedesfalls  der  ältere 
Hart7iidus  de  Ort  (in  Oberösterreich  am  Traunsee),  der  nach  den  Zeug- 
nissen des  Steir.  Urkdb.  (von  1170  bis  zu  seinem  tode  1229)  das  von 
Ulrich  ihm  gespendete  lob  verdiente.  Sein  söhn  Hertnidus  beginnt 
von  1229  ab  (Steir.  Urkdb.  2,  359)  zu  Urkunden  und  war  nach  dem 
Steir.  Urkdb.  2,  484  fgg.  ein  besonderer  freund  Ulrichs. —  66,  17Wülvinc 
von  Stubenberg  ist  im  Steir.  Urkdb.  von  1210  bezeugt  bis  1230,  wo 
er  starb.  Sein  sehn  Wülvinc  urkundet  noch  1240  als  puer.  —  66,  21 
Buodolf  von  Ras  =  Rosegg  bei  Villach  in  Kärnten  findet  sich  von 
1195  ab  häufig  unter  den  steirischen  ministerialen.  —  66,  29  Dieser 
Heimann  von  Kranichsberg  hatte  seine  bürg  in  Niederösterreich,  öst- 
lich bei  Glocknitz,  war  also  dort  ein  unmittelbarer  nachbar  von  Ulrichs 
österreichischen  besitzungen.  Er  zeugt  im  Steir.  Urkdb.  von  1220  — 
1235.  —  Dasselbe  gilt  von  den  Püttnern  bei  Neunkirchen  NÖst.  66,  31, 
die  oft  in  steirischen  Urkunden  vorkommen.  —  67,  1  Die  beiden  sind 
Kärntner  (Trixen  bei  Völkermarkt),  söhne  eines  altern  Cholo,  und  bezeugen 
oftmals  steir.  Urkunden.  —  67,  3  fg.  Diese  Otto  und  Ortolph  von  Graz 
sind  söhne  des  burghauptmanns  Otakar;  doch  ist  dieser  Ortolph,  der 
im  Steir.  Urkdb.  bis  etwa  1240  bezeugt  ist,  zu  unterscheiden  von  dem 
Ortolph,  der  nach  Muchar  4,  528  in  den  achtziger  jähren  des  12.  Jahr- 
hunderts in  das  kloster  Admont  eingetreten  ist.  —  67,  7  Ofacher  de 
Wolchenstain  (im  Ennstal  bei  Liezen)  ist  im  Steir.  Urkdb.  bezeugt  von 


204  SCHÖNBACH 

1208  —  1222  und  als  offidaUs  ducisse  (Tlieodora)  noch  1228.—  67,  11 
Ekchardus  de  Thanne,  ein  Salzburger,  ist  im  Steir.  Urkdb.  bezeugt  von 
1195—1245,  sein  siegel  von  1245  tafel  12  vgl.  Steir.  Reirachr.  36223. 
68815.  —  67,  15  Ein  Kärntner,  bei  St.  Veit  ansiissig.  —  67,  19  Ist 
das  Gorizen  (urkundlich  Gorisin)  in  den  Windischen  Bücheln  in  ün- 
tersteiermark?  ein  Widving  ist  1245  bezeugt,  St.  Urkdb.  2,  541,  vgl. 
aber  v.  Karajan  s.  675.  —  67,  25  Das  wird  Ulricus  Stvx  de  Trout- 
7nancstorf  sein,  von  dem  zwei  siegel  von  1240  tafel  9  stehen.  —  67,  26 
Otto  von  Ottenstein  (in  Niederöst.,  pfarre  Allentsteig),  zeugt  1243  bei 
einer  Urkunde  herzog  Friedrichs  IL  für  Seckau.  —  67,  28  Schönberg 
bei  Langenlois,  Niederöst.,  bei  Muchar  ist  Hatmar  bezeugt  von  1224 — 
1269,  Siegel  von  1245  tafel  13.  —  67,  30  Heinrich  von  Hackenberg 
(bei  Stinkenbrunn,  Niederöst.),  bei  Muchar  bezeugt  von  1224  —  42. 
Das  adj.  karc  hier  versteht  Sprenger,  Germania  37,  174  fg.  richtig,  vgl. 
Frauend.  609,  31,  wo  Lachmanns  verschlag  überflüssig  ist,  und  die  heu- 
tige inneröst.  bedeutung  von  „klug"  =  geizig.  Dagegen  ist  268,  22 
an  giiote  icis  nicht  zu  ändern,  denn  das  heisst  eben  „sparsam"  in 
tadelndem  sinne.  —  67,  31  Sollte  damit  lüenach  bei  Irdning,  Oberst, 
gemeint  sein?  ein  Ulricus  de  Chienoii  kommt  1201  im  Steir.  Urkdb. 
2,  73  vor.  —  68,  3  Nur  die  so  reich  waren,  dass  sie  ritterliche  genos- 
sen mitbrachten,  sind  mit  namen  aufgezählt  worden;  die  anderen  kamen 
allein,  d.  h.  jeder  nur  mit  einem  knecht.  Die  angäbe  ist  so  vag,  weil 
sie  nur  verdecken  soll,  dass  Ulrich  ausser  den  namen,  an  die  seine 
Urkunde  ihn  erinnerte,  keine  wusste.  Vgl.  übrigens  John  Meier,  Beitr. 
15,  327.  —  68,  10  Darnach  doppelpunkt.  —  70,  1  Die  zahlen  sind  in 
der  ganzen  darstellung  nur  paradigmatisch,  zu  wahren  angaben  reichte 
das  gedächtniss  nicht  aus.  —  70,  13  1.  derx  e  da  tet  vil  ritterlich.  — 
72, 1  Das  handschriftliche  frö  uut  vrno  ist  zwar  ganz  modern  einpfunden, 
aber  eben  deshalb  unbrauchbar.  —  72,  23  Es  könnte  immerhin  Stainz, 
heute  ein  blühender  markt  bei  Preding  sw.  von  Graz,  gemeint  sein; 
die  Schreibung  Steunx,  kommt  vor  und  bei  Muchar  finden  sich  im 
13.  Jahrhundert  zwei  genannte  von  diesem  orte.  Vgl.  aber  die  bemer- 
kung  im  register  8,  405  über  die  verschiedenen  Ortschaften  dieses 
namens.  —  73,  25  Das  siegel  Hugonis  de  Tufers  von  1212  tafel  2.  — 
74,  1  fgg.  An  der  erzählung  merkt  man  die  bedeutung  Hadamars  von 
Kuenring.  —  75,  8  Lengenhiirc ,  heute  Lemberg  bei  Cilli,  gehörte  denen 
von  Saneck,  deren  viele  im  Steir.  Urkdb.  und  bei  Muchar  vorkommen: 
ein  Liupolt  ist  nicht  darunter.  —  76,  30  Man  halte  diese  stelle  zu 
Bechsteins  bemerkung  215,  1  seiner  ausgäbe.  —  77,  14  da  der  hs. 
(Bechst.)  muss  fortbleiben.  —  77,  25  Berthold  von  Andechs  war  patriarch 


zu    ULRICH    VON    LIECHTENSTEIN  205 

von  Aqiüleja  vom  27.  märz  1218  bis  23.  mai  1251.  —  78,  2  Auch  hier 
liegt  ein  versehen  Ulrichs  vor.  Gremeint  ist  Heinrich  III.  von  Taufers. 
Bischof  von  Brixen  war  jedoch  bis  zum  17.  juli  1224  Berthokl  I.  von 
JSTeifen,  erst  dami  Heinrich  bis  zum  18.  november  1239,  der  also  wie 
der  nächstangeführte  kirchenfürst  gleichfalls  mit  seinem  Vorgänger  ver- 
wechselt ist.  —  78,  3  von  Pazzouive  hischof  Rüedegcr.  Gemeint  ist, 
wie  schon  Lachmann  zeigte,  Gebhard  L,  graf  von  Bleien  und  Mittersill, 
der  von  1222  — 1231  bischof  von  Bassau  war;  er  ist  hier  mit  seinem 
nachfolger  Rüedeger  von  Radeck  verwechselt  (vorher  nicht  „bischof", 
wie  V.  d.  Hagen  meint  4,  332  anm.  3;  sondern  „propst"  von  Chiem- 
see),  der  diesen  bischofstuhl  1233—1250  inne  hatte.  Da  auch  er  zur 
zeit  der  abfassung  des  Frauendienstes  bereits  verstorben  war,  ist  der 
irrtum  wol  erklärlich.  —  78,  23  Mit  einem  bedeutungsübergange,  der 
bei  mlat.  campus  seine  vollständige  analogie  findet  (Du  Gange  2,  67  fg.) 
heisst  velt  hier:  „kämpf  an  sich.  —  79,  21  1.  siis  ximirt  diser  sich, 
joter  so.  —  79,  29  Ob  das  nicht  schon  ein  zeugnis  ist  für  den  späteren 
„ehrenhold"  (Lexer  unter  erhalt).,  dessen  stelle  ja  in  älterer  zeit  ein 
vornehmer  mann  einnahm?  Das  würde  erklären,  warum  der  markgraf 
hier  zuerst  genannt  wird.  —  81,  16  Die  Vermutung  Bechs  (bei  Bech- 
stein)  wird  bestätigt  durch  551,  26  fgg.:  sin  Up  niuox,  in  der  eren  tor 
Tnit  hohem  lobe  e  komen  sin,  e  sin  lax  i?i  ir  herzen  schrin.  —  81,  26 
rehte  gehört  zu  gar,  nicht  zu  roten.  —  82,  14  und  16  wird  man  viel- 
leicht einklammern  dürfen.  Die  trauen  hatten  also  boten  geschickt, 
um  baldigst  von  den  taten  ihrer  minner  zu  erfahren,  wol  auch,  um 
mit  ihnen  in  beziehung  zu  bleiben.  —  82,  26  Ob  die  vromen  nicht 
hier  wie  81,  16.  167,  2  eine  art  terminus  technicus  ist:  die  anerkannt 
wackeren,  bei  denen  adel  und  tüchtigkeit  sich  verbinden?  Waitz  zählt 
Verfgsch.  5  -  ed.  Zeumer  s.  434  fgg.  verschiedene  lateinische  titulaturen 
dieses  inhaltes  auf.  —  84,  31  Zu  Sprengers  bemerkung  (Germ.  37,  175) 
vgl.  94,  25:  da  ivas  von  dringen  ungemach.  —  86,  9  fg.  Nur  ein  Winther 
de  Tozenbach  (bei  Kirchstetten  Nied.-Öst.)  ist  im  Steir.  Urkdb.  1228 
belegt.  —  86,  20  Ist  das  niclit  Yigaun,  der  ort  des  bekannten  Zuchthau- 
ses für  weiber?  —  89,  26  Heinrich  von  Lienz  (im  Bustertal)  scheidet 
1234  als  einer  der  vier  ernannten  richter  einen  streit  zwischen  seinem 
herrn,  dem  grafen  Meinhard  von  Görz,  und  dessen  oheim,  dem  Patriar- 
chen Berthold  von  Aquileja,  Steir.  Urkdb.  2,  419  fg.  Er  ist  ohne  zwei- 
fei identisch  mit  dem  burggrafen  (castellanus)  von  Lienz,  einem  der 
angesehensten  ministerialen  des  grafen  Meinhard.  —  90,  8  Heinriciis 
camerarius  de  Triba^iswinchel  (bei  Baden,  Nied.-Öst.)  kommt  seit  1209 
im  Steir.  Urkdb.  vor.     Doch  kann  die  Urkunde,  die  er  am  10.  mai  1224 


206  SCHÖNBACH 

ZU  Gleink  in  Ober- Österreich  (Steir.  Urkdb.  2,  309  fg.)  soll  unterzeich- 
net haben,  nicht  richtig  datiert  sein,  wie  schon  der  herausgeber  an- 
merkte, denn  eben  damals  weilte  er  nach  Ulrichs  zeugniss  in  Friesach, 
das  weit  davon  liegt.  Dieser  umstand  wäre  freilich  nicht  entscheidend, 
aber  die  Urkunde  sagt  ausdrücklich  A^istrie  et  Styrie  secnndo  Liupoldo 
jjrcsidcnte  und  der  herzog  war  damals  gewiss  in  Friesach.  Da  Hein- 
i'ich  von  Tribuswinkel  identisch  ist  mit  Heinrich  von  Wasserberg 
(v.  Siegenfeld,  tafel  5),  ist  er  der  schwager  Ulrichs.  —  91,  25  Ulrich 
von  Murberg  ist  ein  steirischer  edler,  sein  sitz  lag  bei  Radkersburg 
(und  nicht,  wie  v.  Karajan  meint,  in  Nied.-Öst.).  Er  kommt  im  Steir. 
Urkdb.  1218  und  1232  vor,  bei  Muchar  1216  —  1252.  Er  gehörte  zu 
den  angeseheneren  ministerialen  und  wol  auch  zu  den  persönlichen 
freunden  Ulrichs,  da  er  1232  die  Schlichtung  eines  Streites  zwischen 
den  Liechtensteiner  brüdern  und  dem  kloster  S.  Lambrecht  durch  die 
herzogin  witwe  Theodora  bezeugt,  Steir.  Urkdb.  2,  397  fg.  Darum  wird 
er  auch  wol  hier  so  gelobt.  —  92,  16  Ist  daduiTh  nicht  dieser  Wol- 
kensteiner als  ein  minnesänger  bezeichnet?  Das  Wtäre  dann  der  dritte 
von  Uh'ich  erwähnte  neben  Gottfried  von  Totzenbach  und  Zachäus  von 
Himmelberg.  —  92,  17  Otto  de  Wascn  ist  im  Steir,  Urkdb.  von  1209  — 
1233  nachgewiesen,  er  war  ein  bruder  des  propstes  Dietrich  von  Gurk, 
pfarrers  zu  Adriach.  Er  gehört  wol  sicher  nach  Steiermark,  vielleicht 
sogar  in  die  nachbarschaft  Ulrichs.  —  93,  1  Otto  von  Meissau  (bei 
Hörn  in  Nied.-Öst),  ein  angesehener  herr,  dessen  geschlecht  später 
mehrfach  mit  steirischen  edlen  sich  verschwägerte,  ist  bei  Muchar  von 
1224 — 1265  bezeugt.  Er  wird  auch  später  von  Ulrich  stark  hervor- 
gehoben. Sein  name  gehört  in  den  text;  ein  „wagniss"  darin  zu  finden, 
ist  kindisch.  —  93,  9  Hier  ist  nicht  das  steirische,  sondern  das  be- 
kanntere kärntner  Osterwitz  gemeint  oberhalb  S.  Yeit  (jetzt  die  herr- 
liche bürg  der  KhevenhüUer  auf  dem  isolierten  bergkegel);  in  dem 
geschlechte  war  das  schenkeuamt  von  Kärnten  erblich.  Das  Steir.  Urk. 
kennt  aus  dieser  zeit  nur  Palduivinus  und  Bcinherus.  bei  Muchar  ist 
auch  Hermann  belegt.  Das  Siegel  seines  bruders  Ortolf  von  1233 
(Frauend.  203,  14  fg.)  tafel  6.  —  93,  25  Fridberc  ist  ein  fehler,  es  ist, 
wie  Lachmann  schon  im  namensverzeichniss  anmerkte,  Vriberc  gemeint, 
heute  Freiberg  bei  S.  Yeit  in  Kärnten.  Hadoldus  et  Chimo  fdius  ejus 
de  Vrieherg  bezeugen  im  St.  Urkdb.  2,  20  eine  Urkunde  herzog  Ulrichs 
von  Kärnten  für  S.  Paul  1192,  vgl.  Steir.  Reimchr.  60604  fg.  —  94,  1 
Die  Vermutung  v.  Karajans,  diese  herren  gehörten  nach  Tirol,  ist  irrig: 
das  heutige  Pux  ist  gemeint  zwischen  Murau  und  Scheifling  in  Ober- 
steiermark.    Das  St.  Urkdb.  2,  390  führt  sie  beide  zusammen  in  einer 


zu    ULRICH    VON    LIECHTENSTEIN  207 

S.  Lambrechter  Urkunde  als  zeugen  an,  dann  Otto  noch  1234,  Dietrich 
1239,  vgl.  Muchar  2,  95.  5,  224.  Die  brüder  waren  nachbarn  Ulrichs, 
scheinen  sich  aber  nach  seinem  urteile  hier  und  207,  13  fg.  mit  ihm 
ebenso  wenig  vertragen  zu  haben  wie  die  noch  näher  gelegenen  Kat- 
scher.  —  95,  6  fgg.  Nach  6  doppelpunkt,  nach  7  komma.  —  96,  3  fgg. 
Über  die  starken  und  zahlreichen  niedorlassungen  der  Juden  in  Steier- 
mark und  Innerösterreich  überhaupt,  vgl.  Muchar  bes.  3,  136  fgg.  362  fg. 
Bei  Friesach  scheinen  sie  ziemlich  häufig  gewesen  zu  sein,  gab  es  doch 
schon  um  1130  in  der  nähe  eine  via  judeorum,  Steir.  Urkdb.  1,  135. 
Wie  sehr  sich  die  Verschuldung  des  steirischen  adels  später  steigerte 
bis  im  15.  Jahrhundert  ein  grosser  teil  von  ihnen  Juden  zu  gläubigem 
hatte,  ist  eine  den  historikern  wolbekannte  tatsache.  —  96,  15  Das 
komma  darf  nicht  fehlen.  —  96,  30  fg.  Darnach  kann  die  herrin  doch 
nicht  sehr  weit  gewesen  zu  sein,  vgl.  99,  9.  —  Ich  bemerke  noch, 
dass  nach  Muchars  vermerk  5,  101,  der  sich  dabei  auf  eine  Urkunde 
aus  S.  Paul  beruft,  die  Versammlung  von  Friesach  am  15.  mai  1224 
auseinander  gegangen  ist.  —  98,  2  Die  emendation  Lachmanns  war 
sehr  wol  überlegt:  dax  ich  iveinent  {weinens  L,  ivancs  C)  iht  erwache 
und  durchaus  sachgemäss.  Denn  erivaclieii  mit  dem  gen.  kann  nach  gr.  4, 
672  und  den  von  den  Wörterbüchern  gesammelten  stellen  heissen:  aus 
etwas  erwachen,  släfes,  troumes;  oder  über  etwas,  d.  h.  in  folge  von 
etwas.  So  bei  Ebernand  von  Erfurt  232:  der  kunec  erwahte  der  ge- 
schikt  =  in  folge  des  geträumten.  MSH.  3,  173a:  des  muoz  sin  scelde 
erwachen.  Nun  aber  findet  keines  von  beiden  statt:  weder  soll  der 
Sänger  aus  noch  in  folge  des  weinens  erwachen.  Der  träum,  ivän, 
gewährt  ihm  viel  mehr  freude  und  er  wünscht,  dass  er  nicht  daraus 
zum  weinen,  weinend  erwachen,  nicht  weinen,  sondern  lachen  (98,  3) 
möge.  Der  Schreiber  von  C,  der  ivänes  einsetzte,  hat  die  stelle  rich- 
tiger beurteilt  als  Bechstein.  —  98,  8  Ygi.  Paul,  Mhd.  gr.^  §  339. 
„Deshalb  wird  mir  ihr  trost  nicht  fehlen,  dass  sie  (nämlich)  mich  bei 
ihr  lasse  usw."  =  98,  12  dax  ich  scelic  mimer  si?  —  99,  27  fg.  1. 
si  las  in  gar.  du  dax  geschach,  7iu  milget  ir  hceren  tvie  er  sprach.  — 
Wie  formelhaft  das  alles  ist,  mag  man  sehen,  wenn  man  die  wörtliche 
Übereinstimmung  zwischen  dieser  stelle  und  57,  17  fgg.  vergleicht.  Dass 
Ulrichs  herrin,  diese  vornehme  dame,  von  dem  furnier  zu  Friesach 
nicht  sollte  gewusst  haben  (100,  5  fg.),  ist  unglaublich;  in  der  tat  war 
sie  sehr  wol  unterrichtet,  wie  101,  19  fg.  zeigt,  wenn  man  95,  9  fgg. 
dazu  nimmt.  Ich  denke,  beide  frauenzimmer  haben  schon  damals  den 
Liechtensteiner  zum  narren  gehalten.  —  101,  4  Nach  dem  1.  und  2. 
bände  des  Steir.  Urkdb.  ist  die  in  älterer  zeit  (bis  ins  14.  jahrh.)  allein 


208  SCHÖNBACH 

giltige  form  des  sla vischen  Ortsnamens  Libenz  (heute  Leibuitz,  südlich 
von  Graz);  daher  ist  das  durch  v.  Karajan  wider  die  hs.  vorgeschla- 
gene Leibenz  unrichtig.  —  102,  20  Auch  daraus  (der  ritt  im  winter) 
ergibt  sich,  dass  es  von  Ulrichs  Frauenburg  zur  niftel  nicht  sehr  weit 
war.  Die  hohe  Stellung  der  frau  bezeichnen  wider  102,  29  fgg.  Zu 
ihr  scheint  es  weit  103,  17,  immerhin  aber  war  es  keine  reise  und 
doch  so  nahe,  dass  man  den  boten  des  Liechtensteiners  kannte.  Es 
soll  daher  103,  23  fg.  ein  anderer  böte  gewählt  werden,  dessen  prove- 
nienz  man  nicht  weiss.  105,  23.  118,  6  fgg.  zeigen  sich  die  Schwierig- 
keiten, einen  solchen  zu  finden.  —  106,  25  Auch  jetzt  noch  wird  in 
Österreich  oft  Tncst  gesprochen.  —  107,  11  Dieses  feld  diu  Merre  ist 
heute  die  Mahr,  mit  einer  kleinen  Ortschaft,  nicht  ganz  eine  stunde 
von  Brixen.  Vgl.  Staffier,  Tirol  und  Yoraiiberg  II,  2  s.  103  fg.  (das 
gasthaus  „in  der  Mahr"  ist  der  Schauplatz  von  Roseggers  roman.)  Fer- 
ner Zingerle,  Sitzber.  der  Wiener  ak.,  phil.-hist.  kl.  55,  608.  —  108,  28 
Die  summe  ist  natürlich  eine  poetische  hyperbel.  —  109,  20  In  der 
ärgerlichen  droliung  ist  besniden  =  kastrieren  ganz  am  platz.  (Viel- 
leicht war  der  „meister"  auch  nur  ein  viehdoktor,  der  solche  geschälte 
selbst  besorgte.)  besmiden  wäre  ohne  zusatz  nicht  verständlich,  und 
das  hätte  Ulrich  nicht  durch  goi  zu  laxen  brauchen.  —  Man  sieht 
übrigens  aus  der  ganzen  geschichte,  wie  verhältnissmässig  selten  schwere 
Verletzungen  bei  diesen  furnieren  vorkamen.  —  110,  5  fgg.  Es  ist  lehr- 
reich zu  sehen,  dass  von  Ulrichs  betrübter  Stimmung  auf  dem  ritt  nach 
Bozen  in  diesem  liede  nichts  zu  merken  ist.  —  112,  2  1.  init  triuwe 
in  dienstes  undertän.. —  117,  14  der  i'e/Z  muss  da  technischer  ausdruck 
sein.  —  118,  4  plüeten  ist  mundartliche  form.  —  122,  13  fgg.  Zwi- 
schen dieser  stelle  und  126,  12  fgg.  besteht  schon  das  enge  Verhältnis, 
das  für  lied  und  erzähkmg  in  den  späteren  partien  des  Frauendienstes 
bezeichnend  ist.  —  124,  1  fgg.  Damit  überschreitet  der  knecht  seinen 
auftrag,  aber  vielleicht  im  anschluss  an  das  lied.  —  124,  13  daz  = 
du  ex.  Ulrich  wird  wider  auf  standesgemässe  minne  verwiesen.  Da  er 
ein  dienstmann  war,  so  ist  darnach  die  herrin,  wie  sich  von  selbst  ver- 
steht, adelig  gewesen.  —  124,  19  tmnjJ  und  IfjJ  dürfen  wegen  ain 
nicht  zusammengeschrieben  werden.  —  124,  30  =  119,  20.  —  127,  26 
Der  ausdruck  lässt  keine  Schlüsse  auf  den  stand  der  herrin  zu,  weil  er 
offenbar  übertrieben  ist.  —  128,  17  fgg.  Der  knecht  gibt  die  botschaft 
ungenau  wider  und  spricht  viel  weniger  nachdrücklich  als  die  herrin. 
Das  kann  durch  die  forderungen  der  poetischen  technik  nur  teilweise 
entschuldigt  werden.  - —  129,  12  1.  so  ivil  ich  gerne  ir  dienen  bax.  — 
130,  6  fgg.  War  Ulrich  damals  schon  verheiratet?  —  130,  15  Darnach 


zu   ULRICH   VON   LIECHTENSTEIN  209 

hat  sich  Ulrich  zwei  monate  in  Rom  aufgehalten,  die  ganze  fahrt  hat 
entsprechend  länger  gedauert.  Seh  Averlich  ist  sein  zug  als  wallfahrt 
aufzufassen.  —  131,  9  Da  Ulrich  32 mal  e  .- e  reimt,  so  ist  das  kein 
grund,  das  allerdings  auch  sonst  unbequeme  liehet  etwa  in  slrebet  zu 
verändern.  —  131,  21  fgg.  Diese  darlegung  passt  nur,  wenn  Ulrich  das 
lied  auf  der  fahrt  nach  Rom  oder  in  Rom  selbst  dichtete.  Nach  130, 
17  fgg.  131,  29.  132,  2  ist  es  auf  dem  rückwege  entstanden.  Solche 
inliongruenzen  bedeuten  an  sich  nicht  viel,  verdienen  jedoch  wegen 
anderer  ähnlicher  fälle  angemerkt  zu  werden.  —  132,  1  Man  könnte 
denken  an  ckix  ichs  iht  scmclir  hi  im  in,  wofern  ausser  diesem  nicht 
noch  fünfmal  m  :  n  nach  i  im  Frauend.  reimte,  durch  in  wäre  neu- 
hochdeutsch. —  132,  8  Was  soll  das  heissen?  Tiirniergegner  wurden 
nicht  vüide  genannt,  kriegerische  Unternehmungen  können  aber  nach 
der  darstellung  132,  2—13.  133,  18—20.  29  —  31  unmöglich  gemeint 
sein.  Ich  vermute  bt  den  Winden,  d.  h.  im  windischen  Untersteier- 
mark. Ortsnamen  Winden,  Weiiden  gibt  er  inner-  und  ausserhalb  Steier- 
marks  genug,  da  wäre  jedoch  der  artikel  unpassend.  —  132,  23  Lach- 
manns Vermutung  niiviii  liet  möchte  ich  in  den  text  setzen.  Nicht 
bloss  wegen  134,  1,  sondern  besonders  weil  das  beigesetzte  aber  nach- 
drucksvoll gebraucht  wird,  um  die  leistuugsfähigkeit  Ulrichs  in  neuen 
liedern  zu  bezeichnen.  • —  135,  30  Wenn  man  es  mit  dem  Inhalte  so 
künstlicher  lieder  überhaupt  genau  nehmen  dürfte,  wäre  der  satz  so 
laxe  mich  vrt,  hier  wenig  passend,  denn  die  herrin  will  ja  ohnedies 
nichts  von  Ulrich  wissen.  —  137,  16  mengen  ist  hier  nicht  gut,  denn 
man  kann  dem  boten  nicht  vorwerfen,  dass  er  den  frieden  durch  zwi- 
schenträgerei  gestört  habe.  Aus  demselben  gründe  ist  Sprengers  ver- 
schlag (CTerm.  37,  176)  meine  unzweckmässig.  Vielleicht  megenen  = 
vergrössern,  weil  der  böte  den  schaden  an  Ulrichs  finger  übertrieben 
hatte.  —  137,  23  fg.  er  habet  da  mit  vil  ivol  nach  ger  in  iiverm  die- 
nest grdxiu  sper?  —  139,  3  fg.  Hasendorf  bei  Leibnitz  gehört  später 
zu  den  Stubenbergschen  gütern,  einen  genannten  Ulrich  finde  ich  nicht. 
Vgl.  V.  Zahn,  Ortsnamenbuch  s.  v.  Hasendorf.  —  140,  7  Warum  geht  der 
böte  heimlich  zu  Ulrich?  Er  steht  doch  in  seinem  dienst,  und  wurde 
der  finger  heimlich  abgeschlagen,  so  brauchte  doch  deswegen  der  knecht 
nicht  verholen  zu  kommen.  Vielleicht  xno  ir?  Ebenso  wird  140,  14 
und  anderwärts  durch  das  einfache  personalpronomen  die  herrin  bezeich- 
net. —  140,  23  Eine  botschaft  rilltet,  der  sie  meldet,  aber  nicht  der 
den  boten  beauftragt.  Daher  wird  es  bei  Lachmanns  tihten  bleiben 
müssen.  —  141,  10  Dass  „die  gliedmassen  früher  schlanker  waren  als 
heute",  wie  Bechstein  meint,  glaube  ich  nicht.     Desgleichen  nicht,  dass 

ZEITSCHRIFT   F.    DEUTSCHE   PHILOLOaiE.     BD.  XXVHI.  14 


210  SCHÖNBACH 

der  abgeschlagene  finger  der  kleine  der  rechten  hand  gewesen  sei, 
denn  der  hätte  als  krummer  das  führen  der  waffen  nicht  erschwert  (138, 
28),  was  bei  einem  der  drei  mittleren  sicher  der  fall  war;  auch  hätte 
von  ihm  nicht  108,  1.  150,  29.  151,  11.  17.  155,  17  gesagt  werden 
können,  er  sei  üz  der  haut.  —  143,  20  komma,  21  in  klammer.  — 
144,  3  1.  und  venvurht  in  »lanigeu  sjwt,  fälschlich  zum  spott  umge- 
bildet, gedeutet.  —  145,  6  fgg.  Es  zeigt  sich  (vgl.  129,  17  fgg.),  dass 
dieses  büchlein  und  der  text  von  Ulrichs  erzählung  so  zu  einander 
stehen,  wie  später  lieder  und  coutext.  —  145,  28  1.  in  7ninen  seneden 
dingen?  —  147,  6  1.  zum  teil  mit  Scherer,  Anz.  f.  d.  a.  1,  252:  zer- 
irerbenne  ir  werde  ininne.  —  149,  17  Vielleicht  hatte  Ulrich  damals 
geheiratet.  —  155,  11  Darnach  komma,  nach  12  Strichpunkt  mit  einem 
Übergang,  der  gar  nicht  so  selten  ist.  —  155,  24  fgg.  Ich  bleibe  bei 
meiner  Ztsohr.  f.  d.  a.  26,  317  geäusserten  ansieht.  Nach  Ulrichs  be- 
richt  s.  140  fg.  ist  der  finger  nicht  einbalsamiert  worden;  ein  solches 
faulendes  oder  vertrocknetes  ghed  wird  aber  der  empfindung  des  13. 
Jahrhunderts  wie  unserer  heutigen  nicht  anders  denn  widerwärtig  vor- 
gekommen sein.  —  156,  29  fgg.  Nun  fällt  ihm  nach  der  geschichte  mit 
dem  finger  der  ganze  plan  der  Venusfahrt  ein:  es  ist  deutlich  dass  die 
dinge  in  der  erzählung  enger  zusammenhängen  als  im  wirklichen  ver- 
lauf. Der  einfall  157,  9.  160,  11  fgg.,  den  schein  einer  pilgerfahrt  nach 
Kom  anzunehmen,  ist  nicht  glücklich,  weil  Ulrich  doch  eben  ostern 
1226  (130,  15)  eine  solche  wirklich  durchgeführt  hatte.  —  157,  18  Die 
Vermutung  Bechsteins,  es  sei  Oregorien  statt  Georien  tage  zu  schrei- 
ben, ist,  abgesehen  von  162,  30.  164,  27,  an  sich  falsch:  der  termin- 
tag Gregor  fällt  auf  den  12.  märz,  nicht  auf  den  29.  april,  und  der 
grosse  termintag  Georg,  der  in  den  erzdiöcesen  Salzburg  und  Aquileja 
am  24.  april  gefeiert  wurde,  ist  wirklich  als  der  anfang  des  sommers 
angesehen  worden.  Vgl.  Grotefend,  Zeitrechnung 2,  1,73.  77. —  158,  29 
auch  hier  lässt  die  ausdrucksweise  schliessen,  dass  Ulrichs  herrin  nicht 
allzuweit  von  ihm  wohnte.  —  Die  dame  scheint  159,  5  fgg.  wie  eine 
aristokratin  von  heute  freude  am  sport  gehabt  zu  haben.  —  160,  13  fg. 
Um  tasche  und  stab  zu  bekommen,  braucht  er  einen  priester.  Bei  der 
früheren  wirklichen  Romfahrt  war  das  nicht  nötig.  —  161,  4  Der  aus- 
druck  darf  nicht  verwundern:  Venedig  war  im  mittelalter  der  erste 
perlenmarkt  der  weit.  —  163,  5  fgg.  Es  ist  durchaus  nicht  nötig  anzu- 
nehmen, dass  die  ringe  steine  hatten:  sie  kommen  von  Venus,  die 
gottinne  über  die  minne  ist,  und  werden  von  ihr  mit  wunderbarer 
kraft  begabt.  —  Die  bedingungen  des  ausschreibens  zeigen,  dass  es 
mit  dem  ganzen  für  alle  verständigen  auf  ein  heiteres  spiel  abgesehen 


zu   ULRICH   VON   LIECHTENSTEIN  211 

war.  Denn  wurde  Ulrich  =  Yeniis  am  ersten  tage  geworfen,  so  war 
die  fahrt  zu  ende.  Und  mochte  Ulrich  auch  noch  so  stark  sein,  sicher 
war  er  nicht,  das  sieht  man  aus  der  affaire  zu  Brixen.  Er  musste  also 
von  vornherein  auf  die  rücksicht  seiner  standesgenossen  rechnen,  damit 
ihm  sein  spiel  nicht  verdorben  werde.  — •  165,  7  Yielleicht  der  husü- 
nen  blasen  litte  erhal,  vgl.  192,  8.  Lachmanns  erhal  wirt  bleiben  müs- 
sen, vgl.  215,  23.   257,  27.   452,  29.  454,  11.  459,  3.  460,  5.  487,  7.  — 

165,  18  Bechsteins  noch  nie  wäre  neuhochdeutsch;  vielleicht  e  nie?  — 

166,  1  Natürlich  auch  verkleidete  knechte.  —  166,  17  fgg.  Diese  stelle, 
zusammengehalten  mit  (176,  26  fgg.)  161,  2.  201,  7.  218,  26  fgg. 
scheint  mir  zu  beweisen,  dass  172,  13  fgg.  nicht  gemeint  ist,  die  zöpfe 
seien  in  einem  netz  getragen  worden  (was  ganz  wider  ihre  art  wäre), 
sondern  dass  darunter  nur  das  bewinden  der  zöpfe  mit  perlen  zu  ver- 
stehen ist,  durch  die  das  haar  hervorsieht.  —  168,  9  fgg.  Das  gespräch 
zwischen  dem  grafen  und  dem  podestä  ist  wol  zu  beurteilen  wie  die 
reden  in  der  historie  des  Thukydides.  Die  Weigerung  des  podestä  wird 
auf  politischen  gründen  beruht  haben.  Dass  sein  name  nicht  beson- 
ders genannt  wird,  hat  nichts  auffallendes:  der  titel  bezeichnet  ihn 
hinlänglich,  wie  etwa  kirchenfürsten.  —  170,  13  Gegenüber  der  anm. 
V.  Karajans  s.  671  ist  festzustellen,  dass  Lernt friclus  de  Eppcnstain  im 
Steir.  Urkdb.  von  1202  — 1227  nachgewiesen  ist,  1242  wird  er  von 
seinen  Wildoner  verwanten  als  lange  verstorben  bezeichnet.  Nun 
kommt  in  einer  S.  Lambrechter  Urkunde  von  1232  (Steir.  Urkdb.  2,  390) 
wirklich  ein  Lmtfridus  de  Eppenstain  vor;  es  wäre  also  ganz  wol 
möglich,  dass  in  der  tat  die  beiden  nicht  zusammenfallen.  — •  Dem  Ep- 
pensteiner  wird  nur  ein  speerstechen  bewilligt,  weil  der  so  viel  mäch- 
tigere graf  von  Görz  nicht  mehr  als  zwei  Speere  brechen  darf.  — 
170,  32  fgg.  Ich  bemerke  zu  dieser  beschreibung  der  helmzier  und 
allen  späteren,  dass  Ulrich  bei  der  abfassung  seines  gedichtes  höchst 
wahrscheinlich  Siegel  der  herren,  die  er  erwähnt,  vor  sich  hatte.  Denn 
seine  Schilderungen  sind  heraldisch  ganz  genau,  die  sachgemässen 
technischen  ausdrücke  werden  angewendet  und,  soweit  die  siege!  uns 
erhalten  sind,  können  wir  ihre  völlige  Übereinstimmung  mit  Ulrichs 
Worten  feststellen.  Auch  das  erklärt  sich  am  besten,  wenn  er  Urkun- 
den vor  sich  hatte,  an  denen  die  siegel  befestigt  waren;  einzelne  sie- 
gelstöcke  oder  abdrücke  sind  ihm  schwerlich  zur  Verfügung  gestanden. 
So  half  er  also  seiner  erinnerung  nach,  anderesfalls  wäre  seine  genauig- 
keit  gar  nicht  zu  verstehen.  —  Dagegen  sind  die  kleiderbeschreibungen 
natürlich  idealisiert.  —  173,  4  Er  liess  das  ross  courbettieren ,  vgl. 
208,  23.  —    173,  17   Die  brücke  zu  Treviso  geht  über  den  Sile.  — 

14* 


212  SCHÖNBACH 

174,  8  Hier  werden  sechs  Speere  verstochen,  170,  10  hatte  der  podestä 
nur  zwei  erlaubt.  Mit  dem  grafen  von  Görz  zu  stechen,  war  offenbar 
für  Ulrich  eine  grosse  ehre:  deshalb  wird  das  ausführlich  beschrieben. 
Hingegen  wird  die  tjoste  mit  dem  Eppensteiner  sehr  kurz  abgetan;  die 
Sache  wäre  da  beinahe  ernst  abgelaufen  174,  29  fgg,  auch  erhält  Ul- 
richs gegner  keinen  ring.  • —  174,  10  Vielleicht  erklärt  sich  die  lücke 
durch  ein  versehen  aus  ich  sant  %ehant.  —  177,  17  An  den  morgend- 
lichen buhurt  von  500  rittern  zu  ehren  Ulrichs  glaube  ich  nicht:  das  ist 
mit  dem  verbot  des  podestä  ganz  unvereinbar.  —  178,  17  fgg.  Der  tag 
muss  eine  kirchliche  feier  gehabt  haben,  scTnst  wäre  keine  niissa  solemnis 
gesungen  worden,  bei  der  allein  opfergang  und  darreichung  des  pace 
stattfindet.  Es  war  montag  26.  april  1227;  der  sonntag  vorher,  Mise- 
ricordia  domini,  war  dieses  jähr  in  der  erzdiöcese  Aquileja  mit  dem 
Marcusfeste  (duplex)  und  der  Letania  major  zusammengefallen.  Der  feier- 
liche bittgang  wurde  daher  von  sonntag  auf  montag  verschoben  und  so 
erklärt  sich  das  hochamt  des  26.  und  das  zusammenströmen  von  men- 
schen, das  Ulrich  erwähnt  (179,  28  fgg.),  die  an  der  prozession  teil- 
nehmen wollten.  —  178,  21  Die  darstellung  ist  ganz  formelhaft,  vgl. 
194,  23  fg.  279,  29  fgg.  282,  27  fgg.  —  180,  29  Nach  dem  Steir.  Urkdb. 
waren  die  Murecker  (südöstlich  von  Leibnitz)  ein  sehr  starkes  geschlecht, 
auf  einer  urkuDde  von  1212  sind  ihrer  vier  unterzeichnet.  Ein  Hein- 
hertus  de  Mureke  starb  1212,  dessen  söhn  Rehnbertus,  Reghihertiis 
ist  von  1212  ab  nachgewiesen,  war  1224  landrichter  der  Steiermark 
und  vor  1240  gestorben.  In  der  oben  besprochenen  Urkunde  von  1224 
stehn  vater  und  söhn  Reinbert  neben  einander,  der  jüngere  wird  der 
hier  von  Ulrich  erwähnte  sein.  Siegel  von  1150.  1198.  1212.  1229. 
1231  tafel  1.  2.  4.  5.  —  181,  21  1.  sin  sper  er  durch  den  schilt  mir 
stach.  --  181,  30  Fälschlich  bei  v.  d.  Hagen  4,  340  Flintenberg.  Es 
ist  wol  Plintenboch  in  der  Pettauer  mark  gemeint,  Steir.  Urkdb.  1,  143 
von  1130.  Mucliar  2,  42;  jetzt  eine  gemeinde  im  bezirk  Langenbach 
zwischen  Mur  und  Drau.  —  181,  31  Von  den  Avälschen  rittern  wusste 
Ulrich  wol  schon  damals  die  naraen  nicht,  vgl.  182,  19  fg.  191,  6  fg. — 

182,  18  Das  ist  natürlich  der  graf  Meinhard  von  Görz  von  167,  24. — 

183,  16  wird  zum  nächsten  absatz  gehören,  denn  dass  in  Sacile  unge- 
fähr hundert  ritter  beisammen  sind,  ist,  da  nur  der  graf  von  Görz  und 
seine  zwölf  mit  Ulrich  tjostieren,  allerdings  bemerkenswert.  —  184,  9 
Spengenberg  (heute  Spilimbergo)  am  Tagliamento.  Vgl.  v.  Zahn,  Deut- 
sche  bürgen  in  Eriaul   s.  56  fgg.   und    die    zierlichen    bilder   dazu.   — 

184,  27  fgg.  Da  scheint  Ulrich  ein  kunststück  gemacht  zu  haben.  — 

185,  12  Wenn  Ulrich  den   heim  abbindet,    ist  das  immer  ein  zeichen, 


zu   ULRICH   VON   LIECHTENSTEIN  213 

(lass  er  genug  hat.  Es  mochte  ihn  nach  einem  zweiten  zusammenstoss 
mit  dem  gefährlichen  Spengenberger  nicht  gelüsten.  —  185,  20  fgg. 
Wirklich  ein  mädchen  als  botin?  Das  wäre  wie  in  den  Artusroma- 
nen. —  186,  25  Wie  hier,  auch  schon  184,  19:  frauenritter  haben  eine 
rise  als  zeichen.  —  188,  14  fgg.  Die  reflexion  steht  in  Zusammenhang 
damit,  dass  königin  Venus  dem  ritterspiel  zusieht,  vgl.  194,  1  fgg. 
Solche  allgemeine  sätze  sind  bei  ÜMch  sehr  selten.  —  189,  12  fg. 
Jedesfalls  eine  missa  privata.  —  191,  30  Vielleicht  wegen  des  1.  mai.  — 
193,  19  Finkenstein  unterhalb  Villach,  das  sieget  tafel  3.  —  195,  1  fgg. 
Warum  ist  Ulrich  so  erzürnt?  Fürchtete  er  Störung  seines  Unterneh- 
mens, wenn  seine  leute  durch  fremde  beeinflusst  wurden?  —  196,  29 
Steir.  Urkdb.  kennt  nur  einen  Offo  von  Frauenstein  (in  Kärnten  bei 
St.  Veit)  von  1231,  Muchar  aus  dem  13.  Jahrhundert  nur  einen  Gun- 
daker  von  1261.  —  197,  6  Das  ist  schwerlich  der  bei  Muchar  und  im 
Steir.  Urkdb.  von  1194 — 1224  nachgewiesene  Rudolf  von  Ras  (so  auf 
dem  Siegel  von  1216  — 1220,  tafel  3,  das  mit  dem  von  Finkenstein 
identisch  ist),  sonder  dessen  söhn.  Eine  Gertrud  von  Mm-eck  vermählt 
sich  1253  einem  Rudolf  v.  R.,  Muchar  5,  255.  269.  —  197,  19  Nach 
leit  Strichpunkt.  —  199,  3.  5  Gotefrkliis  de  Havcrierhurc  (heute  Ha- 
fenberg neben  St.  Ulrich  bei  Feldkirchen  in  Kärnten)  ist  im  St.  Urkdb. 
von  1220  — 1239  bezeugt,  sein  siege!  von  1230  tafel  5,  zusammen  mit 
seinem  bruder  Arnold  in  einer  St.  Veiter  Urkunde  vom  10.  Januar  1220. 
Die  Schreibung  -burch,  -burc  ist  urkundlich  belegt  und  daif  daher 
nicht  angetastet  werden.  —  199,  7  AVenn  man  cjar  statt  vil  ergänzt, 
so  erklärt  sich  das  versehen.  —  199,  8  Treffen  in  Kärnten  bei  Villach 
von  dem  in  Krain  zu  unterscheiden.  Das  Steir.  Urkdb.  weist  1192 
einen  Willehelmtis  de  Tr.  nach,  Cholo  nicht.  —  199,  10  Zachaeus  de 
Hymelberch  (bei  Feldkirchen  in  Kärnten),  urkundlich  1239,  St.  Urkdb. 
2,  490.  —  199,  16  Die  Verspottung  hat  in  dem  kopfputz  gelegen,  der 
als  helmzier  angebracht  war,  vgl.  204,  26  f.  205,  4.  —  Auch  der  dritte 
mai  ist  übrigens  ein  halber  feiertag  gewesen:  Inventio  crucis. —  200,  11 
Lachmann  ändert  mit  recht  der  in  des^  weil  es  sich  auf  den  ganzen 
satz  —  leit  tuon  beziehen  muss,  nicht  auf  leit  allein.  —  Vielleicht  war 
Ulrich  so  erzürnt,  weil  der  Himmelberger,  ein  konkurrent  im  minne- 
sang,  ihn  nicht  blos  verspotten,  sondern  auch  werfen  wollte. —  200,  28 
miiotes  (jert  der  hs.  ist  widersinnig.  — ■  201,  11  dciz  heisst  hier:  wenn, 
wofern,  gesetzt  dass.  —  201,  26  Ckiim-adus  de  Lebenach  (südlich  von 
St.  Veit  in  Kärnten)  ist  im  Steir.  Urkdb.  von  1203  —  1231,  stets  mit 
anderen  Kärntnern  zusammen  belegt.  —  202,  1  von  dem  Berge  Jacob. 
Der  durch   v.  Karajan   in   der  anm.  nachgewiesene  Adulbertus  ist  ein 


214  SCHÖNBACH 

Oberösterreicher  (heutige  bezirkshauptmannschaft  Perg).  Ich  dachte 
zuerst,  es  wäre  vielleicht  ein  Vriherger  gemeint,  weil  ein  Jacohus  (der 
name  ist  selten)  de  Friberch  1236  in  einer  St.  Veiter  Urkunde  vor- 
kommt, aber  eine  Urkunde  von  1214  Steir.  Urkdb.  2,  20  bietet  Otto 
und  Friedrich  de  Perge  unter  steirischen  und  kärntischen  edlen  (v.  d. 
Hagen  4,  344  anm.  1  verwechselt  die  geschlechter);  auch  ist  Fridarich 
de  Perge  in  der  Urkunde  unterzeichnet,  deren  faksimile  dem  4.  bände 
Muchars  beigegeben  ist.  —  202,  4  Teinach  westl.  von  Klagenfurt,  östl. 
von  Völkerraarkt.  Nur  ein  Heinricus  de  T.  ist  1239  nachgewiesen  Steir. 
Urkdb.  2,  481  in  einer  Urkunde  von  Unterdrauburg.  —  202,  5  vgl. 
67,  15.  Un  diese  zeit  wird  im  Steir.  Urkdb.  nur  Leo  und  Chunradus 
f/e  i\''.  erwälint.  Hat  vielleicht  Ulrich  ein  versehen  begangen?  —  202,  10 
Ein  Siegel  Henrici  de  Grifenfels  von  1246  tafel  14.  Eine  Mechtildis 
V.  Gr.  von  1251  Muchar  5,  238.  —  202,  13  Giiruetx.  an  der  Gurk, 
östl.  von  Klagenfurt,  westl.  von  Grafenstein.  Ältere  angehörige  des 
geschlechtes  im  Steir.  Urkdb.  von  li61  — 1185.  Ein  siegel  von  1235 
des  Henricus  de  Guruz  =  dem  Greifenfelser  tafel  7,  siegel  des  OfFo 
de  G.  von  1217  und  1238  tafel  3  und  8.  —  202,  16  Grafenstein  etwas 
oberhalb  Gurnitz  an  der  Gurk.  —  Henricus  de  Gravenstaine  im  Steir. 
Urkdb.  von  1222  —  1240.  Grafensteiner  siegel  von  1239.  1248  tafel  9. 
15,  Henricus  1240,  tafel  10.  —  203,  9  nach  tjoste  geriide?  —  203,  21 
ist  (wie  schon  v.  d.  Hagen  4,  344  anm.  9  vermutete)  der  jüngere  Wi- 
chardus  de  Karlisperch  (südöstl.  von  St.  Yeit  in  Kärnten),  der  im  Steir. 
Urkdb.  von  1214—1239,  bei  Muchar  5  bis  1248  bezeugt  ist.  Sein 
Siegel  von  1214  tafel  2,  von  1248  als  marschall  tafel  15,  (Heinricus 
von  1245  tafel  12).  —  203,  25  Herr  Engelram  ums  de  Straxpurch  ist 
in  sieben  stücken  des  Steir.  Urkdb.  von  1225  — 1235,  darunter  viermal 
mit  einem  bruder  EngcJhertus  bezeugt.  Welchem  von  beiden  das  Sie- 
gel tafel  10  (ein  älterer  Harhvicus  tafel  3)  gehört,  ist  aus  der  beschä- 
digten legende  nicht  zu  ersehen.  —  213,  32  Angehörige  dieses  geschlech- 
tes sind  im  Steir.  Urkdb.  von  1187  — 1234  bezeugt,  ein  Siegfried  ist 
nicht  darunter.  —  204,  7  1.  vil  gerne  ivol  haben  bejaget.  —  205,  16 
Darin  sehe  ich  nichts  von  der  „edlen  grossmut  Ulrichs",  die  Bechstein 
hervorhebt:    der  Himmelberger  hatte  seinen  speer  ritterlich  verstochen 

205,  6,    also   gebührte  ihm   der  ring  gemäss  Ulrichs  ausschreiben.  — 

206,  17  gar  tverdefi  in  dem  hier  geforderten  sinne  ist  unmöglich,  Lach- 
manns tvert  muss  deshalb  bleiben.  —  206,  18  Hs.  scheume  var.  Lach- 
mann: schiumevar,  schaumfarbig.  Bechstein  meint  im  glossar:  „etwa: 
schaumbedeckt".  Das  liegt  aber  nicht  in  dem  werte  var.  Und  warum 
gerade  hier  „schaumbedeckt"    und  sonst  bei  keinem  buhurt?     Zudem, 


zu   ULRICH    VON    LIECHTENSTEIN  215 

bei  der  Umhüllung  der  pferde  hätte  man  ja  den  schäum  (noch  dazu 
in  abendlicher  dämmerung)  nicht  sehen  können.  Die  sache  liegt  anders. 
Der  buhurt  in  Friesach  beginnt  spät,  bereits  nach  Ulrichs  tagereise. 
Das  spiel  iverte  iinx  an  den  äbent  gar  —  der  tac  was  vil  nach  zer- 
gän:  dö  muosten  st  ir  huhiirt  lern.  Sie  haben  also  bis  in  die  däm- 
merung tjostiert.  Da  mochten  die  rosse  leicht  schcmenvar  geworden 
sein:  aussehend  wie  schatten,  gespenster.  Vgl.  Lexer  unter  scheme, 
der  citiert  Ges.  Abent.  2,  598,  131:  ich  wil  mich  macheit  als  ein  schein 
gevar;  608,  373:  ez  ist  gestalt  als  ein  schem.  —  206,  30  Das  heutige 
Neudeck  mit  der  bürg  liegt  zwischen  Neumarkt  und  Friesach  auf  stei- 
rischem  boden.  Um  1227  sind  im  Steir.  Urkdb.  ein  Ootscalcus,  Wul- 
vingus  und  Arnoldus  nachweisbar,  kein  Kourad.  Vielleicht  hat  sich 
Ulrich  geirrt.  —  208,  17  In  einer  St.  Lambrechter  Urkunde  vom  9.  juni 
1232  (Steir.  Urkdb.  2,  390)  sind  Heinricus  de  Schövlich  und  Ilsungus 
de  Schövlich  hinter  einander  (nach  ihnen  Dietrich  und  Otto  von  Puchs) 
als  zeugen  genannt.  Er  scheint  ein  freund  des  dichters  gewesen  zu 
sein.  Seiner  ausstaffierung  nach  hat  wenigstens  er  wol  gewusst,  wer 
die  königin  Venus  war.  Aber  war  das  überhaupt  geheimnis?  —  209, 
31  fgg.  Warum  diese  einschaltung  gerade  hier?  Die  hat  doch  nur 
sinn,  wofern  die  herrin  sich  in  oder  bei  Judenburg  aufhielt.  Vgl.  210, 
24.  28.  Da  beeilt  er  sich,  nennt  keine  ritter  mit  namen.  Damit  die 
herrin  nicht  erkannt  werde?  —  211,  23  Der  Gundaker  von  Steier- 
Stamhemberg,  der  im  Steir.  Urkdb.  von  1190  bis  1218  belegt  wird,  ist 
jedesfalls  ein  älterer  als  der  67,  9.  260,  31.  261,  22  und  offenbar  der 
bei  Muchar  5,  148  im  jähre  1236  vorkommende,  dessen  Siegel  von 
1240  sich  tafel  10  findet.  —  211,  29  Sifridus  de  Torsul  (heute  ein 
bauernhof  im  Paltental)  bezeugt  am  27.  juni  1214  eine  Urkunde  auf 
bürg  Steier  unter  anderen  obersteirischen  herren.  —  212,  30  Dieser 
Wtdvinc  (I.)  de  Stubinherc  ist  im  Steir.  Urkdb.  1210  — 1230  (seine 
witwe  Gertrud  1230)  bezeugt.  Sein  söhn  Wulvinc  (IL)  heisst  1240 
noch  puer.  Dieser  Stubenberger  auf  Kapfenberg  wird  sehr  gelobt,  hier 
und  215,  8  fgg.,  wol  insbesondere  wegen  seiner  macht  und  seines  reich- 
tumes.  Auch  er  wird  wol  213,  3  gewusst  haben,  wer  hinter  frau  Ve- 
nus steckte:  darum  seine  gastfreundschaft.  —  216,  14  Kinnenberc  ist 
schon  im  13.  Jahrhundert  eine  veraltete  form,  die  Urkunden  schreiben 
ausschliesslich  ml.  —  216,  17  und  220,  16  Wie  das  register  Lachmanns 
schon  vermutet,  ist  an  beiden  stellen  derselbe  gemeint.  In  einer  Ur- 
kunde eben  des  Jahres  1227  bestätigt  herzog  Leopold  (VI.  von  Öster- 
reich, III.  von  Steiermark)  den  brüdern  Otto  et  Hermaimus  de  Chind- 
berch  (auf  Kindberg  sitzt  Otto,  wie  Ulrich  216,  14  sagt),  die  er  proprii 


216  SCHÖNBACH 

lioinines  nostri  nennt,  dass  sie  auf  güteransprüche  wider  das  kloster 
Admont  verzichten.  Yielleicht  waren  sie  vögte  von  Kindberg,  die  ans 
Buchau  stammten,  welches  bei  Admont  liegt.  Ulrich  mochte  sich  die 
spässe  217,  5  fgg.  erlauben,  weil  Otto  von  Buchau  niedrigeren  ranges 
war  (ein  Buchbach  liegt  in  Niederosterreich  bei  Neunkirchen,  vgl.  Nie- 
derösterr.  Weist,  ed.  Gustav  Winter  1,  276  fgg.).  —  219,  24  Nicht  Ot- 
iackcr,  aber  Otto  der  Trage  (vielleicht  ein  Irrtum  Ulrichs)  erscheint 
1216  als  zeuge  in  einer  Stubenbergischen  Urkunde  an  das  kloster  Kenn, 
worin  es  sich  auch  um  hufen  bei  Kindberg  handelt,  unter  anderen 
herren  aus  dem  Mürztal.  Ausserdem  noch  ein  Chunradus  de  Trage 
in  einer  Urkunde  von  1232  unter  Mur-  und  Ennstaler  herren  und  1242 
Otto  Trage  plehanus  de  SiiivercJiirchen.  —  220,  9  Einen  Friedrich  von 
Reichenfels  (ob  er  aber  zu  diesem  hier  gehört?)  citiert  Muchar  6,  91 
aus  einer  Urkunde  von  1293.  —  Man  wird  sich  bei  der  Schwierigkeit, 
diese  namen  aus  dem  Mürztale  nachzuweisen  (vgl.  v.  Karajan  s.  674), 
an  die  worte  Ottos  von  Buchau  216,  29  fgg.  erinnern  müssen:  min 
munt  V071  ivärheit  in  des  giht:  in  disem  tal  ist  rittcr  niht  gesezxen 
di  der  tjoste  pflegen.  Es  worden  also  kleine  leute  sein,  die  Ulrich 
nennt,  die  deshalb  in  Urkunden  nicht  oder  sehr  selten  vorkommen. 
Die  Ursache  davon  mag  in  der  Verteilung  des  besitzes  im  Mürztal 
gelegen  sein.  —  221,  29  fgg.  Dieser  ganze  sonst  so  schwer  zu  erklä- 
rende besuch  Ulrichs  bei  seiner  frau  verliert  alles  wunderbare  durch 
den  schönen  nachweis  herrn  Alfreds  von  Siegenfeld,  dass  der  Liechten- 
steiner zugleich  in  Niederösterreich  ansässig  war  und  auf  der  bürg  Tern- 
berg,  fünf  kilometer  von  Glocknitz,  hauste.  Da  stimmt  nun  seine 
erzählung  aufs  beste  mit  den  umständen  des  ortes  und  der  zeit.  Die 
rast  daheim  ist  also  ungefähr  in  die  mitte  der  Venusfahrt  gelegt  wor- 
den. —  225,  3  Eine  niedliche  Übertreibung.  —  225,  21  Im  Steir. 
Urkdb.  2  ist  Perhtoldus  de  Emherherch,  dapifer,  seneschalcus  von  1197 
— 1246  bezeugt.  Sein  siegel,  das  mit  der  beschreibung  des  wappens 
225,  17  fgg.  genau  stimmt,  tafel  14.  15  von  1247.  1249.  Es  ist  der 
zeit  nach  ausgeschlossen,  dass  nach  v.  Karajans  Vermutung  dieser  Bert- 
hold der  beim  tode  Ottokars  von  Böhmen  erwähnte  sei.  —  226,  11 
Wenn  man  die  Verletzungen  Ulrichs  auf  dieser  fahrt  zusammenrechnet, 
muss  er  am  ende  ziemlich  verhauen  gewesen  sein.  —  228,  14  Weil  er 
fürchtete,  in  den  verdacht  der  untreue  zu  kommen.  Vgl.  230,  28  und 
jenen  verfall  zu  Villach  195,  1  fgg.  —  231,  4  Sie  gibt  ihm  ja  nichts.  — 
231,  10  Etwa:  ivan  xornic  munt  niht  lachen  ivil,  vgl.  475,  11.  519, 
30  fg.  520,  13.  548,  13  fgg.  —  In  der  Neustädter  episode  ist  nicht 
alles  klar.     Ich  sehe  allerdings  keinen   ausreichenden  grund,    an  ihrer 


zu   ULRICH   VON   LIECHTENSTEIN  217 

Wahrheit  zu  zweifeln,  obgleich  sie  eine  Steigerung  derVillacher  geschichte 
bezeichnet  und  die  „treue"  Ulrichs  in  das  beste  licht  setzt.  Einzelnes 
mag  die  lokalhistorie  genauer  zu  bestimmen  gestatten,  z.  b.  die  läge 
des  badehauses  ausserhalb  der  stadt  226,  32.  Die  verse  228,  10  fgg. 
nehmen  den  Inhalt  des  briefes  vorweg.  228,  12  er  ziehe  ich  auf  den 
brief;  wie  sollte  der  knappe  das  durch  gebärden  ausdrücken?  Dagegen 
ist  230,  5  Bechsteins  auffassung  von  gefriunt  richtig,  die  Sprengers 
(Germ.  37,  176)  falsch.  Auf  eine  ganz  vornehme  dame  als  Urheberin 
der  ehrung  deutet  schon  der  aufwand,  den  das  verursachte:  AViener 
Neustadt  war  lange  ein  hauptsitz  der  Babenbergischen  hofhaltung.  Dass 
rosen  ins  bad  gestreut  wurden,  ist  nichts  ungewöhnliches.  Der  käm- 
merer  spricht  jedesfalls  hier  die  gedanken.  aus,  die  Ulrich  bewogen, 
über  das  ganze  vorkonimniss  vorsichtig  zu  schweigen.  —  235,  23  Es 
ist  dem  ritterlichen  stände  gemäss,  tut  ihm  keinen  abtrag,  ein  hofamt 
bei  der  königin  Yenus  zu  übernehmen.  —  236,  23  riten  =  tjoste  rei- 
ten, der  herr  kommt  nächstens  selbst.  —  238,  32  iviz  ist  hier  „glän- 
zend", weil  der  hämisch  gefegt  wurde.  —  241,  10  Man  sieht,  wie  vor- 
sichtig Ulrich  sein  musste.  —  241,  17  tg.  242,  1  Der  böte  nimmt  noch 
Walthers  werte  auf.  Das  folgende  ist  ganz  formelhaft  dargestellt:  zu 
241,  19  fgg.  vgl.  325,  25  fgg.,    zu  241,  31  fg.    326,  7  fg.   353,  5  fg.  — 

241,  25   1.   er  sprach:    nu  stet    iif,    Ult    sin   gniioc.     Tgl.  21 ,  29.   — 

242,  21  Bechsteins  anmerkung  ist  in  der  tat  unbegreiflich  (vgl.  Meier, 
Beitr.  15,  331).  Ulrich  war  bei  der  herrin  page  gewesen,  sie  wirft 
ihm  41,  25  fgg.  seine  jugeud  vor,  eine  anzahl  von  jähren  dient  er 
schon  um  ihre  minne:  sie  muss  mindestens  in  den  ersten  dreissigen 
gewesen  sein.  Allem  anscheine  nach  war  sie  eine  sehr  kluge  dame, 
ihren  hohen  rang  bezeugt  auch  hier  wider  Ulrichs  freude  über  das 
geringe  unverbindliche  geschenk.  —  244,  17  fgg.  Der  knecht  spricht 
mit  diesen  ausdrücken  den  verdacht  eines  zärtlichen  abenteuers  aus.  — 
244,  25  fgg.  Hier  ist  die  Situation  ganz  unklar.  Wo  ist  das?  Vor 
Möllersdoif  oder  hinter  Möllersdorf?  Vgl.  239,  26.  243,  27.  246,  4. 
Man  weiss  nicht,  wo  die  ritter  warten.  Ulrich  hat  über  die  botschaft 
den  faden  verloren.  —  247,  22  fgg.  Der  domvogt  war  also  ein  rechter 
frauenritter,  vgl.  276,  15  fg.  —  250,  4  1.  —  undencinden ;  filegt  e% 
sich,  — .  Der  ausdruck  von  iu  7  versteht  sich  daraus,  dass  der  dom- 
vogt marschall  der  königin  Venus  ist  und  also  in  ihrem  namen  die 
ritter  einlädt.  Vermutlich  hat  aber  er  die  kosten  getragen.  —  251,  9  fgg. 
ist  eine  ganz  vortreffliche  bemerkung  über  die  frauen,  die  den  kenner 
beweist.  Den  nächsten  gedanken  17  fgg.  nimmt  Ulrich  im  Frauenbuch 
weitläuftig  auf.  —    252,  17  fgg.   Die  erzählung  wird  hier  ganz  formel- 


218  SCHÖNBACH 

haft,  der  dichter  gerät  immer  wider  auf  die  früheren  reimbindungen 
und  gedanken:  vgl.  253,  28  — 32  =  242,  4  fg.  15  fg.;  .254,  2  =  242,  24; 
254,  5  fgg.  =  242,  18  fgg.;  254,  10  fgg.  =  242,  14  fgg.  Jedesfalls 
kann  die  herrin  jetzt  nicht  auf  ihrem  steirischen  schloss  nahe  bei  Juden- 
burg gewesen  sein.  Ulrich  lässt  sich  die  botschaft  von  dem  knappen 
in  Umschreibung  widerholen.  Das  tiu'nier  stand  schon  in  der  ausschrei- 
bung,  zur  pracht  des  aufzuges  entschliesst  sich  aber  Ulrich  erst  jetzt.  — 
256,  25  fgg.  Formel  des  reisesegens.  —  257,  1  fgg.  Man  ersieht  daraus, 
dass  das  unternehmen  in  Wien  ernster  war.  — ■  259,  1  fgg.  Hier  erfährt 
man  nichts  über  Ulrichs  plan  von  255,  1  fgg.,  sondern  erst  288,  28  fgg. 
—  262,10  Iwrt  kann  gewiss  niemals  „niederreiten"  bedeuten,  auch 
hier  nicht,  sondern  ein  solches  gedränge  (261,  25  fgg.)  und  stossen, 
dass  dabei,  ohne  eigentliches  tjostieren,  arge  Verletzungen  vorkamen. 
Ulrich  musste  also  sehr  geschickt  reiten,  um  unter  der  menge  seine 
tjoste  ausführen  zu  können.  267,  5  sieht  man  das  ganz  genau.  — 
263,  16  Heute  noch  „stürz  und  stuche"  als  bestandteile  alter  frauen- 
tracht  im  Montavon,  Yorarlberg.  —  266,  4  fgg.  Daran  ist  sicher  etwas 
gewesen,  denn  tatsächlich  tjnstiert  der  Kuenringer  nicht  mit  Ulrich, 
sondern  stellt  einen  andern  269,  17  fgg.  Ygl.  auch  die  gegensätzliche 
hervorhebung  266,  22  fgg.  268,  6  fgg.  —  271,  11  Bbsinperge,  Pu- 
sinherge  liegt  in  Niederösterreich,  Yiertel  unter  dem  Wiener  Wald, 
Ckunradus  de  B.  ist  im  Steir.  Urkdb.  1,  298.  356  circa  1150  — 1155 
bezeugt;  ein  Ekkhard  von  Piischinberge  Muchar  4,  532.  Merkwürdig 
ist,  dass  ein  Poppo  von  Pusenbach  1195  (im  Steir.  Urkdb.  2,  35  fg.)  in 
einer  Admonter  Urkunde  erscheint.  Der  name  ist  so  selten,  dass  die 
Übereinstimmung  auffällt.  —  271,  19  Anschau  in  Niederösterreich. 
Müllers  Babenberger  regesten  weisen  Rudigerus  de  Anschowe,  Ant- 
schoive,  Anshawe,  Ansclrnive  in  fünf  Urkunden  von  1209  —  1230  als 
zeugen  auf.  Der  in  einer  Urkunde  von  1263  erwähnte  llugeri  ist  wol 
noch  zu  jung,  um  mit  dem  hier  erwähnten  zusammenzufallen.  Vgl. 
den  Liber  fundationum  monasterii  Zwetleusis,  Fontes  rerum  Austria- 
carum  3,  398  fg.  Dort  auch  ein  Giindacharus  de  Anshaive,  ministe- 
rialis  Austriae.  —  Es  hängt  also  der  name  nicht  mit  Anjou  zusam- 
men, wie  V.  d.  Hagen  4,  354  anm.  2  will,  obzwar  das  auftreten  bei 
Wolfram  und  die  Verbindung  mit  Steiermark  dort  sehr  zum  nachden- 
ken auffordert.  —  273,  9  fg.  Das  siegel  des  Adalhero  dapifer  de  Vels- 
herch  von  1244  —  46  tafel  11.  —  273,  21  1.  da  s.  23.  —  274,  20  fgg. 
Ulrich  tjostiert  nicht  mit  seinem  bruder  Dietmar,  sondern  schickt  den 
kämmerer.  Da  rauss  es  ja  dem,  der  es  noch  nicht  wusste,  offenbar 
geworden  sein,    wer  die  königin  Venus  war.  —    275,  25  fgg.  Warum 


zu    ULRICH    VON    LIECHTENSTEIN  ^  219 

in  Feldsberg  eine  besondere  bekanntmachimg?  —  276,  4  Entweder 
schcener,  woran  Bechstein  denkt,  oder:  da  manc  schoeniu  vroive  die- 
nest vant.  Dann  hätte  den  5  guten  bezug.  —  276,  9  fgg.  Der  ritter 
wird  gelobt  in  der  art  wie  der  domvogt  von  Regensburg.  Das  ist  der 
Sifrit   Weise,    den  Seeiuüllers   anm.   zum  Reimschr.  6910  vormisst.  — 

281,  32  Gerade  die  folgende  strophe  beweist,  dass  Lachmanns  emendation 
richtig  ist.  —  282,  14  1.  bvx  da%  manz  eivangelje  las.  Icli  weiss  nicht, 
weshalb  an  diesem  samstag  ein  hochamt  sollte  gehalten  worden  sein, 
es  wäre  denn  wegen  der  festlichen  Versammlung.  Er  liegt  allerdings 
in  der  oktav  von  Christi  hinimelfahrt  und  im  kalender  der  Passauer 
diöcese    ist    Helena    besonders    ausgesetzt,    aber    das    genügt    nicht.    — 

282,  29  fg.  Ulrich  wollte  auch  dadurch  sein  benehmen  als  frauenhaft 
bezeichnen.  —  288,  21  Cltolo  de  Vronhofen  (es  gibt  mehrere  Frauen- 
hofer  in  Niederösterreich)  findet  sich  als  zeuge  in  zwei  Urkunden  her- 
zog Friedrichs  IL  vom  12.  juli  1242,  ausgestellt  zu  Tobel  in  Steier- 
mark. —  291,  1  fgg.  Sein  lob  lässt  Ulrich  durch  andere  verkündigen. 
Das  arrangement  der  scene  zeugt  von  künstlerischem  geschick.  Der 
kämmerer  war  natürlich  der  rechnungsführer.  —  293,  4  des  künde  mir 
lieber  niht  gesin?  —  297,  4  Ich  glaube,  das  ist  die  einzige  stelle,  wo 
Ulrich  sich  gegen  die  widerholung  einer  beschreibung  sträubt,  er  ist 
sonst  gar  nicht  heikel  darin.  —  300,  29  Die  teilnähme  des  boten  ist 
wol,  ebenso  wie  an  früheren  stellen  seine  mitfreude,  ein  künstlerisches 
mittel.  — ■  303,  28  Wenn  iht  ergänzt  werden  soll  (vgl.  306,  30),  dann 
möchte  ich  es  zwischen  hat  und  iu  setzen,  weil  sich  dann  ein  verlesen 
des  Schreibers  leichter  erklären  liesse.  Ygi.  304,  1.  305,  4.  —  307, 
21  fgg.  Es  fällt  auf,  dass  der  eigene  Schwager,  von  dem  dieses  zeug- 
niss  für  Ulrich  ausgeht,  erst  304,  30  fgg.  als  anwesend  bezeichnet 
wird  und  nicht  früher  erwähnt.  —  308,  4  1.  dir  si  des  pfant  diu  scelde 
min.  Ygl.  18.  —  311,  25  Auch  iPise  spricht  für  Lachmanns  guote  im 
nächsten  vers.  Vgl.  268,  22.  —  312,  26  in,  glaube  ich,  ist  pron. 
pers.,  erst  27  steht  i)i.  Das  ganze  muss  mit  den  Kuenringern  vorher 
verabredet  worden  sein,  vielleicht  sollte  durch  das  turnier  eine  aussöh- 
nung  bewirkt  werden.  Es  liegt  jedesfalls  vieles  zwischen  den  von  Ul- 
rich erzählten  dingen,  was  nicht  mitgeteilt  wird.  —  313,  12  Da  hat 
also  wahrscheinlich  Heinrich  von  Kuenringen  die  schaar  Ulrichs  durch- 
brochen. —  316,  13  fgg.  Das  ist  dem  boten  erst  eingefallen,  nachdem 
der  Wasserberger  307,  31  fgg.  den  gedanken  gehabt  hatte.  —  318,  22  fgg. 
Jedesfalls  wider  nach  Ternberg,  von  da  319,  1  nach  dem  steirischen 
Liechtenstein.  —  319,  21  fgg.  Woher  weiss  der  böte  das  alles?  Diese 
äusserungen  waren  doch  in  seiner  abwesenheit  gefallen.     Man  sieht  die 


220  SCHÖNBACH 

poetische  erfindiiug.  Ebenso  320,  7  fgg.  Es  sind  überhaupt  verschie- 
dene inconcinnitäten  vorhanden:  nach  321,  25  fgg.  scheint  die  dame 
fast  verliebt,  was  weder  mit  dem  früheren  noch  dem  späteren  stimmt.  — 
323,  24  fgg.  Das  würde  schwerlich  so  einfach  berichtet  werden,  wenn 
es  wahr  wäre.  —  328,  17  fgg.  Die  äusserungen  des  boten  sind  hier  in 
der  Sache  nicht  wesentlich  verschieden  von  denen  327,  17  fgg.,  er  sieht 
das  unternehmen  auch  dort  als  unmöglich  an.  Nur  wird  hier  die 
Schwierigkeit  mehr  hervorgehoben,  um  das  Interesse  an  der  sache  zu 
steigern.   —    331,  22    holer?    vgl.    aber  Sprenger,    Germ.  37,  177.   — 

335,  20  fgg.    Ist  ebensowenig  glaublich,    wie    dass    ihm    das  bedenken 

336,  21  fgg.  erst  hinterdrein  kommt.  — •  338,  1  Zu  xll  vgl.  mein  glos- 
sar  zu  den  Steir.  Eärnt.  Taidingen  s.  666  unter  xeiUach.  —  339,  12 
Diesmal  ist  er  also  mit  ihnen.  —  340,  9  Es  ist  nur  an  lause  zu  den- 
ken, vgl.  31  fg.  342,  7  fgg.  wo  natürlich  Ungeziefer  gemeint  ist  (man 
denke  an  Thomas  Platters  Selbstbiographie)  und  der  wälhisch  man  (wie 
ScJioUen  usw.)  nur  den  fremden  fahrenden  bezeichnet.  —  342,  13  fgg. 
Die  reflexionen  werden  um  so  häufiger,  je  weniger  historisch  die  erzäh- 
lung  wird.  —  345,  15  fgg.  Das  ist  eine  ganz  unwahrscheinliche  Über- 
treibung, um  das  Interesse  an  dem  beiden  zu  steigern.  —  347,  14  Ohne 
zweifei  ist  Lachmanns  Verbesserung  richtig.  "Wenn  twimjen  intransitiv 
sein  sollte,  dann  müsste  es  doch  heissen  rotem  m.  und  was  wäre  es  mit 
dem  a7i  des  folgenden  verses?  Yielleicht  ist  mir  statt  mit  der  hs.  zu 
lesen?  —  347,  29  fgg.  Die  beschreibung  ist  so  weitläuftig,  weil  alle 
pracht  bis  zur  undeutlichkeit  hier  gehäuft  werden  soll.  —  351,  2  fgg. 
vgl.  355,  25.  Das  ist  heute  nicht  so.  Man  bedenke,  dass  die  Zusam- 
menkunft in  gegenwart  aller  frauen  der  herrin  vor  sich  geht.  —  Der 
wünsch  351,  11.  31  scheint  mir  ebenso  formelhaft  wie  349,  22.  Ulrich 
erhält  352,  20.  32  bestimmte  Zusicherungen;  vielleicht  will  man  ihn 
damit  bloss  wegschaffen.  —  353,  18  relüe  heisst  „in  richtiger  weise", 
von  r eilte  =  „von  rechts  wegen",  nur  dieses  ist  hier  möglich.  Der 
Schreiber  hat  von  dem  n  in  mcui  auf  das  in  von  sich  versehen.  Vgl. 
Sprenger  a.  a.  o.  178.  —  354,  28  1.  tuot  mir  %vie  iicer  gemide  sf.  — 
355,  18  fgg.  Sind  sie  im  Speisezimmer  allein?  —  358,  21  fgg.  Er  fürch- 
tet die  „schände"  des  misserfolges.  Man  sieht,  wie  formelhaft  das  alles 
ist.  —  365,  21  Die  risc  (Bechsteins  erklärung  im  glossar  ist  falsch) 
könnte  als  auffällige  lokalbestimmung  die  mögliclikeit  gewähren,  diese 
bürg  noch  ausfindig  zu  machen.  Freilich,  Vischers  schlösserbuch  reicht 
dazu  nicht  hin.  —  366,  13  fgg.  27.  374,  9  Die  auffassung  des  Selbst- 
mordes ist  lehrreich.  —  368,  1  Jetzt,  nach  ein  paar  tagen,  wird  er 
erst  an  den  knecht  mit  den  pferden  denken!  —  368,  13  fgg.  Lachmann 


zu    ULRICH    VON    LIECHTENSTEIN  221 

hat  im  gesetzt,  hauptsächlich  wegen  der  nächsten  verse  15  fgg.,  nicht 
wegen  der  vorhergehenden,  und  hat  daran  recht  getan.  —  370,  17 
diu  ivcere  ir  alle  zft  gehax?  vgl.  374,  1  fg.  —  371,  31  fg.  Er  hat  also 
den  Worten  des  knechtes  nicht  geglaubt,  was  bei  der  Unverschämtheit 
der  lüge,  besonders  370,  25,  nicht  zu  wundern  war.  —  375,  9  fgg. 
Wenn  die  bürg  so  bewacht  war,  wie  sind  die  früheren  scenen  bei  der 
line  möglich  gewesen?  —  377,  22  Ich  habe  mich  Ztschr.  f.  d.  a.  26,  313 
geirrt:  es  ist  gewiss  das  niederösterreichische  Wasserberg  gemeint.  Vgl. 
oben  zu  90,  8.  —  383  nach  9  lese  ich:  sage  allen  mtuen  danc  der 
lieben  werden  vrowen  min  —  davon  sind  die  genetive  12  abhängig.  — 
Die  grosse  lobpreisung  der  dame  steht  im  3.  büchlein  unmittelbar  vor 
dem  abbruch  des  Verhältnisses.  Das  bedenken  des  knappen  379,  5  fgg. 
ist  wol  nur  das  künstlerische  Vorspiel  dazu.  —  393,  14  fgg.  Der  wünsch 
geht  also  weiter.  Mit  dem  3.  büchlein  ist  die  sache  eigentlich  aus, 
lied  XII  steht  dazu  in  derselben  beziehung  wie  die  spätesten  lieder  zu 
den  sie  umgebenden  epischen  versen.  —  395,  9  Die  stelle  ist  merk- 
würdig. Fällt  das  einem  jungen  dichter  ein?  —  397,  1  fgg.  ist  eigent- 
lich schon  eine  absage.  Ygl.  403,  6.  Die  menge  der  hier  aufgehäuf- 
ten lieder  ist  ein  zeichen,  dass  es  nichts  mehr  zu  erzählen  gibt.  — 
409,  12  fg.  fasse  ich  durchaus  nicht  so  wie  Bechstein.  Es  stimmen  ja 
auch  die  lieder  nicht  damit,  in  denen  doch  eine  solche  gunst  zuerst 
zum  Vorschein  kommen  müsste.  —  409,  19  fgg.  ist  ein  klagelied,  das 
zur  tanzweise  schlecht  passt  und  ebensowenig  zu  den  versen  410,  26  fgg. 
411,  27  fgg.  Kann  man  sich  wol  denken,  dass  ein  bisher  so  genau  in 
seinem  verlaufe  geschildertes  verhältniss,  Avie  das  erste  Ulrichs,  plötz- 
lich so  gar  nichts  zu  berichten  gibt,  wie  das  hier  der  fall  ist?  — 
411,  27  Die  absage  ist  da  schon  vollzogen.  —  413,  11  fgg.  vgl.  415, 
31  fgg.  Wahrscheinlich  hatte  die  dame  das  missglückte  rendezvous 
Ulrichs  erzählt.  —  418,  27  fgg.  Ich  denke,  dass  hier  zuerst  im  Frauen- 
dienst die  epischen  Strophen  ausdrücklich  den  inhalt  des  nächsten  lie- 
des  angeben.  —  Es  wird  dann  bei  den  folgenden  liedern  allem  anscheine 
nach  auf  das  technische  mehr  gewicht  gelegt.  Ein  Zusammenhang  zwi- 
schen den  erlebnissen  des  erzählers  und  dem  Inhalte  seiner  lieder  ist 
nicht  mehr  sichtbar.  —  434,  11  fgg.  Also  ist  wol  auch  das  Frauenbuch 
aus  gesprächen  mit  ihr  entstanden.  Vgl.  442,  24  fgg.  —  438,  10  fg. 
Immer  ist  ein  treibendes  motiv  für  Ulrich  das  couventionelle,  das  ge- 
sellschaftliche ansehen,  dass  man  nämlich  tut,  was  guter  brauch  ist.  — 
439,  6  fgg.  Die  ganze  Überlegung  zeigt,  dass  da  von  wirklicher  neigung 
keine  rede  ist.  —  452,  19  Bezeugt  sind  im  Steir.  Urkdb.:  Ortolfus  de 
Stretivich  (heute  Stretweg  bei  Judenburg)  1220  —  45,  Albertus  1220  — 


222  SCHÖNBACH 

1227,  frater  ejus  Otto  1227.  Dann  Ditimarus  et  Chimradus  fratres 
de  Streüvich  als  zeugen  für  einen  vergleich  zwischen  den  brüdern  von 
Liechtenstein  und  dem  kloster  St.  Lambrecht  am  4.  September  1232 
(2,  398).  Ortolf,  Dietmar,  Konrad  am  2.  nov.  1245  in  Kraubath.  Es 
waren  die  nächsten  nachbarn  des  Liechtensteiners.  —  453,  18  In  der- 
selben Urkunde  von  1245  auch  Cltunradus  de  Sovrow,  östlich  von 
Murau  an  der  Mar.  —  454,  4  Es  ist,  wie  schon  v.  Karajan  vermutete 
und  V.  d.  Hagen  4,  367  anm.  4  annahm,  Priks  aus  Puhs  verschrieben, 
welches  dem  gange  der  darstellung  angemessen  ein  wenig  östlich  von 
Saurau  gegen  Scheifling  zu  liegt.  Cristän  ist  freilich  im  Steir.  Urkdb. 
nicht  zu  belegen,  auch  bei  Muchar  nicht.  Aber  es  ist  hier  die  unmit- 
telbare nachbarschaft  Ulrichs  angeführt.  Auch  der  454,  17  genannte 
Eppensteiner  ist  einer  der  nächsten  nachbarn.  —  Im  allgemeinen  wird 
jeder  leser  wahrnehmen,  um  wie  vieles  weniger  lebendig  die  Artusfahrt 
beschrieben  ist  als  die  Venusfahrt.  Ein  guter  spass  darf  eben  nicht 
widerholt  werden.  —  455,  15  Kraubath  liegt  ungefähr  in  der  mitte 
des  weges  zwischen  Knittelfeld  und  Leoben.  —  456,  9  fgg.  Das  ist  wol 
nur  eine  entschuldigung  aus  Verlegenheit.  Ulrich  verzichtet  sonst  und 
auch  später  nicht  auf  die  beschreibung  seiner  siege.  —  458,  18  Brück 
an  der  Leitha,  das  Bechstein  meint,  liegt  wol  nicht  auf  der  steirischen 
Strasse,  die  hier  über  Brück  an  der  Mur  geht.  —  458,  26  Hermanmis 
de  Chrotendorf  (oberhalb  Kapfenberg  an  der  Mürz)  ist  in  der  schon 
erwähnten  Kraubather  Urkunde  von  1245  als  zeuge  angeführt,  Steir. 
Urkdb.  2,  575.  —  458,  28  Ich  zweifle,  ob,  wie  v.  Karajan  will,  der 
Spiegelberger  Heinrich,  der  459,  20  fg.  vorkommt  und  im  Steir.  Urkdb. 
1218  — 1245  zu  belegen  ist,  mit  dem  hier  genannten  Diefnidr  von 
MÜ7'e  einem  hause  angehört.  Spiegelberg  liegt  nordwestlich  oberhalb 
Knittelfeld.  Ulrich  nennt  ritter  mit  namen  aus  der  tafeirunde  (z.  b. 
den  Eppensteiner  454,  21),  von  denen  er  nicht  sagt,  dass  sie  die  be- 
dingung  erfüllt  haben.  —  459,  9  noch  bezieht  sich  hier  auf  Brück.  — 
460,  20  Ortolf  von  Kapfenherc  schon  richtig  bei  v.  d.  Hagen  4,  368 
anm.  4.  Er  ist  Steir.  Urkdb.  2,  368  im  jähre  1230  bezeugt,  dann  aus 
dem  jähre  der  Artusfahrt  1240  (s.  493.  495)  am  15.  juli  zu  Passail  als 
einer  der  vier  Schiedsrichter  über  eine  zehentsache,  die  der  herr 
von  Stubenberg  milites  sitos  nennt.  —  461,  9  Landsee  in  Ungarn, 
nördlich  von  Pinkafeld.  Erchengerus  de  Landesere  ist  von  1197  ab 
bezeugt,  etwa  bis  1250,  wofern  es  derselbe  ist.  Zwei  siegel  von  ihm 
aus  den  jähren  1249  und  1250  tafel  16.  Sein  bruder  ist  Rudolf  von 
Stadeck.  —  461,  11  Es  gibt  zwei  Hohenwang,  links  und  rechts  von 
der  Mürz  zwischen  Krieglach  und  Langenwang.     Gemeint  ist  sicher  das 


zu    ULRICH    VON    LIECHTENSTEIN  223 

am  rechten  iifer  der  Mürz,  eine  bürg,  dessen  ruine  noch  steht.  —  461,  27 
Arnstein  liegt  in  Niederösterreich,  westlich  von  Wiener  Neustadt.  Im 
Steir.  Urkdb.  ist  nur  ein  Wichardus  nachgewiesen  von  1233  — 1237, 
sein  Siegel  tafel  7.  Urkundlich  heisst  es  Arensteine,  vielleicht  auch  so 
im  vers.  v.  d.  Hagen  4,  368  anm.  9  vermutet,  ein  söhn  Ottos  von  A., 
Albero,  sei  hier  gemeint,  der  um  1270  bezeugt  ist.  —  462,  28  wart? 
Ygl.  Sprenger  a.  a.  o.  178.  —  465,  21  vgl.  Steir.  Reimchr.  6129. — 
468,  25  Henricus  mncerna  de  Hcmchspach  (Hausbach  in  Niederöster- 
reich  östlich  bei  Grlocknitz)  ist  im  Steir.  Urkdb.  von  1241  —  46  nach- 
gewiesen, Siegel  von  1244  tafel  11.  —  469,  9  fgg.  Die  stelle  des  liedes 
442,  3  fgg.  ist  also  aufgefallen,  das  erklärt  auch  die  parodierung  durch 
Steinmar.  —  469,  22  fg.  Die  historische  Stellung  der  beiden  brüder 
(nach  26  fgg.  besondere  günstlinge  herzog  Friedrichs  H.),  vornehmlich 
Heinrichs  in  der  steirischen  Reimchronik  (7202  fgg.),  ist  bekannt  ge- 
nug. —  472,  9  Zu  V.  Karajans  anm.  vgl.,  dass  im  Steir.  Urkdb.  2,  112 
in  einer  Urkunde  von  1204  ein  Meinhardus  de  Vroberch  nachgewiesen 
ist,  der  wol  zu  alt  für  diesen  hier  wäre.  —  472,  25  Ein  Ditricus 
Possho  findet  sich  1233  im  Steir.  Urkdb.  2,  414;  er  gehört  aber  nach 
Kärnten,  somit  schwerlich  zu  diesem  geschlecht,  vgl.  v.  d.  Hagen  4,  372 
anm.  1.  —  472,  27  Ditricus  j^nceriia  de  Dobra  (Niederösterreich  bei 
Waldreichs)  ist  im  Steir.  Urkdb.  dreimal  von  1243  —  45  bezeugt.  — 
473,  5  Das  Steir.  Urkdb.  liat  einen  Ulricus  'inareschalcus  de  Valchen- 
stclne  1217.  18  und  Bernhardus  frater  ejus  1217.  —  473,  15  Pott- 
schach oberhalb  Neunkirchen,  Niederösterreich.  Falsch  bei  v.  d.  Hagen 
4,  373  anm.  4.  ~  474,  13  Ygl.  Steir.  Reimchr.  1321  fgg.  —  474,  25 
Ein  Bapoto  de  Valchenherch  (Niederösterreich  bei  Zwettl)  ist  im  Steir. 
Urkdb.  2,  95  im  jähre  1202  bezeugt,  somit  wol  der  vater  des  hier 
erwähnten.  Drei  Rapotos  kommen  in  der  Steir.  Reimchr.  vor.  Ich 
bemerke,  dass  die  beschreibung  der  Yenusfahrt  von  der  des  Artuszugs 
sich  auch  dadurch  unterscheidet,  dass  dieser  häufig  bei  der  ersten 
erwähnung  der  ritter  Charakterschilderungen  beigegeben  werden,  die 
dort  fehlen.  Yielleicht  sollte  dadurch  das  Interesse  an  den  vergangen 
selbst  ersetzt  werden,  das  diesmal  mangelte.  —  477,  2  Chadoldus  Waiso 
Steir.  Urkdb.  2,  406  von  1233.  v.  Krones,  Österr.  Gesch.  1,  629.  — 
482,  3  Das  muss  in  dem  fehlenden  stehen,  dass  Dietmar  von  Liechten- 
stein den  namen  Gäwdn  gewonnen  hat.  —  494,  8  Im  juni  1240  wurde 
der  herzog  durch  den  päpstlichen  legaten  Albert  Beham  mit  bann  und 
interdict  belegt,  am  13.  juli  erfolgte  das  bündniss  des  herzogs  mit  den 
kaiserlich  gesinnten  bischöfen  wider  Baiern.  —  495,  7  fgg.  Die  stelle 
ist  nicht  aufzufassen  wie  Bechstein  tut:  die  teiliing  geschieht  nach  dem 


224  SCHÖNBACH 

ränge.  Allerdings  mag  nebenher  noch  Avie  beim  turnier  zu  Friesach 
gleichheit  der  kämpfer  angestrebt  worden  sein.  —  497,  11  fgg.  Die 
früher  am  meisten  gelobten  finden  sich  jetzt  in  Ulrichs  schar,  umge- 
kehrt in  der  anderen  die  getadelten  gegner.  —  499,  27  Das  wird  kaum 
das  oberösterreichische  geschlecht  sein,  aus  dem  Steir.  Urkdb.  2,  210 
um  1215  ein  ülricus  nachgewiesen  ist.  —  510,  7  fgg.  Die  stelle  ist 
ungemein  bezeichnend  für  die  poetisierung  des  wäcliters  im  tageliede.  — 
510,  14  magct  wird  nämlich  schon  durch  das  geschlecht  gehoben  und 
geadelt.  —  528,  4  Der  Henricus  Scriba  (landschreiber)  Styriae  war 
von  Marein  und  ein  söhn  Eeinberts  von  Mureck,  später  pfarrer  von 
Gratwein  bei  Graz.  Er  ist  von  1222  — 1243  bezeugt.  Aber  der  ist 
wahrscheinlich  hier  nicht  gemeint,  sondern  der  notarius  Heinricus 
Faba,  der  mit  dem  notarius  Gotscalcus  am  1.  märz  1246  eine  Urkunde 
herzog  Friedrichs  IL  zu  Himberg  ausfertigt,  Steir.  Urkdb.  2,  581  fg.  — 
544,  7  (gotes)  lichimnf  iienien  heisst:  kommunizieren.  Vgl.  über  solche 
kommunion  in  extremis  Sattler,  Die  religiösen  anschauungen  Wolframs 
von  Eschenbach  (1895)  s.  82  fg.  —  589,  27  fgg.  Das  scheint  doch  ein 
sehr  beachtenswertes  selbstbekenntniss  Ulrichs.  —  593,  5  getihtet  heisst 
also  hier  nur:  ritterliche  taten  in  eigener  person  von  sich  erzählt  hat. 
Es  sei  mir  gestattet,  nocli  ein  paar  bemerkungen  zum  „Fraueu- 
buch"  anzuschliossen.  601,  27  Wenngleich  das  gewand  der  frau  kost- 
bar ist,  braucht  es  doch  nicht  gleich  ein  Überwurf  von  zobel  zu  sein. 
zohel  ist  damals  schon  allgemeines  wort  für  pelzwerk  geworden ,  beson- 
ders für  schwarzes,  das  nach  31  fg.  gemeint  ist.  —  603,  1  (601,  9)  an 
beiden  stellen  ist  jedesfalls,  wie  Lachmann  annahm,  dasselbe  wort  ge- 
raeint. Aber  Haupts  emendation  fülen  (Ztschr.  f.  d.  a.  15,  247)  ist 
unrichtig,  weil  die  stelle  der  Litanei,  auf  die  sie  sich  stützt,  falsch 
aufgefasst  ist.  Und  Lexers  bloss  auf  die  erste  der  beiden  stellen  sich 
beziehende  erklärung  von  füllen  =  „bedecken,  bekleiden"  3,  563  steht 
ganz  vereinzelt.  Desgleichen  kann  ich  an  Sprengers  ivüen  (Germ.  37, 
180  fg.)  nicht  glauben.  Etwa  das  verbum  velwen?  iLmUenen,  wollene 
trauergewänder  anlegen,  würde  gut  passen,  wenn  es  belegt  wäre.  — 
605,  29  Witwen  wählen  oft  das  geistliche  leben,  d.  h.  sie  nehmen  den 
Schleier  einer  nicht  zu  strengen  religiösen  genossenschaft  statt  ein  zwei- 
tes mal  zu  heiraten.  Das  ist  auch  ein  rat  der  kirche.  —  G06,  15  da 
wird  wol  in  die  zu  ändern  sein.  —  612,  2  1.  tmd  ez  ie  man  da  veile 
hänt.  —  612,  21  Die  etymologie  beruht  darauf,  dass  Ideine  schon  haupt- 
sächlich „klein,  gering"  heisst,  nicht  mehr  „zierlich".  Ähnlich  steht 
es  heute  mit  den  fällen,  wo  nur  blumen  geschenkt  werden  dürfen. 
Vgl.  Wälsch.  gast  1338  fgg.  —     613,  1   Lachmanns  änderung   ist  mir 


zu    ULRICH    VON    LIECHTENSTEIN  225 

Avenig  wahrscheinlich:  tut  die  frau  den  schrein  ihres  herzens  auf,  dann 
gibt  sie  ihrem  liebhaber  etwas,  ihre  minne,  heraus,  nicht  drin;  1.  iincl 
(ßt  im  reine  minnc,  so  kann  sie  trotz  612,  24  heissen,  vgl.  613,  12.  — 
613,  8  trthen  =  forttreiben,  austreiben,  wie  einen  leprosen.  Vgl.  Du 
Gange  5,  67:  Leprosi.  Vielleicht  ist  dabei  auch  an  das  femininum  trihe 
gedacht,  das  Berthold  von  Regensburg  braucht.  —  613,  21  sivachen 
mannen  wäre  möglich  trotz  des  Singulars  im  folgenden  verse.  Jedes- 
falls  sind  hier  beziehungen  der  ritterfrauen  zu  hausdienern  und  knech- 
ten gemeint.  Sie  scheuten  bei  ritterlichen  freunden  die  gefahren  der 
huote  615,  27  fgg.  —  614,  31  1.  g.  iu  ziio  g.  —  615,  8  1.  ie  minner.  — 
616,  18  fgg.  Vgl.  Wilda,  Strafrecht  858  fg.,  wo  allerdings  die  hier  an- 
gegebenen strafen  nicht  vorkommen.  Aber  Osenbrügger  hat  im  Alam. 
Strafrecht  die  entsprechenden  sätze  beigebracht.  —  618,  11  fgg.  Die 
vierte  kategorie  ledegiu  wip  sind  nach  620,  7  fgg.  626,  27  fgg.  628,  14 
unverheiratete  ihrem  vermögen  nach  selbständige  trauen,  die  über  sich 
selbst  verfügen  dürfen,  unter  keiner  Vormundschaft  stehen.  Auch  die 
fünfte  gruppe  friundin  scheinen  unverheiratet,  maitressen  620,  13  fgg. 
628,  31  fgg.  mit  17  von  rehtc  sind  huren  ausgeschlossen.  —  618,  32 
man  der  hs.  kann  bleiben.  —  619,  11  Vielleicht  wa?i  er%.  —  Zu  622, 
7.  9.  11.  13.  17  ist  zu  vergleichen  Freidauk  60,  13.  88,  26.  90,  5.  26; 
84,  14.  90,  7;  90,  1.  88,  25;  89,  3.  —  622,  16  I.  des  lop  im  üf  da 
hohe  gät.  —  624,  7  fgg.  Der  unterschied  zwischen  dem  ersten  und 
zweiten  falle  liegt  in  der  grösseren  dringlichkeit,  mit  der  hier  der  rat 
gegeben  wird.  —  625,  19  1.  füegt  sich  — .  —  629,  13.  15  1.  wil  si 
sin  ah  niht  xe  koneman  (Lexer  1,  1673)  —  so  sols  doch  lös  mit  im 
ie  sin.  Vgl.  632,  3  lös  =  kokett.  Denn  das  adj.  mitlös  wäre  in  einer 
weise  gebildet,  wie  sie  rahd.  sonst  nicht  vorkommt;  mitesam  ist  nicht 
zu  vergleichen.  —  630,  20  1.  dax  er  st  xe  — .  —  634,  1  1.  und  lät 
in  ir  libes  e.  phl.  —  634,  6  1.  daz  hat  man  für  u.  n.  —  636,  2  1. 
ivan  gejeit,  so  jage,  so  jage  öt  dar.  —  636,  13  1.  dax  beivärni.  — 
638,  20  Vielleicht  von  der  h.  lt.,  denn  die  ewige  Seligkeit  vor  gott  zu 
pfände  setzen,  wäre  doch  wunderlich.  —  638,  29  guot  vor  tvip  wird 
das  reimwort  des  fehlenden  verses  sein.  Vgl.  639,  9.  16. —  640,22  fgg. 
Vgl.  MSF.  23,  11  fg.  —  642,  1  siht  einzuschalten  ist  bei  der  beschaf- 
fenheit  von  Ulrichs  versen  überflüssig.  —  644,  3  fgg.  Die  rollen  sind 
vertauscht,  die  koraposition  geht  in  die  brüche. 

GRAZ,  FASTNACHT  1895.  A^s^TON  E.  SCHÖXBACH. 


ZEITSCURIFT    F.    DEUTSCHE    PHILOLOGIE.      BD.   XXVIII. 


15 


226 


ZUM  GOETHETEXT. 

1.  Band  26  der  "Weimarer  ausgäbe  enthält  den  ersten  teil  von 
„Dichtung  und  Wahrheit"  und  am  Schlüsse  den  abdruck  eines  hand- 
schriftlichen auszuges  von  „Manon  Lescaut",  der  von  Kiemers  hand, 
vermutlich  unter  Goethes  diktat,  geschrieben  und  von  Goethe  mit  blei- 
stift  durchkorrigiert,  schliesslich  aber  doch  nicht  in  die  biographie  auf- 
genommen worden  ist.     Den  schluss  desselben  bilden  (s.  381)  die  worte: 

„  Der  mittelmässigste  Roman  ist  noch  immer  besser  als  die  mittel- 
mässigen  Leser;  ja  der  schlechteste  participirt  etwas  von  der  Vortreff- 
lichkeit des  ganzen  Genies." 

Die  kurze  bemerkung  über  den  Zusammenhang  habe  ich  im 
Interesse  des  lesers  vorausgeschickt,  und  füge  nun  noch  hinzu,  dass 
man  das  Riemersche  blatt  getrost  noch  einmal  prüfen  möge,  um  die 
richtige  lesung  zu  finden.  Denn  „des  ganzen  Genies"  ist  unverständ- 
lich, aber  Riemer  hat  zweifellos  geschrieben:   „des  ganzen  Genres". 

2.  Ich  habe  den  eindruck,  dass  die  schritten  der  Goethe-geseU- 
schaft  sehr  sorgfältig  korrigiert  werden  und  erinnere  mich  nicht,  sinn- 
störenden druckfehlern  begegnet  zu  sein.  Darum  sei  kurz  bemerkt,  dass 
bd.  2  s.  166  oben  es  natürlich  heissen  muss: 

„Der  sumpfige  Theil  ist  mit  einem  Wassergras  bewachsen  und 
muss  sich  auch  dadurch  nach  und  nach  heben,  obgleich  Ebbe  und 
Fluth  beständig  daran  rupfen  und  wühlen  und  der  Vegetation  keine 
Ruhe  lassen." 

Im  druck  steht  haben  statt  heben. 

3.  Dagegen  will  ich  noch  auf  ein  unliebsames  versehen  aufmerk- 
sam machen,  das  zwar  nicht  einen  Goethischen  text  selbst  geschädigt 
hat,  aber  doch  einen  auf  den  dichter  bezüglichen  bericht  ärgerlich 
entstellt. 

Im  Goethe -Jahrbuch  bd.  14,  1893  hat  0.  Günther  briefe  von 
Lotte  Kestner  und  ihrer  tochter  Clara  veröffentlicht,  welche  über  ihren 
besuch  in  Weimar  im  jähre  1816  und  über  ihre  persönlichen  beziehun- 
gen  mit  Goethe  nachricht  geben.  Leider  fehlt  jede  nähere  angäbe  über 
diese  briefe,  und  es  ist  nicht  einmal  gesagt,  wo  und  in  welcher  Samm- 
lung sie  sich  befinden. 

Auf  s.  286  (mitte)  schreibt  Clara  Kestner  über  einen  besuch  bei 
Goethe  unter  anderem  folgendes: 

„Nach  Tisch  fragte  ich  nach  einer  sehr  schönen  Zeichnung  die 
immer  meine  Augen   auf  sich  zog,    er  Hess  sie  mir  herunter  nehmen 


ZUM    GOETIIETEXT  227 

und  erzählte  mir  sehr  artig  die  Geschichte  davon,  sie  war  von  einer 
dame,  Julien  dachte  er  mit  grosser  Auszeichnung  und  besonders  ihres 
Talents." 

So  steht  gedruckt,  und  es  liegt  auf  der  liand,  dass  der  satz  durch 
eine  lücke  hinter  dem  werte  Julien  unverständlich  geworden  ist. 
Möglich  wäre,  dass  in  der  druckerei  eine  zeile  ausgefallen  ist;  aber 
wahrscheinlicher  ist,  dass  der  fehler  im  manuskript  begangen  wurde. 
Nach  „Julien"  ergänzt  sich  mit  ziemlicher  Wahrscheinlichkeit:  „von 
Egloffstein",  und  sehr  viel  mehr  als  etwa:  „dieser  dame"  wird  im  fol- 
genden schwerlich  ausgefallen  sein,  so  dass  wahrscheinlich  eine  zeile 
übersprungen  worden  ist,  als  man  von  dem  Originalbriefe  abschrift 
nahm.     Vermutungsweise  wird  man  also  ergänzen  können: 

.  .  .  „sie  war  von  einer  Dame,  Julien  (von  Egloffstein.  Dieser 
Dame  ge-)  dachte  er  mit  grosser  Auszeichnung"  usw. 

Vielleicht  ist  es  der  mühe  ^vert,  noch  auf  eine  kleinigkeit  hinzu- 
weisen, welche  als  ein  gutes  beispiel  für  die  wandelungen  des  Sprach- 
gebrauchs gelten  kann. 

Am  Schlüsse  jenes  aufsatzes  (s.  289)  v/inl  aus  einem  briefe  von 
Clara  Kestner  noch  eine  äusserung  ihrer  mutter  mitgeteilt:  In  Weimar 
falle  ihr  besonders  noch  eins  auf:  „man  hat  hier  so  fatale  Vorurtheile 
gegen  den  Adel,  viel  ärger  als  bei  uns." 

Erwägt  man  den  Zusammenhang,  die  persönlichkeiten  von  mutter 
und  tochter  Kestner  und  vor  allem  die  bekannten  damaligen  gesell- 
schaftlichen zustände  von  Weimar  wie  von  Hannover,  so  können  diese 
werte  unmöglich  etwas  anderes,  als  verurteile  zu  gunsten  des  adels, 
bevorzugung  des  adels  bedeuten. 

Heutzutage  dagegen  würde  der  ausdruck  verurteile  gegen  den 
adel  in  keinem  anderen  als  im  feindseligen  sinne  verstanden  ^verden 
können. 

KffiL,    APRIL    1895.  A.    SCHÖNE. 


15^ 


228 


OSKAE  ERDMANN. 

(Gedächtuisworte,   gesprochen  am  17.  juni  1895   in  der  aula  der  Universität  zu  Kiel.) 

Hocliausebuliche  Versammlung!  Während  unsere  stadt  die  letzte  band  anlegt, 
um  sich  zu  dem  grossen,  nahe  bevorstehenden  feste  zu  schmücken,  und  überall  fröh- 
lich die  flaggen  und  wimpel  flattern,  hat  unsere  Universität  ihre  fabne  auf  halbmast 
gehisst,  um  einem  ihrer  mitglieder  die  letzte  ehre  zu  erweisen.  Zuni  zweiten  male 
innerhalb  weniger  nionden  hat  die  philosophische  fakultät  und  mit  ihr  die  gesammte 
bocbschule  den  tod  eines  hochverdienten  und  hochgeachteten  gelebi-ten  zu  beklagen, 
und  der  frische  Verlust  ruft  noch  einmal  die  erinnerung  an  den  vorausgegange- 
nen coUegen  wach ,  zumal  da  das  leben  und  das  Schicksal  der  beiden,  die  so  schnell 
sich  gefolgt  sind,  in  so  merkwürdiger  weise  übereinstimmen.  Beide  sind  der  deut- 
schen Ostmark  entsprossen,  die  in  grauer  vorzeit  die  heimat  des  reichbegabtesten  und 
zugleich  unglücklichsten  germanischen  Stammes  gewesen  ist,  dann  aber  für  Jahrhun- 
derte von  Litauern  und  Slaveu  überschwemmt  wai',  bis  das  schwort  der  Ordensritter 
den  altgermanischen  boden  für  Deutschland  und  die  deutsche  cultur  zurückgewann; 
beider  wiegen  standen  in  protestantischen  pfarrhäusern ,  die  unserem  volke  schon  so 
viele  hervorragende  männer  erzogen  haben;  beide,  die  auf  der  Berliner  Universität 
als  studierende  gemeinsame  ziele  verfolgten  und  hier  auch  persönlich  sich  nahe  traten, 
haben,  nachdem  sie  längere  zeit  im  schulfache  tätig  w'aren,  durch  opfer  und  entbeh- 
rungeu  mit  eiserner  energie  den  weg  zu  der  akademischen  lauf  bahn  sich  eröffnet,  sie 
sind  dann  endlich  hier  wider  zusammengetroffen,  um  noch  eine  kurze  reihe  von  jäh- 
ren segensreich  neben  einander  zu  wirken  —  und  beide,  die  fast  noch  auf  der  mit- 
tagshöhe  des  lebens  standen,  bat  nun  kurz  hintereinander  ein  jäher  tod  ereilt: 
Gustav  Glogau,  nachdem  ei'  kaum  den  geheiligten  boden  Attikas,  das  land  seiner 
Sehnsucht,  betreten,  wird  dort  das  opfer  eines  grausamen  missgeschickes ,  und  Oskar 
Er d mann  kehrt  aus  dem  deutschen  Athen,  wo  jetzt  alljährlich  in  der  lieblichen 
pfingstzeit  die  Goethegemeinde  dem  andenken  an  den  grössten  genius  unseres  volkes 
pietätvoll  huldigt,  aus  den  idyllischen  tälern  Thüringens,  in  denen  er  erholuug  zu 
finden  hoffte,  zu  dem  häuslichen  herde  nur  zurück,  um  hier  zu  sterben. 


Die  lebensgeschichte  unseres  verewigten  coUegen  ist  einfach ,  wie  dies  bei  deut- 
schen gelehrten  zu  sein  pflegt.  Hermann  Oskar  Theodor  Erdmann  wurde  am 
14.  februar  1846  zu  Thorn  geboren,  der  altehrwürdigen  Weichselstadt,  von  der 
ja  gegenwärtig,  seit  Gustav  Freytag  sie  so  anschaulich  geschildert,  alle  gebil- 
deten ein  greifbares  bild  vor  äugen  haben.  Sein  vater\  aus  einem  alten  prediger- 
geschlechte  stammend  —  schon  der  grossvater  und  der  urgrossvater  unseres  freundes 
waren  geistliche  gewesen  —  wirkte  dort  seit  mehreren  jähren  als  pfarrer  au  der  neu- 
städtischen kirche,  wurde  aber  schon  1855  nach  Altfelde  im  Marienburger  werder 
versetzt.  Von  ihm  empfieng  der  knabe  den  ersten  Unterricht,  bis  er  1859,  für  die 
secunda  reif,  das  Thorner  gymnasium  bezog.  Hier  wird  Wilhelm  Arthur  Passow 
(der  söhn  des  Breslauer  philologen),  der  erst  vor  kurzem  als  direkter  an  die  etwas 
verwahrlcste  austalt  berufen  Avar  und  sie  schnell  zur  blute  brachte,  in  Erdmann  die 
liebe  zur  altertumswissenschaft  geweckt  oder  die  von  dem  geistig  bedeutenden  vater 
gelegten  keime  durch  die  macht  seiner  persönlichkeit,  die  auf  keinen  der  begabteren 
Schüler  ihre  Wirkung  verfehlte,  gefördert  haben.  Nach  glänzend  bestandenem  matu- 
ritätsexamen    gieng    Erdmanu    im    herbst   1863    nach  Leipzig,    um    klassische    und 


NEKROLOG  229 

germanisclie  philologie  zu  studieren.  Von  den  professoren ,  die  damals  dort  lehrten, 
scheinen  ihn  Zarncke  durch  die  sprudelnde  lebendigkeit  seines  geistvollen  Vortrages 
und  Georg  Curtius  durch  seine  ruhige  klarheit  besonders  angezogen  zu  haben,  da 
er  keine  Vorlesung,  die  von  diesen  beiden  angekündigt  wurde,  versäumte;  dass  aber 
der  ideal  angelegte  jüngling  sich  nicht  dai'auf  beschränkte,  das  zu  hören,  was  für 
examen  und  amt  unbedingt  nötig  war,  versteht  sich  von  selbst:  so  Hess  er  von 
Joh.  Overbeck  das  Verständnis  für  die  herrlichkeit  der  hellenischen  kunst  sich  eröff- 
nen und  erstreckte  auf  dem  gei-manistischen  gebiete  seine  Studien  auch  auf  das  damals 
infolge  der  unzureichenden  hilfsniittel  noch  schwer  zugängliche  altnordische.  An 
der  Berliner  hochschule,  die  er  im  herbst  1865  bezog,  waren  Müllenhoff,  der 
bedeutenden  einfluss  auf  ihn  gewann,  Mor.  Haupt,  Kirchhoff,  Trendelenburg 
und  Stein thal  seine  lehrer.  Ihren  abschluss  fanden  seine  akademischen  studicn 
auf  der  Universität  der  heimatlichen  provinz,  an  der  er  die  letzten  beiden  semester 
(herbst  66  bis  herbst  67)  verbrachte:  hier  hat  Oskar  Schade,  der  in  seinen  semi- 
naiübungen  mit  besonderer  vorliebe  Otfrid  zu  interpretieren  pflegte,  Erdmanns 
Interesse  für  die  ahd.  Messiade  erregt,  der  er  später  eine  so  erfolgreiche  tätigkeit 
zugewendet  hat;  ausserdem  hörte  er  nur  noch  Lehrs,  Friedländer  und  den  histo- 
riker  Nitzsch,  einst  auch  die  zierde  unserer  Christiana- Albertiua,  mit  dem  er  von 
mütterlicher  seite  verwandt  war^  Im  herbst  1867  promovierte  er  zu  Königsberg  mit 
einer  abhandlung  über  die  syntax  des  Pindar^  —  die  wähl  des  Stoffes  ist  symptoma- 
tisch ,  da  syntaktische  Untersuchungen  das  hauptgebiet  seiner  forschung  geblieben  sind. 
Zu  derselben  zeit  bestand  er  auch  das  examen  pro  facultate  docendi,  unterrichtete 
während  seines  probejahrs  am  Friedrichscollegium  zu  Königsberg  und  ward  1868  am 
gymnasium  zu  Graudenz  angestellt,  wo  er  wenige  jähre  darauf  (1871)  auch  einen 
eigenen  hausstand  begi'ündete. 

Hier  in  Graudenz  kam  ihm  —  es  war  eine  fügung,  die  für  sein  späteres  Schick- 
sal entscheidend  sein  soUte  —  das  Preisausschreiben  der  Wiener  akademie  vom  28.  mai 
1869  in  die  bände,  die  eine  testamentarisch  gestiftete  summe  von  500  gülden  für  eine 
darstellung  von  Otfrids  syutax  aussetzte'*.  Erdmann,  der  kurz  vorher  schon  eine 
kleine  studie  über  Otfrid  veröffentlicht  hatte*,  war  sofort  entschlossen  sich  um  die- 
sen preis  zu  bewerben,  und  es  gelang  ihm,  trotz  der  vielfachen  arbeit,  die  das 
schulamt  ihm  auferlegte,  mit  aufbietung  aller  seiner  kräfte  das  werk  rechtzeitig  zu 
vollenden  und  einzuschicken.  Der  erfolg  war  mehr  als  zweifelhaft  —  denn  es  war 
vorauszusehen,  dass  anerkannte  kenuer  Otfrids  an  der  concurrenz  sich  beteiligen  wür- 
den. Um  so  grösser  war  die  freude,  als  im  sommer  1871  von  "Wien  die  nachricht 
eintraf,  dass  Erdmann,  der  imbekannte  gymnasiallehrer,  die  palme  errungen  habe. 
Die  „Untersuchungen  über  die  syntax  der  spräche  Otfrids",  welche  1874  —  76  in 
2  bänden  zu  HaUe  erschienen  und  von  der  kritik  mit  einstimmigem  lobe  begrüsst 
wurden",  lenkten  dann  die  aufmerksamkeit  weiterer  kreise  auf  den  jungen  Verfasser. 
Professor  Julius  Zacher  in  Halle,  der  kurz  zuvor  eine  Sammlung  commentierter 
ausgaben  von  altdeutschen  litteraturdenkmälern  ins  leben  gerufen  hatte ,  übertrug  ihm 
für  diese  „Germanistische  handbibliothek"  die  bearbeitung  des  Otfrid.  Um  diese  aus- 
zuführen, war  eine  nochmalige  vergleichung  der  handschriften  unbedingt,  erforderlich. 
Erdmann,  der  iuswischen  (1874)  an  das  neubegrüudete  Wilhelms -gymnasium  in  Kö- 
nigsberg berufen  war,  wo  er  bald  zum  Oberlehrer  aufrückte,  unternahm  deshalb  im 
Sommer  1879  eine  reise  nach  "Wien,  wo  er  die  dort  befindliche,  wahrscheinlich  von 
Otfrid  eigeubäudig-  corrigierte  handschrift  genau  untersuchte  und  im  am-egenden  ver- 
kehr mit  den   dortigen   gelehrten   geuussreiche  wochen,    die   er  selbst  immer  zu  den 


230  GERING 

schönsten  seines  lebens  gerechnet  hat,  verbrachte.  Die  Heidelberger  handschrift  durfte 
er  diu-ch  die  dankenswerte  liberalität  der  grossherzogl.  bibliotheksverwaltung  in  Kö- 
nigsberg selbst  benutzen.  Die  ergebnisse  dieser  neuen  coUationen  stellte  Erdmann  in 
seiner  Schrift  „Über  die  Wiener  und  Heidelberger  handschrift  des  Otfrid"  zusammen, 
die  infolge  eines  gutachtens  von  MüUenhoff  1880  in  den  abhandlimgen  der  königl. 
akademie  der  Wissenschaften  zu  Berlin  veröffentlicht  ward'.  Zwei  jähre  später  erschien 
dann  bereits  die  grosse,  mit  Variantenapparat,  ausführlicher  einleituug  und  reichhal- 
tigem commentar  versehene  ausgäbe  in  der  „Germauist.  handbibliothek"  (Halle  1882), 
und  fast  gleichzeitig  auch  ein  kleiner,  für  den  gebi-auch  in  Vorlesungen  bestimmter 
abdruck  des  textes  mit  kurzem  glossar^. 

Der  erfolg,  den  diese  wissenschaftlichen  publicationen  hatten,  und  der  glück- 
liche umstand,  dass  Erdmaun  in  einer  Universitätsstadt  angestellt  war,  hatten  ihn 
inzwischen  zu  dem  entschlusse  bewogen,  seine  kräfte  und  fähigkeiten  auch  der  stu- 
dierenden Jugend  nutzbar  zu  machen.  Er  habilitierte  sich  daher  im  sonimer  1883  in 
Königsberg  und  eröffnete  seine  akademische  tätigkeit  am  20.  juni  mit  einer  antritts- 
vorlesung  über  die  geschichtliche  entwickelung  der  deutschen  syntax.  Aber  die  lasten, 
die  der  doppelte  beruf  ihm  auferlegte,  machten  sich  bald  fühlbar,  und  er  begrüsste 
es  daher  als  eine  erlösung,  als  er  im  sommer  1885  als  ausserordentlicher  professor 
nach  Breslau  berufen  ward,  wenn  auch  seine  materielle  läge  dadurch  nicht  uner- 
heblich sich  verschlechterte.  Zunächst  aber  machte,  nachdem  die  Übersiedelung 
erfolgt  war,  der  gesundheitszustand  Erdmanns  einen  längeren  aufenthalt  in  einem 
schlesischen  kurorte  notwendig,  der  ihn  anscheinend  wider  herstellte,  aber  ein  ver- 
borgenes übel  nicht  mehr  vollständig  beseitigen  konnte.  Schon  ehe  er  der  kur  sich 
unterzog,  war  trotz  der  körperlichen  leiden  der  erste  band  seiner  Grundzüge  der  deut- 
schen Syntax  zum  abschlusse  gebracht  worden;  er  erschien  1886  zu  Stuttgart^.  Der 
zweite  band  ist,  obgleich  die  vorarbeiten  dazu  längst  vollendet  sind  —  die  Samm- 
lungen für  das  werk  liatte  er  bereits  als  gymnasiallehrer  begonnen  —  leider  nicht 
erschienen,  doch  ist  aussieht  vorhanden,  dass  ein  schüler  des  verstorbenen  aufgrund 
des  nachgelassenen  handschriftlichen  materials  das  werk  vollenden  wird^".  —  Diese 
Grundzüge  sind  das  letzte  buch,  das  Erdmann  veröffentlichte:  weder  in  seinen  Bres- 
lauer Jahren,  wo  er,  um  seine  einnahmen  zu  vermehren,  die  leitung  einer  belletri- 
stischen monatsschriff  übernommen  hatte,  noch  hier  in  Kiel,  wo  er  als  nachfolger 
Vogts,  nachdem  er  schon  früher  einmal  vorgeschlagen  war,  seit  dem  herbst  1889 
als  ordentlicher  professor  gewirkt  hat,  hat  er  Sammlung  und  müsse  zu  andauern- 
der produktiver  arbeit  finden  können  —  die  berufsgeschäfte,  neue  Vorlesungen,  exa- 
mina,  hier  in  Kiel  dann  auch  die  leitung  der  Zeitschrift  für  deutsche  philolo- 
gie,  in  deren  redaction  er  auf  meine  bitte  unmittelbar  nach  seiner  Übersiedelung 
hierher  eintrat  und  für  die  er  mit  unermüdlichem  eifer  und  seltenem  organisato- 
rischem geschick  tätig  war,  wie  er  auch  durch  eigene  kleine  aufsätze  und  recensioneu  sie 
förderte*-  —  alles  dies  war  vollauf  genügend,  seine  kräfte  zunächst  ganz  in  ansprach 
zu  nehmen.  Als  er  sich  in  den  neuen  Verhältnissen  eingerichtet  hatte  und  freier  zu 
atmen  begann,  fasste  er  den  plan  zu  einer  ausgäbe  des  Hartmannschen  Gi'egorius,  in 
welcher  die  neuentdeckten  handschriften,  die  er  bereits  copiert  oder  verglichen  hatte, 
zur  herstellung  eines  kritischen  textes  verwendet  werden  sollten,  gab  das  unterneh- 
men aber  auf,  sobald  er  erfuhr,  dass  ein  anderer  gelehrter  für  dasselbe  werk  bereits 
umfangreiche  vorarbeiten  gemacht  habe^''.  Da  wurde  inr  vorigen  jähre  von  der  lei- 
tenden stelle  aus  die  anfrage  an  ihn  gerichtet,  ob  er  bereit  sei,  au  dem  grossen 
nationalwerke  mitzuwirken,    das    die  begründer   unserer  Wissenschaft,    die    gebrüder 


NEKROLOG  231 

Grimm,  begonnen  haben  und  das  noch  immer  der  Vollendung  harrt  —  und  nach  kur- 
zem schwanken  sagte  er  zu.  Mit  grösster  begeisterung  nahm  er  sogleich  die  arbeit 
an  dem  Deutschen  wörterbuche  auf,  für  das  er  den  von  Lexer  noch  nicht  erledigten 
rest  des  T  und  das  U  übernommen  hatte,  und  wir  durften  hoffen,  zumal  ihm  auf 
seinen  wünsch  eine  jüngere  kraft  als  helfer  und  mitarbeiter  an  die  seite  gesetzt  wor- 
den war,  dass  die  ersten  lieferungen  von  seiner  band  uns  bald  vorliegen  würden. 
Auch  diese  hoffnuug  hat  sein  vorzeitiger  tod  vereitelt,  und  der  abschluss  des  riesen- 
werkes,  an  dem  nun  schon  fast  ein  halbes  Jahrhundert  hindurch  eine  generation  nach 
der  anderen  arbeitet,  ist  wider  weiter  in  unabsehbare  ferne  gerückt. 

AVar  somit  die  wissenschaftliche  tätigkeit  Erdmanns  in  seinen  letzten  lebens- 
jahren  eine  beschränkte,  so  hat  er  mit  um  so  grösserem  eifer  und  erfolg  seines  aka- 
demischen lehramtes  gewaltet.  Schon  in  Breslau  erfreuten  sich  seine  Vorlesungen 
eines  lebhaften  Zuspruches.  Er  las  dort  nicht  nur  über  altdeutsche  grammatik  und 
metrik  und  über  hervorragende  werke  der  alt-  und  mittelhochdeutschen  zeit  (Otfrid, 
Hartmann,  Gudrun"),  sondern  er  behandelte  in  seinen  coUegien  auch  mit  besonderer 
verliebe  die  heroen  der  zweiten  blütenepoche  unserer  litteratur.  Lessing,  Goethe ^^ 
und  Schiller;  und  dass  er  hier  seinem  auditorium  reiche  am'egungeu  bot,  beweist  die 
immer  steigende  zahl  der  commilitonen,  die  um  sein  katheder  sich  scharten  und  keines- 
wegs der  philosophischen  fakultät  allein  angehörten.  Hier  in  Kiel  hat  er  dann  den  kreis 
seiner  Vorlesungen  noch  beträchtlich  erweitert.  Vor  allem  sind  hier  zu  nennen  die 
grösseren  litteraturgeschichtlichen  collegia  über  die  ältere  periode  bis  zui'  reformation 
und  über  das  18.  Jahrhundert,  das  ihm  durch  Specialstudien  besonders  vertraut  war  — 
er  gehörte  zu  den  wenigen,  die  Klopstock'®  nicht  nur  gelesen,  sondern  gründlich 
studiert  haben  und  von  seiner  genauen  bekauntschaft  mit  der  epoche  der  Stürmer  und 
dränger  zeugen  zwei  kleine  noch  in  Königsberg  verfasste  abhandlungen  über  Klin- 
ger*' sowie  mehrere  recensionen  in  gelehi'ten  Zeitschriften'^  —  ferner  eine  ausführ- 
liche Vorlesung  über  das  Nibelungenlied*^  und  ein  publicum  über  stoff  und  methode 
des  deutschen  Unterrichts,  einen  gegenständ,  über  den  er  infolge  seiner  langjährigen 
tätigkeit  als  praktischer  Schulmann  seinen  zuhörern  die  reichsten  erfahruugen  und  die 
fruchtbarsten  winke  für  ihren  späteren  beruf  mitzuteilen  im  stände  war-°. 

Auch  in  diesem  semester  hatte  er  wider  einen  verhältnismässig  grossen  kreis 
lernbegieriger  und  dankbarer  schüler  um  sich  versammelt,  denen  er  den  entwicke- 
lungsgang  unserer  litteratur  im  vorigen  Jahrhundert  schilderte  und  in  seinem  seminar 
das  vollendetste  werk  des  Hebenswürdigen  Hartmann  von  Aue  erklärte,  an  dem  seit 
den  tagen  Karl  Laehmanns  schon  unzählige  jünger  der  nationalen  Wissenschaft  die 
silberhelle  mhd.  spräche  und  die  regeln  ihres  fein  durchgebildeten  versbaus  gelernt 
imd  in  der  methode  der  textkiitik  sich  geübt  haben.  Waren  die  Vorbereitungen  für 
diese  Vorlesungen  und  die  redactionsgeschäfte  erledigt,  so  sass  Erdmann  bis  tief  in 
die  nacht  in  emsiger  arbeit  an  dem  wörterbuche.  Nach  so  angestrengter  tätigkeit 
hatte  er  das  bedürfnis,  sobald  ferien  eintraten,  dui'ch  kleinere  reisen  sich  zu  erho- 
len und  aufzufrischen.  So  begrüsste  er  denn  auch  diesmal  das  herannahen  des 
pfingstfestes  mit  freuden.  Er  wollte  die  wenigen  tage  dazu  benutzen,  um  in  Berlin 
und  Halle  liebe  veiwandte  und  freunde  zu  besuchen,  einen  kurzen  ausflug  in  das 
romantische  tal  der  Schw'arza  zu  machen  und  schliesslich  in  Weimar  an  der  general- 
versammlung  der  Goethe -■  gesellschaft  teilzunehmen.  Fröhlichen  herzens  trat  er  die 
reise  an  und  führte  sie  seinem  plane  entsprechend  aus.  Noch  in  Weimar  war  er 
anscheinend  völlig  gesund  imd  verkehrte  heiter  mit  den  freunden  imd  fachgenossen, 
die  er  dort   vorfand.     Aber  auf  der  heimfahrt  stellte  sich  ein  heftiges  übelbefinden 


232  GERINQ 

eiu,  und  als  er  in  der  naclit  vom  10.  zum  11.  hier  angelangt  war,  fand  der  am 
niorgen  herbeigerufene  hausarzt  den  zustand  schon  so  bedenklich,  dass  er  den  bei- 
rat  eines  älteren  coUegen  glaubte  in  auspruch  nehmen  zu  müssen.  AUe  angewandten 
mittel  erwiesen  sich  als  erfolglos,  und  am  mittwoch  ward  es  den  behandelnden  ärzten 
klar,  dass,  wenn  eine  rettung  überhaupt  noch  möglich  sei,  diese  nur  dui-ch  eine 
Operation  herbeigeführt  werden  könne.  Mit  männlicher  ruhe  und  kaltblütigkeit  gab 
der  kranke  seine  ein  willigung  zu  diesem  letzten,  verzweifelten  versuche,  der  leider 
vergeblich  war.  Am  abend  des  13.  ist  er  sauft  entschlafen,  nachdem  er  vor  wenigen 
monaten  das  49.  lebeusjahr  vollendet  hatte. 

Dieses  vorzeitig  abgeschlossene  leben  hätte  noch  schöne  fruchte  zeitigen  kön- 
nen, aber  es  ist,  so  kurz  es  war,  schon  ein  reiches  und  gesegnetes  gewesen.  Auf 
eine  ehrende  erwähnung  in  den  Jahrbüchern  der  germanischen  philologie  würde  Erd- 
maunschon  ansprach  machen  können,  wenn  er  nichts  als  seine  Untersuchung  über  die 
handschrlften  des  Ütfrid  veröifentHcht  hätte,  über  deren  gegenseitiges  Verhältnis  vor- 
her verschiedene  meüiungen  bestanden  hatten,  wenn  auch  Lachmanns  genialer  Intui- 
tion die  Priorität  des  Wiener  codex  bereits  klar  geworden  war  und  auch  Kelle  schon 
mit  gewichtigen  gründen  behauptet  hatte,  dass  dieselbe  handschrift  die  quelle  der 
übrigen  gewesen  sei.  Das  richtige  ist  hier  durch  Erdmann,  der  die  verschiedenen 
in  den  beiden  Codices  erkennbaren  schreiberhäude  zuerst  genau  unterschied,  mit  vol- 
ler evidenz  endgiltig  festgestellt  worden.  Als  ein  geradezu  bahnbrechendes  werk  ist 
sodann  seine  Otfridsyntax  zu  bezeichnen,  in  der  auf  einem  lange  vernachlässigten 
gebiete,  das  bekanntlich  auch  Jacob  Grimm  in  seiner  Deutschen  grammatik  nicht 
vollständig  durchmessen  hatte,  eine  musterleistung  schuf,  an  die  nachher  zahlreiche 
uacbfolger,  berufene  uud  unberufene,  angeknüpft  haben,  —  und  ebenso  musterliaft 
ist  seine  grosse  Otfridausgabe  durch  die  liebevolle  Versenkung  in  den  geist  des  alten 
elsassischen  dichters,  die  sorgfältige  beobachtung  seines  spi'achgebrauches  und  seiner 
verskunst,  und  die  nach  Weisung  der  mitunter  schwer  zu  ermittelnden  queUen.  Sodann 
hat  Erdmann  in  seinen  Grundzügen  zum  ersten  male  seit  Jac.  Grimm  wider  eine 
comparative  behandlung  der  deutschen  syntax  versucht,  freilich,  da  er  nur  das  goti- 
sche und  die  drei  perioden  des  hochdeutschen  in  den  kreis  seiner  betrachtung  zog,  in 
weit  engeren  grenzen,  als  sie  des  grossen  meisters  weitschauender  blick  umspannte  — 
dafür  aber  auch  mit  eingehenderer  erörterung  der  details. 

Unsere  Universität,  an  der  er  kaum  sechs  jähre  gelehrt  hat,  wird  dem  dahinge- 
schiedenen ein  dankbares  andenken  bewahren,  imd  allen,  die  ihn  kannten  und  schätz- 
ten, wird  der  treue  freund,  der  gerade  uud  furchtlose  manu,  der  aus  seinen  antipa- 
thieu  kein  hehl  machte,  aber  auch  mit  warmer  anerkennung  des  guten  und  tüchtigen 
nicht  kargte,  der  ehrliche,  besonnene,  zuverlässige  forscher  unvergesslich  sein.  Nicht 
vergebens  hat  er  gelebt,  und  ich  möchte  glauben,  dass  er  dem  finsteren  Schnitter, 
dessen  band  er  über  sich  sah,  deswegen  so  fest  ins  äuge  blickte,  weil  dieser  tröstende 
gedanke  ilm  umschwebte.  Denn  wenn  es  etwas  gibt,  das  uns  mit  der  nichtigkeit 
und  Vergänglichkeit  des  lebens  zu  versöhnen  im  stände  ist,  so  ist  es  das  bewusstseiu 
treu  erfüllter  pflicht  und  die  hoffnung,  dass  von  den  Samenkörnern,  die  wir  aus- 
gestreut, das  eine  oder  das  andere  aufgehe  und  fruchte  trage. 


Anmerkungen. 

1)  Hans  Hermann  Siegfried  Albert  Erdmann,  geb.  30.  december  1815  zu  Alt- 
felde, 1842  predigcr  der  St.  Georgeugemeinde  zu  Thorn,  1849  nach  Altfelde  versetzt, 


NEKKOLOG  233 

1855  superinteudeüt  daselbst,  dann  iu  Pr.  Holland,  schliesslich  (seit  1873)  in  Tilsit, 
wo  er  am  27.  febr.  1882  stai'b.  Vgl.  den  neki'olog  im  (Köuigsberger)  Evangelischen 
gememdeblatt  XXXVE  (1882)  nr.  11. 

2)  Erdmann  gehört  zu  der  nachkommenschaft  des  Wittenberger  general- 
snperintendenten  Karl  Ludwig  Nitzsch  (1751 — 1831),  die  eine  als  raanuscript  für 
die  familie  gedruckte  „Übersicht"  von  G.  Stier  (3.  ausg. ,  Zerbst  1884)  verzeichnet. 
Eine  verhältnissmässig  grosse  zahl  namhafter  gelehrten  ist  diesem  geschlechte  ent- 
sprossen: ausser  dem  im  texte  genannten  historiker  Mtzsch  der  zoologe  Chr.  Lud- 
wig Nitzsch  in  Halle  (1782  —  1837),  die  theologen  Karl  Imm.  Nitzsch  (1787  — 
1868;  prof.  in  Berhn)  und  Friedr.  Aug.  Berthold  Nitzsch  (prof.  in  Kiel);  der 
Philologe  Greg.  Wilh.  Nitzsch  (1790  — 1861,  prof.  in  Leipzig);  der  kürzhch  ver- 
storbene gymnasialdirektor  vmd  schulrat  Gottl.  Stier  in  Dessau  (1825  —  95);  der 
physiolog  Felix  Hoppe-Seyler  (prof.  in  Strassburg);  der  germauist  Friedr.  Vogt 
(prof.  in  Breslau)  u.  a. 

3)  De  Pindari  usu  sj-ntactico.     Halle  1867.     8. 

4)  S.  Ztsch.  VI,  252. 

5)  Bemerkungen  zu  Otfrid.     Ztschr.  I,  437  —  42. 

6)  Vgl  L.  Tobler,  Ztschi-.  VI,  243  —  48;  E.  Windisch,  JLZ  1874  nr.  45;  1876 
nr.  49;  P.  Piper,  Germania XIX,  437  —  43;  Holzmann,  Ztschr.  f.  völkerpsychol.  VHI,  4; 
E.  Kölbing,  Litt,  centr. -bl.  1877  nr.  3;  Eevue  critique  1876  nr.  22. 

7)  Vgl.  J.  Zacher,  Ztschr.  XII,  496  —  500. 

8)  Ein  ausschnitt  aus  dem  Otfridcommeutar  war  bereits  in  den  Beiträgen  ziu" 
deutschen  phüologie  (Halle  1880)  s.  85—  118  mitgeteilt  worden.  Die  übrigen  publi- 
cationen  Erdmanns  zur  Otfridphilologie  stelle  ich  nachstehend  kurz  zusammen:  Über 
Otfrid  n,  1,  1 — 38  (Progi-.  des  gymnasiums  zu  Graudenz  1873).  Zur  erklärang  Ot- 
frids,  Ztschr.  V,  338  —  49.  VI,  446 — 49.  Zur  ab  wehr  iu  Sachen  Otfrids ,  Litt,  centr. - 
bl.  1882,  sp.  982  nnd  Litt,  blatt  f.  germ.  u.  rem.  phil.  1882,  sp.  293  fg.  Anzeige  von: 
Otfrids  Evangelienbuch  hsg.  von  P.Piper,  Ztschr.  XI,  80  — 126.  Anzeige  von  Kelle, 
Glossar  zu  Otfrids  Evangehenbuch,  Ztschr.  XI,  238  —  39.  Kleine  nachtrage  zu  Otfrid, 
Ztschr.  XVI,  70.  Anzeige  von:  P.  Schütze,  Beiträge  zur  poetik  Otfrids,  Ztschr.  XX, 
380  —  81.  Anzeige  von:  Loeck,  Die  homilien- Sammlung  des  Paulus  Dlaconus  die 
unmittelbare  vorläge  Otfrids,  Ztschr.  XXIU,  474 — 75.  Anzeige  von:  Tesch,  Zur 
entstehungsgeschichte  des  Evangelienbuches  von  Otfrid,  Ztschr.  XXIV,  120 — 122. 
Anzeige  von:  Ingenbleek,  Der  einfluss  des  reimes  auf  Otfrids  spräche,  Anz.  f.  d.  alt. 
VI,  219  —  21.  Anzeige  von:  Sobel,  Die  accente  in  Otfrids  Evangehenbuch,  Anz.  f.  d. 
alt.  IX,  239  —  41. 

9^  Die  ungünstigen  Verhältnisse,  die  während  der  ausarbeitung  des  buches 
obwalteten,  haben  leider  den  Verfasser  verhindert,  seine  materialsammlungen  zu  ver- 
vollständigen (wie  denn  das  niederdeutsche  und  die  litteratur  des  15.  Jahrhunderts 
gänzlich  unberücksichtigt  geblieben  sind)  und  verschiedene  kleine  Unebenheiten  ver- 
anlasst. Gleichwol  sind  die  scharfen  angriffe,  die  einzelne  kritiker  gegen  das  werk 
richteten,  zum  grösseren  teile  unberechtigt.  Vgl.  H.  Paul,  Litt,  centr. -bl.  1886,  nr.  5; 
0.  Behaghel,  Litt.  bl.  f.  germ.  u.  roraan.  phil.  1887,  nr.  5;  John  Eies,  Deutsche  lit. 
ztg.  1887,  nr.  20;  K.  Tomanetz,  Anz.  f.  d.  alt.  XIV,  1  —  32  imd  Ztschr.  f.  d.  österr. 
gymnasien  XXXLS,  72  —  76;  H.  KHnghardt,  Ztschr.  f.  d.  phil  XXI,  110—116; 
E.  Maiiin,  Ztschr.  f.  d.  deutschen  Unterricht  I,  562  fgg.  Auf  zwei  dieser  recensionen 
hat  Erdmann  sich  veranlasst  gesehen  zu  antworten:  s.  Litt.  bl.  f.  germ.  u.  rom.  phi- 
lo! 1887,  sp.  328  —  29  und  Deutsche  litt. -ztg.  1887  nr."26. 


234  GERING 

10)  Wie  eifrig  Erdniaun  alle  neucrca  orscheinungen  auf  dem  gebiete  der  deut- 
schen Syntax  verfolgte,  beweist  die  stattliche  reihe  von  recensioneu,  die  er  in  unsere 
Zeitschrift  und  m  den  Anzeiger  für  deutsches  altertum  lieferte:  Anzeige  von:  Biu'ck- 
hardt,  Der  gotische  conjimctiv,  Ztschr.  IV,  455  —  59;  von:  A.  Köhler,  Der  syntaktische 
gebrauch  des  Optativs  im  gotischen,  Ztschr.  V,  212  —  216;  von:  Piper,  Über  den 
gebrauch  des  dativs  im  Ulfilas,  Heliaud  und  Otfrid  —  MoUer,  Über  den  instrumen- 
tal im  Heliand  und  das  homerische  suflix  y;*  —  Arndt,  Versuch  einer  Zusammenstel- 
lung der  altsächs.  declination  und  coujugation  und  der  wichtigsten  regeln  der  syntax, 
Ztschr.  VI,  120  — 126;  von:  Apelt,  Bemerkungen  über  den  acc.  c.  inf.  im  ahd.  und 
mhd.,  Ztschr.  VII,  244  —  46:  von:  Kynast,  Die  temporalen  adverbialsätze  bei  Hart- 
manu  von  Aue,  Ztschr.  XIII,  128;  von:  Eoetteken,  Der  zi;sammengesetzte  satz  bei 
Berthold  von  ßegensburg,  Ztschr.  XVII,  128;  von:  UUsperger,  Über  den  modusge- 
brauch in  mhd.  relativsätzen;  von:  Wunderlich,  über  den  satzbau  Luthers,  Ztschi". 
XXII,  491 — 93;  von:  Schachinger,  Die  congruenz  in  der  mhd.  spräche,  Ztschr. 
XXni,  378  —  79;  von:  WunderUch,  Der  deutsche  satzbau,  Ztschr.  XXVI,  275  —  77; 
von:  Poeschel:  Die  Stellung  des  Zeitwortes  nach  «.«rZ,  Ztschr.  XXVII,  266  —  72;  von: 
Behaghel:  Die  modi  im  Heliaud,  Anz.  f.  d.  alt.  III,  79  —  86;  von:  Bock,  Über  einige 
fäUe  des  conjunctivs,  Anz.  f.  d.  alt.  IV,  342  —  51;  von:  Behaghel,  Die  Zeitfolge  der 
abhängigen  rede  im  deutscheu,  Anz.  f.  d.  alt.  V,  364  —  71;  von:  Tomanetz,  Die  rela- 
tivsätze  bei  den  ahd.  Übersetzern  des  8.  und  9.  Jahrhunderts,  Anz.  f.  d.  alt.  V,  371  — 
373;  von:  Rost,  Die  syntax  des  dativus  im  ahd.  und  in  den  geistlichen  dichtungen 
der  Übergangsperiode  zum  mhd.,  Anz.  f.  d.  alt.  VI,  87  —  88;  von:  Maurer,  Die  wider- 
holuug  als  priucip  der  bildung  von  relativsätzen  im  ahd.,  Anz.  f.  d.  alt.  VII ,  195  —  96; 
von:  Eies,  Subject  und  praedicatsverbum  im  Heliand,  Anz.  f.  d.  alt.  VII,  191  —  95; 
von:  Hittmair,  Die  partikel  he  in  der  mittel-  und  neuhochd.  verbalcomposition ,  Anz. 
f.  d.  alt.  IX,  165  —  67;  von:  Kern,  Die  deutsche  Satzlehre,  Anz.  f.  d.  alt.  IX,  305  — 
306;  von:  Starker,  Die  Wortstellung  der  nachsätze  in  den  ahd.  Übersetzungen,  Anz. 
f.  d.  alt.  IX,  308  —  309;  von;  Dorfeid,  Die  fuuction  des  praefixes  ^-e  in  der  compositiou 
mit  verbis,  Anz.  f.  d.  alt.  XII,  178  —  79;  von:  UUsperger,  Der  modusgebrauch  iu 
mhd.  relativsätzen,  Anz.  f.  d.  alt.  XII,  352.  Dazu  kommen  noch  einige  kleinere  selb- 
ständige aufsätze  über  syntaktische  fragen:  Übei'  got.  ei  und  ahd.  thax,  Ztschr.  VIK, 
43  —  53;  Über  eiuteilung  und  benennung  der  nebensätze  in  der  deutschen  gramma- 
tik,  Zs.  f.  d.  deutschen  Unterricht  I,  157  — 172;  Zur  geschichthchen  betrachtuug  der 
deutschen  syntax,  Ztschr.  f.  völkerpsychol.  XV,  387  —  413;  Particip  des  praeteritums 
in  passivischer  bedeutung  mit  haben  statt  mit  sein  verbunden,  Ztschr.  XX,  226; 
Über  eine  conjectur  iii  der  neuen  Lutherausgabe  (bespricht  den  gebrauch  von  tat 
im  nachsätze) ,  Ztschr.  XXIII,  41  —  43;  Noch  einmaHäie  im  bedingungssatze,  Ztschi-. 
XXV,  431.  Syntaktisches  behandelt  auch  Erdmanns  uachtrag  zu  Fränkels  besprechimg 
der  Festschriften  für  E.  Hildebraud  (Ztschr.  XXVII,  415  —  16),  und  ebenso  sind  seine 
recensionen  von  Sievers'  ausgäbe  der  Murbacher  hymuen  (Ztschr.  VI,  236  —  42) 
und  von  dem  Ergänzungsbande  zur  Ztschr.  f.  deutsche  philol.  (Wissensch.  monatsbU. 
1875,  s.  54  —  60)  zum  grösseren  teile  syntaktischen  Inhalts. 

11)  Nord  imd  süd,  wo  er  auch  später  noch  kurze  besprechungen  über  werke 
der  schönen  litteratur  veröffentlichte. 

12)  Ich  stelle  die  recensionen,  soweit  sie  nicht  an  anderer  stelle  erwähnt  sind, 
hier  zusammen.  Anzeige  von:  H.  Eoetteken,  Die  epische  kunst  Heinrichs  v.  Vel- 
deke  und  Hartmanns  von  Aue,  Ztschr.  XXIII,  354;  von:  Heyne,  Deutsches  Wörter- 
buch,  Ztschr.  XXIII,  362  —  64  und  XXVI,  132  —  34:    von:    Eberhard -Lyon,   Syno- 


NEKROLOCr  235 

nym.  handwörterbuch  clor  deutscheu  spräche,  Ztschr.  XXIII,  364  —  65;  von:  Kelle, 
Uatersuchungen  zur  Überlieferung,  Übersetzung  und  grammatik  der  psalmen  Notkers, 
Ztschr.  XXIII,  380  —  81;  von:  Wustmann,  Allerhand  sprachdummheiteu ,  Ztschr. 
XXIV,  560—62;  von:  Kelle,  Geschichte  der  deutsch,  litteratur,  Ztschr.  XXVI,  113—19; 
von:  Lachmanns  briefe  an  Haupt  hsg.  von  Vahlen,  Ztschr.  XXVI,  267  —  68;  von 
"Wackernagel  -  Martin ,  Geschichte  der  deutschen  litteratur,  Ztschr.  XXVII ,  264  —  66. 

13)  Die  vorarbeiten  zu  der  ausgäbe  sind  z.  t.  verwertet  in  dem  aufsatze:  Zur 
textkritik  von  Hartmanns  Gregorius,  Ztschr.  XXVIII,  47  —  49,  dem  ein  zweiter  aiii- 
kel  noch  folgen  sollte;  vgl.  auch  die  anzeige  von  Schönbachs  buch  über  Hartmann 
von  Aue,  Litt,  centr.-bl.  1895,  sp.  130  —  32. 

14)  Zeugnisse  eingehenderer  beschäftigung  mit  der  Gudrun  sind  die  beiden 
aufsatze:  Lamprechts  Alexander  und  die  Hilde- Gudrun -dichtung  (Ztschr.  XVII,  223  — 
226)  und:  Zur  Kudrun  (ebda  127  —  28). 

15)  Vgl.  Erdmanns  anzeigen  von  Breitmaiers  Goethecult  und  Goethephilologie 
(Ztschr  XXV,  287  —  88)  und  von  Blumes  ausgäbe  der  Goethischen  gedichte  (Ztschr. 
XXVI,  277  —  80). 

16)  Vgl.  Erdmanns  aufsatz:  Zum  einfluss  Klopstocks  auf  Goethe ,  Ztschr.  XXIII, 
108  — 109  und  die  anzeigen  von  Hamels  Klopstockstudien  (Ztschr.  XI,  371  —  72. 
Xn,  380  —  81)  und  von  Munckers  und  Pawels  ausgäbe  der  Oden  (Ztschr.  XXU, 
497  —  99). 

17)  Über  F.  M.  Klingers  dramatische  dichtungen  (Progr.  des  kgl.  "Wilhelms - 
gymnasiums)  Königsberg  1877  (vgl.  M.  Eieger,  Ztschr.  IX,  493  —  96);  über  Klingers 
Verhältnis  zu  Kant,  Altpreussische  monatsschrift ,  XV,  57 — -66. 

18)  Anzeigen  von:  Eieger,  Klinger  in  der  stiu'in-  und  drangperiode,  Ztschr. 
XII,  382;  von:  Klingers  Otto  ed.  Seuffert,  Ztschr.  XIE,  127  —  28;  von:  Lenz,  Die 
siciliauische  vesper  ed.  "W'einhold,  Ztschr.  XX,  255;  von:  Pfeiffer,  Klingers  Faust. 
Ztschr.  XXIII,  381—82  und  Anz.  f.  d.  a.  XIV,  93  —  94;  von:  Lenz,  Gedichte  ed. 
"Weinhold,  Ztschr.  XXIV,  410—11;  von:  E.  Schmidt,  Lenz  und  Klinger,  Anz.  f.  d. 
alt.  V,  375  —  80;  von:  E.  Schmidt',  H.  L.  "Wagner,  Anz.  f.  d.  alt.  V,  374  —  75.  — 
Die  ältere  epoche  des  18.  Jahrhunderts  behandeln  die  anzeigen  von  G.  Krause,  Frie- 
drich der  grosse  und  die  deutsche  litteratur-  (Ztschr.  XVII,  127  —  28)  und  von  Reiche, 
Zu  Gottscheds  lehrjahren  in  Königsberg  (Ztschr.  XXV,  565  —  66). 

19)  In  der  handschriftenfrage  stand  er  auf  Lachmauus  Standpunkt,  war  aber 
weit  davon  entfernt,  seine  kühnen  hypothesen  und  athetesen  sänimtlich  zu  bilhgen. 

20)  Vgl.  den  aufsatz:  Betrachtungen  über  handbüchor  zur  litteraturkunde  mit 
besonderer  beziehung  auf  Kluge,  Auswahl  deutscher  gedichte  (Ztschr.  f.  d.  deutschen 
Unterricht  H,  210  —  218),  sowie  die  besprechungen  von  E.  Lehmanns  buch  Über  den 
deutschon  Unterricht  (Ztschr.  XXIV,  411  —  19);  von  Kerns  Methodik  des  deutschen 
untenichts  (Anz.  f.  d.  alt.  X,  297-98  und  XIV,  284);  von  G.  Gerber,  Die  spräche 
als  kunst  (Ztschr.  f.  d.  deutschen  Unterricht  I,  363  fgg.)  und  von  desselben  Verfassers 
buch:  Die  spräche  und  das  erkennen,  (ebda  I,  372). 

KIEL.  HUGO   GERINa. 


236  GERING 

LITTEEATUE. 
NEUERE  SCHRIFTEN  ZUR  RUNENKUNDE. 

1)  Söiiderjyllands  historisko  runemindesinsierker  af  dr.  Liidv.  F.  A.  Wim- 

raer.  Kjobenhavn  1892.  (Festskrift  fra  Kjöbeuhavns  universitet  i  auledning  af 
deres  majesta^ter  kong  Christian  IX"  og  dronning  Louises  guldbryllup  den  26.  maj 
1892.)     55  s.     gr.  4.     (Nicht  im  buchhandel.) 

2)  De  tyske  runemindesmDerker  af  Ludv.  F.  A.  Winniier.  Kjobenhavn  1894. 
(Sfertryk  af  Arboger  for  nordisk  oldkyudighed  og  historie.)     82  s. 

3)  Norges  indskrifter  med  de  a?ldre  runer.  Udgivue  for  det  Norske  historiske 
kildeskriftfond  ved  Soplms  Bugsre.  1  ste  og  2  det  hefte.  Christiania  1891  —  93. 
152  s.     4. 

1)  Die  unter  1)  genannte  festschrift  ist  (wie  die  im  jähre  1887  erschienene 
mouographie  über  den  taufstein  von  Akirkeby  auf  Bornholm  —  vgl.  Zs.  21,  487  fgg. — ) 
ein  Vorläufer  des  von  "Wimmer  seit  langen  jähren  vorbereiteten  und  jetzt  im  drucke 
befindlichen^  grossen  corpus  der  dänischen  runenschriften.  Sie  behandelt  4  runen- 
steine,  welche  sämtlich  in  der  nähe  der  ehemaligen  südgrenze  des  dänischen  reiches, 
am  Danevirke  bei  Schleswig,  gefunden  sind  und  vor  den  meisten  denkmälern  der- 
selben art  sich  dadurch  unterscheiden,  dass  sie  von  historisch  bekannten  personen 
errichtet  sind  oder  historisch  bekannte  personen  nennen  und  somit  die  möglichkeit 
einer  datierung  bieten,  die  nicht  lediglich  auf  sprachliche  indicien  sich  stützt  und 
daher  eine  weit  grössere  Sicherheit  gewährt. 

Zwei  von  diesen  steinen,  der  1767  im  Selker  noer  gefundene  ., Wedelspang- 
stein"  (jetzt  im  Schlossparke  von  Luisenlund)  und  der  1887  entdeckte  „Gottorpstein 
(jetzt  im  museum  schleswig-holsteinischer  altertümer  zu  Kiel)  hat  eine  und  dieselbe 
person  ai;fstellcn  lassen,  Asfrittr,  die  tochter  eines  dänischen  fürsten  Octinkarr,  welche 
mit  einem  könige  Gnüpa  verheiratet  war  und  diesem  einen  söhn  namens  Sigtryggr 
gebar,  der  nach  des  vaters  tode  ebenfalls  den  königstitel  führte.  Dem  andenken  an 
diesen  söhn  sind  beide  steine  geweiht,  deren  Inschriften  'nach  Wimmers  lesung  fol- 
gendermassen  lauten : 

a)  Asfripr  karpi  kumbl  pann  aß  Sildriku  sun  sin  q  ui  Knuhu,  d.  i.  Asfrid 
erriclitete  dies  deuknial  nach  (zum  gedächtnisse)  ihrem  söhne  Sigtrygg  auf  dem  hei- 
ligtume  (der  geweihten  grabstätte)  Gnupas; 

b)  Ui-Jsfn'pr  karpi  kühl  pausi  futir  Upinkars  qft  Siktriuk  kunuk  siin  sin 
Ciuk  Knubii,  d.  i.  Wi- Asfrid  errichtete  dieses  denkmal,  Odinkars  tochter,  nach  (zum 
gedächtnisse)  könig  Sigtrygg,  ihrem  und  Gmipas  söhne. 

Von  den  uamen,  die  diese  beiden  inschriften  enthalten,  werden  Gnupa  und 
Sigtryggi-  auch  in  historischen  Schriften  des  mittelalters  genannt.  Den  Gnüpa 
erwähnt  zuerst  der  bekannte  sächsische  chronist  Widukind  von  Corvey,  welcher 
in  seinen  Ees  gestae  Saxonicae  I,  40  berichtet,  dass  der  deutsche  könig  Heinrich  I. 
nach  dem  glücklichen  feldzuge  gegen  die  Ungara  (933)  seine  waffen  gegen  die  Dänen 
gewandt  habe,  um  ihren  raubzügen  nach  den  friesischen  küsten  ein  ziel  zu  setzen; 
er  habe  sie  besiegt,  zur  Zahlung  eines  tributs  gezwungen  und  ihren  könig  Chnuba 
genötigt,  sich  taufen  zu  lassen.  Diese  von  einem  Zeitgenossen  der  könige  Heinrich  I. 
und  Otto  I.   herrührende  nachricht  ist  unbedingt    zuverlässig;    sie  wird    auch    durch 

1)  [Der  erste  halbband,  die  historischen  denkmäler  umfassend,  ist  soeben 
erschienen.     Juni  1895.     H.  G.] 


NEUERE    SCHRIFTEN    ZUR    RUNENKÜNDE  237 

eine  notiz  der  Corveyer  anoalen,  dass  Heinrich  im  jähre  934  die  Dänen  unterworfen 
habe,  bestätigt.  Sodann  finden  wir  Gnupa  bei  Adam  von  Bremen  wider.  Dieser 
autor,  der  ein  Jahrhundert  nach  Widukind  die  Gesta  pontificum  ecclesiae  Hammabur- 
gensis  schi-ieb  und  für  seine  berichte  über  dänische  geschichte  mündliche  mitteihmgen 
des  li;öuigs  Sven  Estridssou  benutzen  durfte,  erzählt  (I,  50),  dass  nach  der  „norman- 
nischen niederlage"  (d.  h.  nach  der  Löwener  schlacht  vom  jähre  891)  ein  könig 
„Heüigo''  in  Dänemark  geherrscht  habe;  diesem  sei  ein  könig  schwedischer  abkunft, 
namens  Olaf,  gefolgt,  der  das  dänische  reich  unterworfen  und  die  kröne  auf  seine 
söhne  Chnob  und  Gurd  vererbt  habe.  An  einer  anderen  stelle  (I,  54)  berichtet 
Adam  ferner,  dass  auf  Olaf ,  der  mit  seinen  söhnen  in  Dänemark  geherrscht  habe, 
ein  könig  namens  Sigerich  gefolgt  sei;  dieser  sei  aber  nach  kurzer  zeit  von  „Har- 
degon'^,  dem  söhne  Svens,  der  aus  „ Nortmannia "  kam,  des  reiches  beraubt  wor- 
den. —  Die  dritte  quelle  ist  die  grössere  Olafs  saga  Tryggvasonar  (geschrieben  um 
1300),  welche  cap.  Ü3  (FMS  I,  116)  folgende  notiz  enthält:  „König  Gorni  zog  mit 
seinem  beere  in  das  reich  in  Dänemark,  welches  Reidgotaland  genannt  ward,  gegen- 
wärtig aber  Jütland  heisst,  gegen  den  könig,  der  dort  herrschte  und  den  namen 
Gni'ipa  führte;  sie  kämpften  in  mehreren  schlachten  mit  einander  und  das  ende 
war,  dass  Gorm  jenen  könig  erschlug  und  sein  reich  sich  unterwarf;  darauf  wandte 
sich  Gorm  gegen  den  könig,  der  Silfraskalli  hiess  und  kämpfte  mit  ihm,  und  Gorm 
war  allezeit  siegreich  und  fällte  schliesslich  auch  diesen  könig.  Dann  gieng  er  nach 
Jütland  hinauf  und  fuhr  so  gewaltig  mit  dem  heerschilde  drein,  dass  er  alle  könige 
südüch  bis  zur-  Schlei  vernichtete." 

Durch  combination  dieser  nachrichten  mit  den  Inschriften  der  beiden  steine 
gelaugt  Wimmer  zu  dem  Schlüsse,  dass  gegen  anfang  des  10.  Jahrhunderts,  während 
Gorm  der  alte  über  Dänemark  herrschte,  ein  schwedischer  mkiug,  namens  Olaf,  bei 
Heidaby  (Schleswig)  sich  festgesetzt  und  eine  herrschaft  begründet  habe,  die  er  auf 
seinen  söhn  Gnüpa  vererbte.  Dieser  verstärkte  seine  macht  durch  seine  Vermählung 
mit  Asfrid,  der  tochter  eines  jütischen  häuptlings  Odinkar,  wui'de  aber  von  Hein- 
rich I.  besiegt  und  zur-  taufe  genötigt  (934).  Als  er  dann  (durch  die  Deutscheu 
unterstützt?)  sein  reich  nach  norden  auszubreiten  versuchte ,  geriet  er  mit  dem  Dänen- 
könige Gorm  in  kämpf  und  fand  in  diesem  seinen  Untergang.  S  ine  herrschaft  war 
jedoch  nicht  vernichtet.  Die  witwe  liess  ihm,  als  protest  gegen  die  erzwungene 
taufe,  nach  heidnischer  sitte  ein  prächtiges  grabdenkmal  errichten  und  regierte  wei- 
ter, zusammen  mit  ihrem  söhne  Sigtrygg.  Dieser  fiel  jedoch  (um  950)  im  kämpfe 
gegen  Harald  blauzahn.  Die  mutter  liess  auf  der  geheiligten  grabstätte  (ui)  des 
vaters,  nach  der  sie  selbst  den  namen  "Wi- Asfrid  fiUirte,  nun  auch  dem  söhne  die 
ruhestätte  bereiten  und  zu  seinem  andenken  zwei  ruueusteine  errichten,  einen  mit 
schwedischer  (a)  und  einen  mit  dänischer  Inschrift  (b). 

Dass  diese  darstellung  im  wesentlichen  richtig  ist,  unterliegt  keinem  zweifei. 
Die  von  Hermann  MöUer  erhobenen  einwendungen  ^  sind  —  von  einem  gleich  näher 
zu  berührenden  punkte  abgesehen  —  belanglos  und  erledigen  sich  durch  die  höchst 
wahrscheinliche   annähme,    dass  Adam   von  Bremen   den   tod  des  Sigerich    (d.  i.  Sig- 

1)  Anzeiger  f.  deutsches  altert.  19  (1893)  s.  11  —  32.  Diese  anzeige  MöUers 
hat  eine  kleine  litterarische  fehde  zwischen  ihm  und  AVimmer  zur  folge  gehabt,  die 
in  den  Verhandlungen  der  kgl.  dänischen  gesellschaft  der  Wissenschaften  sich  abge- 
spielt hat.  Auf  Wimmers  erwiderung  (Oversigt  over  det  kgl.  dauske  videnskabs  sel- 
skabs  forhandhnger  1893  s.  112  —  133)  erfolgte  eine  replik  Möllers  (ebda  s.  205  —  273) 
und  eine  duphk  Wimmers  (ebda  275  —  284),  auf  welche  Müller  noch  eimal  (ebda 
s.  370  —  403)  antwortete. 


238  GERING 

tiyggr),  der  nach  seiner  Chronologie  bald  nach  911  erfolgt  wäre,  mindestens  um  ein 
menschenalter  zu  früh  angesetzt  hat.  Wie  ungenau  Sven  Estridssons  mitteilungen 
gewesen  sind,  ergibt  sich  aus  Adams  bekenntnis,  „dass  er  nicht  wisse,  ob  alle  die  von 
ihm  genannten  dänischen  könige  oder  tyrannen  gleichzeitig  oder  nach  einander  regiert 
hätten."  "Wir  liaben  also  durchaus  nicht  nötig,  den  Gniipa,  von  dem  Widukind  und 
die  Olafs  saga  erzählen,  für  einen  jüngeren  nachkommen  oder  verwandten  des  von 
Adam  erwähnten  gleichnamigen  mannes  zu  halten,  vielmehr  sind  beide  ohne  alle 
frage  identisch.  Zweifelhaft  ist  meines  erachtens  nur,  ob  Wimmers  hypothese,  dass 
Sig-trygg  durch  Harald  blauzahn  (c.  935  —  85)  gefallen  sei,  richtig  ist.  Diese  hypothese 
ist  nämlich  nur  möglich,  wenn  wir  mit  "Winimer  annehmen,  dass  Adams  bericht 
von  „Hardegon"  einen  doppelten  fehler  enthält:  „Hardegon"  ist  nach  "Wimmer  eine  Ver- 
derbnis aus  „Haraldus"  und  statt  „filius  Svein"  müsste  „pater  Svein"  eingesetzt  wer- 
den; Northmaunia  endlich  wäre  als  Norwegen  zu  verstehen  und  die  woiie  „veniens 
a  Northmannia"  bezögen  sich  auf  Harald  blauzahns  heerfahii  unmittelbar  nach  dem 
tode  des  norwegischen  königs  Harald  graupelz  (um  965),  auf  der  er  sich  in  Norwe- 
gen huldigen  liess  und  Hakon  jarl  als  Statthalter  einsetzte.  Ich  möchte  eher  glauben, 
dass  (wie  Möller  und  neuerdings  Gustav  Storm^  annehmen),  Hardegon  eine  entstellung 
von  Hardaknut  ist,  und  dass  mit  diesem  wirkhch  der  vater  Gorms  des  alten  gemeint 
ist;  dass  dieser  Hardaknut  als  gegner  Sigtiyggs  genannt  wird,  bemlit  aber  auf  der 
willkürlichen  Chronologie  Adams,  der  die  schwedischen  kleinfürsten  in  Schleswig, 
welche  tatsächlich  Zeitgenossen  von  Gorm  und  Harald  waren,  zu  Vorgängern  dieser 
könige  gemacht  hat.  Storm  (in  dem  unten  angeführten  artikel)  sucht  Winmiers  hypo- 
these direkt  zu  widerlegen:  aber  seine  behauptung,  dass  der  Sigtiygg  unsrer  beiden 
steine  mit  dem  könige  Setricus  identisch  sei,  der  nach  Flodoard  von  Reims  im  jähre 
943  im  kämpfe  gegen  den  westfränkischen  könig  Ludwig  fiel,  ist  doch  schliesslich  auch 
nur  eine  hypothese ,  für  die  ein  zwingender  beweis  nicht  erbracht  werden  kann ,  obwol 
ich  ihre  möghchkeit  oder  Wahrscheinlichkeit  nicht  in  abrede  stelle.  Wäre  Storms 
annähme  richtig,  so  stände  ja  für  die  errichtung  der  beiden  steine  ein  sicheres  datum 
fest,  das  sich  von  Wimmers  aus  runologischen  gründen  gefolgerter  datierung  (um  950) 
nur  sehr  wenig  entfernte.  Zu  einem  in  jeder  beziehung  sichern  resultat  werden  wir 
aber  bei  der  dürftigkeit  und  unzuverlässigkeit  der  quellen  schwerlich  je  gelangen. 

Günstiger  steht  die  sache  mit  den  beiden  anderen  steinen,  dem  von  Hedeby 
(c),  welcher  bereits  1796  gefunden  wurde  und  gegenwärtig  ebenfalls  im  parke  zu 
Luisenliind  sich  befindet,  und  dem  Danevirkestein  (d),  der  seit  1857  bekannt  ist 
und  auf  der  spitze  des  Tvebergs  bei  Bustrup  (sw.  von  Schleswig)  auf  seinem  alten 
platze  jüngst  wider  aufgerichtet  wurde.  Die  Inschriften  der  beiden  steine  lauten  nach 
Wimmers  lesung: 

c)  J)urlf  rispi  stin  pansi  himpigi  Svins  eftir  Erik  ßlaga  sin  ias  uarp  taußr 
pa  trehkir  satu  twi  Haipa  bu  ian  han  nas  stiiri  niatr  tregR  harpa  hipr,  d.  i. 
forolf,  der  gefolgsmann  Svens,  errichtete  diesen  stein  nach  (zum  gedächtnis)  seinem 
genossen  Erik,  welcher  starb,  als  die  männer  um  Hedeby  sassen  (H.  belagerten);  er 
aber  war  Steuermann  (schiffskapitän) ,  ein  ausserordentlich  braver  mann; 

d)  Suin  hunnkr  sati  stin  uftir  Skarpa  sin  himpiga  ias  tias  farin  uestr 
iqn  nii  uarp  taupr  at  Hipa  hu,  d.  i.  könig  Sven  errichtete  diesen  stein  nach  (zum 
gedächtnis)  seinem  gefolgsmanne  Skai-Jii,  der  westwärts  (nach  England)  gefaliren  war, 
jetzt  aber  bei  Hedeby  starb. 

1)  To  nmestene  fra  Sonderjylland  og  deres  historiske  betydning  in  (Norsk) 
Hist.  tidskr.  1894. 


NEUERE    SCHRIFTEN    ZUR    RUNENKÜNDE  239 

Die  beiden  zweifellos  gleichzeitigen  denkmäler,  die  nach  ausweis  der  schrift 
(es  werden  bereits  punktierte  runen  angewendet)  und  der  spräche  um  das  jähr  1000 
datiert  werden  müssen,  beziehen  sich,  wie  Wimmer  ausführt,  sicher  auf  dasselbe 
ereigniss,  eine  belagerung  von  Schleswig,  und  der  „Sven"  in  c  ist  ohne  frage  mit 
dem  „könige  Sven"  von  d  identisch.  Dieser  köuig  Sven  kann  kein  anderer  sein,  als 
Sven  gabelbart  (c.  985  — 1014),  der  994  und  995  in  England  kämpfte.  Während 
seiner  abwesenheit  wurde  Schleswig  von  dem  Schwedenkönig  Erik  dem  siegreichen,  der 
sich  an  den  Dänen,  die  seiner  zeit  seinen  neffen  StyrbiQrn  unterstützt  hatten,  rächen 
wollte,  erobert  und  geplündert.  Die  Schweden  setzten  sich  in  der  stadt  fest,  und 
die  erste  aufgäbe,  die  Sven  nach  seiner  heimkehr  zu  vollbringen  hatte,  war,  die 
fremden  eindringlinge  zu  vertreiben,  was  ihm  nach  dem  Zeugnisse  unserer  steine 
auch  gelang.  Einem  seiner  gefolgsleute ,  der  während  der  belagerung  gefallen  war, 
SkarJ)i  —  vielleicht  demselben  manne,  dernach  Snorres  Heimskringla  (Ol.  saga  Tryggv. 
c.  46)  an  dem  unglücklichen  zuge  der  Jomsvikinger  nach  Norwegen  teilgenommen 
hatte  —  weihte  der  könig  selber  auf  dem  steine  d  einen  ehrenden  nachruf;  einem 
anderen  manne  in  gleicher  Stellung,  Erik,  -wurde  von  seinem  kameradeu  T'orolf  der 
denkstein  c  gesetzt.  Anhangsweise  macht  dann  Wimmer  noch  darauf  aufmerksam, 
dass  einem  dritten  krieger  Svens,  der  ebenfalls  bei  Hedeby  fiel,  wahrscheinlich  der 
kleinere  stein  von  Aarhus,  dessen  Inschrift  nur  verstümmelt  erhalten  ist,  als  denkmal 
gestiftet  ward:  sie  besagt,  dass  ein  dänischer  krieger,  dessen  namen  bis  auf  das 
schliesseude  E  zerstört  ist,  seinem  kameraden  Amundi,  der  bei  Hedeby  starb,  den  stein 
errichtet  habe  —  der  grössere  stein  von  Aarhus  enthält  dagegen,  wie  es  scheint,  eine 
erinnerung  an  die  sagenberühmte  Schlacht  von  Svoldr,  denn  ihn  weihten  vier  über- 
lebende kämpfer  ihrem  genossen  Ful,  der  „draussen  im  osten"  fiel,  als  „die  könige 
mit  einander  kämpften".  —  Man  sieht  also,  dass  diese  steine  neben  dem  sprachlichen 
(sie  bezeugen  als  älteste  denkmäler  die  aus  dem  urnordischen  entwickelte  ostskandi- 
navische mundart)  auch  ein  sehr  bedeutendes  historisches  Interesse  besitzen. 

2)  Die  zweite  schrift  Wimmers  müssen  wir  Deutsche  mit  ganz  besonderer 
freude  begrüssen,  weil  sie  sich  ausschliesslich  mit  unseren  heimischen  runendenkmälern 
beschäftigt  und  das  leider  so  sehr  dürftige  material  durch  zwei  überaus  wertvolle 
stücke,  die  bisher  noch  nirgends  publiciort  waren,  bereichert.  Es  sind  dies  zwei  sil- 
berne Spangen,  die  1885  bei  Bezenye  (3  meilen  so.  von  Pressburg)  auf  einem  grossen 
begräbnissplatze  aus  der  zeit  der  Völkerwanderung  in  einem  frauengrabe  gefunden 
wurden.  Dass  beide  spangen  Inschriften  tragen,  ward  jedoch  erst  1893  von  prof. 
Hampel  in  Buda-Pesth  entdeckt,  der  mit  rühmenswerter  Selbstlosigkeit  die  Veröffent- 
lichung dem  bewährtesten  runologen  überliess.  Die  Schmuckstücke  entstammen  augen- 
scheinlich derselben  werkstätte,  und  die  runen,  die  sich  auf  ihnen  finden,  sind,  wie 
Wimnier  vermutet,  von  derselben  person  eingeritzt.  Auf  der  ersten  spange  (a)  steht 
öodahid  unja,  was  Wimmer  zweifellos  richtig  zu  Oodahilcl  icunja  ergänzt;  auf  der 
zweiten  (b)  Arsipoda  segun.  Somit  bestehen  die  Inschriften  nur  aus  je  zwei  werten: 
aus  einem  weiblichen  eigennamen  und  einem  segenswort.  Godahild  ist  ein  sehr 
bekannter  name;  Arsipoda  dagegen  ist  bisher  noch  nicht  nachgewiesen,  wol  aber  kom- 
men die  beiden  glieder,  aus  denen  das  compositum  zusammengesetzt  ist,  auch  ander- 
wärts in  frauennamen  vor:  ahd.  -i^oda  st.  -hoäa  in  Siboda  (d.  i.  Sigiboda?)  und 
Liupota  (d.  i.  Liudboda?),  altn.  in  Angrboda  und  Aurboda;  Arsi-  freilich  nur  ein- 
mal in  ahd.  Arsirid,  das  Förstemann  aus  dem  verbrüderungsbuch  von  St.  Peter  in 
Salzburg  belegt.     Der  a-rune  in  Arsipoda  geht  noch  ein  eigentümliches  zeichen  vor- 


240  GERING 

aus,  das  wie  ein  circumflex  (A)  aussieht  und  von  Wimmer  auch  als  ein  solcher 
erklärt  wird,  ob  mit  recht,  ist  mir  zweifelhaft,  da  die  Verwendung  von  accenteu  in 
runeninschriften  sonst  nirgends  sich  findet.  Dagegen  steht  dasselbe  zeichen  am 
Schlüsse  der  Inschrift  des  Braunschweiger  reliquienkästchens  (Stephens  I,  381;  Bugge, 
Norges  indskrifter  med  de  asldre  runer  s.  119),  also  gewissermassen  als  Interpunktion, 
und  es  dürfte  möglich  sein,  dass  es  in  ähnlichem  sinne,  nämlich  als  anfangszeichen, 
auch  auf  der  ungarischen  spange  b  zu  fassen  ist,  was  bereits  Sievers  als  Vermutung 
aussprach.  Wimmer  dagegen  ablehnt.  Die  beiden  frauennameu  bezeichnen  nach  Wim- 
mer nicht  die  besitzerinnen,  sondern  die  schenkerinnen  der  spangen,  die  viel- 
leicht nennen  in  dem  mn  das  jähr  700  gegründeten  St.  Peters  -  kloster  zu  Salzbui'g 
gewesen  seien  und  einer  neugetauften  Schwester  im  osten  die  kostbaren  schmiick- 
gegenstäude  mit  einem  frommen  wünsche  übersandt  hätten.  Auf  Baiern  weist  ja 
unzweideutig  das  anlautende  p  in  -jjoda,  und  nur  in  Salzburg  ist  bisher  das  noch 
unerklärte  dement  Arsi-  in  einem  namenbuche  des  8.  Jahrhunderts  bezeugt;  in  die 
ersten  beiden  deceunien  desselben  setzt  aber  Wimmer  aus  runologischen  gründen  die 
spangeninschriften. 

In  dem  übrigen  teile  seiner  schrift  behandelt  Wimmer  die  wichtigsten  der 
schon  früher  bekannten  deutschen  runendenkmäler,  von  denen  er  vier  (die  spangen 
von  Osthofen,  Freilaubersheim,  Engers  und  Kerlich)  aufs  neue  in  Kopenhagen  selbst 
sorgfältig  untersucht  hat,  und  ergreift  dabei  natürlich  die  gelegenheit,  sich  mit  Hen- 
nings buche  auseinander  zu  setzen.  In  der  ablehnung  mehrerer  von  Henning  vor- 
geschlagener deutungen  trifft  er  mit  mir  (vgl.  Zeitschr.  23,  354  fgg.)  zusammen,  im 
allgemeinen  aber  lässt  meines  erachtens  seine  kritik  dem  verdienstlichen  werke,  das 
Bugge  günstiger  und  billiger  beurteilt,  nicht  genügende  gerechtigkeit  widerfahren. 
Über  die  resultate  seiner  forschungen  sei  im  folgenden  kurz  referiert. 

Die  Inschrift  der  spange  von  Engers  ist  nach  Wimmer  von  Henning  mit  unrecht 
für  eine  fälschung  erklärt,  und  man  wird  nach  den  aussagen  der  beamteu  des  Worm- 
ser  museums  an  der  echtheit  nicht  zweifeln  dürfen,  zumal  da  auch  einige  augen- 
scheinlich alte  risse  erst  nach  dem  einritzen  der  schrift  entstanden  sein  können.  Die 
inschrift  leitb  betrachtet  Wimmer  (wie  seguii  und  icunja  auf  den  spangen  von  Be- 
zenye)  als  einen  Segenswunsch  und  in  der  tat  kann  leub  sehr  wol  „heil"  oder  „segen" 
bedeuten  (vgl.  z.  b.  Hei.  497  liudiun  te  leoba).  —  Auf  der  spange  von  Freilau- 
bersheim erklärt  Wimmer  natürlich  die  ersten  drei  werte  {Boso  icraet  riina)  ebenso 
wie  die  deutscheu  gelehrten,  die  sich  mit  diesem  deukmal  bescliäftigt  haben  (nur 
sieht  er  runa  wol  mit  recht  für  den  acc.  plur.  an);  die  drei  letzten  werte  liest  er, 
von  Eieger  (Ztschr.  5,  37.5  fgg.)  und  Henuing  abweichend:  pk  dalina  godd,  was  er 
zu  pik  Dalina  godda  „te  Dalinam  donavit"  ergänzt.  Henning  hatte  zwischen  go[l]d[a] 
und  gofdjdfa]  geschwankt  und  Daßma  statt  Dalina  gelesen,  nach  Wimmer  sind 
jedoch  die  beiden  d  in  godd  mit  Sicherheit  erkennbar,  und  die  dritte  rune  in  dem 
weiblichen  namen  ist  deutlich  ein  Z,  wenn  auch  der  Schrägstrich  nicht  von  der  spitze 
des  senkrechten  ausgeht,  sondern  etwas  tiefer  steht.  Der  name  Dalina  (d.  i.  Dal- 
linna)  ist  zwar  fast  nirgends  bezeugt,  erregt  aber  keine  bedenken,  da  im  ahd.  der 
männliche  eigenname  Tallo  sich  findet  und  die  endung  -iniia  (<  injö)  in  weiblichen 
namen  mehrfach  vorkommt  {Walahinna,  Eörstemann  1231,  Zaigina  1365,  Zeivina 
136G  usw.).  Über  die  casusform  Dalina  liat  Wimmer  sich  nicht  ausgesprochen: 
natürlicii  kann  es  nur  der  acc.  sein,  nicht  der  nom.  (voc),  welcher  Valiin  lauten 
müsste.  Auch  eine  datierung  der  inschrift  hat  Wimmer  nicht  gegeben :  dass  sie  älter 
ist  als  unsere  litterarischen  denkmäler,  beweist  das  anlautende  w  in  wraet^  das  schon 


NEUERE   SCHBIFTEN   ZUR   EUNENKUNDE  241 

im  8.  Jahrhundert  geschwunden  war,  und  das  unverschobene  t  in  demselben  worte: 
wir  werden  sie  wol  in  das  6.  Jahrhundert  zu  stellen  haben.  —  Zu  einer  sicheren 
deutung  der  Inschriften  auf  den  spangen  von  Osthofen  und  Charnay  zu  gelangen, 
hält  "Wimmer  für  hoffnungslos:  auf  der  ersten  fehlt  wahrscheinlich  der  anfang,  der 
auf  dem  verlorenen  teile  der  fibula  gestanden  haben  dürfte,  uud  aus  den  erhaltenen 
Wörtern  {go  . . :  furad  .  .  de:  ofileg)  lässt  sich  ein  sinn  nicht  gewinnen  —  imd  auch 
für  die  legende  der  zweiten  {upfnpai :  iddan :  liano)  ^  die  bisher  allen  erklärungsver- 
suchen  trotz  bot,  scheint  er  weitere  bemühuugen  für  fruchtlos  anzusehen.  Dennoch 
möchte  ich,  auf  die  gefahr  hin,  die  zahl  der  verfehlten  hypothesen  um  eine  zu  ver- 
mehren, eine  Vermutung  nicht  zurückhalten.  In  upfnpai  suchte  Henning  (und  neuer- 
dings Bugge,  Norges  indskrifter  s.  140  —  s.  u.  s.  244)  den  opt.  praes.  eines  compo- 
situms  von  fmpan;  es  ist  jedoch  auch  eine  andere  annähme  möglich,  nämlich  das 
wort  als  dat.  sg.  zu  erklären,  und  zwar  als  dat.  sg.  eines  männliclien  «-stammos. 
Dass  diese  stamme  ihren  dat.  einmal  wie  die  feminina  mit  der  cndung  -ai  bildeten, 
also  *balgai  wie  anstai,  ist  heute  allgemein  anerkannt.  Nehmen  wir  nun  mit  Bugge 
a.  a.  0.  an,  dass  in  upfnpai  das  n  an  eine  falsche  stelle  gekommen  ist  (wie  das  r 
in  purlf  statt  pidfr  auf  dem  steine  von  Hedeby),  und  dass  es  eigentlich  hinter  dem  u 
hätte  stehen  müssen ,  so  liesse  sich  iinpfpai  zu  [hjunpjajfaßai  ergänzen.  Der  abfaU 
des  h  im  anlaute  hat  auch  in  Iddan  stattgefunden,  da  dieses  wort  (dat.  sing.)  doch 
wol  mit  Henning  als  koseform  eines  mit  Hildi-  zusammengesetzten  namens  erklärt 
werden  muss,  und  auch  das  p  als  bezeichnung  der  tönenden  Spirans  (für  die  das 
gotische  bereits  d  venvendet)  findet  bestätigung  in  der  Schreibung  Burgunxiones 
(Wackernagel,  Kl.  Schriften  III,  339).  Liano  ist  mit  Bugge  als  nom.  sing,  eines  weib- 
lichen eigennamens  zu  fassen,  dessen  etymologie  allerdings  Schwierigkeiten  macht. 
Der  von  Bugge  verglichene,  aus  viel  späterer  zeit  bezeugte  name  Lianhabn  bringt 
uns  nicht  weiter,  da  im  6.  Jahrhundert  der  diphthong  ia  in  einem  germanischen 
werte  kaum  möglich  ist.  Wenn  man  also  nicht  annehmen  will,  dass  zwischen  den 
beiden  vokalen  ein  konsonant  ausgelassen  ist  (uud  welcher?),  so  bleibt  kaum  etwas 
anderes  übrig,  als  Liano  für  eine  germanisierang  des  lat.  Leaena  (gr.  vltiavu)  zu 
erklären,  das  bekanntlich  als  eigenname  verwendet  ist;  übrigens  könnte  ja  auch  Idda 
eine  romanische  geliebte  gehabt  haben.  Die  Übersetzung  würde  also  lauten:  „Liano 
dem  centurionen  Idda",  was.  sich  zum  mindesten  durch  seine  einfachheit  empfiehlt.  — 
Was  man  auf  der  spange  von  Hohenstadt  früher  als  runen  ansah,  sind  auch  nach 
Wimmer,  der  hierin  mit  Henning  übereinstimmt,  nur  zufällige  ritzen  im  silber; 
ebensowenig  sind  auf  den  spangen  von  Gandersheim  imd  Flomborn  schriftzüge 
zu  erkennen.  —  Unecht  sind  die  iuschriften  auf  dem  speerblatte  von  To reelle  und 
auf  der  Kerlicher  spange,  die  auch  Henning  für  fälschuugen  hält.  —  Über  die 
Spange  von  Balingen  äussert  Wimmer  nur,  dass  Söderbergs  lesung  der  ersten  4  zei- 
chen (cililf)  nicht  richtig  ist,  er  verzichtet  aber  auf  eine  deutung  der  inschrift,  welche 
er  um  700  ansetzt,  da  ihm  das  original  selbst  nicht  vorgelegen  hat.  —  Das  Ber- 
liner thonköpfcheu  endlich  ist  aus  der  reihe  der  „deutschen"  denkmäler  zu  streichen, 
da  die  runenzeichen  durchaus  mit  den  jüngeren  nordischen  typen  übereinstimmen; 
deutbar  ist  die  inschrift,  welche  dem  12.  Jahrhundert  angehört,  nicht,  da  sie  ver- 
mutlich nur  die  anfangsbuchstaben  von  Wörtern  enthält. 

3)  Bugges  grosses  werk,  von  dem  erst  2  lieferungeu  vorliegen,  wird  sämt- 
liche norwegische  runeninschriften  behandeln,  welche  mit  dem  älteren  (gemeiuger- 
manischen)   aiphabet  von  24  zeichen  geschrieben   sind.     Er  ordnet  diese  Inschriften 

ZEITSCHRIFT   F.    DEUTSCHE    PHILOLOGIE.      BD.    XXVIII.  16 


242  GERING 

geograiiliisch,  indem  er  im  äussersten  Südosten,  in  Smaalenene,  beginnt  und  von 
hier  aus  weiter  nach  nw.  vorschreitet.  In  den  beiden  heften  sind  erst  6  denkmäler 
besprochen:  die  runensteine  von  Tune ,  Einang  und  By,  der  brakteat  von  Fredriksstad, 
die  bronzefigur  von  Fi'oshov  und  die  spange  von  Fonnaas.  Ich  beschränke  mich  auch 
dem  Buggischen  buche  gegenüber  im  wesentlichen  auf  ein  referat. 

Die  inschrift  des  Tunesteines  (nr.  1),    welche  Bugge  in   die  erste  hälfte  des 
G.  jahrliunderts  setzt,    rührt  von  zwei  verschiedeneu  bänden   her.     Von    der    ersten 
stammen  die  alliterierenden,  ßovaTQO(fr]Söv  geschriebenen  langzeilen: 
Ek  WnvaR     after   Woduride 
tvitadahalaiban      icorahto  rfunoRj 
„ich  Wiw  machte   diese  runen  nach    (zum  gedächtnisse)    dem    gefolgschaftsgeuossen 
Wodurid."     Die  von  dem  zweiten  steinhauer  eingehauenen  werte  liest  Bugge: 

[aftejR  Woduride  staina  [■-.■]  priJoR  dohtriR  dalidun  (d.  i.  dailidun)  ar- 
hija  sijostir  (d.  i.  sibjostir)  arbijauo 

„nach  (zum  gedächtnis)  dem  Wodurid  [bezeichneten]  drei  töchter  den  stein; 
die  nächstverwandten  von  den  erben  teilten  das  erbe." 

Während  der  erste  teil  der  inschrift  (einschliesslich  der  ergäuzung)  zweifellos 
richtig  gedeutet  ist,  erregt  die  erklärung  des  zweiten,  für  die  Bugge  selbst  eist  nach 
mehrfachem  schwanken'  sich  entschieden  hat,  verschiedene  bedenken.  Zunächst  ist 
es  auffallend,  dass  die  4 mal  vorkommende  rune  (),  welche  sonst  den  lautwert  eines 
nasalierton  n  hat,  auf  unserem  denkmal  (was  schon  Gudbr.  Yigfüsson  in  seinem  Cor- 
pus poet.  bor.  —  natürlich  ohne  jede  begründuug  —  behauptet  hatte),  j  bedeuten 
soll.  Indessen  lässt  sich  diese  annähme  durch  die  ähnliehkeit  der  beiden  zeichen, 
welche  eine  Verwechselung  zur  folge  haben  konnte,  rechtfertigen,  zumal  da  man  auf 
diesem  wege  zu  leichter  erklärbaren  wortformen  gelangt.  Sodann  ist  die  Wortstellung 
in  der  ersten  satzhälfte  (adverbiale  bestimmung,  objekt,  verbum,  Subjekt)  so  seltsam, 
dass  sie  in  prosaisclier  rede  kaum  wider  so  vorkommen  dürfte.  Sie  lässt  sich,  meine 
ich,  nur  erklären,  wenn  man  annimmt,  dass  den  runeuschreiber  eine  ganz  besondere 
absieht  leitete,  etwa  die,  dasselbe  Subjekt  für  die  beiden  asyndetisch  neben  einander 
gestellten  sätze  zu  verwenden,  sodass  wir  also  ein  ano  xoivov  zu  statuieren  hätten: 
„nach  Wodurid  bezeichneten  den  stein  (auch)  die  drei  töchter,  (sie)  teilten  als  nächst- 
verwandte unter  den  erben-  das  erbe".  Die  orwähnung  der  erbteilung  auf  einem 
grabsteine  (die  Bugge  übrigens  auch  aus  späterer  zeit  belegt),  lässt  sich  für  unseren 
fall  vielleicht  dadurch  erklären,  dass  die  drei  töchter  erst  nach  einem  rechtsstreite  mit 
den  übrigen  erben  in  den  besitz  des  nachlasses  gelangten  und  nun  den  stein  zugleich 
zu  einem  denkmal  des  siegreich  durchgeführten  processes  machten.  Bugges  meinung, 
dass  die  sibjostir  arbijano  und  die  Jrrijor  dohtrir  verschiedene  personen  seien,  halte 
ich  zum  mindesten  für  höchst  unwahrscheinlich. 

1)  Dieses  schwanken  hat  sogar  die  drucklegung  des  ersten  heftes  überdauert. 
Es  macht  einen  seltsamen  eindruck,  dass  auf  dem  T).  (am  1.  juli  1891  gedruckten) 
bogen  mehreres  zui'ückgenonimen  wird,  was  auf  dem  4.  (der  am  13.  juui  die  presse 
verliess)  behauptet  war.  Konnte  der  druck  nicht  so  lange  verschoben  werden,  bis 
Bugge  seine  untci-suchungen  über  das  erste  denkmal  abgeschlossen  hatte?  Wozu 
diese  überhastung?  Bei  einem  werke  von  so  monumentaler  bedeutung  war  es  doch 
wahrhaftig  kein  unglück,  wenn  die  1.  lieferung  ein  paar  wochen  später  ausgegeben 
wurde. 

2)  Erbe  ist  hier  natürhch  zu  verstehen  als  „jemand  der  auf  den  nachlass 
anspräche  erhebt".  Damit  erledigen  sich  die  einwendungen  von  Fr.  Burg  (Zs.  f.  d.  a. 
38,  174  fg.),  deren  gewicht  durch  ein  paar  deplacierte  witzchen  nicht  verstärkt  wird. 


NEUERE    SCHRIFTEN    ZUR    RUNENKUNDE  243 

Nr.  2  und  3,  den  brakteaten  von  Fredrikstad  und  die  bronzefigur  von  Froi- 
hov  können  wir  überspringen,  da  es  zweifelhaft  ist,  ob  die  auf  diesen  gegenständen 
eingegrabeneu  zeichen  wirklich  runen  sind,  und  eine  sichere  deutung  völlig  ausge- 
schlossen scheint.  —  Nr.  4  ist  die  erst  1877  aufgefundene  spange  von  Fonnaas, 
welche  Bugge  bereits  1888  in  den  K.  Vitterhets  historie  och  antiqvitets  handlingar 
zusammen  mit  der  Inschrift  des  Rökstens  ausführlich  behandelt  hatte.  Seine  dort 
gegebene  deutung,  welche  hier  im  wesentlichen  widerholt  wird,  gehört  meines  erach- 
tens  zu  dem  besten,  was  auf  diesem  schwierigen  gebiete  je  geleistet  ist;  sie  ist  ein 
neues  ruhmeszeugnis  für  die  glänzende  divinatorische  begabung  des  ausgezeichneten 
gelehrten.  Die  erklärung  war  hier  mit  besonderen  schwieligkeiten  verknüpft,  da  die 
Wörter  der  Inschrift  stark  verkürzt  sind,  mithin  eine  ganze  anzahl  von  zeichen  ergänzt 
werden  mussten.     Auf  der  spange  steht: 

nglslxlR  wJcshtc  ingRsangsrhse  ihspidultl, 
was  Bugge  folgendei'massen  herstellt: 

[A]ng[i]l[a]sk[a]l[k]R  W[a]k[r]s  hu[s]m(jR  sa  [i]ng[i]s[a]rh[i]s[h]e 
[a]ih   spi[n]dul    tfijl,    d.  h. 

„Angelskalk,  "VVab's  bausgenosse  von  Ingesarv,  besitzt  die  gute  nadel." 

Die  Wahrscheinlichkeit,  dass  diese  deutung  das  richtige  getroffen  hat,  wird 
durch  den  umstand  bedeutend  erhöht,  dass  Bugge  nach  dem  abschlusse  seiner 
arbeit  erfuhr,  dass  in  der  schwedischen  laudschaft  Dalarne,  die  mit  dem  norwegischen 
Rendalen,  wo  die  spange  gefunden  ward,  grenzt,  tatsächlich  ein  ort  namens  Ingisarff 
existierte,  wie  auch  derselbe  name  noch  einmal  in  Helsingland  (nicht  aber  in  Norwe- 
gen) sich  widerfindet.  Bugge  schliesst  daraus,  dass  der  oigentümer  der  spange, 
welche  in  das  7.  Jahrhundert  zu  setzen  ist,  wahrscheinlich  in  Dalame  oder  doch  im 
nördlichen  Schweden  zu  hause  war. 

Nr.  5,  der  runenstein  von  Einang,  nach  Bugge  um  die  mitte  des '5.  Jahr- 
hunderts zu  datieren,  enthält  nur  die  4  werte:  DagaR  paR  runo  failiido.  Bugge 
hält  an  seiner  früheren  deutung  fest,  nach  welcher  paR  als  acc.  plur.  des  demonstra- 
tivpronomens  zu  fassen  ist  (=  altn.  pcer)  und  rimo  ebenfalls  acc.  pl.  (=  altn.  runar). 
er  übersetzt  also:  „Dag  schrieb  diese  runen."  Wimmer  dagegen  hatte  paR  als  adverb 
erklärt  und  runo  als  acc.  sg.  bezeiclinet;  demgemäss  würde  zu  übersetzen  sein:  „Dag 
schrieb  dort  die  rune."  Aber  das  adv.  paR  (das  übei'dies,  wie  Bugge  nachweist, 
sonst  stets  mit  >•,  niemals  mit  R  gescbrielien  wird)  scheint  mir  dem  sinne  nach  unmög- 
lich, da  man  vielmehr  J/er  erwai'ten  sollte;  auch  wäre  der  collective  Singular  runo 
auffallend.  Ich  halte  daher  die  erklärung  Bugges  für  die  richtige,  wenn  man  auch 
genötigt  ist,  mit  ihm  hiutei'  runo  ein  R  zu  ergänzen. 

Das  letzte  in  den  beiden  heften  behandelte  norwegische  denkmal  ist  der  seit 
dem  18.  Jahrhundert  bekannte  runenstein  von  By  (nr.  6),  den  Bugge  in  die  mitte  des 
7.  Jahrhunderts  setzt.     Er  liest  seine  inschrift: 

eirilaR  HroRaR  HroReR  orte  pat  ciRina  nfpji  Alcti[b]u  dR  (d.  i.  dohtuR) 
rmp^   (d.  i.  runoR  markide  paR  EhaR) 

und  übersetzt:  „der  kriegerhäuptling  Hror  Hrors  söhn  maclite  diese  Steinplatte  nach 
(zum  gedächtuis)  der  (seiner)  tochter  Alaiv;  diese  runen  schrieb  Eh."  —  eirilaR  (= 
altn.  jarl,  ags.  eorl)  ist  aus  eriluR  entstanden ;  das  ci  der  ersten  silbe  betrachtet 
Bugge  als  bezeichnung  des  ursprünglichen  kurzen  e,  das  im  begriffe  war,  sich  dem  i 
der  folgenden  silbe  zu  assimilieren:  in  weiterer  entwickelung  musste  erilaR  zu  *irill 
werden,  das  jedoch  ö,mch  jarl  (eine  bildung  nach  der  analogie  der  pluralformen)  ver- 

16* 


244  GERING 

drängt  ward.  —  Hrorer  ist  ein  pati'ouymicum  mit  dem  suffix  -ja ,  das  in  dem  Eaeru- 
tculafir  des  Istabysteines  ein  seitenstück  hat,  wie  auch  in  anderen  ar.  sprachen  der- 
gleichen bildungen  begegnen  (gr.  Ttlccuiövt-og,  Kqövios  usw.),  während  sie  in  dem 
historischen  altnordisch  gänzlich  mangeln.  —  ciRina  (acc.  sing,  eines  st.  n.)  ist  — 
von  dem  veränderten  geschlecht  abgesehen  —  dasselbe  wort  wie  altn.  arinn,  m. 
, Steinplatte,  herd",  ahd.  arin,  n.  „altaro,  templum",  erin,  m.  „fussboden,  tenne" 
(noch  heute  in  ober-  und  binnendeutschen  diall.  ehren,  Öhren).  —  iq^t  (wahrschein- 
ich  opt  gesprochen)  ist  durch  den  einfluss  der  labialverbindung  aus  ept  entstanden; 
die  Schreibung  mit  ti  findet  sich  auch  auf  anderen  runendeukmälern.  —  Alaibu  ist 
der  acc.  des  frauennamens ,  der  in  dem  historischen  altnordisch  Alof  oder  Ölof  ge- 
schrieben wird.  —  Die  deutung  der  letzten  vier  runen  kann  natürlich  nur  eine  hypo- 
these  sein,  die  jedoch  im  ganzen  nicht  unwahrscheinlich  ist:  dass  der  name  des  runen- 
ritzers  mit  der  der  rune  \  identisch  gewesen  sei,  ist  ein  glücklicher  gedanke;  nur 
möchte  mau  wünschen,  dass  die  existenz  dieses  Wortes  als  eigenname  besser  beglau- 
bigt werde,  als  durch  die  inschrift  des  brakteaten  vonAasum,  deren  lesung  mir  doch 
höchst  problematisch  erscheint.  —  Bemerkenswert  ist  es,  dass  in  der  inschrift  zwei- 
mal die  rune  R  im  inlaut  erscheint  (in  HroIiaR  —  HroRiR  und  in  ciRina;  beide  Wör- 
ter haben  also  ursprünglich  ein  s  enthalten;  durch  das  erste  erhält  die  von  Kluge 
aufgestellte  etymologie  von  nhd.  rühren  (<^  got.  hroxjan)  bestätigung  —  der  von  ihm 
vermisste  „auswärtige"  repräsentant  der  würzel  kräs  ist  von  Bugge  in  griech.  y.tndv- 
vvfxt  <Ci  *xeQcc(TPv/Lit  gefunden  —  und  aRina  stellt  er  zu  lat.  ara  <^  asa,  osk.  aso. 

An  die  deutung  der  inschrift  von  By  hat  Bugge  uoch  zwei  sehr  wertvolle 
exkurse  angeschlossen,  von  denen  jedoch  nur  der  erste  (über  die  rune  \)  in  heft  2 
vollständig  enthalten  ist.  Er  führt  hier  den  m.  e.  vollständig  gelungenen  nachweis, 
dass  dies  vielumstrittene  zeichen  den  lautwert  eines  zwischen  e  und  i  in  der  mitte 
liegenden  vocales  (also  eines  geschlosseneu  e)  repräsentiere,  stimmt  also  hierm  mit 
Henning  überein,  dessen  ansieht  ich  schon  1890  (Ztschr.  23,  359  anm.  1)  beigepflich- 
tet habe.  Besonders  schätzbar  ist  diesei'  exkurs  ferner  dadurch,  dass  Bugge  mehrere 
unserer  deutschen  luneninschrifteu  aufs  neue  behandelt  hat.  Die  zweite  hälfte  der 
Freilaubersheimer  spangeninschrift  liest  er  (von  Henning  und  Wimmer  gänzlich 
abweichend)  odipo  mal  ina  yoim[i]  „der  Segnungen  zeichen  (d.  h.  das  kreuz)  behüte 
ihn";  auf  der  spange  von  Osthofen  glaubt  er  die  werte:  gocl  furaä[i]  mi  Ofile 
„gott  sorge  für  mich  Offil"  zu  erkennen;  die  zeichen  auf  der  grösseren  Nordendor- 
fer  Spange  ergeben  ihm  die  legende:  Ao  a[n]  Leubtcinie  „Ao  an  Leubwine";  die 
der  kleineren:  Birilio  eik  „ich  B.  habe"  (also  bi'agarmäl  auf  deutschem  boden?!); 
auf  der  spange  von  Ems  steht  nach  Bugge  nicht  Madan,  sondern  Madali.  Endlich 
wird  auch  für  die  inschrift  der  Charnay spange  eine  neue  deutung  vorgeschlagen: 
UnPa  fapi  Iddan  Liano  eia  „Es  gönnte  (d.  h.  schenkte)  dem  bräutigam  Idda  Liano 
sie  (nämlich  die  spange)".  Alle  diese  deutungsversuche  werden  von  Bugge  luir  unter 
reserve  ausgesprochen:  er  macht  mit  recht  darauf  aufmerksam,  dass  wir  uns  hier 
auf  einem  weit  schwankenderen  gründe  bewegen,  als  im  norden  und  England,  weil 
das  material  so  äusserst  gering  und  die  inschriften  zum  grossen  teile  sehr  undeutlich 
und  schwer  lesbar  sind,  und  er  warnt  davor,  mit  den  lesungen  wie  mit  gesicherten 
resultaten  zu  operieren.  Ich  muss  denn  auch  gestehen,  dass  mir  seine  sämmtlichen 
deutungen  inehrfache  bedenken  erregen;  namentlich  muss  ich  gegen  die  erklärung  der 
inschrift  von  Charnay  denselben  einwand  widerholen,  den  ich  seiner  zeit  gegen  Hen- 
nings lesung  geltend  machte:  für  mich  ist  die  möglichkeit,  dass  ein  noch  nicht 
erwähnter  gegenständ  durch  ein  pronomen  bezeichnet  sein  könnte,  ausgeschlossen.    Ein 


NEUERE    SCHRIFTEN    ZUR    RUNENKUNDE  245 

eigener  deutimgsversuch ,  der  von  Bugge  die  Umsetzung  einzelner  zeichen  entlehnt, 
die  runen  "t-m  aber  von  der  eigentlichen  Inschrift  ausschliesst,  worin  ich  mit  Wim- 
mer zusammentreffe  (vgl.  Ztschr.  23,  359  und  Wimmer,  De  tyske  runemindesniserker 
s.  78),  ist  oben  s.  241  fg.  mitgeteilt. 

Auf  die  fortsetzung  des  2.  exkurses,  der  die  gotländische  Inschrift  der  spange 
von  Etelhera  (mik  Mdrila  tvorta)  behandeln  wird,  dürfen  wir  besonders  gespannt 
sein,  da  derselbe  den  nachweis  zu  bringen  verspricht,  dass  der  dialekt  der  insel 
Gotland  ursprünglich  nicht  ein  skandinavischer,  sondern  ein  gotischer  gewesen  ist. 
Auch  sonst  wird  das  weiter  fortschreitende  werk,  dem  wir  rüstige  förderung  wün- 
schen, für  die  Wissenschaft  sicherlich  reiche  ertrage  liefern  und  viel  neue  resultate 
zu  tage  schaffen:  so  dürfen  wir  z.  b.  wol  erwarten,  dass  die  auf  s.  143  ausgesprochene 
meinung,  die  runenschrift  sei  von  einem  gotischen  stamme  erfunden,  nicht  ohne  ein- 
gehende begründung  bleiben  werde.  Dieselbe  ansieht  findet  sich  ja  bekanntlich  schon 
bei  Henning  (Die  deutschen  runeudenkmäler  s.  152). 

Die  äussere  ausstattung  des  norwegischen  runenwerkes  könnte  besser  sein:  es 
wird  in  dieser  beziehung  hinter  Hennings  bnche  und  namentlich  auch  hinter  dem  im 
drucke  befindlichen  Wimmerschen  corpus  der  dänischen  runeninschriften  (von  dem 
ich  einzelne  aushängebogen  bereits  im  vorigen  herbste  einsehen  durfte)  zurückstehen. 
Namentlich  ist  es  zu  bedauern,  dass  verschiedene  ältere  Illustrationen  einfach  repro- 
duciert  wurden,  obgleich  Bugge  ausdrücklich  hervorhebt,  dass  sie  ungenügend  und 
fehlerhaft  sind  (vgl.  s.  92  anm. ,  s.  94  anm.  1  u.  ö.).  Diesem  mangel  wird  auch  durch 
die  dankenswerten  zwei  phototypien  einzelner  teile  des  Tunesteines,  welche  neu  ange- 
fertigt wurden,  nicht  genügend  abgeholfen.  Die  correctur  ist  mit  grosser  Sorgfalt 
ausgeführt,  und  es  sind  daher  nur  einzelne  kleinigkeiten  zu  berichtigen.  S.  3,  z.  2 
V.  0.  lies:  Pauls  Grundriss  II,  2;  s.  22,  z.  11  v.  u.  ist  ein  und  derselbe  beleg  zwei- 
mal angeführt,  denn  der  stein  vonHobro  (Thorsen  Jyll.  nr.  40)  ist  mit  Liljegr.  nr.  1499 
identisch;  dasselbe  ist  zu  s.  100,  z.  20  v.  o.  zu  bemerken,  da  die  nr.  45 **  und  85  bei 
Stephens  einen  und  denselben  brakteaten  bezeichnen;  .^.  26,  z.  9  v.  u.  lies:  sammen; 
s.  27,  z.  16  V.  u.  ist  das  citat  Liljegr.  1099  falsch,  doch  war  ich  ausser  stände  es  zu 
verificieren ;  s.  32,  z.  4  v.  o.  lies:  Brugmann;  s.  65,  z.  11  v.  o. :  Ghv.  16,  7;  s.  66, 
z.  7  V.  u.:  Skääng;  s.  85,  z.  8  v.  o. :  Run  verser  164;  s.  109,  z.  17  v.  u.  hätte  gesagt  wer- 
den müssen,  dass  das  upländische  BjörkÖ  (Liljegr.  nr.  334)  gemeint  ist,  da  orte  dessel- 
ben namens,  bei  denen  ebenfalls  runendenkmäler  gefunden  sind,  auch  in  Söderman- 
land  und  Smäland  liegen;  ebda  z.  2  v.  u.  lies:  faßtiR  for  fapur;  s.  119,  z.  6  v.  o.: 
Dyb.  fol.  I  (bis);  s.  129,  z.  23  v.  o. :  Strärup;  ebda  z.  22  v.  o.  ist  die  typographische 
widergabe  der  rune  //  gänzlich  verunglückt;  zu  s.  1*47,  z.  1  v.  o.  ist  hinzuzufügen,  dass 
der  in  der  Themse  gefundene  „gegenständ"  auf  s.  120  ausführlich  behandelt  ward. 

KIEL,    5.  MÄRZ    1895.  HUGO    GERING. 


Germanische  mythologie.     Von   Elard  Hugo  Meyer.     Berlin,   Mayer  &  Müller. 
1891.     [Lehrbücher  der  germanisclien  philologie  L]     XI,  354  s.     5  m. 

„Die  herleitung  der  wichtigsten  mythenmassen  aus  den  eindrücken,  die  der  tod, 
der  träum  und  der  beherrschende  dreiklang  der  drei  hauptwettererscheinungeu  her- 
vorrufen, ist  hier  zum  ersten  male  durchgeführt.  Werden  diese  Vorgänge  im  ganzen 
als  die  richtigen  grundlagen  der  mythenbildung  anerkannt,  so  bin  ich  zufrieden" 
(Vorwort).     Eingehender  hat  der  Verfasser  über  begriff  und   aufgäbe   der  mythologie 


246  KAUFFMANN 

s.  9  fgg.  gesprochen.  Nur  besonders  eindrucksvolle  Vorgänge  des  menschenlebens  und 
der  natur  seien  im  stände  gewesen  zur  bildung  lebensfähiger  mythen  anzuregen :  gehurt, 
ki'ankheit,  tod,  aipdruck,  träum,  gewitter,  wind,  Wolkenzug  (sonne ,  mond  und  steme, 
tag  und  nacht,  himmel  und  erde  spielen  unbedeutende  nebenroUen).  Die  aus  diesen 
„Weltgegenständen "  zusammengesetzten  mythen  sind  zu  glaubensartikeln  geworden 
und  haben  die  gruudlagen  der  religion  gebildet.  Der  cultus  ist  ein  Spiegelbild  jener 
mythen ,  doch  überwiegt  in  ihm  das  sittliche  wie  in  der  mythologie  das  phantastische. 
Das  phantastische  erscheint  in  einer  niedern,  den  ansprächen  des  gemeinen  volkcs 
dienenden  form  als  seelen glaube ,  marenglaube,  naturdämonenglaube ;  in  einer  aus 
den  höheren  ständen  hervorgegangenen  priester-  und  aristokratenmythologie  als  dämo- 
nenglaube,  götterglauhe ,  heroenglaube. 

Was  zunächst  diese  sonderung  zwischen  volks-  und  aristokratenmythologie  betrifft, 
so  setzt  sie  sich  in  Widerspruch  mit  den  ergebnissen  der  geschichte  unserer  poesie. 
Wir  hahen  uns  an  diese  um  so  mehr  zu  halten,  als  nach  Meyer  (§  11)  unter  mytho- 
logie zu  verstehen  ist  die  summe  der  hilder  und  dichtungen,  in  denen  die  religiös- 
poetischen anschauungen  eines  Volkes  von  gewissen  vergangen  des  mensclienlebens 
und  der  natur  ausgeprägt  sind.  Die  mythologie,  wie  auch  Müllenhoff  sie  gefasst  wis- 
sen wollte  (Maunhardt,  Mythol.  forsch,  s.  IX.  DA.  V,  157),  war  ein  eigenartiger 
bestandteil  der  dichtung.  Folglich  hätte  sie  mit  der  litteraturgeschichte  in  erster  linie 
fühluug  zu  behalten.  Gerade  Müllenhoff  hat  nun  aber  als  festen  ecksteiu  seiner  for- 
schung  aufgestellt,  dass  wir  nur  eine  charakterform  in  allen  äusserungen  des  ger- 
manischen lebens  sich  darstellen  sehen  (DA  I,  VII)  und  wir  wissen,  dass  es  die 
germanischen  Volksdichtung  ist,  in  der  er  jenen  Charakter  widerzufinden  glaubte. 
Es  ist  „die  noch  in  ungetrennter  einheit  schaffende  natm-kraft  des  geistes",  der 
wir  unsere  älteste  poesie  verdanken,  die  unter  dem  ganzen  volke  gelebt  hat,  ein 
lebendiges  buch,  wahrer  geschichte  voll,  erst  im  hohen  mittelalter  mit  der  einheit 
der  nation  uns  verloren  gegangen.  Liliencron,  ein  zweiter  Vertreter  dieser  richtung, 
sagt  in  der  vorrede  zu  seinen  Volksliedern:  „die  alte  Volksdichtung  war  berufen,  die 
ganze  religiöse,  sittliche  und  geistige  entwicklung  des  volkes  während  der  frühen 
stufen  seines  lehens  zu  umfassen,  die  summe  der  geistigen  entwicklung  ist  in  jenen 
zelten  noch  ungeteiltes  gesamtgut  des  ganzen  volkes  gewesen,  d.  h.  mit  andern  Avor- 
ten,  in  jenen  alten  zeiten  war  die  Wechselwirkung  zwischen  den  trägern  der  bildung 
und  der  grossen  masse  in  eben  dem  masse  leichter,  als  der  stoff,  den  es  mitzuteilen 
galt,  einfacher  gedacht  imd  geformt  war.  Es  erscheint  aber  dieser  stoff  als  eine  tief- 
sinnige, allen  gemeinsame  Volksbildung,  welcher  noch  kein  gegensatz  einer 
andern  dichtung  oder  därstellungsart  gegenübersteht." 

AYol  können  wir  heutzutage  den  begriff  der  Volksdichtung  nicht  mehr  im  sinne 
von  Herder  und  den  Eomantikern  vertreten ,  aber  es  ist  bekanntlich  das  ergebuis  einer 
allseitigen  Würdigung  der  alten  kultur,  dass  wir  sie  als  ein  „ungeteiltes  gesamtgut  des 
ganzen  volkes"  betrachten:  folglich  ist  das  Meyersche  System  unserem  germani- 
schen altertum  nicht  conform.  Seine  mythologie  ist  mit  den  grundlagen  der  deut- 
schen Philologie  unvereinbar. 

Die  heute  so  beliebte,  aber  meiner  ansieht  nach  widersinnige  Unterscheidung 
zwischen  niederer  und  höherer  mythologie  ist  ja  auch  von  einem  manne  ausgegan- 
gen, dem  altdeutsche  kultur  und  poesie  fremd  war.  Aber  es  ist  bedauerlich,  dass 
sich  innerhalb  der  deutschen  philologie  forscher  gefunden  haben,  die  sich  von  jenen 
leeren  Schlagwörtern  Schwarzens  haben  irre  leiten  lassen.  Nach  dem,  was  ich  aus 
der    geschichte    unserer   Wissenschaft  und   unserer    kultur  gelernt    habe,    ist   es  für 


ÜBER    E.   H.  MEYER,    GERBLVNISCHE    MYTHOLOGIE  247 

einen  methodisch   ai'beiteuden   philologen   unmöglich,    die  mythologische  Überlieferung 
des  altertums  auf  zwei  bildungsschichten  des  volkes  zu  verteilen. 

Fernerhin  miiss  ich  entschiedensten  einspruch  erheben  gegen  die  meteorolo- 
gische und  psychopathologische  mythendeutung.  MüUenhoff  hat  den  unabänderlichen 
grundsatz  aufgestellt,  dass  es  sich  für  die  philologcn  nicht  um  deutung,  sondern  um 
geschieh te  des  mythus  handle.  Wenn  Meyer  diesen  grundsatz  preisgibt,  ist  er 
widerum  über  die  grenzen  der  deutschen  philologie  hinaus.  Ausserhalb  der  deut- 
schen Philologie  gibt  es  aber  keine  deutsche  mythologie.  Es  liegt  in  der  beschatfen- 
heit  unseres  materials  begründet,  dass  nur  ein  philologe  die  mythologische  Überlie- 
ferung verarbeiten  kann.  Das  ist  ja  wol  auch  die  ansieht  des  Verfassers,  denn  er 
hat  seine  germanische  jnytliologie  in  einer  serie  von  Lehrbüchern  der  philologie  erschei- 
nen lassen.  Was  Maunhardt  leider  so  spät  erkannt  hat,  ist  Meyer  noch  nicht  klar 
geworden:  dass  erst  im  lichte  der  philologischen  einzelerklärung  die  aufgäbe  des 
mythologen  wissenschaftlich  begrenzt  erscheint.  Nun  sagt  aber  Meyer  (§  17),  seine 
auffassuug  des  begriffs  mythologie  berühre  sich  mit  dem,  was  wir  heute  philosophie 
nennen.  Er  gehört  also  noch  zu  denen,  deren  einseitigkeit  W.  Grimm  vergebens 
betont  hat,  so  lange  für  sie  die  aufgäbe  darin  bestehe,  „das  verborgene  philosophem 
in  der  doppelten  Überkleidung,  in  welcher  es  jetzt  sich  darstellt,  aufzusuchen.  Was 
dahin  sich  deuten  lässt,  muss  als  der  eigentliche  inhalt  hervorgehoben,  alles  andere 
als  nichtssagend  zurückgelassen  werden"  (Hs^  447).  Dem  forscher  verschwindet  dabei 
jede  besonderheit  einer  bestimmten  zeit,  eines  bestimmten  volks,  einer  bestimmten 
kultur.  Es  ist  bezeichnend,  dass  diese  richtung  heute  nur  noch  in  der  vaterlauds- 
losen  sog.  vergleichenden  mythologie  vertreten  ist.  Eine  vergleichende  mythologie  hat 
jedoch  vorerst  noch  gar  keine  existenzberechtigung.  Gerade  die  „vergleichende  my- 
thologie" hat  aber  bei  uns  germanisten  am  meisten  unheil  angerichtet.  Das  einzige 
heil  liegt  darin,  sich  von  ihr  gänzlich  los  zu  machen  und  sie  als  gar  nicht  vorhan- 
den zu  betrachten.  So  wird  es  in  der  klassischen  und  semitischen  pliilologie  gehal- 
ten und  das  ist  nachahmenswert.  Es  ist  dringend  erforderlich,  dass  wer  über  ger- 
manische mythologie  schreiben  will,  bei  männern  wie  Wellhausen,  Rohde^  Wilamo- 
witz,  Curtius  anfrage  und  bei  ihnen  sich  rats  erhole.  Mit  welcher  Überlegenheit 
haben  diese  männer  sich  über  den  Standpunkt  erlioben,  auf  dem  Meyer,  Rödiger  u.  a. 
stehen  geblieben  sind!  Es  wäre  vielleicht  ganz  nützlich,  an  dieser  stelle  die  an- 
schauungen  eines  Wellbausen  zu  skizzieren ,  aber  ich  erspare  es  mir  und  verweise  auf 
seine  „Reste  des  arabischen  heidentums".  Den  nagel  auf  den  köpf  getroffen  hat  Cur- 
tius (Berl.  Sitzungsber.  1890,  1141  fgg.),  wenn  er  den  grundfehler  der  neueren  darin 
erkennt,  dass  man  die  novellistischen  tändeleien  der  poeten  mit  dem  Inhalt  volks- 
tümlicher gottesideen  zusaminengetan ,  die  mythologie  zu  einem  rätselspiel  gemacht, 
aber  den  menschlichen  keim  aller  religiou  ausser  acht  gelassen  habe;  noch  niemand 
habe  erklärt,  wie  ein  vernunftbegabtes  volk  dazu  kommen  konnte,  z.  b.  aus  dem 
winde  die  idee  einer  gottheit  zu  gewinnen.  Sehr  klar  ist  die  grundlegende  formulie- 
rung  der  pi'obleme  bei  Wilamowitz,  Hippolytos  s.  23  fgg.  Ich  berufe  mich  auf  sie 
mit  besonderem  nachdruck,  weil  ich  nirgends  sonst  ebenso  zutreffend  meinen  eignen 
Standpunkt  ausgesprochen  gefunden  habe.  Er  sagt:  „Der  beliebteste  aber  gänzlicli 
falsche  weg  einen  gott  zu  verstehen,  geht  von  der  von  ihm  erzählten  geschichte  aus. 
Man  betrachtet  sie  als  eine  art  rätsei,  sucht  sie  zu  deuten  mit  einer  Sicherheit,  dass 
man    sich   darüber  wundert,    weshalb      die  menschen    der   vorzeit    so    viele    hübsche 

1)  Vgl.  namentlich:  Die  religion  der  Griechen.     Heidelberg  1895. 


248  KAUFFMANN,    ÜBER    E.    H.    MEYER,    GERMANISCHE    MYTHOLOGIE 

geschichteu  für  ein  paar  bauale  dinge  ausgedacht  haben,  wie  dass  es  so  sehr  bequem 
ist,  götter  zugleich  zu  fassen  und  zu  verflüchtigen.  Denn  meistens  dreht  sichs  ums 
wetter.  "Wir  müssen  unmittelbar  und  concret  empfinden,  wie  die  menschen,  in  deren 
herzen  die  götter  entstanden  sind,  dann  erscheinen  sie  uns.  Es  ist  mühsamer  als  das 
mythologische  rätselraten,  aber  an  dem  ergebnis  findet  auch  unser  herz  befriediguug. 
An  die  götter  haben  sich  wie  an  heroen  novellenstoffe  geknüpft  (fliegende  motive). 
Die  träger  der  novellenmotivo  sind  überhaupt  gleichgültig.  Das  der  novelle  zu  gründe 
liegende  motiv  ist  von  so  allgemeiner  gültigkeit,  dass  es  so  wenig  auf  einen  aus- 
gaugspunkt  zurückgeführt  werden  darf,  wie  dem  veilchen  u^nd  der  nachtigall  von 
botanikern  und  Zoologen  eine  bestimmte  heiniat  zugewiesen  werden  kann"  usw.  Man 
gehe  von  der  lektüi'e  des  Hippolytos  an  die  Idg.  mythen  oder  die  vorhegende  germ. 
mythologie  oder  etwa  auch  au  Scherers  poetik  und  man  wird  über  die  ganze  arm- 
seligkeit  der  modernen  naturmythologie  aufgeklärt  sein. 

Meyer  geht  nun  keineswegs  in  derselben  auf.  Auch  er  berücksichtigt  Vorgänge 
des  persönlichen  menschenlebens.  Aber  seltsamerweise  wählt  er  daraus  nur  träum 
und  tod.  Warum  nicht  auch  geburt?  Gehört  „geburt"  etwa  nicht  zu  dem  gross- 
artigen wechselleben  der  weltgegenstände?  {§  15  —  doch  vgl.  §  12.)  Aber  Meyers 
System  fordert  die  ausschliessung.  Denn  bloss  der  gefühlswert  bestimme  die  mythen. 
Es  handelt  sich  für  ihn  also  nur  um  eine  auswahl  der  erfahrungen  einer  einzelseele. 
Für  ihn  ist  mythologie  Sache  des  Individuums  und  zwar  nicht  einmal  des  ganzen 
Individuums.  Die  philosophische  wie  die  völkerpsychologische  ethik  der  gegenwart 
steht  auf  ganz  anderem  boden.  Sie  geht  von  der  nie  bestrittenen  tatsache  aus,  dass 
religion  zu  allen  zeiten  nicht  sache  der  einzelseele  oder  eiuzelphantasie  gewesen  ist, 
sondern  sache  der  gesellschaft,  öffentliche  angelegenheit.  Aus  dem  gemeinschafts- 
ieben der  alten  völker  heraus  ist  die  blaue  blume  der  mythologie  entsprossen;  reli- 
gion ist  eine  erscheiuung  des  praktischen  lebens  wie  sitte  und  recht.  Wer  dürfte 
ungesti'aft  eine  einzelüberlieferung  der  alten  sitte  oder  des  alten  rechts  auf  blitz, 
donner  und  wölken  deuten?  Warum  lassen  wir  dem  religionshistoriker  und  mytholo- 
gen  zu,  was  wir  dem  rechtshistoriker  wehren?  Bei  aller  anerkenuung  für  die  im 
buche  aufgestapelten  reichhaltigen  materialsammlungen  muss  ich  aus  den  im  vorstehen- 
den entwickelten  gründen  das  Meyersche  werk  als  verfehlt  und  unfruchtbar  ablehnen. 

JENA.  FR.    KAUFFMANN. 

Die  redaction  glaubt  es  nicht  ungerügt  lassen  zu  sollen,  dass  der  Verleger 
diesem  buche  eine  so  elende  ausstattung  gegeben  hat,  wie  dies  bei  wissenschaftlichen 
werken  in  Deutschland,  und  besonders  bei  gennanistischen ,  bisher  unerhört  war.  Ein 
so  blasser  imd  schmieriger  druck  auf  so  jämmerlichem  papier  —  die  officin,  aus  der 
er  hervorgegangen  ist,  hat  sich  vorsichtiger  weise  nicht  genannt  —  ist  uns  noch 
nicht  vorgekommen.  Sollten  diesem  1.  bände  von  „Lehrbüchern  der  germanischeu 
Philologie"  noch  andere  von  gleicher  äusserer  beschaffenheit  folgen,  so  wäre  das  eine 
Versündigung  gegen  die   äugen  der  Studenten,  welche  diese  bücher  benutzen  sollen. 


Neuhochdeutsche  metrik.     Ein  handbuch  von  J.  Minor.     Strassburg,    Trübuer. 
1893.     XVI  und  490  s.     10  in. 

Weit  ausgreifend  und  tief  eindringend  fasst  Minor  seinen  stoff  an,  und  beinahe 
scheint  es,  als  ob  unter  dieser  fülle  des  iuhaltes  die  kunst  der  darstellung  not  leide. 
Eein  äusserlich  schon  fällt  es  auf,  dass  abgesehen  von  dem  Vorworte  und  einer  kur- 
zen  einleitung  die  gliederung  so  ganz  auf  das   princip  der  Unterordnung  verzichtet. 


WUNDERLICH,    ÜBER    MtXOR,    NHD.    METRIK  249 

In  8  abschuitteu ,  die  alle  gleichen  rang  beanspruchen,  werden  fragen  aufgeworfen,  die 
7.ur  gruppeabildung  eigentlich  herausfordern.  Die  Untersuchung  über  das  wesen  des 
rhythmus  nimmt  sich  wie  die  gegebene  einleitung  in  den  stoff  selbst  aus;  quantität 
und  accent,  wie  sie  der  Verfasser  im  zweiten  und  dritten  abschnitt  behandelt,  führen 
uns  das  sprachmaterial  nach  der  Seite  vor,  an  der  die  metrik  einsetzt,  während 
der  vierte  abschnitt  (der  versfuss  oder  der  tatt)  die  metrischen  einwirkungen  auf  die- 
ses material  kennzeichnet.  In  den  abschnitten  V  —  VIII  entfaltet  sich  dann  recht 
eigentlich  die  geschichte  der  neuhochdeutschen  metrik:  die  entwicklung  der  versgat- 
tungen,  der  reimkünste,  der  Strophenformen. 

Freilich,  so  ungezwungen  sich  diese  gliederung  aus  der  tatsächlichen  dai'stel- 
lung  des  Verfassers  ergibt,  so  wenig  entspricht  sie  den  theoretischen  ausführungen, 
die  das  etwas  abstrakte  vorwort  darlegt.  Indem  wir  ein  band  buch  der  metrik  auf- 
zuschlagen meinen,  wird  uns  diese  Wissenschaft  dort  vielmehr  möglichst  ferne  gerückt 
als  eine  lehre  von  den  „  principien  der  verskunst "  (s.  XII).  Ausdräcklich  wird  die 
„einführung  der  metrischen  formen  in  die  dichtung"  aus  dem  beobachtungsgebiet  aus- 
geschlossen; „das  historische  kommt  daher  hier  erst  in  zweiter  linie  in  betracht". 
Nun  scheint  es  uns,  dass  schon  eine  principienlehre  der  metrik  den  boden  unter  den 
füssen  verliert,  wenn  sie  ihre  einsieht  in  das  wesen  der  metrischen  formen  nicht  aus 
den  Schicksalen  zieht,  die  diese  in  der  geschichte  der  dichtung  erlitten  haben.  Ein 
handbuch  aber  der  metrik  wird  schon  durch  seine  auf  das  praktische  gerichteten  auf- 
gaben an  das  geschichtlich  gegebene  gewiesen.  Und  ein  handbuch  der  neuhoch- 
deutschen metrik  vollends  hat  durch  den  zeitlichen  rahmen,  den  es  in  den  titel 
aufnahm,  das  ziel  so  bestimmt  abgesteckt,  dass  für  die  allgemeine  erörterung  der 
principien  gegenüber  der  darstellung  der  entwicklung  in  der  nhd.  poesie  höchstens 
der  Spielraum  einer  einleitung  übrig  bliebe.  Minor  hat  diese  folgerungen  nicht  gezo- 
gen; ihn  verlocken  vielmelir  dogmatische  teudenzen,  ihn  reizt  die  naturwissenschaftliche 
Seite  seiner  aufgäbe,  aber  trotzdem  tritt  der  geschichtliche  faden,  der  die  tatsachen 
verknüpft,  immer  wider  zu  tage.  Das  historische  moment  erzwingt  sich  sein  recht 
selber  und  nötigt  den  Verfasser  in  der  tat  die  grenzünien  zu  überspringen,  die  er 
sich  grundsätzlich  gezogen  hatte.  Vor  allem  gilt  dies  für  die  letzten  vier  abschnitte 
des  buches  (s.  183  —  472),  in  denen  ganz  entschieden  die  einführung  der  metrischen 
formen  in  die  dichtung  den  vorrang  behauptet.  Dem  gegenüber  zeichnet  sich  aller- 
dings der  erste  teil  (s.  1  — 183)  mehr  durch  principielle  erörterungen  aus,  und  auf  ihm 
beruht  auch  das  Schwergewicht  der  wissenschaftlichen  tat  des  Verfassers.  Es  ist 
demgemäss  auch  nur  natürlich,  dass  abweichende  auffassungen  vor  allem  au  diesem 
ersten  teil  ansetzen.  Wir  lesen  (einleitung  s.  1):  „Aber  wie  verschieden  wird  nicht 
ein  und  derselbe  vers  von  verschiedenen  gelesen  und  wie  wenige  verstehen  verse 
vorzutragen!  Wie  soll  man  sie  überhaupt  lesen:  scandierend  nach  dem  vers- 
schema  oder  rocitierend  nach  dem  sinn?  Und  wenn  man  nun  auch  die  kunst  des 
richtigen  Vortrags  besässe,  so  könnte  man  doch  nicht  immer  zugleich  vortragender 
und  unbefangener  zuhörer,  beobachteter  und  beobachter,  Subjekt  und  objekt  der 
Untersuchung  sein.  Vielleicht  dass  wir  einmal  in  dem  phonographen  ein  theoretisches 
Werkzeug  erhalten,  um  auch  den  kunstvollen  vertrag  von  versen  zu  fixieren."  Die 
frage,  die  hier  aufgeworfen  wird,  gehört  mehr  in  die  lehre  vom  vertrag  als  in 
die  metrik.  Der  metriker  fragt  nicht  sowol  „wie  soll  man  die  verse  lesen?" 
sondern  „wie  werden  sie  gelesen?"  Er  steuert  nicht  so  sehr  auf  die  zu  errei- 
chende norm  zu  als  auf  die  erkemitnis,  wie  weit  die  absiebten  des  dichters  gehen 
und  wie  sie,  von  seinen  Zeitgenossen   und  nachkommen   crfasst  worden  sind.     Minor 


250  WUNDERLICH 

selbst  sagt  an  anderer  stelle  (vorwort  1):  „"Die  liauptfrage  bleibt  in  der  neuhoch- 
deutschen metrik  immer:  ist  der  vom  dichter  beabsichtigte  rhythmus  auch  wirklich 
in  den  werten  und  Sätzen  enthalten?  oder  wie  verhält  sich  ihr  natürlicher  rhythmus 
zu  ihm?"  Auf  solche  fragen  bereitet  sich  aber  die  antwort  vorwiegend  im  bereich 
der  litteraturgeschichte  vor,  für  ihre  lösung  bieten  sich  philologische  hilfsmittel  dar, 
die  der  Verfasser  gerade  geneigt  ist,  aus  der  metrik  auszuweisen.  Die  naturwissen- 
schaft,  die  er  breit  an  deren  stelle  setzt,  ohne  freilich  damit  gewisse  Spielereien 
moderner  philologie  befürworten  zu  wollen,  kann  nur  im  dienst  der  philologischen 
methode  hier  von  nutzen  werden.  Und  an  stelle  der  exakten  messungen  des  Instru- 
mentes, die  erst  von  fernerer  Zukunft  erhofft  werden,  könnten  schon  jetzt  die  unbe- 
fangenen beobachtungen  des  litterarhistorikers  gute  dienste  leisten.  Minor  selbst 
bietet  dafür  das  beste  beispiel  durch  die  belege,  die  er  gelegentlich  aus  dem  reichen 
Schatze  seiner  erfahi'ung  beibringt.  Allerdings  dürfte  hier  die  freude  an  einer  künst- 
lerischen norm  nicht  gar  zu  beeinträchtigend  vor  den  mannigfaltigkeiten  stehen,  die 
das  tägliche  leben  in  Wirklichkeit  bietet. 

Der  erste  abschnitt  (s.  7  —  42)  behandelt  den  rhythmus  und  stellt  recht  eigent- 
lich das  Programm  des  buches  auf,  weshalb  auch  hier  vor  allem  die  audeutuugen 
des  Vorwortes  erweiterung  finden.  So  greift  gleich  die  grenzlinie,  die  zwischen  der 
metrik  und  der  musik  gezogen  wii'd,  auf  diese  ausführungeu  zurück.  In  dem  bestre- 
ben, die  gebiete  reinlich  zu  scheiden  und  keinerlei  beiwerk  zuzulasen,  war  dort 
selbst  die  komposition  als  faktor  in  der  metrischen  beurteilung  eines  liedes  rundweg 
abgelehnt  worden.  Wir  haben  „nirgends  die  absolute  gewissheit ",  dass  „der  koni- 
ponist  auch  wirklich  dem  natürlichen  rhythmus  treu  geblieben"  ist  (s.  YIII).  Wol 
aber  vei'mag  meines  erachtens  ein  historischer  sinn  aus  der  Verschiedenheit  der  Wir- 
kungen, die  ein  lied  in  mannigfaltigen  kompositionen  widerspiegelt,  bedeutsame  auf- 
schlüsse  über  das  wesen  des  rhythmus  zu  ziehen.  Es  wäre  freilich  verkehrt,  wollten 
wir  nicht  zugestehen,  wie  scharf  schon  Minor  das  wesen  des  rhythmus  erfasst  und 
welch  bündigen  ausdruck  er  diesem  gegeben  hat  (s.  7  fgg.).  Treffend  vor  allem  knnn- 
zeichnet  er  ihn  in  der  art,  wie  er  sich  im  neuhochdeutschen  verse  geltend  macht: 
„Lese  ich  gute  verse  bloss  nach  dem  sinn  vor  (s.  18),  so  entsteht  das  gefühl 
für  den  rhythmus  in  mir,  der  in  ihnen  liegt.  Das  beharrungsvermögen  macht  sich 
geltend  und  hält  ihn  fest.  Lese  ich  weiter,  so  bringt  mir  der  folgende  satz  nicht 
nur  denselben  rhythmus  wider  in  orinnei'ung,  sondern  ich  habe  auch  das  bedürfnis, 
in  dem  angefangenen  rhythmus  fortzulesen,  der  rhythmus  trägt  jetzt  auch  den 
satz."  Die  Voraussetzungen  des  rhythmus  sind  (s.  12)  „die  dauer  und  die  stärke", 
in  der  Vereinigung  beider  elemente  entsteht  erst  die  künstlerische  Wirkung.  Auf  dem 
gebiete  der  musik  schaltet  der  rhythmus  mit  beiden  werten,  quantität  und  accent, 
nach  freiem  ermessen,  in  der  metrik  hat  er  an  der  natürlichen  quantität  oder  der 
prosodie  der  silben  und  in  dem  natürlichen  accent  gegebene  grossen,  mit  denen  er 
sich  auseinandersetzen  muss.  An  diese  ausfülirungen  knüpft  sich  eine  darstellung 
des  Verhältnisses,  in  dem  der  antike  vers  zum  deutschen  verse  steht.  Diese  dar- 
stellung gehört  in  unseren  Zusammenhang,  weil  aus  dem  gesagten  folgt,  dass  die 
bezeichnung  quantitierender,  accentuierendei'  vers  als  einseitigkeit  zurückgewiesen 
werden  muss.  Die  quantität  behält  im  deutschen,  der  accent  im  griechischen  verse 
nicht  so  hartnäckig  den  in  der  prosa  behaupteten  wert,  darum  erzwingt  sich  die 
quantität  im  griechischen,  der  accent  im  deutschen  verse  die  grössere  beachtung. 
Diesen  beiden  Vorbedingungen  des  rhythmus  ist  nun  der  zweite  und  dritte  abschnitt 
gewidmet.     Minor  spricht    (s.  IX)    von   dem   „in   der  theorie   und  in   der  praxis    auf 


ÜBER    MINOR,    NHD.    METRIK  251 

unbegreifliche  weise  misacbteten  satzaccent".  Diese  klage  dürfte  jedoch  —  für  die 
theorie  wenigstens  —  viel  eher  die  „Quantität"  betreffen.  Auch  bei  Minor  selbst  ist 
dieses  kapitel  vielleicht  am  wenigsten  abgerundet,  dagegen  fast  am  reichsten  bedacht 
mit  selbständigen  äusserungen  oder  mit  anregenden  hinweisen  auf  eine  litteratur, 
der  man  nicht  leiclit  in  äholichen  werken  begegnet.  Einwendungen  lassen  sich 
auch  liier  uatürhch  leicht  erheben.  Es  fragt  sich  schon,  ob  die  quantität  nicht  bes- 
ser erst  nach  dem  accent  abgehandelt  worden  wäre,  weil  sie  doch  sehr  stark  unter 
den  Schwankungen  dieses  faktors  leidet.  Die  prosodische  beschaffenheit  der  einsil- 
bigen Wörter  (s.  46)  hätte  dann  sicherere  und  festere  umrisse  erzielt.  Dass  es  „im  uhd. 
keine  konsonantische  laugen"  mehr  gebe  (s.  44),  diese  anfstellung  lässt  jedenfalls  die 
mundarton  ausser  betracht.  Von  Interesse  natürlich  ist  das  lu'teil,  das  Minor  (s.  53) 
über  das  kinderlied  und  die  auszählsprüche  fällt.  Ihm  steht  die  „metrische  kunst" 
hier  „auf  ihrer  tiefsten  stufe".  Nicht  ganz  objektiv  jedoch  ist  es,  wenn  er  behaup- 
tet, man  wolle  diese  formen  neuerdings  „als  das  ideal  einer  nationaldeutschen  metrik 
hinstellen."  Die  richtung,  \m\  die  es  sich  hier  ernstlich  handelt,  ist  doch  in  erster 
liuie  auf  erkenntuis  der  Vergangenheit,  nicht  aber  auf  normen  für  die  gegenwart 
bedacht.  Für  den  accent,  sowol  was  den  wortaccent  als  was  den  satzaccent  betrifft, 
lagen  schon  ergiebige  vorarbeiten  bereit.  Minor  hat  das  material  durchgängig  selb- 
ständig verwertet  und  sowol  daraus  wie  auch  aus  eigenen  beobachtungen  manches 
neue  zu  tage  gefördert.  "Wie  schon  für  die  quantität  oben  (s.  44),  so  ist  auch  hier 
für  den  accent  die  physiologische  grundlage  breit  herausgearbeitet  (vgl.  s.  61  u.  a.), 
die  auch  zur  versetzten  betonung  (s.  125)  und  später  zum  Verhältnis  von  wortfuss  und 
versfuss  (s.  158),  zur  satzpause  (s.  193)  und  zur  caesur  (vgl.  s.  260)  mancherlei  auf- 
schlüsse  gibt.  Namentlich  auf  den  uebenaccent  fäUt  aus  ihr  helleres  licht  (s.  77): 
„zwei  expirationsstösse  hinter  einander  bereiten  uns  Schwierigkeiten  und  verursachen 
eine  kleine  Stockung;  ein  schwächerer  druck  vermag  sich  wol  nach  einem  stärkeren 
stoss,  aber  nicht  vor  ihm  geltuug  zu  verschaffen."  „Selten  steht  daher  der  neben- 
accent  unmittelbar  nach  dem  hauptaccent,  niemals  unmittelbar  vor  dem  haupt- 
accent." 

Bei  der  lehre  vom  satzaccent,  die  meines  erachtens  zum  eigenen  schaden  erst 
nach  dem  wortaccent  abgehandelt  wird  \  nimmt  Minor  nur  gegen  Behaghel,  nicht 
aber  auch  gegen  Reichel  Stellung  (s.  87) ,  mit  dem  er  sich  doch  gerade  in  den  grund- 
fragen  vielfach  berührt.  Er  hebt  mit  recht  die  relative  natur  des  satzaccentes  her- 
vor, die  eine  einseitige  erklärung  aus  einem  princip  ausschliesse.  Er  unterscheidet 
den  logischen  accent,  den  Behaghel  in  erster  linie  berücksichtigt  hat,  vom  empha- 
tischen, mit  dem  er  sich  an  Moriz  anlehnt  (s.  64).  Daneben  wird  aus  dem  gram- 
matischen Verhältnisse  der  Satzteile  nnter  einander  ein  grammatischer  accent  erschlos- 
sen. Es  lässt  sich  nicht  sagen,  dass  in  diesen  uamen  oder  dass  in  dieser  dreifachen 
gliederung  das  wesen  des  satzaccentes  sich  erschöpfe,  vielmehr  liegt  der  wert  dieser 
anfstellung  mehr  darin,  dass  der  Verfasser  belege  und  beobachtungen  für  sie  beibringt, 
die  zu  neuer  gruppenbildung  anregen.  Namentlich  mit  einem  sekundär  zugelassenen 
princip,  nämlich  der  rhythmischen  gewichtsverteilung  des  accentes  ist  er  den  abso- 
luten regeln  Reicheis  gegenüber  im  vorteil.  Denn  wenn  freilich  auch  dieser  gelegent- 
lich (s.  33)  mit  rhythmischer  accentverrückung  operiert,  so  hat  er  ihr  doch  wenig 
einfluss  auf  seine  theorien  gestattet.     Dagegen  berührt  sich  sehr  nahe  mit  ausführun- 

1)  Minor  gesteht  (s.  99)  eigentlich  nur  dem  wortaccent  bedeutung  für  die 
metrik  zu.  Warum  behandelt  er  dann  den  satzaccent  so  eingehend?  Weil  in  ihm 
die  entscheiduug  für  den  wortaccent  liegt;  s.  u. 


252  WUNDERLICH 

gen  Eeichels  (s.  27.  31j  die  kräftige  hervorhebung  der  zusammenfassenden  kraft 
des  accentes:  „Ich  glaube  der  accent  hat  die  neigung  aufzusteigen  und  bei  mehreren 
ziisammengehürigen  Satzgliedern,  auf  dem  letzten  zu  kulminieren  (s.  93).  Diese  nei- 
gung haben  wir  schon  bei  den  uueigentlichen  kompositionen  beobachtet  und  sie  erklärt 
zahlreiche  ersclieinungen,  für  die  sich  sonst  kein  einleuchtender  grund  anführen  Hesse." 

Am  Schlüsse  (s.  103)  emi^fiehlt  Minor  praktisclie  Übungen  über  den  accent  anzu- 
stellen. Vier  hauptarten  werden  unterschieden  und  dem  entsprechend  der  eingang 
des  Wilhelm  Meister  mit  accenten  versehen,  über  die  sich  namentlich  in  bezug  auf 
den  „grammatischen  accent"  streiten  Hesse.  "Wir  erhalten  aber  damit  für  die  Unter- 
suchung ein  litterariches  material  in  geschlossenem  zusammenhange,  wie  wir  es  schon 
im  vorhergehenden  oft  statt  der  willkürlich  erfundenen  belege  gewünscht  hätten. 
Ausserdem  enthält  die  reiheufolgo  der  beobachtungen,  die  dei'  Verfasser  empfiehlt,  eine 
gewisse  kritik  der  reihenfolge,  die  er  selbst  eingehalten  hat.  Die  festsetzung  der 
hauptaccente  der  Stammsilben  in  den  mehrsilbigen  Wörtern,  mit  der  begonnen  werden 
soll,  steht  in  der  mitgeteilten  probe  ganz  unter  der  Herrschaft  des  satzaccentes.  Als 
zweiter  Vorgang  folgt  die  accentbestimmung  „der  einsilbigen  Wörter  auf  grund  der 
regeln  für  die  Satzbetonung"  und  erst  in  dritter  liuic  kommt  der  wortaccent  zur  ent- 
schoidung  der  nebenaccente  in  frage. 

Vom  natüi'Hchen  accent  geht  die  darstelluug  zum  versacceut  über  und  erregt 
besonderes  interesse  natürlich  da,  wo  sie  den  widerstreit  der  beiden  accente  besjjricht. 
Minor  unterscheidet  drei  formen  dieses  Widerstreites.  Die  ersten  beiden  fallen  unter 
dem  gesammtbegriff  der  versetzten  betonung  zusammen  (vgl.  112  fgg.),  bei  der 
ein  accent  den  andern  niederzwingt.  Der  versaccent  siegt  vor  allem  bei  derjenigen 
dichtung,  die  eine  innigere  fühlung  mit  der  musik  ^  sucht.  So  ist  mit  recht  hervor- 
gehoben, wie  bei  Arndt  der  dactylische  rhythmus  die  prosaische  betonung  einfach 
mit  sich  reisst,  weshalb  gerade  dieser  dichter  sich  nicht  als  beispiel  für  natürliche 
betonungsverhältnisse  verwerten  lasse.  Dagegen  siegt  der  wortaccent  am  liäufigsteu 
in  derjenigen  dichtung,  die  anlehnung  an  die  prosa  sucht,  vor  aUem  im  fünffüssigen 
Jambus  des  drainas.  Minor  hat  hier,  wie  auch  sonst  gelegentlich,  gerade  in  den 
freiheiten  dieses  verses  überraschende  ausblicke  in  die  vergleichende  metrik  eröffnet, 
in  erster  linie  in  das  wesen  des  romanischen  verses.  Den  häufigsten  ausgieich  bei 
dem  widerstreit  der  accente  liefert  nun  der  dritte  fall,  die  schwebende  betonung 
(s.  116  fgg.).  Minor  stellt  diese  erscheinung  klar  und  einfach  dar.  In  „Freiheit 
ruft  die  Vernunft,  freiheit  die  wilde  begierde"  stossen  versaccent  und  satz- 
accent  zusammen  und  halten  die  betonung  in  der  schwebe,  ein  ausgieich  tritt  dadurch 
ein,  dass  inan  tonhöhe  und  tonstärke,  die  sonst  an  dem  einen  accente  vereinigt  haf- 
ten, trennt  und  auf  die  beiden  ebenbürtigen  gegner  nun  verteilt.  In  der  widerholung 
erhält  also  freiheit  die  tonhöhe  auf  der  ersten,  die  tonstärke  auf  der  zweiten  silbe. 

Im  vierten  abschnitt  (s.  132  fgg.),  der  den  versfuss  oder  den  takt  behandelt, 
wird  in  betreff  der  taktdauer  eine  sehr  wichtige  beobachtung  gemacht,  die  die  ein- 
zelnen versgattungen  strenge  unterscheiden  hilft.  Vor  allem  das  daktylische  vers- 
mass  lässt  erkennen,  dass  bei  der  regelmässigen  widergabe  des  reinen  Schemas  die 
taktdauer  leichter  verletzt  werden  kann,  als  wenn  die  spoudeen  eingemischt  sind. 
In  den  gemischten  versen  kommt  es  auf  strenge  einhaltung  der  taktdauer  an,  wenn 
der  rhythmus   deutlicli   sich   einprägen  soll;    hier  also  kommen  die  Senkungen  recht 

1)  Für  Hans  Sachs,  den  der  Verfasser  hier  neben  Arndt  nennt,  hat  schon 
Braune  (Litt,  centi'alblatt  1894  nr.  1)  darauf  aufmerksam  gemacht,  dass  seine  accente 
mehr  vom  äuge  als  vom  ohr  beeinfl.usst  werden. 


ÜBER   MINOR,    NHD.    METRIK  253 

eigeutlicli  in  betracht.  Die  mittel  zui"  herstellung  einsilbiger  Senkungen  (s.  173  fgg). 
sind  nicht  so  ganz  befriedigend  dargestellt.  Die  frage  der  elision  und  der  apokope 
wenigstens  wird  zu  wenig  mit  berücksichtigung  der  lautlichen  Verhältnisse  behandelt. 
Dagegen  fällt  für  die  frage  des  hiatus  (s.  178  fgg.),  der  allerdings  auch  in  der  litte- 
ratur  ergiebiger  behandelt  ist,  eine  reihe  treffender  bemerkungen  ab. 

Mit  dem  5.  abschnitt  beginnt  das  litterarhistorische  moment  sich  mehr  in  den 
vordergrimd  zu  schieben,  hier  nimmt  auch  die  darstellung  immer  mehr  die  form 
einer  abrundung  und  Zusammenfassung  der  vorarbeiten  au.  Die  eigenart  des  Verfas- 
sers prägt  sich  am  deutlichsten  in  seinen  beitragen  zum  „Enjambement"  aus,  in  sei- 
nem bemühen,  den  „versschluss"  möglichst  unabhängig  von  bisherigen  anschauungen 
zu  erfassen.  Schwierigkeiten  häufen  sich  auf  Schwierigkeiten  unter  der  band  Minors 
und  man  könnte  fast  fragen,  wem  damit  gedient  sei?* 

Die  einzelnen  versarten  erfahren  eine  liebevolle  und  aufklärende  darstellung. 
Wir  heben  die  gedrungene  Übersicht  auf  s.  334  heraus.  „Es  ist  aber  wol  festzuhal- 
ten, dass  der  moderne  knittelvers  mit  dem  Hans  Sachsischen  vers  nichts  zu  tun  hat. 
Wie  man  sich  diesen  auch  zurechtlegen  mag"  (vgl.  s.  323),  „über  jedem  zweifei  steht 
allein  die  festbestimmte  silbenzahl,  gerade  diese  aber  fehlt  dem  knittelverse.  Von 
den  vierhebigen  jambischen  oder  trochäischen  versen  unterscheidet  er  sich  eben 
dadurch ,  dass  auftakt  und  Senkungen  fehlen  oder  auch  mehrsilbig  sein  können.  Er 
entspricht  also  wol  dem  altdeutschen  vierhebigen  reimvers,  aber  nicht  dem  vers  des 
Hans  Sachs.  Von  diesen  beiden  aber  unterscheidet  er  sich  wider  dadurch,  dass  die 
reimstellung  meistens  frei  ist." 

Besonders  warm  nimmt  sich  Minor  der  freien  rhji;hmen  an,  die  er  (wenn 
auch  in  deutlicher  anlehuuug  an  Goldbeck -Loewe)  aus  eigenen  zutaten  beleuchtet. 
Manchem  leser  gegenüber  ist  es  übrigens  auch  heute  noch  notwendig,  diese  rhyth- 
men  als  formen  der  poesie  zu  verteidigen,  wie  ein  blick  in  die  tageskritik  deutlich 
dartut.  Gelegentlich  der  Stabreime  nimmt  Minor  auf  Jordan  bezug.  Der  vers  Richard 
Wagners,  der  meines  erachtens  wesen  und  anläge  des  Stabreims  viel  innerlicher 
erfasst  hat,  scheint  wegen  seiner  Verbindung  mit  der  musik  ausgeschlossen  worden 
zu  sein. 

Schöne  beobachtungeu  enthüllen  sich  bei  der  darstellung  des  endreimes.  Vor 
allem  ist  es  das  Verhältnis  des  reimes  zum  sinn,  die  gegenüberstellimg  von  bedeu- 
tenden reimwörtern  imd  von  reimfüllseln ,  die  sinnliche  kraft  des  reims,  die  hierzu 
anregten.  Zu  der  empfindungsskala  der  vokale  (s.  358)  hätte  sich  noch  anziehen  las- 
sen, was  Helmholtz  über  die  eigentöne  der  vokale  sagt'.  Unter  den  Strophenformen 
(s.  382  fgg.)  kommt  auch  die  Nibelungenstrophe  (s.  409)  zur  besprechung,  allerdings 
ohne  dass  der  gegenwäiiige  stand  dieser  frage  und  die  Stellung  des  Verfassers  deut- 
lich sich  kennzeichneten.  Merkwürdig  ist  es  überhaupt  und  für  unsere  neuhoch- 
deutsche metrik  überaus  bezeichnend,  wie  wenig  der  Verfasser  auf  den  älteren  deut- 
schen vers  bezug  nimmt.  Freilich  ist  er  auch  einer  reihe  von  parallelen  ausgewichen, 
die  sich  eigentlich  ungesucht  ergeben  hätten  (s.  122.  149.  169.  219). 

Beim  Sonett  ist  wol  in  anlehnung  an  die  reichhaltige  litteratur  dieser  strophe 
das  Verhältnis  zwischen  form  und  Inhalt  in  die  darstellung  eingewoben,  es  legt  uns 
den  wünsch  nahe,  dass  die  metrik  überhaupt  dieser  frage  mit  neuen  kräften  nach- 
spüre.    Sie  gehört  zu  den  reizvollsten  aufgaben  in  der  geschichte  der  dichtung. 

1)  Vgl.  hierzu  noch  den  nachtrag  auf  s.  480. 

2)  Lehre  von  den  tonempfinduugen  s.  163  fgg.     Braunschweig  1802. 


254  WUNDERLICH 

Wir  siud  um  ende.  Es  ist  kaum  angebracht,  darauf  hinzuweisen,  dass  mit 
den  einwänden,  die  da  und  doit  zu  erheben  waren,  nicht  alle  bedenken  und  zweifei, 
zu  denen  das  buch  anregt,  ausgesprochen  sind.  Denn  wo  solch  ein  weites  gebiet 
umgepflügt  worden,  kann  nicht  jede  schölle  der  anderen  gleichwertig  sein.  Aber  der 
same,  der  darein  gestreut  wurde,  ist  keimkräftig  und  tragfähig;  und  die  frucht,  die 
aus  den  guten  stellen  spriesst,  ist  so  reich  und  dicht,  dass  sie  auch  den  steinigen 
boden  überschattet. 

HEIDELBERG,   30.    DEC.    1894.  H.    WUNDERLICH. 


Der  althochdeutsche  Isidor.  Facsimile  -  ausgäbe  des  Pariser  codex  nebst  kriti- 
schem texte  der  Pariser  und  Monseer  bruchstücke.  Mit  einleitung,  gramma- 
tischer darstellung  und  ausfühiiichem  glossar.  Von  0.  A.  Heiicli.  [Quellen  und 
forschungen  72.]  Strassburg,  J.  Trübner.  1893.  XIX  und  196  s.  Mit  22  tafeln. 
20  m. 

Hench  hat  seiner  ausgäbe  der  Monseer  fragmente  (vgl.  Ztschr.  XXV,  117), 
in  denen  ja  auch  bruchstücke  des  althochdeutschen  Isidor  dargeboten  waren,  nun 
eine  gesammtausgabe  der  für  Isidor  vorliegenden  texte  folgen  lassen.  Die  eigent- 
liche arbeit  hat  sich  hier  natürlich  dem  Pariser  codex  zugewant,  wenn  auch  für 
die  Monseer  fragmente  einige  besserungen  und  ergänzungen  zu  bemerken  sind  (vgl. 
XXXIII,  5).  Aus  dem  Pariser  codex  hatte  schon  Kölbing  (Germania  XX,  378  fg.) 
zahlreiche  lesarten  der  ausgäbe  von  "Weinhold  berichtigt;  Hench  bestätigt  auf  grund 
neuer  zweimaliger  collationen  eine  reihe  dieser  besserungen  (vgl.  VI,  7;  VII,  8; 
Vin,  7;  IX,  11  u.  a.),  andere  werden  von  ihm  zurückgewiesen  (IV,  1).  Durch  die 
beigäbe  der  photographischen  abdrücke  sind  wir  in  den  meisten  fällen  in  stand 
gesetzt,  die  richtigkeit  dieser  angaben  zu  prüfen,  nur  in  II,  17  bei  der  lesung 
himüfleugendem  werden  wir  im  stiche  gelassen.  Kölbing  (s.  378)  gibt  au:  „zn  himi- 
les  bemerke  ich,  dass  es  über  ü  geschrieben  und  wol  zu  erkennen  ist",  während 
Hench  entgegnet,  „keine  spur  von  es  über  «7,  Avie  Holtzmaun  und  Kölbing  be- 
haupten, sicher  nie  geschrieben."  In  dem  photographischen  abdruck  entzieht 
uns  ein  tintentleck  die  möglichkeit,  irgendwelche  Vermutungen  über  diesen  Wider- 
spruch zu  treffen,  und  der  herausgeber  stellt  nicht  einmal  die  erwäguug  an,  ob  nicht 
vielleicht  gerade  hier  die  lösung  des  rätseis  ruht.  Über  Kölbing  hinaus  gehen  andere 
lesungen,  so  gleich  I,  2.  3  himilo  gara/vi  frumida  für  himilo  garaivida.  Die 
wichtigste  entdeckung  in  der  handschrift  betrifft  jedoch  das  lied  auf  den  heiligen 
Anianus  (vgl.  einl.  s.  XI),  das  sich  als  späteren  zusatz  erweist.  Damit  fällt 
für  die  Vermutung  Holtzmanns,  dass  die  handschrift  in  Orleans  entstanden  sei, 
die  wichtigste  stütze,  und  danach  ist  die  anmerkung  in  Denkmäler^  11,  s.  350  zu 
berichtigen. 

Die  selbständige  betätigung  des  herausgebers  am  texte  macht  sich  haupt- 
sächlich in  konservativer  richtung  geltend.  Einige  änderungen  AV'einholds  siud  init 
recht  von  ihm  wider  beseitigt  (XXXIV,  9.  10;  XXXV,  10),  einige  Irrtümer  des  Ori- 
ginals hübsch  auf  die  vermutliche  Ursache  zurückgeführt  (IX,  13;  XXIV,  5).  Die 
noten  konnten,  da  der  paläographische  apparat  in  den  phototypieu  enthalten  ist,  auf 
ein  minimum  beschi'änkt  werden  und  geben  vorwiegend  mitteilungeu  zum  lateini- 
schen texte. 

Der  löwenanteil  fiel  der  grammatischen  darstellung  und  dem  glossar  zu.  Mit 
recht  beginnt  die  lautlehre  gleich  mit  einer  eingehenden  Untersuchung  über  die   sil- 


ÜBER   HENCH,    ISIDOR  255 

bentrennuag.  Nur  wirft  der  lierausgeber  hier  mehrere  formen  zusammen.  Auf- 
schlüsse für  die  ausspräche  sind  am  sichersten  am  zeilenschlusse  zu  gewinnen ;  hier  ist 
die  Stellung  des  einfachen  konsonanten  im  inlaut  {hei  legim  XXVI,  14),  die  Zer- 
legung der  diphthouge  (XV,  20  ghe  ist)  sicher  von  Interesse.  Innerhalb  der  Zeilen 
aber  scheint  mir  das  graphische  momout  zu  überwiegen.  Hier  sind  es  in  erster 
linie  die  buchstabeu,  die  ein  zusammenwirken,  einen  anschluss  begünstigen  oder 
verhindern.  In  manchen  ähnlichen  fäUen,  die  Hench  für  die  lautlehre  ausnutzen 
möchte,  lässt  sich  überdies  seine  angäbe  aus  der  phototypie  berichtigen.  In  I,  21 
daucgal  finde  ich  keine  bemerkenswerte  Kicke,  in  XLIII,  1  tmrxa  steht  das  %  von 
a  gleich  weit  ab  wie  von  r.  In  anderen  belegen  überwiegt  das  begriffliche  resp. 
etymologische  moment,  vgl.  XXXVI,  4  his  scof  heit. 

lu  der  lautlehre  ist  im  allgemeinen  ein  entschiedener  fortschritt  gegen  die 
frühere  ausgäbe  hervorzuheben.  Allerdings  wird  auch  jetzt  noch  gar  manches  dar- 
gelegt und  ausgesprochen,  was  nicht  eigentlich  in  den  rahmen  des  Isidor  gehört; 
aber  diese  ausführungen  bieten  docli  nicht  mehr  referat,  sondern  eigenes  urteil,  imd 
sie  knüpfen  an  schwebende  fragen  der  litteratur  an.  In  vielen  fällen  ergibt  sich  die- 
ser Übergang  ungezwungen  aus  der  darstellung  selbst.  S.  63  fallen  zu  der  von  Sie- 
vers beobachteten  anwenduug  der  längenbezeichnung  neue  beobachtungen  ab;  s.  65 
werden  die  Schwankungen  der  (juantität  unter  dem  einfluss  der  tonschwankuug  unter- 
sucht, imd  s.  68  fgg.  treten  die  vokale  der  nichthaupttouigen  silben  in  den  Vorder- 
grund der  betrachtung.  Auch  hier  widerum  wird  die  quantität  in  frage  gezogen  und 
die  länge  im  allgemeinen  als  Seltenheit  festgestellt.  Synkope  und  assimilation  ergeben 
wenig  bemerkenswertes.  Bei  der  darstellung  des  consonantismus  interessiert  vor 
allem  die  deutung  der  zeichen  ch  und  gh.  Für  ch  verteidigt  Hench  den  charakter 
der  aspirata,  den  er  auch  —  aber  auf  der  Vorstufe  der  spirantisierung  —  für  das 
Isidorische  gh  in  ansprach  nimmt.  Im  allgemeinen  berührt  das  bestreben  woltuond, 
die  scheinbare  regellosigkeit  bestimmter  Schreibungen  zu  entwirren.  Bald  auf  phone- 
tischer grundlage  als  einwirkung  bestimmter  artikulationsstellen  [vgl.  s.  81  die  wider- 
gabe  des  germanischen  ^,  das  nach  vokalen  und  r  tönende  Spirans  geblieben  (f//?), 
nach  l  und  n  media  geworden  ist  ((/)],  bald  auf  graphischer  grundlage  als  neiguugen 
und  Irrtümer  der  Schreiber  lassen  sich  die  meisten  Widersprüche  lösen,  und  Hench 
hat  recht,  wenn  er  s.  111  "Weinholds  auffassung  der  lautbezeichnung  im  Isidor  als 
einer  „  mechanischen  mischung  des  mitteldeutschen  mit  dem  bairischen "  zurück- 
weist. Hench  hat  in  etwas  knappem  berichte  über  die  frühere  litteratur  als  dialekt- 
gebiet des  ahd.  Isidor  das  südliche  Rheinfranken  aufgestellt,  dem  nur  wenige  und 
leicht  zu  bewältigende  erscheiuuugen  entgegenstehen. 

Der  ausdruck  der  darstellung  ist  flüssig  und  für  einen  ausländer  auffällig  cor- 
rect.  In  den  anmerkungen  verrät  sich  der  Amerikaner  durch  starke  kürzungen  wie  in 
der  oben  angeführten  stelle;  nur  selten  begegnen  kleine  Verstösse  wie  s.  13  anm.: 
Wcinhold  will  den  zweiten  dhen  streichen.  Einige  druckfehler  wurden  schon 
im  Litterar.  central blatt  (1894  s.  189)  gerügt;  störend  sind  sie  vor  allem  bei  citaten 
(s.  59  1.  26,  14).  Unrichtig  ist  es  auch,  wenn  s.  61  von  der  umlautform  nemin 
angegeben  ist,  dass  sie  zweimal  erscheine.  Sie  ist,  wie  auch  das  glossar  bezeugt, 
weit  häufiger  belegt. 

HEILlELBERG,    12.    JANUAR    1895.  H.    WUNDERLICH. 


256  WUNDERLICH 

Deutsche  gedichte  des  12.  Jahrhunderts.  Herausgegeben  von  Karl  Kraus. 
Halle,  Niemeyer.  1894.     X  und  284  s.     Im. 

In  der  litteratur,  die  sich  mit  der  dichtung  des  12.  Jahrhunderts  beschäftigt, 
ist  der  name  des  herausgebers  nicht  mehr  fremd.  Gründliche  belesenlieit  und  abwä- 
gende besonneuheit  sind  ihm  aiich  bei  seinem  neuen  grösseren  unternehmen  treu 
geblieben;  dazu  erfreut  uns  die  iiuerschrockenheit,  mit  der  Kraus  allen  fragen,  die 
irgendwie  in  den  stolf  einschlagen,  entgegengeht  und  nachspürt.  Kein  problem  wird 
behutsam  umgangen;  auch  abseits  liegende  gebiete  werden  gestreift  und  oft  mit  vie- 
lem glück  erschlossen.  Solcher  i'eichhaltigkeit  gegenüber  muss  das  urteil  des  refe- 
renten  auf  gleichmässige  prüfang  des  ganzen  dargebotenen  verzichten;  Zustimmung 
und  abwehr  müsseu  an  einzelnen  punkten  ansetzen  und  sich  für  das  übrige  in  allge- 
meinere formen  kleiden. 

Es  sind  ganz  versehiedenwertige  gedichte,  die  in  unserer  Sammlung  zusam- 
mentreten. Verschiedener  herkunft,  verschiedenen  stils,  tragen  sie  als  gemeinsames 
kennzeicheu  nur  die  Zugehörigkeit  zum  12.  Jahrhundert  und  den  Charakter  kleinerer 
geistlicher  gedichte.  Das  war  auch  das  entscheidende  moment  für  die  auswahl  die- 
ser au  den  orten  ihrer  Veröffentlichung  teilweise  vergrabenen  sprachproben.  So  ist 
die  Sammlung  wol  geeignet,  die  züge,  die  das  12.  Jahrhundert  seiner  geistlichen  dich- 
tung aufgeprägt  hat,  im  Zusammenhang  und  in  ihrer  entwicklung  deutlicher  hervor- 
treten zu  lassen,  als  es  bisher  der  fall  war.  Namentlich  wenn  wir  aus  den  reich- 
haltigen anmerkungen  des  herausgebers  die  färben  entnehmen,  die  das  bild  beleben, 
sind  wir  gar  wol  im  stände,  mittelst  der  13  gebotenen  texte  uns  ein  bild  jener  dich- 
tung zu  machen. 

Wo  es  irgend  möglich  war,  hat  der  herausgeber  die  handschriften  von  neuem 
eingesehen,  was  nicht  ohne  ergebuisse  blieb  und  die  verdienstlichkeit  der  coUation 
auch  gut  edierter  texte  widerum  bestätigt.  In  der  widergabe  des  textes  schliesst 
sich  der  herausgeber  ganz  nahe  an  den  diplomatischen  abdruck  an,  ein  verfali- 
ren,  für  das  neben  den  allgemeinen  gründen  hier  noch  die  besonderen  Verhält- 
nisse des  Inhaltes  sprechen.  Wenn  Kraus  (einleituug  s.  5)  es  als  wünschenswert  be- 
zeichnet, „dass  der  mitarbeitende  leser  in  den  stand  gesetzt  wird,  die 
gewohnheiten  des  Schreibers  sowie  das  lautbild  einzelner  stellen  auf 
bequeme  weise  zu  überschauen",  so  gilt  dieser  wimsch  eigentlich  für  alle  unsere 
texte.  Gerade  die  „ergänzungen"  und  „conjecturen"  auch  neuerer  zeit  lassen  so  viel- 
fach die  lebendige  anschauung  von  der  beschaffenheit  unserer  handschriften  vermis- 
sen, statt  deren  dann  herausgeber  und  leser  sich  gerne  eine  „Sicherheit  vortäu- 
schen, wo  sie  nicht  zu  erreichen",  eine  „regelmässigkeit,  wo  sie  nicht 
vorhanden  ist." 

Bei  den  dichtungen  aus  unserer  mhd.  blütezeit  wird  dieser  misstand  immer 
unvermeidlich  sein.  Denn  hier  wollen  auch  die  geniessenden  leser  berücksichtigt  wer- 
den, und  ihr  äuge  darf  man  nicht  dui'ch  das  beleidigen,  was  nur  dem  „mitarbeiten- 
den" leser  frommt.  Dagegen  bei  texten  von  so  wenig  künstlerischem  werte,  wie 
den  vorliegenden,  war  die  eutscheidung  leichter.  Unter  den  änderungen,  die  der 
herausgeber  am  texte  vornimmt,  empfiehlt  sich  die  absetzuug  der  verszeilen,  die  bes- 
serung  verderbter  stellen  und  die  ergänzung  von  lücken  —  vor  allem  in  der  beschrän- 
kung,  die  Kraus  sich  auferlegt  hat.  Mit  erfreulicher  konsequenz  ist  hier  überall  der 
räum  innegehalten,  der  nach  genauester  berechnung  auch  wirklich  zur  Verfügung 
steht.  In  wie  weit  die  einführung  der  interpunktion  mehr  der  bequemlichkeit  als  der 
mitarbeit  des  lesei'S   entgegenkommt,    ist  eine  frage   für  sich.     Auch  die  „Umsetzung 


ÜBER   KRAUS,    GEDICHTE   DES    12.    JAHRHUNDERTS  257 

der  dialektisch  abweichenden  formen  der  reimwörter  in  die  dem  dichter  gemässen" 
öffnet  den  hypothesen  und  der  Unsicherheit  eine  hintertüre;  freilich  in  der  hesonne- 
nen  handhabung  des  herausgebers  ist  sie  geeignet,  den  absiebten,  die  er  dabei  im 
äuge  hat,  zu  dienen.  An  die  texte  selbst  schliessen  sich  „abhandlungen  und  anmer- 
kungen".  Die  abhandlungen  bringen  den  textkritischen  apparat  und  die  stoffgeschichte 
des  einzelnen  denkmals  in  abgerundeter  darstellung  vor  äugen,  die  anmerkungen 
führen  das  grammatische  und  stilistische  material  vor;  sie  freilich  lassen  die  ordnende 
und  sichtende  band  trotz  aller  Zugeständnisse,  die  man  geneigt  ist,  an  diese  form  der 
darstellung  zu  machen,  entschieden  vermissen. 

Die  reihe  wird  eröffnet  dui'ch  das  schon  von  Schönbach  (Zs.  f.  d.  a.  XXXII, 
350  —  373)  veröffentlichte  gedieht  „von  Christi  geburt",  bei  dem  sich  Kraus  im 
wesentlichen  auf  die  zugäbe  der  anmerkungen  beschränkt  hat.  Zu  dem  verse  49  is 
id  als  (lad  buch  quit,  der  an  und  für  sich  auch  als  hauptsatz  gelesen  werden  könnte 
trotz  der  Wortstellung,  wäre  es  nicht  unnützhch  gewesen,  die  stelle  aus  Karlmeinet 
484,  39  im  Wortlaut  anzuführen :  7s  id  als  dat  buch  quyt,  So  ivas  id  an  der  vespir 
xyt.  Für  das  zweite  stück,  den  ,Rheinauer  Paulus"  hatte  sich  Kraus  mit  der  von 
Rödiger  herausgegebenen  Milstätter  sündenklage  (Zs.  f.  d.  a.  XX)  auseinanderzusetzen, 
die  einen  teil  unseres  gedichtes  in  veränderter  anordnung  enthält.  Von  den  beweis- 
mitteln,  die  Rödiger  für  einen  anderweitigen  Verfasser  eben  dieses  teils  vorfühii,  ist 
Kraus  im  stände,  einige  zu  entkräften.  Er  geht  aber  nicht  so  weit,  nun  die  Unteil- 
barkeit des  Rheinauer  Paulus  zu  behaupten,  trotzdem  er  die  lautlichen  und  ortho- 
graphischen Verhältnisse  des  denkmals  einheitlich  darstellt.  Es  wird  hiebei  von  einem 
„fortleben  des  Notkerschen  kanons"  gesprochen  „allerdings  mit  beschränkung  auf  die 
dentalis",  die  belege  zeigen  aber  auch  für  diese  mehr  die  ausätze  als  die  regelmässi- 
gere  ausführung.  Unter  den  anmerkungen  ragen  hier  die  syntaktischen  heiwor,  so 
zu  vers  39/40  der  begrabin  ivas,  undi  du  in  isxe  (Mexe)  uffsten  und  zu  vers  107, 
der  anlass  gab,  die  bedmgungen,  unter  denen  das  pron.  pers.  fehlen  darf,  von  s.  88 
bis  98  zu  behandeln.  So  verdienstlich  diese  syntaktischen  exkurse  sind,  zu  denen 
Heinzel  seine  Sammlungen  geöffnet  hat,  so  hätten  sie  doch  durch  eine  übersichtlichere 
und  knappere  anordnung  gewonnen.  Gerade  in  der  10  selten  umfassenden  reihe  von 
belegen  für  die  ellipse  des  Personalpronomens  zeigt  sich  das  deutlich.  Allerdings  ist 
hier  wenigstens  eine  gliederung  versucht,  aber  sie  geht  mehr  äusserlich  von  dem 
Schema  aus,  in  das  sie  die  belege  einpasst,  statt  dass  aus  den  besonderen  Verhältnis- 
sen der  einzelnen  belege  die  Unterabteilungen  gewonnen  worden  wären. 

Besonders  hübsche  ergebnisse  bietet  die  abhandlung  zum  Baumgartenberger 
„Johannes  Baptista"  (XU).  Zunächst  werden  die  bemerkungen  des  früheren  her- 
ausgebers Vomberg  auf  grund  von  genauen  messungen  mit  dem  cirkel  zuinickgewie- 
sen,  sodann  ergeben  sich  interessante  aufschlüsse  über  das  interpunktionssystem  der 
handschrift,  das  die  Zeilenschlüsse  markiert  und  die  Strophen  zusammenschliesst, 
ebenso  wie  die  Sinnesabschnitte  durch  gi-osse  anfangsbuchstaben  abgehoben  und  durch 
zahlen  fortlaufend  registriert  werden.  Auf  der  grundlage  dieser  einzelheiten  baut  nun 
der  herausgeber  weiter.  Er  macht  es  wahrscheinlich,  dass  der  abschreiber  mit  ihnen 
ziemlich  genau  an  die  vorläge  sich  anschliesst,  und  somit  werden  rückschlüsse  auf 
die  genauigkeit  der  abschritt  möglich.  Ausserdem  entspringt  daraus  eine  liandhabe, 
um  die  Kicken  zwischen  den  fragmenten  auszumessen  und  von  solcher  kenntniss  aus 
die  ansieht  von  Mone  zu  widerlegen  (s.  105).  Auch  die  ansichten,  die  bei  anderen 
ähnlichen  gedichten  über  beabsichtigte  Symmetrie  der  Sinnesabschnitte  geäussert  und 
abgewehrt  worden  sind,    erhalten  aus  diesen  ausführimgen  eine  neue  stütze.     Nach 

ZEITSCHRIFT   F.    DEUTSCHE    PHILOLOGIE.      BD.    XXVIII.  1« 


258  WUNDERLICH 

feststellung  der  termini  a  quo  (Ezzolied)  und  aute  quem  (Kaiserchrouik)  lehnt  Kraus 
auch  die  yermutung  Scherers  (QF  XII,  69)  ab,  dass  das  gedieht  von  Arnold,  dem 
dichter  der  Siebenzahl  und  der  Juliana,  herrühre.  Unter  den  anmerkungen  sind 
einige  exkurse  zum  stil  und  formelschatz  hervorzuheben  (vgl.  zu  z.  37.  51.  52),  die 
vielfache  einblicke  in  die  technik  jener  zeit  gewähren. 

Ein  anderer  Johannes  ßaptista,  der  des  Adelbreht,  reiht  sich  als  nr.  lY 
an  und  gibt,  da  die  blätter  jetzt  verschollen  sind,  dem  herausgeber  gelegenheit,  seine 
textkritische  methode  an  abschriften  aus  neuerer  zeit  zu  erproben.  Deshalb  nehmen 
hier  auch  die  conjecturen  in  den  aumerkungen  einen  breitereu  räum  ein  als  sonst. 
Vor  andern  möchte  ich  hier  die  conjectur  zu  z.  32  hervorheben,  die  graphisch  und 
stilistisch  mit  vielem  glück  verteidigt  wiixl.  Dagegen  treffen  die  aumerkungen  zu 
z.  7  und  z.  65  nicht  ganz  das  richtige.  Im  ersten  falle,  wo  es  sich  um  den  stum- 
men Zacharias  handelt,  der  stumm  bleiben  soll  unxe  an  den  tack  .  .  daz  dax  kint 
iverde  gehorn  da%.  got  darxii  hat  erkorn  da%  er  wrde  ein  erweites  ua%,  kann  man 
nicht  von  einer  inkongruenz  der  modi  sprechen,  noch  weniger  diese  aus  den  von 
Kraus  angezogenen  fällen  belegen;  es  ist  der  Wechsel  der  modi  hier  viebnehr  ganz 
natürlich  und  in  der  Verschiedenheit  des  Zusammenhanges  begründet.  Im  zweiten 
falle  do  dax  die  mage  veriumien  (z.  65)  ist  mir  das  von  Kraus  gegen  Mone  und 
Yomberg  eingeführte  demonstrativ  in  dieser  Stellung  und  als  objekt  auffällig;  die 
belege,  die  Kraus  beibringt,  zeigen  es  stets  in  anderer  Stellung.  Auch  dass  die 
Schreibung  den  in  z.  73  an  den  ahtoden  tage  mit  belegen  beleuchtet  wird,  in  denen 
es  sich  unzweifelhaft  um  die  schwache  flexion  des  adjectivs  handelt,  scheint  mir 
verfehlt.  Andererseits  habe  ich  zu  z.  54  dax  gebot  im  min  trechtin  oder  besser 
schon  zu  in  z.  76  die  belege  vermisst,  die  zu  VII,  102  gegeben  werden.  Ebenso 
hätte  die  stelle  192 — 194  wol  auch  zu  bemerkungen  anlass  geben  können,  wo  Johan- 
nes den  henker  ins  gefängnis  treten  sieht  und  es  dann  weiter  heisst:  dax,  houhet  er 
im  neiete,  die  hende  hinne  breitte.  den  hals  er  itn  abe  sluoch.  Zu  dem  kurzen 
stück  von  S.  Veit  (V),  dessen  Verfasserschaft  für  den  obengenannten  Adelbreht  offen 
bleibt,  hat  Kraus  an  zeile  52  eine  reihe  von  belegen  für  die  mhd.  parataxe  ange- 
knüpft s.  141  — 146.  Auch  hier  hätte  sich  empfohlen,  die  einzelnen  momente  schär- 
fer herauszuarbeiten.  In  dem  Satzgefüge  ein  heiden  hiex,  hylas  der  saz  in  einem 
land'  gotes  e  niht  erchand'  handelt  es  sich  einerseits  um  die  asyndetische 
satz Verknüpfung,  die  Grimm  Gr.  IV  s.  950  behandelt,  und  andererseits  um  den  sel- 
teneren fall  der  subj  ektellipse  bei  solcher  asyndesis,  den  Grimm  Gr.  IV  s.  216, 
MüUeuhoff  Denkm.  XXXII,  1.  54  u.  a.  belegen.  Bei  den  Maccabäern  (VI)  ver- 
wirft Kraus  zahlreiche  ergänzungen  von  Bartsch  auf  grund  seiner  genauen  abmessim- 
gen  der  lücken.  Der  Patricius  (VII)  führt  in  erster  linie  zu  einer  Untersuchung 
der  vorläge,  deren  feststellung  nun  eine  hübsche  darlegung  der  technik  des  bearbei- 
ters  ermöglicht.  „Von  der  zukunft  nach  dem  tode"  (VIII)  und  S.  Paulus  (IX) 
werden  von  Kraus  wider  als  ein  einheitliches  werk  angesprochen,  in  dem  nr.  VIII 
die  rolle  einer  episode  spielt.  Für  den  Albanus  (X)  gewinnt  Kraus  auf  grund  einer 
eingehenden  quellenuntersuchung  genauere  Zeitbestimmungen.  Er  erkennt  den  Trans- 
mundus  als  Verfasser  der  lateinischen  vorläge  und  beweist  dies  aus  rhythmischen 
figuren,  die  in  dem  lateinischen  stil  des  Trausmundus  ebenso  wie  in  der  lateinischen 
Albanuslegende  am  satzschlusse  zu  belegen  sind.  Damit  kommen  wir  auf  die  jähre 
nach  1178,  genauer  vielleicht  nach  1186  und  auf  das  kloster  Clairveaux,  zu  dem 
auch  die  moselfränkische  heimat  des  deutschen  gedichtos  leicht  in  beziehungeu  zu 
setzen  ist.     Beim  Tun  dal us  (XI)  widersprechen  sich  nach  Kraus  die  abschritt  und 


ÜBER   KRAUS,    GEDICHTE   DES   12.    JAHRHUNDERTS  259 

die  aus  den  reimen  zu  erscliliessende  mundart  des  Originals,  die  auf  Mittelfranken 
weist,  indess  die  erstere  für  Hessen  spricht.  Auch,  hier  wird  die  arbeitsweise  des 
dichters  anschaulich  geschildert.  Christus  und  Pilatus  (XII)  und  ein  sehr  frag- 
mentarischer Andreas  (XIII)  machen  den  beschluss.  Man  sieht,  dass  höhere  und 
niedere  kritik  beim  herausgeber  in  reichem  masse  zur  geltuug  gekommen  ist;  um  so 
erfreuhcher  bei'ührt  es,  dass  den  texten  gegenüber  beide  formen  der  kritik  so  behut- 
sam auftreten,  vor  allem,  dass  die  metrik  in  diesen  texten  eine  sichere  und  unge- 
trübte quelle  für  ihre  Untersuchungen  vorfindet. 

HEIDELBERG,   31.    JANUAR   1895.  H.    WUNDERLICH. 


New   high   german.     A  comparative  study  by   William  Winston  Taleiitiu,    late 

Professor  of  modern  languages  Eandolph-Macon  coUege,  Virginia.  Edited  by 
A.  H.  Keane,  b.  a.  late  professor  of  hindustani  university  College,  London. 
2  volumes.  London,  Isbister  &  Co.  1894.  XIV  und  456,  X  und  444  s.  Gebun- 
den 30  sh. 

Es  ist  sehr  bemerkenswert,  dass  schon  vor  dem  jüngsten  grossen  aufschwunge 
der  akademischen  Sprachstudien  in  Amerika  dort  dräben  jenseits  des  oceans  ein  werk 
wie  das  vorliegende  hat  entworfen  und  der  voUendung  nahe  gebracht  werden  können. 
Der  Verfasser,  geboren  1828  in  Eichmond,  Virginia,  betrieb  schon  als  junger  mann 
eifrig  grammatisch -philologische  Studien,  die  er  1860  — 186.5  an  europäischen  bildungs- 
stätten  (Paris,  Berlin,  Florenz)  fortsetzte.  Von  1868  — 1871  wirkte  er  als  professor 
am  Eandolph-Macon  College;  dann  hat  er  ohne  öffentliche  lehrtätigkeit  seine  gelehr- 
ten arbeiten  weiter  geführt.  Als  frucht  derselben  hinterliess  er  bei  seinem  tode 
(17.  febr.  1885)  das  vorliegende  werk  nahezu  vollendet;  der  (vor  dem  erscheinen 
ebenfalls  verstorbene)  Londoner  herausgeber  hat  sich  bei  seinen  Zusätzen  beschrän- 
kung  auferlegt  und  im  wesentlichen  nur  das  zum  druck  gebracht,  was  den  ansichten 
und  absiebten  des  Verfasser  entsprach.  Weitere  sprachvergleichende  arbeiten  des 
Verfassers  sind  unvollendet  geblieben  (vgl.  das  vorwort  zum  I.  bände  s.  VI). 

Das  werk  legt  zeugnis  davon  ab,  dass  der  Verfasser  in  mühevoller  arbeit  und 
mit  Verständnis  die  fortschritte  der  deutschen  Sprachwissenschaft  verfolgt  hat.  Merk- 
lich blickt  namentlich  das  Studium  der  älteren  werke  von  J.  Grimm,  K.  Heyse, 
Schleicher,  Kehrein,  Vernaleken  hindurch;  aber  auch  die  resultate  späterer  linguisti- 
scher forschungen  mit  einschluss  von  „  Verner's  laio "  rmd  der  ai'beiten  der  „  neiv 
grammarians"-  sind  verwertet.  Auf  grund  solcher  arbeiten  bietet  der  Verfasser  eine 
vollständige  dai'stellung  der  nhd.  spräche  für  Engländer,  in  einer  zum  teil  eigentüm- 
lichen, stets  übersichtlichen  und  praktischen  anorduung  (I:  pJionology;  IE:  morpho- 
logy ;  III:  syntax;  die  weitere  gliederung  des  einzelnen  ist  aus  den  sorgfältig  gear- 
beiteten Inhaltsverzeichnissen  zu  ersehen.  Fast  überall  zeigt  sich  gründliche  kenntnis 
des  gegenwärtigen  nhd.,  dabei  auch  beachtung  der  in  der  lebenden  spräche  vorkom- 
menden Schwankungen,  sowie  des  Unterschiedes  zwischen  gewähltem  und  volks- 
tümlichem ausdruck.  Sodann  ist  der  Verfasser  —  freilich  nicht  in  aUen  teilen 
gleichmässig  —  bemüht,  den  gegenwärtigen  gebrauch  historisch  zu  begründen  diu'ch 
zurückgehn  auf  die  älteren  periodeu  der  spräche.  Ich  kann  hier  und  für  die  leser 
dieser  Zeitschrift  nicht  alle  teile  des  umfangreichen  Werkes  genau  durchgehen;  doch 
kann  ich  im  allgemeinen  mit  anerkennung  für  die  ernste,  keiner  Schwierigkeit  aus- 
weichende arbeit  des  Verfassers  mein  urteil  dahin  aussprechen,    dass  die  darstellung 

17* 


260  EKDMANN,    ÜBER    VALENTIN,    NEW    HIGH    GERAUN 

gi'iindlicli,  klar  und  lehrreich  ist,  und  dass  man  kaum  eine  wichtigere  frage  der  laut- 
und  formenlehre ,  der  Wortbildung  imd  der  syntax  des  nhd.  unberücksichtigt  finden 
wird;  nur  die  moduslehre  ist  auffallend  kurz  behandelt. 

Dieser  allgemeinen  anerkennung  muss  ich  freilich  einzelne  ausstellungen  folgen 
lassen.  Bisweilen  hat  sein  lehreifer  den  Verfasser  zu  weit  geführt,  indem  er  dinge 
zu  regeln  versucht,  die  in  unserer  spräche  entweder  überhaupt  nicht  geregelt  sind, 
oder  doch  anders,  als  er  angibt.  Dies  gilt  z.  b.  von  der  declination  der  eigennamen 
im  Singular  und  plural  I,  s.  139  fg.;  dort  sind  nicht  nur  die  guten  Karle  und  die 
guten  Luisen  erbarmungslos  durch  alle  casus  abgewandelt  (später  steht  als  gen.  sg. 
der  kleinen  Luisen,  was  auf  einem  anglicismus  beruht),  sondern  auch  die  berühm- 
ten Schlegel  und  die  geistreichen  Vossen  (so!).  Unser  alter  Eutiner  J.  H.  Yoss  hätte 
gegen  das  gewählte  beiwort  vielleicht  ebenso  lebhaften  einsprach  erhoben  wie  gegen 
die  schwache  declination  seines  namens!  Unnütz  ist  die  zahleumässig  gegebene  Über- 
sicht der  ablautenden  verba  s.  257;  die  folgende  einteilung  derselben  ist  für  den  stu- 
dierenden der  historischen  grammatik  sogar  gefährlich,  denn  sie  ist  ausschliesslich 
nach  den  gegenwärtigen  nhd.  gestaltungen  des  vocales  der  Stammsilbe  gegeben,  wo- 
durch au  vielen  stellen  die  zurückführung  auf  die  alten  ablautsreihen  erschwert  wird. 
An  manchen  stellen  finden  sich  fehlerhafte  wortformen,  die  ein  im  lebendigen  gebrauche 
der  correcten  deutschen  spräche  sich  bewegender  Schriftsteller  nicht  hätte  schreiben 
oder  unverbessert  durchlassen  können.  Vielleicht  nur  druckfehler  (obwol  der  druck 
sonst  recht  sorgfältig  ist)  sind  2iütxhwmllerin  I,  140;  er  hat  gesch wollt ^  geschmolxt 
II ,  80 ;  scJinittschuh  laufen  II ,  343 ;  aber  sicher  keine  dnickfehler  (wie  sich  aus  dem 
zusammenhange  ergibt)  liegen  vor  bei  log  als  praet.  von  liegen  I,  259;  erschallen 
als  part.  praet.  I,  260;  die  mamaens  (pl.  zu  maina  I,  151);  dazu  erwähne  ich  das 
litterarische  versehen  II,  343  Kleists  öden  (statt:  Klopstocks) ^  sowie  dass  I,  9  Otfrid 
zum  8.  Jahrhundert  gezogen  wird.  Solche  fehler  kommen  freiüch  nur  vereinzelt  vor; 
aber  sie  rechtfertigen  den  wimsch ,  dass  Engländer  bei  einem  so  eingehenden  Studium 
der  deutschen  spräche,  wie  dieses  werk  Valentins  es  voraussetzt,  auch  bücher 
benutzen  mögen,  die  in  deutscher  spräche  von  Deutschen  geschrieben  sind.  —  Die 
berufung  auf  einzelne,  bei  gelehrten  Schriftstellern  vorgekommene  „satz- ungeheuer" 
II,  443  genügt  nicht,  um  das  deutsche  gegenüber  dem  modernen  englisch  herab- 
zusetzen. 

Die  ausstattuug  des  Werkes  ist  sehr  gut;  störend  wirkt  jedoch  der  umstand, 
dass  die  angeführten  deutschen  Wörter  mit  denselben  typen  gedruckt  sind,  wie  der 
englische  text.  Für  die  in  Deutschland  noch  immer  weit  verbreitete  fracturschrift 
lege  ich  kein  wort  ein;  aber  man  hätte  ja  gesperrte  oder  cursive  lettern  anwenden 
können. 

KIEL.  0.   ERDMANN,    (-f) 


Zwei  altdeutsche  rittermären  (Moriz  von  Craon,  Peter  von  Staufenberg), 
neu  herausgegeben  von  Edward  Scbröder.  Berlin,  Weidmann.  1894.  .LH  und 
103  s.     3  m. 

Massmann  und  Haupt  haben  für  Moriz  von  Craon,  Jänicke  für  Peter  von  Stau- 
fenberg noch  mancherlei  zu  tun  übrig  gelassen:  so  ist  es  denn  mit  dank  zu  begrüssen, 
dass  Schröder  uns  eine  reinliche  und  hübsche  neuausgabe  beider  gedichte  als  eine 
art  „einführung  in  die  ritterliche  epik  sowol  der  frühen  blute  wie  des  fortschreiten- 
den Verfalls"   (s.  V)  darbietet.     Die  einleitung,    die  über  alle  wesentlichen  punkte 


LEITZMANN,    ÜBER    SCHRÖDER,    ZWEI    RITTERMAREN  261 

genaue  auskuuft  gibt,  bietet  vielerlei  neues  und  anregendes:  vor  allem  erfahren  die 
historischen  grimdlagen  beider  erzählungen  und  die  personalien  der  beiden  und  dich- 
ter zum  ersten  male  eingehende  beleucbtung;  die  frage  nach  der  vorläge  der  grossen 
Ambraser  sammelhandschrift  wird  fördernd  behandelt;  chronologisch  ist  nach  Schrö- 
ders blendender  darlegung  der  Moriz  von  Craon  zwischen  Gottfrieds  Tristan  und  Her- 
borts Trojadichtung  zu  setzen,  eine  datierung  die  wol  künftig  als  feststehend  wird 
betrachtet  werden  müssen;  als  dichter  des  Peter  von  Staufenberg  wird  ein  Egeuolf 
von  Staufenberg  mit  grosser  Wahrscheinlichkeit  nachgewiesen,  der,  in  umfassendem 
Studium  Konrads  von  Würzbui'g  lebend,  das  gedieht  um  1310  geschrieben  hat.  Zu 
s.  IX  möchte  ich  bemerken,  dass  mir  im  Moriz  von  Craon  aus  vers  59.  861.  1097. 
1701  eine  reimbindung  e  .•  en  wahrscheinlich  vorkommt,  die  den  dort  aufgeführten 
reimerscheinungen  beizufügen  wäre.  —  Mit  der  gestaltung  der  texte,  zu  der  Schrö- 
der noch  Zeitschr.  f.  d.  a.  38,  95  eiiäuterungen  gegeben  hat,  kann  man  durchweg 
einverstanden  sein,  namentlich  soweit  principielle  fragen  in  betracht  kommen,  ßoe- 
the  verdankt  der  herausgeber  ein  paar  glänzende  korrekturen  im  Moriz  von  Craon: 
nur  die  zu  787  ist  überflüssig.  261/62  und  396  wäre  ich  bei  Haupts  lesart  geblie- 
ben; 630  hätte  die  handschriftliche  losung  bewahrt  bleiben  sollen;  die  änderungen  in 
den  versen  91.  617  674  haben  mich  trotz  Schröders  versuchten  bcgründuugen  nicht 
überzeugt.  Warum  ist  1169  das  handschriftliche  bi-a.  in  unTi  verändert,  dagegen  466. 
1332.  1379.  1515.  1631  stehen  geblieben?  Der  text  des  Staufenbergers  repräsentiert 
einen  ganz  wesentlichen  fortschritt  gegen  Jänicke.  —  Leider  wird  es  immer  mehr 
inode  die  real-  und  stilerklärung,  überhaupt  alles  im  engeren  sinne  erläuternde  bei 
ausgaben  mittelhochdeutscher  dichtungen  zu  unterdrücken.  Auch  in  dem  vorliegen- 
den bändchen  sucht  man  vergeblich  nach  eigentlichen  anmerkungen.  Das  muster 
Lachmanns  und  Haupts  in  diesem  punkte  verdient  keine  nachahmung.  —  Im  Moriz 
von  Craon  fehlen  211.  433.  1288.  1565.  1574  schliessende  anführungszeichen. 

WEIMAR,    17.    JANUAR    1895.  ALBERT    LEITZMANN. 


Zum  Rosengarten.     Untersuchung  des  gedichtes  H  von  dr.  Georg"  Holz.     2.  aus- 
gäbe.    Halle,  Niemeyer.   1893.     151  s.     3  m. 
Die   gedichte  vom  Rosengarten    zu  Worms,    mit  Unterstützung  der  königlich 
sächsischen    gesellschaft   der  Wissenschaften   herausgegeben  von  dr.  Georg  Holz. 
Halle,  Niemeyer.  1893.     CXIV  und  274  s.     10  m. 

Eine  der  schwierigsten  und  teilweise  undankbarsten  aufgaben  der  mittelhoch- 
deutschen text-  und  sagengeschichte  hat  hier  eine  geradezu  meisterhafte  lösung  ge- 
fiinden.  Es  gibt  kaum  einen  mittelalterlichen  text,  der  uns  fast  in  allen  gesichts- 
punkten  der  wissenschaftlichen  betrachtung  grössere  und  peinlichere  rätsei  aufgab, 
als  der  Grosse  rosengarten.  Mit  einer  genialen  Sicherheit,  besonnenheit  und  gründ- 
lichkeit  geht  Holz  in  seinen  beiden  bü  ehern  zu  werke ,  die  von  einer  eminenten  bega- 
bung  für  textkritische  fragen  zeugen.  Niemand  wird  von  dem  Studium  derselben  ohne 
reiche  belehrung  scheiden,  niemand  gewiss  auch  ohne  den  eindruck,  von  mustergültigen 
arbeiten  kenntnis  genommen  zu  haben.  Ich  bekenne  mich  von  allen  aufstellungen 
des  Verfassers  bis  in  die  kleinsten  einzelheiten  hinein  vollkommen  überzeugt;  manche 
anfänglich  aufsteigende  zweifei  schwinden  gänzlich,  je  mehr  man  inue  wird,  wie  alles, 
was  Holz  auseinandersetzt,  in  einem  festgeschlossenen  strengen  zusammenhange  steht. 
Meine  besprechung  kann  daher  bis  auf  geringe  kleinigkeiten  nur  referierend  sein. 


262  LEITZMANN,    ÜBER   HOLZ,   ROSENGARTEN 

In  der  zuerst  genannten  schritt  gruppiert  das  erste  kapitel  (§  1  —  6)  die 
gesammte  Überlieferung,  die  seit  Pliilipps  buch  (Halle  1879)  einige  wertvolle  bereiche- 
rungon  erfahren  hat;  das  thema,  das  der  Verfasser  sich  vorgenommen,  ist  die  Unter- 
suchung der  Eosengartenredaktionen  II*'  (hauptsächlich  vertreten  durch  die  von  Bartsch 
Germania  4,  1  herausgegebene  Pommersf eider  handschrift  imd  die  fragmente  einer 
czechischen  Übersetzung,  von  der  Holz  in  §  4  eine  neue  rückübersetzung  gibt),  /"(in  der 
von  "Wilhelm  Grimm  1836  herausgegebenen  Frankfurter  handschrift)  und  11^  (aus 
einer  Heidelberger  und  einer  Strassburger  handschrift  gednxckt  in  von  der  Hagens 
Heldenbuch  1820),  sowie  ihres  gegenseitigen  Verhältnisses.  Mit  diesem  Verhältnis 
beschäftigt  sich  das  zweite  kapitel  (§7 — -19),  an  dessen  schluss  wir  die  Überzeugung 
gewinnen,  dass  der  von  Philipp  näher  untersuchte  text  I  dem  vorauszusetzenden 
urgedichte  am  nächsten  kommt,  während  U  und  III  jüngere,  von  einander  unab- 
hängige bearbeitungen  sind,  und  dass  die  redaktion  /",  die  näher  zu  H"  als  zu  11'^ 
stimmt,  aus  I  und  H  kontaminiert  ist.  Drei  weitere  kapitel  bringen  zur  bestätigung 
dieser  auf  Stellungen  die  einzeluntersuchung,  die  fast  vers  für  vers  durchgeführt  wird. 
Das  dritte  (§  20  —  38)  untersucht  den  text  IP:  er  ist  im  wesentlichen  eine  kür- 
zende bearbeitung  des  Originals  im  Hildebrandston,  dessen  überliefenmg  jedoch  leider 
sehr  lückenhaft  ist.  Kapitel  4  (§39  —  59)  bespricht  die  redaktion  /",  eine  wenig 
verbreitete  koutamination  aus  I  und  II  auf  grund  älterer  und  besserer  vorlagen, 
kapitel  5  (§60  —  65)  endlich  die  fassung  II ^  Im  Schlussparagraphen  (s.  150)  wird 
dann  der  so  gewonnene  Stammbaum  aller  überliefemngen  aufgestellt.  —  Der  in  der 
czechischen  Übersetzung  erscheinende  name  von  Volkers  mutter  Perchylia,  zugleich 
einer  Schwester  der  Brunhild,  soll  nach  s.  15  anmerkung  1  frei  erfunden  sein;  er 
beruht  vielmehr  auf  verworrener  kenntuis  verwanter  sagen:  in  der  VQlsungasaga  23 
erscheint  eine  Schwester  Brunhilds  mit  dem  namen  Bekkhildr  als  gemahlin  Heimirs 
(vgl.  Grimm,  Heldensage  s.  350).  Die  s.  30  angenommene  entlehnung  aus  Alphart  ist 
mindestens  zweifelhaft. 

Die  einleitung  zur  ausgäbe  zerfällt  in  6  kapitel,  von  denen  vier  (s.  II  — 
XXXI  die  Überlieferung  und  ihre  gruppierung,  s.  XXXI  —  LIII  der  kontaminierte 
text  C,  s.  LIII  —  LXIX  die  kürzende  bearbeitung  P,  s.  LXX  —  LXXIH  fremde  bear- 
beitungen) textkritischen  fragen  gewidmet  sind.  Hier  kehren  im  wesentlichen  die 
bekannten  resultate  wider,  durch  viele  scharfsinnige  einzelbeobachtungen  erhärtet.  Nur 
die  redaktion  F  wird  mit  recht,  worauf  schon  Singer,  Anz.  f.  d.  altert.  17,  36  hin- 
deutete, etwas  weiter  vom  urgedichte  entfernt  und  an  D  angenähert.  Die  verwir- 
rende masse  der  einzelheiten  wird  in  sehr  klarer  disposition  und  in  gewandtem  stil 
zur  darsteUung  gebracht.  Das  fünfte  kapitel  (s.  LXXIV — C)  behandelt  heimat,  alter 
und  spätere  geschichte  des  gedichts:  der  älteste  Eosengarten  ist  entstanden  im  bai- 
risch  -  österreichischen  Sprachgebiet,  D  in  Thüringen,  C  in  Rheinfranken;  keine  der 
redaktionen  ist  älter  als  1250,  keine  jünger  als  1325.  Endlich  wird  im  letzten  kapi- 
tel (s.  C  —  CXIV)  die  sage  behandelt:  auch  hier  zeichnet  sich  die  vergleichende  dar- 
stellimg  wider  durch  besondere  klarheit  aus.  —  Es  folgen  dann  die  texte  A  (s.  1  —  67), 
D  (s.  69  — 215)  und  F  (s.  217  —  233);  kritische  anmerkuugen  (s.  234  —  255)  und  ein 
sehr  notwendiges  namenverzeichnis  (s.  256  —  274)  machen  den  beschluss.  Schmerz- 
lich vermisse  ich  erklärende,  auf  spräche,  stü  und  realien  eingehende  anmerkungeu, 
die  ein  reiches  feld  von  interessanten  betrachtungen  darbieten  könnten:  die  realien- 
kunde  kann  aus  den  Eosengärten  reichhaltigen  gewinn  ziehen;  ebenso  hätte  der  zusam- 
menfluss  echt  volksepischer  und  spielmannsmässiger  erzählungskuust,  ein  interessantes 
kapitel  der  stilgeschichte ,  näher  beleuchtet  werden  können.     Indess  sind  wir  trotzdem 


SARRAZIN,    ÜBER   FRÄNKEL,    SHAKESrEARE    UND    DAS    TAGELIED  263 

Holz  für  die  schöne,  langersebate  ausgäbe  von  herzen  dankbar  und  hoffen  ihm  noch 
öfter  auf  diesem  seinem  eigensten  gebiete  zu  begegnen. 

WEIMAR,    12.    JANUAR    1895.  ALBERT    LEITZJIÄNN. 


Shakespeare  und  das  tagelied.  Ein  beitrag  zur  vergleichenden  litteraturgeschichte 
der  germanischen  völlier.  Von  dr.  Ludwig  Fräukel.  Hannover,  Helwing.  1893. 
VI,  3,  132  s.     3  m. 

Der  Verfasser,  der  neuerdings  noch  viele  bausteine  zu  einer  geschieh te  des 
dramas  und  der  fabel  von  Romeo  und  Julia  beigebracht  hat,  sucht  in  dieser  von  aus- 
gebreiteter und  vielseitiger  belesenhcit  zeugenden  schrift  nachzuweisen,  dass  die  soge- 
nannte tagelied -scene  (HI,  5)  der  tragödie  Shakespeare's  durch  deutsche  oder  nieder- 
ländische tagelieder  beeinflusst  oder  angeregt  worden  ist. 

Ich  kann,  wie  wol  die  meisten  beurteiler,  den  nach  weis  nicht  als  gelungen 
ansehen. 

Allerdings  legen  die  mehrfachen  Übereinstimmungen  in  poetischen  motiven  und 
im  ausdruck  einen  solchen  schluss  sehr  nahe;  nicht  leicht  wird  sich  ihm  entziehen 
können,  wer  frisch  von  der  lectüre  der  entsprechenden  lieder  "Wolframs  von  Eschen- 
bach oder  "Walthers  von  der  Vogelweide,  vom  Studium  des  mhd.  minnesangs  über- 
haupt, oder  älterer  deutscher  volksheder  an  jene  scene  Shakespeare's  herantritt. 
Dennoch  scheint  Fränkels  annähme,  der  ich  früher  selbst  zuneigte,  mir  jetzt  irrig; 
und  gerade  die  ausführungen  des  Verfassers  haben  meine  abweichende  ansieht  noch 
befestigt. 

Fränkel  dehnt  seine  vergleichenden  betrachtungen  sehr  weit,  fast  über  die 
ganze  erde  aus.  Er  zieht  nicht  bloss  romanische,  slawische,  griechische,  sondern 
sogar  ägyptische,  indische,  chinesische,  malayische,  afrikanische,  neuseeländische 
lieder  oder  fabeln  heran;  auf  der  einen  seite  (91)  citiert  er  Aristophanes'  „Vögel",  auf 
der  folgenden:  „Komm  herab  o  madonna  Theresa".  So  zeigt  er  selbst,  dass  vieles 
von  dem ,  was  er  gern  als  charakteristische  Übereinstimmung  zwischen  Shakespeare  und 
dem  deutscheu  tagelied  hinstellen  möchte,  gemeingut  der  poesie  verschiedener  zeiten 
und  Völker  ist. 

Er  scheint  nicht  genügend  beachtet  zu  haben ,  dass  übereinstimmende  poetische 
motive,  vergleiche,  redewendungen  sich  oft  auch,  mehr  psychologisch  als  litterar- 
historisch,  aus  der  übereinstimmenden  Situation  und  Stimmung  erklären  lassen.  Be- 
sonders leicht  werden  aber  stamm-  und  geistesverwandte  dichter  wegen  ilu'er  ähn- 
lichen auffassungs-  und  fühlweise,  auch  unabhängig  von  einander  zu  einer  ähnlichen 
poetischen  gestaltung  desselben  Stoffes  kommen.  Daher  darf  man  wol  auf  paral- 
lelen wie: 

tlie  day  is  broke  —  der  tag  bricht  auf 

it  is  not  yet  near  day  —  ex,  ist  dem  tage  unndhen 

tvilt  thou  he  gone  —  tvar  gähest  also  balde 

kein  gewicht  legen.  Dass  der  ritter  aufbrechen  will,  die  geliebte  ihn  zurückhält, 
dass  von  tagesan brach  gesprochen,  dass  tag,  Sonnenschein,  lerchensang  verwünscht 
werden,  dass  abschied  genommen,  nach  der  widerkehr  gefragt,  gott  angerufen  wird, 
sind  doch  so  selbstverständliche  consequenzen  der  Situation,  dass  man  wegen  solcher 
übereinstimmenden  Wendungen  keine  nachahmung  anzunehmen  braucht. 


264  SARRAZIN 

Will  man  aber  nach  Vorbildern  dieser  scene  suchen,  so  bietet  sich  wenigstens 
eines  in  einer  englischen  dichtung,  die  Shakespeare  nachweislich  gekannt  hat.  Frän- 
kel  meint  zwar  (s.  31),  dass  die  „Bailad  of  Two  Lovers"  in  England  der  „einzige 
tageliedmässiger  Stimmung  verwandte  klang"  vor  Shakespeare  sei.  Er  scheint  aber 
die  tagelied  -  scene  in  Chaucer's  Troilus  and  Creseide  übersehen  zu  haben. 

B.  III,  V.  1415  But  tchan  the  cock,  commune  astrologer 

Qan  an  Ins  brest  to  beate,  and  after  eroive, 
And  Lucifer,  the  daies  messanger, 
Gan  to  rise,  aiul  oiit  his  beames  throive, 
—  ■ —  —  —  than  anone  Creseide 
With  kerte  sore,  to  Troilus  thus  seidc: 
„Mine  hertes  life,  my  trust,  all  my  pleasaunce, 
That  I  tcas  borne  alas,  that  tue  is  wo, 
That  day  of  us  mote  make  disceveratince, 
For  tiine  it  is  to  rise,  and  hence  go, 
Or  elcs  I  am  lost  for  ever  tno : 
.  0  night  alas,  ivhij  n'ilt  thou  over  tis  hove, 
As  long  as  ivlian  Alcmena  lay  by  Jove" 
This  Troilus     —     —     —      —     — 
Oan  there  withall  Ch-eseide  his  lady  dere 
In  armes  straine,  and  hold  in  lovely  manere 
„  0  cruell  day ,  accuser  of  the  joy 
That  ?iight  and  love  have  stole,  and  fast  yicrien, 
Accursed  be  thy  coming  into  Troie, 
For  every  bowre  hath  one  of  thy  bright  eycn: 
Envious  day,  tvhat  list  thee  so  to  spien, 
What  hast  thou  lost,  ivhy  seekest  thou  this  place?" 

Da  nun  Shakespeare  Chaucer's  epische  dichtung  dramatisiert  hat,  da  er  schon 
in  einem  jugenddrama,  dem  Kaufmann  von  Venedig  (V,  1)  darauf  anspielt,  so  ist  es 
gar  nicht  unwahrscheinlich,  dass  er  bei  der  abfassung  der  tageliedscene  durch  Chaucer 
angeregt  und  beeinflusst  wurde.  JedesfaUs  lag  ihm  diese  heimische  dichtung  näher 
als  deutsche  oder  holländische  lieder. 

Allerdings  dient  bei  Chaucer  der  hahn,  nicht  die  lerche  als  wecker;  und  von 
der  nachtigall  ist  gar  nicht  die  rede.  Hatte  Shakespeare  aber  wii-klich  nötig  diese 
poetischen  requisiten  erst  aus  deutschen  liedern  zu  borgen?  Fränkel  sagt  (s.  92): 
„Das  auftreten  der  uachtigall  bei  Shakespeare  ist  also  ein  erbstück  des  tageliedes." 
Dieser  aussprach  ist  charakteristisch  für  den  Stubengelehrten,  der,  ohne  viel  eigene 
naturbeobachtung  und  phantasie,  in  jedem  poetischen  bilde  litterarische  beeinflussung 
wittert. 

Als  der  achtzehnjährige  "William  Shakespeare  im  sommer  1582  sein  erstes, 
verstohlenes  liebesglück  genoss,  im  dorfe  Shottery  bei  Stratford,  hat  er  gewiss  von 
deutschen  oder  holländischen  tageliedern  nichts  gewusst;  aber  nachtigaUen  -  und  1er- 
chensang  hat  er  sicher  oft  genug  gehört.  Als  er  etwa  10  jähre  später  Komeo  und 
Jiilia  dichtete,  wird  er  sich  ohne  zweifei  seiner  eigenen  Jugendliebe  erinnert  haben. 
Der  Zauber  von  Shakespeares  dichtung  beruht  ja  zum  grossen  teil  auf  ihrer  natur- 
frische und  unmittelbarkeit.  Moderne  commentatoren ,  philologen  und  litterarhistori- 
ker  lassen   sich  aber  oft  dem  kaiser  von  China  in  Andersen's  märchen  vergleichen, 


ÜBER  FRÄNKEL,  SHAKESPEARE  VKD    DAS  TAGELIED  265 

der  nur  auf  die  musik  der  künstlichen  nachtigall  hören  wollte,  die  sich  wie  ein  uhr- 
werk  aufziehen  Hess,  und  darüber  den  natürlichen  gesang  des  unscheinbaren,  grauen 
vögleins  vergass.  Es  kann  indessen  zugegeben  werden,  dass  bei  den  dichtem  der 
spät  -  reuaissance ,  auch  bei  Shakespeare,  die  nachtigall  mitunter  eine  conventioneUe 
rolle  spielt.  Dann  ist  sie  aber  nicht  ein  erbstück  des  tageliedes,  sondern  vielmehr 
antiker  mythe,  heisst  Philomele  und  singt  ihr  trauriges  lied  von  verlorner  Unschuld. 
Diese  auffassung  tritt  in  Shakespeares  „Rape  of  Lucrece"  hervor,  au  einer  stelle,  die 
auch  sonst  eine  grosse  ähnlichkeit  mit  ixnserer  scene  hat,  aber  von  Fränkel  merk- 
würdiger weise  nicht  beachtet  worden  ist. 

Lucr.  1079    By  this,  lamenting  Phüomel  had  ended 

The  tvell-tun'd  loarble  of  her  nightly  sorroiv, 
And  solemn  night  ivith  slow  sad  gait  descended 
To  ugly  hell,  when,  lo,  the  hlushing  morroiv 
Lends  light  to  all  fair  eyes  tkat  light  ivill  borroio; 
Biet  cloudy  Lacerece  shatnes  herseif  to  see 
And  thercfore  still  in  night  tvould  cloister'd  be. 
Eevealing  day  through  every  cranny  spies, 
And  seems  to  point  her  out  where  she  sits  weeping; 
To  whom  she  sobbing  spealcs :  „  0  eye  of  eyes, 
Why  pry'st  thoii  through  my  ivindo7v?  leave  thy  peeping: 
Mock  with  thy  tickling  beams  eyes  that  are  sleeping: 
Brand  not  my  forehead  ivith  thy  piercing  light, 
For  day  hath  nottght  to  do  what's  done  by  7iight." 


The  little  birds  that  tune  their  morning's  joy 
Make  her  moans  mad  ivith  their  sweet  melody 

„You  mocking  birds"  quoth  she,  „your  tnnes  entomb 
Within  your  holloiv-sivelling  feather'd  breasts, 
And  in  my  hearing  be  you  mute  and  dumb: 
My  restless  discord  loves  no  stops  nor  rests; 

„  Conie,  Phüomel,  that  sing' st  of  ravishment, 
Make  thy  sad  grove  in  m,y  dishevell'd  hair: 
As  the  dank  earth  iveeps  at  thy  languishment. 
So  I  at  eaeh  sad  strain  tvill  strain  a  tear. 
And  ivith  deep  groans  the  diapason  bear; 
For  bnrden-tvise  TU  hum  on  Tarquin  still, 
White  thoii  on  Tereus  deseant'st  better  skill. 
Wie  ich   in  dem  aufsatze  „Zur  Chronologie  von  Shakespeare's  jugeuddrameu" 
(Jahrb.  d.  deatschen  Shakespeare -gesellschaft  bd.  XXIX)   wahrscheinlich  gemacht  zu 
haben  glaube ,  wurde  Lucretia  kurz  vor  Romeo  und  Julia  gedichtet.     Wir  dürfen  daher 
die   citierte  stelle  als  eine   Vorstudie   zu  unserer  scene   ansehen.     Die  contrastierimg 
von  nachtigallen-  und  lerchensang,  die  Verwünschung  des  letzteren,  die  grelle  disso- 
nanz  zwischen  dem  frohen  morgenlied  der  vöglein  und  der  verzweifelnden  trauer  der 
frau  —  das  alles  ist  in  der  Lucretia  schon  vorgebildet. 

Hier  hat  aber  die  einführung  der  Philomele  eine  ganz  prägnante    bedeutung 
und  beruht  auf  einer  sehr  naheliegenden  ideenassociation.     Denn  wie  Lucretia  von 


266  SARRAZIN 

Tarquinius,  so  war  Philomelo  vou  Tereus  geschändet  worden.  Shakesi^eare  hatte 
beide  geschichten  in  Chaucer's  legende  von  den  guten  frauen  gelesen,  ebenso  wie  die 
von  Dido,  Cleopatra,  Tbisbe,  Medea,  Ariadne,  auf  welche  er  ebenfalls  mit  verliebe 
anspielt.  Deutlicher  noch  als  in  Romeo  und  Julia  steht  Shakespeare  in  der  epischen 
dichtung  von  Lucretia  imter  dem  banne  Chaucer's.  Er  bat  darin  nicht  nur  die 
7-zeilige  „Chaucer"-strophe  angewandt,  in  der  Troilus  and  Creseide  gedichtet  ist, 
sondern  er  ist  auch  in  der  darsteUungsweise  und  im  ausdruck  vielfach  von  Chaucer 
beeinflusst'.  Da  nun  Chaucer  bekanntlich,  von  nachtigallen-  und  lerchensang  beson- 
ders gern  schwärmt,  so  mag  man  diese  motive  auf  ihn,  eher  als  auf  deutsche  tage- 
lieder  zurückführen,  wenn  man  durchaus  ein  litterarisches  vorbild  haben  will. 

Wie  leicht  sich  übrigens  auch  die  lerche  der  tagelied  -  Situation  einfügt,  geht 
aus  folgender  stelle  von  Shakespeare's  Venus  und  Adonis  hervor,  die  Fränkel  eben- 
falls übersehen  hat: 

Ven.  853    Lo,  Jiere  the  (jentle  larh,  tveary  of  rest, 

From  his  moist  cabinet  7nou7its  up  on  high, 
Allel  ivakes  the  Morning,  from  whose  silver  breast 
The  suii  ariseth  in  his  majesty. 
Die  lerche  weckt  die  schlafende  Aurora,  von  deren  busen  sich  der  Sonnengott  erhebt  — 
widerum  ein  antik -mythologisches  bild.     Hier  und  in  dem  bekannten  liede  aus  Cymbe- 
line  ist  die  ein  Wirkung  Chaucers  ganz  deutlich: 

Knightes  Tale  1493  The  bcsy  larke,  the  messager  of  day, 

Saleivith  in  hire  sang  the  morwe  gray; 
And  firy  Phebus  riseth  top  so  bright 


So  lassen  sich,  alle  poetischen  motive  der  tagelied -scene,  welche  Fränkel  auf 
ein  Wirkung  deutscher  tagelieder  zurückführt,  entweder  aus  eigenen  erinnerungen  imd 
einfacher  naturbeobachtung  oder  aus  einheimischer  tradition,  in  welche  klassisch - 
mythologische  Vorstellungen  hineinspielten,  ungezwungen  erklären. 

Wenn  ich  so  in  der  hauptsache  die  ergebnisse  von  Fränkels  schläft  ablehnen 
muss,  so  erkenne  ich  gern  an,  dass  er  im  einzelnen  manches  interessante  material 
zur  geschichte  des  tagelieds,  zur  entwicklung  des  naturgefühls  beigebracht  hat. 

Was  der  Verfasser  s.  34  fgg.  über  litterarische  beziehimgen  zwischen  Holland 
und  England,  über  die  hypothese  von  Shakespeare's  aufenthalt  in  Holland  sagt,  ist 
dankens-  und  beachtenswert,  genügt  aber  durchaus  nicht  um  Shakespeares  bekannt- 
schaft  mit  holländischen  oder  deutschen  liedern  wahrscheinhch  zu  machen.  Des  dich- 
ters  geistige  und  litterarische  Interessen  gingen,  dem  zuge  der  zeit  folgend,  vielmehr 
nach  Frankreich  und  Italien  als  nach  Deutschland.  „Die  füUe  germanischen  wesens, 
die  uns  aus  seinen  werken  entgegenströmt",  ist  oft  genug  hervorgehoben  worden,  und 
soll  hier  keineswegs  geläugnet  werden.  Aber  sie  ist  durchaus  dem  heimatlichen, 
englischen  boden  entsprossen,  und  nicht  durch  den  einfluss  deutscher  poesie  genährt 
worden. 

Gerade  in  der  tagelied  -  scene  kann  ich  wenig  eigentümlich  germanisches  ent- 
decken.    Fränkel  erwähnt  selbst,  dass  in  einigen  punkten  (gegeuübersteUung  von  nach- 

1)  Der  oben  citierte  vers 

Lucr.  1086  Revealing  day  through  every  cranny  spies 
ist  z.  b.  gewiss  eine  erinnerung  an 

Troil.  in,  1453  Envious  day,  ivhat  list  thee  so  to  spien. 


ÜBER  FRÄNKEL,  SHAKESPEARE  UND  DAS  TAGELIED  267 

tigall  und  lerche,  Verwünschung  des  lerclieusanges)  provenzalische,  französische, 
italienische  tagelieder^  näher  stehen  (s.  93.96).  Die  kühne  personification  des  tages, 
der  wölke,  das  „antlitz  der  Cynthia"  ist  mehr  in  romanischem  als  in  germanischem 
stil.  Die  ähnlichkeit  einer  scene  aus  Luigi  Groto's  Adiiana,  welche  Klein  nachge- 
wiesen, ist  doch  sehr  auffallend  und  nicht  ohne  weiteres  bei  seite  zu  schieben,  wie 
Fränkel  getan.  Sie  wird  noch  merkwürdiger  durch  den  von  Klein  ausführlich  dar- 
gelegicn,  von  Fränkel  ignorierten  umstand,  dass  auch  die  in  beiden  dramen  unmit- 
telbar danach  folgenden  scenen  sehr  ähnlich  sind. 

Das  lokalkolorit  der  scene  ist  in  harmonie  mit  dem  ganzen  drama  und  stimmt 
zu  dem  vorausgesetzten  schauplatze.  Der  granatapfelbaum  ist  in  Oberitalien  gewiss 
mehr  zu  hause  als  in  England  oder  in  Deutschland;  dass  die  sonne  über  hohen 
bergen  aufgeht  (staiids  tiptoe  on  the  viisty  mountain-tops)  trifft  für  Verona  zu. 
Manche  Shakespeare  -  forscher  (z.  b.  K.  Elze,  M.  Koch,  H.  Isaac)  mutmassen  wegen 
des  überraschend  getreuen  lokalkolorits  in  den  meisten  italienischen  dramen  (beson- 
ders Kaufmann  von  Venedig,  Zähmung  der  widerspänstigen ,  Othello),  wegen  einiger  be- 
kanntschaft  mit  italienischer  Umgangssprache,  die  Shakespeare  besonders  in  der  Zäh- 
mung der  widerspänstigen  verrät,  wegen  der  kenntnis  Giulio  Romano's  und  seiner 
gemälde,  dass  der  dichter  (etwa  in  den  jähren  1592  —  93)  sich  in  Oberitalien  auf- 
gehalten. Ich  gestehe,  dass  ich  mich  dieser  ansieht  zuneige,  die  ich  an  anderer 
stelle  mit  neuen  gründen  zu  stützen  hoffe.  Von  dieser  annähme  aus  würde  sich  die 
vielbewunderie  italienische  atmosphäre  der  tragödie  leichter  erklären.  Jedesfalls  gehört 
Romeo  und  Julia  in  die  „  italianisierende "  periode  von  Shakespeare's  dichterischer 
entwicklung  und  zeigt  viel  mekr  italienische  als  deutsche  geistesrichtung. 

KIEL,   DECEMBER   1894.  G.    SARRAZIN. 


Der  einfluss  des  reims  auf  die  spräche  Wolframs  von  Eschenbach.     Von 
WUly  Hoffmanii.     Strassburg,  diss.  1894.     69  s. 

Der  Verfasser  dieser  lebhaft  und  anziehend  geschriebenen  dissertation  legt  nach 
treffenden  allgemeinen  bemerkungen  über  die  dichterische  eigentümlichkeit  "Wolframs 
zunächst  dar,  dass  der  reim  für  den  dichter  keineswegs  nur  eine  lästige  und  been- 
gende fessel  gewesen  sei,  vielmehr  oft  ihn  zn  neuen  bildern  und  Wendungen  angeregt 
habe  (Herder  nennt  einmal  den  reim  die  „Werbetrommel  der  gedanken").  Auch 
bestimmte  Stileigentümlichkeiten  Wolframs  sind  durch  den  reim  wesentlich  gefördert. 
Hierauf  weist  dr.  Hoffmann  für  eine  anzalü  gut  ausgewählter  substantiva  {zil^  site^ 
kraft,  kür,  schln  u.  a. ;  eigennamen  s.  22  fgg.),  adjectiva  {gemdl,  gefcm,  gevar  u.  a.), 
verba  {verbern,  vermtden,  vergexzen,  bedenken,  sieh  bewegen  u.  a.),  und  adverbiale 
bestimmungen  (s.  52)  gebrauch  und  Wirkung  im  reime  nach.  Aus  der  syntax  wird 
nur  die  Wortstellung  s.  60  berührt. 

1)  Obwol  ich  an  belesenheit  nicht  mit  Fränkel  wetteifern  kann  und  will,  möchte 
ich  doch  noch  eine  paraUelsteUe  aus  einer  spanischen  romanze  hinzufügen,  die  mir 
zufällig  aufgestossen  ist: 

Por  el  mes  era  de  mayo^ 

cuando  hace  la  calor 

euando  canta  la  calandria 

y  responde  el  ruysenor, 

cuando  los  enamorados 

van  d  servir  al  amor  —  — 

(Primavera  y  Flor  de  Romances  II,  16;  nr.  114a.) 


268  EEDMANN 

Ihren  vollen  wert  für  die  erkenntnis  der  eigentümlichkeit  AVolframs  würden 
freilich  diese  einzelnen  nachweise  erst  erhalten,  wenn  für  jeden  fall  auch  der  gebrauch 
anderer,  sowol  höfischer  als  volkstümlicher,  dichtungen  verglichen  würde,  was  der 
Verfasser  meistens  nicht  getan  hat.  Mehrere  der  hervergehobenen  substantiva,  nament- 
lich sin,  scMn,  llp,  Jiant  kommen  ja  überhaupt  bei  mhd.  dichtem  häufig  im  reime 
vor.  Für  die  s.  22  fg.  gegebenen  procentaugaben  der  eigennamen  im  reime  hat 
einer  meiner  zuhörer,  herr  R.  Kraut  bei  einer  an  Hoffmanns  arbeit  angeknüpften 
besprechung  in  unserem  germanistischen  Seminar  einige  ergänzungen  dieser  ai1;  bei- 
gebracht, die  ich  nebst  einigen  anderen  von  ihm  gemachten  bemerkungen  über  ein- 
zelheiten  der  besprochenen  arbeit  mit  seiner  Zustimmung  hier  einfüge. 

„Die  procentangaben  der  eigennamen  im  reime  mögen  durch  folgende  zahlen 
ergänzt  werden:  Der  Arme  Heinrich  mit  24  eigennamen  im  reime,  d.  i.  1,6  7o  ^11^^^ 
reime  (mit  dem  procentsatz  im  Iwein  übereinstimmend),  Gregorius  nur  0,84  %  (34 
eigennamen  im  reime),  Walther  von  der  Vogelwoide  0,8  %  (36  eigennamen  im  reime), 
Wolframs  Titurel  4,7  %  (32  eigennamen  im  reime).  Die  Zählung  des  Verfassers  in 
der  „Küdrün"  (3,9  %)  variiert  mit  der  meinigen  (4,1  °/o  =  281  eigennamen  im  reime) 
um  ein  geringes.  Natürhch  wurden  bei  diesen  Zählungen  personificierte  abstracta  wie 
froti,  Scelde,  fron  Minne  u.  ä.  nicht  als  eigennamen  gerechnet,  da  eine  solche  per- 
sonificierung  die  Stellung  des  wertes  im  reime  wol  kaum  beeinflusst  hat. 

Um  jedoch  den  gebrauch  der  namen  im  reime  genau  festzustellen,  dürfte 
meines  erachtens  eine  derartige  Zählung  niclit  vollständig  genügen.  Man  soUte  nicht 
nur  zählen,  wie  viel  procent  aller  reimwörter  namen  sind,  sondern  auch,  wie  viel 
procent  aller  fälle,  in  denen  ein  eigenname  gebraucht  wird ,  auf  die  reimsteUe  treifen. 
Das  resultat  für  diese  zweite  art  der  Zählung  wäre:  Küdrün  281  :  2492  =  11,27  % 
(wie  oben  sind  auch  hier  die  binnenreime  unberücksichtigt  geblieben),  A.  Heinrich 
24  :  38  =  63,1  7o,  Gregorius  34  :  72  =  47,2  7^,  Titurel  32  :  189  =  17  7o. 

Ferner  seien  mir  noch  folgende  bemerkungen  gestattet.  Die  reihenfolgo  der 
citatzahlen  könnte  an  manchen  stellen  besser  geordnet  sein,  z.  b.  s.  25,  z.  3  v.  u. : 
P.  761,  8.  311,  6.  413,  17.  S.  27,  z.  9  v.  u.:  P.  224,  5.  212,  2.  S.  55,  z.  2 
P.  752,  5.  640,  15.  S.  55  z.  11  —  12:  P.  781,  1.  Wh.  117,  27  usw.  —  P.  712,  4 
(im  letzten  falle  mag  ein  druckfehler  vorliegen).  Wo  nicht  innere  gründe  eine  andere 
reihenfolge  vorschreiben,   sollte  man  doch  die  natüiliche  folge  der  zahlen  beobachten. 

Ebenso  würden  die  bemerkungen  über  einige  Unklarheiten  in  der  ausdrucks- 
weise Wolframs  zu  anfang  des  abschnittes:  H  „Adjektiva"  passender  an  einem  andern 
platze  erwähnt  worden  sein,  vielleicht  unter  den  Schlussworten  der  abhandlung. 

Übrigens  beginnt  der  Verfasser  mit  recht  bei  aufzählung  der  stereotyp  im  reime 
gebrauchten  adjektiva  mit  dem  echt  Wolframischen  genial.  Die  überzeugenden 
Schlüsse,  welche  dr.  Hoffmann  s.  37  aus  der  anwendung  dieses  wertes  auf  die  ent- 
stehungszeit  des  Titui'el  nach  dem  Parzival  zieht,  sind  besonders  wichtig. 

Zum  Schlüsse  mögen  einige  druckversehen  ihre  berichtigung  finden: 
S.  20,  z.  21:  P.  644,  18  statt  17. 
„  27,  „14:  Wh.  27,  14  „  13. 
„  28,  „  12:  „  151,  13  „  14. 
„  32,  „  15:  P.  358,  23  „  22. 
„  37,  „  4  V.  u.:  P.  405,  17  statt  16. 
55  9  •        119     11  1*? 

55,  „    1     „     :  Wh.  55;  23.    265,  2  statt  P.  55,  23.    265,  2. 


ÜBEE   HOFFMANN,    REIM    UND    SPRACHE    WOLFRAMS  269 

(Auch  sind  diese  zahlen,    ebenso  wie  z.  2  v.  u. :    P.  822,  9   statt  29  richtig  einzu- 
reihen.) 

S.  56,  z.  6:  Wh.  285,  21  statt  22. 
„  56,  „  10  und  11:  Wh.    „     P." 

Soweit  herr  Kraut.  Im  allgemeinen  bilden  die  nachweise  und  eröiierungen  des 
heiTU  dr.  Hoffmann  eine  sehr  willkommene  ergänzung  zu  den  früheren  arbeiten  (von 
Bötticher,  Kinzel,  Kant  u.  a.)  über  AVolframs  stil.  Neu  und  eigentümlich  ist  der 
am  Schlüsse  der  arbeit  s.  63  fgg.  gemachte  versuch,  ein  deutliches  und  anschauliches 
bild  von  der  entstehung  der  Wolframischen  werke  zu  gewinnen.  Hoffmann  meint, 
der  des  lesens  und  Schreibens  unkundige  dichter  habe  sich  die  französischen  quellen 
(widerholt?  erst  ganz,  dann  von  neuem  die  einzelnen  ihn  gerade  interessierenden  teile?) 
vorlesen  lassen;  er  habe  dann  in  ruhiger  meditation  den  Inhalt  des  gehöiien  ver- 
arbeitet und  in  deutsche  verse  gegossen,  die  jeweilig  entstandenen  stücke  aber  einem 
kreise  begierig  lauschender  zuhörer  am  Eisenacher  hofe  persönlich  vorgetragen,  wobei 
lebhafte  anrede  des  hörerkreises  sowie  unmittelbare  Improvisation  vieler  stellen  in 
ausgedehntem  masse  möglich  war.  Schliesslich  seien  die  so  entstandenen  werke  aus 
der  erinnerung  diktiert  und  dadurch  schriftlich  fixiert  worden.  Diese  Vermutungen 
Hoffmanns  haben  viel  ansprechendes  und  passen  zu  der  ausdrucksweise  und  dem 
Inhalte  von  Wolframs  dichtungen. 

Bedauerlich  ist  der  mangel  eines  Inhaltsverzeichnisses,  das  doch  sonst  bei 
Strassburger  dissertationen  nicht  fehlte.  Die  sorgfältige  anfertigung  eines  solchen 
hätte  dem  Verfasser  anlass  geben  können,  manches  an  andere  stelle  zu  bringen  und 
einige  nur  beiläufig  gemachten  erwälmungen  zu  besonderen  abschnitten  auszuarbeiten; 
dadurch  wäre  nicht  nur  der  bequenilichkeit  des  lesers  gedient,  sondern  auch  die  arbeit 
selbst  vollkommener  geworden.  Hoffentlich  lässt  dr.  Hoffmanu  sich  bei  späteren 
arbeiten  eine  solche  Unterlassung  nicht  wider  zu  schulden  kommen. 

KIEL.  0.    EEDMANN.    (f) 


Xystus  Betulius,  Susanna.  Herausgegeben  von  Johannes  Bolte.  Mit  einem 
bilde  und  einer  notenbeilage.  [Lat.  litteraturdenkmäler  des  15.  imd  16.  Jahrhun- 
derts, herausgegeben  von  Max  HeiTmaiiu  und  8ieg"Med  Szamatolski ,  8.]  Ber- 
lin, Weidmann.  1893.     XVHI  und  92  s.     2,20  m. 

Sixt  Birck,  latinisiert  Xystus  Betulius  oder  Betuleius,  war  der  erste  Vertreter 
der  von  Gnapheus  geschaffenen  neueren  biblischen  komödie  in  Deutschland,  denn 
seine  1537  erschienene  Susanna,  die  er  aus  der  1532  erschienenen  deutschen  Susanna 
ins  lateinische  übertrug,  war  die  erste  komödie  dieser  gattung  in  Deutschland.  Nicht 
nur  aus  diesem  gesichtspunkte ,  sondern  auch  wegen  der  hohen  bedeutung,  die 
die  Susanna  Bircks  als  dramatisches  kunstwerk  beanspruchen  darf,  hat  sie  in  der 
rüstig  fortschreitenden  Sammlung  der  Lat.  litteraturdenkm.  einen  platz  gefimden. 
Bolte  hat  dem  neudruck  eine  kurze  lebeusskizze  des  Verfassers  vorausgeschickt,  in 
der  er  den  geburtstag  Bircks  (24.  febr.  1501)  feststellt  und  nachweist,  dass  Birck, 
der  seine  humanistischen  Studien  in  Erfurt  und  Tübingen  gemacht,  unter  dem  31.  de- 
cember  1524  in  der  Baseler  matrikel  verzeichnet  ist.  In  Basel  lebte  er  dann  als 
famulus  und  koiTektor  in  den  grossen  druckereien  Cratanders,  Frobens  und  Bebeis, 
ward  1530  Schulmeister  an  St.  Theodor  in  Klein -Basel,  wiu-de  am  10.  februar  1563 
zum   magister  promoviert    (es  war    die  erste  promotion  seit  der  widereröffnung  der 


270  HOLSTEIN 

Universität),    in  demselben  jähre  als  rektor  des  neuen  St.  Annagyninasiums  zu  Augs- 
burg, seiner  Vaterstadt,  berufen  und  starb  am  19.  juni  15.54. 

Bekannt  ist,  dass  Bircks  dramatische  tätigkeit  in  zwei  Zeitabschnitte  zerfällt, 
einen  Baseler  und  einen  Augsburger-,  aber  unbekannt  war  bisher  die  von  Bolte  aus 
des  Nysäus  biographie  entnommene  tatsache,  dass  der  ersten  ijeriode  seine  deut- 
schen, der  zweiten  aber  die  lateinischen  Schauspiele  entstammen.  Wir  haben 
6  deutsche  und  7  lateinische  Schauspiele,  insofern  man  zwei  stücke,  die  zwei  seiner 
Schüler,  Martin  Ostermincher  und  Johannes  Entomius,  aus  dem  deutschen  original 
ins  lateinische  übeiirugen,  dazu  rechnen  darf. 

Am  Schlüsse  der  einleitung  stellt  Bolte  eine  vergieichung  der  deutschen  mit 
der  lateinischen  Susanna  an,  indem  er  die  analysen  beider  gibt.  S.  IX  folgt  die 
bibliographie.  Es  werden  9  verschiedene  drucke  der  Susanna  mit  ihren  Standorten 
nachgewiesen  und  zwar  aus  den  jähren  1.537  — 1564.  Von  der  Kölner  ausgäbe  von 
1539  ist  ein  exemplar  auch  in  Göttingen.  Dem  neudrack  ist  die  erste  Augsburger 
ausgäbe  von  1587  zu  gründe  gelegt,  aber  auch  die  in  der  Oporinschen  Sammlung 
von  1547  vorliegende  zweite  bearbeitung  des  dichters  mit  herangezogen  worden. 
Auch  die  in  dieser  ausgäbe  gegebenen  scenenüberschriften  sind  abgedruckt  worden. 

Sehr  wichtig  ist  Boltes  bemerkung,  dass,  während  Gnapheus  eine  grosse  zahl 
von  Versen  des  Plautus  und  Terenz  seinem  Acolastus  wörtlich  einverleibt  und  seinen 
Wortschatz  im  wesentlichen  aus  den  genannten  beiden  dichtem  entlehnt  hat,  Birck 
selbständiger  im  lateinischen  ausdruck  verfährt  und  wirkliche  entlehnungen  aus  den 
komikern  vermeidet.  Dagegen  hat  er  den  zweiten  akt  vom  Hippolytus  des  Seneca 
benutzt,  um  die  verbrecherische  leidenschaft  der  beiden  greise  zu  schildern. 

Eine  reihe  benutzter  stellen  antiker  autoren  führt  Bolte  s.  XII  fgg.  an  und 
beweist  auch  hier  sich  als  guten  kenner  der  litteratur. 

Einen  besonderen  schmuck  erhält  die  ausgäbe  durch  die  beifügung  der  vier- 
stimmigen melodie  des  eingangschores  aus  der  Kölner  ausgäbe  von  1538,  sowie  eines 
holzschnittes  des  Augsbui'ger  maiers  und  formenschneiders  Jörg  Brem  des  Jüngern 
aus  dem  jähre  1540,  der  mehrere  bildliche  darstellungen  aus  der  geschichte  der 
Susauna  bietet  imd  dessen  original  sich  im  königlichen  kupferstichkabinet  zu  Berlin 
befindet. 

wilhelmsha\t:n.  h.  Holstein. 


Philipp  Melanchthon  Declamationes.  Ausgewählt  und  herausgegeben  von  Karl 
Hartfelder.  Zweites  heft.  [Lat.  litteraturdenkmäler  des  15.  und  16.  jaluiiunderts, 
herausgegeben  von  Max  Herrmaun,  9.]  Berlin,  Weidmann.  1894.  XVI  und 
38  s.     1  m. 

Schon  bei  der  herausgäbe  des  ersten  heftes  (1891 ;  vgl.  diese  Zeitschrift  XXVI, 
491  fg.)  war  die  absieht  ausgesprochen,  noch  andere  aus  den  übrigen  gebieten  Me- 
lanchthonischer  declamationes  ausgewählte  stücke  zu  veröffentlichen.  Der  rastlos  und 
unablässig  auf  dem  grossen  felde  der  geschichte  des  humanismus  und  der  reformation 
mit  hervorragendem  erfolge  tätige  Hartfelder  ist  seinem  schönen  Wirkungskreise  durch 
einen  frühzeitigen  tod  entrissen,  und  es  war  ihm  nicht  mehr  vergönnt,  die  fortsetzung 
der  angefangenen  arbeit  zu  sehen.  In  seinem  nachlasse  fand  sich  aber  ein  druck- 
fertiges manuscript,  das  nun  der  herausgeber  der  Lat.  litt.- denkm.  als  ein  teures  Ver- 
mächtnis bekannt  gibt.  Es  sind  väer  widerum  schulfragen  behandelnde  reden.  In 
der  ersten  spricht  Melanchthon  von  den  akademischen  graden  (de  gradibus  discentium), 


ÜBER    LÄT.    LITT.    DKM.    VUI.    XX  271 

deren  aufrecbthaltung  von  ihm  mit  unerbittlicher  strenge  betont  wiu'de,  da  er  in 
ihnen  eine  bürgschaft  für  ein  geordnetes  und  methodisches  lernen  sah.  Denn  auch 
an  der  Witteuberger  hochschide  war  am  anfang  der  zwanziger  jähre  die  strenge  stu- 
dienordnung  früherer  zeit  aufgelöst,  wobei  die  artistenfakultät  am  meisten  benach- 
teiligt war.  Die  zweite  bei  gelegenheit  einer  magisterpromotion  gehaltene  rede  han- 
delt „de  ordine  discendi";  sie  geht  unter  Crucigers  namen,  ist  aber  sicherlich  von 
Melanchthon  verfasst  woi'den.  Ihre  abfassung  fällt  etwa  ins  jähr  1531,  wo  Cruciger 
docent  der  philosophischen  fakultiit  war.  Auch  diese  rede  zeigt,  dass  der  grosse 
misstand  im  Studienkreise  der  hochschule  noch  nicht  gehoben  war,  und  dass  sich 
auch  jetzt  noch  die  Studenten  mit  übergehung  der  artes  inferiores  d.  i.  der  vorberei- 
tenden Studien  in  der  philosophischen  fakultät  möglichst  schnell  zu  den  artes  supe- 
riores  d.  i.  den  eigentlichen  fachstudien  der  drei  oberen  fakultäten  drängten.  Die 
dritte  rede  „de  restituendis  scholis"  schrieb  Melanchthon  für  den  1540  an  die  Univer- 
sität Frankfurt  a.  0.  als  lehrer  berufeneu  Schotten  Alexander  Alane  (Alesius),  der 
mit  ihr  seine  akademische  tätigkeit  daselbst  eröffnete.  In  der  vierten  von  Vitus 
"Winshemius  (Vitus  Oertel  aus  Windsheim)  vorgetragenen  rede  „de  studiis  linguae 
Graecae"  tritt  die  starke  betonung  des  theologischen  hervor,  in  der  Melanchthon  dem 
zuge  der  zeit  folgte,  die  im  laufe  des  16.  Jahrhunderts  sich  mehr  und  mehr  vom  rei- 
nen humanismus  abwandte  und  der  theologischen  richtung  grösseren  Spielraum  gönnte. 
Am  Schlüsse  der  die  nötigen  bemerkungen  über  den  Inhalt  und  die  persönlich- 
keit der  vortragenden  enthaltenden  einleitung  gibt  Hartfelder  ausser  den  biblographi- 
scheu  bemerkungen,  die  übrigens  von  Max  Herrmann  durch  die  angäbe  der  versclüe- 
denen  lesarten  vervollständigt  worden  sind,  einige  erklärende  anmerkungen  zum  text. 
Dieser  selbst  ist  widerum  sehr  korrekt,  nur  ist  mir  die  doppelte  Schreibung  exsilium 
(14,  10)  und  exilio  (17,  lü)  aufgefallen. 

WILHELMSHAVEN.  H.    HOLSTEIN. 


G.  A.  Bürger's  werke  herausgegeben  von  Eduard  Gfi'iseliach.  Mit  einer  biogra- 
phischen einleitung  und  bibliographischem  anhange.  5.  vermehrte  und  verbesserte 
aufläge.     Berlin,  G.  Grote.  1894.     LXXVm  und  504  s.     4  m. 

Diese  ausgäbe  (deren  erste  aufläge  in  unserer  Zeitschrift  5 ,  233  —  238  bespro- 
chen wui'de)  erhält  einen  besondem  vorzug  dadurch,  dass  auch  dem  prosaiker  Bür- 
ger sein  recht  geschieht.  Seine  kleineren  schritten  und  abhandlungen  sind  jetzt  von 
Grisebach  vollständiger,  als  in  irgend  einer  früheren  ausgäbe,  und  zwar  jedesmal  auf 
grund  des  im  anhange  angegebenen  ersten  druckes,  mitgeteilt.  Sie  haben,  wie  schon 
neulich  in  dieser  Zeitschrift  27,  414  mit  recht  hervorgehoben  wurde,  auch  heute  noch 
daiiemden  wert.  Deutüch  lassen  sie  erkennen,  wie  eifrig  und  erfolgreich  Bürger 
seine  grosse  natürliche  begabung  auch  in  den  dienst  der  wissenschaftlichen  erkeuntnis 
der  muttersprache  zu  stellen  bemüht  war,  und  wie  ernst  er  es  in  seinen  späteren 
Göttinger  jähren  mit  der  aufgäbe  nahm,  durch  lehre  und  beispiel  auf  die  hebung  des 
deutschen  stils  und  Versbaues  zu  wirken.  Die  in  die  vorhegende  ausgäbe  nicht  auf- 
genommenen prosaischen  Übersetzungen  und  bearbeitungen  fremder  werke,  welche 
Bürger  gemacht  hat,  verzeichnet  der  herausgeber  mit  dankenswerten  bibliographischen 
nachweisimgen  s.  501  fg.;  vom  „Münchhausen"  hat  Grisebach  bekanntlich  selbst  eine 
von  eingehenden  Untersuchungen  begleitete  ausgäbe  erscheinen  lassen  in  der  „collec- 
tion  Spemann",  Stuttgart  (1891). 


272  ERDMANN,    ÜBER   BÜRGERS    WEREE   ED.    GRISEBACH 

Bürgers  gedicbte  sind  schon  in  drei  neuereu  ausgaben  gesammelt  und  kri- 
tisch bearbeitet:  von  Sauer  in  Kürschners  D.  nat.  litt.  bd.  78  (1884),  Von  Grisebach 
in  der  „jubelausgabe"  (Berlin  1889)  und  von  Berger,  Leipzig,  bibl.  Institut  (1891). 
Jede  dieser  drei  ausgaben  hat  ihre  Vorzüge  und  dient  den  bedürfnissen  des  littera- 
turforschers  und  des  liebhabers  der  Bürgerschen  dichtiing.  In  unserer  für  weitere 
kreise  bestimmten  gesammtausgabe  von  Bürgers  werken  hat  Grisebach  die  gedichto 
neu  geordnet:  I.  bal laden  und  romanzen,  voran  die  drei  glänzendsten  balladeu- 
schöpfungen  Bürgers:  Lenore  —  Der  wilde  Jäger  —  Des  pfarrers  tochter  von  Tau- 
benhain (diese  vom  herausgeber  besonders  hochgestellt  s.  XXVI  fg.) ;  die  übrigen  im 
allgemeinen  in  chronologischer  folge,  die  jedoch  mehrmals  (wegen  sachhcher  oder 
formeller  berühruugen?)  unterbrochen  ist.  11.  lieder  an  Molly,  meist  in  chrono- 
logischer folge.  III.  Sprüche  und  vermischte  gedichte;  hier  gibt  der  heraus- 
geber nur  eine  auswahl,  die  aber  nichts  bedeutendes  und  charakteristisches  vermissen 
lässt.  Als  „anhaug"  folgen  bearbeitungen  fremder  gedichte  durch  Bürger,  von  denen 
die  zwei  letzten,  wahrscheinlich  zuerst  von  H.  G.  B.  Fi'anke  entworfenen,  in  sämmt- 
lichen  Göttinger  gesammtausgaben  (und  auch  bei  Berger,  nicht  bei  Sauer)  fehlen. 

Der  zweck  dieser  anorduung  der  gedichte  war  offenbar,  dem  leser  gleich  am 
anfange  des  bandes  das  anziehendste  und  bedeutendste  zu  bieten.  In  ähnlicher  weise 
beabsichtigte  ja  Schiller  eine  neuordnung  seiner  gedichte  auszuführen,  und  unter  sei- 
nen neueren  herausgebern  hat  Boxberger  in  Kürschners  D.  nat.  litt.  bd.  118  eine 
solche  versucht.  Aber  ohne  Willkür  und  ohne  unzuträglichkeiten  geht  es  doch  bei 
einer  solchen  neuordnung  nicht  leicht  ab,  auch  nicht  bei  Grisebach.  Unter  die  „bal- 
laden  und  romauzen"  hat  er  auch  rein  lyrische  gedichte  eingereiht,  z.  b.  75.  76.  78. 
79.  Die  „lieder  an  Molly"  geben  in  ihrer  folge  eine  deutliche  und  ergreifende  ein- 
sieht in  den  verlauf  von  Bürgers  liebesleidenschaft  und  liebeslyiik ;  aber  eben  um 
diesen  verlauf  deutlich  hervortreten  zu  lassen,  hat  der  herausgeber  hier  auch  dich- 
tuugen  eingereiht,  die  unter  die  Überschrift  der  abteiluug  nach  ihrem  wortsinne  nicht 
lassen,  wie  die  „  Männerkeuschheit "  s.  97,  die  nicht  an  Molly  gerichteten  sonette 
s.  118  und  am  Schlüsse  das  schöne  sonett  „An  das  herz"  s.  137.  Als  gewissenhafter 
recensent  wollte  ich  diese  kleinen  Unebenheiten  nicht  verschweigen;  besonderes  gewicht 
auf  sie  zu  legen  liegt  mir  fern,  zumal  einem  manne  gegenüber,  der  als  feinsinniger 
liebhaber  und  bewährter  kenner  der  Bürgerschen  dichtung  sich  schon  ein  gewisses 
recht  darauf  erworben  hatte,  diese  neue  ausgäbe  nach  seinem  sinne  zu  gestalten. 

Die  genannten  eigenschaften  bewährt  Grisebach  namentlich  auch  in  der  kurz 
gehaltenen,  aber  sehr  inhaltreichen  (auch  durch  interessante  beigaben  aus  Bürgers 
briefen  bereicherten)  einleitung.  Mit  kundiger  band  hat  er  ein  ansprechendes  und 
lebenswahres  bild  von  dem  menschen,  dichter  und  Schriftsteller  Bürger  entworfen; 
die  schatten  dieses  bildes  sind  nicht  vertuscht,  aber  sie  sind  nicht  in  den  Vordergrund 
gerückt,  wie  es  bei  anderen  darstellern  aus  befangenheit  oder  Ungeschick  geschehen  ist. 

Die  Verlagshandlung  hat  die  ausgäbe  in  papier  und  dnick  gut  ausgestattet  und 
dabei  den  preis  sehr  billig  gestellt.  Es  ist  ihr  "eine  günstige  aufnähme  zu  wünschen 
bei  allen,  die  der  bedeutsamen  gestalt  G.  A.  Bürgers  teilnehmend  näher  treten  wol- 
len. An  seinen  besten  Schöpfungen  in  poesie  und  pi-osa  ist  auch  heute,  mehr  als 
hundert  jähre  nach  seinem  tode,  noch  nichts  veraltet,  und  gerade  die  vorliegende 
ausgäbe  ist  sehr  dazu  geeignet,  auch  in  weiteren  kreisen  das  gefühl  imd  die  erkennt- 
nis  von  Bürges  bedeutung  lebendig  zu  erhalten. 

KIEL.  0.    ERDMANN,    (f) 


MATTHIAS,  ÜBER  HERRMANN,  ALBRECHT  V.  EYB  273 

Schriften  zur  germauischen  philologie,  herausgegeben  von  dr.  Max  Roediger. 
VII.  heft:  Albrecht  von  Eyb  und  die  frühzeit  des  deutschen  humanis- 
mus,  von  dr.  Max  Herrmanii.     Berlin,  Weidmann.  1893.    VEI  und  437  s.    10  m. 

Der  zweck  des  buches  ist:  einen  beitrag  zu  bieten  zur  geschieh te  der  auf- 
nähme des  humanismus  in  Deutschland,  insonderheit  in  Franken;  ferner:  den  beweis 
dafür  zu  bringen,  dass  nicht,  wie  sonst  angenommen  worden,  Niclas  von  Wyle, 
sondern  Albrecht  von  Eyb  der  erste  deutsche  humanist  gewesen;  endlich,  dass 
humanistische  tätigkeit  in  Deutschland  schon  unmittelbar  nach  beginn  der  zweiten 
hälfte  des  15.  Jahrhunderts  nachzuweisen  ist.  In  Frauken  begünstigen  den  humanis- 
mus besonders  die  geistlichen  fürstenhöfe.  Er  ist  durchaus  von  Süden  zu  uns  gekom- 
men; unter  den  Deutschen,  die  sich  ihm  unabhängig  von  Aeneas  Sylvius  in  Italien 
in  die  arme  geworfen  haben,  ist  der  bedeutendste  Alb  recht  von  Eyb,  der  zugleich 
die  fühlung  mit  dem  volke  nicht  verlor  und  die  schönste  prosa  schrieb,  die  wir  vor 
1500  haben. 

Er  ist  auf  schloss  Sommersdorf  in  der  nähe  von  Anspach  am  24.  august  1420 
geboren,  wo  er  seine  Jugend  verlebte  und  wo  besonders  seine  mutter  Margarete 
lind  sein  vater  Johann  von  Eyb  einfluss  auf  seine  erziehung  ausübten.  Die  Uni- 
versität Erfurt,  die  er  1436  mit  seinem  jüngeren  brader  bezogen  hatte,  musste  er 
anfang  1438  infolge  des  todes  des  vaters  wider  verlassen;  nach  dessen  letztem  wil- 
len sollte  Albrecht  geistlich  werden.  Das  familienöberhaupt  war  jetzt  der  älteste 
söhn,  Ludwig,  bekannt  als  kanzler  des  markgrafen  Albrecht  AchUles  mid  als  Ver- 
fasser der  HohenzoUerschcn  denk  Würdigkeiten.  Der  sparsame  bruder,  der  die  Über- 
zeugung hatte,  dass  das  „blosse  sichumhertreiben"  auf  Universitäten  keinen  zweck 
habe,  sorgte  zunächst  dafür,  dass  die  versäumte  wissenschaftliche  Vorbildung  der 
beiden  jungen  Studenten  nachgeholt  werde,  und  schickte  sie  1439  auf  die  lateinische 
schule  nach  Rothenburg  a.  d.  Tauber.  Als  nach  zweijährigem  gemeinsamen 
Schulbesuch  der  jüngere  bruder  Wilhelm  infolge  eines  heftigen  Streites  mit  Ludwig, 
der  die  herausgäbe  des  väterlichen  erbes  weigerte ,  deutschritter  geworden  war,  kehrte 
Alb  recht  allein  nach  Rothenburg  zurück.  Besser  ausgerüstet,  als  das  erstemal,  bezog 
er  1444  abermals  die  Universität  Erfurt,  nachdem  er  die  an  wartschaft  auf  eine  doni- 
herrustelle  in  Eichst ätt  erhalten  hatte.  Schon  nach  einem  halben  jähre  vertauschte 
er  Erfurt  mit  Pavia,  wo  er  bis  1447  verweilte.  Der  benihmteste  lehrer  der  hoch- 
schule  war  damals  Balthasar  Rasinus,  dem  Eyb  namentlich  bei  seinem  späteren 
besuch  der  Universität  nahe  trat.  Aus  dem  besonderen  kapitel,  welches  dem  manne 
gewidmet  wird  (s.  56  fgg.),  heben  wir  nur  hervor,  dass  er  nicht  nur  ein  bedeutender 
Jurist,  sondern  vor  aUem  ein  vorzüglicher  kenner  und  erklärer  des  Plautus  war,  von 
dessen  neuaufgefundenen  12  komödien  er  eine  abschrift  des  archetypus  besass,  der 
sich  im  besitze  des  cardinals  Orsini  befand.  Damals  hörte  Eyb  nur  Terenz  bei  ihm. 
Im  august  47  verliess  er,  veranlasst  durch  die  poUtischen  w^irren,  die  nach  dem 
tode  des  protektors  der  hochschule,  des  herzogs  Philippe  Maria  von  Mailand,  eintra- 
ten, Pavia  und  begab  sich  nach  Bologna.  Im  anschluss  an  die  von  Friedländer 
und  Malagola  herausgegebenen  Acta  nationis  germanicae  uuiv.  Bononiensis  gibt  der 
Verfasser  (s.  65  fgg.)  eine  statistische  Zusammenstellung  über  den  besuch  der  Univer- 
sität von  Seiten  deutscher  Studenten  für  die  zeit  von  1433  —  59,  von  denen  der  Nürn- 
berger Joh.  Pirkheimer,  der  vater  WilUbalds,  besonders  hervorgehoben  wird,  der 
nebst  anderen  landsleuten  gleichzeitig  mit  Eyb,  jedenfalls  aus  denselben  gTÜnden, 
Pavia  verliess.  Von  den  docenten  hat  namentUch  einfiuss  auf  diesen  ausgeübt  Joh. 
Lamola,    dessen  werk:    De  pudicicie  sine  castitatis  laudibus  jenem  den  anstoss  zur 

ZEITSCHRIFT    F.    DEUTSCHE    PHILOLOGIE.     BD.   XXVUI.  18 


274  MATTHIAS 

abfassung  seiner  Schriften  über  ehe  und  frauen  gegeben  hat.  Ende  48  wurde  Eyb 
mit  vielen  anderen  von  Bologna  durch  die  pest  vertrieben  und  wandte  sich  wahi-- 
scheinlich  nach  Padua.  1449  erhielt  er  ein  Bamberger  kanonikat,  zunächst  ohne 
in  den  genuss  der  pfründe  einzutreten,  zugleich  die  einkünfte  einer  pfarre  in  Swanns 
(=  Schwanenstadt  in  Oberösterreich).  1450  —  51  finden  wir  Eyb  zum  zweiten  male 
in  Bologna,  von  wo  er  im  soramer  des  letzteren  jahres  notgedi'ungen  nach  hause 
zurückkehrte,  weil  einerseits  der  bruder  Ludwig  sein  geld  nicht  mehr  nach  Italien 
schicken  mochte,  andrerseits  Eyb  in  den  genuss  der  Bamberger  pfründe  nur  gelan- 
gen konnte,  wenn  er  gemäss  einem  paragraphen  des  Statutes  mindestens  ein  jähr 
lang  persönlich  an  ort  und  stelle  weilte.  "Welchen  umfang  die  humanistischen  Stu- 
dien Eybs  während  seines  ersten  aufenthaltes  in  Italien  gehabt,  lässt  sich  einiger- 
massen  aus  der  Zusammenstellung  der  in  dieser  zeit  entweder  von  ihm  selbst  geschrie- 
benen oder  erworbenen  handschrifteu  ersehen,  die  jetzt  zwar  in  verschiedenen  biblio- 
theken  zerstreut  sind,  sich  aber  durch  den  eigentümlichen  einband ,  durch  das  Eybsche 
Wappen,  endlich  durch  einzeichnungen  als  bestandteile  seiner  bücherei  charakteri- 
sieren. 

Zu  Bamberg  tröstete  sich  Eyb  über  die  unfreiwillige  trennung  von  Italien 
dadurch,  dass  er  zur  feder  griff  und  damit,  soweit  unsere  kenntnis  reicht,  das 
früheste  beispiel  humanistischer  schriftstellerei  eines  deiitschen  auf 
deutschem  boden  gab.  Hier  entstehen  zuerst  zwei  kleine  lateinische  traktate:  De 
speciositate  Barbare  puellulae,  seinem  hauptteile  nach  vielleicht  eine  auf  persönliche 
erlebnisse  zurückgehende  beschreibung  einer  schönen  Bambergerin  im  tone  des  hohen 
liedes  (s.  100  — 102);  2.  Appellacio  mulierum  Bambergensium ,  eine  überaus  frivol 
gehaltene,  der  Oratio  Heliogabali  des  Leonhard  Bruni  nachgebildete  klagerede  der 
Bamberger  frauen  über  unwillfährigkeit  der  männer  (s.  104  — 107);  3.  eine  abend- 
mahlspredigt;  4.  lobspruch  auf  Bamberg  (z.  t.  abgedruckt  s.  109  fgg.),  auch  diese  in 
lateinischer  spräche.  Wie  unbehagUch  sich  Eyb  in  Bamberg  fühlte,  geht  aus  einem 
an  italienische  freunde  gerichteten ,  nach  humanistischer  weise  für  die  Veröffentlichung 
bestimmten  briefe  hervor  (s.  111  — 114).  Im  Oktober  trat  er  endlich  in  den  genuss 
der  pfründe,  deren  einkünfte  (s.  114  fg.)  ihm  die  möglich keit  gewährten ,  seine  hiuna- 
nistisohen  Studien  in  Italien  unabhängig  von  dem  guten  willen  des  braders  fortzusetzen. 
Zu  anfang  des  jahres  1453  finden  wir  ihn  abermals  in  Bologna,  wo  er  zu  einem 
der  procuratoren  der  deutschen  natiou  gewählt  wurde.  Unsicher  ist,  wie  lange  sein 
aufenthalt  währte;  jedesfalls  nicht  bis  zum  Studienjahre  1455/56;  denn  sonst  hätte 
Eyb  gewiss  nicht  versäumt,  den  in  diesem  jähre  zuerst  aiiftretenden  lehi-er  des  grie- 
chischen, Lianorus  de  Lianoris  zuhören;  des  griechischen  aber,  sogar  der  schrift, 
ist  er,  wie  seine  handschrifteu  beweisen,  vöUig  unkundig  geblieben.  Von  Bologna 
aus  trat  er  auch  in  htterarische  Verbindung  mit  der  zweiten  statte,  wo  in  Italien  Deut- 
sche sich  zahlreich  zusammenfanden,  mit  Eom,  namentlich  mit  einem  ihm  befreun- 
deten landsmanne,  dem  humanisten  Joh.  Rot.  Durch  grosse  büchereinkäufe  geriet 
er  in  schulden;  bruder  Ludwig  gewährte  eine  ausserordentliche  bewilligung  von  200 
gülden  erst  dann,  als  Albrecht  droht,  falls  der  bruder  sein  verlangen  nicht  erfülle, 
dem  geistlichen  stände  überhaupt  den  rücken  kehren  zu  wollen! 

Die  bibliothek  umfasste  namentlich  juristische  und  humanistische  handschrif- 
teu; imter  letzteren  sind  die  wichtigsten  zwei  Plautuscodices,  von  denen  der  erste 
die  8  schon  längst  bekannten,  der  zweite  von  den  neuentdeckten  komoedien  die  Bac- 
chides,  die  Mcnaechmi  und  den  Poenulus  enthjilt.  Ausser  20  namhaft  gemachten 
bänden  muss  die  büchersammlung  noch  andere  umfasst  haben,    wie  aus  erhaltenen 


ÜBER  HERRMANN,  ALBRECHT  VON  KTB       "  275 

abschriften  von  der  band  des  Nüi'nberger  arztes  Hart  mann  Schedel  hervorgeht, 
der  1485  in  Eichstätt  gewesen  ist. 

Im  Vordergründe  stehen  während  des  zweiten  anfenthaltes  in  Italien  Eybs 
Plautusstudien,  die  er  namentlich  in  Pavia  unter  leitung  des  schon  erwähnten 
Rasinus  machte.  Die  zahllosen  rand-  und  zwischennotizen,  welche  die  zweite  Plau- 
tushandschrift  enthält,  und  in  denen  wir  zum  grössten  teile  erläuterungen  jenes  leh- 
rers  zu  sehen  haben,  ermöglichen  es,  uns  ein  anschauliches  büd  von  der  art  der 
Plautiisinterpretation  in  den  Vorlesungen  der  damaligen  Universitätsprofessoren  zu 
machen  (s.  161  fgg.).  Neben  humanistischen  Studien  betrieb  Eyb  auch  juristische, 
besonders  in  Pa-\-ia  unter  leitung  des  Catone  Saccus,  der  auch  humanistische 
Interessen  hatte  (165  fgg.)  und  des  Giacomo  Ricci.  Am  7.  febr.  1459  erwarb  er 
sich  die  juristische  doctorwürde ;  in  demselben  jähre  ernannte  ihn  auch  der  neue 
pabst  Pius  II.  (Aeneas  Sylvius)  zu  seinem  cubicularius.  Im  november  dessel- 
ben Jahres  ist  Eyb  wider  in  Eichstätt,  gleichzeitig  hat  er  seine  Margarita  poetica 
vollendet  (s.  174). 

Die  betrachtung  dieses  werkes  wird  eingeleitet  durch  einen  kurzen  abriss  der 
geschichte  der  beredsamkeit,  wobei  die  Praecepta  des  Aeneas  Sylvius  aus  einem 
besonderen  gründe  eine  ausführhchere  berücksichtigung  finden.  Die  beiden  ersten 
traktate  der  Margarita  poetica  nämlich  stimmen  wörtlich  mit  den  Praecepta  überein; 
an  ein  plagiat  Eybs  ist  kaum  zu  denken,  da  der  erzbischof  von  Trier,  dem  diese 
gewidmet  sind ,  auch  am  sclilusse  der  Margarita  unter  denen  genannt  wird ,  denen  das 
werk  zugeeignet  ist.  Mit  hUfe  einer  Berliner  handschrift  der  Praecepta  nun,  in  wel- 
cher statt  Eneas:  Alberthus  und  Alb.  Eyb  als  Verfasser  bezeichnet  wird,  weist 
Hernnann  nach,  dass  diese  überhaupt  von  Eyb  heriühren  und  eine  Jugendarbeit  von 
ihm  sind  (entstanden  zwischen  1457  und  59),  die,  weil  sich  der  Verfasser  nur  bei- 
läufig im  texte  genannt  hatte,  von  einem  oberflächlichen  humanisten  fälschlich  dem 
Aeneas  zugeschrieben  und  den  werken  desselben  einverleibt  worden  sind;  so  dass 
also  Eyb,  als  er  die  beiden  traktate  der  Marg.  schiieb,  nicht  den  Aeneas,  sondern 
seine  eigne  Jugendarbeit  benutzte.  Es  folgt  nun  eine  ausführliche  analyse  ihres  inhal- 
tes  (185  — 195),  aus  welcher  hei^vorgeht,  dass  der  Verfasser  zwar  ein  lehrbuch  der 
humanistischen  rhetorik  liefern  woUte,  dass  er  aber  fort  und  fort  in  allgemein  sti- 
listische und  sogar  specieU  epistolographische  Vorschriften  hineingerät;  einen  grossen 
räum  nehmen  die  musterbeispiele  aus  klassischen  autoren  ein,  der  mehrzahl  nach 
entnommen  einem  von  Eyb  während  des  ersten  itaHeuischen  anfenthaltes  erworbenen 
und  von  ihm  selbst  fortgeführten  citatenbuche  (s.  91  fgg.);  den  schluss  bildet  eine 
Sammlung  von  umfangreicheren  musterbeispielen  humanistischer  stilkunst,  enthaltend 
30  fast  ausnahmslos  gesprochene  reden  verschiedener  Verfasser.  Der  epüog  enthält 
ausser  anderem  eine  rechtfertigimg  der  neuen  Wissenschaft,  als  deren  erster  verkün- 
der Eyb  in  Deutschland  auftritt,  sodann  eine  widmung  des  dem  bischof  von  Münster 
zugeeigneten  buches  an  noch  15  humanistisch  gebildete  männer;  unter  den  8  welt- 
lichen befindet  sich  auch  sein  lehrer  Rasinus.  Aus  der  von  Herrmann  in  Eichstätt 
entdeckten  Originalhandschrift  geht  deutlich  hervor,  dass  das  werk,  welches  ei*st 
1472  gedruckt  ist,  bereits  1459  zum  abschluss  gebracht  war.  Aus  den  15  verschie- 
denen drucken,  die  der  Verfasser  am  Schlüsse  des  kapitels  aufzählt,  ergibt  sich, 
welche  Verbreitung  das  buch  bis  zur  blute  des  humanismus  gefanden:  der  erfolg  ist 
namentlich  der  auswahl  klassischer  texte,  die  es  bot,  zu  danken;  „als  die  glänzende 
Vereinigung  der  phüologie  und  des  buchdnickes  den  Deutschen  die  antiken  autoren  selbst 
in  die  band  gab,  da  war  es  mit  der  Wichtigkeit  der  Margarita  für  immer  vorbei  (s.  214). 

18* 


276  MATTHIAS 

Nach  Eichstätt  zurückgekehrt,  setzte  Eyb  durch,  dass  er,  zuwider  den  Statu- 
ten, welche  keinem  aufnähme  in  das  kapitel  gewährten,  der  schon  3  blutsverwandte 
darin  sitzen  hatte,  die  vollen  einkünfte  eines  domherrn,  sowie  sitz  und  stimme  im 
chor  und  kapitel  bekam.  Bischof  war  damals  der  hmnanistisch  gebildete  Johann  EI., 
der  buüdcsgenosse  des  benachbarten  Alb  recht  Achilles,  ein  freund  des  Aeneas 
Sylvius,  dem  eine  ebenso  eingehende  betrachtung  gewidmet  wird,  wie  den  seinem 
genossenkreise  angehörenden  Job.  v.  Holdburg,  Job.  Mendel,  Job.  Heller, 
"Wilh.  V.  Reichenau,  endlich  Hieronymus  v.  Eichstätt  (eigentlich  H.  Roten- 
beck),  dem  einzigen,  der  in  humanistischem  sinne  schriftstellerisch  tätig  ist  (s.  215  fgg.)- 
Man  würde  aber  irren,  wenn  man  von  diesem  kleinen  kreise  litterarisch  gebildeter 
männer,  in  welchem  Eyb  verkehi-te,  einen  schluss  machen  wollte  auf  das  geistige 
niveau  des  übrigen  klerus;  die  mehrzahl  der  geisthchen  ist  in  trägheit  und  genuss- 
sucht  versunken,  und  selbst  bessergesiunte  sind  auf  äusserlichkeiten  und  materiellen 
gewiunbedacht;  auch  Eyb  gehört  unter  diese.  In  den  kämpfen  zwischen  den  Witteis- 
bachern und  den  fränkischen  Hohenzollern ,  in  welche  auch  Eichstätt  dadurch  verwickelt 
ward,  dass  bischof  Johann  als  vermittler  fungierte,  finden  wir  Eyb  als  agenten  des 
markgrafen  tätig.  Dieser  bemühte  sich,  um  den  einfluss,  den  durch  Eyb  auf  das 
Eichstätter  und  Bamberger  kapitel  hatte,  auch  auf  Würzburg  auszudehnen;  ihm 
die  fetteste  Würzburger  pfründe,  die  erledigte  pfarrei  Hassfurt,  zu  verschaffen. 
Eyb  begab  sich  persönlich  nach  Rom  (1464),  um  seine  wähl  auch  wider  den  wülen 
des  zoUernfeindlichen  Würzburger  bischofs  Johann  durchzusetzen.  Es  gelang  ihm 
zwar  nicht,  da  die  pfründe  ein  anderer  bekam,  der  ihm  allerdings  100  gülden  jähr- 
lich abgäbe  zahlen  musste;  dagegen  erhielt  er  als  ersatz  das  Würzburger  archidia- 
konat  Ipphofen.  Als  er  in  Würzburg  dem  widerstrebenden  bischof  gegenüber  sein 
recht  persönlich  geltend  zu  machen  suchte,  wurde  er,  jedesfalls  auf  veranlassung 
jenes  gewalttätigen  mannes,  von  zwei  herren  von  der  Tann  auf  deren  schloss  ent- 
führt und  gefangen  gehalten.  Es  verwendeten  sich  für  ihn  sowol  markgraf  Albrecht, 
als  der  bischof  von  Bamberg;  besonders  mit  rücksicht  auf  den  letzten  wurde  er  zwar 
freigelassen,  doch  nicht  eher,  als  bis  er  aUes  unterschrieben,  was  seine  kerkermeister 
verlangten,  vor  allem  verzieht  auf  Ipphofen  geleistet  hatte.  Da  aber  dieser  not- 
gedrungene verzieht  trotz  aller  bemühungen  nicht  rückgängig  gemacht  werden  konnte, 
begab  sich  Eyb  zum  zweiten  male  nach  Rom  und  nahm  den  ersten  aufenthalt  in 
Mantua,  an  dem  hofe  der  Gonzaga,  wo  er  gute  aufnähme  fand  durch  vermittlimg 
der  nichte  seines  gönners,  Albrecht  Achilles,  Barbara,  markgräfin  von  Mantua, 
deren  lob  er  im  Ehebüchlein  verkündigt.  In  Rom  setzte  er  zwar  eine  entscheidung 
des  pabstes  zu  seinen  gunsten  durch;  die  Würzburger  aber  kehrten  sich  nicht  dai'an. 
Auch  die  bemühungen  Eybs,  nach  der  wähl  des  domp rohstes  Wilhelm  von  Reichenau 
zum  bischof  von  Eichstätt  (nach  Johanns  tode,  1464)  einige  von  dessen  pf runden  zu 
erlangen,  blieben  erfolgios- 

Weit  weniger  bedeutungsvoll,  als  Eybs  politische  tätigkeit,  ist  seine  juristische 
(s.  258  fgg.),  die  namentlich  in  der  eiteilung  von  rechtsgutachten  bestand;  die 
meisten  davon  sind  in  lateinischer,  nur  wenige  in  deutscher  spräche  abgefasst  und 
haben  inhaltlich  für  unsere  zeit  geringes  Interesse. 

Mehr  wert  haben  für  uns  seine  in  dieser  zeit  entstandenen  lateinischen 
Schriften  über  ehe  und  trauen,  beides  ein  lieblingsthema  Eybs:  Clarissimarum 
feminarum  laudacio,  die  Niclas  von  Wyle  in  seinen  Translationes  stillschweigend 
übertragen  hat;    Invectiva  in  lenam;    An  viro   sapienti  uxor  sit  ducenda,    alle   drei 


ÜBER  HERRMANN,  ALBRECHT  VON  EYB  277 

mosaikarbeiten,  entstandeu  diu-ch  zusammenfügiing  namentlich  klassischer  citate;  die 
letzte  ist  die  vorläuferin  seines  Ehehüchleins. 

Nachdem  der  Verfasser  an  3  novellen  (Guiscardus  und  Sigismunda,  Marina, 
Albauus)  die  in  dem  Ehebüchlein  aufnähme  fanden ,  und  einem  dialoge  (De  nobüitate), 
der  dem  Spiegel  der  sitten  einverleibt  ist),  die  von  Eyb  in  diesen  stücken  beobach- 
teten principien  der  nacherzählung  festgestellt  hat  (s.  287  fgg.),  untersucht  er  an  der 
band  der  so  gewonnenen  resultate,  mit  welchem  rechte  neuerdings  Strauch  das  ano- 
nyme werk  Griseldis  jenem  zugeschrieben  habe.  Er  weist  überzeugend  nach,  dass  es 
nicht  von  Eyb  herrührt,  dass  dieser  vielmehr,  als  er  die  novelle  in  seinem  Ehebüch- 
lein benutzte,  ein  plagiat  an  dem  unbekannten  Verfasser  begangen  hat. 

Das  Ehebüchlein,  welches  alle  früheren  arbeiten  Eybs  über  frauen,  ehe 
u.  dergl.  zusammenfasst,  und  dem  rate  von  Nürnberg  gewidmet  ist,  gehört  zu  den 
schönsten  deutschen  büchern  der  beginnenden  neuzeit.  Nach  besprechung  der  auf- 
fassungen,  welche  die  ehe  in  jüdischen,  griechischen,  römischen  und  früh- christlich - 
scholastischen  Schriften  gefunden  hat,  wird  der  Standpunkt,  welchen  der  humanismus 
in  dieser  frage  einnimmt,  aus  Schriften  des  Franciscus  Barbaras  (De  re  uxoria)  und 
Poggios  (An  seni  sit  uxor  ducenda)  veranschaulicht.  Die  bedeutendste  schrift  über 
diesen  gegenständ  jedoch  ist  Eybs  Ehebüchlein,  welches  die  ehe  von  rein  mensch- 
lichem Standpunkte  aus  betrachtet,  ohne  sich  auf  die  damals  so  beliebten  juristischen 
ehefragen  einzulassen.  Es  folgt  sodann  eine  eingehende  besprechung  über  entstehung, 
kompositiou  imd  Inhalt  des  ganzen  Werkes,  das  schliesslich  (auf  s.  345  —  355),  wie 
der  Verfasser  selbst  sagt,  sich  eine  „zerpüückung"  gefallen  lassen  muss,  d.  h.  einen 
nachweis  aller  sätze  und  sätzchen,  die  Eyb  seinen  eignen  früheren  Schriften  oder  den 
arbeiten  anderer  entlehnt  hat. 

Entgegen  dem  in  streng  humanistischem  geiste  gesckriebenen  Ehebüchlein  raht 
der  Spiegel  der  sitten  entsprechend  dem  geschmacke  der  geistlichen  Würdenträ- 
ger, denen  das  buch  gewidmet  ist,  wesentlich  auf  scholastisch  -  patristischer  grund- 
lage;  die  citate,  aus  denen  auch  dieses  buch  zum  teil  besteht,  sind  demnach  der 
mehrzahl  nach  den  kirchenvätern  und  Scholastikern  entnommen.  Nach  einer  einge- 
henden besprechung  des  Inhaltes  folgt  der  beweis ,  dass  der  deutsche  Spiegel  der  sitten 
nichts  ist,  als  eine  Übertragung  einer  fremden  lateinischen  arbeit,  die  Eyb  durch 
einige  Zusätze  erweitert  hat.  Die  dracklegung  des  Werkes,  die  er  nicht  mehr  zu 
bewirken  vermochte,  erfolgte  erst  36  jähre  nach  seinem  tode  durch  seinen  neffen 
Gabriel  von  Eyb.  Beifall  fand  indes  das  werk  auch  jetzt  nicht,  eine  neue  aufläge 
erlebte  es  nicht.  Um  so  grössere  Verbreitung  fand  der  anhang  des  buches:  Plautus 
und  ügolino  Pisani  in  deutschem  gewande. 

Zu  bedauern  ist  das  späte  erscheinen  der  dramenübertragungen.  1474,  als 
sie  enstanden,  kannte  man  aus  dem  lateinischen  altertume  in  deutscher  Übersetzung 
nur  den  Boethius;  1511  dagegen  waren  bereits  die  meisten  alten  autoren  übertragen, 
noch  dazu  in  schulbuchmässiger  wörtlichkeit,  im  vergleich  zu  welcher  Eybs  freie 
übertragungsweise  anstoss  erregte.  Seine  bearbeitmig  ist  ein  gemisch  von  erzählung 
und  handluug,  insofern  dm'ch  zahlreiche  erläuternde  bemerkungen  der  oft  verwickelte 
Zusammenhang  klar  gemacht  wird.  Auf  des  Rasinus  erläuterungen  gehen  offenbar 
die  besonders  in  den  Menaechmi  und  Bacchides  vertretenen  scenischen  bemerkungen 
zurück.  Im  anschluss  an  die  lateinische  vorläge  sind  in  den  Menaechmi  und  der 
Philogenia  vor  beginn  des  dialoges  jeder  scene  die  namen  der  in  ihr  redenden  per- 
sonen  genannt,  wofür  die  Bacchides  eine  in  zusammenhängender  darstellung  gegebene 
Übersicht  haben  der  „namen  der  personeu  in  disem    püchlin  genannt  und   gemeldet." 


278  MATIUIAS 

Akteinteilung  ist  nicht  vorhanden.  Nicht  bloss  die  mehrzahl  der  namen  ist  durch 
deutsche  ersetzt  (Heintz,  Fritz,  Kuntz;  Barb,  Metz,  Ness);  die  ganzen  stücke  sind 
germanisiert  und  darin  besonders  besteht  Eybs  verdienst  und  der  wert  seiner  Über- 
tragung. Die  personen  reden  nicht  nur  deutsch,  sondern  empfinden  auch  deutsch; 
so  sind  beispielsweise  alle  anspielungen  auf  antike  Verhältnisse,  namentlich  auch  die 
heidnischen  götter  beseitigt;  der  reiche  Sprichwörter-  und  Sentenzenschatz  des  Plau- 
tus  ist  möglichst  in  deutsche  münze  umgeprägt.  Das  gab  oft  anlass  zu  Weiterungen 
oder  kürzungen;  ebendazu  führte  das  streben,  allzu  anstössiges  zu  beseitigen  oder 
zu  verschleiern,  ferner  dunkelheiten  des  lateinischen  textes  aufzuhellen,  endlich,  die 
epigrammatische  kürze  des  römischen  komikers  durch  die  behagliche  fülle  zu  ersetzen, 
die  dem  deutschen  stügefüge,  zumal  für  die  alltagsrede  entsprechend  ist.  Diesen 
vielfachen  bemühungen  entspricht  der  erfolg:  die  lektüi-e  der  dramenübertragungen 
„ist  noch  heute  ein  genuss,  welcher  der  beschäftigung  mit  den  originalen  beinahe 
ebenbürtig  an  die  seite  tritt." 

Das  letzte  (X.)  kapitel  (s.  398  fgg.)  behandelt  den  lebensausgang  Eybs.  Es 
ist  aus  seinen  letzten  lebensjahren  nur  wenig  bekannt.  Schon  früher  war  erwähnt 
worden,  dass  er  in  Bamberg  dem  heiligen  Sebastian  eine  kapelle  geweiht  habe.  Nun 
weist  der  Verfasser  auf  einen  Münchener  codex  hin,  in  welchem  sich  ge dichte  als 
erläuterungeu  zu  federzeichnungen  besonders  astrologischen  Charakters  finden.  Wäh- 
rend die  meisten  gedichte  sich  schon  in  älteren  kalendern  nachweisen  lassen,  sind  5 
davon  original  und  unzweifelhaft  Eybs  eigentum  (s.  409  —  416);  denn  sie  sind 
nichts,  als  versificierte  kernsätze  des  Spiegels  der  sitten  und  des  Ehebüchleins;  und 
die  Vermutung  des  Verfassers,  dass  bilder  und  verse  die  wandfläche  jener  Sebastian- 
kapelle geziert  haben,  scheint  mir  das  richtige  zu  treffen. 

Am  24.  juli  1475  ist  Eyb  im  55.  lebensjahre  gestorben.  Eine  sclilussbetrach- 
tuug  gibt  nochmals  in  kürze  einen  überblick  über  die  Stellung,  die  Eyb  in  der  ge- 
schichte  der  deutschen  litteratur  einnimmt,  und  erklärt,  warum  die  nachweit  bisher 
sich  gegen  ihn  so  undankbar  erwiesen  hat. 

Das  ungefähr  ist  der  inhalt  des  bandes,  welcher  zunächst  als  ergänzung  und 
erläuteruug  zu  den  beiden  ersten,  dem  Ehebüchlein  und  den  Dramenübertragungen, 
anzusehen  ist:  während  diese  viele  dankbare  leser  finden  werden,  wird  der  dritte 
und  liauptteil  ausserhalb  des  engsten  kreises  der  fachgenossen  im  Zusammenhang 
kaum  von  jemand  gelesen  werden.  Zum  teU  liegt  das  ja  am  stoff.  Eybs  persönlich- 
keit ist  nichts  weniger,  als  eine  bedeutende;  es  fehlt  überhaupt  in  der  friihzeit  des 
deutschen  humanismus  an  hervorragenden  geistern.  Die  mit  der  grössten  Sorgfalt 
aufgesuchten  und  aufgehellten  lebensschicksale  des  mannes  sind  im  gi'ossen  und  gan- 
zen uninteressant;  ähnliches  gilt  von  Joh.  Eot  und  Balthasar  Easinus.  Verdient  letzterer 
wenigstens  als  erster  ausleger  des  Plautus  und  als  geistiger  urheber  von  Eybs  dra- 
menübertragungen emiges  interesse,  so  ist  von  den  meisten  anderen  persönüclikeiten, 
mit  denen  Eyb  in  berühmng  gekommen  oder  in  Verbindung  getreten  ist,  kaum  mehr 
zu  berichten,  als  dass  sie  in  Italien  studiert  haben  oder  Verfasser  von  inhaltleeren 
prunki'eden  oder  Schreiber  von  belanglosen  briefen  gewesen  sind.  Dafür,  dass  beson- 
ders in  der  ersten  hälfte  des  buches  von  so  vielen  untergeordneten  persönlichkeiten 
und  von  so  vielen  unwichtigen  dingen  die  rede  ist,  dürfen  wir  natürlich  den  Verfas- 
ser nicht  zur  Verantwortung  ziehen.  Aber  das  ist  überaus  zu  bedauern,  dass  er 
sich  nicht  grössere  beschränkung  auferlegt,  dass  er  die  vielen  unwesentlichen  dinge 
und  im  wichtigen  persönlichkeiten  nicht  kürzer  behandelt,  dass  er  nicht  überhaupt 
eine  ganze  menge  stoff  über  bord  geworfen    oder  wenigstens   nur   nebenbei  in    der 


ÜBER    HEREMANN,    ALBRECHT    VON    EYB  279 

anmerkung  abgetan  hat;  der  umfang  des  buches  (über  400  Seiten)  wäre  dadurch  ganz 
erheblich  beschränkt,  seine  lesbarkeit  bedeutend  erhöht  worden.  Erklärlich  ist  ja 
diese  ausf ührlichkeit ;  in  den  meisten  fällen  hat  es  unsäglichen  fleiss  und  unendliche 
mühe  gekostet,  um  über  dieses  so  dunkle  gebiet  unsrer  litteraturgeschichte  einiges 
licht  zu  verbreiten.  Die  freude  des  forschers,  der  es  zum  ersten  male  betritt,  ist 
wol  begreiflich;  aber  er  darf  nicht  vergessen,  dass  er  in  einer  gegend  wandelt,  die 
besondere  reize  nicht  hat,  und  dai5s  der  bericht  über  die  reise  im  höchsten  grade 
ermüdet,  wenn  über  alles  und  jedes,  was  sich  dem  äuge  dargeboten  hat,  mit  glei- 
cher gründlichkeit  und- ausführlichkeit  berichtet  wird.  Das  ist  aber  leider  geschehen; 
man  höre  ein  beispiel  für  viele:  Von  dem  oben  erwähnten  Joh.  Rot,  dem  der  Ver- 
fasser eine  hervorragende  begabung  als  hmnanist  zuzuschreiben  selbst  weit  entfernt 
ist,  wird  zunächst,  wie  von  vielen,  eine  ausführliche  lebensbeschreibung  gegeben 
(s.  127  fgg.);  sein  lob  wird  verkündet  durch  einen  brief  des  kaiserlichen  kanzleibeam- 
ten  Joh.  Tröster  (den  sein  gönner,  Aeneas  Sylvius,  einen  homo  subagrestis  nennt) 
an  dessen  kollegen  Wolfg.  Forchtenauer ;  diesen  Tröster  fordert  Rot  auf,  sich  in  einer 
Schrift  über  das  wesen  der  liebe  zu  äussern.  Sodann  behauptet  er  in  einem  anderen 
schreiben  an  den  angesehensten  deutschen  Juristen  Gregor  Heimburg  unter  anderem, 
die  „rhetorik"  sei  hoch  erhaben  über  die  Jurisprudenz.  Heimburg,  dessen  Stellung 
zum  humanismus  erörtert  wird  (s.  134  fg.),  weist  diese  behauptung  sehr  entschieden 
zurück  (s.  135  fg.):  Rots  duplik  ist  eine  förmliche  abhandlung,  die,  wie  der  Verfasser 
selbst  sagt,  nur  von  massigem  Interesse  ist  und  deren  schwülstiges  pathos  abstösst 
(s.  130);  Rot  rühmt  sich  seines  angeblichen  sieges  über  den  Juristen  in  briefen  an 
seine  freunde,  unter  denen  auch  Eyb  ist  (s.  137);  der  brief  ist  nicht  erhalten;  sein 
Inhalt  stammt  aus  einem  schreiben  des  Andreas  Bavarus,  den  Eyb  als  antwort  auf 
das  diesem  mitgeteilte  schreiben  Rots  erhielt;  nebenbei  wird  der  Inhalt  eines  bitt- 
schreibens  des  Bavarus  an  den  Salzburger  kanzler  Beruh,  v.  Krayburg  mitgeteilt; 
s.  139  folgt  jene  antwort  auf  den  Eybschen  brief,  in  welcher  „in  unlogischer  weise" 
entwickelt  wird,  dass  Rot  überhaupt  kein  humanist  sei  —  usw.  usw.:  12  selten,  durch 
welche  man  sich  mit  seufzen  hindurchwindet,  und  deren  Inhalt  auf  eine  seite  zusam- 
mengedrängt werden  musste.  Denn  was  soll  die  ganze  auseinander  Setzung?  Erwei- 
sen, dass  die  humanistische  bildung  bei  männern  vom  schlage  Rots  in  der  kunst 
besteht,  in  glänzenden  phrasen  über  jedes,  auch  das  nichtssagendste  thema  reden  zu 
können.  Das  war  mit  wenigen  Worten  gesagt  und  statt  den  Inhalt  der  langatmigen 
briefe  zu  widerholen,  hätte  sich  der  Verfasser  darauf  beschränken  sollen,  kurz  auf 
die  darin  behandelten  gegenstände  hinzuweisen.  Andre  umfangreiche  betrachtungen 
liest  man  zwar  mit  grossem  Interesse,  z.  b.  die  über  die  Verfassung  der  lateinischen 
schule  in  Rothenburg  a.  d.  Tauber,  über  die  einrichtung  der  italienischen  Universi- 
täten, über  die  geschichte  der  rhetorik  (als  einleitung  zur  Margarita  poetica),  über 
Schriften  betreffend  frauen  und  ehe  (als  einleitung  zum  Ehebüchlein)  usw.:  aber  es 
sind  doch  dinge,  die  mit  Eybs  Persönlichkeit  und  werken  oder  mit  der  frühzeit  des 
deutschen  humanismus  nur  in  losem  zusammenhange  stehen,  deshalb  nicht  in  solcher 
ausdehnung  behandelt  werden  durften,  dass  man  das  thema  des  buches  zeitweise 
ganz  aus  den  äugen  verliert.  Die  zerpflückung  des  Ehebüchleins  möchte  man  über- 
haupt an  dieser  stelle  missen  und  lieber  unter  dem  texte  (heft  1)  sehen;  denn  ohne 
diesen  weiss  man  hier  mit  den  10  selten  citaten  tatsächlich  nichts  anzufangen. 

Was  wir  an  dem  buche  auszusetzen  haben,  bezieht  sich  ausschliesslich  auf 
die  art  der  darstelluug  und  die  komposition,  nicht  auf  den  Inhalt.  Dieser 
berulit  zum  grossen  teil  auf  solohoni  material,    welches  —   oft  aus   den  entlegensten 


280  HEINE 

winkeln  —  herbeizuschaffen  der  Verfasser  keine  zeit  und  mühe,  vermutlich  auch  keine 
kosten  gescheut  hat.  Auf  gnmd  dieses  materials  ist  es  ihm  gelungen,  nachzuweisen, 
dass  Eybs  persönlichkeit  und  Schriften  doch  etwas  mehr-  heachtung  verdienen,  als 
ihnen  nach  der  bescheidenen  rolle,  die  sie  in  den  meisten  litteraturgeschichten  spie- 
len, bisher  zuzukommen  schien.  Kurz  z.  b.  (Gesch.  d.  litt.  I,  788)  erwähnt  in  der 
vita  Eybs  die  dramenübertragungen  gar  nicht;  an  der  stelle,  wo  er  von  ihnen  redet 
(ebda  715''),  sagt  er:  Hans  Nydhardt  war  der  erste,  welcher  einen  versuch  der  art 
(der  Übersetzung  aus  dem  lateinischen)  machte :  er  übersetzte  den  Eunuch  des  Terenz, 
der  zu  Ulm  im  jähre  1486  im  druck  erschien.  Ihm  folgte  ein  unbekannter,  der  den 
Terenz  vollständig  verdeutschte  (Strassb.  1499);  und  im  jähre  1511  übersetzte  Al- 
brecht von  Eyb  die  Menächmen  und  die  Bacchides  des  Plautus;  Kui'z  verwechselt 
also  die  zeit  des  druckes  mit  der  zeit  der  abfassung  und  weist  damit  Eyb  in  der 
geschichte  der  übersetzungslitteratur  eine  ganz  falsche  stelle  au. 

Auch  im  einzelnen  gelangt  der  Verfasser  zu  ganz  neuen  und  oft  überraschen- 
den resultaten.  Ich  erinnere  nur  an  den  nachweis,  dass  die  Praecepta,  die  bis  jetzt 
in  den  opera  des  Aeneas  Syhäus  stehen,  Eybs  eigentum  sind  (s.  179  fgg.),  vor  allem 
aber  an  die  Untersuchung  über  die  deutsche  Grisardis  (301  —  311),  deren  ergebnis 
dureh  die  entdeckung  des  wirklichen  aiüors  (Erh.  Gross,  einl.  s.  VI)  eine  glänzende 
bestätigung  gefunden  hat. 

BURG   BEI   MAGDEBURG.  PROF.    DR.    MATTHIAS. 


E.  T.  A.  Hoff  mann.  Sein  leben  und  seine  werke.  Von  Georg  Elliuger.  Ham- 
bui'g  und  Leipzig,  Leopold  Voss.    1894.     XII  und  230  s.     5  m. 

Das  interesse  an  Hoffmanns  werken,  das  nie  ganz  erloschen  war,  ist  seit 
einem  Jahrzehnt  beständig  im  wachsen;  das  beweist  die  grosse  zahl  der  neuen  auf- 
lagen, in  denen  Hoffmanns  Schriften  in  deutscher,  französischer,  englischer  imd 
italienischer  spräche  alljährlich  erscheinen.  Die  mssenschaft  dagegen  hat  sich  seit 
einem  halben  Jahrhundert  fast  gar  nicht  mit  diesem  dichter  beschäftigt.  Hitzigs  bio- 
graphie  ist  1823,  die  von  Kunz  1836  erschienen,  imd  die  spärlichen  weiteren  ergeb- 
nisse  der  forschung  haben  Boxberger  und  Max  Koch  in  ihren  litterai"historischen  ein- 
leitungen  zur  Hempelschen  Hoffmannausgabe  und  zum  147.  bände  der  Deutschen  natio- 
nallitteratur  aufgezählt  und  verwertet. 

Das  bedürfnis  nach  einer  neuen,  auf  selbständiger  forschung  beruhenden  bio- 
graphie  wai"  also  entschieden  vorhanden,  und  im  ganzen  wird  dieses  bedürfnis  durch 
Ellingers  buch  in  erfreulicher  weise  befriedigt. 

In  22  kapiteln  sind  Hoffmanns  werke  im  anschluss  an  seinen  lebensgang,  in 
chronologischer  Ordnung  untersucht.  Eine  Zusammenfassung  dieser  zahkeichen  kapi- 
tel  in  4  oder  5  grössere  gruppen  wäre  der  Übersichtlichkeit  wegen  vielleicht  zu 
empfehlen  gewesen. 

Ausser  der  ausführlichen  und  einsichtigen  darlegung  der  einflüsse  des  ost- 
preussischen  volkscharakters  auf  Hoflmanu  bringt  EUinger  über  den  lebensgang  des 
dichters  nicht  viel  neues. 

Die  Pedanterie  von  Hitzig  und  Kunz  kam  der  kenntnis  von  Hoffmanns  lebens- 
laui  insofern  zu  gute,  als  sie  wenig  tatsächliches  ausser  acht  Hess,  während  sie  in 
der  beurteilung  dieser  tatsachen  freUich  häufig  irre  gieng.  Diesen  fehler  hat  EUinger 
nun  auszugleichen   gesucht,    indem   er  auch  Hoffmanns  schwächen  in  das  licht  einer 


ÜBER    ELLINGEK,    E.   T.   A.   HOFFMANN  281 

einsichtigen  und  nachsichtigen  beiiiieihing  setzt.  Neu  sind  in  der  lehensbescbreibung 
der  name  der  frau  Hatt,  einige  dateu  über  Hoffmanns  eitern  und  über  die  kraft- 
genialische Pos  euer  zeit,  für  die  EUinger  in  den  Denkwürdigkeiten  des  Posener 
Juristen  J.  L.  Schwarz  eine  neue,  freilich  trübe  quelle  entdeckte  (s.  26.  196  —  98). 
Mit  gutem  kritischen  urteil  sind  die  autobiograi)hischen  elemente  aus  Hoffmanns  wer- 
ken herausgeschält  und  geschickt  in  die  lebensdarstellung  verwoben.  Die  pflicht  der 
nachprüfung  überlieferter  daten  (s.  VII)  hätte  als  selbstverständlich  nicht  betont  Vter- 
den  dürfen. 

Mit  recht  hat  Ellinger  das  hauptaugenmerk  auf  die  quellen  gerichtet,  aus 
denen  Hoffmaun  schöpfte.  Teilweise  waren  diese  bereits  bekannt,  teilweise  aber 
bedurften  sie  wie  bei  Eameaus  neffen  (s.  80.  214)  oder  bei  der  figur  des  rats  Krespel 
(s.  130.  221)  noch  näherer  Untersuchung;  vielfach  hat  Ellinger  sie  neu  aufgefunden. 

Vor  allem  hat  er  nachgewiesen,  dass  der  bisher  überschätzte  einfluss  von 
Jean  Paul  auf  Hoffmann  mir  von  kiu'zer  dauer  war.  Er  reicht  bis  zur  Warschauer 
zeit,  in  der  Hoffmann  den  werken  der  romantiker  näher  trat.  Aber  auch  bis  dahin 
gieng  Jean  Pauls  einwirkung  nicht  bis  zu  Stoffentlehnungen,  während  Hoffmanns 
abhängigkeit  von  TVackenroder,  Tieck  und  Novalis  in  form  und  Inhalt  seiner  Schrif- 
ten durch  Ellinger  mit  Sicherheit  nachgewiesen  ist.  Bei  diesen  quelleuuntersuchungen 
zeigt  sich  Ellinger  mit  wenigen  ausnahmen  (z.  b.  s.  148  fg.  Kater  Murr)  glückHch 
und  massvoU.  Besonders  gelungen  scheinen  mir  die  bemerkungen  über  die  geistes- 
verwandtschaft  Callots  mit  Hoffmann  (s.  75).  —  Gern  wüsste  man  näheres  darüber, 
wie  Rochlitz  (s.  79)  auf  das  seltsame  thema  kam,  das  zu  der  figur  des  Kreisler 
führte. 

Diese  reichlichen  quellennachweise  rücken  Hoffmanns  Stellung  in  der  litteratur- 
geschichte  in  klareres  licht,  während  man  bisher  ihn  bald  neben  Jean  Paul,  Müllner, 
Werner,  ja  neben  Uhland  und  E.  K.  F.  Schulz  gestellt  hat.  Zugleich  klären  uns 
diese  quellenforschungen  über  Hoffmanns  schaffensweise  auf,  bei  der  Ellinger  mit  recht 
auf  Otto  Ludwigs  Selbstbekenntnisse  (s.  174.  187)  hinweist.  Wir  sehen  jetzt  deut- 
lich, wie  Hoffmann  Überlieferungen  mit  phantasiegebilden  und  eigenen  erlebnissen 
zu  einem  ganzen  künstlerisch  verband,  das  er  dann  durch  das  medium  seiner  unge- 
wöhnlich scharfen  beobachtuugsgabe  uns  menschlich  nahe  bringt.  So  erhalten  selbst 
die  tollsten  ausgeburten  seiner  phantasie  ein   gewisses  reales  leben. 

Auch  Ellingers  urteilen  über  die  einzelnen  werke  des  dichters  wird  man  meist 
beipflichten.  Das  fräulein  von  Scudery  (s.  139  fgg.)  stellt  er  aber  wol  etwas  zu  hoch, 
und  das  „Spielerglück"  rechne  ich  nicht  zu  den  „wolgelungenen"  erzählungen  (s.  142), 
denn  gerade  die  einkleidung,  die  EUinger  lobt,  halte  ich  für  einen  misgriff,  weil 
dui'ch  die  gleichförmigkeit  der  di'ei  ineinander  geschobenen  spielergeschichten  keine 
zur  vollen  geltung  kommt. 

Ausser  den  fruchten  einer  gründlichen  durcharbeitung  des  zugänglichen  mate- 
rials  für  Hoffmanus  juristische  tätigkeit,  enthält  Ellingers  biographie  nun  endlich  auch 
die  erste  eingehendere  wüi'digung  des  musikers  Hoffmann. 

Ellinger  hat  die  zahlreichen  kompositionen ,  die  noch  vorhanden  sind,  einer 
genauen  durchsieht  unterworfen,  sie  geschmackvoll  analysiert  und  ihnen  einen  be- 
stimmten platz  in  der  geschichte  der  musik  angewiesen.  Die  mehrfach  aufgetauchte 
meinung,  dass  Hoffmann  ein  vorlauter  Wagners  gewesen  sei  (s.  193),  wird  durch 
diese  erörterungen  auf  das  richtige  mass  beschränkt. 

Wie  wichtig  Hoffmanns  mixsik  -  ästhetische  Wirksamkeit  auch  für  seine  litte- 
rai'ischen  schritten   ist,    beweist  der  von   EUinger  entdeckte  aufsatz  über   „Alte  und 


282  BUEDFELDT 

neue  kircheumusik".  Wie  die  bekannte  besprechung  der  Beethovensclien  C-dur- 
niesse  kehrt  nümlicli  auch  dieser  aufsatz  teils  wörtlich,  teils  in  freierer  bonutzung  in 
den  Serapions-brüdern  (s.  74.  201  —  13)  wider.  Ebenso  hat  EUinger  die  musikrecen- 
sionen  zum  ersten  male  untersucht,  deren  wert  für  Hoffmanns  Persönlichkeit  und 
seine  allgemeinen  kunstanschauungen  äusserst  bedeutend  ist;  einige  davon  hat  er  als 
Hoffmanns  eigentum  erst  nachgewiesen. 

Der  schluss  des  buches  sammelt  einige  urteile  über  Hoffmann,  unter  denen 
das  von  Carlyle  (s.  181)  fehlt;  dann  wird  Hoffmanns  einwirkung  auf  die  poesie  und 
musik  der  ihm  folgenden  zeit  kurz  erörtert.  Mit  recht  ist  Willibald  Alexis  (s.  185) 
trotz  seines  eigenen  Widerspruches  zu  Hoffmanns  Schülern  gezählt;  unter  Hoffmanns 
direkten  nachfolgern  scheint  mir  Weisflog  (s.  36.  183)  doch  unterschätzt. 

EUinger  ist  mit  seiner  biographie  dem  weitverzweigten  schaffen  Hoffmanns 
entschieden  gerecht  geworden;  die  wärme,  mit  der  er  Hoffmann  bewundert,  artet 
nirgends  in  blinde  lobpreisung  aus;  nur  in  einem  punkte  ist  uns  meines  erachtens 
EUinger  erhebliches  schuldig  geblieben:  die  wenigen  aUgemeinen  betrachtungen  über 
Hoffmanns  stil  sind  nicht  genügend.  Ist  er  originell?  Hat  er  Wandlungen  erfahren? 
Mir  fällt  da  die  s.  41  mitgeteilte  anekdote  auf.  Bei  Fouque,  der  dieselbe  anekdote 
erzählt,  lauten  Hoffmanns  worte  anders,  weniger  charakteristisch,  während  sie  bei 
EUinger  durchaus  das  gepräge  tragen,  das  später  den  schriftsteiler  auszeichnete.  Die 
anekdote  fällt  noch  vor  die  schriftstellerische  tätigkeit  Hoffmanns  und  ist  deshalb  mei- 
ner ansieht  nach  in  dieser  hinsieht  doppelt  bedeutend, 

EUingers  buch  ist  trotz  dieser  geringen  ausstellungeu  mehr,  als  ein  „erster 
grösserer  versuch"  (s.  VHI),  auch  die  darstellungsweise  ist  mit  einigen  kleinen  aus- 
nahmen lobenswert. 

LEIPZIG.  CABL   HEINE. 


Eichcudorffs  juge  nddichtungeu.     Von  Eduard  Höber.     Berlin,  C.Vogt.   1894. 
80  s.     1,80  m. 

Die  jugenddiclitungen  Eichendorffs,  denen  die  vorliegende  Untersuchung  gewid- 
met ist,  lassen,  wie  der  Verfasser  am  Schlüsse  seiner  arbeit  (s.  77- — 80)  im  einzelnen 
nachweist,  fast  schon  den  ganzen  Eicheudorff  erkennen.  Das  liat  der  Verfasser  von 
„Ahnung  und  gegonwart"  mit  dem  Messiasdichter  gemeinsam:  beide  stehn  bald  nach 
ihrem  ersten  hervortreten  so  zu  sagen  als  „fertig"  und  in  sich  abgeschlossen  da;  eine 
tiefgehende  innere  entwicklung  und  umwandelung  ihres  wesens  haben  beide  später 
nicht  mehr  durchgemacht.  Die  thcmata  ihrer  Jugend  bleiben  während  ihres  ganzen 
folgenden  lebens  die  vorhersehenden  und  werden  nur  in  einigen  punkten  modificiert 
und  variiert. 

Daraus  ergibt  sich  aber  die  Schwierigkeit,  ihre  poetische  Wirksamkeit  in  scharf 
geschiedene  perioden  zu  sondern.  Höber  gesteht  dies  für  Eicheudorff  selber  zu  (Vor- 
wort s.  3).  Den  schluss  für  dessen  Jugendzeit  setzt  er  in  die  jähre  1815  und  16,  die 
zeit  der  rückkehr  Eichendorffs  aus  den  befreiungskriegen  und  seines  eintritts  in  den 
preussischen  Staatsdienst  (dec.  1816).  Man  kann  ihm  darin  zustimmen,  wiewol  man 
auch  z.  b.  schon  das  jähr  1811,  in  welchem  der  roinan  „Ahnung  und  gegenwart" 
beendigt  wurde,  als  einen  solchen  grenzpunkt  ansehen  könnte. 

Die  ältesten  erhaltenen  pootisclien  vorsuche  Eichendorffs  reichen  bis  in  seine 
Breslauer  gymnasiastonzeit  (1801 — 4)  zurück.  Den  so  begrenzten  Zeitraum  von  12 
bis   15  Jahren  hat  Höber   eingehend   studiert    und    geschickt    behandelt.     Viel    neues 


ÜBER   HÖBER,    EICHENDOKFFS    JÜGENDDICHTÜNGEN  283 

freilich  wird  man  kaum  erwarten;  Minors  gründlicher  aufsatz  „Zum  Jubiläum  Eichen- 
dorffs"  Ztschr.  XXI,  214  —  232  konnte  nur  im  einzelnen  ergänzt  und  weiter  ausge- 
baut werden. 

Höber  zerlegt  seinen  stoff  in  zwei  teile:  der  erste  (s.  7  —  47)  handelt  von  den 
Jugendgedichten  (im  engeren  sinne!),  der  zweite  (s.  49  —  75)  von  dem  romane  „Ähnung 
und  gegenwart".  Im  ersten  teile  scheint  mir  der  Schwerpunkt  der  arbeit  zu  liegen, 
wie  denn  ja  auch  Eichendorffs  rühm  und  bedeutung  hauptsächlich  auf  seiner  lyrik 
beruht.  Nach  einer  kui'zen  angäbe  der  ersten  drucke  der  Jugendgedichte  werden 
diese  in  drei  „perioden"  geschieden,  welche  durch  die  jähre  1807,  1811  und  1815 
begrenzt  sind.  Die  poesie  der  schul-  und  Studienjahre  (s.  9  —  19)  bietet  nicht 
viel  hervorragendes,  enthält  aber  schon  fruchtbare  keime  für  die  spätere  entwicklung 
natur,  religion  und  der  widerstreit  von  dichtung  und  leben  bilden  schon  hier  die 
hauptthemata.  In  der  zweiten  periode  1808  bis  1811  (s.  19—39)  haben  der  aufent- 
halt  in  Heidelberg  (Des  knaben  wunderhoru !) ,  die  liebe  und  die  Zeitverhältnisse  Eichen- 
dorff  auf  die  höhe  seines  lyrischen  Schaffens  emporgehoben.  Einige  religiöse  und 
stimmungsUeder  eilnnern  freilich  noch  ganz  an  die  vorige  periode  und  wären  darum 
vielleicht  besser  gleich  zu  'dieser  gezogen  worden  (vgl.  s.  22).  Die  hauptmasse  der 
gedichte  dieser  zeit  ordnet  Höber,  im  anschluss  an  eine  offenbar  zufällig  getane 
äusserung  des  dichters,  nach  folgenden  gesichtspunkten  (s.  24  fgg.):  Sehnsucht,  früh- 
ling, liebe,  heimat,  Goethe.  Eine  wunderliche  Zusammenstellung!  Höber  hätte  sicher- 
lich besser  getan,  wenn  er  die  auordnung  der  zweiten  Leipziger  ausgäbe  von  1864 
befolgt  hätte;  sie  entspricht  doch  wol  Eichendorffs  eigenen  ansichten  und  absiebten, 
vgl.  Dietze  in  seiner  ausgäbe  Eichendorffs  bd.  1,  405.  Der  abschnitt  „Goethe"  nimmt 
sich  neben  den  anderen  doch  gar  eigentümlich  aus;  man  könnte  danach  vermuten, 
dass  Goethe  in  einer  anzahl  von  liedern  gefeiert  worden  wäre.  Im  gegenteil,  das  ein- 
zige, welches  Höber  anführt  („Ach  von  dem  weichen  pfühle",  vgl.  s.  28)  ist  nur  eine 
parodie  des  Goetheschen  gedichtes:  „  Nachtgesang ".  Wol  hat  der  meister  auf  den 
jungen  lyriker  mächtig  gewirkt;  aber  das  gehört  doch  mehr  zur  allgemeinen  Cha- 
rakteristik. Ausserdem  könnte  man  gegen  jene  gruppierung  einwenden,  dass  bei 
Eichendorff  —  wie  auch  Höber  selber  zugeben  muss  (s.  25)  —  liebe,  natur  und  früh- 
ling sich  häufig  gar  nicht  von  einander  trennen  lassen.  Hieran  reiht  Höber  sodann 
noch  zwei  abteilungen :  Romanzen  und  Zeitgedichte  (s.  28  —  35).  In  dem  sehr  lesens- 
werten abschnitte  über  die  romanzen,  von  denen  er  manche  lieber  lieder  nennen 
möchte  (s.  28),  weist  er  für  mehrere  nicht  ohne  glück,  aber  auch  nicht  ohne  Vor- 
gänger (vgl.  Dietze  a.  a.  o.  s.  404)  die  „quellen"  nach;  auch  für  „Das  zerbrochene 
ringlein",  Eichendorffs  bekannteste  und  berühmteste  Schöpfung,  findet  er  wol  mit  recht 
mindestens  eine  sehr  interessante  parallele,  wenn  nicht  die  anregung  in  zwei  Strophen 
aus  Des  knaben  wunderhorn  (teil  I.  Heidelberg  1806,  s.  103:  „Des  müUers  abschied"). 
Unter  den  „ Zeitgedichten "  hätte  bei  der  besprechung  von  „Der  Jäger  abschied" 
(s.  34  fg.)  die  durch  Lyon  in  der  Zeitschr.  f.  d.  d .  u.  IV,  76  fgg.  und  Koch  in  dersel- 
ben Zeitschrift  VI,  348  fg.  vertretene  auffassung  erwähnt  werden  können,  obwol  ihr 
durch  den  umstand,  dass  das  lied  bereits  1810  gedichtet  ist,  der  boden  entzogen 
wird.  In  der  dritten  periode  (1812  bis  1815)  stehen  die  zeitgedichte  oben  an. 
"Wenn  jedoch  Höber  die  liebeslieder  aus  diesen  jähren  als  „nichtssagend  rmd  flach - 
bezeichnet  und  meint,  dass  sie  gegen  die  früheren  entschieden  zurückständen,  so  ist 
das  doch  wol  ein  zu  hartes  urteil  gegenüber  so  tief  empfundenen  liedern  wie  „Neue 
liebe"  (Herz,  mein  herz,  warum  so  fröhlich),  „An  Luise"  (Ich  wolt'  in  liedern  oft 
dich  preisen)   und  „Glück"    (Wie  jauclizt  meine   seele).  —     Am  Schlüsse  einer  jeden 


284  SCHMEDES 

dieser  drei  „perioden"  ist  ein  abschnitt  über  „spräche  und  metrik"  angehängt,  der 
aber  wichtige  fragen  der  eigentlichen  metrik  (z.  b.  den  gebrauch  zweisilbiger  werte  in 
der  Senkung)  gar  nicht  berührt. 

Die  Charakteristik  und  ästhetische  Würdigung,  welche  Höber  von  deüi  romane 
„Ahnung  und  gegenwart"  gibt,  muss  als  recht  gelungen  bezeichnet  werden.  Nur 
hätte  der  Verfasser  meines  erachtens  etwas  näher  auf  die  technik  und  Ökonomie  des- 
selben eingehen  können.  Sonst  findet  er  den  hauptmangel  des  romans  mit  recht  in 
dem  fehlen  der  plastik  bei  darstellung  der  personen  und  Vorgänge  (s.  61).  Die  zusam- 
menhänge mit  „Wilhelm  Meister"  und  den  romanen  der  romantiker  werden  eingehend 
besprochen.  Dabei  scheint  dem  Verfasser  das  buch  von  Donner  „Der  eiufluss  Wil- 
helm Meisters  auf  den  roman  der  romantiker",  Berlin  1893  (211  selten!),  angezeigt 
von  Minor  DLZ  XV,  sp.  743  —  745 ,  entgangen  zu  sein.  Eine  direkte  nachahmung  des 
Goethischen  meisterwerks  nimt  Höber  nicht  an;  Eichendorff  habe  seinen  geist  und 
seine  natur  auch  in  dem  ausgeprägt,  was  er  von  dort  herübergenommen  (s.  70).  — 
Im  letzten  abschnitte  werden  „biographische  grundlagen  zu  dem  romane"  aufgedeckt 
in  bezug  auf  das  lokal  und  auf  die  Charaktere.  Hier  wäre  es  vielleicht  interessanter 
gewesen,  anstatt  nach  einem  „modell"  für  den  minister  u.  a.  zu  suchen,  die  frage 
zu  erörtern,  ob  Eichendorff  bei  der  Zeichnung  des  cUchters  Faber  eine  bestirnte  per- 
sönlichkeit im  äuge  gehabt  habe. 

Im  ganzen  wird  man  das  buch  Höbers  nicht  ohne  genuss  und  belehruug  lesen. 
Sein  Stil  ist  glatt  und  flüssig,  wie  die  verse  seines  dichters  Eichendorff  selbst;  auffal- 
lend ist  jedoch  der  ausdruck:  „verfassungszeit  des  gedichtes"  s.  43;  vgl.  s.  49  und  75. 
Auch  von  drackfehlem  ist  das  buch  fast  völlig  frei.  Ich  habe  nur  notiert:  „den" 
statt  „dem"  (in  einem  citat!)  (s.  43),  „zweite"  statt  „dritte"  (s.  31  z.  6  v.  u.)  und 
zweimal  (s.  7  anm.  1  und  s.  71  anm.  1)  „Herrmann"  statt  „Hermann". 

KIEL.  AUGUST   BREDFELDT. 


Die  vaganten-strophe  der  mittellateinischen  dichtung  und  das  Verhält- 
nis derselben  zu  mhd.  strophenformen.  Ein  beitrag  zur  Carmina- Burana - 
frage.  Yen  dr.  J.  Schreiber.  Strassburg  i.  E.,  Schlesier.  1894.  2  bll.  und 
204  s.     5  m. 

Das  erste  kapitel  der  unter  gleichem  titel  teilweise  schon  als  Strassburger  dis- 
sertation  erschienenen  schrift  handelt  vom  bau  der  sogenannten  Yagantenstrophe.  Der 
Verfasser  sieht  in  ihr  —  wie  mir  scheint,  mit  recht  —  eine  selbständige,  in  der  latei- 
nischen rhythmendichtung  des  12.  Jahrhunderts  auf  französischem  Sprachgebiet  ent- 
standene form.  Ob  für  die  13  silbige  vagantenzeile  ein  vorbild  in  der  quantitierenden 
lateinischen  poesie  gesucht  werden  darf,  will  ich  dahingestellt  sein  lassen:  sicher  ist 
aber  dies  vorbild  nicht  der  hexameter  gewesen,  wie  Sckreiber  zu  glauben  geneigt  ist. 
Dem,  was  über  die  verschiedene  Verwendung  von  auftakt,  zusatzsilben  im  versinueru, 
taktwechsel,  caesur-  und  versschluss,  reim  und  caesurreim  in  der  vagantenzeile  bei 
französischen,  englischen  und  deutschen  dichtem  gesagt  wird,  kann  ich  im  allgemei- 
nen zustimmen.  In  den  folgenden  kapiteln  untersucht  Schreiber  die  gedichte  der 
Benedictbeui-er  handschrift,  deren  form  die  vagantenstrophe  in  ihrer  ursprünglichen 
oder  in  modificierter  gestalt  ist,  auf  ihre  technik,  um  auf  die  ergebnisse  dieser  Unter- 
suchung gestützt  zeit  und  ort  ihrer  entstehung  nachzuweisen.  Nun  ist  nicht  zu 
leugnen,  dass  neben  inhalt  und  ausdnick,  die  übrigens  auch  Schreiber  in  der  regel 
gebührend  in  betracht  zieht,    besonderheiten  der  form  für  die  bestimmung  des  dich- 


ÜBER    SCHREIBER,    VAGANTENSTROPHE  285 

ters  oder  mindestens  seiner  zeit  von  bedeutung  sind.  Es  ist  nur  schlinim,  dass  bei 
der  entschieden  oft  recht  mangelhaften  Überlieferang  der  gedichte  in  der  Benedict- 
beurer  handschrift  für  derartige  Untersuchungen  hier  der  sichere  boden  fehlt.  Der 
Verfasser  ist  sich  dieser  Schwierigkeit  bewusst  und  hat  in  mehreren  fällen  versucht, 
sich  erst  einen  kritischen  text  als  grundlage  herzustellen.  Dass  ihm  dies  gelungen 
sei,  kann  ich  nicht  zugeben.  Ein  lesbarer  text,  wie  Schreiber  ihn  in  solchen  fällen 
meist  wol  erhält,  ist  eben  noch  lange  kein  kritischer.  Zudem  leiden  die  teile  des 
buches,  die  sich  mit  textkritik  befassen,  an  einer  gewissen  Unübersichtlichkeit.  Der 
Verfasser  hätte  besser  getan,  wenn  er  einfach  seine  recension  abgedruckt  und  mit 
einem  ganz  knappen  kritischen  apparat  begleitet  hätte.  Jetzt  ist  nicht  allemal  klar 
zu  sehen,  wie  er  denn  eigentlich  lesen  will.  So  ist  (s.  26)  zu  CB  XIX,  17,  5  nichts 
bemerkt;  es  scheint  aber,  dass  Schreiber  die  lesart  Schmellers  beibehalten  will:  dann 
aber  hat  er  (s.  27)  für  dies  gedieht  einen  taktwechsel  zu  wenig  angegeben. 

Für  die  meisten  gedichte,  die  Schreiber  in  den  kreis  seiner  rmtersuchung 
gezogen  hat,  nimmt  er  französischen  Ursprung  an.  Einige  weist  er,  zum  teil  in 
Übereinstimmung  mit  Giesebrecht,  dem  Walther  von  Chätillon  zu,  nicht  ohne  Wahr- 
scheinlichkeit. Die  annähme  dagegen,  dass  dieser  "Walther  und  der  Archipoeta  iden- 
tisch seien,  ist  entschieden  abzuweisen:  was  an  giünden  dafür  vorgebracht  wird,  ist 
nicht  stichhaltig.  Nur  ein  kleiner  teil  der  gedichte,  und  entschieden  nicht  der  bessere, 
ist  nach  des  Verfassers  ansieht  mit  bestimmtheit  auf  deutsche  vaganten  zurückzufüh- 
ren. In  nicht  wenigen  fällen  freilich  kommt  er  über  etwas  zaghaft  geäusserte  Ver- 
mutungen nicht  hinaus;  zuweilen  sieht  er  sich  sogar  in  einem  dilemma,  aus  dem  er 
den  ausweg  nicht  findet  (vgl.  z.  b.  s.  68  zu  CB  50).  Wie  weit  im  einzelnen  die  auf- 
stellungen  des  Verfassers  berechtigt  sind,  kann  mit  rücksicht  auf  den  beschränkten 
räum  hier  nicht  dargelegt  werden. 

Nur  über  seine  auffassuug  der  beziehungen  zwischen  den  lateinischen  gedich- 
teu  und  den  ihnen  beigegebenen  deutschen  Strophen  ist  noch  ein  wort  zu  sagen:  soll 
ja  doch  die  schrift  vor  allem  ein  beitrag  zur-  lösung  der  frage  sein,  ob  wir-  in  diesen 
Strophen  nachbildungen  der  lateinischen  oder  umgekehrt  ihre  Vorbilder  zu  sehen 
haben!  Der  Verfasser  verficht  die  Originalität  der  lateinischen  gedichte.  Ob  seine 
ausfühi'ungen  im  einzelnen  geeignet  sind,  irgend  jemand,  der  anderer  ansieht  ist,  zu 
bekehren,  scheint  mir  zweifelhaft.  Höchstens  könnte  man  ihm  hier  und  da  zugeben, 
dass  die  lateinischen  Strophen  nicht  gut  unmittelbar  nach  dem  vorbilde  der  ihnen  bei- 
gegebenen einen  deutschen  entstanden  sein  können ,  womit  denn  aber  doch  das  gegen- 
teil  noch  nicht  ohne  weiteres  erwiesen  ist.  Mii'  scheint,  die  frage  ist  überhaupt 
nicht  so  einfach  zu  fassen,  wie  Schreiber  es  tut.  Es  bleibt  eine  erklärung  möglich, 
die  das  Verhältnis  zwischen  lateinischem  gedieht  und  deutscher  Strophe  überhaupt 
nicht  oder  doch  jedesfalls  für  einen  teil  der  fälle  nicht  als  das  von  Vorbild  und  nach- 
ahmung  ansieht.  —  Unangenehm  sind  mir  in  dem  buche  zahlreiche  dnickfehler  auf- 
gefallen. 

WANDSBECK,    28.  FEBR.    1895.  J.    SCHMEDES. 


Erklärung. 

Kossinna  macht  mir  (Beitr.  20,  259)  den  voi-wurf,  dass  ich  den  Verfasser 
eines  von  ihm  angegriffenen  artikels,  der  unlängst  in  dieser  Zeitschrift  veröffentlicht 
wurde,  nicht  auf  seine  „Unterlassungssünden"  hingewiesen,  d.  h.  auf  die  von  ihm 
nicht  berticksichtigte ,    denselben   gegenständ   betreffende   neueste  litteratur    ihn  nicht 


286  GERING,    ERKLÄRUNG 

aufmerksam  gemacht  habe.  Ich  muss  diesen  vorwarf  als  durchaus  unberechtigt  zu- 
rückweiseu.  Wenn  K.  meint,  dass  mir  die  gesammte  fachlitteratur  unmittelbar  nach 
ihrem  erscheinen  zugänglich  sei,  so  ist  das  eine  anschauung,  die  seine  eigene  gün- 
stige läge,  jederzeit  aus  den  reichen  schätzen  der  Berliner  kgl.  bibliothek  schöpfen  zu 
können,  auch  bei  anderen  minder  glücklichen  sterblichen  voraussetzt,  und  wenn  er 
mir  zumutet,  dass  ich  die  ganze  ungeheure  masse,  die  jährlich  produciert  wird, 
sofort  lesen  und  verdauen  müsse,  so  ist  das  einfach,  eine  lächerlichkeit.  Weiter 
wundert  sich  K.  darüber,  dass  dem  betr.  artikel  die  spalten  meines  organs  geöffnet 
seien,  obwol  ich  gleichzeitig  in  einer  fussnote  erklärt  habe,  dass  die  ausführungen 
des  Verfassers  mich  nicht  überzeugt  hätten;  er  verschweigt  aber,  dass  die  gründe, 
weshalb  die  aufnähme  erfolgte,  in  derselben  fussnote  ausdrücklich  angegeben  sind. 
Im  übrigen  glaube  ich,  dass  jeder  herausgeber  dagegen  protestieren  wird,  dass  man 
ihn  für  alles,  was  er  in  seiner  Zeitschrift  veröffentlicht,  für  jede  hypothese,  die  seine 
mitarbeitor  aussprechen,  verantwortlich  macht;  die  Verantwortung  hat  zunächst  unbe- 
dingt der  autor  zu  tragen.  Niemandem  z.  b.  ist  es  eingefallen,  die  zahllosen  Schnitzer, 
die  in  Haupts  ztschr.  oder  in  Pfeiffers  Germania  auf  nordischem  gebiete  begangen 
wurden  (man  erinnere  sich  u.  a.  der  dilettantischen  runendeutungen  Dietrichs  oder 
der  durch  Sachkenntnis  durchaus  ungetrübten  erörterungen  Jordans  über  den  Oddiiinar- 
gratr),  den  herausgebern ,  die  nicht  skandinavisten  vom  fach  waren,  zur  last  zu  legen, 
und  ebensowenig  hat  —  um  ein  beispiel  aus  der  aUerjüngsten  Vergangenheit  zu  wäh- 
len —  Eud.  Much  den  redakteur  der  Beiträge  darüber  zur  rede  zu  stellen  sich 
erdreistet,  warum  ein  aufsatz,  den  jener  als  „schuft"  bezeichnet,  der  „hinweg- 
geräumt werden  müsse",  in  diesem  organ  zur  Veröffentlichung  zugelassen  sei. 

KIEL,    JULI   1895.  HUGO   GERING. 


NEUE  ERSCHEINUNGEN. 


Albertus,  Laurentius,  Deutsche  grammatik,  [1573]  herausg.  von  Carl  MüUer- 

Fraureuth.     ötrassburg,  Trübner.  1895.     XXXIV  (II),  159  s.    3  m.     (A.  u.  d.  t. 

Ältere  deutsche  grammatiken  in  neudrucken,  herausg.  von  John  Meier.  III.) 
Berlit,  Georg,  Rudolf  Hildebrand,  ein  erinnerungsbild.     Leipzig,  Teubner.  1895. 

(Sonderabdruck  aus   den  Neuen  Jahrbüchern  für  klass.  philol.   und  pädag.)     41  s. 

1  m. 
Bolte,   J. ,    und  Seelmaiui,  W.,    Niederdeutsche    Schauspiele    älterer    zeit. 

(Dnicke  des  Vereins  für  nd.  Sprachforschung  IV.)     Norden  und  Leipzig,  D.  Soltau. 

1895.     48  und  164  s.     3  m. 
Bruckiier,  Willi.,   Die   spräche   der  Langobarden.     Strassburg,  Trübner.    1895. 

XVI,  338  s.     (QF.  75.)     8  m. 
Coek,   Albert  S.,    Exercises    in   Old  English.     Boston,  Ginn  &  co.    1895".     IV, 

68  s.     1,60  m. 

Übungsstücke  zum  übersetzen  aus  dem  englischen  ins  angelsächsische. 
Dimtzer,  H. ,    Goethe,    Karl   August  und  Ottokar  Lorenz.     Dresden,  V.  W. 

Esche.  1895.     126  s,        m. 

Gegen  Lorenz,  Goethes  politische  lehrjahre  (Berlin,  1893). 
Elster,  E.,  Die  aufgaben  der  litteraturgeschichte.     Akademische  antrittsrede. 

Halle,  Niemeyer.  1894.     II  und  22  s.     0,80  m. 


NEUE    ERSCHEINUNGEN  287 

Fabritius,  Hans,  Das  büchlein  gleichstimmender  würter  aber  ungleichs 
Verstandes  [1531]  hsg.  von  John  Meier.  Strassburg,  Trübner.  1895.  XLII 
(IV),  44  s.  2  m.  (A.  u.  d.  t. :  Ältere  deutsche  grammatiken  in  neudrucken,  hsg. 
von  John  Meier.  I.) 

Härtung:,  Oskar,  Die  deutschen  altertümer  des  Nibelungenliedes  und  der 
Kudrun.     Cöthen,  0.  Schulze.  1894.     VEI,  551  s. 

Hirt,  Herrn.,  Der  indogermanische  akzent,  ein  handbuch.  Strassburg,  Trüb- 
ner. 1895.     XXIII,  356  s.     9  m. 

Hübner,  Rudolf,  Jacob  Grimm  und  das  deutsche  recht.  Mit  einem  anhange: 
ungedruckte  briefc  an  J.  Grimm.  Göttingen,  Dieterich.  1895.  YIII  und  187  s. 
4  m. 

Lichtenberger,  H.,  Histoire  de  la  langue  allemande.  Paris,  A.  Laisney.  1895. 
XIV  und  479  s.     7,50  frcs  =  6  m. 

Löher,  Franz  von.  Das  Kanarierbuch.  Geschichte  und  gesittung  der  Germa- 
nen auf  den  kanarischen  inseln.  Aus  dem  nachlasse  herausgegeben.  München, 
J.  Schweitzer.  1895.     (IV),  663  s.     8  m. 

Die  aufsätze,  die  der  Verfasser  vor  jähren  in  der  Augsburger  Allgem.  zeitung 
veröffentlichte ,  sind  hier  zu  einem  buche  erweitert.  Einer  Widerlegung  bedarf  die 
hypothese,  dass  die  Giiandschen  auf  den  kanarischen  inseln  reste  der  Vandalen 
gewesen  seien,  für  philologisch  gebildete  leser  nicht. 

Magnüssou,  Eirikr,  Odins  horse  Yggdrasill.  London,  Society  for  promoting 
Christian  knowledge,  1895.     64  s. 

Meringer,  Rud.,  und  Mayer,  Karl,  Versprechen  und  verlesen,  eine  psycho- 
logisch-linguistische Studie.     Stuttgart,  Göschen.  1895.    XIV,  204  s.     4,50  m. 

Reutscli,  Job.,  Lucianstudien.  Beilage  zum  gymn.-programm  Plauen  i.V.  1895. 
44  s.     4. 

I:  Lucian  und  Voltaire,  eine  vergleichende  Charakteristik  (s.  1  — 14).  — 
II:  das  totengespräch  in  der  litteratur  (s.  15  —  40;  s.  33  fgg.  werden  die  nach- 
wirkungen  Lucians  in  Deutschland  mit  ausgebreiteter  htteraturkenntnis  verfolgt).  — 
Drei  weitere  Studien  stellt  der  Verfasser  in  aussieht. 

Reuter,  F.,  Friedrich  Rückert  und  Joseph  Kopp.  Beilage  zum  programm  des 
gymnasiums  zu  Altena.    1895.     48  s. 

Diese  fortsetzung  der  programm  -  abhandlungen  von  1888  und  1893  enthält 
17  briefe  des  dichters  an  seinen  Erlanger  freund  Kopp  aus  den  jähren  1837  —  42, 
einige  briefe  an  Karl  von  Raumer  und  mehrere  gedichte  Rückerts. 

Ridderhoff,  Euno,  Sophie  von  La  Roche,  die  Schülerin  Richardsons  und 
Rousseaus.     Göttingen,  diss.  in  comm.  bei  Peppmüller.  1895.     109  s.     2  m. 

Sander,  Fredrik,  Das  Nibelungenlied,  Siegfried  der  schlangentöter  und 
Hagen  von  Tronje.  Eine  mythologische  und  historische  Untersuchung.  Stock- 
hohn, P.  A.  Norstedt  &  söner.  1895.     (II),  124  s.     3,60  m. 

Schläg'er,  G.,  Studien  über  das  tagelied.  Ein  beitrag  zur  litteraturgeschichte 
des  mittelalters.     Jena,  H.  Pohle.  1895.     IV  und  89  s.     1,80  m. 

Schmidt,  B.,  Der  vocalismus  der  Siegerländer  mundart.  HaUe,  Niemeyer. 
1894.     136  s.     3,60  m. 

Schöne,  A.,  Über  die  Alkestis  des  Euripides.  Rede  am  27.  januar  1895. 
Kiel,  Universitätsbuchhandlung.     27  s. 

S.  16.  25  —  27  über  Wielands  Singspiel  und  Goethes  schwank  „Götter,  bei- 
den und  Wieland  ",  mit  wertvollen  nachweisen  über  die  von  Goethe  benutzten  quellen. 


Zöb  NEUE  ERSCHEINUNGEN.   NACHRICHTEN 

Steiniueyer,  E.  und  8ievers,  E. ,  Die  althochdeutschen  glosseu.  3.  band: 
Sachlich  geordnete  glossare  bearb.  von  E.  Steinmeyer.  Berhn,  Weidmann.  1895. 
XII  und  723  s. 

Thoiuasius,  Chr.,  Von  nachahmung  der  Franzosen.  Nach  den  ausgaben  von 
1687  und  1701.  Herausgegeben  von  August  Sauer.  [Deutsche  litteraturdenk- 
male  des  18.  und  19.  Jahrhunderts,  nr.  51  (=  neue  folge  nr.  1).]  Stuttgart  1894. 
IX  und  50  s.     0,60  m. 

J'orkelssoii ,  Jon,  Islensk  sagnord  med  |)alegri  mynd  i  nütid  (verba  praete- 
ritopraesentia).     Eeykjavik  1895.     IV  luid  80  s. 

Tyrol,  Fritz,  Lessings  sprachliche  revision  seiner  Jugenddramen.  Ber- 
lin, C.  Vogt.  1893.     70  s.     1,80  m. 

Der  Verfasser  vergleicht  die  revidierte  ausgäbe  von  Lessings  jugenddi'amen 
im  1.  imd  2.  bände  der  Lustspiele  (1767),  sowie  die  „Miss  Sara  Sampson"  von 
1772  mit  der  ersten  ausgäbe  in  den  Schriften  (1754  —  56).  Die  vergleichung 
erstreckt  sich  auf  alle  einzellieiten  der  üexion,  des  Wortschatzes,  der  wortfiigung 
und  des  Stiles.  Die  ergebnisse  der  Untersuchungen  werden  am  Schlüsse  (s.  70) 
allgemein  charakterisiert  dui'ch  den  satz:  Lessings  princip  bei  der  revision  seiner 
Jugenddramen  war,  mit  möglichst  eleganter  form,  aber  unter  wahrang  des  ganzen 
Sprachreichtums,  eine  möglichst  grosse  knappheit  und  prägnanz  des  ausdrucks  zu 
verbinden. 

Vetter,  Ferd.,  Die  neuentdeckte  bibeldichtung  des  9.  Jahrhunderts.  Mit 
dem  text  und  der  Übersetzung  der  neuaufgefundenen  vatikanischen  bruchstücke. 
Basel,  B.  Schwabe.  1895.     47  s.     1,50  m. 

Warnatscli,  0.,  Beiträge  zur  germanischen  mythologie.  Gymn.-progr.  Beu- 
then  0.  S.  1895.     20  s.   4». 

1.  Logi  —  Loki  —  Prometheus.  2.  Odin  Widiür  —  Wunderer.  Anhang: 
Altnordische  sagen  auf  dem  gymnasium. 

Wimmer,  Ludv.  F.  A. ,  De  danske  runemindesmjerker.  Afbildningerne  udforte 
af  J.  Magnus  Petersen.  I.  De  historiske  runemindesmaerker.  Kobenhävn,  Gyl- 
deudal.    1895.     174  s.     gr.  4.     25  kr.  =  28,13  m. 


NACHRICHTEN. 

Am  13.  juni  verstarb  zu  Kiel  der  ordentl.  professor  der  deutschen  philologie, 
dr.  Oskar  Erdmann  (vgl.  oben  s.  228  fgg.);  am  6.  juli  zu  Berlin  der  ordentl.  pro- 
fessor der  englischen  spräche  und  litteratur,  dr.  Julius  Zupitza  (geb.  4.  Januar 
1844  zu  Kerpen),  der  sich  durch  seine  mittelhochdeutschen  arbeiten  auch  um  die 
deutsche  philologie  bleibende  Verdienste  erworben  hat  und  vor  jähren  auch  unserer 
Zeitschrift  einzelne  beitrage  lieferte;  am  9.  august  zu  Kopenhagen  der  runolog  George 
Stephens  (geb.  13.  december  1813  zu  Liverpool). 

Der  ausserordentl.  professor  dr.  Th.  Vetter  in  Züiich  wurde  zum  Ordinarius 
ernannt;  der  ordentl.  professor  dr.  J.  B  acht  cid  in  Zürich  an  die  Universität  Leipzig 
berufen. 

Habilitiert  haben  sich:  für  germanische  philologie  in  München  dr.  Fr.  Pan- 
zer, für  neuere  litte raturgeschichte  in  Jena  dr.  R.  Schlösser  und  in  Münster  dr. 
F.  Schwering. 

Halle  a.  S. ,  Buchdruckorei  des  Waisenhauses. 


DIE  GÖTTIN  NEETHUS  UND  DEE  GOTT  NIOEPE. 

Wie  bekannt,  beschreibt  Tacitus  in  seiner  Germania  kap.  40,  wie 
sieben  kleinere  stamme  gemeinsam  die  göttin  Nerthus  „Terram  matrem" 
auf  einer  insel  im  ocean  verehrten.  Die  sprachliche  identität  von  Ner^- 
thiis  und  Niqi'pr  liegt  offen  zu  tage,  und  dass  Niqrpr  eine  art  männ- 
licher entsprechung  zu  Nerthus  ist,  hat  man  schon  längst  einge- 
sehen. 

Schon  Munch  hat  in  seinem  buche  „Det  norske  folks  historie"  I. 
1.  s.  57  betont,  dass  man  eine  männliche  und  eine  weibliche  gottheit 
Nerthus  gehabt  habe:  „Wenn  es  an  einer  stelle  in  unsern  alten  denk- 
mälem  heisst,  dass  Njord  mit  seiner  Schwester  verheiratet  gewesen 
sei,  bevor  er  unter  die  Äsen  aufgenommen  worden,  so  wird  damit 
deutlich  genug  auf  eine  männliche  und  eine  weibliche  gottheit  Nerthus 
hingezielt,  gleichwie  man  einen  Frauja  und  eine  Frcmjo  hatte;  mit 
andern  werten,  der  männliche  Nerthus  (Njord)  und  Frauja  (Frey) 
sind  nur  verschiedene  namen  für  eine  männliche,  die  weibliche  Ner- 
thus (Jord)  und  Ftrmjo  nur  verschiedene  namen  für  eine  weibliche 
hauptgottheit,  nämlich  jene  für  Wodan  (Odin),  diese  für  „mutter  erde" 
(Frigg).^'-  Wie  Munch  hier  bemerkt,  ist  Freyr  eigentlich  mit  Niqrpr 
und  Freijja  eigentlich  mit  der  weiblichen  Nerthus  identisch;  seine  auf- 
fassung  ist  aber  im  übrigen  nicht  richtig. 

Die  nahe  Verwandtschaft  zwischen  Freyr -Freyia  und  Nerthus - 
Niqrpr^  ergibt  sich    unter  anderm  auch    daraus,    dass  der  upsalische 

1)  Die  identität  von  Ni(jr{)r  und  Nerthus  wird  auch  dadui'ch  bekräftigt,  dass 
Niqrpr  im  Codex  regius  der  Snorra  Edda  (I,  260,  anm.  12)  vagnaguä  genannt  wird. 
Diese  lesart  ist  nämhch  sicher  die  ursprüngliche,  und  es  muss  hierbei  beachtet  wer- 
den, dass  nach  der  beschreibung  des  Tacitus  der  wagen  im  Nerthus  -  kultus  eine 
grosse  rolle  spielt  (gleichwie  der  wagen  in  dem  upsalischen  Frey -kultus  von 
grosser  bedeutung  ist;  vgl.  die  Flateyjarbok).  Der  Codex  regius  hat  als  antwort  auf 
die  frage  „Hvernig  skal  kenna  Njqrä?"  folgendes:  Svä,  at  kalla  kann  vagna  guä 
eäa  vana  niä  [nach  Sn.  E.  I,  260  anm.  13  hat  dort  ursprünglich  vapna  nict  gestan- 
den] eäa  van.  Cod.  "W.  hat  vanga  guä,  Cod.  upsal.  dagegen  vana  guä,  was  vom 
herausgeber  der  1848'='"  ausgäbe  in  den  text  eingesetzt  worden  ist  und  von  ihm  als 
die  richtige  lesart  betrachtet  wh'd.     Das  ursprüngliche  vagna  guä  ist  im  Cod.  upsal. 

ZEITSCHRIFT   F.    DEUTSCHE   PHILOLOGIE.     BD.  XXVUI.  19 


I 


290  KOCK 

Frey-kultus,  wie  er  in  der  Flateyjarbök  I,  338  beschrieben  wird,  naiie 
mit  der  beschreibung  übereinstimmt,  die  Tacitas  (kap.  40)  vom  Ner- 
thus-kultus  gibt.  Darum  hat  auch  kaum  ein  mytholog  bezweifelt,  dass 
man  es  hier  mit  einunddemselben  kultus  zu  tun  hat. 

In  der  (svensk)  Historisk  tidskrift  1895  s.  157  fgg.  habe  ich  in 
einem  aufsatze  „Om  Ynglingar  säsom  namn  pä  en  svensk  konunga- 
ätt"  gelegenheit  gehabt,  diesen  gegenständ  nebst  ein  paar  damit  in  Ver- 
bindung stehenden  fragen  zu  behandeln.  Ich  gebe  zuerst  ein  kurzes 
referat  der  resultate,  zu  denen  ich  dort  gekommen  bin.  Freys  benen- 
nung  Iiigunarfreyr  ist  aus  einem  älteren  Ingima  ärfreyr  „Brnteherr 
der  Ingvinen"  entstanden,  wie  Gutna  aXping  „der  Goten  althing"  in 
der  geschichte  Gotlands  2  Gutnalping  (geschrieben  giiti/al  ping)  gewor- 
den ist.  Vgl.  mit  ärfreyr,  dass  Freyr  als  gott  des  Wachstums  und  der 
fruchtbarkeit  verehrt  wird,  und  besonders  seine  benennung  drgup  in 
der  Sn.  E.  I,  262.  Die  ältere  form  für  Tjigvifreyr  ist  wahrscheinlich 
Ingivinfrey?-  „der  Ingvinen -herr"  gewesen  (das  n  ist  in  unaccen- 
tuierter  silbe  vor  f  verloren  gegangen);  vgl.  ags.  Ingivine,  benennung 
für  Ost- Dänen  (vielleicht  auch  Yngvin  v.  1.  zu  Yngimi  in  der  Heims- 
kringla  ed.  Finnur  Jönsson  I,  33).  Nach  Tacitus  (kap.  2)  wohnten  die 
Ingsevones  (Ingvceones)  „proximi  oceano",  d.  h.  an  der  Ostsee  oder  an 
der  Nordsee  oder  an  diesen  beiden  meeren ,  und  es  waren  ingvseonische 
(ingvinische)  stamme,  welche  die  Nerthus  verehrten;  vgl.  Much,  Bei- 
träge XVII,  178  fgg.  Im  Beowulf  haben  wir  eine  andeutung,  dass 
die  Ingvinen  im  östlichen  Dänemark  (Schonen)  während  einer  etwas 
späteren  zeit  einen  hiermit  verwandten  kultus  gehabt  haben  (vgl.  Her- 
mann Möller,  Das  altengl.  epos  43,  Much  in  der  angef.  abh.  197;  Scyld 
Scefmg  =  Sldold  Skanunga  goit,  Flateyjarbök  III,  246).  Wie  die 
namen  Iiigunarfreyr,  Yngvifreyr  andeuten,  ist  der  upsalische  Frey- 
kultus aus  dem  lande  der  Ingvinen  nach  Schweden  gebracht  worden. 
Ynglingar  als  name  der  alten  Svea-könige  ist  darum  völlig  berechtigt 
und  beruht  nicht  auf  einem  missverständnisse  der  Isländer,  wie  Noreen 
(Uppsalastudier  223)  gemeint  hat.     Die  Svea-könige  betrachteten   sich 

durch  beeinflussuug  des  folgenden  vana  niä  eäa  van  zu  vaiia  guct  verderbt  wor- 
den. Der  Schreiber  des  Cod.  W.  hat  vagna  guä  fälschlich  als  vanga  guct  aufgefasst 
(vgl.  neuschw.  dial.  väng  bebautes  stück  land),  weil  er  NiQr|)r  als  eine  gottheit  des 
Wachstums  kannte.  Schon  Rask  betrachtete  vagna  guä  als  die  richtige  lesart.  Gegen 
diese  auffassung  haben  die  (s.  262)  für  Freyr  angeführten  epitheta  Vana -guä  ok 
Vana-niär  ok  Vanr  keine  beweiskraft,  und  dies  umsoweniger,  als  der  Schreiber  des 
Cod.  regius  ursprünglich  Vagnagvä  als  ein  epitheton Freys  geschrieben  hat;  vgl.  s.  262 
anm.  4.     Auch  im  Frey-kultus  spielte,  wie  erwähnt,   der  wagen  eine  wichtige  rolle. 


NBRTHUS   UND   NIOrI>R  291 

als  abkömmlinge  von  Yngvifreyr,  Yngvi  Freyr,  von  welchem  namen 
Ynglingar  abgeleitet  ist. 

Bei  diesem  Sachverhalt  fragt  man  sich  aber:  wie  kommt  es,  dass 
Tacitus  nur  von  einer  weiblichen  Nerthus  spricht,  während  die  isl. 
mvthologie  nur  einen  männlichen  NiQr})r  kennt?  Wie  kommt  es  fer- 
ner, dass  der  ingvaeonische  (ingvinische)  kultus  der  göttin  Nerthus 
in  späteren  zeiteu  wesentlich  als  kultus  des  go tt es  Frey r  auftritt,  wäh- 
rend die  göttin  Freyja  eine  mehr  untergeordnete  Stellung  einnimmt? 
Und  wie  kommt  es  schliesslich,  dass  Freyr  und  Freyja  jene  wenig 
charakteristischen  namen  „herr"  und  „herrin"  erhalten  haben? 

Ich  glaube,  dass  man  für  alle  diese  fragen  eine  gemeinschaft- 
liche antwort  finden  kann,  und  dass  es  die  Veränderung  der 
spräche  gewesen  ist,  die  hierbei  eine  wesentliche  rolle  gespielt  hat. 

Der  name  Nerthus  (*Nerpu;:)  ist,  wie  bekannt,  ein  weiblicher 
M- stamm.  Nun  lehrt  uns  die  gotische  grammatik,  dass  schon  zu  Wul- 
filas  zeit  diese  stamme  in  der  spräche  sehr  schwach  repräsentiert  waren. 
"Während  bei  Wulfila  eine  menge  männlicher  «^-stamme  sich  finden, 
gibt  es  nicht  mehr  als  vier  Wörter,  von  denen  man  mit  gewissheit 
weiss,  dass  es  weibliche  -z^- stamme  sind  {handus,  icaddjus,  asilus, 
JäfuiHs:  Braune,  Got.  gr. ^  §  105'').  In  den  nordischen  sprachen  sind 
die  weiblichen  «-stamme  gänzlich  ausgestorben,  und  schon  in  den 
ältesten  nordischen  handschriften  begegnen  uns  (neben  dem  neutralen 
fc)  nur  männliche  ?^- stamme;  diese  aber  sind  sehr  zahlreich:  fiqrpr, 
sldqldr,  hiqrtr,  kiqlr,  miqpr,  hiqrn  usw.  usw. 

Hiermit  steht  in  Zusammenhang,  dass  gewisse  alte  weibliche 
z-stämme  im  isländischen  in  männliche  2^-stämme  übergegangen  sind. 
Dies  ist  der  fall  mit  folgenden  (siehe  Tamm,  Fornnordiska  fem.  afledda 
pä  U  och  pä  ipa,  s.  25  fgg.):  got.  mahts,  ahd.  altsächs.  mäht,  ags. 
mealit  f.,  altschw.  vamncEt,  aber  isl.  mättr  m.  —  mnd.  dracht,  mhd. 
traht,  altschw.  drcst  f.,  aber  isl.  drättr  m.  —  ahd.  slaht,  altschw.  slcei 
f.,  aber  isl.  slättr  m. 

Da  diese  alten  weiblichen  «-stamme  im  nom.  sg.  das  lautgesetz- 
liche -r  beibehalten  hatten  (vgl.  got.  mahts  usw.),  während  die  meisten 
feminina  die  nom.-endung  -r  nicht  mehr  hatten,  und  da  die  flexion 
dieser  weiblichen  «'- stamme  in  mehreren  kasus  mit  der  flexion  der 
männl.  «-stamme  zusammenfiel,  so  nahmen  niättr  usw.  dasselbe  genus 
und  dieselbe  flexion  wie  diese  an. 

Gleichwie  diese  Wörter  auf  grund  ihrer  form  das  genus  (und  ihre 
deklination)  verändert  haben,   so   lassen  sich    auch  beispiele  anführen, 

19* 


292  KocK 

welche  zeigen,  dass  benennungen  lebender  oder  als  lebend  gedachter 
wesen  aus  demselben  gründe  aus  masculinis  feminina  geworden  sind. 

Im  lateinischen  wurde,  wie  bekannt,  Lima  auf  grund  der  form 
des  Wortes  (vgl.  nieiisa  usw.)  als  göttin  aufgefasst.  Nach  der  nordischen 
mythologie  hingegen  war  Mäni  der  b rüder  der  sonne,  natürlich  weil 
das  wort  eine  maskul.  form  (vgl.  hani  usw.)  hatte.  Nachdem  indessen 
im  älteren  neuschwed.  formen  auf  a  (mäna)  aus  den  obliquen  kasus 
teilweise  in  den  nom.  eingedrungen  waren,  findet  man  bei  dichtem  des 
18.  Jahrhunderts  mäna  als  femininum  aufgefasst.  Ja,  im  direkten  ge- 
gensatze  zu  dem  in  der  isl.  mythologie  vorliegenden  Verhältnis  nennt 
der  dichter  Stagnelius  den  mond  die  Schwester  der  sonne.  Hierbei 
hat  jedoch  auch  die  einwirkung  des  lateinischen  Lima,  franz.  la  lune 
eine  rolle  spielen  können.    Ygl.  Tegn6r,  Om  genus  i  svenskan  s.  139  fgg. 

Beda,  der  name  des  gelehrten  angelsächs.  theologen,  ist  in  Schwe- 
den als  taufname  für  frauen  recht  gebräuchlich  geworden,  weil  Beda, 
gleich  den  meisten  schwedischen  frauennamen,  auf  -a  ausgeht  [Anna, 
Hilda,  Greta  usw.);  vgl.  ISTorrman  in  Sv.  landsm.  YI,  nr.  7,  s.  14;  Teg- 
ner  a.  a.  o.  114. 

Man  hat  im  isl.  mehrere  beispiele  dafür,  dass  weibliche  ?'- stamme 
ihre  flexion  als  '«^'-stamme  beibehalten  haben,  aber  maskulina  geworden 
sind,  weil  sie  die  noni.-endung  -r  ungewöhnlich  lange  bewahrten, 
z.  b.  got.  (jabaürj>s,  altschw.  hyrpi.  :  isl.  burpr  m.;  ahd.  scurt,  altschw. 
skyrp  f.  :  isl.  sJairpr  m.;  altschw.  styld  f.  :  isl.  stuldr  m.  (Tamm,  a.  a.  o. 
s.  26.) 

Das  Verhältnis  ist  in  den  jüngeren  nordischen  sprachen  z.  t.  dasselbe 
gewesen  mit  dem  werte  vceUr  „a  „wight",  being;  esp.  of  supernatural 
beings.''  Dies  ist  im  altisl.  femininum  (vgl.  got.  umhts  f.).  Da  das 
Wort  aber  die  sonst  für  maskul.  charakteristische  nom.-endung  -r  hatte, 
wurde  es  sowol  im  neuisl.  (Erik  Jonsson,  Oldnordisk  ordbog)  als  auch 
im  neuschw.  maskulinum.  Darum  fasst  man  nunmehr  in  Schweden 
671  vätter  als  ein  männliches  wesen  auf.  Rietz  nimmt  vätter  oder 
Vetter  m.  „erdgeist,  waldgeist,  Irrwisch,  schutzgeist"  in  sein  Wörterbuch 
auf;  im  plur.  ^"o/rZ - ,  hol-,  skogs-vättar,  aber  auch  vättrar. 

Es  scheint  inir  in  sehr  guter  Übereinstimmung  mit  den  hier  an- 
geführten genusentwickelungen  und  besonders  mit  der  genusverände- 
rung  bei  dem  mythischen  wesen  en  vätter  zu  stehen,  wenn  ich  für 
Nerthiis  :  Niqrpr  :  Freyja  :  Freyr  folgende  entwickelung  annehme. 

Tacitus  spricht  nur  von  einer  göttin  Nerthus.  Da  nun  die  weib- 
lichen ^/- Stämme  schon  früh  äusserst  schwach  vertreten  oder  gar  im 
aussterben  waren,    man  aber  eine  menge  männlicher  z*- stamme  hatte, 


NKRTHÜS    UND    NI0R!>R  293 

SO  ist  es  möglich,  dass  dieser  umstand  es  yeranlasste,  dass  man  Ner- 
thiis  (*Nerpux)  nicht  nur  als  femininum,  sondern  auch  als  maskulinum 
d.  h.  nicht  nur  als  göttin,  sondern  auch  als  gott  auffasste,  so  dass  man 
schon  früh  neben  einer  weiblichen  Nerthiis  auch  einen  männlichen 
NertJms  bekam.  Aber  wenn  es  auch  vielleicht  zu  kühn  wäre  anzu- 
nehmen, dass  dieser  umstand  den  ersten  impuls  zur  bildung  eines 
männlichen  Nerthus  gegeben  habe,  so  ist  man  doch  wenigstens  voll 
berechtigt  anzunehmen,  dass  man,  ,da  die  volksphantasie  sich  eine  männ- 
liche entsprechung  zur  göttin  Nerthus  dachte,  d.  h.  Ihren  gatten  und 
bruder,  diese  männliche  entsprechung  denselben  namen  bekommen 
Hess,  den  die  göttin  hatte,  weil  ihr  uame  der  form  nach  männ- 
lich (maskulinum)  war. 

Nun  ist  es  indessen  selbstverständlich,  dass  der  glaube  an  einen 
männlichen  und  eine  weibliche  Nerthus  mit  vollkommen  identischen 
namen  es  erforderte,  dass  man  den  gott  Nerthus  und  die  göttin  Nerthus 
in  irgend  einer  weise  von  einander  unterschied.  Man  tat  dies  dadurch, 
dass  man  die  erstere  Nerthus  (Niqrl^r}  freyr  „Nerthus,  den  herrn", 
die  letztere  Nerthus  (Niqrpr)  freyja  „Nerthus,  die  herrin"  ^  nannte. 

Da  indessen  die  Wortklasse  (der  ?^- stamme),  zu  welcher  Nerthus 
gehörte,  ihre  feminina  immer  mehr  verlor,  während  die  männlichen 
Worte  weiter  fortlebten,  fasste  man  Nerthus  immer  deutlicher  wesent- 
lich als  ein  männliches  wesen  (einen  gott)  auf,  während  die  weibliche 
Nerthus  (die  göttin)  immer  mehr  in  den  hintergrund  trat.  Indess  spal- 
tete sich,  wie  dies  auch  sonst  bei  der  bildung  mj^thischer  persönlich- 
keiten oft  geschehen  ist,  Nerthus  (Niqrpr)  freijr  in  den  gott  Nerthus 
(Niqrpr)  und  den  gott  Freyr;  Nerthus  (Niqrjyr)  freyja  hingegen  in 
die  göttin  Nerthus  (Niqrpr)  und  die  göttin  Freyja.  Bei  dieser  Spal- 
tung war  aber  aus  dem  genannten  gründe  der  gott  zur  hauptperson 
geworden,    während   die  göttin   an  bedeutung  eingebüsst  hatte.     Und 

1)  Id  der  zeit,  wo  man  erst  anfing  freyr  und  freyja  dem  namen  als  epitheta 
beizulegen,  hatten  sie  gewiss  ältere  formen;  doch  interessiert  uns  dies  in  diesem 
zusammenhange  nicht.  —  Es  ist  möglich,  dass  man  in  poryrimr  porsteinssons  bei- 
namen  freysgoßi  eine  erinnerung  daran  hat,  dass  freyr  ursprünglich  ein  appellativum 
„herr"  ist.  Eyrbyggja  saga  kap.  11  erzählt  von  diesem  porgrimr:  pann  stein  gaf 
porsteinn  pör,  ok  kvaä  vera  skyldu  hofgoäa.,  ok  kallar  kann  Porgrim.  In  Überein- 
stimmung hiermit  stand  er  als  mann  dem  hof  auf  pörsnes  vor.  Henry  Petersen: 
0>n  Nordboernes  gudedyrkelse  og  gudetro  i  hedenold  s.  34  mit  anm.  1  will  porgrims 
namen  freysgoäi  daraus  erklären,  dass  sich  in  dem  tempel  ausser  tors  bild  vermut- 
lich auch  ein  bild  Freys  befunden  habe.  Da  indessen  von  einem  derartigen  bilde 
Freys  nirgends  die  rede  ist,  so  dürfte  man  freysgoäi  eher  als  „des  herrn  (d.  h.  hier 
Tors)  goäi'-'-  deuten;  vgl.  „priester  des  herrn". 


294  KOCK,    NERTHtrS   UND   NIORfR 

darum  tritt  also  in  der  nordischen  mjthologie  der  gott  Freyr  als  einer 
der  meist  verehrten  götter  in  den  Vordergrund,  während  die  göttin 
Freyja  einen  mehr  untergeordneten  platz  einnimmt. 

Nachdem  aber  Niqrjyr  (Nerthus)  freyr  sich  in.  dieser  weise  in 
Mqrpr  (Nerthus)  und  Freyr,  Niqrjyr  (Nerthus)  freyia  in  Niqrpr  (Ner- 
thus) und  Freyia  gespalten  hatte,  wurde  Niqrpr  allein  sowol  von 
der  männlichen  als  auch  von  der  weiblichen  gottheit  gebraucht,  ohne 
die  näher  bestimmenden  epitheta  freyr  und  freyia,  welche  ja  nun, 
nomina  propria  geworden,  andere  gottheiten  bezeichneten.  Da  aber, 
wie  erwähnt,  in  den  nordischen  sprachen  sämtliche  weiblichen 
?<- stamme  verloren  gegangen,  und  die  wie  Niqrpr  flektierten  Wörter 
fiqrpr,  skiqldr,  Jäqlr,  biqrn(R)  usw.  alle  männlich  waren,  so  schwand 
das  bewusstsein  davon,  dass  Niqrpr  femin.  sein  (d.  h.  von  einer  göt- 
tin gebraucht  werden)  könnte,  ganz  und  gar,  und  es  wurde  aus- 
schliesslich als  mask.  gebraucht,  oder  mit  andern  worten  Niqrpr 
ausschliesslich  als  gott  aufgefasst. 

Man  könnte  sich  vielleicht  versucht  fühlen ,  in  Skapi,  welche  nach 
der  isländischen  mythologie  Niqrjm  gattin  war,  eine  erinnerung  an  die 
eutwickelung  zu  sehen,  welcher  die  mythische  persönlichkeit  Nerthus- 
Niqrjjr  unterworfen  gewesen  ist.  Der  name  Skajn  (gen.  Skapa)  hat 
nämlich  eine  maskuline  form,  obwol  er  der  name  einer  göttin  ist. 
Man  fragt  darum:  ist  SkaJn  während  einer  etwas  früheren  periode  als 
mann  der  Niqrp)r  aufgefasst  worden,  welche  damals  noch  als  frau  auf- 
gefasst werden  konnte?  Als  stütze  hierfür  liesse  sich  anführen,  dass 
Skapi  nach  der  Suorra-Edda  I,  212  in  einer  sehr  mannhaften  weise 
auftritt  und  räche  für  ihren  vater  heischt  (En  Skaäi,  döttir  pjaza 
jqtims,  tök  hjälm  ok  hrynjit,  ok  oll  hervdpn,  ok  ferr  til  Äsgaräs,  at 
hefna  fqäur  slns) .  In  der  Yolsunga  saga  wird  von  einem  manne  mit 
dem  namen  Skapi  gesprochen,  was  aber  nach  Symons  (Beitr.  III,  292) 
und  Müllenhoif  (Zs.  f  d.  a.  XXIII,  11(3  fg.)  auf  einem  misverständnis 
beruhen  soll.  Vgl.  auch  Sievers,  Ber.  der  kgl.  sächs.  gesellsch.  d.  wis- 
sensch.  1894  s.  141. 

Es  ist  jedoch  nicht  wahrscheinlich,  dass  diese  frage  nach  der 
ursprünglichen  natur  der  Skapi  bejahend  beantwortet  werden  kann, 
aber  die  oben  aufgestellte  theorie  über  Neipiis  -  Niqrpr  und  Freyr - 
Freyja  ist  in  keiner  weise  davon  abhängig. 

LUXD,    IM    MAI    1895.  AXEL   KOCK. 


BECH,    ZU   DEM   TON   BÜWENBURO  295 

ZU  DEM  VON  BÜWENBUEC. 

Ungenügend  erklärt  finde  ich  unter  den  liedern  des  von  Buwen- 
burg  bei  v.  d.  Hagen  MS.  U,  262='  (lY,  2)  =  Bartseh,  Schweiz.  MS. 
XXni,  4  folgende  strophe: 

Ich  ivände  ein  tvip  vo7i  tper  haheyi  vimden, 

dö  ich  erst  ersach  die  minneclichen  : 

nü  swachet  st  an  eren  zallen  stunden, 

daz  ich  si  xe  hoye  teil  geltchen. 

ez,  ist  übel  umb  ein  schoene  bilde, 

daz  im  wont  kein  ivandel  bl, 

da$  si  machet  eren  vr%; 

doch  sivie  triuteloht  si  st, 

sost  ir  ivtplich  giiete  tvorden  ivilde. 

Es  fragt  sich  hier,  wie  man  die  ausdrücke  iper  und  hoye  aufzufassen 
habe.  "Weigand  setzt  in  seinem  D.  wörterb.^  I,  864  an  „die  iper,  die 
kleinblätterige  ulme",  und  denkt  an  das  „franz.  ipreau,  span.  ohne  de 
Ipre^'-\  ein  n'ip  von  rper  fasst  er  als  „ein  wolgewachsenes  weib";  ihm 
folgt  in  dieser  auffassung  Lexer  I,  1448.  Aber  dem  deutschen  mittel- 
alter  war  das  wort  in  diesem  sinne  noch  unbekannt.  Noch  mehr 
Schwierigkeiten  hat  hoye  gemacht.  Oberlin  I,  699  verstand  darunter 
foenum,  hoei,  heu,  ähnlich  v.  d.  Hagen  in  MS.  HI,  705,  wo  er  zu 
hoye  bemerkt:  „undeutlich  —  etwa  eppich  oder  heu",  ebenso  das  Mhd. 
wörtrb.  I,  752  s.  v.  Iper.  Bartsch  nimt  das  Avort  =  heie,  „eine  ramme 
womit  man  pfähle  einschlägt",  vgl.  Schmeller- Fromm.  I,  1021  und 
Heyne  im  D.  wörtrb.  IV,  2,  1731  sowie  Germanial8,  262  —  63.  Sollte 
die  frau  mit  einer  „ramme"  verglichen  worden  sein,  dann  durfte  wol 
der  artikel  vor  hoye  nicht  fehlen.  Aber  auch  dann  würde  der  aus- 
druck,  selbst  wenn  der  dichter  ein  sivache^  oder  boesez  wip,  wie  es  in 
der  vorhergehenden  strophe  heisst,  im  sinne  hatte,  zu  stark  an  das 
plebejische  streifen.  Das  richtige  hat  offenbar  v.  d.  Hagen  schon  ge- 
sehen, wenn  jer  in  MS.  lY,  539  von  unserer  stelle  sagt:  „der  wunder- 
liche ausdruck  gegen  eine  ihn  (den  sänger)  abweisende  schöne,  „„er 
wähnte  ein  weib  von  Iper  gefunden  zu  haben"",  geht  doch  wol  auf  die 
niederländische  stadt  Ipern,  welche  damals  schon  durch  ihre  schönen 
zeuge  berühmt  war;  Hoye,  dem  der  dichter  die  spröde  vergleichen  will, 
müsste  dann  etwa  schlechtere  zeuge  geliefert  haben."  Ebenso  richtig 
scheint  mir^  was  er  dort  in  der  anmerkung  dazu  sagt:  Oberlins  glos- 
sar  erklärt  hoye  durch  heu,    übergeht  aber  den  gegensatz  ^per."     Dass 


296  BECH,    zu   DEM   VON   BUWENBURC 

die  flandrische  Stadt  Hoye,  das  jetzige  Huy  an  der  Maas,  hier  im  ge- 
gensatz  zu  Iper  steht,  sowie  dass  die  hier  gewebten  tuche  einen  gerin- 
geren wert  hatten  als  die,  welche  Ipern  in  den  handel  brachte,  dafür 
sprechen  unter  andern  folgende  stellen:  nach  dem  stadtrecht  von  Mün- 
chen-, herausg.  von  Fr.  Auer,  §  495  (s.  186)  sollten,  die  underchaufel 
von  ai)ieni  tuch  von  Eyper  VI  dn.  und  von  ainem  sicären  tuoch  von 
Dorn  oder  von  ainem  von  Hoy  IUI  dn.  und  von  den  andern  II  dn. 
xe  I6?i  nemen;  in  den  rechten  und  freiheiten  der  Stadt  Wien  herausg. 
von  Tomaschek  s.  7  (13.  jahrh.)  heisst  es:  zivclf  tuoch  von  Eypper  ist 
ein  soum;  sehzekniu  von  Hoy  ist  ein  soum;  ebenso  in  einer  jüngeren 
fassung  daselbst  s.  94.  Sonst  ist  zu  verweisen  auf  Ztschr.  XXIV,  534, 
wo  pannum  Hoiense  erwähnt  wird,  und  auf  die  Chroniken  der  frän- 
kischen Städte  I,  100  und  222,  wo  Hoye  unter  den  städten  erscheint, 
in  denen  die  Nürnberger  zollfreiheit  besassen.  Über  die  tuche  von  Ipern 
vgl.  ausser  Schultz,  Höf.  leben  I,  255,  8  noch  Strauch  zu  J.  Enikels 
Weltchronik  22473;  Gauriel  von  Muntavel  2300  von  Ipper  hlä  sin 
schaprun;  Cod.  dipl.  Silesiae  III  (=  Henricus  Pauper)  s.  20'  und  27' 
pannus  de  Ipir;  ebenso  VIII,  s.  7;  s.  117  yperisch  tüch;  IE,  s.  28 
und  29  panni  Yperenses;  Ofener  stadtrecht  s.  275"  de  uno  panno  Ipri. 
Dem  zusammenhange  nach  könnte  man  auch  versucht  sein,  tper  und 
hoije  gleich  wie  arrax  als  metonymische  bezeichnungen  für  die  an  den 
betreffenden  orten  gefertigten  stoffe  zu  nehmen.  Jedesfalls  ist  der  sinn 
der  vier  ersten  zeilen  obiger  Strophe:  bei  seinem  ersten  begegnen 
glaubte  der  sänger  ein  weib  so  kostbar  wie  das  tuch  von  Tpern  gefun- 
den zu  haben;  jetzt  erscheine  sie  immer  geringer  an  ehren,  so  dass 
er  sie  mit  dem  stoffe  von  Hoye  vergleichen  wolle.  Über  die  kürze 
des  ausdrucks  %e  Hoye  vergleiche  man  die  lesenswerte  bemerkung  bei 
Kraus,  Deutsche  gedichte  des  12.  jahrh.  XII,  45,  s.  249.  Ob  die  tücher 
von  Hoye  denen  von  Tpern  gegenüber  noch  ein  besonderes  merkmal 
hatten,  welches  den  spott  des  dichters  deutlicher  hervortreten  liess,  ist 
mir  unerfindlich  geblieben. 

ZEITZ,  APEIL  1895.  FEDOR  BECH. 


WILKEN,    DER    FENRISWOLF  297 

DEE  FENEISWOLF. 
Eine  mytliologiselie  untersucliuiig. 

(Schluss.) 

V. 

Der  kern  des  mythns. 
1.  Den  schon  mehrfach  kurz  berührten  hauptbericht  der  Gylf. 
(cap.  34  und  51)  haben  wir  hier  genauer  zu  betrachten.  "Während  zu 
dem  letzteren  cap.  die  Liederedda  viele  ausführliche  parallelen  liefert, 
wenn  nicht  geradezu  dem  berichte  zu  gründe  liegt,  findet  sich  über 
die  fesselung  des  wolfes  (cap.  34)  bei  ihr  und  den  skalden  nur  hier 
und  da  eine  flüchtige  notiz.  Dies  capitel  ist  also  von  besonderer  Wich- 
tigkeit, freilich  auch  von  entsprechender  Schwierigkeit.  Dass  der  leben- 
dig und  frisch  gehaltene  bericht  altes  und  jüngeres  in  ziemlich  bunter 
mischung  darbietet,  erkannte  schon  Bergmann,  Fase.  s.  288:  le  sujet 
d'un  conte  populaire,  d'une  date  relativement  posterieure,  mais  qui  est 
remarquable,  et  pour  le  fond  nwthologique  et  pour  la  forme  de  la 
narration.  —  Mogk  (bei  Paul  u.  Braune,  Beitr.  VII,  270)  unterscheidet 
mit  fug  die  genealogische  einleitung,  wenn  auch  noch  nicht  mit  be- 
stimmten gründen,  von  dem  berichte  der  fesselung  selbst:  „ob  die 
beiden  ersten  berichte  (geneal.  art)  auf  alte  Überlieferung  zurückgehen, 
oder  nur  von  dem  Verfasser  der  Gylf.  aus  dem  bestehenden  erschlossen 
sind,  wird  sich  nicht  entscheiden  lassen i;  für  die  fesselung  des  Fen- 
riswolfes  jedoch  müssen  wir  benutzung  eines  in  galdralag  verfassten 
gedichtes  annehmen."  —  Mir  scheint  es  richtiger,  die  in  Gylf  34  (so- 
wie in  Kph.  II,  432,  515)  teils  direkt  überlieferten,  teils  durchschim- 
mernden Stabreime  lediglich  als  schmuck  der  poetischen  prosa  zu 
betrachten  2;  sollte  aber  selbst  die  ganze  fesselung  des  wolfes  in  ähn- 
liclien  memorialversen,  wie  wir  sie  Grm.  11  — 17,  Alvissm.  10  fg.  fin- 
den, ihm  vorgelegen  haben,  so  würde  der  autor  von  Gylf.  34  das  beste 
(vom  poetischen  Standpunkte  aus),  die  lebendige  Schilderung  der  beiden 

1)  Meine  ansieht  s.  oben  c.  IV,  §  1;  auch  s.  193  anm.  1  und  s.  194  anm.  1.  — 
Für  das  folgende  vgl.  Untersuch,  s.  114. 

2)  Einen  bericht,  in  dem  sich  vielleicht  namen  wie  Wilhelm  und  Walter, 
Hildegard  und  Hedwig  beisammenfänden,  würde  ich  selbst  dann  noch  nicht  „auf  eine 
poetische  quelle  in  Stabreimen"  zurückführen,  wenn  er  nach  „allmählich  stärker  wer- 
dendem stui'me"  das  schiff  schliesslich  „mit  mann  und  maus"  verloren  sein  Hesse- 
Dass  volkstümliche  erzählungen,  märchen  und  schwanke  gerne  durch  eingestreute 
versa  belebt  werden,  kann  man  schon  aus  dem  ersten  märchen  in  Grimms  Sammlung 
ersehen. 


298  WILKEN 

Parteien  und  die  auch  den  leser  „fesselnde"  durchführung  der  intrigue 
doch  selbst  hiuzugetan  haben. 

2.  um  den  bericht  im  einzelnen  zu  prüfen,  empfiehlt  es  sich  von 
ihm  folgende  fragen  beantworten  zu  lassen: 

1)  wann  und  wo  wurde  der  wolf  gefesselt? 

2)  aus  welchem  gründe  geschah  es? 

3)  welche  persönlichen  mächte  beteiligten  sich  dabei? 

4)  welche  sachlichen  mittel  wurden  benutzt? 

5)  darf  der  wolf  je  auf  befreiung  hoffen? 

3.  Bei  der  ersten  frage  lässt  sich  das  wann?  sehr  leicht  erle- 
digen. Die  genealogische  Verknüpfung  niit  Loki  und  Angrboda  hat  die 
Vorstellung  veranlasst,  dass  die  drei  geschwister  zunächst  in  Riesenheim 
aufwachsen  und  von  dort  erst,  um  sie  unschädlich  zu  machen,  zu  den 
göttern  geführt  werden,  bei  denen  der  wolf  verbleibt,  während  seine 
geschwister  einen  andern  wohnort  erhalten.  Erkennen  wir  jenen  frü- 
heren aufenthalt  in  Riesenheim  als  „konstruiert",  so  darf  der  aufent- 
halt  des  wolfes  bei  den  göttern  als  ursprünglich  gelten;  ja  selbst  seine 
fesselung  ist  (nach  dem  in  cap.  I,  16  besprochenen  gesetz)  vielleicht 
nur  als  künstlich  historisierte,  im  gründe  gleichfalls  auf  einen  ursprüng- 
lichen zustand  zurückzuführende  handkmg  anzusehen.  Ist  die  rolle  des 
gottes  Tyr  (vgl.  weiter  unten  zu  fr.  3)  im  sinne  eines  tagesgottes  auf- 
zufassen und  der  verlust  der  band  als  Schwächung  seiner  macht  anzu- 
sehen, so  würde  als  einzige  genauere  Zeitbestimmung  zu  der  eben 
gegebenen  noch  „die  nachtzeit"  sich  ergeben.  —  Auch  bez.  des  wo? 
würde  die  sache  einfach  liegen,  wenn  nicht  der  bericht  in  Gylf.  durch 
spätere  zusätze  getrübt  wäre.  Dieser  bericht  sagt  zunächst  (vgl.  oben), 
dass  die  götter  den  wolf  heima,  also  in  ihrer  eigenen  heimat^  aufge- 
zogen hätten.  Wo,  wie  hier  mit  nachdruck  und  im  gegensatz  zu  meer 
und  unterweit  von  der  „heimat  der  götter"  geredet  wird,  kann  wol 
nur  der  himmel  gemeint  sein  2,  und  dafür  scheint  in  diesem  falle  auch 
der  umstand  zu  sprechen,    dass   auf  die  heiligkeit  des  lokals,    wo  der 

1)  "Wol  nur  Hammerich  (Om  Ragn.  mythen  s.  133)  hat  diese  angäbe  soweit 
verwertet,  dass  er  den  wolf  ausdrücklich  in  Asgard  gefesselt  sein  lässt.  Aber  dieser 
ausdruck  ist  vielleicht  absichtlich  in  Gylf.  nicht  gebraucht,  weil  der  anklang  an  Asia 
gerade  jene  zeit  dann  leicht  an  einen  irdischen  wohnsitz  denken  liess. 

2)  Als  götterwohusitz  im  weiteren  sinne  kann  freilich  auch  das  hochgebirge 
gelten,  das  in  die  wolkenregion  hinein,  teilweise  noch  über  dieselbe  hinausragt.  Man 
denke  an  die  art,  wie  der  Olymp  bei  den  Griechen  als  götterwohusitz  galt,  vgl.  Nä- 
gelsbach, Homer,  theol.  ^  s.  18  —  20.  Endlich  gibt  es  auch  irdische  Wohnsitze  der 
götter  ohne  diese  beschränkung,  vgl.  darüber  weiter  unten  exe.  I. 


DEE  FENBISWOLP  299 

wolf  gefesselt  wurde,  mit  besonderem  nachdrucke  hingewiesen  wird^. 
Da  nun  diese  stelle  (42,  9  — 11  Wk)  sich  gerade  am  ende  des  ganzen 
fesselberichtes  findet,  so  scheint  die  sonst  allerdings  durch  einige  aus- 
drücke nahegelegte  Vermutung  ausgeschlossen  zu  sein,  dass  mit  heima 
nur  der  erste  aufenthaltsort,  wo  der  wolf  gefüttert  wurde,  gemeint 
sei,  während  er  später  andernortes  gefesselt  sei 2.  Für  die  Identität  des 
lokals  spricht  auch  die  erwägung,  dass  die  genaue  angäbe  des  aufent- 
haltes  der  andern  beiden  geschwister  eine  solche  auch  bez.  des  wolfes 
erwarten  liesse,  wenn  der  Verfasser  nicht  eben  mit  jenem  heima  schon 
genug  getan  zu  haben  meinte  3.     Ist  endlich  die  Vermutung  gegründet, 

1)  Mit  der  betreffenden  Wendung  {svä  viikils  viräii  guäin  ve  sin  oh  grida- 
staäi)  vgl.  Gylf.  49  (74,  22  Wk)  die  angäbe  bei  dem  tode  des  himmlischen  lichtgot- 
tes  Baldr:  en  engl  mdtti  liefna;  ßar  var  svä  mikill  grktastcutr.  —  In  beiden  fäl- 
len soll  ungeachtet  der  annäherung  der  darsteUung  an  menschliche  Verhältnisse  daran 
erinnert  werden,  dass  die  geschilderten  Vorgänge  einem  andern  gebiete  als  der  men- 
schenweit angehören. 

2)  Dazu  könnte  zunächst  der  satz  40,  12  verleiten:  pd  foru  cBsirnir  üt  i 
vatn  ßat  er  Amsvartnir  heitir,  i  holm  pmm  er  Lyngvi  er  kallaär,  weiterhin  aber 
41,  9—13  die  angäbe,  wonach  die  äsen  den  fesselhaft  tief  in  der  erde  befestigt  haben 
sollen.  —  Kann  nun  auch  sonst  der  himmel  wol  als  eine  „mythische  landschaft" 
(E.  H.  Meyer)  mit  berg,  tal,  flüssen  usw.  bezeichnet  werden,  so  scheint  mir  diese 
erklärung  doch  für  die  letzte  stelle  nicht  ausreichend.  In  beiden  fällen  verrät 
schon  die  fülle  skaldisch  gefärbt  namen  für  leblose  dinge,  aus  welcher  quelle  diese 
erweiterungen  geflossen  sind;  der  skaldische  Ursprung  wird  zweifellos  durch  verglei- 
chung  der  beiden  berichte  in  der  Skälda  (Kph.  II,  41.3,  515),  wo  eine  noch  grössere 
fülle  solcher  namen  begegnet;  s.  auch  §  6  und  exe.  II.  —  Über  ärosi  fyrir  Lokas. 
41,  1  vgl.  §6. 

3)  Dass  der  autor  von  Gylf.  durch  den  euhemeristischen  Standpunkt,  der  mehr- 
fach bei  ihm  durchblickt,  allerdings  gerade  in  solchen  fragen  leicht  irregeführt  wer- 
den und  einen  mangel  an  konsequenz  verschulden  konnte,  wird  in  exe.  I,  2  c)  noch 
näher  dargelegt  werden.  —  Unter  den  neueren  forscliern  können  die  freunde  des  „meer- 
dänion"  Fenrir,  abgesehen  von  der  etymologischen  Verknüpfung  mit  fen,  die  c.  III, 
3  —  5  beleuchtet  ist,  nur  aus  jüngeren  nebenzügen  eine  stütze  ihrer  ansieht  gewin- 
nen, wonach  ohne  weiteres  Fenrir  mit  sonnen-  und  mondwolf  gleichgesetzt  wird 
(vgl.  s.  195  anm.  3)  und  das  (doch  allabendlich  in  aller  ruhe  geschehende)  versinken 
der  sonne  im  meere  als  ui'bild  für  das  gewaltsame  geschick  der  sonne  am  weltende 
(Yaf|)r.  46)  gefasst  wird  (Mogk  im  Grundriss  I,  1045).  Die  anhänger  des  „sturm- 
wolfes"  stehen  meiner  ansieht  schon  näher,  da  sie  die  luft  als  sphaere  des  wolfes 
ansehen.  Aber  mag  der  wolf  auch  oft  genug  den  stürm  bedeuten:  ein  bis  zum  Welt- 
untergang gefesselter  stürm  hört  doch  auf  stürm  zu  sein;  infolge  der  maulsperre  ist 
ihm  selbst  das  Iieulen  verwehrt.  Den  Vertretern  unterirdischer  fesselung  des  wolfes 
gegenüber  betonte  MüUenhoff  (D.  alt.  V,  138,  150)  mit  recht,  dass  „der  wolf  kei- 
neswegs in  der  unterweit  und  in  ihrem  bereiche  gefesselt  liegt."  —  Zur  stütze  mei- 
ner ansieht  sei  noch  an  Eiriksmal  str.  6  erinnert:  „es  sieht  der  graue  wolf  (drohend) 
auf  den  wohnsitz   der  götter."     Unterirdisch  gefesselt  ist  er  also  gewiss  nicht,    der 


300  WILKEN 

dass  jenes  „füttern  des  wolfes"  durch  Tfr  nur  eine  ungehörige  hinein- 
menguüg  des  jüngeren  kriegsgottes  Tyr  in  die  rolle  des  älteren  natur- 
gottes  verrät  (vgl.  weiter  unten  §  5),  so  könnte  von  einer  Unterschei- 
dung des  lokals  der  fütterung  von  dem  der  fesselung  erst  recht  keiue 
rede  sein. 

4.  Die  zweite  frage  beantwortet  unser  bericht  scheinbar  so  bün- 
dig, dass  sich  Gangleri  sogar  darüber  verwundert,  warum  sich  die  göt- 
ter  denn  mit  der  fesselung  eines  so  gefährlichen  wesens  begnügt,  nicht 
seine  Vernichtung  erstrebt  hätten.  Gleichwol  ist  die  begründung  der 
fesselung,  die  cap.  34  gibt,  eine  rein  äusserliche;  im  hinblicke  auf  den 
Charakter,  der  dem  wolfe  geliehen  wird,  erscheint  sie  unmotiviert  (vgl. 
s.  198,  anm.  1).  Ein  wesen,  das  nach  glücklichem  zerreissen  zweier 
fesseln  bei  dem  dritten  versuche,  zu  dem  man  ihn  bereden  will,  ruhig 
erwidert:  ef  per  hindit  milc  svd  at  ek  fce  eigi  leyst  mik,  pd  munu- 
per  svd  cetla,  at  7ner  mun  seint  vera  at  taka  af  yär  hjälp;  öfüss 
em  ek  at  lata  petta  band  d  mik  leggja.  En  heldr  en  per  fryit  mer 
hugar,  pd  leggi  eiiihverr  ydar  hqnd  sina  i  mumi  mer  at  veäi,  at 
petta  se  falslaust  gqi't  —  erinnert  eher  wol  an  den  biblischen  Simson 
der  Delila  gegenüber  oder  den  nordischen  Sigurdr  Reginn  gegenüber, 
als  an  einen  trotzigen,  prahlerischen  riesen  oder  gar  ein  die  weit  be- 
drohendes Ungetüm.  Diese,  bisher  wenig  beachtete,  ideale  Zeichnung 
des  wolfes  darf  um  so  weniger  etwa  als  jüngere  färbung  verdächtigt 
werden,  als  sie  ganz  im  gegensatze  zu  der  dämonischen  auffassung 
des  wolfes  steht,  welcher  der  Verfasser  von  Gylf.  sonst,  so  wol  hinsicht- 
lich der  genealogischen  Verknüpfung  mit  Loki  als  auch  bez.  des  letzten 
kampfes  gegen  die  götter,  volle  rechnung  trägt.  Liegt  so  im  Charakter 
des  wolfes^  keine  spur  einer  erklärung  für  die  handlung  der  götter,  so 
bleibt  als  grund  nur  die  furcht  vor  dem  später  (d.  h.  am  ende  der 
weit)  zu  erwartenden  unheile.  Dies  besteht  aber  nach  der  auffassung  von 
Gylf.  nicht  im  verschlingen  der  sonne,  da  ulfrinn,  welcher  nach  81,  11 
die  sonne  verschlingt,  schon  wegen  des  annarr  idfrinn  82,  1,  der 
den  mond  fasst,  der  sonnenwoK  SkoU  sein  muss,  nicht  der  erst  später 
(82,  5)  ft-eiwerdende  Fenrir.  Es  bleibt  also  nur  (nach  Gylf.)  der  kämpf 
mit  Ödinn  übrig.  Nun  ist  aber  nicht  zu  vergessen,  dass  sämmtliche 
einzelkämpfe    der    götter    am    weltende,    soweit    sie    nicht    als   junge 

wolinsitz  der  götter  ist  vielmehr  auch  als  ort  der  fesselung  zu  betrachten,  da  ein 
gefangener  zunächst  seinen  kerker  vor  äugen  hat. 

1)  Die  reden  kurz  vor  der  fesselung  sind  nämlich  die  einzigen,  welche  dem 
wolfe  überhaupt  beigelegt  werden,  aus  ihnen  allein  können  wir  seinen  Charakter 
erkennen.  —  Über  den  freigewordenen  wolf  vgl.  §  7. 


DER   FENRISWOLF  301 

ersatzdichtung  in  Gylf.  sich  darstellen  (so  namentlich  der  des  gottes 
T<'r)  nur  auf  einer  fortschiebung  älterer  kampfesmythen  beruhen  (vgl. 
s.  175,  anm.  1).  Die  scheinbar  einzige  ausnähme  (der  kämpf  Odins 
und  Yidars  mit  dem  wolfe  Fenrir)  wird  als  ähnlich  entstanden  in 
aap.  YII  nachgewiesen  werden,  nur  mit  dem  unterschiede,  dass  dieser 
kämpf  sich  eigentlich  auf  andere  wölfe  bezogt  Dies  alles  erwogen, 
bleibt  als  erklärung  nur  übrig,  dass  irgend  ein  äusserer  umstand, 
wie  er  die  benennung  „wolf"  veranlasste,  so  auch  —  bei  der  kind- 
lichen auffassung  älterer  zeit  —  eine  besondere  furcht  drohenden  Un- 
heils zu  rechtfertigen  schien  2. 

5.  Auf  die  dritte  frage  gibt  Gylf.  34  zwar  reichliche  auskunft, 
aber  die  einzelnen  angaben  stehen  nicht  in  vollem  einklange.  Nach 
der  art,  wie  Allfodr-Ödinn  zunächst  38,  1  den  beschluss  veranlasst, 
die  drei  gefährlichen  wesen  aus  Riesenheim  fortführen  zu  lassen,  wie 
er  dann  39,  17  von  den  zwergen^  sich  das  geeignete  band  zur  fes- 
selung  verschafft,  befremdet  es  schon,  wenn  nun  doch  bei  der  fesse- 
lung  ein  anderer  gott,  Tfr,  die  haup trolle  spielt,  indem  er  für  die 
Sache  der  götter  geradezu  eintritt,  obwol  ihm  von  denselben  wenig  ge- 
dankt wird;  die  wendung  ])ä  hlögu  allii'  nema  Tyr  42,  1  erinnert 
schon  an  den  spott  in  Lokas.  38.  Nun  ist  gerade  die  aufopferung  der 
band  des  gottes  Tfr,  mit  der  einige  neuere  erklärer  sich  ziemlich  leicht 
abfinden^,  eine  der  am  besten  bezeugten  tatsachen  in  dem  ganzen  fes- 
selakte,  zu  Gylf.  (25  und  34)  tritt  Skälda  9,  Lokas.  38,  39;  prosa  vor 
str.  1.  Am  stärksten  scheint  mir  jedoch  der  widersprach,  sofern  man 
bei  buchstäblicher  auslegung  stehen  bleibt,  wenn  Tjrr  zunächst  den 
wolf  füttert,  so  lange  er  frei  ist,  während  bei  dem  gefesselten,  der  erst 
recht  solches  dienstes  bedürfte,  offenbar  an  ein  füttern  ebenso  wenig 
gedacht  wie    im    geringsten    davon    gesprochen    wird.     Der    autor  von 

1)  Auch  wer  jener  argumentatiou  hier  noch  nicht  folgen  will,  wird  anerkennen, 
dass  in  dem  früheren  leben  des  wolfes  kein  grund  zu  besorgnissen  lag. 

2)  Diese  furcht  erscheint  erkLärlicher,  wenn  räumliche  nähe  des  gefesselten 
die  götter  immer  an  das  zeitlich  allerdings  noch  weit  entfernte  unheil  gemahnte; 
vgl.  s.  299  anm.  3  gegen  ende.  —  Dass  die  götter  den  wolf  täglich  wachsen  sahea ,  ist 
wol  mir  aus  der  angäbe  erschlossen,  dass  er  bei  den  göttern  aufwuchs;  und  da  er 
später  Unheil  anrichten  soll,  ist  solches  von  ihm  schon  prophezeit  worden.  Vgl.  die 
trefflichen  bemerkungen  Beers  über  die  gewöhnliche  ausgestaltung  eines  mythus 
Germ.  33 ,  10  fg. 

3)  Da  die  zwerge  hier  für  uns  nur  als  verfertiger  des  bandes  Gleipnir  Interesse 
haben,  so  will  ich  über  sie  §  6  handeln. 

4)  „Möglicher  weise  ist  diese  fabel  erst  erfindung  späterer  zeit"  (F.  Kauffmanu, 
D.  mythol.  -  s.  82). 


302  WILKEN 

Gylf.  betrachtet  beide  angaben  als  beweise  von  der  besonderen  kühn- 
heit  des  gottes  Tfr,  ohne  sonst  irgendwie  die  Wahrscheinlichkeit  seines 
berichtes  zu  prüfen;  eine  solche  einseitigkeit  des  Standpunktes  ist  aber 
nicht  jedem  beurteiler  gegeben.  Fasst  man  das  füttern  des  wolfes  im 
bildlichen  sinne  \  so  ist  zwar  der  Widerspruch  etwas  gemildert,  das 
fremdartige  des  tones  aber  keineswegs  beseitigt  2.  Da  mm  T_\'r  als  idfs 
föstri  sich  zwar  in  der  prosaischen  Edda  mehrfach  (ausser  Gylf.  34  auch 
Sk.  9),  aber  in  der  Liederedda  nicht  bezeugt  findet,  so  tritt  zu  den 
inneren  doch  auch  ein  äusserer  grund  hinzu,  die  betreffende  angäbe 
als  einen  jüngeren,  ursprünglich  in  anderem  sinne  verstandenen  zusatz 
zu  betrachten.  Minder  wichtig  ist  es,  den  speciellen  anteil  der  beiden 
götter  Ödinn  und  Tyr  an  dem  fesselwerke  schon  jetzt  genauer  festzu- 
stellen 3;  da  beide  zweifelsohne  zu  den  himmels-  und  tagesgottheiten 
gehörten*,  so  kann  die  beantwortung  der  dritten  frage  vorläufig  so 
lauten:  dieselben  götter,  welche  den  wolf  in  ihr  gebiet  zogen,  fessel- 
ten ihn  auch  dort  mit  hilfe  der  zwerge  —  beide  angaben  sind  (mit 
rücksicht  auf  §  3)  vielleicht  sogar  als  ursprünglich  identisch  zu  be- 
trachten. 

1)  Den  wolf,  raben,  adler  füttern  ist  der  nord.  poesie  ein  sehr  geläufiger  aus- 
druck  =  feinde  fällen,  vgl.  Untersuch,  s.  114.  —  Dass  dies  füttern  des  wolfes 
durch  Tyr  die  pflege  des  „widernatürlichen  krieges"  bedeute  (Simrock,  D.  myth.^ 
s.  113)  geht  aus  unseren  quellen  nicht  hervor,  W.  Müller  (Altd.  rel.  224)  wollte  in 
dem  von  dem  wolfe  der  finsternis  geschädigten  ernährer  desselben  den  der  nacht  vor- 
angehenden, nun  verdrängten  tagesgott  sehen,  was  in  doch  wol  aUzukünstlicher  fas- 
sung  einen  nicht  ganz  unrichtigen  gedanken  enthält,  vgl.  cap.  VII,  §  2.  —  Die 
versuche,  auch  den  verlust  der  band  auf  den  kriegsgott  zu  beziehen  (einen  derselben 
beleuchtet  W.  Müller  a.  a.  0.  s.  223),  sind  in  neuerer  zeit  mit  geringerem  nachdruck 
hervorgetreten:  sie  führen  zu  mehr  oder  minder  S])ielenden  erklärungsweisen  des 
mythus. 

2)  Während  der  ausdruck  (38,  15)  tilfinn  fcedchi  ccsir  heima  (in  dem  sclilich- 
ten  sinne  =  den  wolf  Hessen  die  götter  bei  sich  aufwachsen)  niemand  befremden 
wird,  ist  die  angäbe,  nur  Tyr  habe  gewagt  ihm  seine  speise  zu  geben,  schon  darum 
wunderlich,  weil  die  götter  in  dem  weiteren  bericht  sich  doch  sogar  in  der  absieht 
den  wolf  zu  fesseln  an  denselben  heranwagen.  Ist  es  bildlich  gemeint,  so  passt 
wider  die  angäbe  nicht,  weil  dieser  wolf  nicht  ai;f  die  Schlachtfelder  der  erde  eilen 
kann,  sondern  bei  den  göttern  weilt;  wäre  der  sinn  ursprünglich  ähnlich  gemeint  wie 
bei  den  wölfen  Odins  Grm.  19,  so  sähe  man  aus  Gylf.  34,  wie  eine  einfache  sache 
auch  sehr  unglücklich  ausgedrückt  werden  kann.  Endlich  ist  noch  zu  bemerken, 
dass  der  skald.  ausdruck  ulfs  fostri  nur  bei  freierer  Interpretation  zur  stütze  jener 
angäbe  in  Gylf.  dienen  kann,  denn  föstri  wird  sonst  nicht  vom  füttorer  gebraucht, 
sondern  vom  pflegevater;  füttern  wird  durch  seäja,  gefa  mat,  gisting,  undorn  und 
ähnlich  ausgedi'ückt. 

3)  Vgl  dazu  cap.  VH  §  2.  4)  Vgl.  s.  197  text  und  anm.  1. 


DER   FENEISWOLP  303 

6.  Als  wirklich  bedeutendes  mittel  der  fesselung  stellt  sich,  um 
zur  beantwortung  der  vierten  frage  überzugehen,  nur  das  band  Gleip- 
nir  dar  und  für  unmöglich  halte  ich  es  nicht,  dass  ursprünglich  über- 
haupt nur  dies  eine  erwähnt  war.  Es  Avar  ein  werk  der  zwerge  und 
von  wunderbarer  art^  Da  jedoch  auch  die  nanien  Lseding  und  Dromi, 
namentlich  der  erstere,  altertümlichen  klang  haben  2,  da  auch  die  gute 
des  bandes  Gleipnir  dadurch  in  passender  weise  gehoben  wird,  dass 
der  wolf  schon  zwei  starke  fesseln  gesprengt  hatte,  als  er  mit  G.  ge- 
bunden wurde,  so  ist  die  Steigerung  der  bände  von  1  auf  3  wol  jeden- 
falls für  eine  sehr  alte,  mit  dem  mythus  völlig  verwachsene  erweiterung 
zu  halten^.  Anders  verhält  es  sich  mit  der  angäbe:  pd  töku  peir 
festina  or  fjqtrhiunt,  er  Gelgja  heitir  oh  drögu  henni  i  gegniim  hellu 
rnikla,  sii  lieitir  Gjqll,  oh  felldu  helluna  langt  i  jqrä  nidr;  pd  töku 
peir  mihinn  stein,  er  pviti  lieitir  ok  skutu  hdnimi  cnn  lengra  i  jqrct- 
ina  ok  hqfäu  pann  stein  fyrir  festarhailiyin^.  Hier  lässt  sich  die 
skaldische  liebhaberei  der  namenhäufung  nicht  verkennen;  in  der  sache 
könnten  diese  weiteren  vorsichtsmassregeln  nur  von  der  pedantischen 
besorgnis  ausgehen,  der  wolf  könnte,   auch  wenn  er  das  band  Gleipnir 

1)  So  häufig  auch  in  den  jüngeren  sagas  die  zwerge  als  verfertiger  von  Waf- 
fen und  kostbarkeiten  aller  art  erscheinen  (Vigf.  s.  v.  dvergr)^  so  darf  als  die  ältere 
aiiffassung  doch  die  gelten,  wonach  nur  dem  bereiche  der  natur  angehörige  „wun- 
derbare" dinge,  wie  z.  b.  das  Sonnenlicht,  der  blitz  als  von  den  zwergen  geschmiedet 
erscheinen;  eine  nicht  vollständige,  aber  doch  zu  beachtende  aufzählung  von  6  beson- 
ders berühmten  werken  dieser  art  gibt  Skälda  35;  hinzufügen  liesse  sich  namentiich 
das  Brisinga  men  (nach  der  Olafss.  Tryggvas.  von  zwergen  verfertigt)  und  unser 
band  Gl.  —  Ist  man  nun  mit  E.  H.  Meyer  (G.  myth.  117)  der  ansieht,  dass  unter 
allen  elben  die  luftelben  die  ursprünglichsten  und  massgebenden  sind  und  dass  der 
name  dvergar,  obwol  vorzugsweise  den  berg-  und  erd- elben  gehörig,  doch  auch 
luftelben  beigelegt  wird  (a.  a.  0.  118),  so  werden  wir  durch  dieses  werk  der  „zwerge" 
wol  wider  an  himmel  und  luftraum  gewiesen.  Die  scheinbar  irdische  natur  der  stoffe 
des  bandes  spricht  nicht  dagegen,  vgl.  Untersuch,  s.  114.  Dass  jene  6  stoffe  sich 
auf  der  erde  nicht  mehr  finden,  weil  sie  alle  zu  dem  bände  verbraucht  sein  sollen 
(Kph.  II,  431),  ist  analog  jener  neiguug,  alles  bestehende  auf  ein  bestimmtes  histo- 
risches datura  zurückzuführen,  vgl.  in  Gylf.  15,  4 — 9;  76,  12;  80,  5  u.  0.  cap.  I,  16. 
Dass  dies  band  aus  „unsichtbaren  dingen"  geflochten  sei  (Mogk),  trifft  ganz  meine 
meinung,  nur  möchte  ich  vom  mythischen  Standpunkte  aus  hinzusetzen  „für  den 
menschen  unsichtbaren  dingen".  —  Wo  aber  fänden  sich  solche,  die  doch  zugleich 
im  bereiche  der  götter  liegen  sollen,  anders  als  am  himmel? 

2)  Vgl.  die  betr.  art.  im  Glossar  zur  pros.  Edda. 

3)  Denkbar  ist  auch,  dass  die  drei  uamen  ursprünglich  nur  Varianten  für  ein 
band  waren. 

4)  Vgl.  s.  299  anm.  2;  eine  etwas  genauere  besprechimg  der  einzelheiten  findet 
sich  in  exe.  II. 


304  WILKEN 

nicht  zu  zerreissen  vermöge,  es  doch  mit  sich  führen,  wenn  es  nicht 
gut  in  der  erde  versichert  sei.  Überdies  ist  dem  gefesselten  wolfe  noch 
der  rächen  durch  ein  schwort  gesperrt!  Da  dieser  zug  alt  zu  sein 
scheint  1,  war  um  so  weniger  grund  zu  jener  ängstlichen  vorsieht,  die 
wol  auf  einer  nachahmung  der  fesselung  Lokis  beruht,  aber  erst  her- 
vortreten konnte,  als  das  ursprüngliche  lokal  für  die  fesselung  des  wol- 
fes  ganz  oder  halbweges  vergessen  war.  Yon  dem  gefesselten  Loki 
unterscheidet  sich  Fenrir  aber  wie  in  anderer  hinsieht,  so  auch  beson- 
ders durch  die  rachensperre  und  den  fluss,  in  dem  er  gefesselt  liegt 
und  durch  den  nach  der  auffassung  von  Gylf  (40,  12  fg.)  sein  ent- 
weichen wol  noch  mehr  erschwert  werden  soll  (vgl.  ärösi  fyri?^  Lokas. 
41,  1)2.  Ist  dieser  fluss  Amsvartnir  aber  nicht  vielmehr  im  gründe 
nur  der  schaumfluss,  nach  welchem  Fenrir  den  beinamen  Vänar  gandr 
erhielt  und  der  in  skaldischen  berichten  schon  zu  zwei  Aussen  von 
solcher  fülle  wurde,  dass  alle  flüsse  als  „speichel  Fenrirs"  bezeichnet 
werden  können?  (Kph.  II,  515).  —  Vgl.  cap.  VI,  §  9. 

7.  Auf  die  fünfte  frage  endlich  erteilt  Lokas.  39,  3  —  4  und 
ähnlich  Gylf  34  (=  42,  16)  auskunft;  wörtlich  ebenso  heisst  es  aber 
auch  vom  gefesselten  Loki  in  Gylf  50  (80,  20):  jKir  liggr  hann  (i  hqn- 
diim)  tu  ragnarekkrs.  Dass  er  dann  frei  werden  soll,  wird  vom  wolfe 
sogar  mit  noch  grösserem  nachdruck  (so  schon  in  Häkonm.  20)  bezeugt 
als  vom  götterfeinde  Loki  3,  aber  den  kämpf  mit  Ödinn  lassen  keines- 
wegs alle  Zeugnisse  so  bestimmt  darauf  folgen ,  wie  wir  es  nach  Gylf  51, 
Vol.  53  fg.   anzunehmen    gewohnt   sind^;    und  wenn   Hyndl.  45,  3  —  4 

1)  Er  wird  durch  die  keuuing  „sparri  Fenris  varra''  =  seh  wert  bei  Eyvändr 
skäldasp.  (Kph.  III,  460)  schon  für  das  zehnte  Jahrhundert  belegt.  —  Die  Überein- 
stimmung mit  einem  bilde  des  Sachsenspiegels  (Simrock,  D.  myth.  ^99)  halte  ich  für 
zufällig;  gerichtlich  geächtet  (vervestet)  ist  der  Fenriswolf  niemals.  Damit  fällt  für 
mich  auch  die  deutung  Simrocks  fort. 

2)  Vgl.  exe.  n,  2.  —  Zunächst  sei  bemerkt,  dass  mich  ausser  den  oben  ge- 
nannten noch  folgende  gründe  verhindern  in  der  gefangenschaft  des  Avolfes  nur  eine 
„differenzierung  von  Lokis  gefangenschaft"  zu  sehen  (Bugge,  Studien  I,  414).  Loki 
wird  gefesselt  1)  unterirdisch,  2)  mit  sichtbaren  fesseln,  3)  wegen  bereits  begangener 
Untaten.  —  4)  hass  und  liebe  nimmt  an  seinem  geschicke  anteil  (SkaSi,  Sigj'n).  — 
Einzelne  züge  mögen  in  beiden  fällen  typisch  sein  für  die  populäre  erzähluug  einer 
fesselung,  vgl.  ausser  Bugge  a.  a.  o.  412  fg.  auch  Simrock,  D.  myth. •'  s.  96. 

3)  Nur  in  dieser  fassung  kann  ich  den  gedanken  Müllenhoffs  (a.  a.  o.  150) 
„das  losbrechen  des  wolfes  ist  überhaupt  die  Vorbedingung  zum  allgemeinen  aufbrach 
der  weitmächte  und  zu  dem  umstui'ze  dieser  weit"  mir  aneignen.  —  Die  ähnlichkeit 
mit  den  angaben  über  Loki  fasse  ich  nur  als  äusserliche  angleichung. 

4)  Zunächst  ist  zu  beachten,  dass  Eiriksm.  6  nur  ein  (drohendes)  hinblicken 
des  wolfes  auf  den  göttersitz  kennt,  Häkonm.  20  nur  ein  losstiirmen  des  entfesselten 


DER    FENRISWOLF  305 

ausdrücklich  diesen  kämpf  als  das  letzte  bezeichnet,  worüber  mau  mit 
einiger  Sicherheit  reden  dürfe,  so  darf  eine  kritische  betrachtung  wol 
noch  einen  schritt  weitergehend  auch  diesen  kämpf  aus  der  gesicherten 
Überlieferung  ausscheiden.  Befreiung  von  seiner  fessel  darf  der  wolf 
nach  allen  Zeugnissen  am  weltende  hoffen;  ob  mehr  von  ihm  in  alter 
zeit  geglaubt  wurde,  steht  vorläufig  nicht  fest. 


VI. 

Erklärung  des  kernes. 

1.  Fassen  wir  die  im  vorigen  capitel  erhaltenen  antworten  auf 
die  fünf  fragen  kurz  zusammen,  so  ergibt  sich:  ein  wesen,  das,  sei  es 
nur  die  gestalt,  sei  es  auch  den  Charakter  eines  „edelwolfes"  (vgl. 
cap.  in,  8)  besitzt,  ist  von  den  göttern  seit  alter  zeit  am  himmel  ge- 
fesselt, weil  sie  von  diesem  wesen  unheil  für  sich  und  die  weit  besor- 
gen. Die  götter  vollbringen  das  schwierige  werk  nur  mit  hilfe  der 
Zwerge  (der  geheimen  naturkräfte);  diese  liefern  ihnen  ein  unsichtbares 
band,  welches  bis  zum  weltende  den  Avolf  gefesselt  hält.  —  Einiges 
spricht  dafür,  dass  die  fesselung  bei  nacht  geschehen  ist  (vgl.  cap.  lY, 
§  7  gegen  ende). 

2.  Wird  nun  gefragt:  welches  wesen  ist  gemeint?  so  bedarf  es 
vielleicht  noch  des  ausdrücklichen  hin  weises,  dass  die  persönliche  auf- 
fassung,  an  die  wir  uns  gewöhnt  haben,  an  und  für  sich  nicht  not- 
wendig ist.  Da  wir  gesehen,  dass  die  genealogische  Verknüpfung  mit 
Loki  und  Angrboda  der  konstruierenden  periode  angehört,  da  keine 
andere  Verwandtschaft  sich  als  echter  und  ursprüiiglicher  erwiesen  hat, 
was  hindert  uns  anzunehmen,  dass  der  „wolf"  überhaupt  nur  äussere 
ähnlichkeit  mit  einem  lebewesen  dieser  species  gehabt?     Verschiedene 

auf  den  "wohnsitz  der  menschen  berichtet  wird.  Diese  angäbe  ist  mit  der  eddischen 
auffassung  kaum  zu  vereinigen;  diese  schweigt  von  den  menschen,  weiss  dafür  aber 
einen  kämpf  mit  den  göttern  Odinn  und  Yidarr  zu  berichten.  Den  ersten  dieser 
kämpfe  kennt  von  den  älteren  skalden  wol  nur  Egill  Skallagr.  und  der  zeitliche  unter- 
schied zwischen  den  beiden  zu  anfang  dieser  anm.  genannten  gedichten  und  Egils  Son- 
nartorrek  (975  nach  Gudm.  forläksson,  Udsigt  over  de  norsk-isl.  skalde  s.  24)  ist  nicht 
erheblich;  da  jedoch  bei  Egill  die  isländische  poesie  sich  zuerst  selbständiger  neben 
die  norwegische  stellt,  so  könnten  neben  den  zeitlichen  hier  lokale  diiferenzen  in 
der  auffassung  in  betracht  kommen.  Nicht  zu  übersehen  ist  ferner,  dass  der  kämpf 
des  Wolfes  mit  VidaiT  zwar  Vgl.  54  bezeugt  ist,  aber  gegen  U  H,  und  dass  zu  den 
von  Müllenhoff  a.  a.  o.  152  angeführten  gränden  für  die  Streichung  dieser  str.  sich 
noch  andere  finden  dürften.  Für  mich  wichtigere  gründe  werde  ich  noch  in  cap.  VII 
entwickeln. 

ZEITSCHRIFT    F.    DEUTSCHE    PHILOLOGIE.      BD.    XXVIII.  20 


306  WILKEN 

gründe,  welche  für  diese  auffassung  sprechen,  sind  schon  oben  (z.  b. 
cap.  V,  §  4  schl.)  angefülirt.  Dazu  kommt,  dass  die  bisherigen  erklä- 
rungsv ersuche  schon  alle  klassen  von  lebewesen  so  zu  sagen  erschöpft 
haben  (vgl.  cap.  II,  1),  ohne  Überzeugungskraft  zu  besitzen.  Dass  es 
sich  eigentlich  um  ein  lebloses  geschöpf  handelt,  scheint  aus  einer 
stelle  unserer  Überlieferung  wenigstens  indirekt  hervorzugehen.  Liest 
man  die  werte  in  Gylf.  34  (=  42,  3,  4),  welche  die  rachensperre  mit 
hilfe  des  Schwertes  schildern,  die  bis  zum  Weltuntergang  dauern  soll, 
so  ist  es  um  so  schwerer  hier  an  ein  lebendes  wesen  zu  denken,  da 
von  keinem  freund,  keiner  freundin  die  rede  ist,  welche  die  not  des 
gefangenen  lindert i.  Dass  diesem  einen  mehrere  züge  gegenüberge- 
stellt werden  können,  welche  nur  von  einem  lebenden  wesen  scheinen 
verstanden  werden  zu  können,  ist  richtig;  aber  wird  bei  einem  so  alten, 
so  beliebten  und  deshalb  doch  auch  wol  viel  variierten  mythus  das 
ursprüngliche  anders  als  in  schwachen  spuren  zu  erkennen  sein?  — 
Die  auffassung  als  lebewesen  musste  natürlich  vorangehen,  ehe  man  an 
eine  genealogische  Verknüpfung  mit  Loki  usw.  dachte. 

3.  Fragt  man  weiter  nach  den  gebieten  nicht  lebender  wesen,  in 
welchen  entlehnungen  von  tiernamen  sich  etwas  häufiger  finden,  so 
lautet  die  antwort:  in  der  pflanzenweit  und  am  Sternenhimmel.  In 
unserem  falle  kann  nur  der  letztere  in  betracht  kommen,  was  durch 
vergleichung  mit  §  1  unseres  capitels  sich  von  selbst  ergibt.  Die  be- 
treffende annähme  lässt  manche  Schwierigkeit  in  neuem  licht  erschei- 
nen: ein  am  himmel  befindliches  sternbild,  das  einem  wolfe  mit  leuch- 
tenden äugen  und  aufgesperrtem  rächen  glich,  scheint  die  weit  zu 
bedrohen  2;  aber  mit  unsichtbarer  fessel  wird  es  gehalten  bis  zum  welt- 

1)  Vgl.  Gylf.  50  die  noch  peinlichere  läge  des  Loki,  welche  jedoch  durch  seine 
gattin  Sigyn  gelindert  wird.  Ist  es  auch  scheinbar  pedantisch  zu  fragen:  wer  gibt 
dem  geknebelten  wolf  die  nötige  uahruug,  um  das  leben  zu  erhalten,  wenn  er  über- 
haupt ein  lebewesen  ist?  so  glaube  ich  doch,  dass  der  mythus  auch  hier  ähnlich  wie 
in  Gylf.  50  die  möglichkeit  der  lebeuserhaltuug  augedeutet  hätte,  wenn  der  wolf 
ursprünglich  lebend  gedacht  wäre.  Dazu  kommt  noch ,  dass  Loki  sowol  wie  die  mei- 
sten in  ähnlicher  läge  befindlichen  (so  z.  b.  Prometheus)  wegen  irgend  einer  schuld 
gefesselt  erscheinen;  diese  schuld  ist  hier  aber  entweder  so  gering,  dass  man  den 
wolf  als  unschuldigen  ansehen  muss,  oder  so  gross,  dass  man  mit  Gangleri  fragen 
müsste:  warum  töteten  die  götter  ein  so  gefährüches  wesen  nicht?  vgl.  c.  V,  §  4.  — 
Meine  bedenken  werden  auch  durch  einen  hinblick  auf  den  gefesselten  Ugarthilocus 
bei  Saxo  (ed.  Holder  294)  nicht  verringert,  denn  der  autor  trägt  hier  so  stai'k  auf, 
dass  er  absichtlich  jede  milderung  zu  verschmähen  scheint. 

2)  In  der  Schilderung  des  freigewordenen  wolfes  Gylf.  51  (=  82,  13  — 15)  ist 
zunächst  die  übertreibende  darstellung  des  weit  geöffneten  rachens,  der  den  Zwischen- 
raum zwischen  himmel  und  erde  ausfüllen  soll,    auf  das  richtige  mass  zurückzufüh- 


DER    FENRISWOLF  307 

Untergang:  erst  dann  kann  es  herabstürzen  auf  die  weit  und  schaden 
stiften.  —  Hier  ist  namentlich  die  Schwierigkeit  der  zweiten  frage  (in 
cap.  V)  ganz  beseitigt;  die  zurückführung  eines  für  unsere  moderne 
auffassung  mit  der  weltschöpfung  verknüpften  aktes  auf  ein  beliebiges 
datuni  in  der  geschichte  der  weit  und  der  götter  entspricht  der  cap.  I, 
ij  16  erwähnten  neigung  naiv-aetiologischer  naturbetrachtung.  Der 
schaumfluss  findet  jetzt  auch  seine  erklärung,  vgl.  w.  u.  §  9. 

4.  Gibt  es  aber  neben  inneren  gründen  auch  irgend  ein  äusseres 
Zeugnis  zur  stütze  dieser  ansieht?  Dass  es  ein  sternbild  des  wolfes 
(Lupus,  bestia)  auch  für  unsere  astronomie  gibt,  kann  hier  nicht  ins 
gewicht  fallen;  es  gehört  der  südlichen  halbkugel  an  und  wird  erst  in 
Südeuropa  etwas  deutlicher  sichtbar.  Es  müsste  also  ein  jetzt  mit 
anderem  namen  benanntes  sternbild  sein,  an  das  wir  zu  denken  hätten. 
Bekanntlich  sind  aber  die  aus  dem  altertum  übernommenen  bezeich- 
nuugen  der  Sternbilder  mit  dem  Christentum  und  der  lat.  schrift  auch 
nach  dem  norden  gedrungen  und  haben  die  einheimischen  namen  im 
ganzen  verdrängt i.  Nur  in  wenigen  fällen  kennen  wir  alte  und  neue 
bezeichnung  des  Sternbildes;  bisweilen  hat  sich  die  alte  zwar  erhalten, 
wir  sind  aber  über  die  bedeutung  im  unklaren  2.  Dass  es  ein  stern- 
bild des  wolfes  im  norden  gegeben  habe,  könnte  aus  Grm.  10,  3  schwer- 
lich mit  recht  gefolgert  werden  3;  bessere  gründe  für  die  existenz  von 
Sternbildern  mit  dem  namen  des  wolfes,  adlers  und  raben  mag  die 
schrift  „Norroen  stjornun^fn"  enthalten  haben,  die  wol  nicht  gedruckt 
ist,  aber  von  F.  Magnussen  ^Eldre  Edda  I,  208  erwähnt  wurde. 

5.  Erst  die  letzten  decennien  haben  stichhaltige  belege  für  die 
existenz  eines  Sternbildes  „der  Wolfsrachen"  erbracht.  1860  teilte 
K.  Gislason  in  seinen  bekannten  „44  Prever  af  oldnordisk  sprog  og 
literatur"^  s.  476  fg.  einen  von  ihm  „  StJQrnumQrk "  bezeichneten  ab- 
schnitt aus  der  hs.  1812  der  alten  kön.  Sammlung  in  Kopenhagen  mit; 

ren;  dagegen  kann  der  ausdruck  eldar  hrenna  or  augiim  hans  ok  nqsuui  ohne  wei- 
teres auf  ein  sternbild  bezogen  werden.  —  Wie  gut  passt  nicht  auch  Eiiiksmal  6  ser 
ulfr  usw.  auf  ein  sternbild,  vgl.  cap.  III  §  8  ex. ,  wo  schon  betont  ist,  dass  „graues" 
licht  auch  dem  monde  beigelegt  wurde. 

1)  Vgl.  die  abschnitte  über  steme  in  Grimms  Myth.  *  (reg.  s.  sterne)  sowie 
Kuhn  und  Schwartz,  Nordd.  sagen  s.  457,  Westfäl.  sagen  11,  s.  85  —  88. 

2)  So  bez.  der  äugen  des  fjazi  Brag.  56  (=  96,  9)  und  der  zehe  Orvandils 
Skälda  17  (105,  15). 

3)  An  die  möglichkeit  daclite  F.  Magnussen;  vgl.  die  w.  u.  im  text  genannte 
schrift  desselben. 

4)  Dieselben  sind  auch  unter  dem  titel  „Synisbok  isleukrar  tungu  —  i  fornöld" 
erschienen. 

20* 


308  WILKEN 

der  betreffende  teil  der  handschrift  wird  von  dem  kundigen  herausgeber  der 
mitte  des  14.  Jahrhunderts  zugewiesen.  Hier  heisst  es  s.  477  z.  23  fg.: 
Andromeda ,  döttü  Cephei,  kona  Persei,  sitr  i  mjölkhriug  ])ar  sein  v4r 
kqllum  Ulfs  kjqpt  i  vn'lli  fiska  ok  Cassiopeam  ok  „ariecenj"  med  prl- 
hyrningi  er  hün  hefir  at  haki  ser  usw.  Leider  lassen  die  worte:  Jmr 
sein  ver  kqllum  iilfs  kjqpt  es  nicht  ganz  deutlich  erkennen,  ob  ein  teil 
der  milchstrasse  selbst  oder  ein  Sternbild  in  der  nähe  derselben,  das 
dann  entweder  ganz  oder  teilweise  dem  antiken  sternbilde  Andromeda 
entsprochen  hat,  im  norden  mit  dem  namen  „Wolfsrachen"  bezeichnet 
wurde.  Die  an  und  für  sich  wol  mehr  sich  empfehlende  beziehung 
auf  ein  sternbild  wird  auch  durch  eine  zweite  stelle  derselben  hand- 
schrift, welche  partie  jedoch  um  vieles  älter  ist  und  um  1200  angesetzt 
wird,  bestätigt.  In  diesem  älteren  teile  finden  sich  einige  isländisch- 
lateinische glossen,  die  zuerst  für  sich  in  der  Ztschr.  f.  d.  phil.  IX, 
385  fg.,  dann  mit  dem  ganzen  ältesten  teile  der  hs.  in  der  ausgäbe 
von  Larsson:  Äldsta  delen  af  cod.  1812  4'°  gml.  kgl.  samling  Koben- 
havn  1883  (Samfund  til  udgiv.  b.  IX)  ediert  sind.  Hier  findet  sich 
s.  43  z.  30  als  glosse  für  Hyades  vlfs  keptr,  also  =  ulfs  kjqptr^  bei 
Gislason.  Wenn  ich  gleich  wol  bedenken  trage,  das  jüngere  zeugnis 
einfach  nach  diesem  älteren  zu  korrigieren,  so  beruht  das  auf  folgen- 
dem gründe. 

6.  Nicht  zu  verschweigen  ist  zunächst,  dass  der  erste  abdruck 
der  glossen  wie  bei  anderen  werten  so  auch  bei  idfs  keptr  eine  andere 
lesung  zeigte.  Da  jedoch  H.  Gering,  dem  wir  die  erste  genauere  kennt- 
nis  des  interessanten  denkmals  verdanken,  über  die  Schwierigkeit  der 
aufgäbe  und  die  beschränkte  zeit,  die  ihm  selbst  dafür  zu  geböte  stand, 
Ztschr.  f.  d.  phil.  IX,  s.  392  eingehend  berichtet,  so  dürfen  diese  ab- 
weichungen  nicht  befremden  und  wird  die  ausgäbe  von  Larsson  als  die 
neuere  und  allem  anschein  nach  mit  grösster  Sorgfalt  angefertigte  hin- 
sichtlich der  lesung,  wo  dieselbe  nicht  ausdrücklich  als  zweifelhaft  ange- 
geben ist,  vertrauen  verdienen.  Meine  zweifei  beziehen  sich  demnach 
nicht  auf  die  lesung,  sondern  auf  die  richtige  beziehung  des  wortes 
idfs  kepitr,  was  durch  einen  abdruck  der  nicht  umfangreichen  stelle, 
die  von  Sternbildern  handelt,  deutlich  werden  wird,  wobei  übrigens 
nicht  alle  abweichungen  des  textes  bei  G.  (Gering)  von  dem  bei  L. 
(Larsson)  aufgeführt  sind.  Die  zeilen  sind  nach  Ln.  nicht  in  spalten, 
sondern  quer  über  die  seite  zu  lesen. 

1)  Vigf.  führt  die  formen  keptr,  kjaptr  (älter  kjqptr)  und  keyptr  auf. 


DER   FENRISWOLF 

elix 

sinosura  ^ 

oge  2 

Ursa  maior 

Ui'sa  minor 

Aliriga 

ulfs  keptr^ 

VII  St.... 4 

arl  ^ 

Hyades 

Phjades 

Orion 

6 

ide^ 

sul)rst 

A7-cturus 

Aramec  ^ 

Tl'e^a 

kyndil  st 

idem 

...d.9 

Jfa6aio 

Canicula 
solii 

Sirius 

Al...ph.. 

Elyos 

Celum 

309 


Uranus'^'''  Ether  Aer 

Nicht  immer  wird  das  lateinische  wort  durch  ein  isländisches  glossiert; 
gleich  die  erste  zeile  zeigt  zwei  abweichungen,  vgl.  auch  w.  o.  sol 
=  Elyos.  Gegen  ende  des  denkmals  finden  sich  isländische  worte 
gar  nicht  mehr,  vgl.  anm.  12;  mögen  auch  einige  dieser  giossen  ver- 
blichen sein,  so  scheint  doch,  da  neben  20  lateinischen  jetzt  nur  7  isl. 
Worte  lesbar  sind^^,  von  anfang  an  wol  kaum  eine  gleichmässige  glos- 
sierung beabsichtigt  zu  sein,  vielmehr  neben  dem  hauptgedanken  ursprüng- 
lich griechische  oder  arabische  ausdrücke  durch  echt -lateinische  zu 
glossieren,    der  andere,  auch  einige  isländische  sternnamen  aufzuzeich- 

1)  =r  Cynosura  Ln.  (d.  h.  Larssons  notea  s.  51). 

2)  Walirscheinlicli  vagntoge  zu  lesen  Ln. 

3)  Nach  G.  VII  ... 

4)  Nach  G.  VII  st[ir]ni. 

5)  Nach  G.  fiosakarl. 

6)  Nach  G.  cuccyle  (auch  nach  Ln.  möglicherweise  cuccyle  {=  suculae  G.). 

7)  G.  idein,  nach  Ln.  vielleicht  so. 

8)  G.  Äranaec,  nach  Ln.  Äramee  wol  identisch  mit  dem  sternnamen  Alamec 
(in  der  Andromeda). 

9)  Nach  Ln.  wahrscheinlich  hundstirne  oder  -stiarna. 

10)  Alaba  =  alba  [daggryning  Ln.). 

11)  An  dieser  stelle  würde  sol  (so  G.)  das  Island,  wort  für  sonne  sein,  weil 
ein  accent  in  der  handschrift  sich  nur  bei  Island,  werten  zu  finden  scheint,  vgl.  L. 
s.  VII;  dagegen  wird  s.  39:  sunna  heiter  sol  (nach  dem  folgenden  Fispena  heiter 
mars,  Stilbon  h.  mercurms)  sicher  das  lat.  wort  gemeint  sein,  und  so  wahrschein- 
lich auch  hier,  da  bei  L.  der  accent  fehlt. 

12)  Über  Ur.  hat  nach  Ln.  keine  Island,  glosse  gestanden,  sondern  das  wort 
ist  als  synonym  mit  Celum  im  vorhergehenden  zu  fassen. 

13)  Zu  den  lat.  ist  suculae  (vgl.  anm.  6)  gerechnet,  sol  aber  weder  zu  den 
lat.  noch  zu  den  isl.  gezählt  (vgl.  anm.  11).  Übrigens  sind  einige  dieser  7  namen 
auch  nur  Übersetzungen  aus  dem  lat. ,  vgl.  die  folgende  anm. 


310  WILKEN 

neu  sich  in  mehr  sekundärer  weise  geltend  gemacht  zu  haben.  Diese 
ansieht  wird  gestützt  durch  vergleichuug  des  jüngeren  abschnittes  der- 
selben handschrift,  den  Gislason  edierte  (vgl.  §  5).  Hier  finden  sich 
neben  reichlich  50  lateinischen  oder  einfach  aus  dem  lateinischen 
übersetzten  bezeichnungen  von  Sternbildern  nur  noch  3  oder  4  altnor- 
dische^; dass  die  kenntnis  derselben  mit  jedem  Jahrhundert  sich  ver- 
minderte, ist  begreiflich,  aber  selbst  um  1200  wird  kaum  ein  islän- 
discher gelehrter  noch  eine  vollständige  kenntnis  der  alten  sternnamen 
besessen  habend  —  Die  nur  beiläufige  einführung  der  nordischen 
namen  in  dem  jüngeren  denkmal  ergibt  sich  auch  daraus,  dass  sich 
dasselbe  als  Übersetzung  aus  einem  lateinischen  texte  deutlich  verrät 2; 
für  die  secundäre  geltung  der  isländischen  glossen  in  dem  älteren  mag 
die  analogie  der  glossenähnlichen  aufzählung  der  planetennamen  in  dem 
älteren  teile  der  hs.  s.  39,  z.  12  —  40,  2  sprechen.  Hier  steht  zunächst 
immer  der  aus  dem  griechischen  entlehnte,  daun  der  echt  lateinische 
name,  endlich  wird  der  nordische  erwähnt,  der  aber  in  diesem  falle 
nur  auf  gelehrter  konstruktion  beruht:  Mars  =  T^^r  usw. 

8.  Was  folgt  aus  diesen  bemerkungen?  Dass  wir  bei  dem  in 
§  7  wider  abgedruckten  glossenstücke  allen  grund  haben,  die  bezie- 
hung  der  einzelnen  glossen  sorgfältig  zu  prüfen;  wie  wenig  konsequenz 
in  der  anordnung  herrscht,  geht  schon  daraus  hervor,  dass  bald  das 
schwierigere  (griech.)  wort  über  dem  bekannteren  lateinischen  worte  steht, 
bald  umgekehrt,  z.  b.  sol  ühev  Elyos.  —  Dass  suculae  (vgl.  s.  309,  anm.  6), 
als  glosse  zu  dem  darunter  stehenden  Arcturus  gezogen,  der  astrono- 
mie  ins  gesiebt  schlägt,  ist  klar;  verbindet  man  es  mit  dem  darüber 
stehenden  Hyaclcs,    so  ist  man  in  der  sache  jedenfalls  im  rechte,  aber 

1)  So  wii'd  Ä^V?M<r,  kerruffjetir,  griäungr,  rütr,  vatnlcarl,  steinyeit  u.  a. ,  aber 
auch  ornir  (=  draco) ,  ßnngälkn  (--=  sagittarius)  und  {h)msa  =  delphinus)  Übersetzung 
aus  dem  lat.  sein,  da  überall,  wo  der  altnordische  ausdruck  wirklich  im  volkc  lebte, 
ein  seni  ver  kqllum  hinzugefügt  ist;  freilich  erregt  selbst  hier  einiges  den  verdacht 
der  entlehnung,  so  breSramark  neben  gemini  477,  8  und  cetu  z.  15  (=  etu^  auch 
der  läge  nach  zu  dem  krippchen  im  Sternbild  des  krebses  stimmend).  So  bleiben  im 
gründe  nur  vagn,  kvennavagn  (476,  8)  und  iilfs  kjqptr;  denn  auch  VIT  stirni  ist 
wol  kaum  für  ursprünglich  zu  halten ,  da  die  angebliche  siebenzahl  der  Plejaden 
schon  von  den  alten  betont  wird. 

2)  Neben  den  einheimischen  scheinen  aber  auch  die  griechischen  und  arabischen 
namen  um  1350  minder  bekannt  zu  sein  als  um  1200. 

3)  Während  i  milli  bei  nordischen  Wörtern  den  gen.  regiert,  folgt  bei  solchen, 
die  aus  dem  lateinischen  text  übernommen  sind,  mehrfach  (nicht  immer)  der  acc, 
von  dem  vorhergehenden  inter  des  lateinischen  gruudtextes  abhängig,  vgl.  477,  16 
*  milli  krabba  ok  meyjar  mit  19  i  m.  liram  ok  Cassio'peam ,  24  i  in.  fisca  ok  Cas- 
siopeam.     ÄhnUch  auch  til  Andromedani  (=  ad  Andr.  478,  7). 


DER    FENRISWOLF  311 

WOZU  gehört  nun  ulfs  keptr?  —  Liest  mau  die  zeileu  von  liuks  uach 
rechts,  so  sind  die  beiden  „idem"  mir  unverständlich;  liest  man  umge- 
kehrt, so  ist  nun  wenigstens  in  dem  einen  falle  geholfen:  Sirius  [hund- 
stirnc,  vgl.  anm.  9);  idem  Canicula.  —  Auch  die  bezeichnung  sup7-- 
sfjari/a^  würde  dem  am  südlichen  himmel  sich  zeigenden  Sirius, 
allenfalls  dem  Orion  zukommen  können;  als  glosse  zu  Wec/a  gezogen, 
scheint  sie  widerum  nicht  an  ihrem  platze.  Mag  einzelnes  dieser  art 
auf  verseilen  des  Schreibers  beruhen,  so  scheint  die  ursprüngliche  an- 
ordnung  des  Stoffes  schon  durch  die  gelegentliche  aufnähme  einiger  alt- 
nordischer Worte  in  das  griech. -lateinische  glossar  verdunkelt  Avorden 
zu  sein. 

9.  Diese  bedenken  sollen  jedoch  den  wert  des  schon  durch  sein 
alter  so  merkwürdigen  denkmals  nur  vor  unkritischer  Überschätzung 
sichern;  da  namentlich  die  beiden  ersten  zeilen  sonst  durchaus  richtige 
angaben  enthalten,  sind  wir  nicht  berechtigt  ?dfs  heptr  als  nordische 
bezeichnung  eines  Sternbildes  anzufechten;  tritt  dieser  angäbe  doch  die 
bei  Gislason  Prover  s.  476,  24  bestätigend  zur  seite.  Dass  dort  ein 
anderes  sternbild  diesen  namen  erhält,  beweist  die  Unabhängigkeit  des 
jüngeren  berichtes.  Für  welche  erklärung  soll  man  sich  aber  entscheiden? 
Beide  angaben  ganz  zu  vereinigen  könnte  nur  in  ganz  gewaltsamer 
weise  versucht  werden  2;  sobald  wir  aber  ulfs  keptr  als  an.  glosse  zu 
Hyades  (lat.  glossiert  durch  suculac)  fassen  und  bei  diesen  auch  an 
Aldebaran  und  die  zu  den  hörnern  des  stieres  gerechneten  Sterne  den- 
ken, so  erhalten  wir  widerum  ein  die  milchstrasse  berührendes  stern- 
bild (köpf  des  stieres),  nicht  eben  weit  von  der  Andromeda  entfernt^. 
Da  die  nähe  der  milchstrasse  in  dem  Jüngern  denkmal  so  nach- 
drücklich betont  wird   (vgl.  §  5),    ist  dieser  umstand  sicher  nicht  ohne 

1)  Das  wort  über  Wega  ist  nicht  deutlicli  zu  lesen;  scheint  aber  ungefähr  so 
gelautet  zu  haben. 

2)  Es  müsste  dann  Äramec  =  Älamec  gefasst  (vgl.  anm.  8)  und  mit  ulfs 
keptr  verbunden  und  dieses  als  glosse  zu  dem  fremden  worte  betrachtet  werden. 

3)  Je  näher  die  Sternbilder  sich  stehen,  desto  leichter  ist  natürlich  die  Über- 
tragung des  namens  von  dem  einen  auf  das  andere  denkbar.  Ist  die  ältere  angäbe 
die  richtigere,  so  empfiehlt  es  sich  wol  die  (nach  späterer  auffassung  an  den  hörner- 
spitzeu  des  stieres  stehenden)  sterne  ß  und  C  in  dem  sternbilde  des  stieres  als  die 
bezeichnung  der  beständig  gesperrt  erscheinenden  kiefern  des  „wolfes"  zu  fassen. 
Der  von  den  hörnern  eingefasste  räum  kann  füglich  als  ein  gegen  die  milchstrasse 
geöffneter  rächen  aufgefasst  werden.  Für  unnötig  halte  ich  es  etwa  auch  nach  dem 
rachensperrenden  Schwerte  am  himmel  zu  suchen;  zeigt  sich  ein  kiefer  immer  aufge- 
gesperrt,  so  muss  der  zusammenschluss  künstlich  verhindert  sein  und  so  lässt  sich 
das  sperrende  Schwert  leicht  hinzudenken;     dasselbe  gilt  von  dem  bände  Gleipuh. 


312  WILKEN 

gewicht;  die  möglichkeit,  dass  der  dem  maule  des  gefesselten  wolfes 
entströmende  scliaumfluss,  nach  dem  er  seinen  charakteristischen  bei- 
namen  Vänargandr  erhielt  i,  nicht  erst  dem  ausschmückenden  eifer 
skaldischer  dichtung,  sondern  bereits  dem  kerne  des  mythus  augehört 
habe,  darf  hier  nicht  verschwiegen  werden.  AVir  würden  dann  in  dem 
schaumfluss  Van  eine  alte  bezeichnung  der  milchstrasse  vor  uns  haben, 
älter  wahrscheinlich,  als  die  etwas  abstrakt  gefasste  bezeichnung  vetrar- 
hraut  (winterweg),  um  von  noch  jüngeren  benenn ungen  und  der  Über- 
setzung aus  dem  lat.  „lactea  via"  ganz  zu  schweigen.  Dass  die 
nähe  eines  flusses  immer  als  charakteristisch  für  den  ort  galt,  wo  Fen- 
rir  gefesselt  lag,  geht  aus  der  kurzen  andeutung  der  Lokas.  41,  1:  ulf 
ser  liggja  ärösi  fyrir  zweifellos  hervor;  der  ursprüngliche  schaumfluss 
ist  freilich  mit  der  zeit  nicht  nur  verdoppelt  (vgl.  cap.  V,  6  und  exe.  IIj, 
sondern  hat  wol  auch  die  Vorstellung  des  flusses  Amsvartnir  erst  ver- 
anlasst. 

10.  Als  völlig  gesichert  und  wesentlich  für  unsere  Untersuchung 
betrachte  ich  jedoch  nur  die  tatsache,  dass  der  am  himmel  von  den 
göttern  mit  geheimnisvollem  band  gefesselte  und  zum  beständigen  auf- 
sperren der  kiefern  genötigte  wolf  ursprünglich  das  Sternbild  ulfs  keptr 
bedeutete.  Das  wort  keptr  selbst  wird  vom  Fenriswolfe  sowol  82,  13 
wie  84,  6  und  11  (Gylf.  51)  mit  nachdruck  gebraucht;  wenn  au  diesen 
stellen  der  sing,  immer  nur  den  einen  halbkiefer  bezeichnet,  so  darf 
daraus  ein  einwurf  gegen  die  gegebene  erklärung  nicht  abgeleitet  wer- 
den. Dass  auch  der  sing,  den  gesamt-kiefer  (ober-  und  Unterkiefer) 
bezeichnen  konnte,  geht  aus  stellen  wie  svä  at  rifnaäi  kjaptrinn  (Grett. 
95.  Vigf.),  der  redensart  halda  kjapü  (=  maul  halten  ebd.)  und  dem 
komp.  fjardarkji'pir  (=  the  opening  of  a  fjord)  deutlich  hervor;  das 
letzte  belegt  überdies,  dass  kjqpir  recht  wol  auch  den  geöffneten  rächen 
(gesamtkiefer)  bezeichnen  konnte.  —  Es  handelt  sich  nun  darum,  von 
diesem  so  verstandenen  kerne  aus  alle  erweiterimgen  der  mythischen 
tradition  in  ihrer  sagen -historischen  entwickelung  zu  verfolgen;  hof- 
fentlich zeigt  es  sich,  dass  von  dem  gewonnenen  Standorte  nicht  nur 
einzelne  punkte,  sondern  alle  selten  der  entwickelung  sich  befriedigend 
erläutern  lassen.  Der  kern  des  mythus  ergibt  strenggenommen  nur  ein 
mythisches  symbol  (vgl.  kap.  I,  §  2);  als  punctum  saliens  für  die  per- 
sönliche auffassung  des  w^olfes  und  die  entwickelung  eines  dämonisch 
gefärbten  mythus  ist  die  schon  dem  kern  angehörige  Vorstellung  von 
dem  fi-eiwerden  des  gefesselten   wolfes    (vgl.  cap.  V,  §  7)    zur  zeit   des 

1)  Vgl.  c.III,  §9. 


DER    FENRISWOLF  313 


Weltunterganges  anzusehen;  konnte  man  ihn  sich  da  nicht  leicht  als 
nur  gewaltsam  der  freien  bewegung  beraubt  und  nun  von  rachedurst 
gegen  die  götter  beseelt  vorstellen? 


VII. 

Betrachtung  der  erweiterungen. 

1.  Hier  ist  vor  allem  die  aufmersamkeit  auf  drei  gebiete  zu 
richten:  die  teilnähme  des  gottes  T^r  an  der  fesselung,  die  beziehun- 
gen  des  dämonisch  aufgefassten  wolfes  zu  Loki  und  dem  sonnenwolfe, 
der  kämpf  des  befreiten  götterfeindes  mit  Ödinn  und  Yictarr^.  —  Was 
das  erste  gebiet  betrifft,  so  ist,  wie  schon  oben  bemerkt^,  Tfr  als  iilfs 
föstri  unvereinbar  mit  seiner  rolle  bei  der  fesselung;  man  könnte  dar- 
nach seine  teilnähme  an  derselben  entweder  verwerfen  oder  auch  hier 
lediglich  die  kühnheit  des  kriegsgottes,  der  blindlings  seine  rechte 
opfert,  finden;  letzteres  ist  etw^a  der  Standpunkt  der  Gylfag.  Wer  aber 
den  bericht  in  Gylf.  34  eingehend  prüft,  der  -wird  doch  eher  zu  dem 
umgekehrten  resultate  kommen.  Jener  höhn  der  götter  über  das  be- 
nehmen ihres  opferfreudigen  genossen,  den  42,  1  auszudrücken  scheint^, 
verrät  uns,  dass  eine  jüngere  zeit,  welche  im  stillen  dachte,  wie  sie 
die  götter  offen  ihre  gesinnung  ausdrücken  liess,  sich  in  die  handlungs- 
weise,  welche  Tyr  zeigt,  nicht  mehr  zu  finden  vermochte.  Ähnlich 
klingt  der  spott  Lokis  in  Lokas.  38,  3  —  4;  und  demselben  geiste  ent- 
sprungen ist  auch  der  versuch,  den  mutigen  kriegsgott  beim  letzten 
kämpfe  nicht  ganz  ohne  gegner  zu  lassen,  indem  man  ihn  dem  hunde 
Garmr  gegenüberstellte,  während  die  ehre  des  kämpf  es  mit  dem  wolfe 
vielmehr  Ödinn  zu  teil  ward.  Während  hier  (in  Gylf.  51)  bei  der  jün- 
geren Sagenbildung  der  ältere  gott  einfach  die  rolle  übernehmen  musste, 
welche  ihm  der  veränderte  volksgeist  noch  gönnte,  geriet  bei  dem  in 
seinen  grundzügen  älteren  berichte  in  Gylf.  34  der  ältere  gott  allmäh- 
lich in  eine  schiefe  Stellung  neben  dem  jüngeren,  der  durch  die  beschaf- 
fung  des  bandes  Gleipnir  seine  geistige  Überlegenheit  an  den  tag  zu 
legen   scheint.     Hier   ist  älterer    und   jüngerer    bestand    so    ineinander 

1)  Diese  gebiete  haben  uns  vorläufig  schon  in  cap.  IV,  teilweise  auch  V  beschäf- 
tigt; musste  das  resultat  dort  meist  ein  negatives  sein,  so  können  wir  jetzt  nach  dem 
in  cap.  VI  gewonnenen  Standpunkte  auch  positive  ergebnisse  hoffen. 

2)  Vgl.  cap.  V  §  5. 

3)  Vielleicht  gilt  der  höhn  zunächst  dem  wolfe,  aber  die  götter  scheinen  doch 
sehr  gleichgiltig  gegen  den  verlust  ihres  genossen  zu  sein. 


3 1 4  WILKEN 

gewirrt,    dass  eine  Scheidung  nur  für  die  hauptpunkte    wird    gelingen 
könnend 

2.  Der  Schlüssel  für  die  richtige  erklärung  liegt  sagengeschichtlich 
in  dem  yerständnisse  des  gottes  T^r  als  eines  älteren  germanischen 
himmelsgottes;  philologisch -exegetisch  in  der  richtigen  auffassung  des 
ausdrucke«  „zum  ptande  legen,  als  pfand  setzen",  der  sowol  Gylf.  25 
wie  34  in  einer  weise  hervortritt,  dass  es  sich  hier  um  keinen  neben- 
sächlichen zug  handeln  kann.  Nach  der  ersteren  seite  bedarf  es 
hier  nach  der  s.  197,  anm.  1  gegebenen  auseinandersetzung  nur  des 
erneuerten  hinweises,  dass  einst  auch  bei  den  Germanen  Tfr  eine  ähn- 
liche dominierende  Stellung  einnahm  Avie  Zevg  lei  den  Griechen  2; 
daraus  ergibt  sich  ohne  weiteres  ein  gewisses  eintreten  für  die  sache 
der  übrigen  götter,  ohne  dass  sich  darin,  wie  es  Gylf.  34  scheinen 
könnte,  ein  blinder  wagemut  verrät;  dass  Tyr  andererseits  nicht  etwa 
im  auftrage  oder  als  untergeordnetes  Werkzeug  Odins  handelt,  ist  selbst 
aus  dieser  getrübten  quelle  noch  ersichtlich.  Noch  mehr  wird  jener 
Vorwurf  der  tollkühnheit  widerlegt,  w^enn  man  sich  klar  macht,  was 
der  ausdruck  „zum  pfände  setzen",  wo  er  von  einer  gottheit  gebraucht 
wird,  eigentlich  bedeutet.  Man  erinnere  sich  zunächst  der  gewaltigen 
ausdehnung  der  redensarten  „ein  pfand  geben,  nehmen"  und  ähnlicher 
in  allen  germanischen  sprachen  des  mittelalters,  vgl.  Grinnn,  Rechtsalt. 
618  fg.,  für  das  mhd.  Sprachgebiet  besonders  Zarncke  im  Mhd.  wb.  II'', 
477,  Lexer  s.  v.  phajit;  für  das  nordische  gebiet  s.  die  wbb.  s.  v.  veä, 
veäja  und  pantr.  Im  sprachgebrauche  der  beiden  Edden  handelt  es 
sich  namentlich  um  den  unterschied,  ob  götter  oder  riesen  eine  wette 
eingehen;  diese  wagen  aufs  geratewol  selbst  das  haupt  und  verlieren 
es,  vgl.  Vaf{)r.  19,  3;  55,  3.  —  Den  Übergang  zu  den  göttern  zeigt 
Loki,  der  zwar  leichtsinnig  wettet,  sich  aber  durch  gewandtheit  zu 
retten  weiss  ^.  —    So  findet  sich   nun   bei   den  göttern  wol   auch  sonst 

1)  Aus  diesem  gründe  ist  die  frage  in  diesem  cap.  noch  einmal  im  zusammen- 
hange aufgenommen  worden. 

2)  Vgl.  ausser  älteren  belegen  (Grimm,  Myth.*  s.  162)  namentlich  Hoffory: 
Der  germanische  himmelsgott  (Eddastudien  I,  145  fg.)  und  die  dort  citierten  Schrif- 
ten. Über  die  Schicksale  des  gottes  bei  verschiedenen  indog.  Völkern  vgl.  Kuhn, 
Herabkunft  2  s.  6  fg. 

3)  In  der  erzählung  Skälda  35  ist  der  schluss  des  cap.  (von  pd  baä  dvergrinn 
112,  21  an)  als  spätere  erweiterung  zu  betrachten.  —  Von  einer  leichtsinnigen  wette 
der  hofleute  könig  Olafs  berichtet  Nornag.  |);ittr  c.  II  und  III;  beachte  hier  die  War- 
nung: veäiä  ekk'i  optar  viä  ökmma  incnu  usw.;  diese  art  des  wetteus  war  eben  die 
bei  unverständigen  übhche. 


DER   FENRISWOLF  315 

ein  wetten,  das  au  die  lauue  der  rieseu  oder  an  menschliche  Verhält- 
nisse erinnert^;  avo  aber  die  betr.  erzählung  echt- mythischen  Charakter 
zeigt,  da  ist  das  zu  „pfände  setzen"  der  götter  nicht  nur  ein  formell 
freiwilliges,  sondern  auch  ein  wolüberlegtes ,  bleibenden  verlast  aus- 
schliesseudes  handeln.  Wie  der  einhändige  Tyr  am  besten  dem  ein- 
äugigen Ödinn  sich  vergleichen  lässt,  so  bietet  auch  das  verpfänden 
des  auges  an  Mimir  die  passendste  parallele  für  die  Verpfändung  der 
band  an  den  Fenriswolf  (W.  Müller,  Altd.  rel.  224);  wie  jenes  wahr- 
scheinlich nur  die  momentane  Verschleierung  des  sonnenauges  durch 
eine  wölke  bedeutet 2,  die  für  den  himmelsgott  keine  wirkliche  einbusse 
ist,  ähnlich  steht  es  auch  mit  dem  verpfänden  der  band.  Die  tatsache, 
dass  Sternbilder  von  uns  meist  nur  bei  nacht  erblickt  werden,  verschob 
sich  vor  der  naiv -physikalischen  betrachtung  der  alten  zeit  dahin  ,  dass 
nur  in  der  nachtzeit  den  göttern  die  befestigung  der  gestirne,  speciell 
des  „Wolfsrachens"  am  himmel  möglich  gewesen  sei,  und  da  der  himm- 
lische lichtgott  wesentlich  tagesgott  war^,  so  musste  er  zur  nachtzeit 
irgendwie  geschwächt  sich  zeigen,  so  dass  das  verpfänden  der  band 
ursprünglich  avoI  das  zeitweise  verschwinden  des  tageslichtes  überhaupt 
bezeichnet*.  Denn  diese  band  scheint  eine  ähnliche  bedeutung  zu  haben 
wie  das  schwert  des  gottes  Freyr  in  dem  Gerdr-mythus^;  die  gewöhn- 
lich mit  dem  schwert  bewaffnete  band  des  gottes  wird  diesem  Schwerte 
selbst  gleichgesetzt  werden   können;    dies  aber  bedeutet  den  strahl  des 

1)  Vgl.  hier  namentlich  Skaldsk.  c.  17  (101,  6)  und  prosaeiuleitung  zu  Grm. 
z.  21  fg. 

2)  Während  man  meistens  von  dem  Widerschein  der  sonne  im  wasser  redet 
(so  auch  Mogk  im  Grundr.  der  germ.  phil.  I,  1047),  wobei  wol  gar  nach  ganz  jun- 
gen quellen  (z.  b.  Rimur  fi'ä  Vglsungi  I,  6).  dieser  Widerschein  als  ein  zweites  äuge 
gefasst  wird,  ist  der  ursprüngliche  sinn  wenigstens  beiläufig  zum  ausdruck  gebracht 
von  demselben  forscher  s.  1079:  „die  im  meer  oder  hinter  den  wölken  verschwindende 
sonne  mag  den  mythus  haben  entstehen  lassen."  —  An  die  wölke  möchte  ich  vor- 
läufig allein  denken.     (Kuhn,  Herabkunft  s.  117.) 

3)  Vgl.  s.  197,  anm.  2;  schon  Grimm,  Myth.*  161  sagt:  „an  den  begriff  des 
hinimels  grenzt  der  des  leuchtenden  tages." 

4)  Soweit  kann  ich  also  der  ansieht  "W.  Müllers,  Mannhardts,  Müllenhoffs, 
Hofforys  mich  anschliessen ,  die  aus  der  rolle  des  gottes  Tyr  dem  wolle  gegenüber 
den  schluss  zogen,  dass  letzterer  ein  wolf  der  „finsterniss"  sein  müsse;  vgl.  c.  IV,  7. 

•5)  Dieser  ist  von  Simrock,  D.  myth.  ^  s.  61  fg.  im  ganzen  wol  richtig  gedeu- 
tet; wie  „dieser  mythus  mit  dem  von  dem  letzten  kämpfe  ursprünglich  in  keiner  Ver- 
bindung stand^,  ebenso  wenig  trifft  die  auffassung  der  Lokas.  (39,  1),  wo  der  Ver- 
lust des  gottes  Tyr  als  ein  bleibender  aufgefasst  wird,  den  ursprünglichen  sinn  des 
mythus. 


316  WILKEN 

lichtgottes,    der    hier    kollektiv  zu  fassen  ist.     Ähnlich   auch   Schwartz 
{Poet,  naturansch.  II,  102);  doch  ist  ihm  Tfr  ein  gewittergott. 

3.  Dürfen  wir  hiernach  wol  annehmen,  dass  ursprünglich  bei  der 
fesselung  des  wolfes  T^r  etwa  die  rolle  einnahm,  welche  später  Ödinn 
erhielt,  so  sind  hier  doch  noch  einige  fragen  zu  erledigen.  Zunächst 
die:  ist  auch  das  zauberhafte  band  von  diesem  gotte  beschafft?  Dies 
zu  behaupten  sind  wir  nicht  berechtigt;  wenn  wir  aber  annehmen, 
dass  ursprünglich  nur  von  einem  bände  die  rede  w^ar  (vgl.  cap.  Y, 
§  6),  so  genügte  auch  völlig  die  angäbe,  dass  die  götter,  allgemeiner 
gefasst,  dies  gefertigt  oder  von  den  zwergen  sich  beschafft  hätten;  in 
Gylf  34  aber  soll  sich  Odins  Weisheit  als  die  letzte  Zuflucht  der  götter 
darstellen.  Ferner:  ist  die  auf  skaldische  quellen,  die  hier  aber  volks- 
tümlich gefärbt  scheinen,  zurückgehende  angäbe,  dass  dieses  band  aus 
6  (seitdem  auf  der  erde  angeblich  nicht  mehr  vorkommenden)  Stoffen 
gefertigt  sei^,  als  dem  kerne  angehörig  zu  nehmen  und  wie  ist  sie  zu 
erklären?  Ohne  die  betr.  angäbe  in  jeder  einzelheit  mit  bestimmtheit 
als  ursprünglich  in  ansprach  zu  nehmen,  glaube  ich  doch,  dass  wir  im 
ganzen  hier  auf  sicherem  boden  stehen;  auch  die  erklärung,  dass  ein 
aus  solchen  stoöen  gefertigtes  band  im  gewöhnlichen  Sprachgebrauch 
als  ein  „unsichtbares"  bezeichnet  würde,  wird  kaum  ernstlich  gefähr- 
det sein:  ist  hier  doch  das  negative  und  abstrakte  des  prosaischen  aus- 
drucks  in  der  spräche  des  mythus  glücklich  genug  überwunden  2. 

4.  Vielleicht  habe  ich  auf  den  einwurf  noch  zu  antworten:  kann 
ein  wolf ,  der  für  seine  Sicherheit  ein  pfand  begehrt  und  im  verlauf  des 
berichtes  auch  die  band  des  trügerischen  gottes  abbeisst,  als  ein  ursprüng- 
lich unpersönliches  wesen  gelten?  Doch  genügt  es  wol  daran  zu  erin- 
nern, dass  eine  gewisse  spielende  art  der  persönlichen  auffassung  auch 
unbelebten   mythischen  Symbolen '  gegenüber   zulässig  ist^;    wem   aber 

1)  Vgl.  ausser  cap.  V,  6  auch  Untersuch,  zur  Sa.  Edda  s.  114,  anm.  208. 

2)  Wem  eine  solche  erklärung  nach  analogie  des  Augusteischen  „ad  Kai.  Grae- 
cas  solvere"  nicht  in  den  sinn  will,  der  muss  entweder  an  einen  nebelstreif,  eine 
bandähnliche  reihe  kleiner  sterne  (wie  sich  z.  b.  im  sternbilde  der  Andromeda  ein 
sog.  plauetarischer  nebel  findet,  vgl.  A.  F.  Möbius,  Hauptsätze  der  astronomie  1890 
s.  108)  oder  er  müsste  mit  Schwartz  (Ursprung  der  myth.  s.  151)  an  den  blitzfaden 
denken,  „mit  dem  der  sturmeswolf  gefesselt  wird."  —  Aber  weder  kann  ich  ein 
wesen,  das  erst  bei  dem  untergange  der  weit  loszustürmen  beginnt,  als  sturmeswolf 
anerkennen,  noch  ist  die  blitzesfessel,  mit  der  auch  Zeus  (nach  II.  A,  400)  nur  gefes- 
selt werden  „sollte"  und  andere  götter  nur  für  beschränkte  zeit  gefesselt  wurden, 
besonders  geeignet  ein  ungeheuer  bis  zum  weltmitergange  festzuhalten. 

3). Vgl.  s.  162  anm.  1.  —  Wie  gross  jedoch  der  unterschied  zwischen  bloss 
poetischer  Personifikation  und  wirklich  lebend  gedachten  wesen  ist,    beweist  ein  ver- 


DKR    FENRISWOLF  317 

das  abbeissen  der  band  des  T;fr  denn  docb  zu  stark  sein  sollte,  dem 
steht  es  frei,  in  diesem  ziige  eine  erst  in  der  zeit  der  dämonischen 
auffassnng  des  wolfes  geschehene  vergröberung-  der  älteren  aussage  zu 
erblicken,  welche  den  gott  einfach  seine  band  verpfänden  Hess. 

5.  Zweifellos  gehört  dieser  späteren  zeit  alles  das  an,  was  die 
genealogische  Verknüpfung  mit  Loki,  der  Hei  und  dem  Midgardsormr 
beti'ifft.  Wie  schon  am  schluss  von  cap.  VI  angedeutet  wurde,  gieng 
die  dämonische  auffassung  in  diesem  falle  wol  sicher  von  der  Vorstel- 
lung aus,  dass  der  wolf  am  weltende  seine  fessel  brechen  werde.  So 
mochte  die  Weissagung  schon  Jahrhunderte  lang  gelautet  haben,  ohne 
dass  die  gemüter  besonders  dadurch  erregt  wurden;  erst  als  die  Vor- 
stellung vom  Weltuntergange  mehr  und  mehr  in  die  form  eines  erbitter- 
ten kampfes  der  götter  und  riesen  umgeschmolzen  wurde,  welcher 
Wechsel  wahrscheinlich  nicht  sehr  lange  vor  dem  beginne  der  wikin- 
gerzüge,  teilweise  noch  während  derselben  sich  vollzog,  erst  da  wurde 
der  gefesselte  wolf  für  den  fall  seines  freiwerdens  ein  gefürchteter  feind 
der  götter  und  der  von  diesen  bisher  beschützten  menschheit.  Diese 
lebhaftere  empfindung  verlieh  dem  bisher  nur  im  sinne  des  animismus 
belebten  wolfe  eine  etwas  vollere,  mythische  persönlichkeit  und  so  kam 
man  dazu,  sich  jetzt  auch  nach  einem  vater  und  nach  geschwistern  für 
dieses  enfant  terrible  umzusehen^;  es  war  der  augenblick  gekommen, 
„wo  das  mythische  bild  aus  der  anschauung  übergeht  in  die  tradition, 
wo  der  loslösungsprocess  von  dem  natürlichen  hintergrunde  anfängt 
und  es  gleichsam  zum  freien  eigentum  des  menschlichen  geistes  wird, 
der  die  in  demselben  liegenden  keime  nun  auf  religiösem  wie  histo- 
rischem       boden  verwertet."     (Schwartz,  Die  poet.  naturansch.  b.  II 

s.  XX.)  —  Jetzt  konnte  auch  erzählt  werden,  dass  dieser  wolf  in  Kie- 
senheim aufgewachsen,  mit  gewalt  den  göttern  zugeführt  sei  usw.^ 

6.  Aber  neben  der  genealogischen  Verknüpfung  zeigte  sich  uns 
bei  genauerer  betrachtung  des  mythus  in  cap.  V,  §  6  noch  eine  andere 
Verbindung,   ja  beinahe  Verschmelzung  des  wolfes   mit  Loki.     So  bald 

gleich  der  Schilderung  des  gefesselten  wolfes,  um  den  niemand . weiter  sich  kümmert, 
mit  der  des  gebundenen  Loki,  um  den  hass  und  liebe  nach  wie  vor  sich  bemühen 
(vgl.  cap.  V,  6;  VI,  2). 

1)  "Weshalb  mau  füglich  an  keinen  anderen  vater  denken  konnte  als  Loki,  ist 
cap.  IV,   1  dargetan  worden. 

2)  Zur  „loslösung  von  dem  natürlichen  hintergrunde*^  trug  in  diesem  falle  auch 
wol  der  so  vieldeutige  name  „wolf'  mit  bei;  selbst  da,  wo  man  die  beziehung  auf 
ein  Sternbild  noch  kannte,  entstand  albnähhch  zweifei,  welches  sterabild  gemeint  sei 
(vgl.  cap.  VI,  5). 


318  WILKEN 

nämlich  die  Vorstellung,  dass  das  gefesselte  tier  am  himrael  zu  suchen 
sei,  so  weit  verblasst  war,  dass  man  es  nur  noch  von  den  göttern  in 
ihrem  machtbereich  ^  gefesselt  wusste,  so  schwand  die  bestimmte  Unter- 
scheidung zwischen  diesem  gefesselten  wolfe  und  dem  von  den  göttern 
in  einer  felshöhle  gefesselten  „vater"  desselben  mehr  und  mehr,  so 
grundverschieden  auch  Ursachen  und  sonstige  umstände  in  beiden  fäl- 
len ursprünglich  waren-.  Nach  einer  seite  trat  eine  gewisse  ähnlich- 
keit  der  behandlung  ein:  wie  der  wolf  von  dem  unscheinbaren  bände 
Gleipnir,  so  wurde  Loki  mit  den  därmen  seines  sohnes  Narfi  gebun- 
den; in  beiden  fällen  erlangte  das  anfangs  weiche  band  erst  nach  der 
anlegung  härte  und  festigkeit^.  —  Wenn  diese  ähnlichkeit  sich  viel- 
leicht ohne  entlehnung,  nur  durch  anlehnung  an  populäre  Vorstellun- 
gen in  beiden  fällen  erläutert*,  so  verhält  es  sich  wol  anders  mit  jener 
fortsetzung  der  fesselung,  die  Gylf.  34  von  den  Worten  pä  töku  peir 
festina  an  (=41,  9  — 14)  zur  weiteren  Sicherung  des  werkes  noch 
glaubte  anfügen  zu  können.  Hier  erinnern  wider  die  beiden  steine 
GjqU  und  I'viti  in  Gylf.  34  an  die  drei  für  das  hindurchziehen  der 
därme  dui'chbohrten  eggsteina,  die  in  Gylf.  50  zur  Sicherung  des  gefes- 
selten Loki  dienen,  wie  denn  auch  in  dem  betreffenden  satze  in  c.  34 
(mehr  noch  in  der  parallel  stelle  Kph.  II,  s.  431)  die  lokalschilderung 
der  in  cap.  50  (=  80,  7  — 13)  sich  nähert.  Von  welcher  seite  die 
entlehnung  ausgieng,  kann  nicht  zweifelhaft  sein:  auch  wer  unsere  auf- 
fassung  des  am  himmel  befestigten  wolfes  nicht  teilte,  niüsste  aus  dem 
umstände,  dass  in  cap.  34  an  das  band  Gleipnir  noch  eine  andere  fcstr 
(bald  Gelgja,  bald  Hraeda  genannt)  angeknüpft  erscheint,  ersehen,  auf 
welcher  seite  künstliche  Verknüpfungen,  wo  die  ursprünglichere  fassung 
vorliegt. 

7.  Wenn  aber  die  Verknüpfung  des  „wolfes"  mit  Loki  im  wesent- 
lichen nur  im  hinblick  auf  den  dämonischen  Charakter  beider  und  die 
rolle,  welche  beide  im  Weltuntergänge  zu  spielen  hatten,  sich  vollzog, 
so  kann  für  eine  andere  Verbindung  sogar  eine  gewisse  lokale  grund- 
lage  angegeben  werden;  vgl.  cap.  lY,  §  6,  Erinnerte  man  sich  nämlich 
bei    dem  wolfe    noch  daran,    dass  er  am  himmel  zu  suchen  war,    so 

1)  Vgl.  über  das  heima  ia  Gylf.  34  oben  cap.  Y,  3. 

2)  Als  verschieden  nach  grund,  physischem  lokal  und  ursprünglich  auch  den 
niitteln  der  fesselung  sind  beide  mythen  schon  in  cap.  V.  6  nachgewiesen. 

3)  Vgl.  einerseits  in  G.  34  die  worte:  ok  er  hann  spyrndi  viä,  pd  haränaäi 
bandit  usw.  (=  41,  15,  16);  andererseits  in  c.  50  die  worte:  ok  tiräu  pau  bqnd  at 
jdrni  (=  80,  13). 

4)  Vgl.  Simrock,  D.  myth.^  s.  96. 


DER   FENRISWOLF  319 

musste  er  von  dem  augenblicke  dämonischer  auffassung  an  jenen  Wöl- 
fen bedeutend  näher  rücken,  die  man  sich  längst  als  der  sonne  und 
dem  monde  feindliche  ungeheuer  des  luftraumes  gedacht  hatte  ^.  Der 
starke  unterschied,  der  darin  lag,  dass  der  wolf  des  Feurir  am  himmel 
befestigt  war,  jene  wölfe  dagegen  widerholt  gegen  die  sonne  vorgin- 
gen, ja  nach  jüngerer  auffassung  dieselbe  unablässig  verfolgten 2,  konnte 
insofern  etwas  an  bedeutung  verlieren,  als  der  wolf  des  Fenrir  wenig- 
stens am  ende  der  tage  seine  freiheit  wider  erlangen  sollte.  Für  die- 
sen Zeitpunkt  ergab  sich  die  Verschmelzung  daher  am  einfachsten  und 
sie  ist  an  dieser  stelle  in  der  nordischen  mythologie  unserer  quellen 
nach  einer  seite  konsequent  durchgeführt'^;  für  die  früheren  momente 
begnügte  man  sich  oft  damit,  eine  genealogische  Verbindung  in  der 
weise  anzunehmen,  dass  der  wolf  des  Fenrir  zu  den  sonnenwölfen  in 
ein  ähnliches  Verhältnis  rückte,  wie  es  Loki  ihm  gegenüber  schon  ein- 
nahm. Scheint  es  gelegentlich  so,  als  ob  man  auch  für  diese  frühere 
zeit  eine  identificierung  des  „Fenriswolfes"  mit  dem  berühmtesten  son- 
nenwolfe,  dem  wolfe  Skoll,  versucht  habe,  so  ist  doch  die  fassung  der 
bez.  angäbe  wol  nicht  ohne  grund  recht  dunkel  und  zweideutig  ge- 
halten. 

1)  Nach  dem  grundsatze  „je  weiter  ein  mythus  (ohne  den  verdacht  künst- 
licher Übertragung)  ausgebreitet  sich  zeigt,  für  desto  älter  ist  er  zu  halten"  ist  der 
mythus  von  den  die  sonne  bedrohenden  wölfen  älter  als  die  meisten  göttennythen 
des  nordens,  da  er  nicht  nur  für  das  südgermanische  gebiet  sichere  Zeugnisse  besitzt 
(Grimm,  MythoL*  203),  sondern  verwandte  Vorstellungen  bei  den  entferntesten  Völ- 
kern sich  finden  (ebenda  588  fg.).  Andererseits  pflegen  diese  ältesten  Vorstellungen 
im  laufe  der  Jahrhunderte  in  den  litterarisch  tonangebenden  kreisen  entweder  zurück- 
gedrängt oder  doch  variiert  zu  werden:  dies  zeigt  sich  auch  bei  den  sonnenwölfen 
im  nordischen  gebiet.  Die  namen  der  beiden  wölfe  kennen  wir  nur  noch  aus  je  einer 
erwähnung  in  der  Liederedda  (Grm  39),  in  Gylfag.  12  und  in  der  Hervarars.  (ed. 
Bugge  246 :  Skalli  ok  Hatti) ;  die  Skälda  bietet  die  namen  nur  in  den  Nafna{)ulur  Kph. 
I,  591,  in  besserer  fassung  II,  484;  in  der  skaldischen  dichtung  war  zwar  die  Vor- 
stellung nicht  ganz  verschollen  (vgl.  z.  b.  hvelsvelgr  himins  Vigf.  s.  v.  svelgr,  Mül- 
louh.  V,  147),  aber  offenbar  veraltet.  Volkstümliche  ausdrücke  wie  solvarg,  soliilv 
wurden  mehr  und  mehr  zunächst  auf  die  im  norden  ziemlich  häufigen  nebensonnen 
bezogen,  nicht  auf  die  veranlasser  der  eigentlichen  Sonnenfinsternisse.  Dieses  auffäl- 
lige zurückweichen  der  ererbten  Vorstellung  lässt  schon  a  priori  eine  teilweise  Ver- 
mischung mit  jüngeren  mythengebilden  vennuten. 

2)  Seitdem  man  aufgehört  hatte  bei  jeder  Sonnenfinsternis  oder  nebensoone  die 
Vernichtung  der  sonne  zu  befürchten,  hielt  man  diese  phäuomene  doch  als  vorzeiclien 
künftiger  ereignisse  im  Systeme  fest  und  liess  vorläufig  sonne  imd  mond  tag  für  tag 
von  jenen  wölfen  verfolgt  werden,  denen  sie  schliesslich  unterliegen  sollten,  vgl. 
Gylf.  12. 

3)  Die  genaueren  nachweisungen  finden  sich  in  den  folgenden  §§. 


320  WILKEN 

8.  Dass  in  bezng  auf  die  letzten  kämpfe  der  götter  eine  Ver- 
schmelzung des  Fenriswolfes  mit  dem  sonnenwolfe  Skoll  stattgefunden, 
dass  der  erste  hier  an  die  stelle  des  zweiten  getreten  sei,  scheint  mir 
aus  folgenden  gründen  deutlich  hervorzugehen.  —  Grylf.  51  unterschei- 
det allerdings  den  Fenriswolf  von  den  beiden  Wolfen,  die  sonne  und 
mond  verschlingen,  was,  historisch  betrachtet,  ganz  richtig  ist;  aber 
wie  auffällig  ist  es  doch,  dass  die  götter  den  unholden  nicht  irgendwie 
entgegentreten!  Man  vergleiche  hier  die  art,  wie  Gylf.  42  der  baumei- 
ster,  der  sich  sonne  und  mond  als  lohn  ausbedungen  hatte,  von  pörr 
abgelohnt  wurde  (54,  14  W).  —  Der  kämpf  aber,  welchen  Ödinn  und 
Vidarr  gegen  den  Fenriswolf  kämpfen,  streitet  ganz  gegen  die  analogie 
der  übrigen  ragnarok- kämpfe.  Überall  sonst  erliegt  der  gott  ebensogut 
wie  sein  dämonischer  gegner^  und  die  sache  der  götter  siegt  nur  inso- 
fern, als  in  der  erneuten  weit  die  mächtigeren  götter  in  ihren  söhnen, 
einige  der  minder  mächtigen  selbst  wider  erscheinen  2.  Dass  in  dem 
götterkampfe  alle  götter  gefallen  sein  werden,  wird  Gylf.  52  zu  anfang 
mit  grösster  deutlichkeit  gesagt.  Aber  wie?  Nachdem  Ödinn  gefallen 
ist,  tritt  ja  sein  söhn  Vidarr  „sofort  darauf"  [pegar  eptir)  an  seine 
stelle,  bekämpft  den  wolf  mit  glück  —  und  scheint  die  weit  zu  über- 
dauern. Darnach  heisst  es  in  einer  der  neuesten  behandlungen  der 
Deutschen  mythologie^  anscheinend  korrekt:  „so  wird  denn  Vidarr, 
wenn  die  grossen  götter  gefallen  sind,  ihren  thron  einnehmen."  — 
Aber  diese  annähme  ist  voreilig.  Die  Vol.  lässt  allerdings  Yidarr  den 
vater  rächen  (54,  4),  deutet  aber  mit  keiner  zeile  an,  dass  Yidarr  auch 
nur  neben  den  str.  62  und  63  genannten  göttern  eine  rolle  in  der 
erneuten  weit  gespielt  habe.  In  VatJ)r.  51,  1  —  2  wird  freilich  gesagt, 
dass  Yidarr  und  Yali  die  heiligen  göttersitze  bewohnen  sollen,  wenn 
die  flamme  des  Surtr  erloschen  ist;  aber  diese  werte  heben  den  Yidarr 
nicht  einmal  vor  dem  sonst  so  wenig  genannten  Yali  hervor;  in  der 
zweiten  hälfte  der  strophe  werden  dann  noch  Modi  und  Magni  als  in 
der  erneuten  weit  an  die  stelle  ihres  vaters  I'orr  tretend  genannt;  daraus 
wird  wahrscheinlich,  dass  wie  bei  Modi  und  Magni  so  auch  bei  Yidarr 

1)  Nur  eine  scbeiubare  ausnähme  Lüdet  der  im  kämpfe  gegen  Freyr  über- 
lebende Surtr,  der  scbliesslich  die  weit  in  flammen  vernichtet.  Da  er  ein  feuerdäraon 
ist,  so  ist  anzunehmen,  dass  er  als  mit  der  flamme  selbst  ersterbend  gedacht  wurde; 
als  die  weit  überlebend  mag  ihn  nin*  eine  version  aufgefasst  haben,  die  Gylf.  52  in 
der  hs.  U  überliefert  ist.     (Vigf.  s.  v.  Surtr.) 

2)  Auf  die  frage,  weshalb  nicht  Ödinn,  l'orr,  Freyr  selbst  widererscheinon, 
ist  die  antwort  nicht  schwer  zu  finden,  doch  berühii  dies  die  vorliegende  Unter- 
suchung nicht. 

3)  Fr.  Kauffmann,  D.  mythol.-  s.  93. 


DER    FENRISWOLF  321 

in  Yafpr.  nur  an  ein  auftreten  in  Vertretung  des  gefallenen  vaters  zu 
denken  ist.  Dass  aber  Vutarr  nicht  gerade  als  princeps  deorum  au 
Odins  stelle  treten  sollte,  sondern  vielmehr  ein  neuer,  ungenannter 
gott  dies  amt  anzutreten  hatte,  geht  aus  einer  vergleichung  von  Vol.  65 
mit  Hyndl.  45  ganz  deutlich  hervor.  Nicht  übersehe  ich  schliesslich 
die  bemerkung  in  Gylf.  53:  VMarr  ok  Vali  Ufa,  svä  at  eigi  hefir 
scerimi  ok  Surtalogi  grandat  peim;  aber  diese  werte  sind  entweder 
einfaches  misverständnis  von  Yafjr.  51  (F.  ok  V.  hyggja  vc  go(7a,  pä 
er  sloknor  Surta  logi)'^  oder  sie  suchen  diese  angäbe  in  einklang  zu 
bringen  mit  der  aus  der  darstellung  von  c.  51  indirekt  sich  ergeben- 
den tatsache,  dass  Vidarr  im  kämpfe  nicht  wie  alle  anderen  götter  ge- 
fallen ist,  ohne  zu  bedenken,  dass  der  widersprach  gegen  c.  52  auf. 
(er  . .  dauä  qll  ...  guäin  ok  allir  eiiilierjar  ok  allt  mannfölk)  nur  um- 
somehr  ins  gewicht  fällt.  Man  wende  nicht  ein,  dass  ja  auch  Vali, 
Modi,  Magni,  Hoenir  am  leben  geblieben  sein  müssen;  hier  ist  der 
Widerspruch  lange  niciit  so  scharf,  da  die  genannten  götter  nicht  direkt 
am  kämpfe  teilgenommen  hatten.  Wenn  selbst  ein  menschenpaar  dem 
verderben  entgangen  sein  soll  (Vafpr.  45),  warum  nicht  auch  einige  göt- 
ter? Aber  die  am  kämpfe  beteiligten  mussten  doch  wol  alle  am  boden 
liegen,  ehe  Surtr  daran  denken  konnte,  die  weit  durch  feuer  zu  ver- 
derben (Gylf.  51  =  84,  14).  So  widerstrebt  der  kämpf  mit  dem  Fen- 
riswolfe  schon  mit  rücksicht  auf  die  rolle  Odins,  aber  weit  mehr  mit 
hinsieht  auf  diejenige  Vidars  der  analogie  aller  anderen  kämpfe,  die 
Gylf.  51  berichtet;  die  dissonanz  löst  sich  sofort,  wenn  wir  anerkennen, 
dass  dieser  kämpf  ursprünglich  eine  Sonnenfinsternis  meinte,  und  der 
Fenriswolf  mit  dem  wolfe  SkoU  die  rolle  getauscht  hat.  Für  diese  auf- 
fassung  sprechen  namentlich  folgende  gründe:  a)  der  ausdruck  gleypir 
(devorat)  wird  ebenso  von  dem  wolfe  gebraucht,  der  die  sonne  ver- 
schlingt, wie  von  dem  Fenriswolfe  Ödinn  gegenüber.  Da  bei  allen 
anderen  göttern  ein  erliegen  nach  rühmlichem,  zum  teil  nach  sieg- 
reichem kämpfe  berichtet  wird,  so  wäre  das  klägliche  Schicksal  des 
höchsten  gottes,  der  einfach  verschlungen  wird,  recht  auffällig,  wenn 
hier  nicht  eine  alte  vorläge  benutzt  ist,  welche  eigentUch  nicht  den 
letzten  kämpf  im  sinne  hat.  Dieses  auffällige  tritt  noch  etwas  drasti- 
scher in  Lokas.  58,  4  hervor:  ok  svelgr  allan  Sigfqäur,  doch  darf  diese 
Wendung   nicht  lediglich   aus    der    absieht    des    dichters,    humoristische 

1)  Die  angezogenen  worto  in  Vaf{)V.  enthalten  nünilich  gar  keine  aussage 
über  die  teilnalime  oder  nichtteilnahme  beider  götter  am  letzten  kämpfe  oder  ihre 
Schicksale  in  demselben,  sondern  beziehen  sich  lediglich  auf  die  zeit  nach  dem  erlö- 
schen des  weltbrandes. 


ZEITSCHRIFT    F.    DEUTSCHE    PHILOLOGIE.       BD.    XXVIIT. 


21 


322  WILKEN 

Wirkungen  zu  erzielen  (Hirschfelcl,  zur  Lokas.  47),  erklärt  werden,  da 
sie  sachlich  dem  besprochenen  ausdruck  der  Gylf.  gleichwertig  ist. 
ß)  dass  die  räche  für  den  getöteten  vater  trotz  der  analogie  aller  ande- 
ren ragnarok- kämpfe  sofort  erfolgt,  erklärt  sich  aus  dem  umstände, 
dass  eine  Sonnenfinsternis  nur  einige  stunden  zu  dauern  und  für  den 
menschen  mit  dem  gedanken  an  die  baldige  widerkehr  des  lichtes  ver- 
bunden zu  sein  pflegt,  y)  das  aufreissen  des  rachens  durch  Vidarr 
erinnert  Avider  daran,  dass  die  sonne  gewissermassen  einen  freien  aus- 
weg  gewinnen  sollte,  um  ihrem  gefängnisse  zu  entkommend 

9.  Nehmen  wir  an,  dass  jenes  auffällige  schweigen  über  ein  ein- 
treten der  götter  für  sonne  und  mond  sich  dadurch  erklärt,  dass  der 
kämpf  Odins  und  Vidars  gegen  den  Fenriswolf  im  gründe  eben  ein 
„kämpf  um  die  sonne"  war,  so  tritt  als  ö)  noch  ein  anderes,  für  sich 
allein  freilich  leichter  wiegendes  moment  hinzu:  bei  der  erwähnung  des 
Schuhes,  mit  dem  Vfdarr  in  den  rächen  des  wolfes  tritt,  heisst  es 
Gylf.  51:  pvi  shal  Jicivt  björum  hrott  kasfa  sä  maär,  er  at  pvi  vill 
hyggja  at  Jioma  äsummi  at  Udi.  —  AVas  haben  diese  werte  mit  einer 
Sonnenfinsternis  zu  tun?  Doch  soviel,  dass  auch  hier  der  bei  der 
naiv -populären  auffassung  einer  finsternis  am  himmel  immer  hervor- 
tretende gedanke,  dass  man  den  kämpfenden,  anscheinend  unterliegen- 
den lichtwesen  da  droben  zu  hilfe  eilen  solle-,  in  einer  allerdings  etwas 
veränderten  fassung  widerkelirt. 

10.  Aber  es  lassen  sich  für  die  vorgeschlagene  deutung''^  noch 
andere  Zeugnisse  beibringen,    deren  gewicht  dadurch   kaum  vermindert 

1)  Vgl.  die  belöge  für  ähnliche  vorstellungeu  bei  Grimm,  Mythol.*  s.  588, 
darunter  die  notiz:  in  alleu  kalcndern  werden  die  finsternisse  so  dargestellt,  dass 
zwei  drachen  sonne  und  mond  im  rächen  haben. 

2)  Vgl.  die  in  der  vorigen  anm.  citierte  stelle  aus  Grimm  sowie  Schwartz, 
Poet,  naturansch.  I,  215,  der  übrigens  die  Verdunkelung  der  sonne  im  gewitter  als 
die  eigentliche  grundlage  dieser  Vorstellungen  betrachtet.     (Urspr.  der  myth.  78  fg.) 

.3)  Bei  dieser  deutung  habe  ich  nur  auf  die  hauptfragen  gewicht  gelegt.  Dass 
Udinn  nicht  nur  luft-  uud  himmelsgott,  sondern  auch  speciell  Sonnengott  war,  ist 
u.  a.  von  Simrock,  D.  myth.-''  205  fg.  im  ganzen  richtig  nachgewiesen,  wenngleich 
ich  in  manchen  einzelheiten  abweiche.  —  Sollte  man  mir  vorhalten,  dass  nach  der 
gewöhnlichen  finsternis  ja  dieselbe  sonue  sich  wider  zeige,  nicht  eine  andere,  so  bil- 
det die  von  Schwartz  (Urspr.  72)  besprochene  ansieht,  dass  die  sonne  aus  dem  ge- 
wittei'bad  gleichsam  „verjüngt"  hervorgeht,  den  Übergang  zu  der  nur  wenig  kühneren, 
dass  nach  einer  gewaltsamen  katastrophe  ein  jüngeres  sonnenwesen  an  die  stelle  des 
älteren  tritt,  entweder  nur  im  sinne  der  erneuerung  wie  Vaftr.  47,  1  {eina  dottur 
berr  dlfrqCltdl  usw.)  oder  mit  dem  nebengedanken  der  räche  für  das  von  feinden 
besiegte  sonnenwesen,  so  in  dem  mythus  von  Baldr  und  Vali  nach  Vegtamskvida  11 
und  Hyndl.  30.     Dieser  letztere  mythus  kommt  dem  von  Odinn  =  Vidarr  am  nach- 


DER    FENRISWOLF  323 

wird,  dass  sie  nur  in  einem  teile  unserer  quellen  hervortreten;  gerade 
so  wird  es  am  deutlichsten,  dass  nicht  etwa  ursprüngliche  Identität 
oder  auch  nur  nahe  Verwandtschaft  des  Fenriswolfes  und  des  sonnen- 
wolfes  bestand  1,  sondern  dass  diese  gleichsetzung,  weil  sie  im  gründe 
auf  missverständnis  beruhte,  nur  langsam  sich  vollzog  und  niemals  zu 
harmonisclier  durchbildung  gelangen  konnte.  Die  vulgatauffassung,  die 
wir  in  §  7  und  8  besprachen,  blieb  gewissermassen  auf  halbem  wege 
stehen:  sie  übertrug  für  den  letzten  kämpf  die  rolle  des  sonnenwolfes 
auf  den  Fenriswolf,  liess  jenen  aber  als  verschlinger  der  sonne  an 
seinem  alten  platze;  kühner,  aber  durchaus  konsequent  verfährt  Yaf|)r. 
46  und  47  (und  darnach  Hrafnag.  Odins  23),  wo  der  Fenriswolf  auch 
als  verderber  der  sonne  genannt  wird-.  Nun  war  es  möglich  den 
kämpf  (3ctins  mit  dem  Fenriswolfe  als  ein,  wenn  auch  verspätetes  ein- 
treten für  die  gefährdete  sonne  aufzufassen;  ein  bedenken  wurde  in 
jener  späteren  zeit  darin  nicht  mehr  gefunden,  dasselbe  mythische  mo- 
tiv  in  doppelter  ausprägung  sich  folgen  zu  lassen^.  Aber  in  volks- 
kreisen  musste  die  erinnerung  an  die  alten  sonnenwölfe  doch  fester 
haften;  der  versuch,  sie  in  den  Fenriswolf  aufgehen  zu  lassen,  fand 
auch  wol  darin  eine  Schwierigkeit,  dass  in  den  „nebensonnen"  sich 
dem  äuge  deutlich  eine  Vielheit  von  wölfen  darbot*,  die  einem  mytho- 
logischen System  zu  liebe  auf  den  einen  Fenriswolf  zu  reducieren  doch 
nicht  wol  tunlich  erschien.  Ganz  hat  es  freilich  auch  nicht  an  dem 
versuche  gefehlt  in  wesen  gleicher  art,  den  Fenris  kincUr,  den  gefähr- 
lichen wolf  zu  vervielfältigen. 

11.  Ehe  wir  auf  diesen  versuch  näher  eingehen,  ist  die  frage  zu 
beantworten:  kennt  auch  die  Voluspä  jene  gleichsetzung  des  Fenriswol- 
fes mit  dem  sonnenwölfe  oder  nicht?  Str.  57,  1  scheint  dagegen  zu 
sprechen;  aber  gerade  diese  strophe  will  richtig  verstanden  sein.  Ihre 
poetische  Wirkung  beruht  zumeist  darauf,  dass,  nachdem  die  einzelnen 
mythen ,  welche  als  für  den  Weltuntergang  bedeutende  uns  vorgeführt 
wurden,  an  unserem  äuge  gleichsam  vorübergezogen  sind,  zum  schluss 

sten.  Über  Vidarr  vgl.  noch  Untersuch,  s.  118  anm.  222;  s.  132  fg.  —  Über  Yaff)r. 
47,  1  handelte  in  ähnlichem  sinne  schon  Müllenhoff,  D.  alt.  V,  127. 

1)  Ich  denke  hiei'  an  die  auffassung  des  Fenriswolfes  als  eines  sturniwolfes 
oder  eines  die  sonne  verschlingenden  wasserdämons  u.  ähnl. 

2)  Dass  cUese  darstellung  nicht  ursprünglich  sein  kann,  wurde  schon  cap.  IV,  5 
dargetan. 

3)  Der  kämpf  mit  dem  sonnengotte  Odinn  ist  natürlich  im  gründe  gleich  dem 
mit  der  unpersönlich  gefassten  sonne.  —  Doch  ähnliches  findet  sich  sonst,  vgl.  Mann- 
hardt,  Götterwelt  204. 

4)  Vgl.  s.  319  anm.  1. 

21* 


324  WILKEN 

noch  einmal  das  tliema  des  Weltuntergangs  zwar  mit  poetischer  kraft, 
aber  ohne  mythische  bildersprache,  gleichsam  als  physikalisches  gemälde 
uns  vorgeführt  wird  1.  Wenn  hier  also  von  der  sonne  nur  gesagt  wird, 
dass  sie  sich  verdunkelt,  so  darf  dies  doch  nicht  als  beweis  dafür  gel- 
ten, dass  der  VqI.  eine  gewaltsame  Vernichtung  der  sonne,  sei  es  durch 
Skoll  oder  Fenrir  ganz  unbekannt  sei;  der  ausdruck  fer  sortna  erin- 
nert zunächst  sehr  an  die  Wendungen  er  pä  kallat  so7"te  ä  solo  (hs. 
d  hüigle)  und  verdr  enn  shindoyn,  at  sorta  herr  ä  tnnglet,  mit  denen 
im  astronomischen  abschnitte  der  hs.  1812  (ed.  Larsson  37,  25;  38,  2) 
die  regelmässige  Verfinsterung  der  sonne  und  des  mondes  bezeichnet 
wird;  vgl.  auch  MüUenhoff,  D.  alt.  Y,  126  unten.  Der  ausdruck  der 
Vol.  will  also  das  Schicksal  der  sonne  am  weltende  gewissermassen  als 
eine  „chronische"  Sonnenfinsternis  bezeichnen,  und  wir  dürfen  erwar- 
ten, dass  in  anderen  partien,  wo  die  mythische  bildersprache  vorherrscht, 
auch  die  YqI.  uns  sei  es  einen  bericht,  sei  es  doch  eine  andeutung 
gibt,  wie  nach  dieser  andern  darstellungsweise  sich  das  Schicksal  der 
sonne  gestalten  wird.  MüUenhoff  hat  neuerdings  vermutet-,  dass  in  Yol. 
40,  4  der  betreffende  bericht  vorliege,  wobei  er  jedoch  gezwungen  ist 
tungl  in  dem  für  den  norden  ganz  ungewöhnlichen  sinne  „gestirn"  im 
allgemeinen  (hier  =  sonne)  zu  nehmen.  Diesem  Standpunkte  kann  ich 
aus  folgenden  gründen  mich  nicht  anschliessen :  1)  das  wort  tungl 
scheint  ursprünglich  die  bei  nacht  sichtbaren  fixsterne,  namentlich  die 
von  stärkerer  leuchtkraft,  zu  bezeichnen^;  2)  eine  Zusammenfassung 
dieser  fixsterne  mit  der  von  uns  ja  auch  als  fixstern  erkannten  sonne 
lag  dem  Standpunkt  nicht  nur  des  nordens,  sondern  der  älteren  zeit 
überhaupt  fern'^.     3)    die  Übertragung    des  wortes    auf   den    mond  hat 

1)  Die  poetische  kraft  dieser  und  der  als  gegenstrophe  zu  ihr  sich  darstellen- 
den Str.  59  hebt  auch  MüUenhoff,  D.  alt.  V,  28  hervor,  jedoch  ohne  den  specifischen 
unterschied  von  den  meisten  übrigen  Strophen  zu  beleuchten.  (Vgl.  dazu  s.  173, 
anm.  3.) 

2)  A.  a.  0.  125  fg. 

3)  Von  den  beiden  erldärungen ,  die  Grimm ,  My thol.  •*  584  zur  erwägung  stellt, 
zieht  Schade,  Altd.  wb.  s.  v.  •ximgal  wol  mit  recht  die  zweite  vor,  wonach  die 
(nächtlichen)  gestirne  (ursprünglich  aber  wol  nur  die  fixsterne)  von  ihrem  flammen- 
den, glitzernden  scheine  als  züngelnde  himmelsflammen  bezeichnet  wurden.  —  Wenn 
auch  Schade  die  sonne  nicht  direkt  ausschliesst,  so  erhellt  doch  der  gewöhnliche 
Sprachgebrauch  des  nordens  aus  stellen  wie  Gylf.  9  {sol  ok  himmtiingl  väru  seit) 
und  VqIss.  12  (=  170,  27  W:  pd  er  nott  eldir,  ef  fiir  sjäiä  eigi  himinUmgl)\  die 
ältere  bedeutung  ist  nämlich  im  nord.  kompos.  himintungl  erhalten;  vgl.  auch  die 
folgende  anm. 

4)  Wenn  in  astronomischen  schritten,  die  auf  lateinischen  vorlagen  beruhen, 
himintungl  im   sinne  unseres  „weltkörper "   begegnet   (s.   die  cap.  VI,  §5  erwähnte 


DER   FENRISWOLF  325 

kein  bedenken,  weil  für  die  mythische  auffassung  der  mond  gewisser- 
massen  als  könig  der  nacht,  als  fürst  und  führer  der  kleineren  fixsterne 
erscheint  ^  4)  auch  in  anderen  germanischen  sprachen  wird  das  wort 
tungl  im  ganzen  ähnlich  gebraucht,  von  der  sonne  nur  da,  wo  eine 
verwechseluug  gar  nicht  möglich  ist-.  5)  auch  die  folgende  strophe 
nötigt  nicht  zu  der  von  MüUenhoff  geforderten  auffassung.  Weshalb 
nämlich  in  dieser  strophe  nur  von  einem,  nicht,  wie  so  oft  (z.  b.  42, 
43)  von  mehreren  wesen,  die  irgendwie  Verwandtschaft  zeigen,  geredet 
werden  dürfte,  ist  schwer  verständlich;  der  mondwolf,  von  dem  41,  1 — 2 
handelt,  steht  jedenfalls  dem  Schicksal  der  sonne,  das  41,  3  —  4  be- 
sprochen wird,  nicht  so  fern,  dass  nicht  von  dem  einen  auf  das  andere 
in  derselben  strophe  übergegangen  werden  könne,  zumal  da  sich  so 
eine  passende  Steigerung  von  dem  kleinen  zum  grösseren  hiramelskör- 
per  ergibt.  Man  braucht  also  nicht  gerade  zu  meinen,  dass  „die  Verfin- 
sterungen der  sonne  von  dem  mondwolf e  herrühren",  wenn  man  tungls 
in  Str.  40  auf  den  mond  bezieht;  man  braucht  auch  nicht  die  Inter- 
punktion der  älteren  ausgaben  zu  ändern.  Ist  es  nämlich  richtig,  dass 
in  der  prophetischen  Schilderung  der  vala  ein  historischer  fortschritt 
sich  zeigt,  was  durchaus  Müllenhoffs  Standpunkt  ist,  so  dürfen  wir  in 
str.  41  ebensowenig  wie  in  40  an  gewöhnliche  sonnen-  und  mondfin- 
sternisse  denken^,  da  sowol  Baldrs  tod  wie  die  fesselung  Lokis  als 
schon  vor  einiger  zeit  (str.  33  —  35)  geschehen  uns  dargestellt  sind. 
Aus  welchen  gründen  str.  42,  43  in  Gjlf.  unberücksichtigt  geblieben 
sind,  kann  zweifelhaft  sein;  jedenfalls  stellen  aber  diese  ebenso  wie  die 
stefstr.  44  keinen  erheblichen  fortschritt  in  der  handlung  dar;  wir  sind 
somit  berechtigt  auch  str.  45  mit  40  und  41  näher  zusammenzufassen 
und  für  diese  Strophen gruppe  die  durch  44  deutlich  angezeigte  eschato- 
logische  beleuchtuug  im  ganzen  gelten  zu  lassen.  In  diesem  sinne  hat 
auch  der  Verfasser  von  Gylf.  51  die  sache  angesehen  und  str.  41,  3  kann 


ausgäbe  von  Larsson,  index  s.  v.  himejitungl) ,  so  hat  dies  für  den  eigentlich  nor- 
dischen Sprachgebrauch  keine  bedeutung;  nach  diesem  wurde  die  sonne  selbst  vom 
tage,  um  so  mehr  von  allen  andern  gestirnen  bestimmt  geschieden  (Gylf.  10  und  11). 

1)  Vgl.  Grimm,  Mythol.'*  nachtr.  zu  s.  602.  Zu  den  belegen  füge  noch  u.  a. 
Schwartz,  Poet,  natui-ansch.  I  reg.  s.  Sternenkönigin;  am  nächsten  liegt  uns  jetzt  in 
Schillers  par.  u.  rätsei  nr.  3  das  büd  vom  monde  als  dem  hirten  der  sternenherde. 

2)  Vgl.  z.  b.  für  das  ags.  Sprachgebiet  Leo,  Ags.  glossar  s.  198,  32  fg.  — 
Auch  der  nhd.  Sprachgebrauch  kann  zwar  die  sonne  „den  stern"  des  tages  nennen, 
aber  gewöhnlich  denkt  man  bei  dem  werte  „stern"  nur  an  die  bei  nacht  sichtbaren 
gestirne. 

3)  Der  ausdruck  sortna  au  und  für  sich  würde  dies  erlauben,  vgl.  den  anfang 
dieses  §. 


326  WILKEN 

dann  sehr  wol  für  sich  als  Schilderung  des  fimhulvetr  gelten  [ekki  iiytr 
solar;  J>eir  vetr  fara  prir  sanian,  ok  ekki  siimar  i  millum  (=  81,6  W). 
Mit  veär  qll  välynd  (41,  4)  wird  wol  schon  auf  das  thema  hingedeutet 
das  in  str.  45  {vindqld,  vargqld)  eine  reichere  ausführung  findet  i.  Sollte 
man  mich  fragen,  wie  bei  meiner  auffassung  sich  das  svqrt  verda  söl- 
skin  in  41,  3  zu  söl  ter  sortna  in  57,  1  verhalte,  so  ist  zu  erwidern, 
dass  str.  57  vor  allem  die  physikalischen  momente  noch  einmal  kollek- 
tiv hervorhebt  (vgl.  den  anfang  dieses  §);  der  historische  Standpunkt 
ist  insofern  gewahrt,  als  der  schluss  der  Strophe  auch  einen  fortschritt 
in  der  handlung  zeigt:  die  Vernichtung  der  weit  durch  teuer.  Für  den 
anfang  von  str.  57  ist  dagegen  teilweise  widerholung  bereits  frülier 
gegebener  data  anzunehmen-;  dass  in  söl  ter  sortna  an  und  fiü-  sich 
nicht  die  Vollendung  der  in  str.  41  geschilderten  Verfinsterung  liegen 
kann,  ist  deutlich  daraus,  dass  taka  c.  inf.  ja  das  „angreifen"  oder 
„anfangen"  bezeichnet;  es  ist  für  mich  also  lediglich  widerholung  des 
früheren  ausspruchs,  der  hier  aber  durch  seine  Verbindung  mit  anderen 
ragnarek-motiven  bedeutend  an  kraft  gewinnt,  so  dass  der  „chronische" 
Charakter  dieser  finsternis  jedem  leser  deutlich  werden  muss.  Jetzt 
erst  kann  idi  an  die  beantwortung  der  im  anfange  dieses  paragraphen 
aufgeworfenen  frage  denken.  —  Nach  der  gegebenen  deutung  wird  zwar 
nicht  die  Verfinsterung  der  sonne  dem  mondwolf  zugeschrieben,  aber 
str.  40,  41  behalten  so  lange  etwas  auffälliges,  als  man  annimmt,  dass 
in  str.  40,  3 — 4  sowie  in  41,  1  —  2  das  Schicksal  des  mondes  in  bild- 
lich-mythischer, in  41,  3  —  4  das  der  sonne  in  nicht- bildlicher  darstel- 
lung  uns  vorliege.     Der  Wechsel   beider  darstellungsformen  würde   erst 

1")  Gerade  MüUenhoff  wies  a.  a.  o.  141  darauf  hin,  dass  vindqld  und  vargqld 
„zusammen  dem  letzten  grossen  winter  angehören,  wenigstens  nach  der  bcschi'ei- 
bung  der  Gylf."  —  Aber  nach  dieser  müssen  wir  auch  str.  41,  3  —  4  ebenso  auf- 
fassen und  dürfen  hier  nicht  an  gewöhnliche  finsternisse  denken.  Der  ßmbiilvetr  ist 
wol  als  ein  potenzierter  nordischer  polarwiuter  aufzufassen,  seiner  Wirkung  nach  einer 
„chronischen"  Sonnenfinsternis  nicht  unähnlich,  weshalb  der  mythische  Standpunkt 
beide  motive  verschmelzen  konnte  unbeschadet  der  ganz  verschiedenen  physikalischen 
Ursachen. 

2)  AVas  die  Wendung  sigr  fohl  i  mar  betrifft,  so  besagt  sie  freilich  etwas 
melir  als  die  mythischen  Wendungen  in  str.  50  und  55,  die  das  anrücken  des  niiä- 
garäsormr,  des  dämonisch  aufgefassten  Weltmeeres,  gegen  die  götter  schildern,  aber 
jener  erstere  ausdruck  darf  nicht  zu  sehr  urgiert  werden,  da  strenge  genommen  vom 
Standpunkte  der  VqI.  aus,  welche  die  erde  in  str.  59  aus  dem  meere  wider  auftau- 
chen lässt,  die  Zerstörung  mit  einem  versinken  im  meei'e  abschliessen  müsste.  Schon 
MüUenhoff  a.  a.  o.  28  hob  hervor,  dass  in  dieser  strophe  der  dichter  „unbekümmert 
um  die  causahtät  des  hergangs  und  seines  Zusammenhanges  .  .  sich  begnügt  ein  erha- 
benes bild  für  die  anschauung  hinzustellen."' 


DER    FENRISWOLF  327 

dann  kunstgerecht  sein,  wenn  wir  in  40,  2  uns  an  die  auffassung  der 
Vaf|)r.  (46,  4)  in  der  weise  erinnern  dürften,  dass  wir  bei  dem  gen. 
Fenris  in  gedanken  ergänzen  „des  sonnenverderbers''.  Dann  ist  auch 
für  die  sonne  die  mythisch -bildliche  ausdrucksweise  soweit  gewahrt, 
dass  Avir  die  alleinige  hervorhebung  des  mythischen  ,,mondräubers" 
nicht  mehr  beanstanden  dürfen;  bei  der  nichtbildlichen  fassung  in  41, 
3  —  4  aber  wird  eine  besondere  betonung  des  mondes  neben  der  so 
viel  wichtigeren  sonne  nicht  notwendig  erscheinen  ^  Und  warum  sollte 
diese  auffassung  unmöglich  sein?  Dass  manche  gerade  der  älteren 
mythischen  züge  von  der  VqI.  nur  angedeutet,  nicht  eigentlich  erzählt 
werden,  ist  jedem  aufmerksamen  leser  des  gedichtes  bekannt,  so  steht 
es  z.  b.  auch  mit  der  fesselung  des  Fenriswolfes;  vgl.  die  freilich  nicht 
ganz  zu  meinem  Standpunkt  stimmende  darlegung  Müllenhoffs  a.  a.  o. 
139.  —  Ebenso  Avird  der  umstand,  dass  die  gleichsetzung  des  Fenris- 
wolfes mit  dem  sonnenwolf  nicht  dem  ursprünglichen  Standpunkte  ent- 
spricht"^, für  alle  diejenigen,  welche  in  der  Vol.  zwar  nicht  eine  nach- 
bildung  der  sibyllinischen  orakel,  aber  doch  eine  von  fremden  einflüssen 
nicht  ganz  unabhängige,  namentlich  aber  in  neuer  gruppierung  und 
beleuchtung  alt- einheimischen  Stoffes  sich  mit  glück  versuchende  dich- 
tung  zu  sehen  gelernt  haben  ^,  keine  beanstandung  der  oben  gegebenen 
auffassung  in  sich  schliessen. 

12.  Kehren  Avir  zu  den  §  9  schluss  erwähnten  Fenris  kindir  zu- 
rück, so  können  Avir  uns  jetzt  kürzer  fassen.  Das  Avichtigste  dürfte 
eben  dies  sein:  nachdem  einmal  das  „freiwerden  des  Avolfes"  zu  einem 
feindlichen  ansturm  auf  die  bisherige  weltordnung  gcAvorden  war,  durfte 
es  an  einem  kämpfe  zwischen  dem  hauptvertreter  derselben  und  dem 
Avolfe  nicht  fehlen.  Man  entlieh  dieses  kampfmotiv  aus  dem  sagen- 
schatze  des  älteren  „sonnenwolfes",  der  ja  gleichfalls  dem  himmelsraume 
angehörte,  worauf  sich  eine  gleichsetzung  des  Fenriswolfes  mit  dem 
sonnen Avolfe  in  manchen  kreisen,  doch  nicht  ohne  Widerspruch  gründ- 
licherer kenner  vollzogt.  Da  jedoch  dieser  sonneuAvolf  vielfach  in  einer 
raehrheit  von  wölfen,  die  gemeinsam  die  sonne  angreifen,  avoI  auch  in 
Verbindung  mit  einem  Verfolger  des  mondes  gedacht  Avurde,    so  schien 

1)  Es  ergibt  sich  vielmehr  so,  da  vorher  der  mond  eingehender  behaudelt  ist, 
ein  angenehmer  Avechsel  in  der  darstelluugsweise. 

2)  Vgl.  cap.  IV,  §  5. 

3j  Dass  die  feststelluag  der  richtigen  mitte  zwischen  den  exti'emen  ansichten 
über  alter  und  bedeutung  der  Vgluspä  noch  nicht  vollständig  gelungen,  ist  freilich 
zuzugeben. 

4)  Vgl.  die  cap.  IV  §  5  besprochene  haltung  des  autors  von  Gylf. 


328  WILKEN 

es  unerlässlich  aiieli  für  eine  solche  mehrheit  von  wölfen  räum  zu  las- 
sen, die  sich  jedoch  durch  die  bezeichnung  Fcnris  Miidir  demjenigen 
unterordnen  musste,  der  als  ihr  geistiger  vater  in  dem  sinne  gelten 
konnte,  als  in  ihm  das  princip  des  kampfes  gegen  die  alte  weltordnung 
am  deutlichsten  ausgeprägt  war.  Erleichtert  ward  diese  Vervielfältigung 
durch  die  analogie,  welche  die  Vervielfältigung  des  luftgottes  Ödiun  in 
den  valkyrjur,  später  auch  in  den  einher jar  darbot^;  auch  Loki  findet 
sich  in  Gylf.  51  an  der  spitze  der  HeJjar  sirmar,  Hrymr  als  führer 
der  hrimpursar,  Surtr  als  haupt  der  Milspellssynir.  Aber  eine  konse- 
quente durchbildung  dieser  jüngsten  mythenschichten  ist  nicht  mehr 
erfolgt 2;  aus  der  wüsten  masse  jener  i^ewns  kindir  oder  fiflmegir,  wie 
VqI.  51,  3  sie  selbst  oder  sehr  ähnliche  wesen  nennt,  ragt  nur  eine 
gestalt  besonders  hervor,  der  tungls  tjügari  (VqI.  40),  dessen  identität 
mit  dem  mdnagarmr  in  Gylf.  12  nicht  zu  bezweifeln  ist,  sobald  man 
tu7igl  dem  herrschenden  sprachgebrauche  gemäss  übersetzt.  Auf  die 
weitere  frage:  Ist  indnagarmr  auch  dem  wolfe  Hati  gleichzusetzen? 
wird  die  antwort  im  nächsten  capitel  gegeben  werden. 


Till. 

Rückblick   und   Umschau. 

1.  Die  cap.  III  §  6  ausgesprochene  Zuversicht  auch  ohne  rück- 
sicht  auf  die  etymologische  bedeutung  des  wertes  Fenrir  den  mythus, 
der  an  diesen  namen  sich  knüpft,  erklären  zu  können,  hat  mich  hof- 
fentlich   nicht    getäuscht:     wir    haben   in   der    drohenden   gestalt   eines 

1)  Vgl.  s.  192,  anm.  3. 

2)  So  ist  es,  mir.  allerdings  wahrscheinlich,  dass  die  Heljar  sinnar  in  Gylf.  51 
mit  den  fiflmerjir  in  Vol.  51  (jene  freilich  von  Loki,  diese  vom  Fenriswolf  geführt) 
ziemlich  zusammenfallen,  da  in  beiden  fällen  nur  der  gegensatz  gegen  die  scharen 
der  götter  ins  gewicht  zu  fallen  scheint,  aber  beweisen  lässt  es  sich  nicht.  Auch  ist 
nicht  zu  übersehen,  dass  der  am  himmel  befestigte  wolf  natürlich  zunächst  dämonen 
des  luftraumes,  der  in  der  erde  gefesselte  LoM  scharen  der  unter  weit  mit  sich  füh- 
ren wird.  Der  einwurf  Lünings  (zu  Vol.  50)  „Hels  bleiche  schatten  können  nicht 
kämpfen "  erledigt  sich  durch  genauere  betrachtung  des  prosaischen  Sprachgebrauchs 
in  Wendungen  wie  Heljm-mad^'  u.  ähnl.  (vgl.  Vigf.).  Liegt  in  solchen  ausdrücken 
schon  christlicher  einüuss  vor  oder  nicht?  —  Der  oben  besprochene  mangel  an  kon- 
sequenz  ist  am  deuthchsten  darin  zu  erkennen,  dass  selbst  die  relativ  systematische 
darstellung  in  Gylf.  zwar  ein  rüsten  der  einJierjar  zum  kämpfe  gegen  den  wolf  (cap. 
51  =r  83,  12;  vgl.  Grm.  23,  4)  und  ebenso  ein  gefallensein  derselben  (c.  52  =  87,  4) 
berichtet,  aber  eine  teilnähme  am  kämpfe  nirgend  erwähnt.  Wie  leicht  konnten  sie 
den  f'iflmeyir  im  gefolge  des  wolfes  gegenübergestellt  werden! 


DER   FENRISWOLF  329 

„Wolfsrachens"  am  himmel  das  mythische  symbol  gefunden.  Frühe 
dämonisch  gefärbt,  zeigte  der  wolf  ui-spriinglich  neben  feindlicher  hal- 
tung  gegen  die  himmlischen,  die  ihn  so  ohne  mitleid  gefesselt,  mehr 
noch  bedrohung  der  hilflosen  menschenweit  nnter  ihm;  vgl.  Eiriksm.  6, 
Häkonarm.  20.  Auf  Island  erst  scheint  die  einreihung  eines  götter- 
kampfes  mit  dem  wolfe  in  die  reihe  der  andern  ragnarok -kämpfe  sich 
vollzogen  zu  haben,  vgl.  cap.  V,  letzte  anm.,  wogegen  das  zeugnis  der 
VqI.  nicht  entscheidet,  vgl.  die  angeführte  anm.;  überdies  sind  die  von 
Müllenhoff,  D.  alt.  Y,  9,  11  usw.  angeführten  gründe  für  norwegische 
heimat  der  echten  Strophen  mir  nie  überzeugend  gewesen.  —  Noch 
bleibt  das  s.  188,  anm.  2  zu  ende  gegebene  versprechen  einzulösen: 
die  bez.  frage  noch  einmal  von  einer  andern  seite  ins  äuge  zu  fas- 
sen. In  der  tat  stellt  sich,  sobald  ulfs  keptr  als  name  eines  Stern- 
bildes nachgewiesen  ist,  die  in  cap.  II,  §  3  angeführte  tatsache,  dass 
einfaches  ulfr  in  der  Liederedda  (ähnlich  aber  auch  in  den  andern 
quellen)  häufiger  sich  findet  als  Fenris  ulfr,  in  ein  neues  licht:  die 
Vermutung  ist  jetzt  nicht  abzuweisen,  dass  als  eigentlicher  name  ulfr 
früher  ebensogut  üblich  war,  wie  der  ausdruck  „wagen"  für  das  Stern- 
bild am  himmel  ursprünglich  genügte;  der  zusatz  Fenris  würde  sich  dann 
ähnlich  verhalten  wie  zu  reiä  hinzugetreten  ist  Bognis^,  zu  altschwed. 
wagen  ein  Karle'-^  zu  nhd.  „wagen"  der  erläuternde  gen.  himmels-; 
bei  dem  grossen  und  kleinen  baren  scheint  ein  solcher  zusatz,  der  das 
erscheinungsgebiet  derselben  deutlicher  bestimmte,  noch  jetzt  entbehrlich 
zu  sein.  Die  erklärung  eines  beinamens  kann  nicht  dieselbe  bedeu- 
tung  beanspruchen  wie  die  des  hauptnamens,  der  uns  jetzt  ganz  deut- 
lich ist;  bei  jenem  wäre  zwar  die  möglichkeit,  dass  Fenrir  als  name 
eines  gottes  oder  riesen  ursprünglich  gemeint  sei,  a  priori  nicht  ausge- 
schlossen; es  hat  sich  uns  dafür  aber  nicht  der  geringste  anhält  erge- 
ben. So  scheint  einzig  das  erscheinungsgebiet  des  ulfr  ernstlich  in 
betracht  zu  kommen  und  nur  die  wähl  zu  bleiben,  ob  der  „Inmmel" 
im  ganzen  oder  jener  besondere  teil  desselben  gemeint  sei,    nach  dem 

1)  Sigdr.  1.5.  • —  Die  beziehung  auf  den  grossen  bär  nimmt  z.  b.  Vigfüsson 
an,  der  in  der  betreffenden  strophe  noch  mehr  sternnamen  vermutet  (Corp.  poet.  I, 
29  vgl.  469). 

2)  Ähnlich  auch  engl.  Charles  uain,  Grimm,  Myth.'*  604;  dieser  ist  geneigt, 
an  Odinn  oder  I'orr  (nach  einer  altschwed.  chronik)  als  älteren  besitzer  zu  denken; 
da  aber  in  den  stjqrnumqrk  ed.  Gislason  (44  Pr0ver  s.  476)  neben  dem  einfachen 
vagn  (=  ursa  maior)  kvennavagn  =  ursa  minor  gebraucht  ist,  so  ist  wol  karlavagu 
als  grundform  für  Charles  wain  anzusetzen.  Den  gen.  pl.  vagna  (=  ursarum)  bie- 
tet Sn.  Edda  Sk.  cap.  23. 


330  WILKEN 

auch   der  einzige,    dem  „wolfe"   sonst  noch  speciell  zukommende  bei- 
name,  nämlich    Vcuiargandr,  gebildet  ist  ^. 

2.  Vielleicht  befremdet  es  einige  leser,  dass  bisher  noch  nicht 
auf  YqI.  57,  2:  hverfa  af  kimni  heütar  stjqrnur  als  beleg  dafür  hin- 
gewiesen ist,  dass  das  verschwinden  oder  verdunkeltwerden  der  gestirne 
auch  der  nordischen  Vorstellung  als  einer  der  wichtigsten  faktoren  des 
Weltunterganges  galt.  Man  hat  freilich  diesen  in  unseren  quellen  bei 
oberflächlicher  betrachtung  etwas  vereinzelt  dastehenden  ausspruch  der 
Seherin  als  entlehnung  aus  einigen  stellen  des  neuen  testamentes  be- 
trachten wollen-;  aber  zu  einer  solchen  annähme  werden  wir  um  so 
weniger  gezwungen  sein,  je  mehr  wir  im  stände  sind,  die  betreffende 
Vorstellung  nicht  nur  als  eine  allgemein  menschliche,  somit  auch  dem 
norden  nicht  fremde  3,  sondern  dieselbe  auch  in  ihrer  älteren,  specifisch 
nordischen  ausprägung  nachzuweisen,  wo  dann  der  bildliche  ausdruck 
nicht  fehlen  darf.  So  betrachtet,  weist  die  betreffende  verszeile  der 
Vol.  nur  den  verblassten,  jüngeren  ausdruck  neben  dem  älteren,  noch 
in  lebendiger  bildersprache  gehaltenen,  den  andere  quellen  uns  bewahrt 
haben  in  der  fassung:  „der  Fenriswolf  stürzt  sich  entfesselt  auf  die 
Wohnungen  der  menschen"  ^.  Allerdings  ist  in  diesem  falle  der  kon- 
struierenden mythenzeit  die  Zusammengehörigkeit  des  unbildlichen  und 
bildlichen  ausdrucks  ganz  entgangen;  sonst  würde  der  autor  von  Gylf., 
der  in  c.  51  (82,  5)  richtig  die  Überflutung  der  erde  durch  das  nieer 
auf  das  gebahren  des  miägaräsormr  zurückführt,  d.  h.  im  gründe  hier 
zwei  verschiedene  darstellungsweisen  desselben  faktums  ahnt,  und  der 
für  den  unbildlichen  ausdruck  in  Vol.  57,  1 :  söl  ter  sortna  mit  recht 
die  ältere  bildliche  ausdrucksweise  eintreten  lässt  (81,  11),  sicher  hier 
ebenso  wie  in  den  angeführten  fällen  verfahren  sein.  Aber  da  er  sich 
verleiten  liess  ,82,1  das  verschwinden  der  sterne  gewissermassen  als 
folge  der  katastrophe,  die  über  sonne  und  mond  ergangen,  hinzustel- 
len, während  VqI.  57  beide  momente  durch  das  dazwischentretende 
sigr~  fold  i  mar  deutlich  trennt,  so  war  er  nun  genötigt,  als  physische 
grundlage  für   das  freiwerden  des  wolfes  jene  erdbeben  heranzuziehen, 

Ij  Vgl.  cap.  III,  §  9.  —  Da  schon  iu  der  s.  18'2  amn.  4  citierten  stroplie  des 
Eyvindr  das  schwert  als  rachensperre  des  wolfes  erwähut  ist,  darf  wol  auch  der 
dadurch  verursachte  geiferfluss  als  altbegründet  gelten. 

2)  So  SchuUerus  (Paul  u.  Braune,  Beitr.  12,  267  fg.)  und  E.  H.  Meyer,  Vö- 
luspa  s.  212. 

3)  Dies  ist  der  Standpunkt  von  Hoffory  (Eddastudien  I,  126  fg.). 

4)  Hakonarmal  20. 


DER   fENBISWOLF  331 

die  er  selbst  c.  50   (=  80,  19)  mit  grösserem  recht  auf  die  Zuckungen 
des  in  der  erde  gefesselten  Loki  zurückgeführt  hattet 

3.  Leichter  noch  wird  die  vorgeschlagene  erklärung  eingang  fin- 
den, sobald  wir  erkennen,  dass  derselbe  gedanke  auch  einem  andern 
mythus  zu  gründe  liegt,  dessen  deutung  noch  einfacher  ist.  Bei  dem 
schifFe  Naglfar,  das  erst  am  ende  der  Avelt  flott  wird,  ist  bereits  von 
einigen  forschern,  wenn  auch  mit  zweifei,  an  ein  sternbild  gedacht 
worden  2,  Da  nach  nordischer  Vorstellung  die  weit  durch  wasser  und 
feuer  zu  gründe  geht,  letzteres  aber  nach  VqI.  57,  4  bis  an  den  him- 
mel  schlägt,  so  ist  der  gedanke  nicht  wesentlich  kühner  zu  nennen, 
dass  auch  die  meereswogen  so  hoch  schlagen  und  das  sternbild  nun 
von  der  flut  davongetragen  wird.  Der  name  selbst  bietet  in  diesem 
falle  gar  keine  Schwierigkeit,  sobald  man  sich  erinnert,  dass  eine  ver- 
gleichung  der  steme  mit  goldenen  oder  silbernen  nageln  aus  alter  zeit 
vielfach  bezeugt  ist^;  das  „nagelfahrzeug"  war  somit  kein  unpassender 
name  für  ein  sternbild*.  Die  Verwirrung,  welche  namentlich  der  be- 
richt  in  Gylf.  zeigt,  rührt  daher,  dass  man  hier  bei  nagl  nicht  an  gold- 
oder  silber-nägel,  sondern  an  den  nagel  des  menschlichen  körpers 
dachte;  so  gelangte  man  zu  der  bizarren  Vorstellung  eines  aus  den 
unbeschnittenen  nageln  verstorbener  erbauten  fahrzeuges.  Dies  schiff 
Hesse  sich  allerdings  mit  den  auch  sonst  bezeugten  totenschiffen^ 
vergleichen;  aber  diese  sind  fertig  und  stehen  in  dienst  lange  vor  dem 
untergange  der  weit.     Andererseits  ist  auch  die  von   Grimm  versuchte 

1)  Die  Worte  pd  verär  Fenristilfr  lauss  (82,  5)  köunen  noch  unmittelbar  zum 
vorhergehenden  satze  gezogen  werden,  oder  man  muss  zu  dem  gedanken,  dass  alle 
fessehi  und  bände  dann  sich  lösen,  in  den  folgenden  sätzen  drei  beispiele  finden:  das 
losbrechen  des  Fenriswolfes,  das  wüten  des  meeres  über  die  ihm  gezogene  grenze 
hinaus,  das  flottwerden  des  Schiffes  Naglfar.  —  Der  nächste  grössere  absatz  beginnt 
dann  mit  den  werten  I  pessum  gni/  (82,  18). 

2)  So  von  F.  Magnussen  (Lex.  mythol.  s.  v.  Naglfari):  N.  :=  clavatum  navi- 
gium  sive  clavi  forma  apparens,  unde  cometae  bene  foret  adaptandum;  hae  stellae 
mala  cuncta  portendere  putabantur.  —  Aber  bei  einem  kometen  fällt  gerade  das  wich- 
tigste vergleich ungsglied  fort,  die  unbeweglichkeit  bis  zum  Weltuntergänge.  An  einen 
fixstern  hatte  ich  daher  schon  Untersuch,  zu  Sn.  Edda  s.  131  a.  gedacht,  bei  nagl 
allerdings  mehr  an  einen  glänzenden  gegenständ  überhaupt,  wozu  der  schwertname 
Nar/lfari  (Sn.  Edda  Kph.  I,  566)  stimmen  würde,  doch  vgl.  die  folgende  anm.  — 
Nahe  meiner  jetzigen  auffassung  kommt  die  von  Wislicenus  Symb.  von  sonne  und  tag 
s.  81,  82,  wo  jedoch  einigen  nebenzügen  zu  viel  gewicht  beigelegt  wii'd. 

3)  Belege  namentlich  bei  Schwartz,  Poet,  naturansch.  I  reg.  s.  sterne  =  nägel. 

4)  Ich  erinnere  an  die  Argo  oder  das  „schiff"  unserer  astronomie. 

5)  Vgl.  Henne,  Deutsche  volkssage  s.  448  fg.  —  Über  Noreens  erklärung  vgl. 
s.  332  anm.  4. 


332  WILliEN 

deutiing^,  als  ob  der  kern  des  mythus  in  dem  gedanken  liege,  der 
Weltuntergang  sei  noch  fern,  so  lange  das  verderbliche  schiff  nicht  fer- 
tig gebaut  sei,  schwerlich  der  ursprüngliche.  Davon,  dass  der  bau  des 
Schiffes  noch  im  werden  sei,  weiss  auch  Gylf.  nur  an  der  einen  stelle 
zu  berichten,  wo  der  w^unsch,  eine  pflicht  gegen  die  verstorbenen  ein- 
zuschärfen, den  mythologischen  Standpunkt  wol  etwas  verschoben  hat 
(c.  51;  =  82,  8  — 11);  an  einer  frühern  stelle  (c.  43)  heisst  es  einfach, 
dass  es  das  grösste  schiff  sei  2.  Auch  an  der  späteren  stelle  findet  auf- 
merksame betrachtung  leicht,  dass  der  hauptgedanke  des  Schriftstellers, 
der  82,  3  —  4  auf  die  Sprengung  aller  bände  und  fesseln  im  naturleben 
hingewiesen  hatte,  nur  darauf  gerichtet  war,  in  dem  freiwerden  des 
Fenriswolfes,  dem  ungehemmten  ansturm  des  Midgardsormr,  endlich 
dem  loskommen  des  schiffes  iSTaglfar  gewissermassen  die  mythische  bil- 
dersprache  an  die  stelle  der  physikalischen  betrachtung  zu  setzen ,  nicht 
aber  zu  einem  anderen  gedankenkreise  sich  zu  wenden.  Auch  ist  der 
autor  nach  seiner  moralistischen  abschweifung  (über  abschneiden  der 
nägel)  genötigt  noch  einmal  ausdrücklich  das  „flottwerden"  des  schif- 
fes anlässlich  der  grossen  Überschwemmung  zu  betonen;  mehr  hatte  er 
auch  in  seiner  quelle  (Yol.  50,  4)  nicht  gefunden.  Es  erscheint  mir 
nun  unmöglich,  dies  so  stark  betonte  flottwerden  als  mit  der  Vollen- 
dung des  Schiffes  zeitlich  nahe  zusammenfallend  zu  denken;  dann  würde 
gerade  die  endliche  Vollendung  als  solche  betont  worden  sein;  jetzt 
müssen  wir  wol  an  ein  schiff'  denken,  das  schon  Jahrhunderte  auf  das 
flottwerden  geharrt  hat.  Im  gründe  scheint  auch  J.  Grimm  dieser  an- 
sieht nahe  zu  stehen,  wenn  er  die  beiden  sätze:  „Fenris  ülfr  wird  los; 
Naglfar  flott"  als  sätze  verwandten  Inhaltes,  welche  zusammen  die  Sig- 
natur des  beginnenden  Weltunterganges  zeigen,  aneinander  rückte  End- 
lich kommt  in  betracht,  dass  auch  der  Gylf.  10  als  erster  gemahl  der 
nacht  uns  genannte  Naglfari  ohne  jede  Schwierigkeit  als  ein  persönlich 
aufgefasstes  Sternbild  sich  erklären  lässt^. 

1)  Myth.^  679  aum.  4  und  nachtrag. 

2)  Dieselbe  angäbe  findet  sich  allerdings  von  dem  Schilfe  Baldrs  in  c.  49  (= 
75,  13).  Darf  man  aus  der  Zusammenstellung  mit  dem  wolkenschiffe  Skidbladnir 
in  c.  43  aber  nicht  so  viel  schliessen,  dass  es  sich  auch  bei  Naglfar  um  ein  wirk- 
lich der  anschauung  entnommenes,  also  echt  mythisches  motiv  handeln  muss?  Ein 
schiff  aus  menschennägeln  wäre  nur  für  eine  allegorie  geeignet.  —  (Vgl-  cap.  I,  §  18.) 

3)  A.  a.  0.  679. 

4)  Ygl.  den  ähnlich  gebildeten  Mundüfari,  der  als  vater  der  sonne  und  des 
mondes  z.  b.  Vaf{)r.  23,  1  genannt  wird;  auch  hier  ist  wol  an  ein  gestirn  oder  den 
himmel  selbst  zu  denken.  Letzterer  ansieht  sind  F.  Magnussen,  ^Eldi'e  Edda  IV,  262 
und  Vigfüsson  s.  v. ,  der  wol  mit  recht  an  mqmlull  (=  handle,  espec.  of  a  haudmill) 


DER    FENRISWOLF  333 

4.  Lassen  wir  diese  erklärung  als  richtig  gelten,  so  erhalten  wir 
ein  schönes  seitenstück  zu  jener  des  Fenris-mythus.  In  beiden  fällen 
Imt  der  umstand,  dass  gestirne  aus  der  klasse  der  fixsterne  erst  am 
Aveltuntergange  ihren  festen  platz  verlieren,  zu  einer  anknüpfung  an  die 
ragnarok-mythen  und  so  zu  einer  dämonischen  auffassung  anlass  gebo- 
ten. Diese  äussert  sich  in  dem  einen  falle  nur  darin ,  dass  die  feinde 
der  götter  das  flottgewordene  schiff  zum  angriff  gegen  die  alte  welt- 
ordnung  benutzen;  in  dem  anderen  falle,  wo  die  gestalt  eines  wolfes 
in  betracht  kam,  lag  der  gedanke  sehr  nahe,  diesen  wolf  selbst  in  die 
schar  der  götterfeinde  einzureihen,  beseelt  von  dem  wünsche,  für  die 
Schmach  so  langer  fesselung  an  den  alten  göttern  räche  zu  nehmen.  — 
Diesen  beiden,  wie  ich  glaube,  völlig  gesicherten  gestirnmythen  lässt 
sich    vielleicht    noch    ein    dritter    mythus    anreihen,    der    sonst    grosse 

eiiunert.  Sollen  wir  aber  darum  an  die  Umdrehung  des  hinimels  denken?  wussten 
die  alten  von  derselben?  AVahrscheinlich  ist  Mundilfari  ein  alter  name  der  sonne 
selbst,  vgl.  eap.  III,  §  5.  Jedenfalls  ist  der  Naglfari  in  Gylf.  10,  der  erste  geniabl  der 
Nütt,  die  hier  durchaus  nicht  in  diimonisoher  auffassung,  sondern  als  mutter  der 
erde,  des  tages  erscheint,  eher  geeignet  ein  licht  auf  die  erklärnng  des  wortcs  zu 
werfen,  als  der  schwertuame  Naglfari,  der  unter  ca.  170  andern  in  den  Nafna{)ulur 
(Kph.  I,  566)  begegnet.  Dass  von  so  viel  namen  nicht  alle  wirklich  bedeutsame  sein 
können,  liegt  auf  der  band;  neben  mistilteinn  (ebd.  564),  Hoddmimir,  Brimir,  Fäf- 
nir,  Niähqggr  befremdet  auch  Naglfari  nicht  (vgl.  s.  331  anm.  2),  welches  wort 
Noreen  (Altuord.  gramm.'-  §251,  3)  übersetzt  „der  zwischen  leichen  fährt".  Die 
ebenda  gegebene  geistvolle  deutuug  für  Naglfar  ^  totenschiff  Hesse  sich  sachlich  mit 
meiner  oben  gegebenen  darlegung  wol  vereinigen,  da  dieses  schiff,  das  erst  am  Welt- 
untergänge flott  wird,  wol  weder  aus  holz  noch  aus  menschennägeln  gebaut  ist  und 
jedenfalls  einem  sternbilde  näher  stehen  müsste  als  dem  bekannten  „fliegenden  Hol- 
länder", dem  gespensterschiff  späterer  zeit,  das  von  H.  Heine  wegen  seines  unstäteu 
umherfahreus  dem  „ewigen  Juden"  verglichen  (Grimms  wb.  s.  v.  Holländer)  und  von 
Nork,  Myth.  der  volkss.  939  fg.  auf  luftspiegeluugen  zurückgefülirt  wird.  —  Verdanke 
ich  den  hinweis  auf  die  von  mir  übersehene  stelle  Noreens  einem  freundlichen  winke 
H.  Gerings,  so  ist  mir  ein  anderes  bedenken  nachträglich  selbst  aufgestossen.  Die 
gewöhnliche  spräche  unterscheidet  nagl  =  unguis  von  nagli  =  clavus;  wäre  nach 
der  oben  gegebenen  erklärung  nicht  Naglafar  zu  erwarten?  Aber  entweder  ist  diese 
Unterscheidung  der  älteren  spräche  fremd  gewesen  oder  sie  ist  wenigstens  für  die 
komposita  nicht  strenge  durchgeführt,  vgl.  naglfastr  =  naglafastr  (Vigf.)  —  Gerade 
die  spätere  geltung  von  nagl  =  unguis  hat  vielleicht  die  auffassung  von  Gylf.  51 
veranlasst.  —  Es  erscheint  mir  also  nicht  geboten  die  oben  gegebene  auffassung,  die 
den  analogien  des  betreffenden  mythol.  gebietes  gerecht  wird  (vgl.  s.  331  anm.  3),  noch 
zu  verändern,  am  wenigsten,  wenn  Noreen  nicht  an  ein  wirklich  den  naturreichen 
angehöriges  gebilde,  sondern  an  ein  „totenschiff"  der  phantasie  gedacht  halben  sollte, 
etwa  mit  der  bestimmung,  die  beim  Weltuntergänge  sterbenden  in  sich  aufzunehmen. 
Einer  solchen  allegorie  kann  ich  einen  platz  unter  den  älteren  mythen  nicht  einräu- 
men, vgl.  cap.  I,  §  18. 


334  WILKEN 

Schwierigkeiten  bietet,    wenn  niclit   eine   ähnliche   erklärung  platz  grei- 
fen darf. 

5.  Wenden  wir  uns  nunmehr  zu  der  am  ende  von  cap.  VII  auf- 
geworfenen frage.  In  der  stefstrophe  der  Vol.,  die  zuerst  als  str.  44 
(bei  Sijmons),  zuletzt  als  str.  58  begegnet,  heisst  es  zu  anfang:  Geyr 
nü  Garmr  mjqk  fyr  Onipahelli.  l^ach  dem  zeitworte  geyja  (=  bellen) 
zu  schliessen  und  nach  dem  ausdrücklichen  Zeugnisse  der  Grra.  44,  4: 
en  hunda  (oeztr  er)  Garmr  haben  wir  an  einen  hund  zu  denken.  Wes- 
halb ist  er  aber  der  beste  hund?  Auf  diese  fi-age  antwortet  Müllen- 
hoff  V,  138:  weil  er  in  das  reich  der  Hei  allein  die  ihr  verfallenen 
und  angehörigen  eingehen  und  keinen  wider  heraus  liisst.  —  Sollte 
hier  nicht  die  erinnerung  an  den  griech.  KiQßsgog  in  die  nordische 
mythologie  eingetragen  sein?  Der  autor  von  Gylf.  berichtet  in  c.  51: 
J)d  er  ok  lauss  ontinn  hundrinn  Garmr,  er  hiindinn  er  fijrir  Gnipa- 
helli;  hann  er  ü  mesta  forad;  hann  d  vig  moti  Ty  ok  verär  hvdrr 
odrum.  cd  skada.  Dass  die  letzte  angäbe  nur  eine  ziemlich  junge 
ausschmückung  des  letzten  kampfes  sei,  ist  schon  mehrfach  (z.  b.  von 
Simrock,  D.  myth.  ^  121)  mit  recht  behauptet  worden;  wenn  aber  dieser 
gelehrte  fortfährt  „einen  hund  namens  Garm,  der  die  kette  sprengen 
und  an  dem  kämpfe  teil  nehmen  könnte,  gibt  es  gar  nicht",  so  kann 
ich  dieser  ansieht  nur  soweit  folgen:  zu  den  alten  Überlieferungen  des 
nordens  gehört  der  hund,  als  Wächter  der  hölle  aufgefasst,  schwerlich; 
schon  das  schweigen  von  Gylf.  34  (=  38,  9  — 13),  wo  der  haushält  der 
Hei  ausführlich  registriert  wird^,  fällt  hier  ins  gewicht.  —  Aber  darum 
sind  wir  durchaus  nicht  berechtigt  den  autor  von  Gylf  seine  Weisheit 
nur  aus  einem  mis Verständnis  der  oben  erwäiniten  stefstrophe  schöpfen 
zu  lassen  und  uns  selbst  mit  einer  gleichsetzung  von  Garmr  und  Feri- 
rir  zu  beruhigen.  Gegen  diese  Vermischung  hat  Müllen  hoff  a.  a.  o.  mit 
vollem  recht  Verwahrung  eingelegt;  als  hund  (nicht  als  wolf)  bezeichnet 
wird  Garmr  zweifellos  namentlich  Grm.  44,  4.  Aber  brauchen  wir  das 
attribut  (xxtr  an  dieser  stelle  für  mehr  zu  halten  als  der  ,, namhafteste, 
bekannteste"?     Mehr  wissen  wir  jedenfalls  noch  von  ihm  als  von  dem 

1)  Unter  dem  angeführten  hausgerät  findet  sich  zwar  manches,  das  nur  als 
allegorie  aus  jüngerer  zeit  zu  betrachten  ist,  aber  daneben  fehlt  es  nicht  ganz  an 
älteren  zügen  (vgl.  z.  b.  Simrock,  Myth. '  s.  .804),  wozu  ich  namentlich  Fallanda 
foraä  als  name  des  (rasch  zuschlagenden)  tores  reclme,  das  aus  so  viel  sagen  und 
märchen  bekannt  ist,  ursprünglich  aber  wol  der  tür  des  wolkenberges  angehört 
(Grimm,  Myth.-*,  811  fg.,  vgl.  Schwartz,  Urspr.  177).  Nachträglich  fällt  mir  das  noch 
reichere  register  Frd  hibylum  Heljar,  das  cod.  A  (=  748)  darbietet,  wider  in  die 
äugen  (Kph.  II,  494);  hier  findet  sich  u.  a.  auch  ein  hund  der  Hei  angeführt,  aber 
nicht  Garmr  genannt,  sondern    Vaningi,  (wol  zu  vanr  =  got.  wans). 


DER   FRNRISWOLF  335 

habicht  Häbrök,  der  an  derselben  steile  mit  auszeichnung  genannt 
ist;  jüngere  Vorstellung  mag  in  beiden  fällen  zu  gründe  liegen.  Gleich- 
wohl halte  ich  den  hund  Garmr  nicht  für  eine  blosse  erfindung  jünge- 
rer zeit^;  auch  die  möglichkeit  eines  bereits  in  Vol.  und  Grm.  vorlie- 
genden misverständnisses  oder,  was  dasselbe  besagt,  einer  allmählichen 
Verschiebung  älterer  Vorstellung  kommt  in  frage. 

6.  Wenn  ich  an  den  (nur)  in  Gylf.  10  erwähnten  Mänagarmr 
hier  erinnere,  so  wird  die  frage  anscheinend  noch  verwickelter.  Denn 
was  Gylf.  von  ihm  berichtet,  ist  inhaltlich  so  bedeutsam,  dass  man  für 
diesen  unhold,  der  offenbar  dem  tungls  ijügari  in  VqI.  40,  4  entspre- 
chen soll,  anscheinend  mit  recht  nach  dem  geläufigeren  namen,  der 
sich  anderswo  finden  müsse,  gesucht  hat.  Zwei  gleichsetzungen  sind 
namentlich  versucht  worden:  a)  mit  dem  hunde  Garmr,  h)  mit  dem 
wolfe  Hati,  der  häufig  als  »verschlinger  des  mondes  aufgefasst  wird.  — 
Gegen  a)  hat  sich  Sirarock  s.  24;  gegen  die  häufiger  (so  auch  von  Sim- 
rock)  angenommene  gleichsetzung  mit  Hati  neuerdings  Mogk  (in  Pauls 
Beiträgen  VI,  526  fg.)  nicht  ohne  begründung  ausgesprochen.  —  Von 
beiden  gleichsetzungen  ist  die  sub  a)  lautlich  die  näher  liegende.  Das 
kompositum  Mänagarmr  lässt  sich  doppelt  auffassen:  einmal  kann  garmr 
nach  dem  bei'ühmtesten  hunde  die  gattimg  hund  überhaupt  bezeichnen ; 
der  mondhund  kann  dann  sehr  wol  die  bezeichnung  eines  den  mond 
verfolgenden  wolfes  sein.  Andererseits  kann  aber  auch,  ähnlich  wie 
iilfr  (=  wolf  am  himmel)  durch  den  davortretenden  genet.  Fenris,  so 
Garmr  durch  das  davortretende  Mäna  nur  näher  bestimmt  sein,  ohne 
dass  ein  anderes  wesen  gemeint  wäre.  Folgen  wir  dieser  analogie,  so 
liegt  freilich  die  frage  nahe:  wie  kann  Garmr,  der  nach  Gylf.  51  gefes- 
selt vor  einer  felshöhle  liegt,  mit  dem  den  mond  verschlingenden  Mä- 
nagarmr identisch  sein?  Dass  Garmr  schliesslich  frei  wird,  berichtet 
zwar  auch  Gylf.,  aber  damit  ist  er  noch  nicht  im  stände  von  seiner 
felshöhle  aus,  die  Müllenhoff  wol  nicht  mit  unrecht  an  den  eingang 
der  unterweit  verlegt,  den  mond  anzugreifen.  Eine  lösung  des  Wider- 
spruches ergibt  sich  für  den  leser,  der  den  vorhergehenden  capiteln 
innerlich  gefolgt  ist,  sehr  bald.  Bei  dem  hunde  Garmr  hat  schon 
F.  Magnussen  (Lex.  myth.  s.  v.  Garmr)  bemerkt:  Garmum  forsitan  vete- 
res  Sueci  appellaverint  ursam   maiorem   in   coelis,    quae   etiamnunc  ab 

1)  Neuerdiügs  hat  namentlich  Bugge  (Studien  über  die  nord.  götter-  und  hel- 
densage,  übers,  von  Brenner  s.  179)  den  namen  selbst  als  nachbildung  von  Cerberus 
betrachtet;  zustimmend  verhielt  sich  El.  H.  Meyer,  Vol.  180.  Dagegen  vgl.  nament- 
lich Mogk  im  Anz.  für  indog.  sprach-  u.  altk.  III,  30  (neunorw.  garma  =  brole, 
Aasen  210). 


336  WILKEN 

eorum  posteris  vocitatur  Storracken  seil.  Canis  grandis  sive  maximus; 
daran  schliesst  sich  ein  hinweis  anf  den  bekanntlich  einem  andern 
sternbilde  (dem  Sirius)  von  den  alten  beigelegten  namen  hunds- 
stern  (canicnla).  —  Yon  hier  aus  den  raythus  zu  erklären  würde  ich 
so  etwa  versuchen.  Yon  der  ursprünglichen  bedeutung  als  Sternbild 
erhielt  sich  nur  eine  schwache  erinnerung.;  ausser  dem  namen  und  der 
bezeichnung  „hund"  kommt  vielleicht  die  angäbe  von  Gylf.,  wonach 
der  hund  zunächst  gebunden  ist  und  erst  bei  dem  Weltuntergänge  frei 
Averden  soll,' in  betracht  und  würde  sich  ziemlich  genau  mit  der  betref- 
fenden angäbe  über  den  Fenriswolf  decken.  Doch  ist  zuzugeben,  dass 
hier  auch  der  zufall  sein  spiel  haben  kann,  pflegen  doch  auch  gewöhn- 
liche hunde  oft  an  der  kette  zu  liegen.  Jedenfalls  niüsste  eine  Ver- 
schiebung im  lokal  stattgefunden  haben:  während  bei  dem  gefesselten 
wolfe  nur  jüngere  zusätze  an  einen  vom  himmel  unterschiedenen  ort 
der  fesselung  denken  i,  liegt  es  bei  dem  hunde  Garmr  so,  dass  er  nur 
auf  dem  wege  der  kombination  an  den  himmel  zurückversetzt  werden 
kann.  Auf  welche  weise  die  lokal -Verschiebung  in  diesem  falle  erfolgt 
ist,  steht  dahin:  als  erinnerung  an  den  alten  zustand  könnte  gelten, 
dass  auch  die  spätere  sage  wenigstens  den  Mänagarmr  noch  als  mond- 
verderber,  somit  als  ein  im  luftreich  waltendes  wesen  kennt,  freilich 
auch  in  dämonischer,  den  göttern  feindlicher  Stellung  2,  was  am  deut- 
lichsten Grylf.  12  (=  16,  1  —  4),  aber  wol  auch  in  dem  Gylf.  51  berich- 
teten kämpfe  des  gottes  Tyr  gegen  Garmr  sich  ausspricht,  der  in  die- 
sem falle  unbedenklich  gleich  Mänagarmr  zu  setzen  ist^.  —  Wie  steht 
es  endlich  mit  Hati?  Dass  dieser  ursprünglich  als  sonnenwolf  gegol- 
ten hat,  ist  von  Mogk-^  ziemlich  wahrscheinlich  gemacht  worden;  da 
aber  das  Verhältnis  von  sonne  und  mond  in  der  mythischen  zeit  ein 
weit  engeres  war,  das  Schicksal  beider  himmelskörper  eng  aneinander 
geknüpft  zu  sein  schien  s,  so  darf  für  die  konstruktive  zeit  die  Vorstel- 
lung nicht  abgewiesen  werden,  dass  Hati  zunächst  den  mond,  als  Vor- 
läufer der  sonne  aufgefasst,   verfolge,   wodurch  eine  gewisse  bedrohung 

1)  Vgl.  cap.  V,  §  3  iiud  6. 

2)  Hunde  als  Wächter  kenut  auch  die  deutsche  volkssage  meist  m  etwas  dämo- 
nischer färbung,  vgl.  Henne,  Die  deutsche  volkssage  s.  60  fg.;  E.  H.  Meyer,  Germ, 
niyth.  108. 

3)  Der  ausdruck  kann  er  it  mesta  foraä  passt  genau  zu  der  Gylf.  12  von 
Man.  gegebenen  Schilderung,  während  wir  von  Garinr  ja  nur  wissen,  dass  er  gefes- 
selt liegt  und  zeitweise  bellt. 

4)  In  Pauls  Beitr.  VI,  ,526  fg. 

5)  Vgl.  Schwartz,  Die  poet.  naturansch.  I  reg.  s.  v.  mond  (und  sonne,  Ver- 
hältnis beider). 


DER  FENEISWOLF  337 

der  sonne  selbst  gegeben  blieb  i.  Bleibt  uns  also  Hati  in  gewissem 
sinne  ein  mondwolf,  so  ist  für  den  Mänagarmr  als  für  eine  jüngere, 
aber  eben  deshalb  mächtigere  Vorstellung,  noch  immer  soviel  platz, 
dass  er  denselben  gedanken  in  noch  dämonischerer  färbung  ausprägt, 
namentlich  in  bezug  auf  den  Weltuntergang.  Liegt  auch  der  gang  der 
entwickelung  hier  lange  nicht  so  klar  vor  äugen,  wie  bei  dem  Fenris- 
wolfe,  so  lässt  sich  doch  mit  einiger  Wahrscheinlichkeit  folgende  formel 
aufstellen:  Skqll  :  Fenris  ulfr  =  Hati  :  Mänagarmr 2.  Als  ältere  form 
für  Fcnrisulfr  wäre  dann  noch  ?dfr,  für  Ilänagarmr  Oarmr  anzu- 
setzen, wobei  die  Verschiedenheit  der  formen  auch  solche  in  den  bedeu- 
tungen  einschliesst,  in  dem  die  längeren  formen  schliesslich  nur  noch 
vom  eschatologisch  aufgefassten  „wolf"  und  „hund"  gebraucht  wurden 
unbeschadet  ursprünglicher  identität  der  Vorstellungen  3. 

7.  Da  jedoch  der  in  §§  5  und  6  besprochene  Garmrmythus  nicht 
zu  so  greifbaren  resultaten  führt,  wie  die  früher  besprochenen,  so  will 
ich  für  jetzt  darauf  verzichten,  die  frage  weiter  zu  verfolgen,  aufweiche 
der  gang  der  Untersuchung  sonst  gewissermassen  hinweist:  haben  wir 
ausser  den  besprochenen  noch  andere  mythen ,  zu  -  denen  die  gestirne 
anlass  gegeben  haben,  ohne  dass  diese  beziehung  der  späteren  zeit 
deutlich  geblieben  ist?  Keinesweges  möchte  ich  diese  frage  mit  nein! 
beantworten,  mag  auch  die  astrale  erklärungsweise  durch  die  einseitig- 
keit  einiger  forscher  äusserlich  etwas  in   miskredit  gekommen  sein.  — 

1)  Wenn  Mogk  a.  a.  0.  528  sagt:  Sk^ll  ist  dem  sornenwagen  gefolgt,  hat  vor 
der  S61  zur  seite  der  rosse  diese  in  schrecken  gesetzt  —  so  Hesse  sich  das  für  ein 
einmaliges  factum  recht  wol  hören,  aber  nicht  für  ein  täglich  sich  widerholendes 
phänomen.  Bie  darstellung  in  Gylf.  ist  allerdings  nicht  ursprünglich,  aber  insofern 
nicht  ungeschickt,  als  die  eile  des  scheinbaren  Sonnenlaufes  dm'ch  die  furcht  vor  den 
Wölfen  begründet  wird ,  die  sie  verfolgen ,  womit  zugleich  eine  aii  System  in  die  sonst 
für  die  ältere  zeit  so  regellosen  finsternisse  gebracht  wii'd.  Dann  nämlich  sind  die 
wölfe  (vorübergehend)  im  stände  sich  der  sonne  zu  bemächtigen,  für  gewöhnlich  ist 
sie  nur  bedroht  und  zwar  auch  von  dem  voraneilenden  wolfe,  da  sich  dieser  ja  zurück- 
wenden kann:  sie  weiss  vor  und  hinter  sich  den  feind. 

2)  Teilweise  ähnlich  schon  Simrock,  Myth.^  s.  24,  ausserdem  vgl.  Untersuch, 
zur  Sn.  Edda  s.  83. 

3)  Wer  sich  daran  stossen  sollte,  dass  Garnir  immer  als  hund,  Mänagarmr  dage- 
gen als  wolf  bezeichnet  wird,  der  möge  ausser  dem  s.  336  anm.  3  angeführten  Zeug- 
nisse auch  die  stelle  beti'achten,  wo  es  heisst:  qll  räpn  erii  troll  ok  vargar  ok  hund- 
ar  herklcBäa  usw.  Kph.  11,  512.  —  So  gut  nun  dem  tungls  tjügari  i  troUs  hami 
der  VqI.  40  in  Gylf.  12  gegenübersteht:  foeäir  at  sonum  marga  jqtna  ok  alla  % 
vargs  likjum  .  .  ok  svd  er  sagt,  at  af  attinni  verär  sd  einn  7nuttkastr,  er  kallaär 
er  Mänagarmr  —  ebensogut  kann  auch  diesem  vargr  im  skaldisclien  Sprachgebrauch 
wider  der  hund  Garmr  entsprechen. 

ZEITSCHRIFT   F.    DEUTSCHE   PHILOLOGIE.     BD.  XXVIII.  22 


338  WILEEN 

Die  möglichkeit,  dass  erst  nach  dem  bereits  vorhandenen  mythus  ein 
Sternbild  ulfs  hjqptr  genannt  wäre  (nach  analogie  der  cap.  YI,  4 
erwähnten  fälle)  ist  zwar  nicht  völlig  abzuweisen  i,  aber  wäre  dann 
nicht  Fenris  idfs  oder  Fenris  hjqptr  zu  erwarten,  da  man  gerade  am 
himmel  doch  auch  an  andere  wölfe  denken  konnte,  wenn  nicht  ein 
ursprüngliches  sternbild  gemeint  Avar?  In  diesem  falle  aber  genügt 
wolf,  vgl.  löwe,  adler,  widder,  schwan  usw.  Doch  eine  nötigung  auf 
jene  frage  hier  näher  einzutreten  liegt  nicht  vor.  So  möge  zum  schluss 
nur  der  nachweis  geführt  werden,  dass  gestirnmythen  wie  die  vom 
Fenriswolf  und  dem  schiff  Nagifari  der  „analogia  mythica"  und  somit 
der  inneren  glaubwürdigkeit  nach  keiner  seite  hin  entbehren. 

8.  Die  bis  auf  den  heutigen  tag  bekannte  bezeichnung  von  Stern- 
bildern durch  tiernamen  führte  bei  der  sinnlich  lebhaften  auffassung 
der  altmythischen  zeit  widerholt  zu  der  Vorstellung  einer  bedrohung, 
resp.  Verfolgung  einiger  Sternbilder  durch  andere,  was  namentlich  in 
der  griechischen  litteratur  leicht  sich  belegen  lässt^.  —  War  einmal 
eiu  Sternbild  als  ein  aufgesperrter  Wolfsrachen  aufgefasst,  so  lag  die 
Vorstellung  hierin  eine  bedrohung  aller  anderen  bewohner  des  himmels 
zu  erblicken  um  so  näher,  als  man  bei  sonnen-  oder  mondfisternis 
und  der  bildung  von  nebensonnen  die  grossen  lichtkörper  von  wölfen 
bedroht  glaubte;  wie  leicht  vermischte  sich  direkte  vergleichung  mit 
indirekter! 3  Und  jene  bedrohung  der  wichtigsten  weltkörper  zog  ohne 
weiteres  die  götter  in  mitleidenschaft'^ ;  ja  auch  die  menschen  scheinen 

1)  So  sagt  E.  H.  Meyer,  Germ.  myth.  10:  „stembüder  werden  fast  dui'cliweg 
nur  als  himmlische  erinnerungsbilder  an  andersartige  sagen  aufgefasst."  Aber  sind 
nicht  fast  überall  durch-  die  jüngei-eu  bildungen  die  älteren  etwas  in  den  hintergrund 
gedrängt?  —  über  ältere  und  jüngere  sternbildmythen  vgl.  zunächst  Grimms  Myth.* 
609  fg.  und  die  von  ihm  citierte  äusseruug  Buttmanns,  „dass  man  nicht  damit  anhob, 
die  vollständige  gestalt  am  himmel  zu  entwerfen,  dass  es  genügte  ein  stück  davon 
herauszufinden"  —  so  in  unserem  falle  den  rächen  eines  wolfes. 

2)  Vgl.  ausser  Homer  s  273  (fast  =  Z  487)  zunächst  Hesiod  W.  u.  t.  615: 
evT  äv  ITX}]idSeg  oQ-tvog  ößQifxov  "ÜQi'wvog  iftvyovoccc  ttitttojgiv  und  dazu  Preller, 
Griech.  myth.^I,  351.  • —  Dass  die  alexandrinische  htteraturperiode  sehr  viel  bezie- 
hungen  auf  die  sterne  bietet,  ist  bekannt;  wahrscheinlich  auf  anregungen  von  dort 
geht  die  gleichfalls  starke  benutzug  der  sternbUder  in  der  röm.  dichtung  zurück,  vgl. 
Härder,  Astrognostische  bemerk,  zu  den  röm.  dichtem  (anzeige  von  E.  Maass  in 
D.  litt.  zeit.  XIV,  29). 

3)  S.  cap.  I,  §  13. 

4)  Vgl.  Gylf.  42,  wo  die  f orderung  des  baumeisters  aus  Riesenheim  sonne  und 
mond  als  lohn  zu  erhalten  als  eine  herausfordeiiing  der  götter  betrachtet  und  geahn- 
det wird. 


DER   FENRISWOLF  339 

bei  derartigen  Vorkommnissen  keineswegs  bloss  znschauer  zu  sein^.  — 
Kein  wunder  also,  dass  ein  sternbild  „der  Wolfsrachen",  sobald  er  ein- 
mal personificiert  war,  zu  dem  ärgsten  feinde  der  götter,  zu  einem 
gefährlichen  gast  auch  für  die  Vorstellung  der  menschen  wurde  2. 

9.  Etwas  seltener  in  alten  quellen  ist  die  hervorhebung  der 
festigkeit  und  guten  Ordnung  der  fixsternbilder.  Das  „beer  des  him- 
mels"  bezieht  sich  auf  dieselbe,  vgl.  Riehm  a.  a.  0.  1572.  In  dem 
buche  Hieb,  das  auch  sonst  auf  die  gestirne  bezug  nimmt  (z.  b.  cap. 
9,  9)  fragt  c.  38  v.  31  gott  den  Hiob:  „kannst  du  die  bände  der  sie- 
ben Sterne  zusammenbinden?  Oder  das  band  des  Orion  auflösen?" 
(Luther)  oder  nach  Reuss  (Hiob  1888):  „Bist  dus,  der  der  Plejaden 
bände  knüpft?  Kannst  du  Orions  fesseln  lösen?"  Zu  dieser  auf- 
fassung  stimmen  (so  weit  ich  sehe)  die  ausleger  ausser  Dillmann,  der 
(Comm.  zu  Hiob  1869)  für  den  letzten  halbvers  die  Übersetzung  ver- 
langt: „Kannst  du  Orions  zugseile  lockern?"  Es  soll  sich  dann  darum 
handeln,  dass  durch  lockerung  der  seile,  an  welchen  Orion  geschleppt 
Avird,  er  zu  einer  gewissen  zeit  höher  am  himmel  steigt,  zu  einer  andern 
wieder  tiefer  sinkt  ^.  —    Auf  jeden  fall  ist  in   dem  betreffenden  verse 

1)  Vgl.  Schwartz,  Uispr.  78,  79;  Kulm,  Herabkuuft- 48,  auni.  1  nach  Birlin- 
ger  (während  der  Sonnenfinsternis  fällt  gift  auf  die  erde). 

2)  Es  mag  hier,  da  der  Fenriswolf  von  einigen  forschem  mit  Loki  und  Lucifer 
gleichgesetzt  wurde  (cap.  11,  1),  wenigstens  beiläufig  daran  erinnert  werden,  dass 
der  zweite  name  ja  eigentlich  den  morgenstern  bedeutet,  Jes.  14,  12  (wie  bist  du 
vom  himmel  gefallen,  du  schöner  morgenstern?)  bildlich  den  könig  von  Babel  meinte, 
in  der  allegorischen  erklärung  der  kirchenväter  seit  Hieronymus  den  gefallenen  engel, 
den  satan  bezeichnete  (vgl.  u.  a.  Eiehm,  Handw.  des  bibl.  alt.  ^  art.  steine,  s.  1573). — 
Die  dämonische  auffassung  gieng  in  diesem  falle  nicht  von  der  gestalt  des  Sternbil- 
des, sondern  von  der  Vorstellung  des  vom  himmel  gefallenseins  aus.  Auch  für  die 
nord.  myth.  mag  beachtet  werden  der  aussprach  Eiehms  a.  a.  0.  1572:  „die  alte  auf- 
fassung der  gestirne  als  lebendiger  wesen  ist  nicht  ohne  alle  nachwirknng  geblieben, 
wie  denn  auch  in  der  Vorstellung  des  himmelsheeres  die  der  engel  (nord.  etwa  = 
dämonen)  und  der  sterne  öfter  ineinander  fliesst."  Auch  dem  indog.  gebiet  ist  diese 
Vorstellung  nicht  ganz  fremd,  vgl.  über  die  „Verkörperung  (der  seelen)  in  Sternen" 
Oldenberg,  Ved.  myth.  s.  564. 

3)  Das  hebr.  wort  k'^ssil  (=  Orion)  bedeutet  zunächst  tor  oder  frevler,  dann 
riese;  es  gibt  forscher,  welche  den  am  himmel  gefesselten  riesen  der  semitischen 
astronomie  auch  in  direkte  beziehung  zu  dem  griech.  Orion -mythus  setzen,  vgl.  Prel- 
ler, Griech.  myth.  ^  s.  350  anm.  2).  —  Wie  bei  dem  Orion,  so  nahm  auch  bei  dem 
sternbilde  der  Plejaden  die  hebr.  auffassung  ein  band  an,  das  die  einzelnen  sterne 
zusammenfasste ,  vgl.  Hiob  38,  31  und  Eiehm  a.  a.  0.  s.  1573.  —  Bei  dem  sternbilde 
der  fische  nahm  auch  die  europ.  astronomie  früherer  zeit  ein  band  an,  vgl;  Stjcjrnu- 
niQrk  in  44  Pr.  ed.  Gislason  s.  478:  eii  sporäar  fiskanna  knyttir  satnan  med  nqk- 
kuru  bandi. 

22* 


340  WILKEN 

also  die  Vorstellung  zu  finden,  dass  jede  lösung  oder  lockerung  des 
unsichtbaren  bandes,  an  welchem  die  Sternbilder  gehalten  werden,  dem 
menschen  ebenso  unmöglich  ist  wie  ihre  anfängliche  Verknüpfung.  Es 
zeigt  sich  also  hier  eine  schöne  parallele  zu  der  nordischen  auffassung, 
dass  die  götter  mit  dem  von  den  zwergen  wunderbar  gewirkten  bände 
den  Penriswolf  am  himmel  befestigt  haben.  —  Wcährend  die  volkssage, 
soweit  ich  jetzt  sehe,  sich  dieser  seite  der  betrachtung  weniger  zuneigt, 
sind  es  einige  kunstdichter  neuerer  zeit,  namentlich  Schiller,  die  hier 
ergänzungsweise  genannt  werden  könnend  In  den  betreffenden  stellen 
wird  wol  niemand  eine  reminiscenz  an  die  oben  besprochene  Hiobstelle 
suchen;  es  handelt  sich  um  das  natürlich  gegebene,  das  jede  poetisch 
gestimmte  auffassung  ergreifen  muss,  wenn  sie  den  gedanken  der  unab- 
änderlichen Ordnung  in  einem  allbekannten  bilde  ausdrücken  will: 
weder  die  erde  selbst  noch  die  sonne  kommt  in  demselben  masse  in 
betracht  ^. 

10.  Als  kehrseite  dieser  festigkeit  des  fixsternhimmels  kommt 
dann  zunächst  in  der  jüdisch- christlichen  eschatologie  der  gedanke  zum 
ausdruck,  dass  auch  diese  festeste  der  sichtbaren  Schöpfungen  gottes 
dem  untergange  geweiht  ist;  belege  aus  der  kirchlichen  oder  von  kirch- 
lichen motiven  ausgehenden  volkslitteratur  sind  nicht  spärlich  vorhan- 
den 2.  Daneben  treffen  wir  nun  auch  in  den  nordischen  ragnarok- 
mythen  dieselbe  Vorstellung.  Dass  sie  unabhängig  vom  christentume 
entstehen  konnte,  ist  mir  nicht  zweifelhaft,  da  hier  nur  die  umkehrung 
des  im  vorigen  paragraphen  besprochenen  gedankens  vorliegt'^;    auffäl- 

1)  In  Schillers  parabeln  heisst  es  von  den  steruen:  wie  wir  sie  heute  wandeln 
sehen,  sah  sie  der  allerältste  greis;  in  der  Jungfr.  von  Orl.  II,  7:  eher  risst  ihr 
einen  stern  vom  himmels wagen ;  im  "W".  Teil  II,  2:  die  droben  hangen  unveräusser- 
Uch  und  unzerbrechlich  wie  die  sterne  selbst.  —  Vgl.  auch  G.  Kinkel,  Ein  geistlich 
abendlied  str.  4:  in  gleichem,  festem  gleise  der  goldne  wagen  geht. 

2)  Die  erde  nicht,  weil  sie  durch  meereswogen,  sti'öme,  erdbeben,  erdstürze 
gelegentlich  bedroht  wird;  die  sonne  nicht,  weil  sie  scheinbar  eine  rastlose  wandlerin 
ist.  Der  mond  ist  geradezu  zur  bezeichnung  der  Veränderlichkeit  benutzt  worden, 
vgl.:  „es  kann  ja  nicht  immer  so  bleiben  hier  unter  dem  wechselnden  mond"  sowie 
den  ausdruck  laune  (mhd.  lüne  von  lat.  luna). 

3)  Vgl.  zunächst  Grimm,  Myth.*  uachtr.  zu  s.  682. 

4)  Im  allgemeinen  ist  freilich  zu  bemerken,  dass  schon  der  gedanke  an  die 
wolgeordnete  Symmetrie  des  Sternhimmels,  mehr  noch  der  an  die  einstige  Zerstörung 
desselben  der  ältesten  mythenzeit  nicht  angehören  wird  (auch  das  buch  Hieb  wird 
von  Dillmann  z.  b.  erst  in  die  zeit  zwischen  Jesaja  und  Jeremja  gesetzt,  einl.  s.  XXVII); 
während  die  §  8  besprochenen  Verhältnisse  in  höchstes  altertum  hinaufreichen.  —  Dass 
aber  jede  poetische  Weitbetrachtung,  die  ihren  blick  auf  das  ganze  richtet,  die  tix- 
sterne  als  das  festeste  in  der  sichtbaren  weit  und  ihren  stürz  als  das  einbrechen  der 


DER   FENRISWOLF  341 

lig  aber  bliebe  es  jedesfalls,  wenn  die  nordische  mythologie  für  einen 
so  grandiosen  gedanken  von  je  her  nur  die  milde  fassung  von  YqI.  57,  2 
gekannt  hätte,  der  ebenso  gut  das  tägliche  erbleichen  der  gestirne  in 
der  morgendämmerung  meinen  könnte.  Den  kräftigeren  und  noch  in 
lebendigem  bilde  gehaltenen  ausdruck  für  denselben  gedanken  glaube 
ich  in  den  mythen  vom  Fenriswolf  und  dem  schiffe  Naglfar  nachgewie- 
sen zu  haben. 


Exciirs  I. 

Die  heimat  der  götter. 

1.  Die  verschiedenen  ansichten  über  den  wohnsitz  der  götter  zu 
prüfen  könnte  den  stoff  einer  umfangreichen  abhandlung  ausmachen; 
bei  der  nordisch -deutschen  mythologie  zeigen  sich  besondere  Schwie- 
rigkeiten. Wenn  J.  Grimm,  Myth."^  682  fg.  die  verschiedenen  angaben 
der  quellen  mehr  neben  einander  stellte,  ohne  die  differenzen  scharf  zu 
beleuchten,  hat  Simrock,  D.  myth.^s.  35  —  46  diese  angaben  zu  einem 
symmetrischen  plane  des  Weltalls  zu  kombinieren  gesucht,  damit  aber 
mehr  den  aufgaben  der  konstruierenden  als  der  kritischen  periode  ent- 
sprochen. Da  hier  nicht  alle  einzelheiten  geprüft  werden  können,  will 
ich  nur  folgendes  betonen.  Schon  die  neunzahl  der  weiten  lässt  sich 
nur  dann  als  arithmetische  zahl  behaupten,  wenn  Niflheim  und  Mflhel 
scharf  unterschieden  werden,  was  bedenklich  ist^  Weit  gewagter  ist 
aber  die  gruppierung  der  9  weiten  in  3  über-,  3  unterirdische,  3  auf 
der  erde  befindliche.  Nur  bei  annähme  dieser  weltverteilung  aber 
besteht  für  Midgardr  der  anspruch  „in  der  mitte  aller  neun  weiten" 
zu  liegen  (Simr.  s.  40).  Wenn  der  verdiente  forscher  seine  ansieht 
damit  stützt:  „wie  schon  der  name  sagt",  so  kann  ich  nicht  beistim- 
men. Das  wort  nüägarär  erscheint  in  allen  germanischen  sprachen 
vom    gotischen    an,    hat    überall    aber   nur  die  bedeutung    „erdscheibe 

weltauflösuDg  betrachten  muss,  belegt  z.  b.  auch  Lenaii  in  seinem  gedichte  „Die 
Zweifler".  Hier  heisst  es:  „Wenn  ich  dem  ströme  (der  Vergänglichkeit)  zu  entfliehen 
meine,  aufblickend  zu  der  sterne  hellem  scheine:   ich  habe  mich  getäuscht!     Ich  seh 

erbleichen  die  sterne  selbst Einst  wird  vom  raschen  flug  ihr  strahlend  beer, 

ein  müdes  schwalbeuvolk ,  heruntersinken.  Dann  brütet  auf  dem  ocean  die  nacht, 
dann  ist  des  todes  grosses  werk  vollbracht"  usw. 

1)  Schon  Untersuch,  s.  38  anm.  44  und  deutlicher  im  Gloss.  s.  Niflhel  habe  ich 
diesen  Standpunkt  eingenommen;  ausführlicher  handelte  darüber  Mogk  in  Pauls  Bei- 
trägen 6,  521  fg.  Christliche  einflüsse  vermutet  hier  E.  H.  Meyer,  Germ,  mj-th.  173, 
vgl.  das.  auch  188. 


342  WILKEN 

inmitten  des  umzäunenden  oceans"  (Schade,  Altd.  wb.  s.  mittigart)i. 
Einen  andern  sinn  ergibt  auch  das  von  Simrock  citierte  quellenmate- 
rial,  namentlich  Gylf.  8  nicht;  was  den  an  und  für  sich  etwas  zwei- 
deutigen ausdruek  i  miäjum  heimi  Grylf.  9  betrifft  2,  so  zeigt  sowol  der 
Zusammenhang  wie  vergleich  von  Formäli  c.  3  und  4,  dass  unter 
heim?'  hier  miägaräi'  zu  verstehen^,  äsgarär  somit  auf  der  erde  zu 
suchen  ist.  Im  hinblick  auf  diese  und  andere  stellen  bin  ich  der  Vor- 
liebe einiger  forscher,  die  götter  nur  als  „himmlische"  wesen  gelten 
zu  lassen,  in  meinen  Untersuch,  zur  Snorra-Edda  s.  78,  84,  87,  131 
anm.  274  bestimmt  entgegengetreten.  Jetzt  bin  ich  geneigt  in  einigen 
dieser  stellen,  namentlich  in  den  angaben  der  pros.  Edda  über  äsgarär 
(c.  9  =  13,  6,  9;  c.  14  =  17,  17;  c.  15  =  21,  5,  6)  als  einen  irdi- 
schen Wohnsitz,  von  dem  aus  die  äsen  sich  zu  ihrer  himmlischen  ge- 
richtsstätte  (am  Urdarbrunnr)  begeben,  doch  einen  stärkeren  einfluss 
des  im  Formali  besonders  klar  ausgesprochenen  Standpunktes  der  pros. 
Edda  anzuerkennen,  als  ich  dies  Untersuch.  131  anm.  274  für  zulässig 
hielt  ^.  Jetzt  kann  ich  meine  ansieht  hierüber  in  folgende  vier  sätze 
zusammenfassen: 

2.  a)  der  ältesten  mythischen  zeit  war  allerdings  jede  scharfe 
grenzlinie  fremd,  namentlich  zwischen  land-  und  luftwesen,  vgl.  W. 
Schwartz,  Ursprung  s.  12:  „es  verschmolz  himmel  und  erde  für  sie 
(die  menschen  dieser  zeit)  in  einander"  und  Henne  (Deutsche  volkssage 
s.  5)  von  den  elementargeistern:  „eigentliche  luft-  oder  feuerwesen, 
welche  von  den  erdwesen  zu  trennen  wären,  kennt  die  deutsche  volks- 
sage nicht".  Aber  auch  über  die  Vorgänge  am  gestirnten  himmel  be- 
merkt derselbe  s.  8:  „sie  alle  giengen  zwischen  himmel  und  erde  vor". 
Daraus    erläutert  Henne,    dass  neben   himmlischen    (meist   männlichen) 

1)  Mogk  (Griindriss  der  germ.  phil.  I,  1114)  Avill  zwar  den  ausdruek  davon  her- 
leiten, dass  die  erde  sich  in  der  mitte  zwischen  himmel  und  Unterwelt  befinde,  doch 
stimmt  seine  auffassung  sonst  mehr  zu  der  meinigen  als  zu  der  Simrocks. 

2)  Auch  Grimms  Übersetzung  „im  mittelpunkte  der  weit''  (Mji:h.'*  682)  hebt 
die  Unklarheit  nicht;  nach  dem  folgenden  zu  schliessen  scheint  Grimm  an  ein  himm- 
lisches ÄsgarSr  und  ValhcjH  zu  denken. 

3)  In  den  (auch  von  der  hs.  U  dargebotenen)  ersten  capp.  des  Formäli  wird 
heimr  sowol  wie  verqld  nur  von  der  erde  gebraucht;  dem  anfang  von  Form.  c.  4  ent- 
spricht Gylf.  9  (=  13,  5  —  7). 

4)  Nicht  zu  übersehen  ist  freilich,  dass  auch  Vol.  7,  8,  sowie  60,  61  das 
treiben  der  götter  in  IdavQlIr  in  etwas  irdischem  lichte  erscheint,  doch  bedürfen  diese 
Strophen  einer  besonderen,  eingehenden  Untersuchung.  Die  Schwierigkeit  dieser  fra- 
gen erhellt  auch  aus  Mogks  äusserung  (Grundriss  der  germ.  phil.  I,  1114):  „wohin 
man  Asgardr  versetzte,  darüber  geben  uns  die  quellen  keinen  aufschluss." 


DER   FEXRISWOLF  343 

bald  auch  irdische  (meist  weibliche)  gottheiteni  hervortraten.  Wenn 
dieser  satz  auch  keineswegs  so  schroff  zu  verstehen  ist,  als  ob  es  nicht 
auch  weibliche  luftgottheiten  gäbe,  so  lässt  doch  auch  er  eine  gewisse 
präponderanz  der  himmlischen  götter  schon  in  den  noch  fliessenden 
grenzen  der  ältesten  zeit  ganz  gut  erkennen.  Dieses  Verhältnis  stellt  sich 
b)  in  der  historischen  zeit  zunächst  noch  klarer  heraus,  indem 
hier  die  götter  oft  geradezu  „himmlische"  2,  der  hauptgott  namentlich 
als  himmelsgott  gefasst  wird.  Eine  erinnerung  an  die  frühere  freiheit 
blieb  darin  bewahrt,  dass  es  auch  erd-,  wasser-,  unter weltsgötter  gab, 
dass  der  wohnsitz  der  himmlischen  oft  nur  in  der  nähe  des  himmels, 
auf  höheren  bergen  gedacht  wurde;  vgl.  cap.  Y,  §  3.  Dieser  Stand- 
punkt ist  ims  aus  Homer  geläufig;  im  ganzen  ist  es  auch  der  der  Lie- 
der-Edda. Bisweilen  freihch  werden,  wie  im  lat.  nur  superi  und 
inferi,  so  nur  die  himmlisch -irdische  asenwelt  von  dem  reiche  der  Hei 
unterschieden,  so  namentlich  YqI.  43 ^  Hier  gehört  gewissermassen 
alles,  was  von  der  sonne  beschienen  wird,  zum  göttergebiet.  Umge- 
kehrt kann  auch  die  den  göttern  ähnliche  macht  der  riesen  bisweilen 
eine  annäherung  des  göttergebietes  an  das  der  riesen  erläutern^,  was 
als  äusserste  consequenz  eine  Verlegung  von  Valh^ll  in  die  unterweit 
nach  sich  ziehen  könnte,  die  aber  nur  für  sehr  späte  zeit  (d.  h.  für  die 
per.  c.)  zuzugeben  ist^.  —  Dieser  im  ganzen  geordnete  und  übersicht- 
liche zustand  erfährt 

1)  Dieser  ausdruck  soll  liier  die  niederen  gottheiten  mit  einschliessen,  weil 
der  ältesten  zeit  mehr  eine  dämonen-,  als  wii-kliche  götterverehrung  zukam,  vgl. 
cap.  I,  §  6. 

2)  Vgl.  Oldenberg,  Ved.  myth.  104,  176,  347.  —  Wie  namentlich  die  giiech. 
mythologie  klar  erkennen  lässt,  sind  die  götter  nicht  die  von  jeher  ausschliesslich 
„himmlischen"  gewesen,  vielmehr  haben  die  Titanen  (dämonen)  einen  mindestens 
eben  so  alten  anspruch  darauf  und  werden  auch  bei  Homer  noch  OvQaviwveg  genannt, 
z.  b.  E898;  vgl.  Autenrieth,  Wb.  zu  den  hom.  ged.  und  die  dort  citierten  belege. 
Im  unterschiede  von  ihnen  aber  sind  es  die  götter,  die  den  himmel  (de  facto)  in  spä- 
terer zeit  innehaben  (f;^ ouctv) ;  wie  die  Titanen  in  die  tiefe  wandern  mussten,  so  im 
norden  Hei  und  der  wol  aus  einem  älteren  gewitterstrom  abgeleitete  Midgardsormi-, 
vgl.  s.  186,  anm.  2. 

3)  Mit  Schullerus  (vgl.  s.  330,  anm.  2)  stimme  ich  darin  überein,  dass  diese 
Strophe  für  sich  betrachtet  werden  muss  und  wol  nicht  42  als  ursprünglich  vorher- 
gehend voraussetzt. 

4)  Neben  Vaf{)r.  15  und  16  (vgl.  dazu  Untersuch,  s.  78  anm.  43)  kommt 
namenthch  Grm.  11  in  betracht,  wo  f'rymheimr  unter  den  götterwohnsitzen  wol  des- 
halb erscheint,  weil  f'iyms  tochter  Skadi  imter  die  götter  aufgenommen  war. 

5)  Wenn  Mogk  (Grundriss  I,  1116)  sogar  die  ValhoU  der  Grm.  (namentlich 
wol  wegen  str.  21  und  22)  in  die  unterweit  versetzen  möchte,  so  kann  ich  dem  nicht 
zustimmen;  für  die  ?eit  Saxos  sind  solche  Vermischungen  möglich,  vgl.  folg.  anm. 


344  WILKEN 

c)  in  der  euhemeristischen  periode  des  nordens  eine  nicht 
unwesentliche  Verschiebung.  Zunächst  der  gedanke,  die  götter  des  nor- 
dens mit  denen  des  klassischen  altertumes  als  gleichartig  zusammenzu- 
fassen und  ihrer  historischen  bedeutung  irgendwie  gerecht  zu  werden, 
dann  der  wünsch  sie  dem  einen  christlichen  gotte,  der  nun  selbst 
zunächst  als  himmelsgott  aufgefasst  wurde,  bestimmt  unterzuordnen 
liess  die  irdische  seite  und  irdische  Wohnsitze  der  götter  wider  bevor- 
zugen i.  "Wenn  einst  die  götter  der  Griechen  im  Olymp  nur  wenig 
über  der  erde,  so  sollten  diese  äsen  ursprünglich  im  mittelpunkt  der 
erdoberfläche,  der  auch  als  geistiges  centrum  gedacht  wurde,  ihr  wesen 
getrieben  und  von  dort  nach  norden  gewandert  sein  2.  Wie  aber  diese 
quasi -historische  auffassung  sich  nur  zufällig  hier  und  da  mit  histo- 
rischen Wahrheiten  deckt,  so  ist  auch  der  versuch,  der  in  Gylf.  ge- 
macht ist,  zwischen  irdischem  wohnsitz  und  himmlischem  Wirkungskreis 
der  hauptgötter  zu  unterscheiden  ^  keinesweges  mit  konsequenz  durch- 
geführt, vielmehr  verwickelt  sich  der  Verfasser  oft  in  Widersprüche*, 
nicht  selten  drückt  er  sich  zweideutig  aus  5.  —  Wir  sind  daher  genö- 
tigt, wo  uns  derartige  berichte  vorliegen,   gewissermassen  die  darunter 

1)  Sie  sollten  jetzt  etwa  als  heroen  ersclieiuen.  Die  noch  stärkere  herab- 
drückimg  der  götter,  wie  sie  schon  hei  Saxp,  mehr  noch  in  den  deutschen  und  ags. 
quellen  zu  erkennen  ist,  wird  für  die  forschung  weniger  leicht  irreführend  als  der 
gemilderte  euhemerismus  eines  Snorri  (in  Ynglingasaga)  und  des  verf.  von  Gylfag.  — 
Vgl.  über  die  herabrückung  des  himmlischen  Schauplatzes  auf  die  erde  auch  Meyer, 
Germ.  myth.  s.  93. 

2)  Das  centrum  hebt  namentlich  Forniiili  zu  Gylf.  3  und  4  (sowie  Gylf.  9)  her- 
vor.    Snorri  lässt  die  äsen  wenigstens  auch  aus  Asien  kommen  (Ynglings.  2). 

3)  Diese  art  der  Scheidung  ist  wenigstens  eher  mit  den  quellen  in  einklang  zu 
bringen  als  die  an  und  für  sich  auch  mögliche  umgekehrte,  welche  Simrock  bevor- 
zugt: Asgard  liegt  ihm  über  der  weit  und  die  äsen  reiten  hinab  zur  gerichtsstätte. 
Aber  sollte  auch  Grm.  31  an  und  für  sich  recht  haben,  hier  kommt  es  wesentlich 
auf  die  darstellung  von  Gylf.  an,  die  für  diese  periode  unsere  hauptquelle  ist  und 
c.  15  (=  21,  5,  6)  heisst  es  ganz  deutlich:  hvcrn  dag  riäa  cesir  panc/at  iipp  um 
Bifrqst  briina,  d.  h.  sie  reiten  von  ihrem  (irdischen)  Wohnsitze  hinauf  zu  der  ge- 
richtsstätte am  Urdarbrunnr. 

4)  Auch  Gylf.  kennt  götterwohnungen  am  himmel,  so  in  c.  17  und  22,  wol 
auch  27  imd  32;  von  stärkerem  gewicht  ist,  dass  Odins  hochsitz  Hlidskjälf  nach 
c.  9  in  dem  irdischen  ÄsgarSr,  nach  c.  17  in  dem  himmlischen  Valaskjalf  zu  suchen 
ist.  —  Während  sonst  der  Wirkungskreis  ein  himmlischer  ist  (namentlich  cap.  15), 
scheint  nach  c.  14  auch  an  ein  gerichtshalten  unter  den  menschen  zu  denken  zu  sein 
(dcBma  med  ser  orlqg  manna  17,  18). 

5)  Über  die  läge  von  Valhgll  drückt  sich  der  Verfasser  c.  2  so  aus :  G.  sä  par 
hdva  hqll,  svd  at  varla  mätti  sjd  yfir  hana.  Ähnlich  vorsichtig  heisst  es  cap.  9 
von  Asgardr :  paäan  af  gerdtiz  mqrg  tiäindi  ok  greinir,  bceäi  ä  jqrä  ok  i  lopti. 


DER   FENRISWOLF  345 

liegende  ältere  auffassung  (=  b)  durch  kombination  wider  zu  gewinnen, 
welchen  Standpunkt  ich  mit 

d)  als  den  kritischen  bezeichne.  —  Von  diesem  aus  werden 
wir  überall,  wo  an  textkritisch  unverdächtigen  stellen  mit  besonde- 
rem nachdruck  von  dem  wohnsitz  oder  der  heimat  der  götter  die  rede 
ist,  nicht  an  einen  wohnsitz  im  unterschiede  vom  wirkungsgebiet ,  son- 
dern an  den  himmlischen  wohn-  und  wirkungsraum  der  götter  im 
unterschied  von  den  anders  belegenen  gebieten  der  riesen,  zwerge  und 
menschen  zu  denken  haben.  So  wird  das  ragjia  sjqt  (sedes  deorum) 
YqI.  41,  2  von  den  erklärern  (auch  von  Müllenhotf,  D.  alt.  V,  126)  auf 
den  himmel  gedeutet  und  dass  ich  nicht  irrte  in  Gylf.  34  das  fveddu 
cesir  heima  =  domi  nutriebant  asae  auf  den  himmel  zu  beziehen, 
lässt  sich  schliesslich  auch  dadurch  erhärten,  dass  gerade  diesem  wohn- 
sitz besondere  heiligkeit  und  unverletzlichkeit  zugeschrieben  wird  (c.  34 
schluss  =  42,  9  — 12),  ganz  ebenso  wie  der  himmlischen  gerichtsstätte 
am  Urdarbrunnr  (c.  15  =  20,  4,  5).  Auch  wurde  schon  c.  Y,  §  3 
daran  erinnert,  dass  in  der  Schilderung  des  todes  des  lichtgottes  ßaldr, 
wo  wider  an  einen  Vorgang  in  der  Sphäre  des  himmels  zu  denken 
ist,  ein  ähnlicher  hinweis  auf  die  heiligkeit  des  ortes  sich  findet  (Gylf. 
49  =  74,  22  —  23),  während  an  anderem  orte  derselbe  Loki,  der 
zuerst  geschont  werden  musste,  nun  ohne  weiteres  gefangen  werden 
konnte  (Gi-ylf.  50  =  80,  6)^  —  So  stimmt  hier  alles  zu  der  cap.  V, 
§  3  gegebenen  erklärung. 


Exciirs  II. 

Die  einzelheiten  des  berichtes  von  der  fesselung  des  wolfes. 

1.  Bei  demjenigen  teile  der  fesselung,  welcher  auf  das  verpfänden 
der  band  seitens  des  gottes  T;fr  folgt,  ist  zunächst  eine  etwas  verschie- 
dene anordnung  der  erzählung  in  U  zu  bemerken,  welche  ich  der  in 
W  R  in  meiner  ausgäbe  der  pros.  Edda  41,  9  fg.  vorgezogen  habe, 
da  die  wovte:  ^a  er  cesirnir  sä,  at  ulfrinn  var  hundimi  med  fullu 
da  auffällig  stehen,  wo  unmittelbar  darauf  eine  Aveitere  Versicherung 
der  fessel  noch  folgt.  —  Dazu  kommt,  dass  bei  den  früheren  versuchen 
der  fesselung  gemäss  der  angäbe   39,  11   der  wolf  erst   dann    scheint 

1)  Dass  der  unterschied  im  lokal  das  entscheidende  ist,  geht  daraus  hervor, 
dass  die  c.  49  zu  gunsten  Baldrs  geschworenen  eide  (73,  10)  natürhch  am  wenigsten 
seinem  mörder  hätten  frommen  können;  dieser  musste  durch  den  ort  selbst  ge- 
schützt sein. 


346  WILKEN 

die  fessel  gesprengt  zu  haben,  als  die  äsen  erklärt  hatten,  dass  sie 
ihrerseits  fertig  seien.  So  muss  man  erwarten,  dass  der  wolf  auch  in 
diesem  falle  erst  das  „fertig!"  der  götter  abwartete,  bevor  er  sich  gegen 
den  boden  stemmend  seine  kraft  an  der  fessel  erprobte:  dieser  forde- 
rung  enspricht  der  U-text  gleichfalls  eher. 

2.  Eine  noch  weitere  annäherung  an  die  art,  wie  Lokis  fesse- 
lung  gedacht  wurde  (vgl.  cap.  Y,  §  6)  zeigen  die  kurzen  berichte 
in  den  handschriften  A  und  M  (Kph.  II,  431  und  515).  Während  man 
nach  U  W  R  sich  den  wolf  auf  einer  insel  gebunden  und  nur  die 
fessel  in  die  erde  gegraben  zu  denken  hat,  ist  nach  M  und  A  von 
einem  hügel  {höll  =  hväll)  auf  der  insel  die  rede,  in  welchem  sich 
der  pflock  fviti  befindet,  was  so  gemeint  zu  sein  scheint,  als  ob  der 
wolf  selbst  in  dem  hügel  gefesselt  gedacht  werde;  die  knappe  fassung 
dieser  texte  erlaubt  freilich  kein  ganz  sicheres  urteil.  Es  erübrigt  end- 
lich eine  kurze  betrachtung  der  einzelnen  nameu,  die  bei  der  fesselung 
uns  genannt  werden.  Sie  mögen  hier  in  alphabetischer  folge  aufgeführt 
w^erden. 

1.  Anisvartni?'  (Aiirsvatiner  H  nach  Kph.)  zu  svartr  gehörig,  der 
fluss  in  welchem  Fenrir  gefesselt  liegt. 

Dromi,  ein  auch  sonst  im  an.  nicht  unbekanntes  wort,  nach  Yigf. 
=   engl,  thrums,  name  der  zweiten  fessel. 

Gehjja  ist  nach  UWR  name  eines  an  die  fessel  Gleipnir  geknüpf- 
ten Strickes,  nach  AM  (Kph.  II,  431)  die  eines  riegeis  oder  pflockes. 
Zu  der  ersten  bedeutung  passt  besser  die  kenning:  gelgju  (=  funis  = 
haugs  oder  hrmgs)  gälgi  =  brachium  (insofern  der  ring  am  arme  hängt). 
Nach  Egilsson  Lex.  poet.  s.  v. 

Qinul  heisst  in  M  das  loch,  das  in  den  pflock  fviti  gebohrt  ist 
(wol  zu  gin,  gina). 

Ojqll,  name  des  felsens,  durch  den  der  strick  Gelgja  nach  UWR 
gezogen  wird,  wol  zu  gjalla,  vgl.  auch   GjaUar-brü,  -hont  (Yigf). 

Gjqlnar  heissen  die  barthaare  des  wolfes  {granar)  in  A  und  M; 
Yigf  vgl.  engl,  gills  =  kiemen. 

Oleipni?;  name  der  dritten  fessel.  Die  erklärung  ist  zweifelhaft; 
an  glegpa  erinnert  Egilsson  anlässlich  des  kompos.  harägleipnir  in  einer 
Strophe  der  I'örsdräpa  des  Eilifr  (Kph.  I,  296  =  III,  33).  Die  bedeu- 
tung „wolf"  beansprucht  er  jedoch  nur  für  die  betreffende  stelle.  Yigf. 
erklärt  the  lissom  (=  der  glatte).  Ygl.  noch  norw.  glipa  =  offen  stehen, 
klaffen;  dän.  glippe  =  gleiten,  ausgleiten;  glippc  =  blinken,  blinzeln 
(Kaper). 


DER    FENRISWOLF  347 

Onjqll  steht  in  A  wol  minder  richtig  für  Ginul. 

Hrceäa  heisst  in  A  und  M  der  strick,  welcher  in  UWß  den 
namen  Gelgja  führt.     "Wol  =  krcexla. 

Lymjvi  wird  die  insel  genannt,  auf  der  Fenrir  gefesselt  liegt. 
Ob  verwandt  mit  lijng  ==  heidekraut?  So  N.M.Petersen,  Nord.  myth. 
s.  365.  —  Wol  zufällig  ist  die  ähnlichkeit,  dass  in  morgenl.  sprachen 
die  milchstrasse  als  via  straminis  oder  paleae  bezeichnet  wird  (Grimm, 
Myth.^  296  anm.)  vgl.  w.  u.  §  4  gegen  ende. 

Lce(tingr  {Leud-  R),  name  der  ersten  fessel.  Nach  Mob.  Anal. 
Norr.2  VIII  zu  laiut  f.  =  draht. 

Siglitnir,  name  des  hügels  auf  der  insel  Lyngvi  nach  A  und  M, 
=  semper  (sive  ubique)  coruscans  aut  resplendens  (=  Olitiiir  mit  dem 
verstärkenden  ai-)^  Finn  Magnussen,  Lex.  mythol.   68. 

Van  (var.  Vam  U,  Van  H,  Von  S  nach  Kph.  I,  112).  Die 
Schreibung  Van  ist  zwar  durch  das  Wortspiel  mit  van  =  spes  in  der 
str.  Kph.  II,  630  anscheinend  als  die  richtige  erwiesen;  ist  aber  die 
skaldische  auffassung  gegen  Irrtum  gefeit?  Jedenfalls  müsste  dies  van 
seit  der  dämonischen  auffassung  des  wolfes  im  sinne  von  „despair, 
agong"  (Vigf.  s.  v.  van  III)  genommen  werden;  die  varr.  lassen  allen- 
falls auch  an  vamm  =  vqmm  oder  mit  Grundtvig  (Petersen,  Nord. 
myth.  365)  an  ags.  wan,  %von  =  schwarz  denken.  Kann  ein  schaum- 
fluss  jedoch  „schwarzfluss"  heissen? 

Vil,  name  des  in  A  und  M  hinzugesetzten  zweiten  flusses;  be- 
kannt im  an.  und  ags.  (misery  Vigf). 

pvüi  (var.  potti  M)  wird  in  A  und  M  einfach  als  hall  (pfähl, 
pflock),  in  den  andern  hss.  als  stein  bezeichnet,  der  als  festarluBÜ 
(haltpflock)  für  den  strick  Gelgja  dient.  Zu  dieser  letzten  auffassung 
stimmt  der  sonstige  gebrauch  des  wertes  =  stein  (Vigf  s.  v.,  Egilssou, 
Lex.  poet.  s.  v.). 

4.  Sind  einige  der  augeführten  werte  auch  nicht  ohne  lexikalisches 
Interesse,  so  weisen  doch  schon  die  vielen  varr.  der  Überlieferung  auf 
eine  nicht  ganz  gesicherte  tradition  mit  jüngeren  Zusätzen  hin^.     War 

1)  Wenn  es  schwer  oder  unniöglicli  ist,  den  ältesten  kern  der  fesselungsbericlite 
scharf  herauszuschälen,  so  ist  mit  einiger  Sicherheit  doch  nach  ahzug  der  evident 
jüngsten  zutaten  ein  mittlerer  stand  der  Überlieferung  in  den  drei  fesselnamen  Lce- 
äingr,  Drömi,  Gleipnir^  in  den  angaben  über  die  Stoffe  zu  der  letzten  (vgl.  Kph. 
II,  432;  Bugge,  N.  F.  s.  335;  meine  Unters,  zur  Sn.  Edda  s.  114);  in  der  angäbe, 
dass  Fenrir  auf  einer  insel  gefesselt  liege,  ein  schwort  seinen  rächen  sperre,  ein 
schaumfluss  dem  maule  entrinne,  zu  erkennen.  —  Der  rest  ergibt  sich  teils  als  blosse 
Vervielfältigung  des  älteren  bestandes  (so  Vil  neben  Viiti;  die  fessel  öc%'a  neben  den 


348  WILKEN,    DER    FENRISWOLF 

schon  in  den  einfacheren  berichten  der  sinn  des  mythns  verdunkelt, 
so  wird  die  skaldische  tradition  nur  durch  glücklichen  zufall  hier  und 
da  richtiges  bewahrt  haben.  Aber  von  irgend  einer  einzelnen  angäbe, 
z.  b.  von  dem  namen  Lyngvi  aus  eine  erklärung  des  mythus  zu  ver- 
suclien  (N.  M.  Petersen  a.  a.  o.)  kann  unmöglich  zu  gesicherten  ergeb- 
nissen  führen;  man  erinnere  sich  hier  nur  an  den  namen  Lyjigvi  als 
heldenname.  Sollte  man  versuchen  mit  hinweis  auf  Amsvartnir.  viel- 
leicht auch  Ff«^  einen  dämon  der  finsternis  in  Fenrir  nachzuweisen,  so 
würde  der  hügel  Stglitnir  diese  finsternis  jedesfalls  auf  die  sternerhellte 
nacht  reducieren.  Wollte  man  den  wasserdämon  mit  einem  hinweis 
auf  den  fluss,  in  dem  Fenrir  gefangen  liegt,  zu  retten  suchen,  so  darf 
nicht  übersehen  werden,  dass  die  skaldische  Überlieferung  weit  mehr 
gewicht  auf  die  aus  dem  maule  des  wolfes  fliessenden  ströme  legt:  dr 
II  falla  or  munid  honinn  —  ok  er  pvi  rett  at  Jcalla  votn  hräka  hans 
(Kph.  II,  431).  Diese  schaumflüsse  sind  von  meinem  Standpunkte  aus 
ohne  Schwierigkeit  zu  deuten i.  —  Sollte  man  endlich  einwenden,  dass 
das  von  den  skalden  vorausgesetzte  lokal  jedesfalls  nicht  als  himm- 
lisches sich  darstelle,  so  ist  vielmehr  zu  betonen,  dass  die  fesselung 
auf  einer  flussinsel  (wobei  nach  der  jüngeren  auffassung  die  wasserarme 
in  ähnlicher  weise  natüi'liche  schranken  bilden  sollten  wie  bei  dem  Zwei- 
kampfe, der  hölmganga)  zunächst  wol  verbietet  an  einen  aufeuthalt  sei 
er  unter  der  erde  oder  in  der  wassertiefe  zu  denken;  die  erdober- 
fläche  aber  gibt  so  viele  berührungen  mit  der  wölken-  und  luftregion, 
und  so  gemisseruiassen  auch  mit  der  himmlischen  heimat  der  götter, 
dass  hier  die  grenze  von  jeher  eine  schwankende  war-.  Allesfalls 
könnte  man  sogar  versucht  sein  bei  bei  der  insel,  auf  der  Fenrir  gefes- 
selt lag,  an  einen  jener  inselartigen  himmelsräume  zu  denken,  die  von 
den  armen  der  milchstrasse  umflossen  sind.  z.  b.  an  die  insel  zwischen 
der  Cassiopeja  und  dem  schwank;  doch  genügt  mir  der  nachweis,  dass 
irgendwie  triftige  gründe  gegen  meine  erklärung  des  mythus  auch  aus 
der  skaldischen  terminologie  sich  nicht  ergeben. 

drei  früheren) ,  teils  als  eiawirkung  des  mythus  von  der  fesselung  Lokis ,  vgl.  cap.  V, 
§6;  ^11,  §4). 

1)  Cap.  VI,  §  9  gegen  ende. 

2)  Vgl.  exeurs  I,  §  2. 

3)  Von  andern  möglichkeiten  nur  noch  diese:  wird  das  Ojallarliorn  von  Mann- 
hardt  (Götterwelt  259)  richtig  auf  den  donuer  bezogen,  so  kann  der  felsen  Gjqll 
ursprünglich  als  dröhnender  wolkenberg  gemeint  sein.  Auch  die  Ojallarbrü  sucht 
derselbe  forscher  s.  320  am  himmel. 

ST.VDE,    DECBR.    1894.  E.    WILKEN. 


SPRENGER,  ZU  GOETHES  FAUST  349 

ZÜE  EEKLÄKUNG  VON  GOETHES  EAUST. 

(Vgl.  die  früheren  bemerkungen  Ztschr.  XXIII.  451  —  457.     XXIV,  506—510. 

XXVI,  141.) 

I,  525  (878)    Bürgermädchen.    Sie  liess   mich  zwar  in  Saiict  Andreas 

Nacht 
Den  künft'gen  Liebsten  leiblich  sehen  — 
Die  Andre.  Mir  zeigte  sie  ihn  im  Krystall. 
Schröer  erinnert  an  das  geistersehen  in  der  glaskugel  im  Gross- 
kophta.  Entgangen  ist  ihm  die  erzählung  vom  krystallschauen  in  den 
Deutschen  sagen  der  brüder  Grimm  bd.  1,  nr.  119,  wo  der  ganze  Vor- 
gang ausführlich  geschildert  ist.  Es  ist  nicht  unmöglich,  dass  Goethe 
von  dieser  erzählung  aus  der  quelle  (Joh.  Rüsts  Zeitverkürzung)  kennt- 
nis  gehabt  hat.  Vielleicht  bezieht  er  sich  aber  auf  die  in  Deutschland 
noch  weit  verbreitete  Verwendung  des  z  au  b  er  spiegeis,  in  dem  der 
Zauberer  oder  die  zauberin  dem  fragenden  mädchen  den  künftigen  gat- 
ten  zeigt.  Vgl.  darüber,  auch  über  die  herstellung  eines  solchen  zau- 
berspiegels.  Ad.  Wuttke,  Der  deutsche  volksaberglaube  der  gegenwart. 
2.  aufl.  Berlin  1869  §  354.  Da  im  Deutschen  wörterbuche  ein  nach- 
weis  für  krystall  =  Spiegel  fehlt,  so  gebe  ich  einen  solchen  vom 
jähre  1815.  Er  findet  sich  in  Langbeins  ballade  „Die  büsserin"  (Neue 
verbess.  aufl.  der  neueren  gedichte.  Leipzig,  Dyk;  o.  j.  s.  210).  Hier 
wird  erzählt,  wie  ein  zauberer  durch  seine  kunst  auf  bitten  ihres  ge- 
mahls  bewirkt,  dass  eine  eitle  frau  statt  ihres  bildes  das  eines  Scheu- 
sals im  Spiegel  erschaut:  „Doch  als  sie  einen  Monat  lang  Sich  ehrlich 
ohne  Heuchelzwang,  Als  Biederweib  gehalten.  Verschwand  der  Dunst 
Der  schwarzen  Kunst  Und  ihr  geheimes  Walten.  Und  wieder  fand, 
mit  Jubelschall,  Die  Dam'  in  jeglichem  Krystall  Den  Schatz,  den  sie 
verloren." 

1658  (2011)  Der  Geist  der  Medicin  ist  leicht  zu  fassen; 
Ihr  durchstudirt  die  gross'  und  kleine  Welt 
Um  es  am  Ende  gehn  zu  lassen 
Wie's  Gott  gefällt. 
Was  unter  der   gross'  und  kleinen  Welt  zu  verstehen  sei,    ist  bei 
Düntzer,  v.  Loeper  und  Schröer  nicht  erklärt.     Wir  haben  hier  offen- 
bar eine  Verdeutschung  von   Makrokosmus  und  Mikrokosmus    (s.  v.  65 
fgg.  und  1449).     Zu  vergleichen  ist  auch  die  im  D.  wb.  VI,  196  ange- 
führte stelle  aus  Hübners  Handlungslexicon   (v.  j.  1722)  1111:    „unser 
ganzer  leib,  der  mikrokosmus,  oder  kleine  weit,  ist,  in  ansehung  des 
macrocosmi,  oder  des  grossen  weltgebäudes,  eine  machina,  wie  die 
neuen  medici  solchen  vielfältig  machinam  corporis  humani  betitteln." 


350  SPRENGER 

Zur  scene  in  Auerbachs  keller  1720  (2073)  fgg.  ist  zu  bemerken, 
dass  Zeche  nicht  nur  eine  zechgesellschaft,  sondern  geradezu  ein  Wirts- 
haus bezeichnen  kann.     Ygl.  Langbeins  Neuere  gedichte  s.  478: 

Sieh,  da  brach  ein  Trupp  Studenten 

Wild  ans  einer  Zech'  hervor. 

Bezüglich  des  namens  Brander  hat  Härtung  an  brand  =  rausch 
erinnert  (s.  Groethes  Faust  erl.  v.  H.  Düntzer,  Leipzig,  Dyk'sche  buchh. 
1,857.  S.  264).  Nun  ist  zwar  dieser  ausdruck  nicht  nur  in  studentischen 
kreisen,  sondern  auch  in  Baiern  (s.  Schmeller,  B.  W.  I^,  360)  und  am 
Ehein  (s.  Kehrein,  Volkssprache  und  volkssitte  im  herzogtum  Nassau 
I,  91)  allgemein  bekannt;  auch  nennt  man  dort  nach  einer  bemerkung 
Riehls  in  „Land  und  leute"  ernen  vollendeten  zecher  einen  tüchtigen 
„brenner".  Doch  scheint  mir  der  name,  so  ausgelegt,  nicht  charak- 
teristisch genug.  Andere  erinnern  an  b  randfuchs  =  student  im 
zweiten  halbjahre  (eigentlich:  fuchs  mit  schwarzem  bauche,  schwarzer 
schwanzspitze  und  schwarzen  laufen);  aber  auch  diese  ableitung  ist 
wenig  wahrscheinlich,  denn  Brander  im  Faust  ist,  wie  auch  Schröer 
bemerkt,  ein  alter  bursch,  der  den  andern  gegenüber  eine  gewisse 
Überlegenheit  zeigt.  In  Nassau  (s.  Kehrein  a.  a.  o.)  sagt  man:  Dat 
ess^n  kerl,  ivie'ti  brand,  wofür  man  sonst  die  bezeichnung  hat:  „Das 
ist  ein  kerl,  wie  ein  bäum."  Ein  „brander"  wäre  danach  ein  dicker, 
starker  mensch.  Ob  die  im  D.  wb.  angeführte  schweizerische  bezeich- 
nung brauder  =  böses  weib  hiermit  zusammenhängt,  oder  ob  sie,  wie 
Grimm  annimmt,  auf  das  „brandschiff"  zurückgeht,  vermag  ich  nicht 
zu  entscheiden. 

3222  (3575)  Das  Kränzel  reissen  die  Buben  ihr. 

Und  Häckerling  streuen  wir  vor  die  Thür. 
Diese  sitte  erwähnt  Gottfried  Kinkel  in  seiner  im  oberen  Ahrtale 
spielenden  novelle  Margret  (1847),  abgedruckt  im  Deutschen  novellen- 
schatz,  herausgegeben  von  Paul  Heyse  und  Hermann  Kurz  4,  233: 
„So  fügte  sie  sich  dem  unrecht,  das  stets  den  unglücklichen  verfolgt; 
aber  mit  blutsverwandten,  die  so  unbrüderlich  an  ihr  gehandelt  hatten, 
vermochte  sie  nicht  mehr  zu  leben,  und  die  Vorstellung  war  ihr 
unerträglich,  dass  eine  boshafte  band  vielleicht  auf  derselben 
schwelle  des  Vaterhauses  ihr  häksei  streuen  könnte,  wo  einst 
an  jedem  ersten  maitag  grünes  mailaub  für  sie  geprangt  hatte."  In 
der  von  Schröer  citierten  stelle  aus  Schmeller  II 2,  803  ist  nur  der 
Strohkranz  erwähnt,  und  der  Strohmann,  der  „allzulustigen"  dirnen 
vor  das  fenster  gestellt  wird. 


zu    GOETHES    FAUST  351 

3437  Und  unter  deinem  Herzen 

Kegt  sich 's  nicht  quillend  schon, 
Und  ängstigt  dich  und  sich 
Mit  ahnungsvoller  Gegenwart? 
Die  verse  lauteten   in  ursprünglicher  gestalt  nach  der  Göchhau- 
senschen  abschrift  (herausg.  von  Erich  Schmidt.    2.  abdr.    AVeimar  1888): 
[V.  1324]  Und  unter  deinem  Herzen, 

Schlägt  da  nicht  quillend  schon, 
Brandschan  de  Maalgeburt! 
Und  ängstet  dich  und  sich 
Mit  ahnde  voller  Gegenwart. 
Yon  den  später  getilgten  werten  brandschande  und  maalgeburt, 
die,  soviel  ich  weiss,  bisher  noch  nicht  erklärt  sind,  ist  das  erste 
unzweifelhaft  eine  Zusammensetzung  mit  brand  in  der  im  Deutschen 
wb.  bd.  II,  296  sp.  11  verzeichneten  bedeutung:  „brand,  mola,  unzei- 
tig abgehende  leibesfrucht  .  .  .  gleichsam  verbrannte  leibesfruclit  oder 
gestocktes  schwarzes  blut."  Bei  maal  könnte  man  an  mal  in  der 
bedeutung:  flecken,  sündliche  befleckung  (vgl.  Weigands  Deutsch,  wb. 
II,  14)  denken;  wahrscheinlicher  ist  es  jedoch,  dass  wir  darin  nichts 
anderes  als  eine  volksetymologische  umdeutung  des  lat.  mola  zu  erken- 
nen haben;  Dies  wird  in  Plinius  nat.  bist.  7,  15,  13  folgen dermassen 
erklärt:  „Ea  est  caro  informis,  inanima,  ferri  ictum  et  aciem  respuens: 
et,  ut  partus,  alias  letalis,  ahas  una  senescens,  aliquando  alvo  citatiore 
excedens.  Simile  quiddam  et  in  viris  in  ventre  gignitur,  quod  vocant 
scirrhon."  Auch  ins  englische  ist  das  lat.  7nola  in  der  form  mole  [„a 
mass  of  fleshy  matter  generated  in  the  uterus."  Webster]  eingedrun- 
gen; ebenso  findet  sich  mole  in  dieser  bedeutung  in  jedem  französi- 
schen Wörterbuche. 

II,  397  (5009)  Der  Bauer,  der  die  Furche  pflügt. 

Hebt  einen  Goldtopf  mit  der  Scholle, 
Salpeter  hofft  er  von  der  Leimenwand 
Und  findet  golden -goldne  Rolle, 
Erschreckt,  erfreut  in  kümmerlicher  Hand. 
Ztschr.  XXIII,    401   habe    ich    schon   bemerkt,     dass    kümmer- 
lich  hier  in    der  bedeutung  von  „ärmlich"    steht.     Ich  bemerke   dazu 
noch  folgendes:    Im  mnd.  ist  kummer  =  not,    mangel;    diese  bedeu- 
tung   ist    auch    in  neueren   mundarten    (s.  Woestes  Westfälisches    und 
Stürenburgs  Ostfriesisches  wb.)  noch  lebendig.     Überhaupt  ist  kummer 
in  seiner  gemeinhochdeutschen  bedeutung,  wie  Yilmar  im  Kurhessischen 


352  SPRENGER 

Idiotikon  s.  231  bemerkt,  in  manchen  gegenden  bei  dem  volke  durch- 
aus nicht  üblich  und  ihm  nicht  einmal  verständlich.  Auch  in  der  Ver- 
bindung „hunger  und  kummer  leiden"  sind  hunger  und  kummer 
ursprünglich  Synonyma.  Ebenso  ist  „Es  geht  ihm  kümmerlich"  =  „er 
leidet  mangel  und  not".  Goethe  gebraucht  hier  also  das  adject.  küm- 
merlich in  einer  bedeutung,  die  das  adv.  noch  allgemein  hat.  Im 
übrigen  bemerkt  Schröer  mit  recht,  dass  nicht  die  band,  sondern  der 
bauer  kümmerlich  ist;  doch  ist  das  wort  nicht  in  dem  im  D.  wb.  5, 
2605  angegebenen  sinne  zu  fassen,  sondern  durch  „mangel  leidend, 
nothaft"  widerzugeben.  Die  dichterische  freiheit,  die  sich  Goethe  ge- 
nommen, ist  nicht  grösser  als  wenn  z.  b.  Er.  Hebbel  in  „Mutter  und 
kind"  7.  gesang  (Werke,  neueste  ausg.  bd.  VIII,  s.  261  z.  5  v.  u.)  vom 
„dürftigen  pfennig"  spricht.  —  Es  mag  noch  bemerkt  werden,  dass 
Salpeter  {sal  petrae  oder  ])atrae)  ein  gepriesenes  heilmittel  der  alten 
zeit  war. 

3190  [7802]  Das  war  ein  Pfad,  nun  ist's  ein  Graus. 
Zu  meiner  bemorkung  Ztschr.  XXVI,  141  trage  ich  jetzt  eine 
stelle  aus  Jeremias  Gotthelf  (Werke,  Cottasche  volksausg.  bd.  3, 
s.  122)  nach,  in  welcher  graus  in  völlig  gleicher  bedeutung  erscheint, 
wie  in  der  dort  angeführten  aus  Lichtwer.  Es  heisst  hier  in  der 
erzählung  „Barthli,  der  Korber"  nach  einer  durch  ein  gewitter  ver- 
anlassten Verwüstung:  „Die  ganze  nacht  stand  der  gestrige  nach- 
mittag vor  seinen  (des  mädchens)  äugen,  als  wie  ein  grosses  beweg- 
liches gemälde.  Es  dachte  nicht,  es  schaute  nur,  fühlte  die  angst  rie- 
seln durch  mark  und  bein;  es  Avar  ihm  das  herz  eingeklemmt,  dass 
es  oft  kaum  athem  hatte,  und  doch  war  ihm  wol  dabei,  es  war  ihm, 
als  ob  hinter  dem  graus  die  sonne  stehe  und  bald  schöner  als  nie 
scheinen  werde  und  die  greuel  verklären  und  alles  vergehen  ...  Zu 
greuel  vgl.  Faust  II,  5458  (10,069):  Steigst  ab  in  solcher  Gräuel 
Mitten,  Im  grässlich  gähnenden  Gestein? 

II,  5524  (10136)  (Mephistopheles) 

Ich  suchte  mir  so  eine  Hauptstadt  aus, 
Im  Kerne  Bürgernahrungsgraus, 
Krummenge  Gässchen,  spitze  Giebeln, 
Beschränkten  Markt,  Kohl,  Eüben,  Zwiebeln; 
Fleischbänke,  wo  die  Schmeissen  hausen. 
Die  fetten  Braten  anzuschmausen ; 
Da  findest  du  zu  jeder  Zeit 
Gewiss  Gestank  und  Thätigkeit. 


ZO   GOfiTHES   FAÜSt  353 

Im  ersten  buche  von  Dichtung  und  Wahrheit  (Hempels  ausg.  s.  14) 
berichtet  Goethe:  „Man  verlor  sich  in  die  alte  Gewerbstadt,  und  beson- 
ders Markttages  gern  in  dem  Gewühl,  das  sich  um  die  Bartholomäus- 
kirche herum  versammelte.  Hier  hatte  sich  von  den  frühsten  Zeiten 
an  die  Menge  der  Yerkäufer  und  Krämer  über  einander  gedrängt,  und 
wegen  einer  solchen  Besitznahme  konnte  nicht  leicht  in  den  neuern 
Zeiten  eine  geräumige  und  heitere  Anstalt  Platz  finden.  Die  Buden 
des  sogenannten  Pfarreisen  waren  uns  Kindern  sehr  bedeutend,  und 
wir  trugen  manchen  Batzen  hin,  um  uns  farbige,  mit  goldenen  Thie- 
ren  bedruckte  Bogen  anzuschaffen.  Nur  selten  aber  mochte  man  sich 
über  den  beschränkten,  vollgepfropften  und  unreinlichen  Markt- 
platz hindrängen.  So  erinnere  ich  mich  auch,  dass  ich  immer  mit 
Entsetzen  vor  den  daranstossenden,  engen  und  hässlichen 
Fleischbänken  geflohen  bin."  Die  vergleichung  beider  stellen 
ergibt  deutlich,  dass  Goethe  bei  der  abfassung  obiger  verse  des  Faust 
Frankfurter  Jugenderinnerungen  vorschwebten.  Zugleich  bietet  die  an- 
geführte stelle  von  „Dichtung  und  Wahrheit"  einen  weiteren  beweis 
dafür,  dass  Bürgernahrungsgraus  nicht  mit  Schröer  als  ein  „Stein- 
haufen, in  dem  sich  der  bürger  nährt"  zu  fassen  ist.  Der  eigentüm- 
liche ausdruck  soll  vielmehr  bezeichnen,  dass  die  in  den  folgenden  ver- 
sen  aufgezählten  gegenstände  der  bürgerlichen  nahrung  (d.  h.  hier  in 
dem  sinne,  wie  er  in  Luthers  Kleinem  katechismus  erscheint,  alle  zur 
erwerbung  desselben  dienende  hantierung)  Mephistopheles  absehen  erre- 
gen, wie  einst  den  jungen  Goethe  in  Frankfurt  das  entsetzen  vor  den 
hässlichen  fleischbänken  in  die  flucht  trieb. 

Interessant  ist  es  zu  sehen,  wie  einer  unserer  neusten  Schrift- 
steller, Alfred  Friedmann,  in  seiner  novelle  „Die  erzählung  des  Hen- 
kers von  Bologna"  (Reclams  Universal -bibliothek  2871,  72  s.  83)  Goe- 
thes verse  in  prosa  aufgelöst  bei  einer  Schilderung  des  alten  Bologna 
verwandt  hat:  „Andrea  strich  durch  krum-enge  gässchen,  an  spitz- 
giebligen  bauschen  vorbei;  auf  einem  beschränkten  markte  bot  man 
den  mit  körben  dahinhuschenden  mägden  kohl,  rüben,  zwiebeln,  citro- 
nen,  orangen,  getrocknete  trauben  an.  Über  den  fleischbänken  schwärm- 
ten die  schmeissfliegen  als  erste  festgenossen  zu  den  fetten  braten,  und 
es  fehlte  nicht  an  lärm  und  geschrei,  üblem  geruch  und  allerhand 
eilender  tätigkeit." 

6604  (11216)  Die  bunten  Vögel  kommen  morgen, 

Für  die  werd'  ich  zum  Besten  sorgen. 
Es  scheint  mir  natürlicher  unter  den  bnnten  vögeln  mit  Düntzer  das 
tolle,  ausgelassene  matrosenvolk  zu  verstehen,  als  die  buntbewimpelten 

ZEITSCHRIFT    F.    DEUTSCHE   THILOLOGIE.      BD.    XXVIII.  23 


354  DüNTZER 

schiffe.  Auch  Schröer  erinnert  daran,  dass  Goethe  mit  dem  ausdruck 
Vögel  eine  volksmasse  zu  bezeichnen  pflegt.  Sollte  dem  dichter  viel- 
leicht die  volksetymologische  form  vagelbunte  für  vagabund  vorge- 
schwebt haben?  Ähnliches,  wie  die  anlehnung  an  die  alte  sprichwört- 
liche redensart  „stank  für  dank"  v.  6576  (11188)  fgg.  [vgl.  ßedentiner 
spiel  V.  1389,  1429],  macht  dies  nicht  unwahrscheinlich. 

NORTHEIM.  E.    SPRENGER. 


LITTEEATUR 

Goethe's  werke.  Herausgegeben  im  auftrage  der  grossherzogin  Sophie  von  Sach- 
sen. I.  band  13,  1.  16,  17  und  24;  IIL  band  6.  IV.  band  15,  16.  Weimar, 
Hermann  Böhlau.    1894. 

Yon  den  vier  bänden  der  eigentlichen  werke  habeii  wir  nur  zwei  näher  zu 
besprechen,  da  von  dem  dreizehnten  noch  die  zweite  abteiluug  aussteht,  die  ausser 
der  ungedruckten  bearbeitung  von  Kotzebue's  „Schutzgeisl"  „Paralipomena"  und  die 
lesaiien  zu  den  stücken  der  ersten  abteiluug  bringen  wird,  der  vierundzwanzigste 
bloss  die  beiden  ersten  bücher  von  „Wilhelm  Meisters  wanderjahren "  ohne  die  les- 
arten  gibt.  Der  sechszehnte  entspricht  wesentlich  dem  dreizehnten  der  ausgäbe  letz- 
ter band;  hinzugetreten  sind  aus  dem  vierten  bände  der  grosse  maskenzug  vom 
deceraber  1818  und  aus  dem  gedruckten  nachlass  das  „Requiem  des  frohsten  mannes 
des  Jahrhunderts" ;  zum  ersten  male  erscheinen  hier  „Schillers  totenfeier"  von  1805 
(mit  einem  facsimile  der  haudschrift)  und  zweinndzwanzig  verse  einer  „Kantate  zum 
reformationsfeste''  (1817),  deren  entwürfe  schon  aus  dem  briefwechsel  mit  Zelter 
bekannt  waren.  Die  herausgäbe  war  unter  bewährte  Ooethekenner  verteilt  worden, 
die  den  ganzen  reichen  schätz  handschriftlicher  überlieferang  und  der  massgebenden 
drucke,  freilich  nicht  nach  durchaus  übereinstimmenden  ansichten,  verwertet  haben, 
wodurch  für  die  kritik  dieser  mannigfaltigen  dichtungen  ein  sicherer  boden  gewon- 
nen ist. 

Den  anfaug  bildet  das  „Neueröffnete  moralisch -politische  Puppenspiel",  unter 
welchem  Schilde  im  jähre  1774  der  „Prolog",  das  „Jahrmarktsfest"  und  „Pater  Brey" 
erschienen  waren ;  hier  tritt  zwischen  die  beiden  letzten  stücke  etwas  auffallend  „Das 
neueste  von  Plundersweilern'"  von  (1781);  jedes  der  vier  stücke  mit  ausnähme  des 
„Prologs"  hat  ein  besonderes  titelblatt;  ja  das  Inhaltsverzeichnis  hat  auch  „Das 
neueste"  unter  das  „Puppenspiel"  gestellt,  „Pater  Brey"  davon  ausgeschlossen.  Wir 
bezweifeln  die  behauptung  (s.  397),  die  behandlung  des  textes  des  „Jahrmarktsfestes" 
sei  nach  Goethe's  tode  ohne  dessen  genehmigung  erfolgt,  vielmehr  dürfte  dieser  dem 
verschlag  Riemers  zugestimmt  haben,  da  bestimmungen  über  änderungen  in  einer  spä- 
teren ausgäbe  seiner  werke  getroffen  worden,  wie  wir  es  von  der  ,, Italienischen  reise" 
und  den  „Wanderjahren"  wissen,  es  von  dem  titel  „Dichtung  und  Wahrheit"  mehr 
als  wahrscheinlich  ist,  und  so  auch  von  den  anstössigen  stellen  im  „Jahrmarktsfest". 
Die  neue  vergleichung  der  eigenhändigen  handschrift  des  „Prologs"  hat  abweich ungen 
von  der  Maltzahnschen  an  drei  stellen  ergeben,  wobei  es  auffällt,  dass  vers  16  auch 
hier,  wie  in  den  drucken,  ,,Will"  statt  „Mitt"  steht,  so  dass  man  ,,Will"  statt  des 
gangbaren  „Mittel"  oder  „Mitte"  für  beabsichtigt  halten  muss.    Die  Vermutung  H  3 


ijBER   GOETHES   WERKE   (-WElM.    AUSG.)  355 

stamme  aus  der  im  jähre  1782  der  herzogia-mutter  gescheukton  handschriftlichen 
Sammlung  seiner  „Ungedruckteu  Schriften"  scheint  uns  dadurch  widerlegt,  dass  Goethe 
diese  1786  an  Herder  gab,  um  sie  für  den  druck  durchzugehen;  ist  doch  kaum  anzu- 
nehmen, Goethe  habe  sich  sein  geschenk  zu  diesem  zwecke  zurückgeben  lassen,  um 
es  als  sein  eigentum  zu  benutzen.  Freilich  stammt  die  in  schrift  und  papier  ganz 
ähnliche  handschrift  der  „Lila"  und  der  „Vögel"  sowie  die  der  „Briefe  aus  der 
Schweiz"  aus  jenem  geschenk,  aber  diese  tragen  auch  die  aufschriften  „Goethe's 
ungedruckte  Schriften  I.  heft,  IL  heft"  und  auf  dem  deckel  das  wappen  der  herzogin- 
mutter  und  sind  nicht  von  Herder  durchcorrigiei-t.  Ebensowenig  war  die  hand- 
schrift des  singstücks  „Jery  und  Bätely"  trotz  der  gleichheit  von  schrift  und  papier 
in  dem  besitze  von  Anna  Amalia;  sie  ist  nicht  als  heft  von  Goethe's  „Ungedruckten 
Schriften"  bezeichnet,  trägt  auch  nicht  das  wappen  der  herzogin,  und  Goethe  hat 
sie  mit  nach  Italien  genommen,  um  sie  zum  drucke  durchzusehen.  Auf  die  selt- 
same annähme,  Goethe  habe  sich  die  einst  der  herzogin  -  mutter  geschenkten  hand- 
schriften  zur  durchsieht  für  den  druck  geben  lassen,  und  sie  nicht  zurückerstattet, 
würde  man  nicht  geraten  sein,  hätte  man  sich  erinnert,  dass  Goethe  schon  1781,  ehe 
er  kostbar  gebundene  hefte  zu  ihrem  geburtstag  dieser  verehrte,  ohne  zweifei  gleich 
geschriebene  abschritten  auf  gleichem  papier  als  Weihnachtsgeschenk  der  frau  v.  Stein 
gegeben,  die  er  dann  binden  lassen  wollte.  Vgl.  meine  „Charlotte  von  Stein"  I,  165  fgg. 
Von  ihr  sich  die  abschriften  der  stücke  zu  erbitten,  die  er  unter  seinen  papieren 
nicht  fand,  lag  sehr  nahe.  Wir  wissen,  dass  er  sich  von  ihr  die  abschritt  seiner 
„Iphigenie"  geben  liess,  um  sie  Wieland  zur  durchsieht  mitzuteilen.  Die  vorhan- 
denen abschliffen,  die  sich  aus  dem  geschenke  an  die  herzogin  -  mutter  im  Goethe - 
archiv  fanden,  erhielt  Goethe  wol  erst  nach  ihrem  tode  zurück. 

Zum  „Jahrmarktsfest"  hatte  Goethe  Herders  änderungen,  besonders  seine 
Satzzeichnung,  benutzt;  diese  nahm  er  nicht  alle  auf,  aber  zuweilen  eine  ungehörige. 
S.  4  hatte  Herder  das  rheinische  „cujonirt"  (von  cujon,  schelm,  das  sich  in  „Pater 
Brey"  286  findet)  nicht  verstanden,  und  deshalb  durch  ein  NB.  beanstandet.  Goethe 
setzte  dafür  ohne  not  ,,schikauirt".  Dass  494  das  von  Herder  angenommene  „half" 
schlechter  sei  als  Goethes  „hülf",  hat  der  herausgeber  bemerkt.  Mit  recht  hat  dieser 
auch  184  manch'  statt  des  1789  aus  versehen  hereingekommenen  die  hergestellt. 
Verfehlt  aber  ist  seine  Vermutung  zu  179,  „panton"  sei  abkürzung  von  „pantomime"; 
es  war  wol  eine  gangbare  bezeichnung  des  zigeuuerburschen ,  die  Goethe  sich  gemerkt 
hatte.  Dagegen  scheint  das  zuerst  nach  403  vorkommende  „Marcia"  zur  bezeichnung 
des  marktschreiers  wol  ein  im  freundeskreise  beliebter  scherzhafter  ausdruck.  In  den 
auftritten  zwischen  Ahasverus  und  Haman,  worin  zwei  lücken  nach  Salzmanns  exem- 
plar  ausgefüllt  sind  (s.  401  fg.),  war  27  „tapfer"  eine  verfehlte  Vermutung Mommsens 
für  „tapfern",  die  nur  statthaft  wäre,  stände  vorher  sie  statt  wir.  „Tapfer"  war 
gangbares  beiwort  der  kinder  im  sinne  von  „stark". 

Beim  „Neuesten  von  Pluudersweilern "  werden  aus  dem  Wiener  druck  von 
1817,  der  gewöhnlich  für  einen  nachdruck  der  gleichzeitigen  Cotta'schen  ausgäbe  gilt, 
die  merkwürdigen  abweichungen  von  dieser  angeführt,  weil  sie  mit  den  handschrif- 
ten  übereinstimmen.  Gleichzeitig  hat  Seuffeit  im  „Goethe -Jahrbuch"  XV,  157  — 170 
Untersuchungen  über  diese  Wiener  ausgäbe  in  bezug  auf  die  erzählung  „Die  guten 
weiber"  angestellt,  woraus  sich  ergibt,  dass  bei  ihr  eine  andere  vorläge  benutzt  wor- 
den sein  müsse.  Goethe  hatte  wirklich  von  den  in  der  früheren  Cotta'schen  ausgäbe 
noch  nicht  gedruckten  dichtungen  abschriften  nach  Wien  geschickt,  worin  man  aus 
der  handschrift  mehrere  stellen  aufgenommen  hatte ,  welche  in  der  früher  nach  Stutt- 

23* 


356  DÜNTZKR 

gart  geschickten  dnickvoiiage  verändert  waren.  Später  Hess  er  einen  abdruck  des 
„Divaa"  mit  verbesserang  der  druckfehler  nacli  "Wien  abgehen.  Die  abweichuugen 
in  B  1  haben  demnach  nur  geschichtlichen  wert  gegenüber  den  für  die  Cotta'sche 
ausgäbe  festgesetzten  lesarteu.  S.  408  fg.  finden  wir  eine  einleitung,  welche  Goethe 
zu  dem  „Neuesten"  am  6.  december  (dem  Nikolaitage)  1827  für  Tiefurt  geschrie- 
ben, wo  das  betreffende  bild  sich  findet.  Die  bescherung  am  Nikolaitage,  an  deren 
stelle  erst  seit  der  reformation  die  zu  Weihnachten  trat,  hatte  sich  auch  an  manchen 
deutschen  orten,  wie  zu  Gotha,  erhalten,  in  "Weimar  war  sie  vielleicht  durch  die 
russische  grossfürstin,  die  gemahlin  des  erbprinzen,  eingeführt  worden,  da  sie  in 
ihrer  heimat  allgemein  am  tage  des  hauptheiligen  stattfand.  —  Zu  276:  „Und  bringt 
den  Alten  fast  den  tod",  fragt  der  herausgeber:  „nämlich  ^'urstel  uud  dem  Mann 
in  reifrock ?"  Aber  "Wurstel,  der  den  alten  immerfort  neckt,  kann  nicht  auch  sich 
selbst  „den  tod  drohen",  wie  es  die  folgende  rotte  tut.  Demnach  könnte  man  mit 
Scholl  dem  Alten  fordern,  aber  die  alten  sind  die,  welche  in  dieser  bude  noch 
immer  spielen,  die  Vertreter  der  klassischen  französischen  tragödie.  Vgl.  266  „vor 
alters". 

In  den  beiden  aus  den  neunziger  jähren  stammenden  parabeln  und  der 
legende  von  1797  habe  ich,  um  einen  fuss  mit  drei  Senkungen  zu  vermeiden, 
„'nen"  statt  „einen",  „fröhl'che"  statt  , fröhliche",  „'ne"  statt  „eine"  gesetzt.  Der 
herausgeber  lässt  die  überlästigen  silben  stehen,  meint  aber:  „eher  ein'n  oder 
ein''',  wonach  er  denn  auch  an  der  dritten  stelle  „eher  noch  ein"  möchte.  Der 
einzige  grand  dieses  „ehei'"  bildet  die  Verweisung  auf  die  anmerkungen  zu  fünf  ver- 
sen  des  1776  gedichteten  „Hans  Sachs".  Diese  anmerkungen  aber  enthalten  nur 
die  angäbe  der  lesarten,  wonach  31  .,ein"  für  „einen"  (ein'n)  steht,  116  gedruckt 
ist  „u'n"  oder  „en"  (statt  „einen"),  66  und  86  ,,ein'm",  72  „sein'u".  Merkwürdig 
scheint,  dass  metrisch  hier  nirgends  die  verkürzte  form  nötig  ist,  da  in  demselben 
gedichte  „eine",  „einen",  „einem"  die  Senkung  des  fusses  bilden  (4,  11,  19,  29, 
80),  wie  auch  „ihre"  (56).  Aus  dem  recht  schwankenden  gebrauch  seines  „Hans 
Sachs"  auf  Goethe's  gebrauch  in  den  neunziger  jähren  zu  schliessen,  sind  wir  in 
keinem  falle  berechtigt.  Auch  Schiller  und  Herder  haben  in  dieser  zeit  „'nen"  statt 
„einen",  selbst  „'mal"  statt  ,, einmal".  "Warum  hat  der  herausgeber  nicht  das  in  die 
neunziger  jähre  fallende  gedieht  ,, Künstlers  fug  und  recht"  beachtet,  wo  auch  die 
Weimarer  ausgäbe  (H,  192  fgg.)  „'nen"  (statt  „einen-),  wie  auch  „ihn'n"  hat.  "Wenn 
auch  Goethe  in  den  siebziger  jähren  sich  bei  solchen  Verkürzungen  des  Wegfalls  der 
letzten  silbe  bediente,  so  hat  er  doch  später  die  erste  abgestossen,  wie  er  auch 
„'nein",  „'naus",  „'rum",  „'s"  (für  ,,das")  brauchte.  Freilich  im  zweiten  „Faust" 
6813  findet  sich  das  Frankfurter  ,,noch  e'  wein",  dagegen  ist  im  ersten  3620  das 
ursprüngliche  „bei  em  gelag"  in  „bei  einem  gelag"  verändert.  Eine  durchgängige 
gleichheit  wird  hier  schwer  herzustellen  sein,  wie  denn  auch  die  "SYeimarische  aus- 
gäbe sie  nicht  erstrebt  hat;  in  unserem  bände  dürfte  sie  zu  weit  gegangen  sein,  ohne 
sie  ganz  zu  erreichen.  Misslich  war  es,  dass  die  betreffenden  stücke  von  vei"schie- 
denen  bearbeitet  wurden,  wenn  diese  auch  darin  übereinstimmen,  dass  sie  auf  das 
metrische  zu  wenig  achten  und  das  zeichen  eines  ausgefallenen  vokals  oder  einer 
silbe  ungleichmässig  anwenden.  "Wenn  im  „Pater  Brey"  77  mit  „Mein  tochter"  be- 
ginnt, so  muss  auch  53  „mein"  statt  „meine"  stehen,  da  der  vers  nur  so  gelesen 
werden  kann.  316  ist  „ein"  imnötige  ändeiamg  für  „einen",  da  so  „meinen",  „meinem", 
,,seiner"  den  Jambus  beginnen.  So  ist  das  urspi'üngliche  „keinen"  trotz  Hiinburgs  „kein'" 
beizubehalten  oder  zu   „kein'n"   zu  machen.     Überhaupt  entbehrt  man  hier  ein  bild, 


ÜBER    GOETHES    WERKE    (\VEIM.  AUSC.)  357 

wie  die  ausgaben  mit  den  formen  iimgesprungen  sind.  Im  „SatjTos"  wird  der  letzte 
vokal  abgestossen  in  „steif",  „ander'",  „ein'",  „ewig'",  dagegen  stehen  94  „eine", 
95  „ein's",  96  ,,mein'n",  lö2  „meiu'u",  aber  es  ist  105  „seinen"  durchgeschlüpft, 
wo  der  vers  „sein'n"  oder  vorher  ,,narr'n"  verlangt,  und  ähnlich  manclies  andere.  Der 
herausgeber  bemerkt  zu  der  stelle  der  ersten  parabel:  „das  überlieferte  einen  gäbe 
drei  Senkungssilben  des  taktes,  was  immerhin  anstössig  und  unrhythmisch,  wenn  auch 
nicht  ohne  scheinbare  parallelen  in  Goethe's  knittelversen  wäre",  wonach  er  denn  auch 
in  der  zweiten  parabel  sich  den  vers:  „Dass  mir  so  fröhliche  gesellen  begegnen" 
gefallen  lässt.  Aber  diese  fälle  mussten  doch  genauer  bestimmt  werden.  Sie  finden 
sich  besonders  in  den  „zahmen  Xenien"  und  sind  entweder  durch  die  ausspräche  und 
die  danach  gebotene  elision  eines  vokals  zu  beseitigen  oder  als  versehen  zu  betrach- 
ten. Ich  habe  bei  anderer  gelegenheit  weiter  ausgeführt,  wie  nachlässig  Goethe's 
ausgaben  besonders  mit  den  abgebogenen  formen  der  Wörter  auf  ich  und  ig  verfah- 
ren, bei  denen  der  dichter  auch  eine  uns  härter  scheinende  elision  nicht  scheut. 

Bei  „Hans  Sachsens  poetischer  Sendung"  wird  mit  grosser  genauigkeit  über 
die  lesarten  berichtet.  6  hat  man  neuerdings  die  lesart  des  ersten  druckes  „an  den" 
dem  mit  recht  früher  beibehaltenen  „an  dem"  vorgezogen.  Aber  der  meister  steckt 
nicht  sonntagsmorgens  die  ahl  an  den  arbeitskasten ,  er  hat  dies  schon  am  vorigen 
abend  getan.  7  scheint  mir  „sieb'ntem"  ungehörig,  da  ein  anapästischer  versschluss 
sich  auch  65,  87,  95,  118  findet.  57  ist  doch  die  Zusammensetzung  „natur-genius" 
mir  bedenklich;  ich  ziehe  „Der  natur  genius"  vor.  Prosodisch  klingt  der  vers ,  der  mit 
einem  anapäst  beginnt,  fi'eilich  etwas  hart,  aber  nicht  weniger  der  anfang  des  folgen- 
den „Soll  dich  führen",  noch  mehr  62:  „Schieben,  reissen,  drängen  und  reiben", 
und  vollends  59  „Soll  dir  zeigen  alles  leben".  Aber  dieser  diirfte  dreifüssig  sein 
und  anapästisch  beginnen.  Dass  179  „weil  er"  weit  besser  als  „wie  er"  sei,  möchte 
ich  nicht  zugeben. 

Von  „Künstlers  erdenwallen"  lag  die  schöne  leinschrift  von  1774  vor,  die 
mehrere  abweichungen  zeigt;  so  fehlt  29  die  frage  der  frau:  „Bist  schon  wach?" 
In  „Künstlers  apotheose",  wovon  keine  handschrift  sich  erhalten  hat,  ist  E.  Schmidts 
unzweifelhafte  Verbesserung  „im  (statt  „ein")  schwefelpfuhl"  aufgenommen,  wobei  zu 
bemerken  war,  dass  „schwefelpfuhl"  die  biblische  bezeichnung  der  hölle  ist.  Vom 
„  Epilog  zu  Schillers  glocke "  konnte  die  erste  fassung  verglichen  werden.  Eine  liand- 
schrift  der  „Geheimnisse"  ist  nicht  vorhanden  mit  ausnähme  von  drei  ursprünglich 
dazu  gedichteten  stanzen.  Bedauerlich  ist,  dass  hier  drei  im  drucke  durchgegangene 
versehen  in  den  ,, lesarten"  verbessert  werden  mussten.  Unter  den  Vorbemerkungen 
zum  maskenzng  ,,Die  romantische  poesie"  wird  vermutet,  der  erste  entwurf  rühre 
von  Eiemer  her;  dies  ist  an  sich  höchst  unwahrscheinlich,  als  unmöglich  erweist  es 
sich  durch  das  was  wir  aktenmässig  wissen.  Des  herausgebers  begründung,  Riemer 
habe  den  titel  und  das  vorwort  geschrieben,  ist  eben  gar  keine.  Sonst  sind  die 
hier  und  zu  dem  grossen  maskenzug  von  1818  gemachten  mitteilungen  höchst  dan- 
kenswert, doch  hat  sich  die  redaktion  genötigt  gesehen,  die  vers  148  gemachte 
änderung  des  zweiten  sich's  in  sich  zurückzunehmen,  da  nicht  der  geringste  stich- 
haltige grund  für  einen  vom  herausgeber  angenommenen  hartnäckigen  fehler  zu 
finden  ist.  Als  Paralipomena  zu  dem  zuge  erhalten  wir  auch  sechs  versuchte 
verse  auf  demselben  blatte,  das  den  anfang  und  das  ende  der  cinführung  Mahomets 
und  den  beginn  des  auftretens  des  Götz  enthält.  Sie  waren  wol  zur  persönlichen 
einführung  Mahomets  bestimmt,  während  die  wirkliche  abfassung  sich  ganz  auf  das 
von  Goethe  übersetzte  stück  Voltaii'e's  bezieht. 


358  DÜNTZER 

Zu  dem  festspiel:  „Des  Epimenides  erwachen"  ist  der  umfangreiche  stoff  in 
genauer  bearbeitung  gegeben.  Nicht  billigen  können  wir  die  annähme,  die  handschrift 
des  Programms  H  2  sei  jünger  als  H  und  H  1,  erst  zur  zeit  entworfen,  wo  Goethe 
Ifflands  brief  vom  28.  mai  erbalten  hatte;  denn  alle  auf  diesen  bezüglichen  stellen 
der  beiden  anderen  haudschriften  fehlen  hier.  Wenn  462  Göttling  die  werte  „Wei- 
gert sich  die  süsse  braut"  nicht  ganz  klar  fand  und  er  deshalb  Goethe  zur  änderung 
veranlasste,  so  übersah  er,  dass  hier  „weigern"  im  sinne  von  „verweigern"  steht  mit 
abhängigem-  accusativ  („das  verlangen").  Höchst  anziehend  ist  die  mitteiluug  des 
zwischen  901  und  902  ausgefallenen  auftrittes  mit  den  auf  Bernadotte  bezüglichen  ver- 
sen  des  Epimenides. 

Die  bedeutendste  neue  gäbe  dieses  bandes  ist  „Schillers  totenfeier",  die  Suphan 
im  anhange  uns  bieten  konnte.  Schon  auf  der  Berliner  Goetheausstellung  von  1861 
hatte  man  ein  darauf  bezügliches  blatt  Goethe's  gesehen,  das  dieser  bald  nach  Schil- 
lers tod  dem  gemeinschaftlichem  freunde  Zelter  gegeben  hatte.  Einen  vollständigen 
abdnick  der  in  ihrer  kürze  rätselhaften  inhaltsangabe  brachte  die  Hempel'sche  aus- 
gäbe von  Goethe.  Suphan  entdeckte  im  Goethearchiv  drei  andere  dazu  gehörige  auf- 
zeichnungen  Goethe's.  Auf  einem  schmalen  quartblatt  befand  sich  ausser  jeuer  Zelter 
gegebenen  mitteilung  nebst  einem  zusatz  auf  der  rückseite  ein  flüchtiger  entwurf  eines 
auftritts,  worin  tod  und  schlaf  erscheinen,  der  erste  von  verschiedenen  angesprochen 
wird.  Auf  einem  zweiten  findet  sich  das  scenarium  von  vier  auftritten  und  eine 
figürliche  Übersicht  des  aufbaues.  Die  weiteste  ausführung  der  zu  Schillers  geburts- 
tag,  den  10.  november  seines  todesjahres,  auf  der  Weimarischen  bühue  zu  gebenden 
totenfeier  enthält  ein  quartheft,  von  welchem  zehn  blätter  nummeriert  und  beschrie- 
ben sind,  die  beiden  ersten  mit  den  uamen  der  auftretenden  personen,  die  drei  fol- 
genden mit  versen  der  ausführung,  die  fünf  letzten  mit  einem  den  Inhalt  oder  den 
Sprecher  bezeichnenden  wort,  bloss  blatt  6  gibt  auf  der  Vorderseite  das  wort  „dich- 
tung"  nebst  zwei  versen,  auf  der  rückseite  „dichtuug  allein".  Der  herausgeber  hat 
später  in  der  „Deutschen  rundschau"  einen  feinsinnigen  versuch  gemacht,  den  plan 
der  merkwürdigen  dichtung  zu  erraten.  In  allen  hauptpunkten  stimme  ich  bei. 
Dort  liest  Suphan  jetzt  z.  7  der  ersten  handschrift  mit  dem  wider  aufgefimdenen  von 
Goethe  an  Zelter  gegebenen  blatte  richtig  „zum  katafalk"  statt  „ins  tr(aurige?)".  Fest 
steht,  dass  eine  fröhliche  feier  der  Volkstümlichkeit  Schillers  von  allen  altern,  Jüng- 
lingen, Jungfrauen,  niännern  und  greisen  die  einleitung  bilden  sollte,  wobei  einzelne 
personen  seiner  dichtung  hervortraten;  doch  war  die  erfindung  dieses  eingangs  noch 
nicht  abgeschlossen.  Unterbrochen  wird  die  festfeier  durch  einen  heftigen  donner- 
schlag,  wie  in  der  „Jungfrau  von  Orleans",  und  es  erscheint  der  tod  (Thanatos)  mit 
seinem  zwillingsbruder,  dem  schlaf  (Hypnos),  um  anzukündigen,  dass  er  gekommen, 
den  gefeierten  dichter  abzurufen,  wie  bei  den  alten  der  tod  oder  Persephone  an  die 
türe  klopft.  In  Goethe's  weise  lag  es,  die  wirklichen  Verhältnisse,  die  er  dichtei'isch 
verklärt,  umzugestalten.  Wir  erinnern  nur  an  das  gedieht  auf  Miediug's  tod,  an  die 
Vision  in  dem  glückwunsch  zum  geburtstag  des  herzogs  „Ilmenau"  und  an  den  „Epi- 
log zu  Schillers  glocke".  So  stirbt  hier  Schiller  nicht  nach  einer  krankheit,  sondern 
ganz  unerwartet.  Vergebens  suchen  Jünglinge,  mädcheu,  mann  und  greis  den  gelieb- 
ten dichter  vom  tod  zn  erbitten.  An  die  stelle  derselben  traten  im  späteren  Schema 
andere.  Ich  lese  die  stelle  so:  „Tod,  aufgefordert  (statt  „aufgehört")"  von  (statt 
„vom")  der  Verwandtschaft  (statt  „verwandten"),  der  liebe  (das  wort  steht  als  Ver- 
besserung über  „Freundschaft"),  der  Weisheit,  der  poesie."  Ich  kann  um  so  weniger 
mit  Suphan  annehmen,    dass  „aufgehört"    die  rede  des  todes  in  dem  satze:    ,,Es  ist 


ÜBER    GOETHES    WERKE    (WEIM.    AUSG.)  359 

am  ende"  andeuten  soll,  als  das  folgende  „von"  dann  unerkläii  bleibt.  Die  ankün- 
digang  des  todes  hat  Goethe  gar  nicht  angedeutet.  Bei  der  späteren  ausführaug  war 
zuerst  geschrieben  :  „Verwandtschaft",  dann  daneben  und  darüber:  „Chor  der  jugeud" 
y.aacyviTi]^  gattin,  kinder".  Das  griechische  wort,  wie  mehrere  andere,  hatte  Goethe 
mit  blei  über  das  deutsche  geschrieben.  Die  Überschrift  änderte  er  dann  in  „Gattin 
und  junger  chor"  und  von  der  gattin  hiess  es  darauf  „sich  und  die  kinder  darstel- 
lend". Ein  paar  schöne  verse  sind  ausgeführt.  Statt  der  „Freundschaft"  gab  die 
ausführung  „Freund  und  älterer  chor".  Goethe's  eigene  klage  um  den  freund  hört 
mau  bei  der  ausführung:  „Wer  reicht  mir  die  band  beim  versinken  ins  reale?  "Wer 
gibt  so  hohe  gäbe?  „Wer  nimmt  so  freundlich  an,  was  ich  zu  geben  habe?"  In 
mehreren  versen  ist  des  todes  antwort  treffend  ausgeführt,  gar  nicht  die  „Klagen  im 
abwechselnden  chor".  Vor  der  bitte  der  Weisheit  ist  bei  der  ausfühiaing  des  Va- 
terlandes (verbessert  in  Deutschland)  eine  herbe  erwideiimg  eingeschoben.  Uner- 
bittlich entfernt  sich  der  tod.  Bei  der  Verwandlung  der  scene  erscheint  ein  katafalk, 
wol  in  einer  kirche  wie  in  Schillers  „Braut  von  Messina".  Vor  diesem  beginnt  der 
trauergesang;  in  der  zweiten  fassung  hiess  es  „die  chöre",  in  der  letzten  handschrift 
wohl  mit  beziehung  auf  Schillers  so  überschriebenes  gedieht  „Nänie".  Suphan  lässt 
sie  singen,  während  die  Verwandlung  sich  vollzieht.  Der  „epilog"  wird  vor  dem 
katafalk  gesprochen  vom  vaterlande.  Im  zweiten  schema  steht  in  der  mitte  des  drit- 
ten auftritts  „Vaterland",  zu  beiden  selten  „Chöre".  Am  Schlüsse  hiess  es  zuerst: 
„Verwandlung  ins  heitre.  Gloria  in  excelsis. "  Die  figürliche  darstellung  hat  in  der 
spitze  der  pyramide  die  zahl  3,  im  dritten  auftritt  2  über  ,, Vaterland",  im  zweiten  1 
über  ,,Thanatos.  Hypnos".  Der  letzte  entwuif  gibt  hier  nur  ,,]VIagnificat".  Es  bedarf 
keines  wertes,  dass  hier  die  Verklärung  im  himmel  gemeint  ist,  aus  welchem,  wie 
es  im  epilog  zur  „Glocke"  heisst,  „sein  verklärtes  wesen  herniederschaut".  Am  ende 
des  zweiten  „Faust"  erscheint  den  teufein  der  hölle  gegenüber  „Glorie  von  oben 
rechts",  und  darin  die  „himmlische  heerschaai"'.  Der  chor  sollte  hier  die  Verklärung 
und  rasche  Weiterentwicklung  feiern  wie  im  „Faust"  die  seligen  knaben. 

Bei  den  ausätzen  zur  „Kantate",  die  den  band  schliessen,  ist  zu  bemerken, 
dass  5  fg.  als  gestrichen  zu  betrachten  sind,  zu  „sonne"  (7)  etwa  „leuchtet"  zu  den- 
ken ist  und  „Baal"  (19)  anrede  sein  soll.  Am  Schlüsse  ist  wol  „denken"  statt  „deu- 
ten" zu  lesen,  wie  es  z.  b.  Iphigenie  1765  steht. 


Zur  herstellung  des  siebzehnten  bandes,  der  dem  vierzehnten  der  ausgäbe 
letzter  band  entspricht,  wurde  die  arbeit  auf  vier  anerkannte  kritiker  verteilt,  von 
denen  einer  sich  um  die  von  ihm  übernommene  dichtung  schon  früher  verdient 
gemacht  hatte.  Die  bearbeitungen  sind  auch  hier  nicht  ganz  gleichmässig,  was  sich 
zum  teil  auch  äusserlich  zeigt.  Die  des  „Triumphs  der  empfindsamkeit"  beginnt  mit 
der  entstehungsgeschichte.  Die  behauptung,  dass  „Proserpina",  die  den  vierten  akt 
bildet,  ursprünglich  für  sich  gedichtet  gewesen,  später  eingeschoben  sei,  beruht  frei- 
lich auf  Goethe's  eigenem  berichte,  aber  auf  einem  sehr  späten  der  „Tag-  und  jah- 
reshefte",  wo  besonders  in  den  ersten,  die  werke  sehr  summarisch  angebenden  jähren 
nicht  alles  richtig  ist.  Der  erste  drack  der  „Proserpina"  erfolgte  ende  Januar  1778, 
um  bei  der  aufführung  des   „Triumphes  der  empfindsamkeit"    zum    geburtstage    der 

1)  So  schrieb  er  für  xaaiyi'rjT)]^  indem  er  den  zweiten  teil  des  wertes  mit 
yavsTt]  in  Verbindung  brachte.  Bei  dieser  annähme  schwinden  aUe  bei  Suphan  blei- 
benden Schwierigkeiten  und  unwahrscheinlichkeiten. 


360  DÜNTZER 

herzogin  als  textbuch  zu  dienen;  dieser  ist  ganz  verschollen,  erwiesen  wird  er  durch 
eine  rechnung  des  Weiraarischen  buchdruckers  Glüsing.  Nach  ihm  erfolgte  wol  der 
abdruck  am  anfang  des  februarheftes  von  Wielands  „Merkur-".  —  Wenn  Goethe  am 
abend  des  15.  november  den  dritten  akt  des  Stückes,  den  „Oronaro"  dichtete  (im 
tagebuch  ist  „Abends  allein.  Gelesen.  Oronaro"  zu  schreiben),  so  wird  „Proserpina'' 
gleich  darauf,  in  den  tagen  vom  17.  bis  zum  24.,  gedichtet  sein,  von  denen  das 
tagebuch  nachträglich  einen  sehr  kurzen  summarischen  bericht  gibt;  wahrscheinlich 
vom  22.  bis  zum  24.,  als  der  hof  zu  Gotha  weilte.  Erst  nach  der  rückkehr  von  der 
Harzreise  begann  Goethe  den  sechsten  akt,  von'  dem  der  brief  an  die  Stein  vom  26. 
(nicht  27.)  december  spricht.  —  Kühn  finde  ich  den  zweifei  an  dem  früheren  namen 
des  Stückes  „Die  empfindsamen",  womit  das  tagebuch  am  10.  februar,  ja  schon  der 
brief  an  frau  von  Stein  vom  12.  September  1777  es  nennt;  erst  später  wurde  er  in 
„Triumph  der  empfindsamkeit"  verändert.  „Die  empfindsamen"  waren  Mandandane 
und  Oronaro.  Der  herausgeber  behauptet,  der  titel  „Die  geflickte  braut'',  unter  dem 
Böttiger  das  stück  nach  der  Überlieferung  älterer  Weimarer  nennt,  lasse  sich  urkund- 
lich nicht  nachweisen.  Er  übersieht  dabei  eine  äusserung  Jacobis.  Dieser,  der  eben 
Goethe  in  Weimar  besucht  hatte,  schreibt  ihm  am  13.  Oktober  1784:  „Ich  las  ihr 
[der  Jüngern  halbschw'ester  Helene]  den  folgenden  tag  „Die  gefückte  braut"  vor,  und 
wir  hatten  grosse  lust."  Er  muss  also  in  Weimar  eine  abschrift  des  Stückes  erhalten 
haben.  In  der  aus  Jacobis  uacblass  stammenden  handschrift  führt  die  posse  den 
namen  „Der  triumph  der  empfindsamkeit".  Will  mau  also  nicht  die  höchst  unwahr- 
scheinliclie  annähme  macheu,  Jacobi  habe  später  noch  eine  andere  abschrift  erhalten 
oder  sich  anfertigen  lassen,  so  muss  Goethe  selbst  im  gespräch  das  stück  mit  diesem 
namen  bezeichnet  haben,  mit  dem  sie  auch  in  Weimar  zur  zeit  genannt  worden  sein 
wird.  Hiermit  erledigt  sich  die  vom  herausgeber  angenommene  mögiichkeit,  Jacobi 
habe  schon  1778  eine  abschrift  erhalten.  So  bezweifelt  er  denn  meine  angäbe,  dass 
die  hier  erwähnte  „Freundschaft  und  liebe"  1779  erschienen  sei,  möchte  selbst  in 
diesem  falle  einen  späteren  zusatz  annehmen.  Ganz  übersehen  hat  er  dabei,  dass 
die  hier  vorausgesetzte  Verbindung  Goethe's  mit  Jacobi  bereits  im  jähre  1778,  ja 
schon  1777  aufgehört  hatte.  Für  die  zeit  der  abschrift  wird  ganz  ungehörig  der 
Inhalt  der  dichtung  angeführt;  denn  dass  die  ursprüngliche  gestalt  dieser  posse 
wesentlich  in  der  liandschrift  vorliege,  nimmt  man  allgemein  an.  Ebenso  wenig  dürfte 
gezweifelt  werden,  dass  die  aus  Jacobis  nachlass  erhaltene  handschrift  diejenige  sei, 
die  er  1784  aus  Weimar  mitgebracht  hatte.  Wer  sie  geschrieben,  wissen  wir  nicht. 
Goethe  Hess  wol  für  Jacobi  eine  abschrift  von  dieser  posse  und  dem  „Jahrmarktsfest" 
anfertigen,  und  zwar  von  demselben  abschreiber,  der  ihm  gerade  zur  band  war.  — 
Seine  bezeichuung  im  tagebuch  vom  30.  Januar  1778  als  „das  neue  stück"  ist  nicht 
„\ingenau",  wie  der  herausgeber  sagt,  sondern  ganz  treffend:  die  posse  war  das  neue 
stück,  dessen  proben  ihn  so  lange  beschäftigt  hatten.  —  Seltsam  finden  wir  die  Ver- 
mutung, bei  den  der  bearbeitung  von  1786  eingefügten  worten  „Der  gute  Jüngling" 
könnte  von  Westenrieder's  „Leben  des  guten  Jünglings  Engelhof"  vorschweben.  Ab- 
gesehen von  einer  so  undeutlichen  bezeichnung  wäre  es  so  ungeschickt  wie  möglich, 
wenn  Goethe ,  als  er  das  stück  für  den  weiteren  leserkreis  anziehender  machen  wollte, 
auf  ein  vor  vier  jähren  erschienenes  verschollenes  buch  hingedeutet  hätte,  und  dazu 
eines,  das  mit  verliebter  empfind-samkeit  nichts  zu  tun  hatte.  Nie  wüi'de  der  her- 
ausgeber auf  eine  solche  Vermutung  gekommen  sein,  hätte  er  bedacht,  weshalb  der 
dichter  gerade  diese  stelle  änderte.  Er  warf  eben  die  erwähnung  mehrerer  längst 
vergessener  bücher  heraus,  und  hielt  sich  dafür  länger  bei  dem  noch  immer  berühm- 


ÜBER    GOETHES    WERKE    (WEI.M.    AUSG.)  361 

ten  und  gelesenen  ^  Sieg  wart"  auf;  dass  die  stelle  auch  auf  diesen  sich  beziehen 
könnte,  entgieng  auch  dem  herausgeber  nicht.  Wenn  die  worte  in  der  haudschrift 
unterstrichen  und  demnach  im  druclie  gesperrt  sind,  so  ist  dies  nur  ein  leicht  erldär- 
üches  versehen  des  abschreibers.  Noch  wunderlicher  finden  wir  es,  dass  der  neu 
eingeschobene  scherz:  „Da  ist  ja  auch  ein  kupfer  dabei",  ursprünglich  auf  die 
absichtlich  weggelassenen  „briefe  von  Selkof "  sich  bezogen  haben  soll.  Wenn  es  von 
H3  heisst:  „Schreiber  ist  wol  Rost",  so  gestehe  ich  einen  Rost  gar  nicht  als 
abschreiber  Goethes  zu  kennen. 

Auch  hier  erscheint  wider  die  oben  s.  355  erwähnte  ausgäbe  B  1.  Der  zehnte 
band  derselben  enthält  die  in  unserm  siebzehnten  gegebenen  vier  stücke  nebst  dem 
bruchstück  „Die  aufgeregten".  Es  ist  daraus  schon  abzunehmen,  dass  hier  überall 
dieselbe  vorläge  gewesen,  wonach  auch  die  frage  über  diese  in  aller  kürze  an  einer 
stelle  abgetan  sein  sollte,  was  eben  durch  die  Verteilung  auf  vier  herausgeber  gehin- 
dert wurde.  Die  Sache  ist  ganz  einfach  diese,  dass  alle  vier  stücke  schon  zu  A  durch- 
gesehen waren,  und  da  B  gleichzeitig  mit  B  1  gedruckt  wurde,  man  hier  A  abdmckte. 
Der  herausgeber  des  „Triumphs"  bemerkt:  „Es  wird  von  anderer  seite  nachgewiesen 
werden,  dass  B  1  nicht  auss  B,  sondern  der  vorläge  von  B  (warum  nicht  einfach 
aus  A?)  hergestellt  ist."  Es  hätte  die  bemerkung  genügt,  B  1  weiche  nur  in  der 
rechtschreibuQg  und  durch  druckfehler  von  A  ab.  Dies  wird  vom  herausgeber  der  „Vö- 
gel" dargelegt,  der  es  besonders  durch  den  A  und  Bl  gemeinsamen  druckfehler 
„weder"  statt  „werde"  belegt.  Die  herausgeber  der  beiden  anderen  stücke  bemerken 
nichts  bei  anführung  von  B  1 ;  die  wenigen  abweichungen  bestätigen  das  über  diese 
ausgäbe  gesagte.  "Wegen  der  starken  abweichungen  der  ursprünglichen  fassung  des 
ersten  aktes  von  der  gedruckten  wird  dieser  in  den  „lesarten"  mit  recht  vorab  voll- 
ständig mitgeteilt.  Diese  erste  fassung  der  „Vögel"  liegt  in  zwei  handschriften  von 
1781  und  1782  vor,  von  denen  die  zweite  schon  manche  gemeine  und  ungewöhuhche 
ausdrücke  verbessert  hat;  diese  Verbesserungen  hatte  Goethe  höchst  wahrscheinlich 
erst  zu  der  abschrift  seiner  ungedruckten  Schriften  vorgenommen,  die  er  ende  1781 
für  frau  von  Stein  anfertigen  liess,  während  unsere  handschrift  der  herzogin  -  mutter 
zu  ihrem  geburtstage  erst  am  24.  Oktober  1782  verehrt  wurde.  Vom  „Epilog"  der 
,, Vögel"  bewahrt  das  Goethearchiv  den  noch  nicht  in  verse  abgeteilten  entwui'f  von 
Philipp  Seidel's  band,  den  Goethe  durchgesehen  hat.  Die  unterdrückten  stellen  und 
die  prosaische  fassung  des  „Epilogs"  stehen  in  den  „lesarten" ,  die  auch  einige  Verbes- 
serungen der  druckfehler  oder  der  gewählten  lesart  bringen.  Bei  der  Umschrift  in 
verse  mussten  nur  die  worte  zuweilen  umgestellt  werden,  ausserdem  ward  „liebling 
der  grazien"  nach  ,,der  ungezogene''  eingeschoben. 

Keine  handschrift  liegt  vom  dritten  stücke,  dem  Grosskophta,  vor,  dagegen 
erhalten  wir  hier  zum  ersten  male  die  in  musterhafter  weise  aus  den  etwas  verwor- 
renen papieren  mitgeteilten  entwürfe  und  die  umfangTcichen  bruchstücke.  Der  erste 
in  Italien  gemachte  entwurf  nennt  Cagliostro  Rostro,  die  marquise  Courville,  die  nichte 
Innocenza,  den  domherrn  Abbate,  den  ritter  Cavaliere.  Der  schluss  des  zweiten 
aktes  wird  durch  „Smanie"  angedeutet,  was  wol  auf  die  Verzweiflung  der  Innocenza 
wegen  der  von  Coiu'ville  ihr  zugemuteten  roUe  geht.  Rostro  erscheint  nur  im  ersten 
und  vierten  aufzug  und  als  grosskophta  im  dritten;  das  scenar  des  fünften  ist  nicht 
ausgeführt.  Wir  vermissen  hier  die  wichtige  stelle  des  briefes  an  Kayser  vom  14.  au- 
gust  1787,  wo  auch  eines  chores  gedacht  wird;  der  herausgeber  hat  auf  diesen  brief 
nur  gelegentlich  einmal  verwiesen,  ohne  die  bedeutende  äusserung  anzuführen.  Diese 
oper  sollte,    was  hier  gleichfalls  übergangen  wird,   II  Conte  heissen,   dessen  Goethe 


362  DÜNTZER 

auch  gegen  Eeichardt  gedenkt.  Cagliostro  wurde  als  Conte  di  Rostro  impudente 
eingefühi-t.  Der  spätere  deutsche  entwurf  der  oper  trägt  die  überschiift:  „Die  Mystificier- 
ten",  die  gewissermassen  der  gegensatz  ist  zu  dem  Singspiel  „Die  empfindsamen".  Das 
scenar  dieser  dreiaktigen  oper  liegt  jetzt  vor  und  die  höchst  bedeutenden  bruchstücke, 
von  denen  am  ausgeführtesteu  II 9  das  vorgespiegelte  geistersehen  der  nichte.  Yon 
einer  weiteren  besprechung  dieses  merkwürdigen  opernversuches  des  vierzigjährigen, 
der  sich  so  lebhaft  in  die  kunstform  hineingedacht  hatte,  stehen  wir  hier  ab.  Vom 
vierten  stücke,  dem  „Bürgergeneral",  liegt  nur  eine  vollständige  handschrift  vor, 
aus  der  hier  zum  ersten  male  die  angäbe  des  Schauplatzes  „vor  (statt  „in")  Märtens 
hause"  berichtigt  und  statt  Görges:  „Nun,  leb  wol,  Rose!"  hergestellt  ist  „Rose. 
Leb  wol,  Görge!     Görge  (geht  ....  zurück).     Höre,  Rose!" 

Der  sechste  band  der  Tagebücher  enthält  die  beiden  jähre  1817  und  1818. 
Freilich  hat  Goethe  sie  zur  ausführlichen  darstellung  in  den  „Jahr-  und  tagesheften" 
benutzt,  aber  wie  manches  tritt  uns  hier  viel  anschaulicher  entgegen,  ist  dort  ganz 
übergangen  oder  nur  kurz  berührt.  Yon  höchster  bedeutung  ist  der  einblick  in 
Goethes  leidenschaftlichen  eifer  für  die  hebung  des  grossherzoglichen  theaters,  als  er 
am  2.  februar  1817  dessen  leitung  wider  übernommen.  Er  hatte  sie  eben  nieder- 
gelegt wegen  der  am  vorigen  tage  wider  seinen  willen  durchgesetzten  aufführung  von 
Kotzebue's  „Schutzgeist"  in  seiner  ganzen  länge,  die  allgemeines  missfallen  erregt 
hatte.  Durch  das  dringende  ersuchen  des  grossherzogs  Hess  er  sich  bestimmen,  sich 
dieser  mühe  wider  zu  unterziehen,  doch  mit  beschränkung  auf  das  kunstfach  und 
unter  assistenz  seines  sohnes.  Er  versprach  nicht  nur  die  Kotzebue'sche  „Legende" 
als  Schauspiel  so  zu  bearbeiten,  dass  sie  gefalle,  sondern  wollte  auch  durch  ausarbei- 
tung  einer  neuen  theaten'srfassung  die  bühne  dauernd  heben.  Von  dem  streit  erwähnt 
das  tagebuch  nichts,  wenn  man  nicht  etwa  den  eintrag  vom  31.  januar  hierauf  bezie- 
hen will,  wo  es  unmittelbar  nach  der  auf  das  theater  bezüglichen  bemerlamg: 
,,  Gastrollen  betreffend  geh.  hofrat  Ivirms,  hofschauspieler  Oels",  heisst:  „Communi- 
cation  mit  Serenissimo."  An  demselben  tage  lehnte  er  es  ab,  einen  text  zu  den 
lebenden  bildern  zu  liefern,  die  Meyer  auf  den  geburtstag  des  erbgrossherzogs  stel- 
len wollte,  weil  seine  unruhe,  innerhch  und  äusserlich ,  zu  gross  sei.  Am  1.  februar 
berichtet  das  tagebuch  einfach:  „Abends  ,'der  schutzgeist'".  Aber  schon  zwei  tage 
später  lesen  wir:  „Entwürfe  zu  neuen  theatereinrichtungen".  Am  4.  wird  mit  dem 
theaterschneider  verhandelt,  am  5.  in  theaterangelegenheiten  gearbeitet,  und  in  der 
Sitzung  der  theaterintendanz  der  söhn  förmlich  mit  einem  vortrage  eingeführt;  auch 
Verordnungen  deshalb  erlassen.  Die  drei  folgenden  tage  erwähnen  mancTierlei  auf 
das  theater  bezügliche.  Zur  aufführung  werden  ausser  dem  verkürzten  und  bearbei- 
teten „Schutzgeist",  womit  er  sich  ganz  ausserordentliche  mühe  gab,  Voltaire's  „Ma- 
homet"  und  Eacine's  „Athalie"  vorbereitet,  damit  die  Schauspieler  sich  die  einige 
zeit  vernachlässigte  ti'agische  spräche  von  neuem  aneigneten.  Auch  macht  er  vor- 
schlage zu  einer  neuen  einrichtung  der  regio,  besonders  für  die  oper.  Immerfort  ste- 
hen „theatralia"  auf  der  tagesordnung.  So  konnte  er  denn  schon  nach  drei  wochen 
Zelter  schreiben:  fahre  er  die  nächsten  vier  monate  fort,  so  für  das  theater  zu 
wirken,  so  könne  er  ruhig  in  die  weit  gehen,  und  es  würde  für  diese  anstalt  besser 
gesorgt  sein,  wie  für  die  Athener  durch  Solon's  gesetze  und  weggang.  Am  8.  märz 
kam  endlich  das  Kotzebue'sche  stück  zur  aufführung,  und  fand  grossen  beifall;  es 
ward,  wüe  Goethe  gegen  Zelter  sich  rühmte,  „nach  alter  Weimarischer  weise  und  tra- 
dition,  sowol  des  auftretens,  gehens,  bewegens,  gruppierens,  nicht  weniger  der  reci- 
tation  und  deklamation  gegeben".    Älinlich   dachte   er   mit   anderen  stücken   dieses 


ÜBER    GOETHES    WERKE    (WEIM.    AUSG.)  363 

vorzüglichen  alier  „ schluderliafteu  talents"  zu  verfahren,  damit  ihr  repertoriuni  wider 
vollständig,  ja  rein  werde,  wo  denn  sein  geschäft  beim  theater  ihm  wenig  mehr  zu 
schaffen  machen  werde.  „Der  schutzgeisf'  ward  am  17.  mit  einer  Verkürzung  wider- 
holt, wobei  Goethe  wider  einige  bemerkungen  über  die  aufführung  machte.  Am  19. 
betrat  „Athalie"  endlich  die  bühne.  Die  redaktion  der  lustspiele:  „Die  bestohlenen" 
und  „Der  rotmantel^'  ward  bedacht,  ersteres  wirklich  später  aufgeführt.  Daneben  ent- 
warf er  erlasse  an  die  regisseure,  an  den  kapellmeister,  den  re-  und  correpetitor; 
auch  Verordnungen  über  andere  intendanzangelegenheiten ,  ehe  er  am  frühen  morgen 
des  21.  märz  nach  einer  am  vorigen  tage  abgehaltenen  Sitzung  der  Intendanz  nach 
Jena  eilte.  Da  er,  wie  frau  von  Stein  berichtet,  in  grosser  aufregung  von  ihr  ab- 
schied nahm,  scheint  sich  in  jener  Sitzung  ein  streit  erhoben  zu  haben.  Wahrschein- 
lich in  folge  der  von  der  gegnerischen  seite  verfochtenen  aufführung  des  melodramas 
„Der  hund  des  Aubry",  für  den  man  auch  den  grossherzog  gewonnen  hatte.  Frei- 
lich erklärte  Goethe,  als  die  freunde  sich  über  seine  aufregung  besorgt  zeigten,  seine 
dringendste  angelegenheit  sei,  in  der  Jenaischen  ruhe  und  stille  den  erfolg  seiner 
schon  expedierten  resolutionen  zu  erwarten',  denen  noch  andere  sich  anschliessen  soll- 
ten, aber  er  scheute  sich  nur,  den  eigentlichen  grund  seiner  erbitterung  zu  verraten. 
Das  tagebuch  verzeichnet  am  nachmittag  des  20.  nur:  „Überlegungen  wegen  der 
reise".  Er  muss  diese  urplötzlich  beschlossen  haben.  Dass  er  am  21.  märz  Weimar 
verliess  und  erst  am  18.  mai  zurückkehrte,  hatte  schon  Wähle  („Das  Weimarer  thea- 
ter unter  Goethe's  leitung"  s.  327)  aus  dem  tagebuche  mitgeteilt.  Dadurch  wird  die 
sage  widerlegt,  der  ich  noch  in  meinem  „Goethe  und  Karl  August"  folgen  musste, 
Goethe  sei  am  12.  april  nach  der  probe  jenes  berüchtigten  „hundes"  nach  Jena  gefah- 
ren. Jetzt  erst  erkennen  wir,  dass  Karl  August's  erwähnung  „verschiedener  ihm  zu 
obren  und  äugen  gekommener  äusserungen"  sich  auf  jene  Sitzung  der  theaterinten- 
dauz  beziehen  muss,  worin  Goethe  mit  uiederlegung  seiner  stelle  gedroht  hatte,  wenn 
man  in  Weimar,  wie  es  in  Berlin  geschehen,  den  hund  auf  die  bühne  lasse.  Nur 
so  klärt  sich  die  entlassungsgeschichte  völlig  auf.  Weiter  belehrt  uns  das  tagebuch, 
dass  Goethe  in  Jena  nur  geschälte  der  Oberaufsicht  besorgte,  naturwissenschaftliches 
trieb  und  zum  drucke  bereitete,  daneben  sich  mannigfach  unterhielt.  Am  26.  märz 
sendet  er  „ theatralia ",  die  er  wol  von  Weimar  mitgenommen,  dahin  zurück.  Den 
29.  kam  sein  söhn,  der  ihm  auch  wol  über  das  theater  berichtete,  bei  dem  er  ihn 
vertrat  und  seine  auftrage  ausrichtete.  Den  4.  april  hat  er  gaste  von  Weimar,  unter 
ihnen  seinen  söhn,  der  mit  freunden  oder  mit  der  faniilie  seiner  braut  gekommen 
sein  wii-d.  Unter  den  geschäf tssachen ,  die  er  mit  ihm  besprach,  war  wol  auch  das 
theater  und  der  drohende  „hund  des  Aubry".  Zehn  tage  später,  zwei  nach  der  auf- 
führung des  hundestückes,  deren  das  tagebuch  nicht  mit  der  geringsten  andeutung 
gedenkt,  besucht  ihn  wider  sein  August.  Fünf  tage  nach  der  Goethe  bei  seinem 
schönen  eifer,  das  theater  wider  zur  alten  blute  zu  heben,  und  bei  der  Zusicherung, 
das  kunstfach  solle  ihm  ganz  überlassen  sein,  tief  verletzenden  unerbetenen  entlas- 
sung,  kommt  der  grossherzog,  um  die  museen  in  seiner  begleitung  zu  sehen,  nach 
Jena.  Abends  ist  Goethe  bei  ihm  mit  dem  Universitätskurator  und  drei  professoren, 
am  andern  morgen  vor  dessen  abreise.  Damals  hat  wol  die  aussöhnuug  stattgefun- 
den. Dieses  erste  zusammentreffen  Goethe's  mit  dem  grossherzoge  nach  der  entlas- 
sung  war  bisher  unbekannt,  so  dass  man  glauben  musste,  erst  nach  längerer  zeit  sei 
diese  erfolgt.     Erfreulich  ist  es,  dass  Karl  August  so  bald  kam. 

Auch  über  die  stille  hochzeitsfeier  des  sohnes  empfangen  wir  nähere  nachricht. 
Am  nachmittag  des  10.  -juni  fährt  Goethe  von  Jena  nach  Weimar,  wo  die  „ehebere- 


364  DÜNTZER 

dung"  stattgefunden  haben  niuss.  Darauf  bezieht  sich  der  eintrag  des  11.:  „Zu  geh. 
rat  von  Voigt  (dessen  rat  Goethe  bei  allen  fanülienangelegenheiten  in  ansprach  nahm). 
Mittag  fräulein  Ottilie,  Eehbein  [sein  vertrauter  arzt]  und  hofrat  Meyer.  Mie  letzte- 
rem und  meinem  söhn  mancherlei  nach  tisch  besprochen."  Abends  um  9  uhr  war 
er  wider  in  Jena.  Den  13.  wird  der  „abschrift  der  eheberedung"  gedacht.  Am 
16.  heisst  es:  „Nach  "Weimar  abgefahren.  Angelangt.  Über  die  nächsten  einrich- 
tungen  und  ereignisse  ....  Mit  August  zu  tische.  Mancherlei  vorbereitet.  Kam 
hofrat  Meyer  und  oberbaudirektor  Coudray,  die  abends  blieben  ....  Zeichnungen 
und  kupfer  besehen."  Am  anderen  tage  vormittags:  „Die  grossherzogin  uud  die  gross- 
fürstin."  Er  besuchte  sie,  um  die  bevorstehende  Vermählung  ihnen  anzuzeigen;  der 
grossherzog  war  abwesend.  Mittags  ist  er  mit  dem  söhne  allein.  „Abends  7  uhr 
trauung.  Gesellschaft.  Abendessen."  "Weiter  nichts;  dann  am  folgenden  tag:  „Die 
jungen  leutchen  abgereist."  Die  reise  gieng  nach  Berlin.  Alfred  Nicolovius  erinnerte 
sich  noch  des  aufenthaltes  des  jungen  paares  in  seinem  elterlichen  hause.  Goethe  selbst 
fuhr  abends  nach  Jena,  wo  er  noch  von  dem  jenseitigen  ufer  die  festliche  beleuch- 
tang  des  18.  juni  schaute.  Ein  brief  an  den  söhn  wird  am  24.  erwähnt;  er  hatte  das 
junge  paar  nach  Jena  eingeladen,  erfuhr  aber  aus  ihren  briefen,  dass  sie  nicht  kom- 
men könnten.     Erst  am  1.  jiüi  erschienen  sie,    fuhren  aber  schon  abends  zurück. 

Über  den  anfang  des  jahres  1818  erhalten  wir  hier  neue  bedeutende  mitteilungen. 
Fast  beängstigend  ist  der  ausdruck  von  Goethes  erbitterung  über  die  allgemeine  empö- 
rung  in  Jena  wegen  der  vom  bundestage  verhängten  unterdrückimg  jeder  freien 
regung,  worunter  der  freisinnige  grossherzog  selbst  bitter  Htt,  aber  Goethes  zorn 
wandte  sich  in  seinem  Widerwillen  gegen  jede  Störung  der  Ordnung,  statt  gegen  die 
Metternichische  kuebelung  jeder  freisinnigen  äusserung,  Avider  die,  welche  sich  ihrer 
erwehren  wollten.  Im  november  1817  hatte  Luden's  ursprünglich  gegen  Napoleon 
gerichtete,  jetzt  Kotzebue's  verrat  und  jede  Verkümmerung  der  teuer  erkauften  volks- 
freiheit  strafende  „Nemesis"  als  „beitrag  zur  kenntnis  der  zeit"  die  „augeblichen  bul- 
letins  herrn  von  Kotzebue's"  gebracht,  die  in  Jena  einen  wahren  stürm  entfesselten. 
Mit  grösserer  schrift  trug  Goethe  in  sein  tagebuch  vom  15.  bis  25.  Januar  1818  am 
ende  der  einzelnen  tagesberichte  folgendes  ein:  „Die  zwei  ausbängebogen  Luden 
contra  Kotzebue  giengen  im  stillen  herum.  —  Jene  ausbängebogen  machen  aufsehen.  — 
Früh  rückte  man  Luden  ins  haus  und  koufiscierte  die  noch  übrigen  exemplare.  — 
Suchte  man  sie  desto  fleissiger  auf.  —  Erschienen  sie  übersetzt  und  mit  noten  im 
„Volksfreund"  nr.  13  und  14.  —  Wurde  auch  auf  diese  beschlag  gelegt.  —  Wurden 
sie  von  der  Cröker'schen  buchhandlung  am  schwarzen  brett  feil  geboten  und  giengen 
reissend  ab.  —  Schloss  Oken  den  Jahrgang  1817  seiner  „Isis"  und  versprach  die  ver- 
botene nummer  nachzubringen.  —  Das  fünfzehnte  stück  vom  „Volksfreund"  wird 
ausgegeben.  —  Ankündigung  von  „Bahrdt  mit  der  eisernen  stirn"  [einem  älteren  pas- 
fj^uill  Kotzebue's].  —  Der  anfang  des  neuen  Jahrgangs  der  „Isis"  wird  mit  verbot 
belegt.  —  Kam  die  nachricht  von  den  Weimarer  verdriesslichkeiten  [dem  einschrei- 
ten des  bundestags  gegen  den  herzog]  herüber."  Auch  sonst  klärt  uns  das  tagebuch 
über  manches  näher  auf,  so  über  seine  anwesenheit  bei  der  taufe  des  sohnes  des  erb- 
grossherzogs  (jetzigen  grossherzogs) ,  über  den  besuch  von  Paulinzelle,  von  dem  ein 
Schema  in  den  „Lesarten"  mitgeteilt  wird,  und  über  den  aufenthalt  in  Karlsbad. 

Bei  der  herausgäbe  sind  dieselben  grundsätze  wie  früher  befolgt.  Wähle  hat 
wider  die  „Lesarten"  geliefert.  Das  tagebuch  ist  während  des  längeren  aufeuthalts 
in  Jena  von  verschiedenen  bänden  geschrieben  und  leidet  häufiger  als  bisher  an  hör- 
fehlern ,  die  Goethe  nicht  überall  berichtigt  hat.     Auch  im  abdruck  sind  noch  manche 


ÜBER   GOETHES   WERKE   (WElM.   AUSG.)  365 

stehen  geblieben.  Sinustorende  Schreibfehler  bemerken  wir  an  folgenden  stellen. 
39,  11  fg.  Von  Madame  Bohn  aus  Hamburg  hörte  er  „über  Klopstock,  Knebel  und 
andere  ältere  männer".  Es  liegt  auf  der  band,  dass  hier  der  seit  1774  befreundete 
Knebel,  den  Goethe  zu  Jena  noch  in  nächster  nähe  hatte  und  häufig  sah,  nicht 
gemeint  sein  kann.  "Welchen  naraen  er  hier  genannt  hatte ,  ist  weniger  sicher.  Gleim, 
an  den  man  zunächst  denkt,  liegt -dem  laute  nach  etwas  zu  fern.  —  In  dem  ein 
paar  zeilen  darauf  folgenden:  „Über  bevölkerung  nach  grossen  lücken  in  den  natio- 
nen",  muss  es  kriegen  heissen.  117,  6  fgg.  „Brief  an  Frege  [Cotta's  Leipziger  ban- 
kier]  4000  thaler  (für  mich).  100  thaler  an  Fehx  (für  wein).''  Goethe  hatte  statt 
für  wein  diktiert  anweisung.  Vgl.  die  eintragungen  vom  4.  und  6.  februar  1818: 
„Avisbrief  (an  Frege)  wegen  der  100  thaler  für  Fehx,  die  anweisung  auf  100  thaler.  — 
Assignation  an  Felix  auf  100  thaler  und  avisbrief."  Die  Verbindung  Goethe's  mit 
dem  hause  „Gebrüder  Felix"  oder  „Felix  und  comp."  finden  wir  schon  im  jähre  1814; 
zum  ersten  male  wird  es  am  18.  april  erwähnt,  eine  assignation  auf  sie  von  100  tha- 
lern am  3.  juli.  Vgl.  das  tagebuch  am  16.  Januar  1815,  24.  Januar  und  16.  april 
1816  und  am  '20.  mai  1817.  Immer  wird  einer  „anweisung"  oder  „assignation"  an 
sie  gedacht,  nie  der  gelieferten  waaren.  —  119,  3  soll  es  statt  abhandlung  heissen 
abhandlungen,  wie  richtig  z.  12  steht.  —  149,  17  ist  statt  Gernhards  zu  lesen 
Gerhards.  Gemeint  ist  der  zu  Weimar  geborene,  später  mit  Goethe  in  näherer  Ver- 
bindung stehende  Leipziger  kaufmann  Wilhelm  Gerhard. —  150,  12  muss  Leonardo 
oder,  wie  es  sonst  im  tagebuch  regelmässig  heisst,  Leonard  (auch  Leonardischer 
tractat  173,  27)  statt  Leonardus  stehen.  —  173,  28  soll  es  wol  Deahne  statt 
Dhein  heissen.  In  der  „Farbenlehre",  bei  behandlung  der  „entoptischen  färben" 
XXXIV  wird  die  Stickerin  eine  geschickte  nähterin  genannt.  Goethe's  schwager  Vul- 
pius  hatte  eine  Deahne  geheiratet.  —  195,  7  muss  es  Carove  statt  Carue  heissen, 
wenigstens  ist  der  schon  damals  auch  litterarisch  hervorgetretene  Fr.  W.  Carove  ge- 
meint. —  47,  15  ist  nachts  druckfehler  für  nacht  oder  zu  ii-rig  widerholt  oder  es 
muss  bis  nachts  heissen,  wie  48,  15.  —  Die  Schnitzer  des  Schreibers  „Mit  Sere- 
nissimum"  136,  8  und  „Serenissimum  über  mehrere  punkte"  156,  15  statt 
Serenissimo  sind  arg;  freilich  wäi-e  au  der  zweiten  stelle  auch  Ad  oder  An  Sere- 
nissimum möglich.  —  UnbedenkUch  war  auch  wol  142,  13  entschuldigt  sich 
herzustellen,    statt  dass   das  erste  wort  erst  am  ende   der  zeile  folgt.     Beanstanden 

müssen  wir  auch  6,  15:  „Kehbein  mit  solchem  (?)  über ",  9,  14   „bezüglich  an 

(auf?)  die  tableaux,  11,  14  fg.  „Rollenverteilung  auf  (zu?,  wie  118)  Mahomet",  2'2, 
17  fg.  „Ehein  iind  Mayn  von  Jena  (statt  Mayn-heft),  wo  man  freilich  zur  not 
von  Jena  darauf  beziehen  könnte,  dass  er  eine  korrektur  von  Frommann  in  Jena 
erhalten  hatte,  dann  aber  wäre  jedesfalls  der  ausfall  von  heft  anzunehmen  nach  der 
gangbaren  bezeichnung  dieser  Zeitschrift.  —  250,  10  muss  nach  Goethe's  Sprachgebrauch 
wegen  den  (statt  der)  türstücken  stehen.  —  271,  2  soUte  es  als  (statt  wegen) 
mineralog.  mitglied  heissen.  Andere  versehen  sind  s.  232  vor  dem  nachtrag 
zum  jähre  1800  verzeichnet.  —  In  den  „Lesarten"  bemerken  wir  zu  160,  9  den 
druckfehler  Otten  statt  Oken. 

Wie  früher  geben  wir  auch  jetzt  einige  berichtiguugeu  und  ergänzungen  zu 
den  vielen  sehr  dankbar  anzuerkennenden  erläuterungen.  9,  6  „Herr  heutenant  von 
Schiller"  ist  Schillers  ältester  söhn  Karl.  Er  brachte  wol  das  theaterstück  eines 
freundes.  —  26,  3  „Thusnelda  an  Knebel"  deutet  auf  die  briefe  des  schon  1807  ge- 
storbenen fräuleins  von  Göchhausen,  die  wol  Knebel  ihm  mitgeteilt  hatte. —  17  „Mor- 
phologie."    Er  begann  damals  das  erste  heft  „Zur  morphologie"  zusammenzustellen, 


S66  DÜNTZER 

dessen  aufsätze  in  den  folgenden  uionaten  erwähnt  werden.  —  27,  8.  20.  Bas  „cor- 
rigierte  vor  wort"  bestellt  aus  zwei  aufsätzen  von  1807,  die  jetzt  unter  der  Überschrift 
„Das  unternehmen  wird  entschuldigt"  und  „Die  absieht  eingeleitet"  bearbeitet  und 
gedruckt  wurden  (30,  16  fgg.).  —  Die  „Geschichte  meines  botanischen  Studiums" 
(30,  5  fg.)  folgt  dort  nach,  einem  neuen  vorwort  „Der  Inhalt  bevorwortet",  deren  drei 
letzte  selten  nicht  mehr  auf  den  ersten  bogen  (31,  26  fg.)  gingen. —  Die  am  5.  april 
erwähnte  behauptung  Kant's  (31,  20  —  23)  findet  sich  in  der  schon  geplanten  erzäh- 
lung  seines  gesprächos  mit  Schiller  über  die  metamorphose  der  pflanzen,  welche  das 
erste  heft  „ Zur  morphologie "  in  der  „Geschichte  seines  botanischen  Studiums"  im 
abschnitt  „Glückliches  ereignis"  brachte.  Dort  wird  jene  behauptung  nicht  Kant  aus- 
drücklich beigelegt,  sondern  unter  den  von  Schiller  ihm  entgegengehaltenen  Sätzen 
erwähnt,  die  ihn  ganz  unglücklich  gemacht.  —  38,  2.  12  Der  „Neugrieche"  ist  der 
Übersetzer  von  Goethe's  „Iphigenie"  Papadopulos.  Ygl.  41,  19.  —  Bei  der  radierung 
von  Castigiione  (40,  2)  war  auf  das  Verzeichnis  der  von  Goethe  besessenen,  bei 
Schuchardt  nr.  250  —  265,  zu  verweisen.  Nach  der  art,  wie  dieses  zwischen  „v.  Schü- 
ler" und  „Dessen  Studien  und  examen"  eingeschoben  ist,  sollte  man  glauben,  die 
Unterredung  Goethe's  mit  Schiller's  jüngerem  söhne  Ernst  liabe  sich  auf  die  radierung 
bezogen,  da  diese  doch  vielmehr  dessen  weitere  Vorbereitung  zum  assessorexamen 
betroffen  haben  wird,  über  die  gerade  hier  vom  herausgeber  auskunft  gegeben  wer- 
den musste.  Aber  die  werte  „Radierung  von  Castigiione"  scheinen  verschoben,  vor 
oder  nach  „v.  Schiller"  zu  gehören.  —  Die  aufsätze  „Schicksal  des  manuscripts"  (40, 
26)  und  „Priorität"  (42,  5)  sind  richtig  in  den  Werken  nachgewiesen,  aber  sie  waren 
aus  dem  hefte  „Zur  morphologie"  anzuführen,  für  welches  sie  damals  geschrieben 
wurden.  —  47,  16  „Yorwort  zur  zweiten  abteilung",  im  drucke  vom  27.  mai  datiert.  — 
52,  13  „Der  lieutenant",  Knebel's  söhn  Karl  (z.  11).  —  16  „Übels",  einer  geschwulst, 
wogegen  der  grossherzog  Goethe  schnürstrümpfe  empfohlen  (54,  1).  —  54,  6  „Der 
drei  verschiedenen  titel".  Das  erste  heft  des  ersten  bandes  führt  den  gesamttitel: 
„Zur  naturwisseoschaft"  überhaupt,  besonders  durch  morphologie,  erfahrung,  betrach- 
tung,  folgerung,  durch  lebensereignisse  verbunden";  daneben  wurden  besondere  titel 
für  jede  abteilang,  „Zur  morphologie"  und  „Zur  naturwissenschaft",  gedruckt.  —  67,  27 
„Des  mürchens",  das  er  den  prinzessinneu  zu  erzählen  begonnen  hatte,  was  frei- 
lich früher  nicht  berichtet  ist.  Indische  märchen  hatte  er  schon  im  vorigen  mai  die- 
sen erzählt.  —  Übergangen  ist,  dass  105,  25  fg.  „Einwirkung  der  Kantischen  Philo- 
sophie", 106,  11  fg.  „Intuitiver  verstand"  (Kants)  sich  auf  die  „Metamorphose  der 
pflanze",  22  „Anschauender  verstand",  107,  7  „Günstige  receusionen"  auf  die  aus- 
führungen  des  zweiton  heftes  „Zur  morphologie"  beziehen,  die  an  den  angegebenen 
tagen  geschrieben  sind.  —  108,  21,  25  fg.  „Indische  Weisheit"  deutet  auf  Fr.  Schle- 
gel's  Schrift  von  1808  „Über  die  spräche  und  Weisheit  der  Indier",  die  er  wol  damals, 
wo  so  viele  neue  erscheinungen  der  indischen  litteratiu'  die  aufmerksamkeit  erregten, 
wider  las.  —  115,  14  „An  ....  Tauscher".  Hier  hätte  sein  titel  „adjunkt"  eingesetzt 
werden  soUen,  für  den  räum  gelassen  war.  —  130,  12  fg.  „Brief  an  dr.  C.  Schlosser". 
Gemeint  ist  Christian  Schlosser,  der  jüngere  bruder  des  rates  Friedrich  Schlosser. 
Goethe  kannte  ihn  schon  seit  dem  anfange  des  Jahrhunderts,  stand  jetzt  in  bezug 
auf  die  kunst  mit  ihm  in  Verbindung.  Er  ist  auch  am  15.  december  zu  verstehen.  — 
143,  18  „Geschichte  der  frau  von  Krüdener  in  Erfurt",  die  in  den  notjahren  1816 
und  1817  in  der  Schweiz  und  Deutschland  herumzog  und  das  volk  aufregte.  Erst 
am  4.  april  1818  dichtete  Goethe  auf  sie  die  scharfe  invektive  „Junge  huren,  alte 
nennen"  (IV,  185),    aber  schon  vier  jähre  früher,    wo   sie  in  Paris  ihr  wesen  trieb. 


{jß£ß   GOETHES   WERKE   (WElM.    AUSG.)  36? 

sprach  er  von  dem  ,,dudelsack  der  religion,  der  angestimmt  worden,  damit  die  von 
huren  zu  nennen  gewordenen  ihren  menuet  anständig  tanzen  könnten".  —  27  Auf- 
satz über  Witt  Döring's  besuch  bei  Goethe.  —  155,  11  fg.  „Schweigger's  epos",  ein 
seltsames  naturwissenschaftliches  des  bekannten  physikers,  der  sich  besonders  mit 
elektricität  und  galvanismus  beschäftigte. 


Jahr  1818.  156,  9. 19.  „Frommannisches  Wartburgfest",  die  handschriftliche  Schil- 
derung desselben  vom  jüngeren  Frommann.  —  157,  14  fg.  „Alte  briefschaften  und 
gedichte  von  Dessau,  aus  Behrischeus  nachlass".  Hier  hätte  genaueres  gegeben  wer- 
den sollen.  Auf  sie  bezieht  sich  auch  der  eintrag  vom  20.  Januar:  „Geh.  kabinets- 
rat  Eode  in  Dessau  mit  4  Louisdors."  Das  nähere  bieten  Eode's  briete  an  Knebel  in 
meiner  Sammlung  „Zur  deutschen  litteratur  und  geschichte  (1858)  II,  160  fgg.  — 
159,  27  „Nicolaus  Gigas."  Ein  grieche  Gigas  wird  1819  in  den  Jahr-  und  tageshef- 
ten  genannt.  Vgl.  165,  23;  246,  25.  —  167,  47  „Weltgeschichte."  Den  genauen 
titel  dieses  Werks,  das  Goethe  jetzt  zu  lesen  begonnen,  und  zu  dem  er  gern  aus  den 
wirren  des  tages  flüchtete,  geben  die  lesarten  erst  zu  216,  21.  —  170,  24  „Stanzen 
zimi  maskenzug",  des  kanzlers  von  Müller  zum  18.  februar.  Vgl.  meine  „Erläute- 
rungen zu  Goethe's  maskenzügen"  s.  108  — 113,  welche  die  eintrage  dieser  tage  ins  licht 
setzen.  —  175,  24  fg.  Hier  erfahren  wir  erst,  an  welchem  tage  der  dichter  auf  dem 
maskenball  erschien.  Vgl.  a.  a.  o.  s.  119  fgg.  —  177,  16  fgg.  Die  „einigen  stan- 
zen" vor  den  Sonetten  der  seit  1776  Goethe  befreundeten  freifrau  Julie  von  Bechtols- 
heim  sind  bisher  nicht  bekannt  geworden.  —  179,  19  fg.  „Die  kinder",  söhn  und 
Schwiegertochter,  waren  während  Goethe's  abwesenheit  zu  Jena  aus  ihrer  mansarden- 
wohnung,  dem  sogenannten  Schiffchen,  in  den  ersten  stock  gezogen.  —  „Paralipomena", 
die  ihrer  schärfe  wegen  zurückgehaltenen,  von  seinem  söhne  gesammelten  invecti- 
ven.  —  180,  2  „Im  garten  am  stern",  seinem  alten  garten,  den  er  auch  „den  untern 
garten"  (vgl.  z.  11)  zu  nennen  pflegte.  —  191,  6  „ßeisig's",  des  begabten  schülers 
von  Gottfried  Hermann,  der  damals  als  privatdocent  nach  Jena  kam.  Die  „Jahr-  und 
tageshefte  gedenken  seiner  unter  dem  jähre  1820.  —  194,  8  „Durch  einen  husaren", 
den  der  grossherzog  von  den  fünfzig  in  seinen  persönhchen  diensten  stehenden  gesandt 
hatte.  —  18  fg.  „Die  goldene  medaille"  ist  die,  welche  man  in  Mailand  auf  den 
grossherzog  durch  den  berühmten  medailleur  Putinati  hatte  schlagen  lassen  zum  danke 
für  die  aus  Italien  mitgebrachten  und  geschenkten  kunstwerke.  Vgl.  Schuchardt, 
„Goethe's  Kunstsammlungen"  II,  176,  1401.  —  199,  13  fg.  Nach  der  taufe  des  enkels 
waren  bei  tische  die  urgrossmutter  und  die  grossmutter,  oberkonsistoriah-at  und  hof- 
prediger  Günther,  der  die  taufe  vollzogen  hatte,  Eehbein  und  Einaldo,  dessen  jun- 
ger söhn.  —  201  Der  hier  etwas  sonderbar  hlos  als  „Student  von  Berlin"  und  mit 
namen  bezeichnete  Nicolo\dus  war  sein  neffe  Franz,  der  Goethe  sehr  nahe  trat.  — 
204,  25  „Winkelmann",  die  aus  dem  italienischen  übersetzte  Schrift:  „Winkelmann's 
letzte  lebenswoche".  —  205,  8  fg.  „ Shakespeare'sches  kleines  gedieht",  in  „Kunst 
und  altertum"  II,  3,  32  fg.  unter  der  bezeichnung:  „Aus  einem  Stammbuch  von 
1604"  mit  der  Unterschrift  „Shakespeare".  Das  W.  S.  unterzeichnete  gedieht  hatte 
Benecke  in  einem  mischbande  der  Hamburger  bibliothek  gefunden,  der  auf  dem  ein- 
bände die  Jahreszahl  1604  trägt  und  es  in  der  Zeitschrift  „Die  wünschelruthe "  am 
27.  april  bekannt  gemacht.  Goethe  erhielt  davon  eine  abschrift.  —  212,  16  „Phäno- 
mene des  litterarischen  himmels",  eine  launige  Zusammenstellung  der  namen  der 
neuesten  namhaften  dichter,  die  ein  brief  au  Knebel  gibt.  —  217,  5  „Über  den  wider- 


368  DUNMER 

streit  des  autikeu  uud  moderneu/-  Der  aufsatz  „Autik  und  modern",  der  in  „Kunst 
und  altertum"  II,  1  unmittelbar  auf  den  grossem  „Philostratische  gemälde"  folgt, 
ward  jetzt  erst  diktiert,  am  folgenden  tage  fortgesetzt,  der  schluss  über  Bourdon 
scheint  am  27.  mai  selbständig  entworfen  gewesen  zu  sein.  —  245,  2  „John''..  Hier 
war  dieser  zweite  Schreiber  Goethe's  namens  John  von  dem  ersten,  einem  freunde 
seines  sohnes,  der  1813  au  Riemers  stelle  getreten  war,  aber  nicht  einschlug,  bestimmt 
zu  unterscheiden.  —  247,  17  „Das  ehrenlegionszeichen",  zum  ersatz  des  von  Napo- 
leon 1808  erhaltenen,  das  er  nicht  mehr  tragen  durfte.  Den  dank  dafür  sprach  er 
in  dem  briefe  an  den  herzog  von  Tarent  (266,  27)  aus.  —  249,  19  „Der  hofdienst", 
beim  erbprinzen.  —  269,  7  „Hamann".  Er  sah  seine  kleine  seltene  Sammlung  Hamann- 
scher Schriften  durch,  zunächst  veranlasst  durch  seine  darstellung  Herder's  im  mas- 
kenzuge,  da  Hamann  auf  diesen  einen  sehr  grossen  einfluss  geübt  hatte. 


Die  beiden  neuen  brief bände,  welche  die  jähre  1800  bis  1803  umfassen,  ent- 
halten mehr  als  600  briefe,  von  denen  freilich  eine  ziemliche  anzahl  nicht  den  an- 
sprach erheben  darf  als  briefe  zu  gelten;  manche  sind  amtliche  erlasse,  geschäftliche 
mitteilungen,  ja  einfach  waaren-  und  bücherbestellzettel  und  sollten,  wie  so  vieles 
in  den  sogenannten  „Lesarten"  ihre  stelle  finden.  Von  grossem  werte  ist  die  dort 
gegebene  mitteilung  von  vielen  in  den  briefen  ausgefallenen  stellen  der  erhaltenen 
concepte,  die  auch  für  die  lesung  von  bcdeutung  sind,  von  aktenstücken  und  brie- 
fen oder  stellen  aus  briefen  an  Goethe.  Leider  sind  mehrere  concepte  Goethe's  durch 
einen  bedauerlichen  zufall  bei  der  Zusammenstellung  der  briefe  übersehen  worden, 
die  erst  in  einem  folgenden  bände  unter  den  nachtragen  gegeben  werden  können. 
Etwa  ein  sechstel  aller  briefe  ist  an  Schiller  gerichtet,  ungefähr  ein  drittel  dieser 
zahl  sind  an  Christiane  Vulpius,  etwas  weniger  an  Kirms,  Voigt  und  Cotta;  nach 
ihnen  sind  herzog  Karl  August,  Zelter,  "VV.  Schlegel,  Eochhtz,  Schelling  uud  Meyer  am 
stärksten  vertreten.  Unter  den  hier  zum  ersten  male  gedruckten  briefen  uelimen  die 
an  Christiane  Vulpius  die  erste  stelle  ein.  AVie  in  den  früheren  jähren  sprechen  sie 
die  trauteste  herzlichkeit  aus,  besonders  zärtlich  sind  die  vom  jähre  1803,  nachdem 
zu  ende  des  vorigen  jahres  Christiane  im  Wochenbette  schwer  gelitten  und  auch 
ihr  viertes  kind  kurz  nach  der  geburt  verloren  hatte.  Als  sie  im  bade  Lauchstädt 
verweilte,  von  wo  sie  den  gatten  durch  ein  ausführliches  tagebuch  erfreute,  schrieb  er 
ihr:  „AVie  sehr  von  herzen  ich  dich  liebe,  fühle  ich  erst  recht,  da  ich  mich  an  dei- 
ner freude  und  Zufriedenheit  erfreuen  kann  ....  Dass  dir  alles  glücklich  von  statten 
geht,  freut  mich  sehr;  du  verdienst  es  aber  auch,  da  du  dich  so  klug  und  zierlich 
zu  betragen  weisst.  Mache  dir  wegen  der  ausgäbe  kein  gewissen!  ich  gebe  alles  gern 
und  du  wü'st  zeitig  genug  in  die  sorglichkeiton  der  haushaltung  zurückkehren  .... 
Schicke  mir  mit  nächster  gelegenheit  deine  letzten  neuen,  schon  durchtanzten  schuhe, 
von  denen  du  mir  schriebst,  dass  ich  nur  wider  etwas  von  dir  habe  und  an  mein 
herz  drücken  kann."  Die  briefe  an  Schiller  sind  durch  keinen  ungedruckten  ver- 
mehrt, dagegen  erhalten  wir  neue  noch  unbekannte  schreiben  an  den  herzog,  meist 
vortrage  oder  amthche  mitteilungen,  imd  auch  die  ohne  adresse  überlieferte  mittei- 
lung 4536  ist,  obgleich  der  herausgeber  in  zweifei  steht,  welche  AVeimarische  oder 
Gothaische  fürstliche  person  gemeint  sei,  entschieden  an  Karl  August  gerichtet,  den 
Goethe  auch  4563  „Ew.  durchlaucht"  anredet.  Die  falsche  datierung  wird  in  den 
„  Lesarten "  berichtigt.  Zwei  unbekannte  briefe  an  die  herzogin  Luise  erhalten  wir 
(4340.  4435),  einen  an  den  erbprinzen  Karl  Friedrich  (44S0),  drei  an  den  herzog 
Ernst  IL  von  Gotha  (4263.  79.  83),    einen  an  den  prinzen  August  von  Gotha  (4174). 


ÜBER    GOETHES    WERKE    (WEIM.    AUSG.)  369 

Zahlreich  sind  die  neuen  schreiben  an  Cotta  und  die  mitteilungen  an  Voigt  und  Kirms. 
Zwei  briefe  sind  an  "W".  von  Humboldt  (4285  und  4316).  Durch  einzelne  oder  meh- 
rere noch  nicht  veröffentlichte  briefe  erfahren  wir  näheres  über  Goethe's  beziehung 
zu  so  manchen  Zeitgenossen,  womit  ihn  die  kunst  oder  das  leben  in  Verbindung 
gebracht,  oder  die  er  für  die  fortsetzung  der  litteraturzeitung  gewinnen  wollte.  Unter 
vielem  anderen  anziehenden  erhalten  wir  jetzt  erst  die  kräftige  abfertigung  der  unbe- 
sonnenen beschuldigung  von  Kotzebue's  mutter  (4497),  welche  in  den  „Lesarten" 
wörtlich  mitgeteilt  wird. 

Die  beiden  brief bände  sind  noch  von  Ed.  von  der  Hellen  herausgegeben.  Die 
Vorzüge  und  die  mängel  seiner  behandlung  sind  dieselben,  die  wir  an  den  fräheren 
bemerkt  haben;  fast  scheint  es,  dass  jene  noch  eilfertiger  gemacht  sind,  als  diese, 
wenn  es  auch  an  fleiss  und  eifer  nicht  gefehlt  hat.  Was  zunächst  den  Wortlaut 
betrifft,  so  begegnen  wir  wider  der  sonderbaren  scheu,  den  ausfall  eines  wortes  anzu- 
nehmen, obgleich  dieses  versehen  so  häufig  bei  raschem  schreiben  sich  einstellt,  und 
der  herausgeber  selbst  dies  an  manchen  stellen  nicht  läugnet.  Aber  lieber  nimmt 
er  zu  sonderbaren  erklärungen,  den  härtesten  Verschmelzungen  seine  Zuflucht,  als 
dass  er  dieses  natürlichsten  mittels  sich  bedient,  das  er  pedantisch  schilt,  während 
dieser  Vorwurf  vielmehr  sein  eigenes  verfahren  trifft.  So  fehlt  offenbar  4267  nach 
„  recht  wol  zu  leben "  das  zeitwort  „wünsche "  in  dieser  Goethe  geläufigen  formel 
(man  vergleiche  nur  4268  und  70),  aber  es  wird  als  „'nicht  unbedingt  notwendig" 
abgelehnt.  Dass  4274  nach  „herrn  professor"  der  name  Meyer  ausgefallen  ist,  wird 
übersehen.  In  den  eiligen  zeilen  an  Schiller  4356  heisst  die  hinzufügung  eines  „Ih- 
nen" vor  „zusende"  (dorthin  gehört  es)  „pedantisch".  Freilich  fehlt  es  in  allen 
drucken.  Eichtig  ist  dagegen  4555  „mir",  das  auch  noch  bei  Vollmer  fehlt,  zuge- 
setzt, doch  würde  ich  es  lieber  vor  „wie"  als  vor  „nur"  einschieben.  Seltsam  ver- 
läugnet  der  herausgeber  dieses  „mir"  in  der  anmerkung  zu  s.  112,  15,  wo  er  gerade 
diesen  von  ihm  selbst  verbesserten  ausfall  als  begründung  dafür  anführt,  dass  er 
dort  das  nicht  in  der  handschrift  stehende,  mit  recht  in  den  drucken  eingeschobene 
„darum"  wider  entfernt  hat.  '4617  (s.  178,  18  fgg.)  nimmt  er  wider  seine  beliebte 
Verschmelzung  an,  aber  vielmehr  ist  das  aus  versehen  nach  „einsieht"  ausgelassene 
„zeugen"  einzusetzen.  Zu  den  Worten  des  briefes  an  Cotta  4620:  „Andere  kleinig- 
keiten  nicht  zu  gedenken"  stimmt  nicht  die  bemerkung  der  lesarten:  „Andere  nicht 
unmöglich".  An  einer  von  beiden  stellen  muss  „andere"  druckfehler  für  „anderer" 
sein,  das  den  vorzug  verdient.  4714  wird  die  Schreibung  „widerstrebenden  und 
-streitenden  nachrichten"  verworfen,  weil  dann  „widerstrebenden"  neben  „widerstrei- 
tenden" tautologisch  wäre,  als  ob  zwei  mit  derselben  präposition  zusammengesetzte 
Zeitwörter  deshalb  tautologisch  wären.  4723  (306,  5)  wird  wirklich  „zu"  eingescho- 
ben, doch  auch  die  möglichkeit  behauptet,  statt  dessen  in  der  vorigen  zeile  „und" 
für  „um"  zu  lesen:  aber  diese  mögliehkeit  trifft  die  Wahrheit!  Einige  der  Verbesserungen 
des  herausgebers  liegen  ganz  auf  der  band,  wie  4465  „verstand"  statt  „verstanden", 
4552  „ein"  statt  „einen",  4682  der  name  „Dürrbaum"  statt  „Dürrbein",  wogegen  die 
gemeine  form  des  namens  „Slevoigt"  4469  nicht  unberichtigt  bleiben  durfte.  Auch 
die  Umsetzung  einer  bedeutenden  stelle  in  dem  briefe  an  Schlegel  (4747),  den  man 
bisher  an  Iffland  geschrieben  glaubte,  trifft  zu,  wogegen  es  ungegründet  scheint,  dass 
man  4275  die  werte  „  dient  folgendes  Schema "  nach  „  mitgeteilt  worden "  erwarte. 
Haltlose  kritische  einfalle  begegnen  uns  mehrfach.  4272  soll  in  den  werten:  „Übri- 
gens habe  ich  noch  viele  menschen  gesehen",  vielleicht  „auch"  statt  „noch"  zu  lesen 
sein.     Aber  „noch"   geht  auf  die  tage,    welche  er  bis  dahin  in  Jena  verlebt  hatte; 

ZEITSCHRIFT   F.    DEUTSCHE   PHILOLOGIE.     BD.    XXVIII.  24 


370  DÜNTZEB 

freilich  ist  es  etwas  überlästig,  aber  nach  „übrigens"  nicht  so  auffallend  wie  ,,auch'' 
sein  würde.  —  Zu  4297  lesen  wir:  „Jeder"  (122,  5)  in  „jener"  zu  ändern,  läge 
nahe,  zumal  der  brief  keine  spur  Goethischer  durchsieht  zeigt."  Und  doch  ist  diese 
Vermutung  nur  bei  völligem  missverständnis  möglich.  Goethe  rät  Schiller  vom  Stu- 
dium des  griechischen  ab,  woran  er  als  dichter  „sich  wenig  erbauen"  werde,  weil 
„das  stoffartige  jeder  spräche,  sowie  die  verstandesformen  zu  weit  von  der  Produk- 
tion abstehen".  Es  liegt  ihm  durchaus  fern,  dies  gerade  von  der  gi-iechischen  spräche 
insonderheit  zu  behaupten,  er  spricht  vom  grammatischen  Studium  überhaupt.  — 
4484  „Sie  sind  alle  ohnehin  so  geschäftig."  Die  Vermutung  „beschäftigt"  ist  ganz 
haltlos,  da  Goethe  auch  sonst  „geschäftig"  in  diesem  sinne  braucht.  —  4505  „Dieser 
komposition  durch  alle  ihre  teile  zu  folgen  und  sie  sich  wirklich  als  im  ganzen  zu 
denken."  Hier  muss  „im  ganzen"  verhört  sein  für  „ein  ganzes".  —  Ganz  absonderlich 
erscheint  4526  die  Vermutung  „konstituiert"  für  „konstruiert":  das  ist  eine  durch 
nichts  begründete  entstellung  des  ganz  gehörigen  bildlichen  ausdruckes.  —  4535  spot- 
tet das  vom  herausgeber  nicht  beanstandete  „zu  unserer  (einer?)  gefälligen  aufnähme" 
jeder  deutung.  —  4601  „Anhängebogen"  wird  für  das  ganz  richtige  „aushängebogen" 
ohne  jede  rücksicht  auf  den  Zusammenhang  vermutet,  weil  am  Schlüsse  des  briefes 
auch  der  beabsichtigte  „anhang"  erwähnt  wird.  Verfehlt  sind  auch  die  vorschlage, 
4666  „und"  statt  „und"  und  4782  „einige"  statt  „eigne"  zu  setzen.  An  ein  paar 
stellen  wären  begründete  Vermutungen  wol  an  der  stelle  gewesen.  4462  finden  wir 
den  ausdruck  „stempeln"  von  den  gemmen  anstössig;  Goethe  hatte  wol  steinen 
diktiert,  vielleicht  auch  im  abgeschickten  briefe  wirklich  verbessert.  Am  ende  von 
4607  muss  es  „bogens"  statt  „bogen"  heissen,  4659  „anregung"  statt  „anreguugen", 
4710  (289,  20  fg.)  „umsehen"  statt  „umher  sehen",  wie  es  richtig  vorher  und  4713  steht. 
Bei  mehreren  briefen  sind  die  namen  der  adressaten  oder  das  datum  vom  her- 
ausgeber richtiger  bestimmt.  Aber  sehr  zu  bedauern  ist  es,  dass  er  meine  von  Voll- 
mer aufgenommene  richtige  datierung  des  briefes  an  Schiller  4376  nach  seiner  fal- 
schen Vermutung  willkürlich  entstellt  hat.  Freilich  trägt  der  brief,  wie  in  den  frü- 
heren drucken,  auch  in  der  Urschrift,  die  Vollmer  nicht  vorlag,  erst  durch  eine 
Schenkung  Biu'khardt's  in  das  Goethearchiv  gekommen  ist,  nach  der  Versicherung  des 
herausgebers  das  falsche  datum  des  6.  märz  1800.  Die  Jahreszahl  ist  offenbar  falsch, 
der  märz  ein  bekanntlich  auch  in  Goethes  briefen  häufiges  versehen,  da  im  anfange 
des  monats  der  gewohnte,  eben  verflossene  monat  statt  des  laufenden  steht.  Der 
herausgeber  mutet  uns  im  ernste  zu,  den  6.  märz  für  eine  Verwechselung  mit  dem 
3.  oder  4.  april  zu  halten,  und  zu  glauben,  Goethe  habe  „mechanisch"  das  datum 
unter  den  brief  gesetzt,  das  er  zufällig  auf  einem  vor  ihm  liegenden  Schriftstück 
gesehen!  Eine  solche  abenteuerliche  unglaublichkeit  würde  man  sich  kaum  gefallen 
lassen,  wenn  der  6.  april  wirklich  unmöglich  wäre,  aber  nicht  dieser  ist  es,  son- 
dern der  an  dessen  stelle  vermutete  3.  oder  4.  Wenn  Goethe  schreibt:  „Möchten 
sie  mich  wol  donnerstag  mit  professor  Meyer  besuchen?"  so  kann  nur  ein  donners- 
tag  derselben  woche  gemeint  sein.  Der  brief  ist  an  einem  montag,  dem  6.  april 
geschrieben,  nicht  am  freitag  oder  Sonnabend  der  vorhergehenden  woche;  er  ist  offen- 
bar ei-widerung  auf  Schiller's  brief  vom  3.,  worin  dieser  seine  i-ückkehr  nach  "Wei- 
mar und  seine  hoffnung  meldete ,  in  vierzehn  tagen  mit  seinem  neuen  trauerspiel  fer- 
tig zu  sein.  Wenn  Goethe  Schiller's  fragen,  die  er  hier  beantwortet,  dessen  letztem 
briefe  zuschreibt,  so  ist  das  nur  ein  leicht  erklärliches  versehen,  das  gegenüber  der 
deutlichen  beziehung  auf  Schiller's  brief  vom  3.  april  und  dem  feststehenden  6.  kei- 
nen zweifei  begründen  kann.  —  Die  bemerkung,  das  datum  von  4597  schwanke,   da 


ÜBER   GOETHES   WERKE   (WEIM.    AÜSQ.)  371 

nicht  feststehe,  ob  Goethe's  kind  am  16.  oder  18.  december  geboren  sei,  ist  nicht 
richtig,  da  der  16.  feststeht.  —  Mit  recht  hebt  der  heraiisgeber  den  widersprach  des 
datums  von  4428  mit  dem  tagebuch  hervor,  wonach  Goethe  am  24.  Oktober  1801, 
der  hier  überliefert  ist,  nicht  in  Jena,  sondern  in  "Weimar  war,  er  weiss  sich  aber 
nicht  zu  helfen.  Die  jalireszahl  hat  v.  Loeper  ohne  allen  zweifei  verlesen.  Der  brief 
ist  sieben  jähre  zu  früh  gesetzt,  er  gehört  in  das  jähr  1808.  Goethe  war  seit  dem 
19.  Oktober  1808  zu  Jena,  von  wo  er  am  morgen  des  24.  nach  "Weimar  fahren  woUte, 
um  an  der  widereröffnung  der  löge  Amalia  teilzunehmen,  aber  die  künde,  dass  die 
herzogin  nach  Jena  kommen  wolle,  um  die  museen  zu  sehen,  hielt  ihn  zurück.  So 
erklärt  sich  das  billet,  in  welchem  die  buden  auf  den  Jahrmarkt  deuten;  dass  das 
jähr  1801  nicht  richtig  sein  könne,  musste  das  tagebuch  den  herausgeber  lehren, 
welches  den  in  rede  stehenden  besuch  der  herzogin  am  24.  Oktober  1808  meldet.  — 
4603  durfte  nicht  vor  einen  brief  des  3.  Januar  gesetzt  werden,  er  gehört  nach  der 
mitte  oder  gegen  ende  des  monats,  wo  Goethe  morgens  meist  mit  dem  „anhang"  zu 
Cellini  beschäftigt  war. 

Die  in  den  „Lesarten"  gegebenen  erläuterungen  bieten  uns  aus  den  schätzen 
des  Goethearchivs  manche  höchst  willkommene  belehrung,  besonders  die  aus  akteu- 
stücken  und  aus  an  Goethe  gerichteten  briefen,  von  denen  leider  nicht  immer  die 
betreffenden  stellen  wörtlich  angeführt  sind.  Zu  weit  getrieben  ist  die  Verweisung 
auf  andere  stellen  aus  büchern;  häufig  starren  uns  die  gespenster  von  Seiten-  und 
Zeilenzahlen  beängstigend  an,  wo  man  ein  lebendiges  wort  über  die  sache  verlangt; 
nicht  selten  erweisen  sich  die  anführungen  als  nichtssagend.  Besonders  unnötig  und 
lästig  ist  der  ganze  schwärm  stellen,  wo  ein  bestimmtes  werk  Goethe's  in  den  briefen 
erwähnt  ist;  diese  angaben  gehören  in  das  verheissene  register.  Auch  die  verweise 
auf  die  „AUgemeine  deutsche  biographie"  wären  zu  sparen,  dagegen  kurz  anzugeben, 
was  aus  dem  leben  der  betreffenden  personen  zum  Verständnis  der  einzelnen  stelle 
von  bedeutung  ist.  Auch  in  unsern  bänden  fällt  die  Ungleichheit  der  behandlung  auf. 
Oft  könnte  mit  drei  werten  auf  eine  stelle  licht  geworfen  werden,  bei  welcher  der 
leser  vergebens  hülfe  sucht.  Freilich  wird  mehrfach  die  beziehung  nicht  mehr  zu 
entdecken  sein,  aber  umfassendere  kenntnis  löst  manches  scheinbare  rätsei.  Unter 
den  sehr  willkommenen  lösungen  ist  uns  am  willkommensten,  dass  4227  unter  den 
„famosen  sonetten"  von  Übersetzungen  der  sonette  des  Pietro  Aretino  die  rede  ist, 
wie  Schlegel's  antwort  zeige,  aber  ungern  vermisst  man  die  wörtliche  anfühmng  der 
betreffenden  äusserung.  Die  Verweisung  auf  die  briefstelle,  wo  Schlözer  der  deutsche 
Aretin  heisst,  tut  nichts  zur  sache.  Zu  erwähnen  wäre  gewesen,  dass  man  bisher 
das  erste  der  „famosen  sonette"  mit  dem  bekannten  sonett  in  Schillers  brief  an  Goethe 
vom  7.  december  1799  in  Verbindung  brachte,  und  dass  von  Ai'etin's  Übersetzung 
keine  spur  sich  erhalten  hat. 

Zur  ergänzung  und  berichtigung  geben  wir  hier  einige  bemerkungeu.  4179 
(der  brief  wird  richtig  als  an  Voigt  geschrieben  bezeichnet)  sind  die  „turpia  facta 
der  Hoch-  und  Wolgeb."  auf  dasjenige  zu  beziehen,  was  Schiller  vom  neuen  club  der 
adlichen  und  bürgerlichen,  der  einen  gesellschaftsabend  am  2.  Januar  gehalten, 
vernommen,  wenn  nicht  selbst  erlebt  hatte.  Es  sind  wol  recitatiouen  und  aufführun- 
gen  gemeint,  in  denen  damals  selbst  ältere  damen  sich  gefallen  hatten,  worüber 
Knebel's  brief  an  Herder' s  gattin  vom  23.  Januar  berichtet,  den  der  herausgeber  neben 
dem  briefe  der  letzteren  hätte  anführen  müssen.  Schiller,  der  am  abend  des  7.  mit 
Voigt  bei  Goethe  gewesen,  hatte  sich  in  gewaltiger  aufregung  über  diesen  dilettan- 
tischen unfug  ausgelassen.     Goethe  scherzt   in  diesem  briefe,    er   wolle  doch  heute 

24* 


372  DÜNTZER 

sehen,  ob  dessen  Unwillen  sich  beruhigt  habe.  —  4181  Der  „bogen"  war  ein  beson- 
derer abdruck  des  letzten  aufsatzes  des  heftes  der  „Propyläen"  (III,  1):  „Einige 
scenen  des  Mahomet  nach  Voltaire  von  dem  herausgeber".  —  Zu  4182  hätte  der 
Vorname  der  Schauspielerin  Caspers  angegeben  werden  sollen,  da  später  auch  ihre 
jüngere  Schwester  als  Schauspielerin  zu  Weimar  auftrat.  • —  4184  Bei  den  „Künsten 
des  liei'ru  von  Eckardtshausen"  genügte  nicht  die  Verweisung  auf  die  „  Allgemeine 
deutsche  biographie".  Ich  habe  schon  1859  den  im  „Reichsanzeiger"  nr.  3  dieses 
Jahres  abgedruckten  „Avis"  des  grafen  Karl  von  Eckardtshausen  angeführt,  auf  den 
Goethe  hier  zielt,  und  eine  darauf  bezügliche  äusserung  Knebels.  —  4202  „Schillers 
übel",  das  nervenfieber,  das  ihn  am  16.  befallen  hatte,  erst  nach  zehn  tagen  wich, 
und  ihn  lange  schwächte.  —  Zu  4285  wird  behauptet,  Goethe  habe  Humboldt  über 
die  absieht,  die  „Propyläen"  eingehen  zu  lassen,  im  dunkel  gelassen.  Aber  er  dachte 
an  die  möglichkeit,  dass  sich  der  absatz  heben  werde,  ja  noch  im  briefe  au  Cotta 
vom  25.  Januar  1802  ist  von  einem  einstweiligen  pausieren  die  rede.  —  4228  nmsste 
erwähnt  werden,  dass  die  Nemesis  wirklich  nicht  als  titelbild,  sondern  als  Vignette 
des  titelblatts  erschien;  die  zuletzt  übersandte  Zeichnung  bezog  sich  aui  die  „Braut 
von  Korinth"  und  fand  bei  dieser  auch  ihre  stelle.  —  4247  Den  domänenrat  „Haii- 
mann"  hatte  Goethe  schon  1779  kennen  gelernt,  wo  er  dem  herzog  und  ihm  viele 
gefälligkeiten  erzeigte,  ihn  auch  1797  widergesehen.  Hier  hätte  auf  VII,  358  verwiesen 
werden  sollen.  Dagegen  hatte  er  den  mediziner  Autenrieth  (4248)  auch  1797  nicht 
kennen  gelernt;  dessen  söhn  wurde  ein  anhänger  seiner  metamorphosenlehre.  —  Bei 
der  datierung  von  4282  vergisst  der  herausgeber  Goethe's  ihm  sonst  bekannte  gewohn- 
heit,  auch  in  Jena  oder  auf  seinem  gute  zu  Oberrossla  geschriebene  briefe,  beson- 
ders geschäftliche,  von  Weimar  zu  datieren.  Der  betreffende  brief  könnte  als  sehr 
dringend  noch  am  abend  des  8.  in  Oberrossla  geschrieben  sein',  aber  möglich  ist  auch, 
dass  die  angäbe  des  8.  statt  des  7.  ein  versehen  ist,  undenkbar  dagegen  des  heraus- 
gebers  annähme,  es  sei  der  tag  der  absend ung  gemeint.  —  4338  deutet  die  „phi- 
losophisch-artistische gesellschaft"  auf  die  anwesenheit  von  Schelling  und  Meyer.  — 
4313  ist  bei  der  „alten  jenaischen  karthaus"  nicht  etwa  an  ein  so  genanntes  gebäude 
zu  denken,  sondern  „karthause"  bezeichnet,  wie  „kloster",  die  einsamkeit.  —  Zu 
4337  durfte  nicht  die  grosse  Vertrautheit  von  N.  Meyer  in  Goethe's  hause  übergan- 
gen werden,  deren  ich  in  meinem  „Leben  Goethe's"  gedacht  habe.  —  4349  musste 
bei  der  missbräuchlichen  form  Starke  der  ähnlichen  unart  des  gewöhnlichen  gebrauchs 
bei  einsilbigen  namen  gedacht  werden ,  wie  auch  bei  dem  maier  Kraus.  Durchgängig 
war  die  richtige  form  herzustellen.  —  4384  genügt  die  angäbe,  der  junge  mann 
habe  Schmidt  geheissen  (wir  wissen  genaueres  von  ihm  selbst),  durchaus  nicht, 
ebensowenig  wie  4389  die  bezeichnung  des  „herrn  Rabe"  als  „kondukteur,  den  Gentz 
mitbrachte".  Gentz  hatte  bereits  im  november  1800  Friedrich  Rabe  als  kondukteur 
vorgeschlagen  und  der  herzog  dessen  ankunft  schon  im  Januar  erwartet.  —  4420  ist 
verschwiegen,  dass  die  „ physiognomischen  regeln"  von  Lavater  sind,  was  sich 
freilich  aus  der  stelle  des  tagebuchs  ergibt,  deren  Wortlaut  nicht  angegeben  ist. 
Goethe  besass  sie  als  ein  geschenk  Lavaters.  Der  druck  im  folgenden  jähre  ist 
nicht  durch  Goethe  veranlasst.  —  4436  ist  die  „einzustudierende  oper"  ohne  zwei- 
fei eine  komposition  von  Reichardt  selbst.  Die  Unmöglichkeit,  sie  zu  der  von 
Reichardt  gewünschten  zeit  aufzuführen ,  ergab  die  beigelegte  nachricht  von  Kirms.  — 
4433  bezieht  sich  offenbar  auf  die  aussetzung  des  zweiten  mittwochkränzchens 
wegen  der  in  Weimar  herrschenden  masern.  Der  herausgeber  sagt  darüber  kein 
wort.   —   4445   „Im  felde".     Den  major  (von)  Gualtieri  hatte  Goethe  ohne  zweifei 


ÜBKR    GOETHES    WERKE    (WEIM.    AUSG.)  373 

beim  zuge  in  der  Champagne  kennen  gelernt,  und  wol  bei  der  belagerung  von  Mainz 
wider  gesehen. 

4468  Es  scheint  nicht  bloss,  wie  es  s.  406  heisst,  dass  Goethe's  August  im 
maskenzuge  auf  der  geburtstagsredoute  als  Amor  erschien,  wir  wissen,  wie  sehr 
frau  von  Stein  sich  darüber  ärgerte,  dass  Goethes  unehelicher  knabe  als  geflügelter 
Amor  im  zuge  herumgetragen  wurde,  und  zuletzt  die  schönen  stanzen  der  herzogin 
überreichte.  Vgl.  meine  „Charlotte  von  Stein"  U,  146  fg.  Schon  im  juli  1799  war 
August  in  dieser  Verkleidung  bei  dem  mahle  erschienen,  das  Goethe  der  frau  von  La- 
roche gab.  —  4480  Irrig  wird  bemerkt,  das  von  Goethe  versprochene  gedieht  sei  am 
9.  februar,  dem  geburtstage  des  prinzen,  aufgeführt  worden.  Der  prinz  war  am  2. 
geboren,  das  gedieht  ward  am  27.  geschrieben,  auf  der  redoute  des  30.  nicht  „auf- 
geführt", sondern  von  dem  als  Amor  verkleideten  August  überreicht.  "Was  wirklich 
in  dem  briefe  Augusts  an  den  vater  vom  10.  steht,  aber  vom  herausgeber,  der  sich 
darauf  beruft,  ohne  den  Wortlaut  anzuführen,  missverstauden  sein  muss,  errate  ich 
nicht.  —  Die  zu  4494  vermutete  Verschiebung  einer  angäbe  des  tagebuchs  ist  unwahr- 
scheinlich, viel  eher  anzunehmen,  dass  die  erwähnung  dieses  abendbesuches  zufällig 
im  tagebuche  oder  im  abdrucke  desselben  ausgefallen,  da  am  anderen  tage  des  abends 
gar  nicht  gedacht  wird;  am  ncächsten  liegt  es,  den  ausfall  der  werte  „abends  Schel- 
ling"  am  16.  (möglicherweise  erst  im  drucke)  zu  vermuten.  —  4.506  „Einige  frauen- 
zimmer",  besonders  frau  Hufeland  und  frau  Paulus.  —  4523  „Veränderung  des  quar- 
tiers",  der  umzug  aus  der  bisherigen  mietwohnung  in  das  angekaufte  haus  von  Mel- 
lish  auf  der  esplanade.  —  So  ganz  un veranlasst  wie  seltsam  finde  ich  es,  wenn  4558 
zur  hoffnung,  „eine  freundschaftliche  geselligkeit  des  winters  werde  ihn  manchmal 
wider  in  einen  lyrischen  zustand  versetzen",  die  bemerkung  gemacht  wird :  „als  ersatz 
des  gesprengten  cour  d'amour".  —  4580  Zur  erwähnung  des  „heiTn  von  Zimmer- 
mann" wird  gefragt:  „Ein  söhn  des  1795  verstorbenen  Hannoverschen  leibarztes?" 
"Wir  wissen,  dass  dessen  einziger  söhn  Jacob  längst  vor  ihm  gestorben  war.  Da  der 
fürst  Galizyn  in  Braunschweig  lebte,  imd  Zimmermann  dazu  beigetragen,  dass  dieser 
seine  mineralogische  Sammlung  nach  Jena  schenkte,  so  denkt  man  von  selbst  an  den 
Braunschweiger  leibarzt  Eberhard  August  Zimmermann,  mit  dem  Goethe  als  anato- 
tomen  in  den  achtziger  jähren  in  Verbindung  gestanden.  Auch  ist  es  nicht  auffallend, 
dass  Voigt  diesem  noch  nicht  im  namen  des  herzogs  gedankt  hatte,  weU.  er  seinen 
damaligen  titel  nicht  kannte.  —  4581  Die  bronze  des  „Merkur"  ist  wol  das  2^j^ 
zoll  hohe  figürchen  des  auf  einem  f eisen  sitzenden  gottes  bei  Schuchardt  „Goethe's 
Sammlungen"  H,  12,  28.  —  4598  „Heute  abend  hoffe  ich  zu  kommen",  in  den  club, 
den  „freundschaftlichen  zirkel",  wie  er  4632  s.  192,  5  heisst,  die  ressource.  —  4615 
"Wenn  zu  der  „Indisposition"  Goethe's  bemerkt  wird,  ausser  dem  briefe  des  herzogs 
vom  2.  Januar  finde  sich  von  diesem  „anfall"  keine  spur,  so  handelt  es  sich  hiervon 
keinent  anfalle,  aber  seit  dem  2.  januar  fühlte  Goethe  sich  fortdauernd  so  unwol, 
dass  er  das  zimmer  den  wiuter  nicht  mehr  verliess.  Davon  zeugen  besonders  das 
tagebuch  und  briefe  von  Vulpius,  imd  aus  jeder  eingehenden  lebensbeschreibung  war 
das  genauere  leicht  zu  ersehen.  —  4627  Zu  191,  4  war  der  tenorist  Brand  zu  nen- 
nen, nicht  auf  die  spätere  anmerkung  zu  verweisen;  die  erläuterung  muss,  was  mehr- 
fach übersehen  ist,  an  der  stelle  stehen,  wo  der  sache  zuerst  gedacht  wird.  Übri- 
gens hat  der  herausgeber  nicht  gewusst,  dass  dieser  Brand  von  Goethe's  mutter 
empfolilen  war.  Er  ist  der  junge  tenorist,  dessen  sie,  ohne  seinen  namen  zu  nen- 
nen, am  18.  februar  1803  gedenkt  und  unter  seinem  namen  am  20.  juli  1804.  Er 
kam  von  "Weimar  an   das  hoftheater  zu  Kassel.  —    4645  schwebt  bei  der  anfrage  an " 


374  DÜNTZEB 

die  Jagemann,  wie  sie  nach  ihrem  gestrigen  auftreten  iu  der  „Natürlichen  tochter" 
geschlafen  hahe,  hei  der  hezeichnung  „auf  ihre  gestrigen  reisen  aus  leidenschaft"  ein 
launiger  ausdi"uck  des  vor  kurzem  in  AYeimar  gewesenen  Friedrich  Gentz  vor,  er 
reise  aus  leidenschaft.  Vgl.  4647  s.  212,  15  fgg.  Freilich  sieht  man  nicht  recht, 
wie  dies  auf  Eugenicn  passe,  welche  im  stücke  gar  nicht  aus  leidenschaft  reist.  — 
Im  anfang  des  briefes  an  Schüler  vom  13.  mai  (4056):  „So  überrascht  uns  denn 
doch  das  jüngste  gericht",  sieht  der  herausgeber  im  ernste  „eine  scherzhafte  Wen- 
dung" für-  Cotta's  auf  den  21.  mai  angekündigten  besuch!  "Wie  das  folgende  „Zu- 
gleich" zeigt,  bezieht  sich  die  äusserung  wol  auf  eine  mitgeschickte  schrift,  die  über 
die  beiden  Weimarischen  dichter  hei-fiel,  wenn  es  nicht  ein  angriff  in  einer  zeitung 
war.  Unter  dem  gleichzeitig  ziu'  beurteiliing  gesandten  „Nepotian"  (es  hätte  sich 
doch  verlohnt,  zu  bemerken,  dass  das  drama  den  raschen  stürz  eines  römischen  kai- 
sers  darstellte)  versteht  der  herausgeber  das  stück,  das  der  Berliner  prof.  Levezow 
zu  erhalten  gewünscht.  Goethe  verspricht  im  briefe  4689  ihm  den  wünsch  zu  erfül- 
len, sobald  es  „wider  zu  hause"  sei.  Es  handelt  sich  hier  offenbar  nicht  um  ein 
fremdes  stück,  das  sein  Verfasser  zurückverlangt,  sondern  Levezow  hatte  ihm  ein 
sehr  erfreuliches  urteil  über  seine  in  Berlin  aufgefühiie  und  durchgefallene  „Natür- 
liche tochter"  geschrieben  und  das  noch  ungedi-uckte  stück  zu  lesen  gewünscht.  „Ich 
wünsche  nur",  heisst  es  in  dem  ausserordentlich  freundlich  geschriebenen  briefe, 
„dass  nähere  bekann  tschaft  [des  Stückes]  die  lebhafte  teilnähme  nicht  vermindern 
möge,  wodurch  Sie  mir  eine  so  besondere  freude  gemacht  haben."  Nach  dieser  auf- 
fassung  des  briefes  gewinnt  er  ganz  besonderen  wert.  —  Wenn  zu  4662  phantasieii 
wird,  die  AVeimarer  dioskuren  hätten  die  aufführung  von  Klopstock's  „Hermanns 
Schlacht"  wol  als  eine  totonfeier  Klopstocks  geplant,  so  kann  der  heraus- 
geber deren  Stimmung  gegen  den  hamburger  patriarchen  und  Goethe's  aufsatz  „Ein 
Vorsatz  Schillers"  nicht  gekannt  haben,  aus  welchem  hervorgeht,  dass  die  beiden 
dichter  ein  klassisches  deutsches  repertorium  beabsichtigten,  wobei  sie  auf  Klopstock 
zurückgreifen  wollten.  —  4669  „Dem  fünften",  wahrscheinlich  dem  Uede  „General- 
beichte", da  die  folge  der  üeder  des  „Taschenbuchs"  kaum  verändert  sein  wird.  — 
4673  hätte  doch  wol  kurz  bemerkt  werden  sollen,  dass  „Ernestiue"  die  jüngere  halb- 
schwester  Chiistianens  war,  die,  wie  auch  die  alte  taute  Juhane  Vulpius,  in  Goethe's 
hiüterhause  wohnte  und  starb.  —  A^on  4674  heisst  es:  „Bisher  auf  die  farbenlehre 
bezogen",  und  es  werden  dann  ein  paar  stellen  angezogen,  die  ganz  verschiedener 
art  sind.  Es  handelte  sich  um  seine  so  oft  schon  angegriffene  einleitung  in  die  far- 
benlehre. —  4682  „August  setzt  sich  nun  in  die  Leuzischen  stunden."  Er  besuchte 
die  mineralogischen  Vorlesungen  von  Lenz,  da  diese  Wissenschaft  um  schon  seit  1801, 
wo  Blumenbach  in  Göttingen  ihn  dafür  gewonnen  hatte,  lebhaft  ansprach.  —  4683 
Zu  äug  eichen  hätte  wenigstens  auf  die  anmerkimg  zu  2936  verwiesen  werden  sol- 
len. Äugelchen  ist  ein  Christianen  geläufiger  und  von  Goethe  übernommener  aus- 
druck  für  „verliebte  äugen".  —  4719  „In  so  bedenklicher  zeit",  da  Hannover  von  den 
Franzosen  besetzt  war  und  unter  argen  kriegssteuern  litt.  —  4743  „Eines  so  unwür- 
digen blattes."  Kotzebue's  blatt  „Der  freimütige"  ist  gemeint.  —  4791  Den  adressaten 
des  briefes,  wovon  nur  das  concept  vorhanden  ist,  wagt  der  herausgeber  nicht  zu 
bestimmen;  uns  scheint,  dass  es  sehr  wol  der  gymnasiaUehrer  Delbrück  in  Berlin 
gewesen  sein  könne.  Die  äusserung  „Die  natürliche  tochter"  sei  schon  an  einen  recen- 
senten  verteilt,  scheint  nur  eine  ausrede,  um  den  Berliner  professor  abzulehnen. 
Man  wusste  eben  nicht,  wem  man  sie  „bei  dem  seltenen  charivari  im  deutschen 
publikum"    geben    solle.    Dem   befreundeten  Kochlitz    in  Leipzig   wollte    Goethe    sie 


ÜBER    GOETHES    WERKE    (VVEIM.    AUSG.)  375 

nicht  geradezu  anbieten,  doch  bat  er  diesen  um  das  blatt,  das  er  früher  ihm  von 
Berlin  aus  darüber  geschrieben.  Aber  der  „faule  Eochlitz"  hielt  sich  zurück.  Als 
sich  dann  Schaumann  in  Giessen  dazu  anbot,  meinte  Goethe,  Eichstädt  solle  die  beur- 
teilung  diesem  anbieten,  da  er  nach  seinen  briefen  ein  sehr  gesetzter  mann  sei,  und 
rücksicht  darauf  nehmen  werde,  dass  Goethe  in  nahem  Verhältnis  zu  Eichstädt's  Zei- 
tung stehe.  Aber  Schaumann's  anzeige  fiel  so  lobrednerisch  aus,  dass  sie  unmöglich 
iu  der  von  Goethe  abhängigen  zeitung  erscheinen  konnte.  Da  Delbrück's  mittlerweile 
gelieferte  anzeige  von  Schillers  „Braut  von  Messina"  zu  den  von  Schiller  und  Goethe 
gehegten  grundsätzen  stimmte,  sollte  Eichstädt  jetzt  diesem  auch  die  beurteiluugen  von 
Goethes  neuer  tragödie  und  dem  „Alarkos"  von  Fr.  Schlegel  auftragen,  und  ihm  zu- 
gleich mitteilen,  weshalb  sie  die  früher,  freilich  erst  nach  seinem  anerbieten,  einem 
anderen  beurteiler  aufgetragene  anzeige  nicht  aufnehmen  könnten.  Dass  er  früher  von 
einem  Berliner  gymnasiallehrer  keine  vorurteilsfreie  Würdigung  des  in  Berlin  von  sei- 
nen dortigen  mächtigen  gegnern  ausgepochten  Stückes  erwartet  hatte,  trotz  seiner 
Versicherung,  Delbrück's  Überzeugung  stimme  mit  der  diesseitigen  ansieht  überein, 
wäre  leicht  erklärlich.  Wie  es  mit  dem  früher  von  einem  anderen  Berliner  professor 
gefällten  günstigen  urteil  über  „Die  natürliche  tochter"  (vgl.  zu  4056  s.  374)  sich 
jetzt  verhalten,  wissen  wir  nicht.  Delbrück  lieferte  eine  würdige  anzeige  der  tra- 
gödie im  folgenden  jähre,  die  Hallische  litteraturzeituug  hatte  vorher  das  voUe  hora 
der  bitterkeit  über  sie  ergossen. 

KÖLN.  H.    DÜNTZER. 

Deutsche  Phonetik.  Von  Otto  Bremer.  [A.u.d.i:  Sammlung  von  grammatiken  deut- 
scher mundarten  L]    Leipzig,  Breitkopf  &Härtel.  1893.  XXIII ,  208  s.  u.  2  taf.    5  m. 

Von  allen  autoren,  welche  lehrbücher  der  phonetik  herausgegeben  haben, 
hat  Bremer  wol  den  weitesten  gesichtskreis.  Techmer,  in  seiner  phonetik,  hat 
zwar  von  allen  selten  her  material  zusammengebracht,  aber  er  hat  das  gelesene 
nicht  verdaut.  Er  berichtet  ausführlich  über  unwesentliche  dinge,  während  wichtige 
tatsachen  nicht  genügend  hervorgehoben  werden. 

Bremer's  hauptverdienst  liegt  darin,  dass  er  die  einseitigkeit  der  —  auch  in 
Deutschland  sehr  verbreiteten  —  sogenannten  englischen  schule  vermeidet.  Diese 
schule  klassificiert  bekanntlich  die  sprachlaute  fast  ausschliesslich  nach  der  art  ihrer 
erzeugung,  vernachlässigt  dagegen  das  Studium  des  akustischen  effekts.  Die  kenntnis 
der  erzeugungsweise  ist  ohne  zweifei  notwendig  und  nützt  uns  vor  allem  bei  der 
erklärung  des  lautwandels,  wie  er  sich  bei  einem  individuum  oder  innerhalb  einer 
bestimmten  generation  vollzieht.  Der  akustische  effekt  ist  schon  bei  dieser  art  laut- 
wandel  nicht  ohne  bedeutung,  wirkt  aber  meistens  im  konservativen  sinne.  Wenn 
die  spräche  auf  eine  jüngere  generation  übertragen  wird,  so  bilden  die  akustischen 
eigenschaften  der  laute  das  entschieden  wichtigste  moment.  Die  kinder  lesen  uns 
nicht  die  spräche  von  den  lippen  ab,  sondern  sie  sprechen,  was  sie  hören  — 
oder  vielmehr  wie  sie  hören.  Da  grosse  abänderungen  der  artikulation  manchmal 
keinen  auffälligen  Wechsel  des  klanges  hervorrufen,  so  ist  es  klar,  dass  die  Überliefe- 
rung der  artikulationsformen  keineswegs  sichergestellt  ist.  Bremer  ist  also  in  seinem 
vollen  rechte,  wenn  er  mit  rücksicht  auf  die  relative  Wichtigkeit  von  klang  und  arti- 
kulation den  gehörten  laut  als  das  prius  bezeichnet,  die  art  der  erzeugung  als  das 
posterius. 

In  seiner  Opposition  gegen  die  „genetiker"  steht  Bremer  nicht  allein,  ist  auch 
nicht  der  Urheber  dieser  Opposition.     Dagegen  ist  Bremer  (nach  dem  datum  des  vor- 


376  PIPPIiNG  ,    ÜBER   BREMER,    DEUTSCHE    PHONETIK 

Wortes  zu  urteilen)  der  erste,  -welcher  hervorgehoben  hat,  class  ein  lautwaudel  zu  stände 
kommen  muss,  weil  die  kleineren  dimensionen  der  kindlichen  mundhöhle  artikidatio- 
nen  bedingen,  welche  von  denen  der  eitern  abweichen  (vorwort  s.  XVIj.  Diese  tat- 
sache  ist  schon  von  Helmholtz  hervorgehoben  worden;  ihre  bedeutung  für  den 
lautwaudel  wm-de  aber  dreissig  jähre  lang  übersehen. 

Diesen  neuen  anschauungen  hat  Bremer  in  seinem  lehrbuche  sorgfältig  rech- 
nung  getragen,  und  er  hat  das  ganze  material  mit  grosser  Selbständigkeit  durch- 
gearbeitet. 

Viel  mühe  hat  dem  Verfasser  der  „Deutschen  phonetik''  die  ausarbeituug  der 
vokallehre  gekostet.  Er  scheint  seine  bestimmungen  der  vocaltöne  teils  durch 
beobachtung  der  Üüstersprache ,  teils  mittels  der  stimmgabelprobe  gemacht  zu  haben 
(nähere  berichte  werden  in  aussieht  gestellt).  Beide  methoden  sind  von  vielen  for- 
schem versucht  worden,  meist  aber  mit  massigem  oder  geringem  erfolge.  Um  so 
überraschender  ist  es,  dass  Bremers  resiütate  im  ganzen  sehr  zuverlässig  zu  sein 
scheinen:  die  Übereinstimmimg  zwischen  seinen  charakteristischen  tönen  und  den  mit- 
tels graphischer  methoden  gefundenen  ist  eine  auffallend  gute.  Bremer  hat  offenbar 
ein  ungewöhnlich  feines  gehör. 

Bremer  bezeichnet  seine  „phonetik"  als  eine  praktische,  und  mit  recht;  denn 
er  vermeidet  grundsätzlich  die  besprechung  physikalischer  und  physiologischer  fra- 
gen, welche  beim  Unterricht  eine  untergeordnete  rolle  zu  spielen  scheinen,  auch  in 
fällen,  wo  der  besprochene  gegenständ  durch  eine  mehr  eingehende  behandlung  an 
reiz  gewonnen  hätte.  Weit  davon  entfernt  dieses  vorgehen  zu  tadeln  —  jeder  hat 
ja  das  recht  seine  aufgäbe  nach  belieben  zu  wählen  und  zu  beschi'änken  — ,  muss 
ich  doch  mit  bedauern  hervorheben,  dass  Bremer's  aufschlüsse  über  physiologie  und 
physik  durch  ihre  knappheit  manchmal  irreführend  werden.  Die  Spannung  der  Stimm- 
bänder (s.  23)  wird  nicht  ausschliesslich,  kaum  einmal  vorwiegend  durch  Vorwärtsbewe- 
gung des  Schildknorpels  bewirkt.  Die  stärke  des  Schalls  (s.  39)  hängt  auch  von  ande- 
ren faktoren  als  der  Schwingungsweite  ab.  Falsch  ist  ferner  Bremer's  behauptung 
(s.  39),  dass  die  erscheinungsformen  des  Schalls  entsprechend  den  verschiedenen 
Schwingungsformen  verschieden  seien.  Es  können  sehr  verschiedene  Vibrationsformen 
genau  denselben  klang  geben,  und  genau  dieselbe  vibrationsform  kann,  wo  die 
Schwingungszahl  wechselt,  sehr  verschiedenartige  klänge  erzeugen. 

Der  gefährlichste  fehler  Bremer's  ist  in  seiner  besprechung  der  resouanz- 
er scheinungen  zu  finden  (s.  114,  124,  164).  Bremer  stellt  die  behauptung  auf, 
dass  bei  relativ  kurzen  resonanzräumen  die  Verringerung  bezugsw.  vergrösserung  des 
Volumens  die  höhe  des  resonanztones  in  ganz  verschiedener  richtung  beeinflussen 
müsse,  je  nachdem  der  vordere  (der  Öffnung  zugekehrte)  oder  der  hintere  teil  des 
raumes  von  der  Veränderung  betroffen  wird.  Durch  versuche  mit  einem  blechreso- 
nator,  den  man  zum  teil  mit  brotteig  ausfüllt,  kann  sich  jeder  die  Überzeugung  ver- 
schaffen, dass  der  resonanzton  steigt,  ob  der  resonator  vorne  oder  hinten  gefüllt 
wü"d;  und  dass  der  ton  immer  sinkt,  wenn  die  füUung  weggenommen  wird.  Natür- 
lich muss  man  sich  bei  diesen  versuchen  davor  hüten,  die  Öffnung  zu  vergrössern, 
zu  verengern  oder  auch  nur  zu  beschatten. 

Wenn  ich  noch  auf  die  geradezu  verblüffende  definition  des  schalls  hinweise, 
welche  s.  39  zu  finden  ist»,    darf  ich  wol   die  meinung  aussprechen,    dass  Bremer's 

1)  ,,Der  schall",  sae;t  Bremer  dort,  ,,ist  wie  das  licht  eine  wellenartige  Bewegung  der  luft". 
Die  richtige  definition  des  schalls  wurde  von  Newton  gegeben.  Vgl.  Hensen,  Physiologie  des  ge- 
hörs  s.  4. 


BINZ,    ÜBER    SEILER,    DEUTSCHE    LEHNWÖRTER  377 

buch  als  leitfaden  für  kritiklose  anfänger  nicht  unbedingt  zu  empfehlen  ist.  Ein  fach- 
raann  dagegen  wird  es  nie  bereuen,  wenn  er  der  .,Deutschen  phonetik"  ein  sorgfäl- 
tiges Studium  widmet.  Bremer  bietet  uns  vieles  neue,  und  auch  das  alte  erscheint 
uns  dank  der  selbstäudigen  behandlung  sehr  oft  in  einem  neuen  lichte. 

HELSINGFORS.  HUGO   PIPPING. 

Die  entwicklung  der  deutschen  kultur  im  Spiegel  des  deutschen  lehn- 
■worts.  Von  Frie«lrich  Seilei*.  1:  Die  zeit  bis  zur  einführung  des  Christentums. 
Halle,  buchhandlimg  des  Waisenhauses.  1895.     99  s.     1,50  m. 

Die  aus  fremden  sprachen  in  das  deutsche  aufgenommenen  lehnwörter  zu  sam- 
meln, chronologisch  und  sachlich  zu  sichten  und  als  grundlage  einer  skizze  der  ent- 
wicklung deutscher  kultur  zu  verwerten,  ist  eine  verlockende  und  —  wenigstens  für 
die  ahd.  zeit  —  nicht  zu  grosse  aufgäbe.  Das  material  liegt  ja  besonders  in  den 
arbeiten  Kluge' s,  der  auch  schon  in  der  einleitung  zu  seinem  etymologischen  wör- 
tei'buche  die  dabei  zu  verfolgenden  gesichtspunkte  kurz  und  ti'eifend  angedeutet  hat, 
zur  vei-wendung  bequem  bereit.  Was  uns  nun  Seiler  in  der  vorliegendeu  schrift 
bietet,  ist  darum  weniger  eine  vermehrang  des  schon  vorher  ziemlich  vollständig 
gesammelten  steifes ,  als  vielmehr  eine  an  weitere  kreise  der  gebildeten  sich  wendende, 
klare  und  gefällige  darlegung  derjenigen  fremden  einflüsse  auf  die  deutsche  kultur, 
die  sich  aus  den  lehnwörtem  erschliessen  lassen. 

Der  vorliegende  erste  teil  betrifft  nur  die  zeit  bis  zur  einführung  des  Chri- 
stentums. Nach  einer  auseinandersetzung  über  die  kriterien,  die  eine  zeitliche 
Scheidung  der  fremdwörter  ermöglichen,  (bedeutung  der  hochd.  lautverschiebung, 
reconstiaiction  der  zu  gründe  liegenden  fremden  lautgestalt,  gemeinsamkeit  des 
besitzes  der  festländischen  Germanen  mit  den  frühe  abgetrennten  Angelsachsen), 
werden  ■ —  abgesehen  von  einigen  aus  früher  vorgeschichtlicher  zeit  stammenden 
entlehnungen  wie  pfad,  silber,  pflüg,  hanf^  schiff,  rübe^  äffe  usw.  —  zwei  haupt- 
gruppen  von  lehnwörtern  unterschieden:  1)  die  keltischen  und  2)  die  ungleich 
wichtigeren  römischen.  In  der  von  den  Eömern  ausgehenden  civiUsiening  der  Ger- 
manen lassen  sich  widerum  zwei,  freilich  nicht  scharf  von  einander  zu  trennende 
abschnitte  sondern:  im  ersten  verhalten  sich  die  Germauen  den  fertigen  fremden 
Produkten  gegenüber  rein  receptiv,  im  zweiten  schwingen  sie  sich  zu  selbstän- 
diger nachahmung  und  reproduction  derselben  auf.  In  lebendiger  und  anziehen- 
der weise  verfolgt  nun  der  Verfasser  diesen  einfluss  der  Eömer  und  die  dadurch  her- 
vorgerufene aUmähhche  völlige  Umgestaltung  des  deutschen  lebens  auf  allen  gebieten 
der  materiellen  und  geistigen  kultui',  in  kriegswesen,  recht,  handel,  ackerbau,  land- 
wirtschaft,  bau  und  einrichtung  von  haus  und  hof,  in  handwerk  und  gewerbe;  er 
fasst  diese  entwicklung  auf  „als  eine  vollständige  revolution  des  häuslichen  und  wirt- 
schaftlichen lebens  der  nation,  welche  durch  sie  den  Übergang  von  einem  natur- 
zum  kultiu'volk  voUzog"  (s.  84).  Zuletzt  kommen  noch  die  griechisch -latei- 
nischen lehnworte  an  die  reihe,  welche  den  einwirkungen  des  arianischen  christen- 
tumes  und  vielleicht  der  römisch -fränkischen  kirche  aus  früherer  zeit  entstammen. 
Die  hauptmasse  der  kirchlichen  fremdwörter  strömt  dem  deutschen  erst  mit  der 
ausgedehnten  missionsarbeit  der  Ii-en  und  Angelsachsen  zu;  ihre  behandlung  wird 
daher  erst  im  zweiten  teile  platz  finden.  Den  beschluss  macht  ein  alphabetisches 
Verzeichnis  der  besprochenen  lehnwörter. 

Man  wird  dem  Verfasser  das  Zeugnis  nicht  versagen  dürfen,  dass  er  seine 
aufgäbe  mit  geschick  gelöst  hat;    wenn  die  rücksicht  auf  einen  grösseren,    nicht  mit 


378  BINZ,    ÜBER   SEILER,    DEUTSCHE    LEHNWÖRTER 

allen  einzelheiten  der  vergleichenden  si)rachwissenschaft  vertrauten  leserkreis  wol 
Me  und  da  den  Verfasser  zu  einer  bestimmteren  formulierung  seiner  meinung  veran- 
lasst hat,  als  dies  der  stand  der  forschung  erlauben  möchte,  so  wird  man  ihm  daraus 
keinen  Vorwurf  macheu  wollen.  Im  einzelnen  wird  sich  gegen  manche  behauptung 
Widerspruch  erheben  lassen;  diesem  ausdruck  zu  geben,  ist  jedoch  hier  nicht  der 
platz.  Nur  zwei  beraerkungen  allgemeinerer  natur  kann  ich  nicht  ganz  unterdrücken. 
Einmal  ein  methodisches  bedenken:  es  ist  mir  zweifelhaft,  ob  wir  jedes  mal,  wo  wir 
ein  fremdwort  eindriagen  sehen,  auch  wirkHch  entlehnung  oder  wenigstens  vom  aus- 
lande veranlasste  wesentliche  Verbesserung  und  verfeinenrng  des  damit  benannten 
gegenständes  annehmen  dürfen.  Es  scheint  mir,  es  könne  schon  in  früher  zeit 
so  gut  wie  heute  in  den  feineren  oder  feiner  sein  wollenden  kreisen  zum  guten  tone 
gehört  haben ,  an  die  stelle  schöner  alter  einheimischer  ausdrücke  für  altererbte  dinge 
imposanter  klingende,  der  fremde  entlehnte  bezeichnungen  zu  setzen.  Ich  erinnere 
nur  z.  b.  an  kämpf,  pferd,  die  in  Süddeutschland  durchaus  nicht  volkstümlich  sind 
und  es  auch  kaum  je  waren.  Die  berührung  mit  der  fremden  kultur,  die  sich  aus 
dem  lehn  wort  ergibt,  wäre  dann  doch  eine  viel  weniger  intensive;  tatsächliche  ein- 
fühi'UDg  einer  sache  aus  der  fremde  ist  nur  wahrscheinlich  bei  aUgeraeiner  volkstüm- 
licher Verbreitung  der  dafür  geltenden  fremden  bezeichnung. 

Zweitens  möchte  ich  darauf  hinweisen,  dass  die  deutschen,  namentlich  die 
oberdeutschen  mund arten  doch  wol  nicht  genügend  zur  aufhellung  der  beziehungen 
zwischen  Eömern  und  Germanen  herangezogen  worden  sind;  in  ihnen  finden  wir 
einerseits  manche  entlehnungen  noch  lebendig,  die  in  der  nhd.  Schriftsprache  aus- 
gestorben oder  nur  in  modernisierter  gestalt  erhalten  sind,  und  anderseits  eine  anzahl 
von  lehnwörtern,  die  den  mittel-  und  niederdeutschen  gegenden  völlig  fehlen.  Ich 
nenne  nur  einige  mir  zufällig  in  den  sinn  kommende  Wörter  aus  schweizerischen 
mundarten:  akte,  ayde  <  aquaeductus ,  aenis  <.  anisum,  chemi  <  caniinus, 
chmmgdh  <  conu(n}cula ,  ehr  lisch  <  erusca,  chümmi  <r  cumimmi,  chüngdli  <. 
cuniculus,  chüpfii  <]  cttppa,  gäxxi  <^  gabata  (?),  daneben  gepsli  (ahd.  gebixa)^ 
chüssi  <^  cussinum,  ern  „hausüur"  <;  arena  für  area,  fäschi,  schwäb.  pfetschahind 
<  fascia  „binde";  mäschdl  und  fmmi9l  „weiblicher,  männlicher  hanf  mit  auffal- 
lender vertauschung  des  geschlechtes  aus  masculiis,  femellus;  märt  <^  mercatus, 
meydl  <^  miolium,  nüschdl  <C  nosciila,  nuscula.  Es  ergibt  sich  daraus  offenbar 
ein  bild  lebendigeren  Verkehrs  und  vielseitigerer  beziehungen  zwischen  Eömern  und 
Germanen,  als  die  Schriftsprache  es  gewährt;  eine  genauere  berücksichtigung  der 
mundart  wird  sich  also  empfehlen  besonders  auch  für  die  mhd.  periode,  wo  sich  der 
einüuss  Frankreichs  bis  weit  in  die  untersten  Volksschichten  fühlbar  macht. 

BASEL,    26.  FEBRUAR   1895.  GUSTAV   BINZ. 


AGlossary  of  the  Old  Northumbrian  Gospels  (Lindisfarne  Gospels  or  Durham 
Book).     Compiled  by  Albert  S.  Cook.     Halle,  Max  Niemeyer.     1894.     YH,   263  s. 
10  m. 

Vor  13  Jahren  glaubte  Sievers  in  der  einleitung  zu  der  ersten  aufläge  seiner 
ags.  grammatik  das  baldige  erscheinen  einer  umfassenden  grammatischen  bearbeitung 
des  northumbrischen  dialekts  aus  der  feder  A.  S.  Cooks  in  aussieht  stellen  zu  dür- 
fen. Hindernisse  der  verschiedensten  art  traten  aber  der  Verwirklichung  dieser  ankün- 
digung  störend  in  den  weg.  Inzwischen  hat  das  eine  der  beiden  umfangreicheren  denk- 
mäler  des  Northumbrischen,    das  Rituale  von  Durham,    in  Lindelöf  einen  tüchtigen 


BINZ,    ÜBER   COOK,    GLOSSÄRT  379 

und  zuverlässigen  darsteiler  gefunden.  Jetzt  kommt  endlich  auch  das  andere  haupt- 
denkmal,  die  Interlinearversion  der  vier  evangelien  im  Durham  Book\  die  sogenacnten 
Lindisfarne  Gospels,  an  die  reihe.  Cook  selbst  legt  uns  in  seiner  neuesten  Publika- 
tion als  Vorarbeit  seiner  grammatischen  skizze  eine  lexikalische  Zusammenstellung  des 
gesamten  in  den  evangelien  enthaltenen  Wortschatzes  vor:  mit  vergnügen  erfahren 
wir,  dass  die  grammatik  zum  grössten  teil  druckfertig  ist  und  in  kurzem  veröffent- 
licht werden  soll,  wenn  nicht  ein  anderer  dem  Verfasser  mit  einer  solchen  arbeit 
zuvorkommt.  Hoffen  war,  dass  es  Cook  diesmal  wirklich  vergönnt  sein  möge,  alle 
der  erfüllung  seines  Versprechens  sich  entgegenstellenden  Schwierigkeiten  rasch  zu 
überwinden ! 

Das  vorliegende  glossar  beruht  auf  dem  texte  der  ausgäbe  der  evangelien  durch 
Skeat,  für  Matthaeus  auf  der  zweiten  bearbeitung  derselben.  Cook  hat  dazu  eine 
neue  vergleichung  der  handschrift  vorgenommen,  die  aber  nur  wenige,  im  glossar 
stillschweigend  benützte,  Verbesserungen  ergab.  Sämtliche  Wörter  werden  verzeich- 
net mit  anführung  aller  formen,  in  denen  sie  erscheinen,  und  unter  aufzählung  aller 
belegstellen.  Die  arbeit  ist  sorgfältig  und  genau;  wenigstens  haben  mir  zahlreiche 
stichprobon  (allerdings  nach  berücksichtigung  der  leider  recht  umfänglichen,  über 
sieben  selten  sich  erstreckenden  errata  und  addenda)  nirgends  einen  nennenswerten 
fehler  ergeben.  Ein  lateinisch -northumbrischer  und  englisch  -  northumbrischer  index 
am    Schlüsse    sind  sehr  willkommen. 

Cooks  arbeit  wird  fortan  die  sicherste,  ja  allein  brauchbare  grundlage  für  alle 
grammatischen  Untersuchungen  bilden;  Bouterweks  Wörterbuch  mit  seinen  mannig- 
fachen fehlem  und  falschen  ausätzen  von  formen  ist  jetzt  übei"flüssig  geworden,  und 
der  dank  der  fachgenossen  für  die  mühevolle  und  wenig  kurzweilige  arbeit  wird  dem 
verehiien  Verfasser  sicher  zu  teil  werden. 

Zwei  kleine  ausstellungen  mögen  zum  Schlüsse  noch  ihren  platz  finden.  Ein- 
mal hätten  die  verschiedenen  casus-  und  flexionsformen  desselben  wertes  typogra- 
phisch etwas  übersichtlicher  hervorgehoben  werden  dürfen.  Zweitens  hätte  es  wol 
dem  gnmdsatze  der  lexikalischen  anordnung  besser  entsprochen,  wenn  sämtliche  laut- 
lichen und  orthographischen  Varianten  eines  wortes  unter  dem  gleichen  Stichwort  ver- 
einigt worden  wären;  jetzt  aber  finden  wir  an  verschiedenen  orten  getrennt  von  einan- 
der z.  b.  cecscecga  und  eescecga,  cBdtcita  imd  cdivitiga,  rnfter  sona  und  efter  sona. 

BASEL,    6.  MÄRZ   1895.  GUSTAV   BINZ. 


Zur  kritik  des  griechischen  Alexanderromans.  Untersuchungen  über  die 
unechten  teile  der  ältesten  Überlieferung  von  Adolf  Aiisfeld.  Programm  des 
grossherzogl.  gymnasiums  zu  Bruchsal  1894.     37  s.     4. 

Adolf  Ausfeld,  von  dem  wir  in  der  nächsten  zeit  eine  neue  ausgäbe  der  Hi- 
storia  de  preliis  zu  erwarten  haben,  erörtert  in  seiner  im  sommer  1894  erschie- 
nenen programmarbeit  die  frage,  welche  bestandteile  der  ältesten  bearbeitungen  des 
Alexanderromans  der  ursprünglichen  fassung  dieses  Werkes  nicht  angehört  haben 
können.  Die  Widersprüche,  die  sich  in  der  alexandrinischen  recension  finden,  sind 
nach  der  ansieht  Ausfelds  bei  der  forschung  nach  der  wahren  gestalt  des  alten  Alexan- 
derbuches deshalb  nicht  genügend  berücksichtigt  worden,  weil  man  dessen  Inhalt 
nach  dem  vorgange  Zachers  allgemein  auf  die  sage  des  volkes  zurückgefühi-t  habe. 
Ausfeld   schliesst   sich    dagegen    Nöldekes   meinung    an,    die   dahin    geht,    dass    der 

1)  Über  die  spräche  des  Marcusevangeliums  handelte  Eliz.  Mary  Lea  in  Anglia  16,  G2  fgg. 


380  BECKER 

Alexanderroman  im  grossen  und  ganzen  das  produtt  einer  halb  gelehrten  schriftstel- 
lerei  sei;  der  Verfasser  dieser  ahhandlung  sucht  die  später  hinzugekommenen  stücke 
auszuscheiden  und  prüft  die   für  unecht  gehaltenen  kapitel  nach  ihrem  Ursprünge. 

Zunächst  spricht  Ausfeld  über  den  brief  an  Aristoteles  III,  17,  den  bericht  an 
Olympias  III,  27.  28  und  die  an  beide  gerichteten  schreiben  LB(C)  II,  23.  32.  33. 
36  —  41;  er  behandelt  ferner  die  brief e  des  Darius  und  seiner  Satrapen  I,  39.  40- 
n,  10.  11;  Alexanders  feldzug  nach  Griechenland  I,  42  —  ü,  7;  die  ereignisse  zwi- 
schen dem  friedensgesuch  und  der  ermordung  des  Darius  II,  17  — 19;  Alexanders 
verkehr  mit  der  königin  Kandace  UI,  18  —  24;  das  testament  des  herrschers  HI,  33; 
den  rückblick  auf  Alexanders  leben  und  taten  III,  35  und  schliesst  mit  einer  zusam- 
menfassenden betrachtung  über  die  ursprüngliche  beschaffenheit  des  romans. 

Über  das  gegenseitige  Verhältnis  der  beiden  stücke,  [aus  denen  der  brief  an 
Aristoteles  besteht,  ist  Ausfeld  in  der  hauptsache  derselben  ansieht  wie  ich  (vgl. 
meine  beiden  arbeiten  zur  Alexandersage  Königsberg  1892.  94  und  Zeitschr.  27, 
426  fg.),  nur  dass  er  den  zweiten  teil  bereits  bei  den  Worten  Tu  Sl  nltlora  xal 
7i((Q(cSoi«  s.  121  a  16  beginnen  lassen  will  und  auch  diesen  als  zwei  mit  einan- 
der verbundene  bruchstücke  verschiedener  biiefe  ansieht.  Er  weicht  in  der  meinung, 
dass  die  Epistola  von  dem  uns  überlieferten  texte  des  romans  ganz  unabhängig  sei, 
von  meiner  auffassung  ab.  Für  den  historischen  hintergrund  dieses  abschnitts  hält 
Ausfeld  die  abenteuer  Nearchs,  von  denen  Arrian,  Ind.  30.  31.  37,  und  Curtius 
(10,  1,  12  fgg.)  sprechen.  Da  Alexander  III,  27  nur  bis  zum  Hyphasis  gelange, 
nach  der  darstellung  in  III,  17  aber  in  das  gebiet  der  Prasier  eindringe,  müsse  der 
erste  teil  des  briefes  unecht  sein:  er  sei  von  dem  bearbeiter  des  Schlusses  mit  die- 
sem verbunden;  aber  auch  der  zweite  teil  gehöre  nicht  der  ursprünglichen  fassung 
des  romans  an,  weil  er  Widersprüche  zu  III,  1  —  4  enthalte.  Ausfeld  sucht  einige 
irrtümer  der  Überlieferung  dadurch  zu  verbessern,  dass  er  die  erzählten  tatsachen 
mit  historischen  ereignissen  in  Verbindung  bringt.  Die  beiden  ersten  abschnitte,  die 
vom  marsche  durch  die  kaspischen  passe  bis  zur  Unterwerfung  des  Perus  und  vom 
zuge  an  den  ocean  und  zu  den  Ichthyophagen  handeln,  wovon  der  letzte  aber  nur  in 
der  Epistola  vorkommt,  werden  als  geschichtliche  grundlage  des  berichtes  angesehen, 
während  der  rest  als  eine  verworrene  zusammeuhäufung  von  sagenhaften  abenteuern 
bezeichnet  wird.  Die  fruchtbare  gegend  beim  kaspischen  passe  sei  das  gebiet  der 
glücklichen  dörfer  Hyrcaniens,  der  beschwerliche  marsch  sei  mit  dem  zuge 
Alexanders  durch  die  wüste  Sogdiana  zu  vergleichen;  der  fluss  mit  bitterem  wasser 
bezeichne  wol  den  Oxus,  wie  der  süsswassersee  das  kaspische  meer,  der  kämpf  mit 
den  wilden  tieren  könne  auf  die  von  Curtius  8,  1,  11  fgg.  erwähnte  jagd  zurück- 
gefülirt  werden;  der  abmarsch  nach  Prasiaca  bedeute  den  aufbruch  zum  indischen 
kriege  im  frühjahr  327,  der  Schneesturm  stimme  mit  dem  von  Curtius  8,  4  geschil- 
derten Unwetter  überein ,  und  mit  dem  zuge  gegen  Perus  sei  der  marsch  in  das  Pend- 
schab gemeint.  Auch  derjenige  abschnitt,  der  nur  in  der  Epistola  vorkommt,  wird 
in  ähnlicher  weise  durch  die  heranziehung  geschichtlicher  Vorgänge  erläutert. 

Ebenso  wenig  wie  das  schreiben  an  Aristoteles,  sei  der  brief  an  Olympias  ein 
alter  bestandteil  der  alexandrinischen  recension,  da  die  erzählung  von  den  Amazonen 
mit  III,  25  fg.  nicht  übereinstimme,  während  der  in  A  nicht  überlieferte  anfang  des 
27.  kapitels  zum  grössten  teil  dem  echten  texte  angehöre.  Der  Vollständigkeit  wegen 
werden  auch  die  briefe  an  Aristoteles  und  Olympias  analysiert,  obgleich  sie  nur  in 
jüngeren  handschriften  enthalten  sind,  also  von  vornherein  als  ursprüngliche  bestand- 
teile  nicht  angesehen  werden  können.    Aber  auch  die  briefe  des  Dai'ius  und  seiner 


ÜBER   AUSFELI),    GRIECH.    ALEXANDERROMAN  381 

Satrapen  hält  Ausfeld  für  unecht,  da  sie  mit  ihren  angaben  der  erzählung  des  ronians 
selbst  widersprechen,  und  da  der  brief  des  Darius  an  Alexander  neben  dem  bereits 
I,  36  überlieferten  schreiben  unnötig  zu  sein  scheine.  Die  Sammlung,  aus  der  sie 
stammen,  müsste  natürlich,  wie  Ausfeld  richtig  betont,  einen  ganz  anderen  Charak- 
ter gehabt  haben  als  jene  briefe  an  Aristoteles  oder  Olympias  mit  ihren  abenteuer- 
lichen Schilderungen.  Die  erzählung  von  Alexanders  feldzug  nach  Griechenland,  die 
I,  42  —  II,  6  nach  der  Schilderung  der  Schlacht  bei  Issus  überliefert  ist,  während 
man  sie  I,  25  nach  der  thronbesteigung  des  köuigs  erwarten  sollte,  ist  bereits  von 
Kohde  als  späterer  zusatz  erkannt  worden.  Ausfeld  weist  nach,  dass  auch  das  fol- 
gende kapitel  II,  7  aus  dem  ursprünglichen  text  ausgesondert  werden  muss,  ent- 
scheidet aber  nicht  mit  Sicherheit,  an  welcher  stelle  von  I,  42  die  Interpolation 
beginnt.  Ferner  wird  dargelegt,  dass  die  Schilderung  der  ereignisse,  welche  vom 
ende  des  17.  bis  zum  19.  kapitel  des  2.  buches  in  A  erzählt  sind,  erst  später  ein- 
geschoben sein  kann,  da  der  folgende  abschnitt  (II,  20  fgg.)  damit  im  Widerspruche 
steht  und  auf  II,  17  zurückgreift.  Der  besuch  Alexanders  bei  Kandace  scheint 
Ausfeld  ins  erste  buch  (kap.  30  —  34)  zu  gehören  und  gleichfalls  im  ältesten  text 
noch  nicht  vorhanden  gewesen  zu  sein,  weil  die  darstellung  in  dieser  episode  unge- 
wöhnlich breit  ist,  weil  der  Inhalt  auf  eine  demütigung  Alexanders  hinauskommt  und 
sich  III,  25  sachlich  an  III,  6  anschliesst.  Nur  der  historische  anfang  von  III,  18 
mit  dem  berichte,  dass  Alexander  nach  der  Stadt  der  Semiramis  gezogen  sei,  so  wie 
die  beschreibung  der  bürg  dieser  königin  könne  allenfalls  für  die  älteste  recension  des 
romans  in  anspruch  genommen  werden.  Die  behauptung,  dass  sowol  Alexanders 
testament  als  auch  die  zusammenfassenden  bemerkungen  über  das  leben  und  die  taten 
des  fürsten  zu  den  unechten  bestandteilen  des  romans  gehören,  wird  keinen  wider- 
sprach finden.  Nach  der  ausscheidung  der  behandelten  abschnitte  bleiben  folgende 
kapitel  des  ursprünglichen  textes  übrig:  1.  Alexanders  eitern  (I,  1  — 14);  2.  taten  des 
jungen  Alexander  (I,  15  —  24);  3.  rüstungen  des  königs  und  Unternehmungen  bis 
zum  zuge  gegen  Darius  (I,  25  —  35);  4.  besiegung  der  Perser  (I,  36  —  42;  II,  8  — 17 
20  —  22);  5.  erlebnisse  in  Indien  (III,  1  —  6;  25  —  27);  6.  Alexanders  tod  (III,  30  — 
34).  —  Jene  einschaltungen  sind  nach  Ausfelds  meinung  nicht  zufällig  und  allmäh- 
lich, sondern  planmässig  von  einem  oder  wenigen  bearbeitern  gemacht  worden,  in 
ähnlicher  weise,  wie  es  an  dem  werke  Leos  nachgewiesen  werden  kann.  Der  Verfas- 
ser des  ältesten  Alexanderbuches  sei  kein  erzähler  von  volkssagen,  sondern  ein 
unerschrocken  erfindender  romanschreiber  gewesen,  der  seine  leser  angenehm  unter- 
halten wollte. 

Ausfeld  hat  sich  durch  diese  abhandlung  das  verdienst  erworben,  diejenigen 
bestandteile  des  Pseudokallisthenes,  welche  erst  später  aus  anderen  selbständigen 
Schriften  dem  roman  einverleibt  sind,  zusammenzustellen  und  gewisse  tatsachen  der 
sagenhaften  erzählung  durch  den  hinweis  auf  ähnliche  historische  begebenheiten  zu 
erklären.  Wenn  auch  manche  vergleiche  etwas  gewaltsam  herbeigezogen  zu  sein 
scheinen,  so  hat  der  Verfasser  in  der  hauptsache  doch  für  die  forschung  nach  der 
entstehung  einiger  teile  der  sage  ein  nützliches  material  zusammengetragen.  Auch 
mit  seiner  beurteilung  der  unechten  stücke  des  romans  bin  ich  im  ganzen  einver- 
standen, doch  ich  möchte  noch  besonders  hervorheben,  dass  aus  dem  umstände, 
dass  ein  abschnitt  des  romans  dem  ältesten  texte  nicht  angehört  haben  kann,  kei- 
neswegs zu  folgern  ist,  dass  derselbe  viel  später  als  das  werk  des  Pseudokallisthenes 
entstanden  sei.  Dagegen  scheint  mir  die  behauptung,  von  der  Ausfeld  bei  der  gan- 
zen behandlung  der  von  ihm  angeregten  frage  ausgeht  und  zu  deren  bekräftigung  er 


382  BECKER,    ÜBER  AUSFELD,    GRIECH.    ALEXANDERROMAN 

zum  Schlüsse  zurückkehrt,  unrichtig  zu  sein,  nämlich  die  ansieht,  dass  der  Inhalt 
des  griechischen  Alexanderbuches  keine  sagenhaften  bestandteile  enthalte.  Es  ist 
mir  nicht  klar  geworden,  ob  Ausfeld  auch  die  späteren  einschaltongen  des  romans, 
z.  b.  den  brief  über  die  wunder  Indiens,  für  die  erfindung  eines  romanschreibers 
hält  oder  nur  diejenigen  teile  dafür  ansieht,  die  nach  seiner  meinung  den  echten 
text  ausmachen.  Denn  er  selbst  spricht  widerholt  von  sagenhaften  berichten,  cha- 
rakterisiert so  z.  b.  s.  9  den  zug  zu  den  bäumen  der  sonne  und  des  mondes  und 
s.  17  die  Wanderung  zu  den  säulen  des  Herkules  und  den  Amazonen;  er  gibt  ferner 
an  derselben  stelle  an,  dass  in,  28  sagenhaft  ausgeschmückt  sei,  und  erwähnt  noch 
s.  21  und  30  sagenhafte  bestandteile  der  erzählung.  S.  15  wii-d  dai'gelegt,  dass  dem 
zuge  zu  den  bäumen  der  sonne  und  des  mondes  wirklich  eine  orientalische  sage  zu- 
grunde liegen  könne,  und  s.  22  endlich  erklärt  Ausfeld,  dass  sich  bei  manchen 
stücken  nur  schwer  beurteilen  lasse,  was  darin  echte  sage,  und  was  erändung  eines 
schi-iftsteUers  sei.  Mir  scheint,  dass  gerade  auf  diese  weise  der  ganze  PseudokaUi- 
sthenes  aufzufassen  ist:  wenn  Ausfeld  annimmt,  dass  zur  zeit  der  entstehung  des 
ältesten  Alexanderbuches  bereits  eine  volkssage  von  diesem  beiden  vorhanden  gewe- 
sen sei,  so  ist  nicht  einzusehen,  warum  ein  romanschreiber  an  die  stelle  dessen, 
was  allgemein  berichtet  wurde,  eine  neue  darstellung  gesetzt  haben  sollte,  in  der  die 
in  den  historischen  quellen  gefundenen  tatsachen  abenteuerlich  ausgeschmückt  waren. 
Selbst  wenn  der  roman,  auf  litterarischem  wege  verbreitet,  ein  Volksbuch  geworden 
sein  sollte  (s.  Nöldeke,  Beiträge  zur  geschichte  des  Alexanderromans, 
s.  10),  so  darf  man  doch  nicht  leugnen,  dass  es  eine  Alexander  sage    gegeben  hat. 

KÖ>aGSBERG   I.  PR.  HEINRICH   BECKER. 


Tannhäuser,  Inhalt  und  form  seiner  'gedichte.  Von  dr.  Johannes  Siebert. 
BerHn,  L.  Vogt.   1894.     III,  116  s.     2,40  m. 

Die  arbeit  kündet  sich  in  einem  vorwort  als  fortsetzung  der  bis  dahin  umfas- 
sendsten darstellung  von  Tannhäusers  leben  und  dichten  an,  der  von  Oehlke;  sie  wiU 
die  früheren  forschungen  über  den  historischen  Tannhäuser  fortführen  und  berichtigen, 
ohne  selbst  den  ansprach  auf  Vollständigkeit  zu  erheben. 

Der  erste  biographische  teil  (s.  7  — 13)  fügt  zu  den  bisherigen  Zeugnissen  für 
des  dichters  ritterliche  abkunft,  d.  b.  zu  der  spätem  sage  vom  ritter  Tannhäuser  und 
zu  seiner  darstellung  in  C  im  staatskleide  des  ritters  neue  beweisgründe ,  geschöpft 
aus  seinen  gedichten,  der  einzig  zuverlässigen  quelle  für  sein  leben.  Es  werden 
genannt:  Tannhäusers  sehnsüchtiges  gedenken  an  die  von  ihm  betriebenen  ritterlichen 
Vergnügungen,  an  minnedienst  und  falkenjagd,  und  seine  bevorzugte  Stellung  bei  her- 
zog Friedrich,  dem  muster  aller  ritterlichen  tugenden.  Auf  spi'ache  und  Inhalt  sei- 
ner gedichte  stützt  sich  weiter  die  Verlegung  seiner  heimat  nach  dem  südöstlichen 
Deutschland.  Inhaltliche  gründe  dafür  sind  dem  Verfasser:  der  längere  aufenthalt 
Tannhäusers  in  Österreich,  seine  Vertrautheit  mit  dessen  geographischen  und  politi- 
schen Verhältnissen,  die  bekanntschaft  späterer  österreichischer  dichter,  wie  Jansen 
Enikels  mit  seinen  gedichten  und  die  enge  beziehung  dieser  gedichte  selbst  zum  volks- 
mässigen.  Stichhaltig  erscheinen  uns  die  ersten  di'ei  momente,  unzutreffend  aber  das 
letzte,  wenn  auch  in  Österreich  zuerst  mit  Neidhart  wider  eine  solche  richtung  auf- 
trat. Die  Schwaben  Gotfried  von  Neifen  und  Ulrich  von  Winterstetten  stehen  ja 
der  volksmässigen  lyrik  nicht  weniger  nahe\   nur  in  der  epik  dieser  zeit  macht  sich 

1)  Vgl.  F.  Vogt,  SDitl.  litteraturgoscMchte  s.  92—93. 


WAHNER,    ÜBER   SIEBERT,    TANNHÄUSER  383 

eben  eia  derartiger  gegensatz  zwischen  den  einzelnen  gegenden  bemerkbar,  indem 
die  westlichen  länder  fremden  Vorbildern  folgten,  während  Baiern  und  Östen-eich 
ausschliesslich  das  nationale  element  pflegten  und  lange  noch  bewahrten.  In  der 
lyrik  dagegen  war  längst  auch  hier  der  heimische  charakter  des  ältesten  ritterlichen 
minnesanges  der  neuen  weise  gewichen,  so  dass  man  in  Tannhäusers  hinneigung  zur 
Volksdichtung  nicht  ein  erbe  der  frühem  periode  und  einen  beweis  für  seine  öster- 
reichische heimat  erblicken  kann;  vielmehr  muss  sie  wie  bei  jenen  schwäbischen 
lyrikern  als  eine  neue  anlehnung  an  den  volksgesang  aufgefasst  werden,  begi'ündet  in 
seiner  eigenschaft  als  fahi'ender. 

Dieser  widmet  auch  Siebert  besondere  aufmerksamkeit.  Nur  kurz  berührt  er  die 
übrigen  von  Oehlke  erschlossenen  und  ausführlich  behandelten  lebensschicksale  des 
dichters.  Seine  reise  nach  dem  heil,  lande,  seine  sängerfahrten  zu  deutschen  und 
fremden  fürsten  und  herren,  seinen  aufenthalt  am  Babenberger  hofe  und  sein  unstä- 
tes  Wanderleben ,  um  eingehender  die  von  Edw.  Schröder  in  Scherer  Litteraturgesch.*' 
s.  214  und  Kück  in  der  recension  von  Oehlke,  A.  f.  d.  a.  17,  207  vertretenen  behaup- 
tung  zu  widerlegen,  Tannhäuser  sei  ein  fahrender  kleriker,  ein  vagant  gewesen. 
Den  dafür  angezogenen  ähnlichkeiten  zwischen  Tannhäusers  poesie  und  der  der  Car- 
mina  Burana,  unter  denen  allerdings  dem  einzig  dastehenden  spott  über  seine  lebens- 
weise  zu  wenig  beachtung  geschenkt  wird,  hält  er  mit  recht  die  viel  bedeutenderen 
Verschiedenheiten  entgegen.  Ein  teil  jener  Sammlung  nämlich  kehrt  absichtlich  und 
mit  stolz  gegenüber  dem  rittertum  den  geistlichen  stand  der  dichter  hervor;  in  andern 
verrät  sich  der  gelehrte  autor  durch  seine  beispiele  aus  der  Bibel  und  der  lateini- 
schen litteratur,  während  Tannhäusers  kenntnis  alt -testamentlicher  merkwürdigkeiten, 
antiker  mythen  und  heldensagen  wie  einiger  lateinischen  werte  nicht  den  horizont 
der  ritterlichen  bildung  seiner  zeit  überschreitet  und  wenigstens  bezüglich  des  klas- 
sischen altertums  durch  die  höfische  bildung  vermittelt  ei-scheint;  sogar  die  weniger 
typischen  beispiele  der  vagantenpoesie,  wie  die  von  Oehlke  verglichenen  nr.  57,  109, 
118,  zeigen  noch  Stileigenheiten,  die  sich  nicht  mit  Tannhäusers  manier  decken. 
Aber  auch  wegen  seiner  mit  den  vaganten  geteilten  Sinnlichkeit  kann  er  nach  Siebert 
nicht  der  zahl  dieser  eingereiht  werden,  da  für  die  gleichartige  lascive  darstellung 
ebenso  gut  die  volkspoesie  die  gemeinsame  quelle  abgegeben  haben  kann  als  die 
antike  mit  ihren  heidnischen  anschauungen.  Uniäugbar  eignet  jener  eine  naiv  sinn- 
liche auffassung  der  liebe,  und  unzweifelhaft  ist  ihr  einfliiss  auf  die  kunst  der  geist- 
lichen lyriker  sowol  als  der  ritterlichen.  Wie  Neidhart  den  liedern  des  volkes  sich 
anschloss,  so  auch  Tannhäuser;  vom  volksmässigen  tanzliede  überkam  er  den  derben 
erotischen  ton,  dessen  naivetät  er  stellenweise  durch  lüsternheit  ersetzte.  So  spricht 
nichts  für  den  vagantencharakter  Tannhäusers,  wol  aber  noch  dagegen  sein  nicht 
erloschenes  ritterliches  standesbewusstsein.  Als  ein  fahrender  sänger  ritterlichen  Stan- 
des wird  demnach  der  dichter  erwiesen,  der  besser  als  die  mehrzahl  der  höfisch 
gebildeten  von  damals  im  deutschen  und  französischen  epos  belesen  war  und  damit 
pninkte,  ohne  seine  gelehrsamkeit  durch  die  Weisheit  klerikaler  zunftgenossen  zu 
bereichern. 

„Tannhäusers  dichten"  ist  der  zweite  abschnitt  (s.  14—36)  des  Siebertschen 
buches  überschrieben.  Es  werden  zunächst  die  grundlagen  und  ausgangs  punkte  sei- 
ner kunst  der  besprechung  unterzogen.  Höfisches  und  dörperliches,  die  elemente  der 
Neidhartschen  richtung,  sind  bei  ihm  vertreten,  ohne  sich  gegenseitig  durchdrungen 
und  zu  harmonischer  einheit  verschmolzen  zu  haben.  Spricht  das  nicht  ebenfalls 
gegen  Sieberts  frühere  erklärang  von  Tannhäusers  beziehung  zum  volksmässigen  als 


384  WAHNER 

einer  nachwirkung  und  Vererbung  des  altlieimischen  minnesangs,  dem  doch  eine  der- 
artige Scheidung  fremd  war?  Auch  kann  man  darum  (was  stärker  hätte  betont  wer- 
den sollen!)  den  dichter  nur  mit  einem  teile  seiner  gedichte  den  höfischen  dorfpoeten 
zurechnen,  während  andere  durchaus  unter  die  rein  höfische  lyrik  fallen.  Damit 
ergibt  sich  ein  neues  vom  Verfasser  ausser  acht  gelassenes  zeugnis  für  seine  ritter- 
liche abkunft,  insofern  wol  ein  im  volke  sich  bewegender  ritter  durch  dessen  sanges- 
weise die  höfische  dichtung  erweitern  konnte  (Walther,  Neidhart,  Gotfried  von  Nei- 
fen),  nicht  aber  ein  sänger  des  volkes  seiner  angestammten  dörperlichen  muse  den 
ton  der  ritterlichen  lyrik  vermählt  haben  würde,  was  zudem  nicht  der  damals  schon 
recht  kräftigen  reaktion  gegen  den  konventionellen  minnesang  entsprochen  hätte.  Zu- 
gleich wird  schon  dadurch  allein  die  annähme  seiner  direkten  abhängigkeit  von  Neid- 
hart  hinfäUig;  Siebert  widerlegt  sie  auf  gruud  des  von  Oehlke  herbeigebrachten  mate- 
rials  mit  dem  hinweis  auf  die  beim  Tannliäuser  nicht  vertretenen  eigenartigen  themen 
Neidliarts:  gespräch  zwischen  gespielinnen  oder  mutter  und  tochter,  scenen  aus  dem 
leben  der  bauern,  Verspottung  derselben. 

Dem  volksmässigen  tanzliede  entstammen  folgende  züge  (die  er  mit  Ulrich  von 
Winterstetten  und  Heinrich  von  Sax  teilt) :  die  aufforderung  zum  tanz  am  anfange  des 
Schlussteils  der  leiche,  die  frage  nach  den  tänzerinnen,  deren  aufzählung,  die  auf- 
forderung zur  freude,  der  hinweis  auf  das  ende  des  tanzes  und  liedes  mit  dem  rufe 
heia,  hei  und  der  mitteilung,  dass  dem  spielmann  die  saite  gerissen  oder  der  bogen 
gebrochen  ist;  ebenso  die  mehr  vereinzelte  Verwünschung  von  Störenfrieden  und 
bewillkommnung  fröhlicher  teilnehmer.  Damit  ist  der  Ursprung  des  Schlussteiles  der 
tanzleiche  aus  der  volkspoesie  festgestellt.  Und  auf  sie  muss  im  wesentlichen  auch 
die  erzählung  des  hebesabenteuers  im  4.  teile  von  II  ■und  III  zurückgeführt  werden. 
Die  aus  dem  altfranzösischen  pastourel  durch  kunstgemässe  Umgestaltung  hervorge- 
gangene französische  romanze  hat  ihnen  wol  zum  muster  gedient,  wie  die  gleichheit 
der  anläge  und  die  beibehaltung  zahlreicher  französischer  Wörter  bezeugen,  ohne 
jedoch  sklavisch  nachgeahmt  worden  zu  sein.  Denn  wesentliche  motive  jener,  der 
betrogene  ehemann,  der  spott  des  ritters  nach  erreichtem  zweck  und  sein  prahlen 
mit  gehabten  erfolgen,  der  gebildete  stand  der  weiblichen  person  fehlen  ganz.  Dage- 
gen begegnen  auch  hier  echt  deutsche  züge  wie  der  gang  auf  die  beide  und  das 
zusammentreffen  daselbst;  auch  die  personen  sind  die  des  deutschen  Volksliedes:  ein 
einfaches  schüchternes  landmädchen,  ein  schwärmerischer,  dui"ch  die  erinnerung  bese- 
ligter hebhaber.  Im  II.  leiche  insbesondere  wird  auch  die  begegnuug  auf  der  beide 
mit  der  in  der  mhd.  zeit  allgemeinen  sitte  des  blumenbrechens  motiviert  und  zwar  in  der 
vom  volksliede  beliebten  form,  dass  ein  mädchen  allein  nach  bluraen  geht  und  mit 
dem  Verehrer  zusammentrifft  und  „rosen  bricht".  Dem  volksgesange  entstammt  auch 
die  Wendung  ich  nam  si  M  der  wtxen  haut  (II,  16,  2)  zur  bezeichnung  der  annä- 
hemng  und  umarmnng.  Herrscht  so  das  volksmässige  element  im  11.  leiche  durch- 
aus vor,  so  überwiegt  der  einfluss  der  französischen  romanzendichtung  im  Ell.  leiche. 
Daraus  jedoch  mit  Siebert  dessen  spätere  abfassung  zu  folgern,  halte  ich  für  gewagt. 
Dort  nui'  von  ausätzen  und  hier  von  einer  ausgestaltung  derselben  reden  zu  woUen, 
dünkt  mü-  nach  der  feststellung  der  ritterlichen  abkunft  des  dichters  entschieden 
weniger  begründet  als  umgekehrt  ein  teilweises  zui'ückkommen  vom  überlebten  tone 
der  französischen  und  deutschen  kunstlyrik  auf  die  einfache,  innige  Volksweise  ent- 
sprechend dem  entwickelungsgange  Walthers  anzunehmen.  Auf  dem  überdruss  an 
der  konventionellen  phrasenhaften  Verherrlichung  weiblicher  Schönheit  im  verein  mit 
seiner  lockern  phantasie   beruht  wol  auch  die  vom  Verfasser  erwähnte,    aber   nicht 


ÜBER    SIEBERT,    TANNHÄUSER  385 

erklärte  ausführliche,    indecente  Schilderung  der  reize   der  geliobteu,    die   dem  volks- 
gesang  wie  der  höfischen  poesie  fremd  war. 

Als  volkstümliche  elemente  in  Tannhäusers  liedem  führt  der  Verfasser  an: 
die  aufführung  von  unmöglichen  dingen,  wie  der  unverrückbarkeit  von  mond  und 
sonne  (VIII,  3),  das  vergehn  der  berge  (IX,  2,  3),  das  ablenken  von  Aussen  u.  a.  m., 
wenn  auch  bei  manchen  beispielen  infolge  von  künstelei  und  gelehrsamkeit  der 
abstand  von  der  volksphantasie  nicht  gering  ist;  weiterhin  eine  reihe  formelhafter 
Wendungen,  wie  swer  des  gelouben  welle  niht,  der  var  un%,  erx.heschoutce  (XTI,  4)- 
endlich  die  ungesuchte  naturschilderung  in  XV,  3,  11  — 13;  mehr  beispiele  bieten 
hierfür  die  leiche  (II,  2—4  und  20;  ni,  5,  12,  4  —  6  und  31).  Andere  dagegen, 
wie  der  natureingang  im  I.  leich  und  die  frühüngsschilderung  in  leich  VII  sind  die 
schablonenhaften  des  höfischen  minnesangs.  Auf  dem  boden  des  letzteren  steht  ja 
denn  auch  der  Tannhäuser  in  mehreren  gedichten  noch  vollständig,  obschon  er  ihn 
bereits  hier  und  da  parodiert.  Der  höfischen  lyrik  entstammen  sein  wort-  und  phra- 
senschatz,  der  preis  der  geliebten  und  das  werben  um  ihre  huld,  dem  höfischen  epos 
die  von  ihm  vorgeführten  heldeugestalten. 

Neben  diesen  beiden  aus  der  bestehenden  dichtung  überkommenen  elementen 
soll  aber  auch  eine  scharf  ausgeprägte  eigenart  Tannhäusers  dichten  kennzeichnen. 
Nur  finde  ich  nicht  alle  die  züge  originell,  die  Siebert  als  solche  hinstellt.  Seine 
parodie  des  minnesangs  ist  nur  eine  der  vielen  gleichzeitigen  und  doch  recht  verschie- 
denartigen äusserungen  der  dagegen  erwachten  reaktion.  Dieser  scheint  auch  die 
realistik  in  der  Zeichnung  seiner  ärmlichen  und  liederlichen  lebensweise  eher  zuge- 
schi'ieben  werden  zu  müssen  als  dem  einüuss  der  volkspoesie ;  der  geist  freüich,  wel- 
cher sich,  darin  ausspricht,  steht  einzig  da  und  erinnert  an  den  der  lateinischen  Vagan- 
tendichtung. Der  humor,  der  seine  hierauf  bezüglichen  Sprüche  belebt,  kehrt  auch  in 
seinen  tanzleichen  wider  und  lässt  den  dichter  als  eine  fröhliche,  lebenslustige,  aus- 
gelassene natur  erkennen.  Er  verrät  sich  besonders  im  hauptteil  derselben  in  der 
abenteuerlichen  Zusammenstellung  und  häufung  von  namen  und  tatsachen;  indessen 
hat  er  auch  hier  nur  ausätze  der  frühern  volks-  und  knnstmässigen  tanzpoesie  (Bo- 
tenlauben, Eotenburg,  Gliers*)  weiterentwickelt,  nicht  aber  ein  ganz  neues  moment 
eingeführt. 

Auf  diese  quellen  seiner  dichtung  führt  Siebert  auch,  deren  Vorzüge  und  schwä- 
chen zimick.  Zu  jenen  rechnet  er:  die  lebensvolle  Zeichnung  gegenüber  der  ein 
tönigen  reflexion  und  gefühlsheuchelei  des  höfischen  minnesangs,  die  Schilderung  des 
liebeserfolges  und  den  spott  über  das  aussichtslose  schmachten,  die  aus  unmittel- 
barem empfinden  hervorgegangene  naturwahrheit  und  anschaulichkeit  der  darstellimg, 
besonders  wo  es  sich  um  den  tanz  oder  die  begegnung  der  liebenden  handelt,  und 
die  konkreten  büder,  die  der  dichter  entwirft  von  der  gewalt  des  seesturmes,  von 
den  genüssen  und  üppigen  freuden  seines  lebens,  von  den  leiden  eines  fahrenden, 
von  seiner  Sehnsucht  nach  der  heimat  usw.  Als  mängel  werden  hervorgehoben: 
seine  geschmacklosigkeit  z.  b.  in  der  anwendung  französischer  Wörter,  die  sich  bis- 
weilen woi  eher  aus  seiner  gelehrttuerei  erklärt  als,  wie  Siebert  meint,  aus  seinem 
humor,  das  festhalten  am  konventionellen  im  VII.  und  XV.  gedieh te  und  im  I.  leiche 
und  vor  allem  seine  unglaubliche  sucht,  mit  allerlei  ungewöhnüchem  wissenskrame 
zu  prunken;  diese  hat  ihn  zunächst  auf  kosten  des  grundgedankens  verleitet  zur  auf- 
zählung  einer  endlosen  reihe  von  göttinnen  und  romanheldinnen ,    von  ländern,    von 

\)  Vgl.  Vogt,  Mhd.  litt.-gesch.  s.  92. 
ZEITSCHRIFT    F.    DEUTSCHE    PHILOLOGIE.      BD.   XXVUI.  25 


386  WAHNER 

fluss-  und  stridtenamen  u.  dergl.  Und  wenn  er  es  auch  noch  nicht  den  spätem 
Spruchdichtern  gleichtut,  so  gehört  er  doch  hiermit  sowol,  wie  niit  seiner  Weitschwei- 
figkeit der  zeit  des  niederganges  an. 

Metrik  und  rhythmik  werden  sodann  (s.  37  —  71)  behandelt,  wobei  verstän- 
digerweise von  den  einfaclieren  tönen,  den  liederu  und  Sprüchen  (YII  —  XVII)  und 
dabei  Avider  von  der  einfachsten  versart,  der  7 hebigen  langzeile  mit  klingendem 
Schlüsse,  ausgegangen  wird.  Sie  bildet  die  grundlage  der  Sprüche  von  XU  und  der 
Strophen  von  XIV  und  XV,  die  entsprechend  analysiert  werden.  Das  fehlen  eines 
Sinneseinschnittes  nach  der  4.  hebung  ist  in  XII  durchaus  nicht  so  selten,  als  der 
Verfasser  behauptet;  man  vgl.  XII,  1,  8;  2,  8  und  10;  3,  1,  5;  8,  9  und  10;  4,  6 
und  8;  5,  1,  6  und  10!  Ein  solcher  sachlicher  einschnitt  erscheint  aber  auch  gar 
nicht  nötig,  um  die  beiden  teile  der  langzeile  hervortreten  zu  lassen;  dagegen  ist  es 
ungewöhnlich,  wenn,  wie  in  2,  8  engverbundene  worte  durch  die  cäsur  getrennt  wer- 
den, oder  wenn  die  4.  hebung  der  1.  halbzeile  mit  der  1.  Senkung- der  2.  hälfte  in 
ein  wort  zusammenfällt  und  die  gliederung  des  versganzen  dadurch  verwischt  wird,  wie 
in  5,  1,  6  und  10  und  XIV,  4,  8;  5,8.  Nichts  ist  zu  erinnern  gegen  Sieberts 
erklärung  der  fünften  zeilen.  Unangebracht  erscheint  dagegen  eine  textesänderung 
in  4,  9  und  5,  9,  um  3 hebig  stumpfe  verse  herzustellen,  da  die  ersten  hälften  von 
3,  9  und  5,  9  unbedingt  4  hebungen  enthalten  und  andererseits  schon  bei  annähme 
unterdrückter^  Senkung  oder  schwebender  betonung  die  gewaltsame  accentuieruug  der 
wirt  sprichet  gemildert  wird  und  die  betonung  ö'we  sich  durch  zahlreiche  beispiele 
aus  Walther  und  andern  lyrikern  belegen  lässt.  Aber  auch  in  1,  9  und  2,  9  ist  die 
volle  zahl  der  hebungen  bei  annähme  unterdrückter  Senkung  zu  erschliessen ,  die 
bei  der  emphase  der  letzten  verse,  zumal  bei  2,  9,  sehr  erklärlich  ist. 

Häufiger,  aber  ganz  regelmässig,  wird  die  4hebige  halbzeile  in  lied  XIII  modi- 
ficiert.  Die  gruppierung  der  verse  darin  wird  beschrieben  und  damit  die  Verschieden- 
heit ihrer  komposition  veranschaulicht.  Der  dort  nur  teilweise  eingeführte  inreim 
herrscht  durchgehends  in  der  stropbe  des  X.  liedes,  dessen  refrain  recht  geschickt  in 
2  teile  von  je  3  vierhebig  stumpfen  und  2  khngendeu  versen  mit  mittelreim  in  jedem 
der  ersten  beiden  zerlegt  wird.  Letztere  werden  vom  Verfasser  5 hebig  genannt,  doch 
enthält  der  eiste  diu  reine  sunder  got  al  eine  nur  4  hebungen,  und  verse  von 
4  hebungen  müssen  wir  uns  überhaupt  als  elemeut  dieses  refrains  denken  und  die 
grössere  ausdehnuug  des  2.  verses  als  eine  bereicherung  infolge  des  damit  verbun- 
denen Strophenschlusses  auffassen.  Dagegen  wäre  eine  solche  des  vorletzten  verses 
ganz  unbegründet,  wie  denn  auch  in  lied  VII,  an  dem  der  Verfasser  selbst  die  ent- 
stehung  des  5 hebigen  verses  aus  dem  von  4  hebungen  erklärt,  zur  abgrenzung  der 
einzelnen  strophenteile  immer  nur  der  letzte  vers  eines  teiles  zu  5  hebungen  aus- 
gedehnt wird.  Auch  in  IX  erscheint  die  5  hebig  klingende  halbzeile  noch  in  erster 
linie  der  markiening  der  stellen  und  des  abgesanges  zu  dienen,  weshalb  seine  besprechung 
besser  unmittelbar  an  die  von  VII  angeschlossen  worden  wäre;  allerdings  erscheint 
hier  der  letzte  vers  des  abgesanges  noch  durch  die  Verdoppelung  der  1.  halbzeile 
und  einen  ausserhalb  des  Systems  stehenden  einschub  bereichert  und  ausserdem  der 
unerweiterte  ganze  schlussvers  an  die  spitze  des  abgesanges  gestellt. 

Eine  selbständigere  Verwertung  des  fünfhebungsverses  begegnet,  was  hätte  her- 
vorgehoben werden  sollen,  erst  in  XI  in  der  Zusammensetzung  mit  dem  3 hebig  klin- 
genden halbverse.  Ausserdem  ist  hier  jeuer  zum  verse  von  7  hebungen  erweitert 
wozu  man  in  dem  eingeschobenen  heia  hei  im  schluss  von  IX  eine  Vorstufe  erblicken 
kann.     Als  eine  ähnliche  bereicherung  der  doppelt  gesetzten  4 hebigen  halbzeile  sind 


ÜBER    SIEBERT,    TANNHÄUSER  ,3S7 

wol  auch  die  lOhebigen  langzeilen  von  VIII  aufzufassen,  die  bei  Siebert  keine  rechte 
erklärung  finden;  zwei  von  ihnen  bilden  mit  je  2  inreimen  einen  der  stollen,  eine 
mit  binnenreim  und  der  vorausgeschickten  4hebigen  halbzeile  den  abgesaug. 

Die  langzeile  von  7  hebungen  ist  auch  widerzuerkenneu  in  den  durch  verschie- 
dene auflösungen  und  verwendiing  von  in-  und  binnenreimen  recht  wechselvoll  ge- 
stalteten versen  des  XV.  tones,  während  man  eine  harmonische  gliederung  des  rät- 
selspruches  (XVI)  mit  Siebert  für  unmöglich  erklären  muss. 

Des  dichters  metrische  kunst  verlegt  der  Verfasser  demnach  mit  recht  nicht 
sowol  in  die  erfinduug  neuer  formen,  als  vielmehr  in  die  auswahl  und  variierung 
vorhandener.  Und  dass  er  unter  diesen  gerade  die  langzeilen  von  7  und  8  hebun- 
gen mit  ihren  halbzeilen,  den  khngenden  vers  von  5 hebungen  und  die  lOhebige 
Periode,  d.  h.  rein  nationale  verse  verwendete,  wird  als  neuer  beweisgrund  für  seine 
enge  beziehuug  zur  volkspoesie  hervorgehoben.  Nach  den  regeln  der  kunstlyrik  aber 
baute  er  dreiteilige  stropheu,  vermied,  wenn  auch  nicht  so  peinlich,  als  der  Verfas- 
ser meint,  den  ausfall  der  Senkung  und  verfuhr-  gleichmässig  im  gebrauch  des  auf- 
taktes;  doch  gestattete  er  sich  auch  hierin  wie  in  der  betonung  der  werte  und  der 
apokope  von  imbetontem  e  einige  freiheiten. 

Die  freiheit  der  verstechnik,  insbesondere  der  Wechsel  zwischen  2  hebig  dak- 
tylischen und  Shebig  trochäischen  versen,  gibt  Siebert  gelegenheit  zu  einer  erörte- 
rung  über  die  daktylen  und  daktylischen  Systeme  bei  unserm  dichter  (s.  48  —  59). 
Daktylen  werden  von  ihm  ausser  in  XI  besonders  in  den  leichen  festgestellt,  der 
responsion  halber  auch  da,  wo  die  verse  sich  gleich  gut  trochäisch  lesen  lassen. 
Nun  erscheint  allerdings  der  harmonische  bau  der  leichsätze  so  wichtig,  dass  man 
öfter,  als  Oehlke  es  zugestanden,  wird  daktylen  annehmen  müssen,  indessen  lässt 
sich  die  doch  zunächstliegende  trochäische  messung  mancher  verse,  wie  wir  noch 
sehen  werden,  auch  beibehalten,  ohne  dass  die  responsion  dadurch  aufgehoben  wird, 
wie  dies  für  lied  XI  Siebeii  selbst  keineswegs  bestritten  hat.  Zutreffend  dünkt  mir 
seine  herleitung  der  daktylen  Tannhäusers  aus  der  volkstümlichen  musik,  da  bei 
ihrem  auftreten  an  bestimmten  stellen  und  bei  der  beibehaitung  der  natürlichen  beto- 
nung weder  die  silbenzähluug  die  quelle  sein  konnte,  wie  für  die  daktylen  späterer 
minnesänger,  noch  auch  bei  dem  bereits  gekennzeichneten  anschluss  des  dichters 
an  nationale  metrische  grundformen  frauzösische  Vorbilder  hier  vorgeschwebt  haben 
werden.  Gerade  in  den  teilen  der  leiche,  welche  inhaltlich  mit  dem  Volksleben  und 
volksgesang  aufs  engste  zusammenhängen,  herrscht  daktylischer  rhythmus;  so  auch 
bei  Ulrich  von  Winterstetten,  Heinrich  von  Sax  und  Burkhard  von  Hohenfels.  Der 
Ursprung  der  daktylen  bei  Tannhäuser  aus  dem  gesange  beim  reigen  und  die  selb- 
ständige auf  deutschem  boden  erfolgte  entwicklung  solcher  versfüsse  wird  sehr  über- 
zeugend in  der  weise  erklärt,  dass  entsprechend  dem  bcschleurügteren  gange  des 
reigens  ein  rascheres  tempo  eintrat  und  der  daktylus  den  wert  eines  doppeltrochäus 
mit  der  Zeitdauer  eines  gewöhnliehen  trochäischen  fusses  erhielt.  Diese  gleichwertig- 
keit  beweisen  im  Tannhäuser  eine  menge  von  beispielen,  besonders  IV,  22  und  23, 
die  sich  trotz  des  sehr  verschiedenen  baues  der  3.  und  5.  verse  ganz  harmonisch 
gliedern,  wenn  die  ersten  beiden  trochäen  im  3.  vers  einem  daktylus  gleichgesetzt 
werden.  Als  mittelstufe  zwischen  dem  trochäischen  viersilbler  und  dem  daktylus 
kann  man  ganz  gut  dipodien  mit  ausgefallener  erster  Senkung  ansehen,  deren  zweite 
hebung  nebentonig  ist.  Ob  aber  deshalb  die  betonung  '■  ^  w  für  Tannhäusers  dakty- 
len anzunehmen  ist  wie  für  die  trochäischen  verse  mit  unterdrückter  Senkung  im 
frühling  des  minnesangs,    erscheint  um  so  fragHcher,    als  damit  das  vom   Verfasser 

25* 


388  WAHNER 

verlangte  doppelt  rasche  tempo  sich  unmöglich  erreichen  lässt.  Siebert  wird  nicht 
läuguen  können,  dass  der  von  ihm  angezogene  vers  IV,  30  (nicht  I,  30!)  bei  der 
betonung  wd  ist  min  vrou  Jüzxe  diu  liebe  also  länge  mehr  zeit  zum  vertrag  bean- 
sprucht als  bei  dem  gewöhnlichen  daktylischen  gange  tvä  ist  mtn  vrou  Jüxxe  diu 
liebe  also  länge,  der  allerdings  doppelt  so  schnell  ist  als  eine  entsprechende  trochäische 
reihe  abläuft.  Ist  aber  der  gewöhnliche  daktylische  rhythmus  bei  unserm  dichter 
bereits  anzunehmen,  so  werden  wir  bei  seiner  metrischen  Unselbständigkeit  die  Wei- 
terbildung von  '  ^  w  zu  '  w  w  d.  h.  des  ditrochäus  mit  unterdrückter  Senkung  zum 
einfachen  daktylus  nicht  ihm,  sondern  der  volkspoesie  selbst  zuschreiben  müssen. 

Eine  Übersicht  über  die  ausbreitung  der  daktylen  in  den  leichen  ergiebt  ihre 
Verbindung  zu  festen  einheiten  und  ihr  regelmässiges,  nicht  zufälliges  auftreten.  Die 
leichschlüsse  werden  von  zwei-  oder  vierhebigen  versen  gebildet,  unter  denen  die 
letzteren  gewöhnlich  durch  cäsur  oder  pause  mit  innerm  reim  weitergegliedert  wer- 
den; beide  versformen  gruppieren  sich  auch  paarweise.  Bei  V,  23  wird  meines 
erachtens  die  natürliche  betonung  besser  gewahrt,  wenn  die  verse  unter  annähme 
von  apokope  des  e  in  einen  ditrochäus  und  einen  daktylischen  halbvers  von  2  hebun- 
gen  zerlegt  Averden.  Überhaupt  scheint  es  nicht  immer  geraten  rein  daktylische 
Perioden  anzunehmen  und  z.  b.  I,  15  v.  3  —  6  imd  I,  16  als  Strophen  von  öhebig 
daktylischen  versen  zu  betrachten,  vielmehr  dürfte  hier  nach  vorangegangeneu 
'trochäen  nur  daktylischer  schluss  statthaben.  Ebensowenig  wird  nach  meinem  dafür- 
halten die  responsion  von  I,  14  und  27  gestört,  wenn  rein  trochäische  verse  (14,  6) 
mit  gemischt  trochäisch  -  daktylischen  reihen  wechseln  (14,  3  verschmilzt  bi  dem  zu 
bim,  27,  3  und  6).  Demnach  w'ird  hier  und  da  die  metrische  analyse  entgegen  der 
ansieht  Sieberts  die  daktylen  entbehren  können;  im  allgemeinen  aber  ist  ihr  vorkom- 
men bei  Tannhäuser  durch  den  Verfasser  erwiesen  und  viel  zu  ihrer  erklärung  bei- 
getragen worden. 

Die  darlegung  des  baues  der  einzelnen  leiche  (s.  60  —  70)  ergibt  für  11  eine 
einzige  aus  der  doppelt  gesetzten  gereimten  periode  von  8  hebungen  bestehende  stro- 
phenart,  deren  verse  durch  inreim  in  je  2  halbzeilen  zerlegt  werden ;  nur  1  und  15 
sind  durch  einen  vorangeschickten  lang  vers  mit  mittelreim  erweitert.  Pausen  zwi- 
schen den  beiden  halbzeilen  sind  dreimal  (2,  4;  4,  2;  14,  4)  zu  verzeichnen;  die 
ergänzungen  Sieberts  an  den  beiden  ersten  stellen:  ver{sivant)  und  al  bleiben  uner- 
wiesene  Vermutungen. 

Die  str.  4  —  35  des  VI.  leiches  unterscheiden  sich  von  der  beschriebenen  nur 
durch  den  eintritt  des  3  hebig  klingenden  halbverses  nach  dem  stumpfen  ausgang  der 
1.  vershälfte.  Die  änderungen  des  textes  zur  herstellung  des  fehlenden  auftaktes. 
12,  2  und  Hug  ein  T(u)tvingaere,  16,  2  der  hat  (der)  fugende  ein  wunder  und 
31,  4  (nicht  32,  4!)  diu  werlt  (diu)  Mt  shi  ere  halte  ich  für  vollkommen  geglückt. 
Bei  den  3  eingangssystemen  ist  die  Unregelmässigkeit  des  auftaktes  wol  nicht  so 
gross,  noch  die  betonung  gezwungen,  da  in  v.  3  wahrscheinlich  wie  oben  diu  hinter 
iverlt  einzufügen  ist  und  in  v.  1  die  beginnende  diphthongicrung  von  uo  schon  wirken 
mochte,  so  dass  nur  der  auftakt  in  2,  2  ungesetzmässig  erscheint. 

Die  gepaarte  langzeile  von  8  hebungen  mit  oder  ohne  inreim  bildet  auch  das 
grundschema  des  1.  teiles  (1  — 12)  von  leich  I,  nur  unterbrochen  durch  3  paare  von 
Sechshebungsversen  (6)  und  durch  je  ein  reimpaar  von  4  hebimgen  (9,  3  und  4;  12, 
1  und  2).  Im  2.  teile  werden  die  andern  Systeme  ebenso  häufig  verwendet,  alle  aber 
variiert  durch  klingenden  ausgang,  binnenreim  u.  dergl. 


ÜBER   SIEBERT,    TANNHÄUSER  389 

Dieselben  Systeme  mit  einigen  modifikationen  und  andern  Verbindungen  werden 
recht  anschaulieh  auch  im  IV.  leiche  nachgewiesen. 

Sechshebige  verse  bilden  nach  Sieberts  analyse  auch  die  Strophen  1  — 11 
des  V.  leiches,  achthebige  allein  oder  mit  angehängtem  klingendem  dreiheber  die 
durch  erweitei-ung  und  Zerlegung  variierten  Systeme  des  2.  teiles;  nur  enthalten  26,  1 
ir  munt  bran  als  ein  rubin  gegen  der  sunncn  glaste  und  28,  2  da%  sin  die  ver- 
drieße, swen  ich  gerne  lere  nicht  8  hebungen,  wie  er  meint,  sondern  nur  6. 

Eecht  einheitlich  erscheint  auch  nach  seiner  darstellung  der  III.  loich,  für  den 
er  2  grundformen,  die  strojÄe  von  4  vierhebigen  versen  und  ihre  erweiterung  durch 
einen  5.  dieser  art  annimmt.  Demnach  muss  aber  die  einfach  erweiterte  langzeile 
(15,  4)  in  4  -f-  3  v^  b  und  nicht  —  so  erklärt  sie  der  Verfasser  —  in  3  +  3  ^  b 
zerlegt  werden,  wie  ja  auch  die  gleiche  gestalt  des  letzten  verses  der  doppelt  erwei- 
terten Systeme  7  und  16  dies  verlangt. 

So  ergeben  sich  bei  der  sclieinbaren  mannigfaltigkeit  des  versmaterials  nur 
wenige  grundtypen,  die  mit  denen  der  lieder  bis  auf  den  sechshebungsvers  überein- 
stimmen und  so  wider  auf  die  Volksweisen  als  auf  die  gemeinsame  quelle  hindeuten. 

Leicht  erkennbar  musste  für  den  Verfasser  die  komposition  der  leiche  sein, 
die  s.  71 — 79  besitrochen  wird.  Es  tritt  ja  hier  zu  der  durch  den  Wechsel  zwischen 
gleichförmigen  und  mannigfaltigeren  Systemen  gekennzeichneten  metrischen  gliederung 
ein  bemerkenswerter  unterschied  im  Inhalt  hinzu,  den  man  bei  den  leichen  rein  kon- 
ventioneller minnesänger  vermisst.  Nach  diesen  beiden  von  Siebert  hervorgehobenen 
kennzeichen  zerfallen  der  I.,  IV.  und  V.  leich  in  einen  ruhigen,  gleichmässigen  teil 
epischen  Charakters  und  in  einen  beschleunigteren,  wechselvolleren  lyrischen  teil. 
Letzterer  scheidet  sich  wider  in  einen  die  geliebte  oder  den  fürsten  feiernden  abschnitt 
und  in  den  tanz  selbst,  ebenfalls  mit  einem  unterschiede  in  der  metrik,  der  aber 
nicht  so  durchgreifend  ist  als  zuvor;  deshalb  möchte  ich  auch  entgegen  dem  Verfas- 
ser bei  der  zweiteiligkeit  dieser  leiche  bleiben,  so  unvermittelt  auch  der  schlussab- 
schnitt  einzusetzen  pflegt.  Für  Siebert  muss  freilich  die  Zusammengehörigkeit  des  2. 
und  3.  abschnittes  aufhören,  wenn  er  auch  jenen  epischer  natur  sein  lässt,  was  man 
aus  seinen  woiien  „an  einen  längern  teil  epischen  Charakters  schliesst  sich  gewöhn- 
lich ein  kürzerer  auf  den  tanz  bezüglicher"  folgern  muss.  Allerdings  wird  der 
lyrische  Charakter  des  2.  teiles  in  leich  V  durch  die  aus  dem  1.  teil  beibehaltene 
aufzählung  getrübt,  um  so  deutlicher  aber  tritt  er  bei  I  und  IV  zu  tage.  Beinahe 
völhg  fehlt  das  lyrische  moment  im  I.  und  VI.  leiche;  die  auf  den  tanz  bezüglichen 
endstrophen  jenes  und  das  freier  gebaute  Schlusssystem  des  letzteren  können  nicht 
dem  vorangegangenen  stück  epischeT  natur  selbständig  gegenübergestellt  werden,  wes- 
halb man  die  leiche  entsprechend  der  gleichmässigkeit  des  metrums  als  einteilig 
ansehen  muss.  Zweiteilig  ist  wider  leich  III,  dessen  erster  teil  (1  — 18)  als  erzäh- 
lung  eines  liebesabenteuers  doch  wol  epischer  natur  ist  und  in  hinsieht  der  kompo- 
sition nicht  dem  2.  teil  der  leiche  I,  IV,  V  parallel  gehen  kann,  wenn  sein  Inhalt 
auch  diesem  näher  steht  als  den  aufzählungen  im  1.  teüe.  Gerade  wegen  dieser 
inhaltlichen  Verschiedenheit  halte  ich  das  gedieht  nicht  für  den  charakteristischsten, 
wol  aber  für  den  vollkommensten  der  leiche  Tannhäusers.  Interessant  sind  die  aus 
den  leichen  selbst  für  die  metrisch  verschiedenen  abschnitte  und  damit  für  die  ein- 
zelnen tanztouren  vom  Verfasser  erschlossenen  bezeichnungen  „tanzen,  reien,  sprin- 
gen", \viewol  die  einheit  der  benennung  nicht  festgehalten  wird. 

Darauf  folgen  (s.  80  — 111)  bemerkungen  zu  den  einzelnen  gedichten,  wobei 
besonders  viele  parallelstellen    aus    andern  minnesängern  angezogen  werden.     Einen 


390  WAHNER,    ÜBER    SIEBERT,    TANNHÄUSER 

fortschritt  bekunden  diese  bemerkungen  zunächst  dadurch,  dass  sie  unerwiesene 
behauptungen  der  bisherigen  Tannhäuser -forscher,  besonders  Oehlkes  (zu  IV,  21,  4; 
VI,  19)  und  Kücks  (zu  I,  10,  6;  HI,  12,  9;  VI,  36,  10;  Xni,  5;  XIV)  zurück- 
weisen und  wahrscheinlicheres  an  die  stelle  setzen  bezw.  neue  iiberzeugendere  gründe 
dafür  beibringen  (IV,  3,  3  u.  a.  o.)-  "Weiter  sind  aus  der  grossen  zahl  der  stellen 
welche  wegen  dunkler  Wendungen  und  merkwürdiger  namen  überhaupt  keinen  erklä- 
rer  gefunden  hatten,  viele  von  Siebert  recht  befriedigend  erläutert  worden;  manches 
freilich  bleibt  noch  zu  enträtseln.  Für  Tannhäusers  alter  als  entstehungszeit  des  von 
Oehlke  nebst  II,  VII,  XI,  XVI  noch  nicht  datierten  XV.  gedichtes  wird  sein  gedi'ück- 
ter  ton  angeführt  und  die  in  den  versen  äne  ir  danc  sane  ich  in  %e  leide  den  hoeh- 
gemüete  ist  Icranc  ausgesprochene  klage;  gewichtiger  als  letztere  stelle  dünkt  mir  das 
Zeugnis  der  verse  2,  1  —  3  ich  hau  dien  jungen  vil  daher  gesungen,  des  ist  lanc. 
Dass  in  XIII  der  dichter  auf  der  herfahrt  aus  dem  heiligen  lande  zu  denken  ist  nnd 
nicht,  wie  Oehlke  wollte,  auf  der  hinfahrt,  wird  durch  die  auseinandersetzung  Sie- 
beii:s  ausserordentlich  wahrscheinlich.  Auch  das  fortwirken  der  dichtung  Tannhäusers 
wird  durch  den  hinweis  auf  anklänge  in  einigen  mhd.  schwanken  veranschaulicht. 

In  einem  anhange  verstärkt  der  Verfasser  die  zuerst  von  Oehlke  geäusserten 
bedenken  gegen  die  echtheit  des  in  der  Jenaer  liederhandschrift  I  dem  Tannhäuser 
zugeschriebenen  bussliedes  durch  eingehende  Vorführung  der  formellen  und  inhalt- 
lichen Verschiedenheiten  und  erbringt  somit  den  beweis  für  den  spätem  Ursprung 
jenes  wie  für  die  herkunft  der  Tannhäusersage  aus  seinen  in  C  überlieferten  gedichten. 

Im  ganzen  können  wir  somit  Sieberts  arbeit  besonnen  und  bei  ihrer  beschrän- 
kung  auf  einzelne  selten  der  Tannhäuserfrage  recht  ergiebig  nennen.  Sie  hat  das 
verdienst,  unsere  kenntnis  einer  der  interessantesten  figuren  der  mhd.  lyrik  durch 
feste  unverrückbare  resultate  bereichert  zu  haben. 

BRESLAU.  J.    WAHNER. 


Die  schöne  Magelone,  aus  dem  französischen  übersetzt  von  Veit  Warbeck  1527. 
Nach  der  originalhandschrift  herausgegeben  von  Johaimes  Bolte.  (Bibl.  älterer 
deutscher  Übersetzungen  I.)  Weimar,  E.  Felber.  1894.  LXVII  und  87  s.  3  m. 
Die  deutsche  litteratur  hat  von  anfang  an  aus  der  fremde  befruchtende  anre- 
gung  empfangen.  Die  ältesten  schriftliehen  denkmäler  waren  erfüllt  vom  geiste  des 
christlichen  glaubens  und  von  der  stofl'welt  der  Bibel,  während  die  mittelalterliche  lyrik 
und  epik  auf  dem  boden  der  ritterlichen  Weltanschauung  erwuchs,  die  aus  dem  westen 
heräbergekommen  war.  Neben  noveUenstoffen  aus  aller  herren  länder  drangen  im 
15.  Jahrhunderte  mit  dem  humanismus  die  antiken  bildungselemente  ein  und  durch- 
tränkten die  deutsche  geistesweit.  Gegenüber  dem  überwiegenden  eiuflusse,  den  im 
18.  Jahrhunderte  die  als  muster  anerkannten  französischen  klassiker  ausübten,  boten 
allmählich  die  Engländer,  vor  allem  Shakespeare  ein  erspriessliches  gegengewicht  dar 
und  wiesen  den  weg  zu  natur  und  freiheit.  In  zelten  litterarischen  niederganges 
und  geistiger  dürre  war  der  zudrang  fremder  elemente  in  Deutschland  nicht  gross;  er 
war  am  stärksten  während  der  beiden  blüteperioden  um  die  wende  des  13.  und  um 
die  wende  des  18.  Jahrhunderts.  Da  war  auch  die  heimische  litteratur  kraftvoll 
genug,  das  fremde  gut  zu  verarbeiten,  ohne  sich  selbst  zu  entäussern.  In  der  zeit 
der  romantiker,  als  Schlegel  das  übersetzen  zu  einer  edlen  kunstübuug  erhoben  hatte, 
fanden  alle  die  hervorragendsten  erzeuguisse  der  weltlitteratur  als  willkommene 
gaste,    nicht  mehr  als  lehrmeister,    in  Deutschland  eine  neue  heimstätte.     Hingebung 


HAUFFEN,    ÜBER    BOLTE,    SCHÖNE    MAGELOXE  391 

und  Selbständigkeit  verbindend,  hat  sich  die  deutsche  litteratui"  vor  doppelter  gefahr 
bewahrt:  sie  hat  sich  dem  segen  fremden  reichturas  nicht  verschlossen,  und  sie  ist 
doch  der  angestammten  eigenaii  treu  geblieben. 

Unter  diesen  umständen  ist  es  selbstverständlich,  dass  gerade  für  den  betrieb 
der  deutscheu  litte raturgeschichte  ein  unternehmen,  wie  die  mit  dem  vorliegenden 
hefte  eröffnete  bibliothek  älterer  Übersetzungen  von  grösster  Wichtigkeit  ist,  und  dass 
sie  zu  den  vorhandenen  neudrucken  deutscher  originalwerke  als  unentbehrliche  ergänzung 
hinzutritt.  Professor  August  Sauer,  der  seit  einigen  jähren  die  „Deutschen  littera- 
turdenkmale"  leitet,  hat  auch  diese  neue  Sammlung  ins  leben  gerufen.  Aus  seiner 
vorrede,  die  an  den  hervorragendsten  kenner  der  geschichte  der  deutschen  über- 
setzuugskunst,  Michael  Bemays,  gerichtet  ist,  sowie  aus  dem  Verzeichnis  der  in  Vor- 
bereitung befindlichen  und  der  in  aussieht  genommenen  hefte  ersehen  wir  das  Pro- 
gramm der  neuen  bibliothek.  Sie  soll  die  wichtigsten  deutschen  Übersetzungen  vom 
14.  bis  zum  19.  Jahrhunderte,  soweit  sie  nicht  allgemein  zugänglich  sind,  nach  hand- 
schriften  und  älteren  drucken  mit  einleitungen  und  anmerkungen  bringen;  ferner  (in 
ergänzungsheften)  neubearbeitungen  älterer  bibliographischer  compendien,  Untersuchun- 
gen und  darstellungen.  Sie  soll  zu  einem  mittelpunkte  dieses  abgegrenzten  arbeits- 
gebietes  werden.  In  den  weiteren  heften  sollen  übersetzungeu  aus  dem  kreise  der 
deutschen  humanisten  und  die  aus  der  fremde  stammenden  novellen  des  15.  Jahrhun- 
derts veröffentlicht  werden.  Im  anschluss  daran  werden  wol  auch  die  arbeiten  erle- 
digt werden  müssen,  die  M.  Hermann  in  seiner  Eybraonographie  s.  286  fordert:  ein 
chronologisch  und  ein  topographisch  angeordnetes  vollständiges  Verzeichnis  aller  Über- 
setzungen der  schönen  litteratur  bis  zum  erscheinen  des  deutschen  Decamerone  und 
Untersuchungen  über  die  herkunft  der  stoffe.  In  der  nächsten  zeit  werden  ferner 
erscheinen  übersetzungeu  von  Corneille,  Milton,  Moliere,  Anakreon,  die  Vossische 
IHas,  die  anfange  des  deutschen  Shakespeare,  endlich  Rabelais  Gargantua  in  der  Ver- 
deutschung von  Regis  (mit  dem  umfänglichen  kommentar?). 

Einen  teil  des  vielseitigen  programras  bildet  idie  Veröffentlichung  der  handschrift- 
lichen grundlagen  unserer  Volksbücher,  soweit  sie  Übersetzungen  sind.  Dieser  auf- 
gäbe ist  das  vorliegende  erste  heft  gewidmet,  mit  dein  Bolte  ein  muster  geliefert 
hat,  das  in  seiner  weit  ausgreifendeu  gelehrsamkeit  und  seiner  rülimenswerten  gründ- 
lichkeit  kaum  von  allen  nachfolgern  wird  erreicht  werden  können.  Gerade  weil 
"Warbecks  Schöne  Magelone  in  den  weitesten  kreisen  Verbreitung  gefunden  und  bis 
in  die  letzten  jähre  herab  neue  auflagen  erlebt  hat,  war  die  Veröffentlichung  des 
ursprünglichen  textes  nach  der  von  Bolte  in  Gotha  gefundenen  originalhandschrift 
des  Übersetzers  eine  um  so  interessantere  und  dringendere  aufgäbe^. 

In  einer  überaus  reichhaltigen  einleitung  gibt  Bolte  (alle  ergebnisse  der  grossen 
Magelone  -  litteratur  verwertend  und  seinerseits  bereichernd)  bericht  über  die  entste- 
hung  des  französischen  Originals,  schildert  auf  grund  neu  erschlossenen  handschrift- 
lichen materials  Yeit  Warbecks  leben,  zeichnet  den  einfluss  der  französischen  littera- 
tur in  Deutschland  am  beginne  des  16.  Jahrhunderts  mit  auslaufen,  deren  bedeutung 
weit  über  den  besonderen  zweck  hinausgehen,  vergleicht  Warbecks  Übersetzung  mit 
dem  originale  und  mit  dem  ersten  drucke  (dessen  Varianten  im  anhang  verzeichnet 
sind)  und  stellt  endlich  die  bibliographie  der  zahllosen  Magelone -ausgaben  bei  15 
nationen  zusammen. 

1)  Ich  betone  dies  gegenüber  einer  bemerkung  Landaus,  Zeitschr.  fiir  vergl.  litteraturgesch. 
8,  267. 


392  MATTHIAS 

"Wer  das  heil  der  recensionen  iu  nachtragen  sieht  (eine  ansieht,  die  ich  nicht 
teüe),  der  wird  bei  dem  gelehrten  herausgeber  der  Magelone  einen  sehr  schweren 
stand  haben.  Auch  mir  hat  es  nui-  der  zufall  ermöglicht,  einen  winzigen  und  unwich- 
tigen nachtrag  zui'  bibliographie  zu  liefern.  S.  LXVI  in  der  abteilung  Böhmisch 
(besser  wäre  Czechisch,  denn  „Böhmisch"  ist  ein  geographischer  und  kein  sprach- 
licher begriff)  ist  eine  ausgäbe  nachzutragen:  Kuttenberg  1774.  Ihr  titel  lautet 
abweichend  von  dem  bei  Bolte  für  die  älteste  ausgäbe  angegebenen  titel:  „Welmi 
\i;essenä  Hystoiye  0  krasne  Magelone,  DceH  Krale  z  NeapoUs,  Tez  o  gednem  Welmi 
vdatnym  Rytjfi,  znameniteho  Hrabete  z  Prowincy  Synu  Peti"owi.  Wssem  pro  Ob- 
veselni  Mysle  a  Vkräceni  Czasu  znova  na  svetlo  vj^dane.  V  Hofe  Kuttny,  Eoku  1774. 
Ein  exemplar  (dem  die  letzten  blätter  fehlen)  befindet  sich  in  der  bibliothek  des 
Böhmischen  museums  in  Prag  (27  E  10).  Der  text  dieser  ausgäbe  stimmt  mit  aus- 
nähme der  einleitenden  worte  völlig  übereiu  mit  der  jüngsten  (auch  bei  Bolte  ver- 
zeichneten) aufläge:  Neuhaus  (v  Jindfichovi  Hradci)  1864.  Beide  ausgaben  ergeben 
sich  als  eine  fast  wörtUche  Übersetzung  des  "Warbeckschen  textes.  Ausserdem  kennt 
die  czechische  litteratur  auch  ein  lied  von  der  schönen  Magelone.  Jungmaun  (V  s.  268 
nr.  221)  verzeichnet:  Piseü  o  kräsne  Magelone  w  Praze  1685.  Ein  defektes  exem- 
plar befindet  sich  auf  der  bibliothek  des  böhmischen  museums  (27  H  3).  Es  gibt  in 
reimen  den  Inhalt  des  Volksbuches  in  starker  Verkürzung  wider. 

PRAG.  A.   HAUFFEN. 


Erasmus  Alberus.  Ein  biographischer  beitrag  zur  geschichte  der  refor- 
mätionszeit.  Von  prof.  dr.  Franz  Schnorr  von  Carolsfeld,  oberbibliothekar 
an  der  königl.  bibliothek  zu  Dresden.  Dresden,  L.  Ehlermann.  1893.  YIII  und 
232  s.     6  m. 

Das  misgeschick,  welches  den  Erasmus  Alberus  zeit  seines  lebens  verfolgte, 
ist  auch  nach  seinem  tode  nicht  von  ihm  gewichen:  nicht  nur  war  über  sein  leben 
imd  seine  litterarische  tätigkeit  infolge  der  Seltenheit  der  originaldrucke  seiner  Schrif- 
ten sehr  wenig  bekannt,  sondern  das  wenige,  was  man  wusste  oder  zu  wissen  glaubte 
ermangelte  auch  der  genaiügkeit  und  enthielt  wahres  und  falsches  nebeneinander. 
Daher  wai'  es  mögUch,  dass  die  behauptung  DöUingers,  Alber  sei  von  Zeitgenossen 
als  ein  mensch  von  unreinem  leben  und  zuchtloser  zunge  geschildert  worden,  der 
durch  Verschwendung  in  schulden  gekommen  sei  und  seine  gläubiger  betrogen  habe, 
allgemeinen  glauben  und  weiterverbreitung  fand,  obgleich  sie  nur  durch  eine  fehler- 
hafte Interpretation  einer  äusserung  des  Erasmus  Roterodamus  entstanden  war, 
welche  sich  nicht  auf  Alber,  sondern  auf  den  bekannten  humanisten  Hermann 
Buschius  bezog.  So  bitteres  unrecht  fügte  die  nach  weit  einem  manne  zu,  der  die 
meisten  seiner  Zeitgenossen  an  sittlichem  Zartgefühl  übertraf  und  der,  wie  ein  ihm 
nahestehender  sagt,  „um  der  predigt  des  evangeliums  und  imi  seines  geti-euen  und 
fleissigen  strafens  willen  siebenmal,  wie  der  heilige  Athanasius,  von  seinen  befohlenen 
schäflein  mit  gewalt  und  offener  tyrannei  verjagt  worden  ist."  So  verkehrte  und 
ungerechte  beurteilungen  sind  nach  dem  erscheinen  des  vorliegenden  buches  unmög- 
lich, es  sei  denn,  dass  man  sich  gegen  die  ruhigen  und  gewissenhaft  abwägenden 
ausführungen  des  Verfassers  absichtlich  verschliesst.  Das  umfangreiche,  wenn  auch 
nicht  lückenlose  quellenmaterial  ist  hier  zum  ersten  male  gesammelt  imd  zu  einer 
ebenso  gründlichen,  wie  liebevollen,  dabei  aber  doch  unbefangenen  darstellung  der 
persönlichkeit  und  litterarischeu  Wirksamkeit  Albers  verarbeitet  worden    (s.  1  — 158). 


ÜBER   SCHNORR   V.    CAROLSFELD ,   ALBERUS 


393 


Seine  heimat  ist  die  "Wetterau,  wo  er  etwa  um  1500  geboren  ist;  von  seiner  Jugend- 
zeit ist  nur  wenig  bekannt;  studiert  hat  er  in  Mainz  und  Wittenberg  (1—8);  seine 
erste  praktische  tätigkeit  war  die  eines  Schulmeisters,  ein  beruf,  zu  dem  er  grossa 
neigung  gehabt  und  den  er  zu  verschiedenen  zeiten  seines  lebens  ausgeübt  hat  (s.  16 
fgg.),  niit  welchem  auch  eine  reihe  von  Schriften  Albers  in  Zusammenhang  stehen. 
Nachdem  er  elf  jähre  lang  (von  1528)  das  pfarramt  zu  Sprendlingen  verwaltet,  ver- 
einigten sich  bei  ihm  ungewöhnlich  ungünstige  umstände  mit  der  damals  besonders 
hochzuschätzenden  eigenschaft,  seine  Überzeugung  selbst  den  höchstgesteUten  gegenüber 
räcksichtslos  zu  vertreten,  und  unrechtes  tun  anderer  zu  „strafen",  auch  wenn  er 
selbst  nicht  darunter  zu  leiden  hatte,  um  ihn  seine  ganze  übrige  lebenszeit  (1539  — 
1553)  weder  im  süden  noch  im  norden  Deutschlands  eine  dauernde  statte  seiner  Wirk- 
samkeit finden  zu  lassen,  so  sehr  er  selbst  sowol,  als  andere,  darunter  kein  geringerer, 
als  der  ihm  seit  seiner  Studienzeit  befreundete  Luther,  sich  darum  bemühten.  Um 
so  bewunderungswürdiger  ist  es,  dass  er  trotzdem  zeit  und  ruhe  zu  einer  ausgedehn- 
ten litterarischen  tätigkeit  fand.  Von  den  zahlreichen  Schriften,  denen  eine  einge- 
hende Würdigung  zuteil  wird,  sei  nur  hervorgehoben  erstens  die  in  gesprächsform 
abgefassto  bearbeitung  der  unter  dem  namen:  Die  ungleichen  kiuder  Evae  bekannten 
fabel,  welche  den  titel  trägt:  Von  der  Schlangen  Verfürung,  sodann  seine  welt- 
lichen und  geistlichen  gedichte  (fabeln  und  kirchenlieder) ;  erstere,  weil  sie  in 
dieser  Zeitschrift  (XXI,  419—463)  nebst  einigen  zu  Albers  Charakteristik  beitragen- 
den stellen  anderer  werke  von  ihm  abdiiick  gefmiden  hat;  die  fabeln  und  kirchen- 
lieder, weil  sie  auch  heute  noch  der  erbauung  oder  der  ergötzung  und  belehrung 
weiterer  kreise  dienen,  während  aUe  übrigen  Schriften  jetzt  nur  noch  litterarhisto- 
rischen  wert  haben.  Von  40  geistlichen  liedern,  von  denen  eine  grosse  zahl  während 
der  von  ihm  miterlebten  belagerung  von  Magdeburg  (1550  —  51)  entstanden  ist,  las- 
sen sich  nur  noch  14  sicher  nachweisen  (s.  104  —  112),  daranter  einige,  welche  noch 
jetzt  gesungen  werden,  so  der  (1555  bei  Val.  Neuber  in  Nürnberg  gedruckte) 
Abend-  oder  vespergesang:  Christe,  du  bist  der  helle  tag  (Ev.  gesangb.  f.  d 
prov.  Sachsen  390:  Christ,  der  du  bist  der  helle  tag).  Ob  er  zu  diesen  liedern  melo- 
dien  selbst  erfunden  hat,  wissen  wir  nicht;  wol  aber,  dass  er  mit  seinem  lehrer 
und  freunde  Luther  die  begeisterung  für  die  „heilige,  himmlische  und  holdselige 
musica"  teilte,  über  welche  er  noch  in  seiner  letzten  lebenszeit  ein  buch  vei-fassen 
wollte  (s.  110;  ztschr.  XXI,  421  fg.).  Die  fabeln  (s.  112  —  121),  in  denen  das  gemüt 
und  der  humor  des  mannes  in  schönster  weise  zum  ausdruck  kommen,  werden  in 
der  von  Braune  (Halle,  Niemeyer,  1892)  veranstalteten  ausgäbe  im  verein  mit  dem 
von  uns  angezeigten  buche  hoffentlich  dazu  beitragen,  den  namen  Albers  auch 
ausserhalb  des  engen  kreises  der  fachgenossen  so  bekannt  zu  machen,  wie  er  es 
verdient. 

Von  den  beüagen  (159  —  228)  geben  I  — XVII  briefe  und  andre  schwer  zu- 
gängliche Schriftstücke  von  Albers  band;  XVIII:  ein  schreiben  der  witwe  an  Flacius 
über  Albers  tod;  XIX:  nachtrage  und  berichtigungeu  zu  den  angaben  über  Albers 
Schriften  in  Gödekes  grundriss  II-,  440  —  447  (wozu  zu  vergleichen  Zeitschr.  XXI, 
432  —  35).    Ein  ausführliches  register  (229  —  232)  macht  den  beschluss. 

BURG   B.    MAGDEBURG.  MATTHIAS. 


394  GERING 

Ordbok  öfver  svenska  spräket  utgifven  af  Svenska  akademiea.  Haftet 
1  —  3.  A  — afräda.  Lund,  Gleerup,  1894  —  95.  XXVIII  ss.  und  432  spp.  4. 
ä  kr.  1,50.  (Für  die  mchtskandinavischen  länder  ist  der  ausschliessliche  vertrieb 
des  Werkes  der  firma  M.  Spirgatis  in  Leipzig  übertragen.)^ 

Das  grosse,  von  der  schwedischen  akademie  herausgegebene  nationalwerk ,  von 
dem  die  ersten  drei  lieferungen  jetzt  vorliegen,  hat  eine  lange  Vorgeschichte;  sie  ist 
nämlich  ebenso  lang  wie  die  geschichte  der  akademie-  selbst,  die  vor  einem  decen- 
nium  (1886)  ihr  erstes  säcularfest  feierte.  König  Gustaf  III.,  der  Stifter  der  anstalt, 
hatte  ihr  als  eine  ihrer  hauptaufgaben  die  hersteUung  eines  schwedischen  Wörter- 
buches zugewiesen,  bei  dem  die  von  gelehrten  romanischen  gesellschaften  (besonders 
der  Academia  della  crusca  und  der  Academie  fran^aise)  herausgegebenen  werke  als 
muster  dienen  sollten,  und  bereits  1787  legte  man  band  ans  werk,  indem  man  ein- 
fach die  einzelnen  buchstaben  unter  die  mitglieder  verloste.  Man  war  nämlich  der 
naiven  meinung,  dass  jeder,  der  die  fähigkeit  besitze,  sich  zu  dichterischen  oder 
gelehrten  zwecken  der  schwedischen  spräche  zu  bedienen,  auch  ein  Wörterbuch  der- 
selben abzufassen  im  stände  sei;  dass  man  philologische  und  linguistische  keuntnisse 
für  überflüssig  hielt,  geht  zur  genüge  daraus  hervor,  dass  unter  den  mitgliedern,  die 
das  coUegium  der  aderton  damals  zählte,  nicht  ein  einziger  Sprachforscher  sich  befand. 
Dass  die  sache  so  einfach  nicht  war,  wie  man  sich  eingebildet  hatte,  stellte  sich 
aber  bald  heraus:  nur  wenige  von  den  akademikern,  die  grossenteils  mit  amtsgeschäf- 
ten  überhäuft  waren,  fühlten  lust  und  beruf  zu  der  ungewohnten  arbeit,  zu  der  sie 
Vorbildung  und  technische  fertigkeit  nicht  mitbrachten,  und  ein  gedeihliches  fort- 
schreiten des  Werkes  ward  schon  dadurch  unmöglich  gemacht,  dass  jeder  einzelne 
artikel  in  den  Sitzungen  vorgelesen  und  discutiert  wurde.  Eifrige  arbeiter  waren  in 
der  ersten  zeit  niu"  der  publicist  und  historiker  Job.  Murberg  (1734 — 1805)  und 
der  dichter  Gudm.  Jöran  Adlerbeth  (1751  — 1818),  aber  das  unternehmen  rückte 
nicht  vorwärts,  obwol  man  später  auch  einzelne  nichtakademiker,  die  sich  zum  teil 
freiwillig  angeboten  hatten,  heranzog,  und  nach  Murbergs  tode  geriet  es  ganz  ins 
stocken.  Erst  1835,  als  Bernhard  von  Beskow  (1796  — 1868)  Sekretär  der  aka- 
demie ward,  fieng  mau  auf  dessen  betreiben  wider  energischer  zu  arbeiten  au,  da 
man  aber  an  dem  alten  princip  nichts  wesentliches  änderte,  wurde  trotz  der  reich- 
haltigen materialsammluugen,  die  allmählich  zu  stände  kamen,  und  obgleich  schliess- 
lich auch  einige  wirkliche  fachmänner  wie  Dalin  und  Hagberg  m  den  dienst  des 
Wörterbuches  gestellt  wurden,  nichts  fertig.  Bei  Hagbergs  tode  (1864)  war  nicht 
einmal  das  von  diesem  bearbeitete  A  in  druckfähigem  zustande,  und  es  bedurfte  noch 
weiterer  sechs  jähre,  um  diesen  buchtaben  zu  vollenden,  der  endlich  1870  mit  einem 
Vorworte  von  ßydqvist  herausgegeben  ward.  Dass  es  in  dieser  weise  nicht  weiter- 
gehen könne,  war  jedoch  nun  der  akademie  klar  geworden,  welche  die  ausdrückliche 
erklärung  abgab,  dass  sie  das  werk  nicht  selber  fortsetzen,  sondern  in  zukuuft  nur 
vorarbeiten  für  ein  zirkünftiges  Wörterbuch  herausgeben  und  aus  ihren  mittein  lexiko- 
graphische und  grammatische  publikationen  unterstützen  werde.  Es  erschien  denn 
auch  bereits  1874  die  Ordlista  öfver  svenska  spraket  in  der  von  der  akademie  fest- 

1)  Vgl.  G.  Cederschiöld,  Nägra  meddelanden  om  Svenska  akademiens  ord- 
bok öfver  svenska  spräket,  Limd  1893;  Th.  Hjelmqvist,  En  uy  källa  för  var  foster- 
ländska  odling,  uägra  anteckningar  om  Svenska  akademiens  ordbok,  Lund  1893; 
derselbe,  Om  begagnandet  af  Svenska  akademiens  ordbok,  Lund  1894. 

2)  Gustaf  Ljuuggreu,  Svenska  akademiens  historia  1786  — 1886.  Stockh.  1886. 
2  bde. 


ÜBER  SVENSKA  AKADEMIENS  ORDBOK  395 

gesetzten  Orthographie  (seitdem  widerholt  aufgelegt)  und  1880  das  von  Elias  M.  Fries 
hinterlassene  wöi-terbuch  der  schwedischen  ptlanzennameu  {Kritisk  ordbok  öfver  svenska 
växtiiamnen)  ^  wie  auch  durch  die  akademie  Noreens  abhandlung  über  die  dialekte 
der  landschaft  Dalarna  (Nijare  bidrag  tili  kännedom  om  de  svenska  landsniälen 
ock  svensk  folklif,  1881 — 82)  und  Klockhoffs  schrift  über  die  relativsätze  im  alt- 
schwedischen {Relativsatser  i  den  äldre  fornsvenskan  med  särsküd  hänsyn  tili  de 
bäda  VestcjötalcKjarna,  Karlstad  1884.  4)  veranlasst  und  unterstützt  wurden,  und 
neuerdings  Fred.  Tamms  Etymologisk  svensk  ordbok  (Stockh.  1890  fgg.)  ebenfalls 
einen  namhaften  zuschuss  erhält.  Indessen  blieb  das  gefühl,  dass  es  eine  ehren- 
pflicht  der  akademie  sei,  die  von  dem  königlichen  Stifter  gestellte  aufgäbe  zu  lösen, 
wenigstens  bei  einzelnen  mitgliedem  lebendig,  und  nachdem  der  professor  der  nor- 
dischen Philologie  in  Lund  Theodor  Wisen  1878  als  nachfolger  ßydqvists  in  die 
zahl  der  aderton  aufgenommen  war,  stellte  er  1883  den  autrag,  dass  die  arbeit  an 
dem  Wörterbuche  nach  einem  ganz  neuen  und  zeitgemässen  plane  wider  aufgenom- 
meu  werden  solle.  Die  akademie  stimmte  dem  zu  und  betraute  den  antragsteiler  mit 
der  obersten  leitung  des  Unternehmens,  die  er  unter  der  bedingung  annahm,  dass 
dem  adjunkten  (jetzt  ord.  professor)  K.  F.  Söderwall  in  Lund,  der  durch  lexika- 
lische arbeiten  bereits  einen  hochgeachteten  namen  sich  erworben  hatte,  die  redaktion 
des  Wörterbuches  übertragen  werde.  Ein  von  SöderwaU  ausgearbeiteter  und  von  Wi- 
sen  gebilligter  plan  wurde  bald  darauf  der  akademie  vorgelegt  und  von  ihr  angenom- 
men, worauf  die  vorarbeiten  sofort  ihren  anfang  nahmen. 

Das  unternehmen  konnte  jetzt  unter  weit  günstigeren  bedingungen  begonnen 
werden,  als  ehedem.  In  Upsala  uod  Lund  hatten  bereits  seit  längerer  zeit  ordent- 
liche Professuren  für  nordische  philologie  bestanden  und  es  waren  daher  eine  ganze 
anzahl  von  jüngeren  methodisch  geschulten  gelehrten  vorhanden,  die  dem  grossen 
werke  ihre  kräfte  widmen  konnten.  Davon ,  dass  die  mitglieder  der  akademie  gemein- 
schaftlich das  Wörterbuch  verfassen  soUten,  war  natürlich  nicht  mehr  die  rede:  unter 
den  auspicien  der  akademie  und  durch  ihre  reichen  mittel^  unterstützt  sollte  das 
werk  von  einem  festen  redaktionscomite,  das  in  Lund  seinen  sitz  hatte  und  an  des- 
sen spitze  Wisen-  und  SöderwaU  standen,  ausgearbeitet  werden.  Zunächst  wurde 
eine  grosse  anzahl  von  excerpisten,  die  eine  kiu'ze  Instruktion^  erhielten,  mit  dem 
ausziehen  der  quellenschriften  betraut;  die  citatenzettel  (für  die  sogar  ein  bestimmtes 
papier  und  ein  bestimmtes  format  genau  vorgeschrieben  war)  waren  an  die  central- 
stelle  einzusenden ,  wo  sie  geordnet  und  revidiert  wurden ,  um  dann  den  wissenschaft- 
lichen bearbeitern,  unter  die  die  einzelnen  artikel  von  den  hauptredacteuren  verteilt 
wurden,  als  material  zu  dienen.  Nach  dem  ursprünglichen  plane  sollten  die  Samm- 
lungen der  sprachprobeu  sich  zunächst  auf  die  buchstaben  A — G  beschränken,  doch 
sah  man  bald  ein,    dass  es  notwendig  sei,    sie  auf  das  ganze  aiphabet  auszudehnen. 

1)  Diese  fliessen  zum  grössten  teile  aus  den  einnahmen  der  officiellen  schwe- 
dischen zeitung  {Post-  och  inrikes  tidni?igar),  die  von  der  akademie  herausgegeben 
wird  und  für  bestimmte  öffentliche  bekanntmachmigen  (z.  b.  für  concursangelegen-- 
heiten)  benutzt  werden  muss,  und  es  ist  sehr  zu  wünschen,  dass  ihr  diese  quelle 
nicht  durch  kurzsichtige  massnahmen  des  schwedischen  reichstages  verstopft  oder 
geschmälert  werde. 

2)  Dieser  hochverdiente  gelehrte  hat  leider  das  erscheinen  des  ersten  heftes 
nicht  mehr  erlebt:  er  starb  bereits  am  15.  febr.  1892  (s.  Ztschr.  XXV,  362  fgg.). 

3)  Diese  ward  1893  auf  grund  der  im  verlaufe  der  arbeit  gesammelten  erfah- 
rimgen  durch  ausfühi'üche  „Änvisningar  tili  insanilande  af  sprakprof  för  Svenska 
akademiens  ordbok'\  welche  74  §§  enthalten,  ersetzt. 


396  GERING 

Als  man  im  friihling  1893  an  die  redigierung  des  1.  heftes  gieng,  berechnete  man 
die  zahl  der  citate,  die  damals  zur  Verfügung  standen,  auf  mnd  800,000;  die  com- 
pletieruüg  des  materials  wird  jedoch,  während  die  ausarheitung  weiter  schreitet,  noch 
immer  fortgesetzt  ^ 

Das  Wörterbuch  der  akademie,  das  ein  bild  von  der  entwicklung  der  schwe- 
dischen spräche  von  der  reformation  bis  auf  unsere  tage  geben  soll,  unterscheidet 
sich  nicht  unwesentlich  und  nicht  zu  seinem  nachteil  von  dem  buche,  mit  dem  jeder 
Deutsche  es  zunächst  vergleichen  wird,  dem  Deutschen  wörterbuche  der  brüder 
Grimm.  Es  wird  vor  allem  ein  mehr  einheithches  gepräge  tragen,  als  dieses.  Nach 
dem  tode  der  begründer  ward  die  fortsetzung  des  deutschen  werkes,  das  damals 
erst  bis  zu  dem  buchstaben  F  gediehen  war,  wie  bekannt,  \\ex  gelehrten  übertragen, 
von  denen  jeder  an  einem  andern  orte  für  sich  arbeitete,  jeder  die  durchaus  unzu- 
länglichen materialsammlungen  auf  eigene  band  ergänzen  musste,  jeder  nach  eigenem 
gutdünken  den  lu'sprünglichen  plan  zu  ändern  befugt  war.  Der  eine  zog  eine  knappe 
und  gedrängte  darsteUung  vor,  der  andere  hatte  das  bedürfnis,  sich  behaglich  auszu- 
dehnen, weitläuftige  etymologische  oder  kulturhistorische  excurse  einzuschieben,  ein- 
zelne artikel  geradezu  zu  grossen  abhandlungen  zu  gestalten.  Dies  ist  bei  dem 
schwedischen  wörterbuche,  wo  von  vornherein  ein  fester  plan  entworfen  und  das 
ganze  unter  die  Oberaufsicht  des  hauptredacteurs  gestellt  ist,  ausgeschlossen:  so  tief- 
greifende unterschiede,  wie  sie  z.  b.  das  K  im  Giimmschen  wörterbuche  gegenüber 
dem  H  oder  N  aufweist,  werden  nicht  vorkommen.  Das  schwedische  Wörterbuch 
gibt  ferner,  was  bei  Grimm  ganz  fehlt,  füi"  jedes  einzelne  wort  nach  einem  leicht 
fasslichen  System  eine  genaue  angäbe  über  ausspräche  und  accentuation ,  es  verzeich- 
net in  chronologischer  Ordnung  die  älteren  Schreibweisen  der  Wörter,  bemerkt  auch 
erforderlichen  falles,  ob  dieselben  veraltet,  selten  oder  nur  von  dichtem  gebraucht 
sind,  ob  sie  nur  als  technische  ausdrücke  innerhalb  gewisser  berufszweige,  nur  in 
der  Umgangssprache  oder  in  dem  slang  einzelner  stände  sich  finden  usw.,  es  lässt 
jedem  citate  seine  ursprünghche  Orthographie  und  fügt  —  was  manchem  vielleicht 
als  übertriebene  pedauterie  erscheinen  mag  —  das  jähr  hinzu,  in  welchem  die  schritt, 
aus  der  es  entlehnt  ist,  verfasst  wurde  oder  erschien.  Auf  die  genaue  und  ausführ- 
liche darlegung  der  bedeutungsentwicklung  ist  besondere  Sorgfalt  verwendet;  bei  sehr 
häufig  gebrauchten  Wörtern,  deren  sinn  mannigfaltig  nuanciert  ist  (z.  b.  bei  praeposi- 
tionen)  ist  eine  kurze  semasiologische  Übersicht,  die  auf  die  einzelnen  abschnitte  des 
artikels  hinweist,  diesem  an  die  spitze  gestellt.  Wo  die  excerptsammlungen  zufällig 
kgend  eine  allgemein  übliche  Verwendung  eines  wertes  nicht  bezeugten,  hat  man  sie 
durch  selbstgebildete  musterbeispiele  belegt,  die  jedoch  durch  cursivschrift  von  den 
queUencitaten  deutlich  unterschieden  sind.  Sehr  zweckmässig  ist  es,  dass  bei  den 
einfachen  Wörtern  am  Schlüsse  gleich  die  gebräuchlichsten  Zusammensetzungen  ange- 
hängt sind,  imd  zwar  auch  diejenigen,  in  denen  das  betr.  wort  den  zweiten  teil  des 
compositums  bildet  (natürlich  werden  diese  noch  besonders  und  ausführlicher  an 
ihrem  durch  die  alphabetische  anordnung  fest  bestimmten  platze  behandelt).  Die  ety- 
mologischen   bemerkungen  verzeichnen   bei   den    echt    nordischen  Wörtern   zunächst, 

1)  Ein  kleines  curiosuin  zur  geschichte  des  Wörterbuches  sei  hier  mitgeteilt. 
Professor  E.  H.  Tegner,  der  bei  der  redaction  des  werkes  als  linguistischer  beirat 
tätig  ist,  vernüsste  bei  der  correctur  des  zweiten  heftes  das  wort  afbygd,  das  aus 
gedruckten  quellen  nicht  nachgewiesen  werden  konnte.  Er  gebrauchte  es  daher  in 
einem  buche,  das  er  gerade  unter  der  feder  hatte,  und  aus  diesem  ist  es  sp.  136 
citiert. 


ÜBER  SVENSKA  AKADEmENS  ORDBOK  397 

falls  dieselbe  vorhanden  ist,  die  altschwedische  form,  und  meist  (warum  nicht  immer?') 
die  entsprechungen  der  anderen  skandinavischen  sprachen;  ist  das  wort  ein  gemein- 
germanisches,  so  sind  auch  die  formen  der  übrigen  germanischen  Schriftsprachen  (der 
toten  wie  der  lebenden)  angegeben;  von  den  ui-verwandten  sprachen  sind  besonders 
latein,  griechisch  und  sanskrit  herangezogen;  bei  fremd-  und  lehnwöiiem  hat  man 
sich  natürlich  darauf  beschränkt,  das  wort  derjenigen  spräche,  aus  der  die  aufnähme 
in  das   schwedische  erfolgte,  mitzuteilen-. 

Bei  der  auswahl  der  aufzunehmenden  Wörter  hat  man  eine  weise  selbstbeschrän- 
kung  walten  lassen.  Das  vorwort  (s.  2)  sagt  mit  recht,  dass,  wenn  man  alles  hätte  ver- 
zeichnen wollen,  was  in  der  schwedischen  litteratur  der  behandelten  periode  sich  findet, 
und  alles,  was  gegenwärtig  in  der  rede  der  gebildeten  vorkommt,  ein  unerreichbares  ziel 
gesteckt  worden  wäre.  Infolge  dessen  wurde  das  princip  festgehalten ,  von  dem  einhei- 
mischen sprachgut  der  gegenwart  nur  das  zu  registrieren ,  „was  als  gemeinsamer  besitz 
einer  bedeutenden  anzahl  gebildeter  Schweden  aus  verschiedenen  teilen  des  landes  ange- 
sehen werden  kann",  sowie  das,  was  einer  erklärung  bedürftig  ist  oder  selbst  einen 
wichtigen  aufschluss  vermittelt;  aus  den  dialekten  nur  dasjenige  mitzuteilen,  was  die 
„reichssprache"  zu  beleuchten  vermag  oder  der  aufnähme  in  diese  wert  erscheint; 
endlich  auch  nur  diejenigen  fremdwürter  einzureihen,  die  in  weiteren  kreisen  von 
leuten  mit  allgemeinerer  bildung  bekannt  sind.  FreiUch  möchte  es  dem  Nichtschwe- 
den,  dem  die  unzahl  romanischer  fremdwörter  in  den  bisher  erschienenen  lieferungen 
auffallen  wird,  scheinen,  als  ob  das  niveau  dieser  „allgemeinbildung"  etwas  zu  hoch 
angesetzt  sei  —  aber  man  muss  bedenken,  dass  die  „Franzosen  des  nordens"  gegen 
entlehnuugen  aus  dem  südeuropäischen  wertschätze  ebensowenig  spröde  gewesen  sind 
wie  die  Deutscheu  des  17.  Jahrhunderts,  piu'istische  tendenzen  aber  in  erheblich 
schwächerem  masse  als  bei  uns  sich  geltend  machten.  Immerhin  aber  ist  es  mir 
zweifelhaft,  ob  man  nicht  durch  ausscheidung  dieser  romanischen  fremdlinge,  die 
doch  nicht  wie  die  lehnwörter  aus  den  verwandten  germanischen  sprachen  ein 
wirkliches  bürgerrecht  im  schwedischen  erlangt  haben,  das  buch  hätte  entlasten  und 
sie  einem  fremdwörterbuche  hätte  überweisen  sollen,  das  ja  als  besonderes  Supple- 
ment dem  hauptwerke  hätte  folgen  können.  Jedoch  ist  dies  das  einzige  bedenken, 
das  ich.  zum  ausdruck  bringen  muss.  Im  ganzen  kaun  mein  urteil  nur  dahin  lauten, 
dass  wir  es  mit  einem  sorgfältig  und  umsichtig  vorbereiteten  und  in  der  ausführung 
nahezu  tadellosen  werke*  zu  tun  haben,  das  der  schwedischen  Wissenschaft  zu  hoher 
ehre  gereichen  wird*.    "Wenn  wir  einmal  dahin  gelangen,  nach  Vollendung  des  Grimm- 

1)  Bei  dem  werte  abborre  vermisst  man  z.  b.  die  angäbe,  dass  dasselbe  (in 
der  form  aborre)  auch  dänisch  ist,  ebenso  unter  afbryta  das  dänische  afbryde  usw. 

2)  Wenigstens  einmal  ist  dies  jedoch  vergessen:  es  fehlt  nämlich  bei  dem 
jetzt  veralteten  affetalia  (sp.  174)  der  hinw^eis  auf  die  herkunft  des  wertes  (frz.  avi- 
tailler). 

3)  Mit  welcher  geuauigkeit  die  hersteUung  des  buches  geschieht,  kann  mau 
daraus  ersehen,  dass  der  „chef"  sämmtliche  artikel  im  manuscript  revidiert,  dass 
exemplare  der  2.  correctiu-  auch  den  ausserhalb  Luuds  wohnenden  mitarbeiteru  zur 
begutachtung  zugehen  und  dass  alle  citate  auf  der  Universitätsbibliothek  in  Lund 
oder  —  falls  die  citierten  werke  dort  nicht  vorhanden  sind  —  auf  der  königl.  biblio- 
thek  in  Stockhobn,  eventuell  auf  der  Universitätsbibliothek  in  Upsala,  ehe  das  Impri- 
matur erteilt  wird,  nachgeschlagen  werden. 

4)  Auch  die  typographische  ausstattuug  verdient  uneingeschränktes  lob.  Da- 
durch, dass  man  6  verschiedeue  Schriftgattungen  verwendet  hat  (das  Gi-immscho 
Wörterbuch  braucht  deren  nur  4)  ist  der  dmck  ausserordentlich  klar  und  übersichtlich 


398  BAHLMANN 

sehen  Wörterbuches  den  nhd.  Sprachschatz  nach  einem  voUkommneren  plane  (wie  ein 
solcher  z.  b.  von  H.  Paul  in  den  Sitzungsberichten  der  königl.  bairischen  akademie, 
philos.-philol.  u.  histor.  kl.  1894,  s.  53  —  91  aufgestellt  ist^)  zu  sammeln,  so  wird 
uns  das  Wörterbuch  der  schwedischen  akademie  in  mehrfacher  hinsieht  als  niuster 
dienen  können.  Wünschen  wir,  dass  das  grosse  unternehmen,  das  von  dem  schwe- 
dischen Volke  mit  stolzer  freude  und  wärmster  begeisterung  aufgenommen  worden  ist 
(nach  ausgäbe  des  3.  heftes  betrug  die  zahl  der  subscribenten  aus  allen  schichten 
der  bevölkerung  bereits  3600)  einen  rüstigen  fortgang  nehmen  und  dass  es  den  jetzi- 
gen mitarbeitern  (neben  K.  F.  Söderwall,  E.  H.  Tegner  und  Gust.  Cederschiöld 
sind  besonders  E.  Hellqvist,  Th.  Hjelmqvist,  Ev.  Ljunggren,  Magnus  Lund- 
gren  und  A.  Malm  zu  nennen)  vergönnt  sein  möge,  es  dereinst  in  seiner  Vollen- 
dung zu  schauen.  Im  günstigsten  falle  —  wenn  die  Zuschüsse  von  der  akademie 
fortdauernd  in  gleichem  umfange  gewährt  werden  können  und  dem  buche  die  bereit- 
willige hilfe  geschulter  fachmänner  erhalten  bleibt  —  kann  es  in  20  —  30  jähren  fer- 
tig sein. 

geworden,  und  die  scharfen  typen  ermüden  auch  bei  längerem  lesen  das  äuge  durch- 
aus nicht. 

1)  Vgl.   dazu  (j.  Cederschiöld,    Ora    de   seuast    framställda   fordringarna  pä 
en  historisk  ordbok  (Einladungsschrift  von  Göteborgs  högskola  1894). 

KIEL,    10.  SEPT.    1895.  HUGO    GERING. 


Esther  im  deutschen  und  neulateinischen  drama  des  reformations- 
zeitalters.  Eine  litte  rarhistorische  Untersuchung  von  Rudolf  Sohwartz.  Olden- 
biu-g  und  Leipzig.  1894.     VIII,  276  s.     4  m. 

Nachdem  R.  Pilger  im  11.  bände  dieser  Zeitschrift  zuerst  einen  biblischen 
stoff  (Susanua)  durch  alle  dramen  des  16.  Jahrhunderts  verfolgt  und  deren  abhängig- 
keit  von  einander  dargelegt  hat,  sind  ähnliche  versuche  widerholt  unternommen  wor- 
den: die  dramen  vom-  verlorneu  söhne  untersuchte  1880  H.  Holstein  und  1886/88 
Er.  Spengler,  die  dramatisierungen  des  ägyptischen  Joseph  1887  A.  v.  Weilen,  die 
Estherdramen,  über  die  namentlich  Holstein  schon  wertvolles  material  erbracht, 
neuerdings  Schwartz  in  dem  vorliegenden  buche. 

Schwartz  unterscheidet  nach  der  litterarischen  Zusammengehörigkeit  drei  grup- 
pen.  Die  erste  umfasst  die  von  einander  unabhängigen  bearbeitungen  des  Hans  Sachs 
(1536  und  1559)  und  des  Valten  Voith  (1537),  die  sich  eng  dem  biblischen  Wort- 
laut anschliessen ,  das  drama  des  Andreas  Pfeilschmidt  (1555),  der  seine  Vorgänger 
zwar  gekannt,  aber  nie  wörtlich  ausgeschrieben  hat,  das  stark  dui'ch  Pfeilschmidt 
beeinflusste  stück  Josias  Murer's  (1567),  die  im  wesentlichen  auf  Murer,  aber  auch 
auf  Pfeilschmidt  ruhende  Berner  Hester  (15G7)  und  die  fast  ganz  aus  Sachs,  Voith, 
Pfeilschmidt  und  Locke's  Verlornem  söhn  zusammengetragene  komödie  des  Marcus 
Pfeifer  (1621).  Die  zweite  gruppe  coucentriert  sich  um  den  „Hamanns"  des  Thomas 
Naogeorgus  (1543),  den  Joh.  Chryseus  (1546)  wie  Joh.  Mercurius  und  Joh.  Postius 
(ca  1570?)  übersetzte,  ein  anonymes  Jesuitendrama  aus  den  jähren  1576/79  auffal- 
lenderweise ganz  und  Damian  Lindtner  (1607)  in  deutscher  Übersetzung  zum  teil  in 
sich  aufnahm,  und  zu  dessen  fünf  akten  Caspar  Wolf  (1601)  dialogisierte  argumente  — 
von  Schwartz  s.  267  fgg.  abgedruckt  —  lieferte,  während  Wolifgang  Kuntzel  (1564), 
der  auch  Pfeilschmidt  und  Hans  Sachs  benutzt,   gleich  Georg  Mauricius  dem  älteren 


ÜBKR    RCHWARTZ,    ESTHER    IM    DRAMA  399 

(1697)  die  Übersetzung  des  Chryseus  in  stärkster  weise  ausgebeutet  hat.  Die  dritte 
gruppe  endlich  bilden  diejenigen  dramen,  die  weder  mit  den  früher  behandelten 
stücken  noch  unter  einander  in  direktem  zusammenhange  stehen,  nämhch  die  Esther 
der  englischen  komödianten  (1620),  eine  puppenkomödie  aus  dem  17.  Jahrhundert, 
das  ziemlich  gleiehalterige  spiel  von  der  stolzen  Vasthi  und  die  neulateinischen  dra- 
men des  Franciscus  Eutrachelius  (1548),  Cla\idius  Roilletus  (1556),  Cornelius  Lauri- 
manus  (1560),  Petrus  Philicinus  (1562),  Herm.  Fabronius  (1600)  und  Jac.  Zevecotius 
(3.  aufläge:  1628). 

In  dem  nachweis  der  abhängigkeitsverhältnisse,  die  ein  auf  s.  171  gebotenes 
stemma  veranschaulicht,  lifgt  der  hauptweii  von  Schwartz's  trefflicher  arbeit.  Die 
dankenswerten  ausführlichen  analysen  erleichtern  nicht  nur  die  nachprüfung,  sondern 
bilden  auch  einen  für  mancherlei  zwecke  aiisreichenden  ersatz  für  die  zum  teil  nur 
schwer  zugänglichen  originale;  über  die  verloren  gegangenen  Estherdramen  des  land- 
grafen  Moriz  von  Hessen  (1597)  und  des  Joh.  Val.  Andreae  (1602)  haben  sich  leider 
nicht  einmal  ganz  kurze  Inhaltsangaben  beibringen  lassen. 

Den  von  Schwartz  noch  besprochenen  6  Jesuiten  -  scenarien  aus  dem  17.  Jahr- 
hundert war  das  in  Weller's  Annalen  11,  289  nachgewiesene  Augsburger  program  m 
vom  jähre  1672  hinzuzufügen.  Betreffs  einer  anderen  synopse  —  „Gestürtzte  Hof- 
fartt  und  Erhöhete  Tugendt,  Dieses  an  Mardochaeo,  Jenes  an  Aman"  — ,  die  1665 
in  Meppen  ausgeteilt  worden,  sei  auf  meine  im  nächsten  beiheft  des  Centralblatts 
für  bibliothekswesen  erscheinende  Zusammenstellung  der  Jesuitendramen  der  nieder- 
rheinischen ordensprovinz  verwiesen;  nach  derselben  haben  die  väter  auch  1708  und 
1742  in  Hildesheim,  1736  in  Jülich,  1744  in  Koblenz  und  1768  in  Köln  Esther- 
aufführungen veranstaltet.  Die  neuesten  dramatischen  bearbeitungen  des  Estherstof- 
fes in  deutscher  spräche  sind  in  Grethlein's  Allg.  deutschen  theaterkatalog  (Münster 
1894,  sp.  171)  verzeichnet. 

MÜNSTER    l/w.  P.    BAHLMANN. 


Niclaus  Mauuel's  Satire  om  den  syge  Messe  i  dansk  bearbejdelse  fra 
reformationstiden  udgivet  af  S.  Birket  Smith.  Kobenhavn,  Thiele.  1893. 
XLVI,  49  s.     8.     (=  Universitets-jubilaeets  danske  samfund  nr.  69.) 

In  der  schweizerischen  reformationsgeschichte  bildet  das  im  Januar  1528  unter 
Vadians  vorsitz  zu  Bern  gehaltene  religionsgespräch  einen  bedeutungsv^oUen  Wende- 
punkt; denn  während  anderthalb  jähre  zuvor  die  Badener  disputation  zwischen  den 
katholiken  Eck,  Faber  und  Murner  und  den  evangelischen  Oekolarapadius  und  Hal- 
ler keinen  entscheidenden  erfolg  nach  der  einen  oder  andren  seite  gebracht  hatte,  so 
zogen  diesmal  die  drei  genannten  Wortführer  der  katholischen  sache  vor,  überhaupt 
nicht  zu  erscheinen,  und  in  Bern  wurde  alsbald  der  gottesdienst  nach  evangelischer 
weise  eingeführt.  In  diesen  tagen  verfasste  der  reichbegabte  Berner  maier  und  dich- 
ter Niclaus  Manuel,  der  bei  der  disputation  das  amt  eines  rufers  versah,  seine  glän- 
zende Satire  „Krankheit  der  messe".  Mit  urkräftigem  humor  führt  dies  prosagespräch 
die  personificierte  messe  als  eine  schwindsüchtige  kranke  vor,  der  ihre  frexmde  ver- 
geblich auf  allerlei  weise  zu  helfen  suchen.  Der  papst  sendet,  als  er  hört,  dass  ihr  die 
badenfahrt  nichts  genützt  habe ,  den  doktor  Rundeck  (Eck)  iind  den  apotheker  Heioho 
(Faber)  zu  ihr;  aber  keins  ihrer  mittel  schlägt  an,  weder  das  bad,  noch  ihr  geschrei, 
das  fegfeuer,  die  hostie,  das  heilige  öl  und  die  geweihten  kerzen,  so  dass  endlich 
die  ärzte  um  ihren  lohn  besorgt  davonlaufen. 


400  BOLTE,   ÜBER   MANUELS    STGE   MESSE   ED.   BIRKET  SMTH 

Wie  durchschlagend  diese  schrift  Manuels  auch  ausserhalb  der  Schweiz  wirkte, 
beweist  die  grosse  zahl  von  nachdrucken  und  bearbeitungen ,  die  Baechtold  in  seinem 
N.  Manuel  (1878  s.  CLXXVIII)  und  in  seiner  Litteratm-geschichte  der  Schweiz  (1892. 
Anhang  s.  74  und  135)  und  B.  Wenzel  (Camnierlauder  und  Vielfeld.  Eostocker  diss. 
1891  s.  33.  69)  verzeichnet  haben.  Unter  diesen  fehlt  jedoch  das  oben  genannte 
dänische  gedieht,  mit  dem  uns  S.  Birket  Smith,  der  bewähiie  kenner  der  älteren 
dänischen  litteratur,  durch  einen  sorgfältigen  neudruck  bekannt  macht.  Es  führt  den 
titel:  Dialogus  |  En  greselig  ond  tiende  som  |  Bauen  fick  til  Rom  om  den  Bapistiske  | 
Messe  som  er  det  ypperste  hoffuitsticke  i  |  hans  oc  Anthechristens  Kircke,  Och  ]  huad 
suar  band  oc  hans  hellige  aan-  |  delige  selffskaff  der  til  swaret  |  haffue.  |  M.D.xxxiij  | 
20  bl.     8.     0.  0.     (Der  ungenannte  druoker  ist  Joh.  Hochstraten  zu  Malraö). 

Der  Verfasser  ist  trotz  der  vom  herausgeber  aufgewandten  mühe  nicht  zu 
ermitteln  gewesen.  Seine  bearbeitung  verrät  überall  das  bestreben,  die  Satire  Manuels 
zu  nationalisieren,  ihr  dänische  lokalfarbe  zu  verleihen,  und  zwar  nicht  nur  in  der 
einführung  dänischer  heiligen  (vor  gamle  s.  Enud,  den  gamle  fru  Liseke),  städte 
und  redensarten,  sowie  in  der  einschaltung  einzelner  von  Smith  s.  XXXII  besonders 
zusammengestellter  verspartien,  sondern  auch  in  der  hervorhebung  dänischer  Vor- 
kämpfer der  katholischen  lehre.  Wie  in  Manuels  dialoge  das  Badener  und  Berner 
religionsgespräch ,  so  bildet  hier  der  im  juli  und  august  1530  zu  Kopenhagen  gehal- 
tene herrentag,  auf  dem  derselbe  gegensatz  von  der  altkirchlicheu  und  der  reforma- 
mationspartei  ausgefochten  wurde,  den  deutlich  wahrzunehmenden  hintergrund.  An 
stelle  Rundecks  und  Heiohos  sendet  der  papst  die  doktoren  Johan  Ulf  und  Stagebrand 
zur  kranken  messe,  unter  denen  der  kanonikus  Hans  Jacobsen  Ulf  zu  Lund  und  der 
deutsche  dr.  Stagefyr  zu  verstehen  sind;  der  mönch  Agrist  heisst  im  dänischen  Bro- 
der Dirick  Wendekaabe  (d.  h.  Manteldreher),  was  ein  anderwärts  belegter  Spottname 
für  Beul  Helgesen  ist,  usf.  Von  besonderem  Interesse  ist  mm,  dass  diese  an  sich 
naheliegende  anpassung  der  schweizerischen  satire  an  die  dem  bearbeiter  und  seinem 
pubUkum  vertrauten  Verhältnisse  und  personen  schon  vorher  einmal  in  Deutschland 
durchgeführt  war  in  der  von  Baechtold  (Manuel  s.  CLXXXI)  mit  c  bezeichneten 
Umarbeitung  vom  jähre  1529,  die  z.  b.  die  beiden  ärzte  dr.  Aleueld  zu  Halle  und 
dr.  Mensing  zu  Dessau  nennt,  und  dass,  wie  schon  die  vergleichung  der  titel  lehrt, 
der  dänische  anonymus  diese  Umarbeitung,  von  der  noch  im  selben  jähre  1529  eine 
niederdeutsche  ausgäbe  erschien,  vor  äugen  gehabt  und  benutzt  hat.  Der  heraus- 
geber hat  durch  eine  vergleichung  der  drei  deutschen  texte  mit  dem  dänischen 
(s.  XXVII)  festgestellt,  dass  die  hochdeutsche  Umarbeitung  von  1529  dem  dänischen 
gedichte  am  nächsten  steht,  dass  dieses  aber  ausserdem  einzelne  ausdrücke  enthält, 
die  zum  Originaltexte  Manuels,  aber  nicht  zu  jener  Umarbeitung  stimmen.  Wenn 
man  nicht  annehmen  will,  dass  der  Däne  zwei  verschiedene  deutsche  drucke  benutzt 
hat,  so  bleibt  nur  die  folgenmg  übrig,  die  auch  S.  zieht,  dass  noch  eine  uns  unbe- 
kannte deutsche  fassung  existierte,  die  zwischen  Manuel  und  der  Umarbeitung  von 
1529  in  der  mitte  stand.  Vielleicht  lohnte  es  überhaupt,  einmal  genauer  der  text- 
geschichte  der  deutschen  flugschrift,  durch  die  ja  auch  der  dialog  von  Roy  und  Bar- 
low  Rede  me  and  be  not  wrothe  (1528.  Neudruck  von  E.  Arber  1871)  beeinflusst  zu 
sein  scheint,  nachzugehen  und  sich  dabei  die  von  S.  gegebenen  winke  zu  nutze  zu 
machen. 


BOLTE,    ÜBER    WOLKAN,    KIRCHENLIED    DER    BÖHM.    BRÜDER  401 

Das  deutsche  kirchenlied  der  böhmischen  brüder  im    IG.  jahrhiiudert. 
Von  R.  Wolkaii.     Prag,  A.  Haase.  1891.     V,  178  s.     8.     3  m. 

Die  vorliegende  Untersuchung,  die  hier  ohne  schuld  des  referenten  verspätet 
zur  anzeige  gelaugt*,  ist  entstanden  im  anschlusse  an  das  grössere  unternehmen  Wol- 
kans  „Böhmens  auteil  an  der  deutschen  litteratur  des  1(3.  jahrhundeiis".  Sie  gilt  in 
erster  linie  der  dichterischen  tätigkeit  des  Schlesiers  Michael  Weisse,  der  als  pre- 
diger  der  deutschen  gemeinde  der  böhmischen  brüder  zu  Landskrou  1531  eine  alle 
bisher  erschienenen  protestantischen  gesangbücher  an  umfang  weit  übertreibende 
Sammlung  gei.stlicher  lieder  samt  den  melodien  dazu  herausgab.  Von  den  zahlreichen 
abdrücken,  die  mau  bequem  in  Goedekes  Grundriss-2,  235  fg.  überblicken  kann, 
sind  zwei  von  besonderer  Wichtigkeit,  die  1544  von  Joh.  Hörn,  dem  bischofe  der 
böhmischen  briider,  zu  Nürnberg  veranstaltete,  verändei-te  und  vermehrte  ausgäbe 
und  die  1566  von  Michael  Tham  besorgte,  als  deren  druckort  vermutlich  Prag  anzu- 
nehmen ist.  Durch  eine  sorgsame  vergleichung  hat  AVolkau  das  Verhältnis  dieser 
liedersammlungen  zu  einander  festgestellt:  die  älteste  enthält  157  eigne  dichtuugeii 
Weisses,  die  zweite  scheidet  vier  davon  aus  und  bringt  32  neue,  1566  erscheinen 
unter  den  348  nummern  des  hauptteils  180  jüngere  lieder  von  Joh.  Geletzky,  Michael 
Tham,  Petrus  Herbert  u.  a.,  während  in  einem  anhange  108  nicht  von  böhmischen 
brüdern,  sondern  von  Luther  uud  seioen  genossen  herrührende  lieder  vereinigt  sind. 
Die  ausgäbe  von  1544  besitzt  ein  besonderes  Interesse  durch  die  darin  sich  kund- 
gebende annäherung  der  böhmischen  brüder  an  Luthers  abendmahlslehre;  nicht  bloss 
im  Vorworte,  das  man  bei  Wolkau  Böhmens  anteil  1,  12  fg.  übersichtlich  abgedruckt 
findet,  ist  das  ausgesprochen,  sondern  es  sind  auch  mehrere  lieder  Weisses,  der 
schon  1534  verstorben  war,  in  diesem  sinue  abgeändert.  Die  32  neuen  lieder,  die 
man  bisher  allgemein  dem  herausgeber  Hom  zuschrieb,  nimmt  Wolkan  gleichfalls 
für  Weisse  üi  ansprach,  ohne  dass  er  völlig  durchschlagende  gründe  vorbrächte. 
Die  Übereinstimmung  mit  den  unzweifelhaften  dichtuugeu  Weisses  in  Inhalt  und  form 
beweist  allein  noch  nicht  seine  Verfasserschaft;  wertvoller  ist  das  nebenher  in  emer 
anmerkung  auf  s.  76  erwähnte  geständnis  Horns,  er  als  geborener  Tscheche  sei  in 
deutscher  spräche  nicht  so  geschickt  wie  sein  freund  Weisse.  Man  wird  also  Wolkan 
wol  die  Wahrscheinlichkeit  seiner  behauptuug  zugestehen  müssen. 

An  Weisse  ist,  obschon  er  sich  bei  seiner  fruchtbaren  tätigkeit  öfter  widerholt 
und  nicht  immer  gleich  geleak  in  der  darstelluug  zeigt,  wahres  dichterisches  vermö- 
gen, natürlichkeit  und  volksmässigkeit  zu  rühmen,  wie  ihn  auch  Luther  1545  aus- 
drücklich einen  „guten  poeten"  genannt  hat.  Seine  bedeutung  ist  jedoch  durch  die 
ungeprüft  widerholte  angäbe,  er  habe  nur  ältere  tschechische  kirchenlieder  übertra- 
gen, bisher  herabgedmckt  worden.  Wolkan  verhilft  ihm  zu  seinem  rechte,  indem  er 
jene  bemerkung  als  irrig  nachweist.  In  dem  tschechischen  kirchenliederschatze ,  des- 
sen erste  Sammlung  schon  1501  erschien,  finden  sich  zu  den  157  nummern  des  gesang- 
buches  vom  jähre  1531  nur  16  parallelen,  darunter  allerdings  Weisses  bekannteste 
dichtuug  „Nun  lasst  uns  den  leib  begraben",  zu  den  32  zusatzliedern  der  Hornschen 
Sammlung  9;  uud  auch  bei  diesen  ist  nicht  überall  die  benutzung  des  tschechischen 
liedes  unzweifelhaft,  sondern  es  mag  hie  und  da  auch  die  Übereinstimmung  aus  der 
gemeinsamen  lateinischen  vorläge  zu  erklären  sein.  Denn  ebenso  wie  Luther  hat 
Weisse  die  lateinischen   kirchenlieder  verwertet  und  sich  öfter  durch   die  deutschen 

1)  Eine  ausführlichere  besprechung,  die  der  referent  vor  längerer  zeit  an  die 
redaktion  dieser  Zeitschrift  sandte,  gieng  auf  der  post  verloren. 

ZEITSCHRIFT    F.    DEUTSCHE    PHILOLOGIE.     BD.   XXVni.  <^^ 


402  BOLTE,    ÜBER    WOLKAN,    KIRCHENLIED    DER    BÖHM.    BRÜDER 

gesänge  Luthers,  Speratus'  imd  andrer  Protestanten,  wie  sich  aus  der  Verwendung  ihrer 
melodien  und  einzenen  anklängen  ergibt,  anregen  lassen.  Dagegen  treten  uns  in  dem 
cautional  von  156G  zahlreiche  direkte  Übersetzungen  tschechischer  originale  entgegen: 
von  Herbert  36  nuiumeru,  von  Tliani  12,  von  Geletzky  9  usw.  Dies  resultat  von 
"Wolkans  forschuug,  über  das  ich  kein  eigenes  urteil  abzugeben  vermag,  erhält  seine 
bestätigung  durch  eine  Untersuchung,  die  J.  T.  Müller  in  Herrnhut  kurz  zuvor  unab- 
hängig von  Wolkan  angestellt  und  in  J.  Jnlian's  Dictionary  of  Hymnology  (London 
1892  s.  153—160)  unter  dem  titel  Bohemian  Bretivens  Hyvmodij  veröffentlicht  hat. 
Den  beschluss  'des  verdienstvollen  buches  (s.  103  — 178)  bildet  ein  alphabe- 
tisches Verzeichnis  der  bis  1639  veiöffentlichten  kirchenlieder  der  böhmischen  brüder, 
das  nicht  nur  die  strophenzahl,  Verfasser,  quelle  und  fundort  angibt,  sondern  auch 
die  gesangbüclier  Deutschlands  vermerkt,  in  denen  das  einzelne  lied  aufnähme  fand. 
Es  geht  daraus  hervor,  dass  die  lieder  der  böhmischen  brüder  einen  wesentlichen 
bestandteil  des  protestantischen  liederschatzes  des  16.  Jahrhunderts  gebildet  haben 
und  namentlich  auch  in  Niederdeutschland  verbreitet  gewesen  sind. 

BERLIN.  JOHANNES    BOLTE. 


Die  Singspiele  der  englischen  komödianten  und  ihrer  nachfolger  in 
Deutschland,  Holland  und  Skandinavien.  Von  Johannes  Bolte.  (Thea- 
tergeschichtliche foi'schungen,  VlIL)  Hamburg,  Leopold  Voss.  1893.  VIII  und 
194  s.     5  ra. 

Den  grossen  Verdiensten,  welche  sich  Bolte  um  die  erforschung  unserer  litte- 
ratur  schon  erworben,  hat  er  durch  die  vorliegende  vortreffliche  arbeit  ein  neues 
hinzugefügt.  Eine  darstellung  des  englischen  Singspiels  und  seiner  wii'kung  auf  deut- 
schem boden  war  bei  der  bedcutung,  welche  diese  litteraturgattung  in  der  deutschen 
dichtung  des  17.  Jahrhunderts  einnimmt,  durchaus  notwendig;  allein  sie  konnte  nur 
einem  forscher  gelingen,  der  wie  Bolte  das  gesamte,  auf  den  verschiedensten  biblio- 
theken  zerstreute  weitschichtige  material  kennt  und  beherrscht.  Einer  trotz  ihrer 
kürze  über  Ursprung,  charakter  und  melodien  der  Singspiele  eingehend  orientierenden 
einleitung  folgt  ein  sehr  praktisch  angelegtes  erschöpfendes  verzeich.ms,  das  (Ayrer 
eingeschlossen)  zweiunddreissig  nummern  umfasst,  darunter  viele  in  verschiedenen 
fassuugen.  Im  einzelnen  wird  unsere  kenntnis  vielfach  bereichert,  aber  auch  für  die 
bedeutenderen  fragen  weiss  Bolte  überraschend  viel  neues  beizusteuern.  So  wird  bei 
Keller,  Fastnachtsspiele,  H,  1013  —  20:  Ein  iveyl  last  vns  beysamen  hleyhen  hier 
(s.  11)  zum  ersten  male  in  seiner  bedeutung  erkannt  und  richtig  eingereiht;  für  die 
melodie:  lek  ben  tot  Amsterdam  gewesen  wird  s.  22  fg.  ein  augenscheinlich  von  den 
Singspielen  der  englischen  komödianten  angeregter  liebesdialog  (um  1615)  aus  einer 
Kopenhagener  abschrift  bekannt  gemacht;  ferner  weist  Bolte  für  die  Singspiele:  „Die 
doppelt  betrogene  eyfersucht"  eine  der  vorläge  nahe  verwandte  fassung  sowie  auch 
eine  holländische  fassung  der  vorläge  nach.  Besonders  bemerkenswert  ist  der  nach- 
weis,  dass  das  Singspiel:  „Harlequins  hochzeit"  dem  Christian  Eeuter  endgiltig  abzu- 
sprechen ist;  Bolte  hat  einen  Hamburger  druck:  „Der  lustige  Harlequiu"  aus  dem 
jähre  1693  aufgefunden,  sowie  auch  eine  aufführung  in  Görlitz  bereits  für  1694  nach- 
gewiesen. Entstanden  ist  das  Singspiel  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  in  Hamburg; 
der  name  des  Verfassers  lässt  sich  nicht  ermitteln,  auch  ist  auf  grund  des  mir 
bekannten  materials  keine  irgendwie  haltbare  Vermutung  über  seine  persönlichkeit 
aufzustellen.     Reuters  text  weist  eine  stattliche  zahl  von  verändeningen  und  Zusätzen 


ELLINCiER,    ÜBER    BOLTE ,    SINGSPIEL    DER    ENGL.  KOMÖD.    —    GERHARD,    J.  P.  DE  MEMEL    403 

auf;  doch  ist  es  zweifelhaft,  ob  diese  aüu  voii  ihm  selbst  herrühreii,  da  es  wenig- 
stens schon  lüO-i,  wie  die  notiz  über  die  Görlitzer  aufführung  beweist,  mindestens 
noch  einen  anderen  druck  mit  dem  passenderen  titel:  „Harlequius  hochzeit"  gab; 
unmöglich  wäre  es  nicht,  dass  die  bei  lieuter  erscheinenden  abweichuugeu  —  ganz 
oder  zum  teil  —  in  diesem  schon  vorhanden  gewesen  wären. 

Besonders  erfreulich  ist  es,  dass  Bolte  bei  seinen  Untersuchungen  sich  nicht 
auf  Deutschland  beschränkt,  sondern  ausser  den  englischen  vorlagen  auch  die 
niederländische  und  skandinavische  litteratur  berücksichtigt  hat.  "Wir  können  aus 
seinen  nachweisen  erkennen,  einer  wie  grossen  gunst  sich  das  Singspiel  auch  in  den 
ausserdeutschen  germanischeu  ländern  erfreute.  Niclit  selten  bildet  Deutschland  den 
vermittler  (vgl.  z.  b.  25  b.  und  25  d.);  zuweilen  aber  sind  auch  die  stücke  unmittel- 
bar den  englischen  originalen  nachgebildet.  —  Für  die  äussere  form  erhalten  wir  den 
interessanten  nachweis,  dass  ausser  den  durchweg  gesungenen  stücken  bereits  in 
England  selbst  Singspiele  vorkamen,  in  denen  die  verspartieen  mit  prosastellen  ab- 
wechselten (vgl.  den  text  von  „The  Black  Man",  s.  84  fgg.).  Die  tatsache  hatte  ich 
für  die  deutschen  Singspiele  bereits  aus  den  Singspielen  des  Verfassers  der  „Kunst 
über  alle  künste"  erschlossen,  vgl.  Herrigs  archiv,  8S,  s.  280  fgg.;  ich  freue  mich, 
sie  hier  durch  ganz  neues  material  bestätigt  zu  sehen. 

Eine  sehr  wertvolle  zugäbe  bilden  die  im  anhange  mitgeteilten  melodieen; 
erst  durch  die  berücksichtigung  der  bisher  ganz  vernachlässigten  musikalischen  Seite 
wird  die  möglichkeit  gewährt,  zu  einem  totalbilde  der  gattung  vorzudringen.  So  hat 
der  Verfasser  allen  teilen  des  so  vielfach  verzweigten  Stoffes  die  gleiche  Sorgfalt  und 
aufmerksamkeit  zugewendet  und  eines  der  wichtigsten  kapitel  aus  der  geschichte  des 
deutschen  dramas  im  17.  Jahrhundert  in  musterhafter  weise  erschöpfend  behandelt. 

BERLIN.  GEORG   ELLINGER. 


Joh.  Peter  de  Memels  Lustige  gesellschaft.  Von  Ferdiuaiul  Clerliard.  Nebst 
einer  Übersicht  über  die  schwank -litteratur  des  17.  Jahrhunderts.  Halle,  Max 
Niemeyer.  1893.     127  s.     2,80  m. 

Die  vorliegende  schrift  scheint  eine  erstlingsarbeit  zu  sein;  manche  ausführun- 
gen  des  Verfassers  wären  besser  weggeblieben,  so  z.  b.  der  versuch,  an  der  band 
von  Kuno  Fischers  buch:  „Über  die  entstehung  des  witzes"  das  wesen  des  scliwan- 
kes  zu  definieren.  Anderes  konnte  kürzer  und  bündiger  zusammengefasst  werden. 
Doch  verdient  die  arbeit  entschieden  beachtuug,  da  sie-  der  erste  nennenswerte  ver- 
such ist,  in  ein  der  hauptsache  nach  wenig  bekanntes  gebiet  einzuführen.  Im  ersten 
teil  hat  der  Verfasser  zahlreiche  schwankbücher  und  verwandte  Sammlungen  des  17. 
Jahrhunderts  zusammengestellt  und  jedes  werk  der  gattung  kurz,  wenn  auch  zuweilen 
mit  etwas  zu  allgemeinen  ausdrücken  charakterisiert.  Der  zweite  teil  bringt  eine  aus- 
führliche analyse  der  „Lustigen  gesellschaft",  deren  verschiedenartige  bestandteile  auf- 
gezählt und  im  einzelnen  zerlegt  werden.  Ein  Verzeichnis  der  ausgaben  schliesst  sich 
an;  das  Verhältnis  der  einzelnen  ausgaben  zu  einander  wird  bestimmt,  die  verfasser- 
frage erörtert,  jedoch  ohne  dass  ein  sicheres  resultat  zu  verzeichnen  wäre.  In  dem 
Schlusskapitel:  „Einfluss  der  Lustigen  gesellschaft  auf  die  schwanklitteratur"  würde 
eine  schärfere  sonderung  am  platze  gewesen  sein. 

BERLIN.  GEORG   ELLINGER. 


26  = 


404  LEITZMANN 

Gottscheds  Stellung  im  deutsclien  bilduugsleben.  Von  Eugen  Wolff. 
I.  band.  Kiel  iiud  Leipzig,  Lipsius  und  Tischer.  1895.  VII  und  231  s.  6  m. 
Noch  immer  gehört  eine  abschliessende,  allseitig  eindringende  arbeit  über 
Gottsched  zu  den  unerfüllten  wünschen  unserer  litteraturgeschichte.  Vor  noch  nicht 
ganz  fünfzig  jähren  war  der  frühvollendete  Theodor  Wilhelm  Danzel  der  erste, 
der  auf  grund  eingehender  quellenstudien  einer  vormieilsfreien  betrachtung  des  viel- 
gescholtenen mit  seinem  buche  „Gottsched  und  seine  zeit"  (Leipzig  1848)  den  weg 
zu  eröifnen  versuchte.  Es  war  vorauszusehen,  dass  die  bewältigung  des  riesenhaften 
Stoffes  nicht  beim  ersten  anhieb  gelingen  konnte:  bei  einer  so  vielseitigen  arbeitskraft 
und  Wirkung,  wie  sie  Gottscheds  leben  repräsentiert,  mussten  notwendig  für  den 
ersten  betrachter  dieser  dinge  manche  selten  und  richtungen  in  den  Vordergrund  tre- 
ten, andre  minder  wichtig  erscheinen;  subjektive  neiguugen  mochten  mehr  unbewusst 
als  bewusst  hierbei  bestimmend  mitwirken;  die  verliebe  für  spekulative  konstruktiou 
haftete  Danzel  als  philosopheu  spekulativer  richtung  naturgemäss  an;  der  schwere 
düstere  ernst  seiner  natur  endlich  spiegelt  sich  in  dem  schweren  fluss  der  darstel- 
lung  unverkennbar  wider.  So  kam  es,  dass  in  Danzels  buche  das,  was  der  Verfas- 
ser sich  vorgenommen,  eine  unbefangene  Würdigung  und  ein  klares  historisches  Ver- 
ständnis von  Gottscheds  persönlichkeit,  doch  nicht  erreicht  wurde.  Lange  zeit  hat 
dann  auch  niemand  lust  verspürt  Danzels  pfaden  nachzu wandeln;  Danzel  selbst  hatte 
ja  das  motto  gewählt:  legimus  aliqua,  ne  leganhir.  Einen  vorzüglichen  lebensabriss 
Gottscheds  bescheerte  uns  1879  Michael  Bernays  in  dem  artikel  der  Allgemeinen 
deutschen  biographie  über  ihn.  Zwei  treffliche  abhaudlungen  von  Reicke  und 
Krause  [vgl.  Zeitschr.  25,  565.  27,  14.3]  beleuchteten  in  den  letzten  jähren  Gott- 
scheds Königsberger  lehrzeit  und  seine  späteren  beziehungen  zum  centrum  seiner 
ostpreussischen  heiniat.  Aber  der  mangel  einer  abschliessenden  arbeit  trat  immer 
fühlbarer  hervor.  Einem  grössern  werke  über  Gottsched  dürfen  wir  von  Gustav 
Waniek's  band  entgegensehen,  der  auch  eine  neue  auswahl  aus  seiner  korrespon- 
denz  in  aussieht  gestellt  hat,  die  hoffentlich  bald  erscheint.  Nun  hat  neuerdings 
Eugen  Wolff  zwei  in  der  festschiift  für  Rudolf  Hildelu'and  und  in  der  Zeitschrift 
für  deutschen  Unterricht  erschienene  arbeiten  über  Gottsched  zu  einem  ersten  bände 
eines  auf  zwei  bände  berechneten  Werkes  über  Gottscheds  Stellung  im  deutschen  bil- 
dungslebeu  vereinigt. 

Das  erste  kapitel  behandelt  „Gottscheds  Stellung  in  der  geschichte  der  deut- 
schen spräche"  (s.  1  —  90).  Seine  sprachlichen  bestrebungen  zur  reinigung  und  festi- 
gung  einer  hochdeutschen  gemeiusprache  traten  ein  1)  für  das  deutsche  überhaupt 
im  gegensatze  zum  gebrauch  des  lateinischen  und  französischen  und  dem  fremdwör- 
temnwesen,  2)  für  gemeindeutsch  durch  betonung  der  mitteldeutschen  gnmdlage  und 
reinigung  von  dialektischen  eigeutümlichkeiten,  3)  für  correctes  deutsch  durch  wert- 
volle grammatiche  arbeiten,  endlich  4)  für  elegantes  deutsch.  Demgeinäss  gliedert 
sich  Wolffs  darstelkmg  in  diese  vier  abschnitte,  denen  als  fünfter  eine  betrachtung 
über  prosaische  und  poetische  Sprachbehandlung  folgt.  Das  ganze  kapitel  ist  im 
wesentlichen  keine  darstellung,  weder  eine  biographische,  noch  eine  kritisch -histo- 
rische, sondern  eine  äusserst  dankenswerte  materialsammlung,  der  vor  allem  die 
reiche  in  Leipzig  und  Dresden  aufbewahrte  Gottschedsche  korrespondenz  und  der 
Bodmersche  briefnachlass  zu  gründe  liegen.  Für  diese  klare  und  übersichtliche  Zu- 
sammenstellung eines  reichen  materials  wissen  wir  Wolff  ganz  besondern  dank.  Dass 
auch  er  den  systematischen  gesichtspunkt  als  teilungsprincip  gewählt  hat,  scheint  fast 


ÜBER   WOLFF,    GOTTSCHED   I  405 

ein  Verhängnis  des  Stoffes  zu  sein:  auch  Danzels  buch  fällt  in  eine  reihe  nicht  recht 
zusammenhängender  abschnitte  auseinander. 

Mehr  im  stile  einer  historisch -kritischen  darstellung  ist  dagegen  das  zweite 
kapitel  „Gottsched  im  kämpf  um  die  aufklärung"  (s.  91  —  230)  gehalten;  es  ist  unzwei- 
felhaft das  bedeutendere  von  beiden.  Hier  wli"d  unsre  kenntnis  Gottscheds  nicht  nur 
durch  eine  eben  so  grosse  fülle  neuer  quellen,  sondern  auch  durch  den  glücklichen 
versuch  einer  geschichtlichen  bewältigimg  und  Würdigung  desselben  bereichert.  Sehr 
ansprechend  und  gut  wird  das  System  der  philosophischen  Überzeugungen  zur  zeit 
von  Gottscheds  auftreten  dargestellt.  Es  folgt  eine  feine  analyse  seiner  eigenen  spe- 
kulativen entwicklung  an  der  band  seiner  systematischen  arbeiten.  Dann  beleuchtet 
Wolff  seine  agitatorische  Stellung  in  den  bildungskämpfen  auf  dem  gebiete  der  theo- 
logie  und  philosophie;  ein  letztes  kapitel  berichtet  anhangsweise  von  der  gesellschaft 
der  alethophilen.  Kleine  missgriffe  in  der  disposition  stören  nur  unerheblich  den 
festgeschlossenen  bau  dieser  abhandlung,  welche  die  erste  weit  überragt  und  in  ihrer 
art  vorzüglich  ist. 

Möchte  es  dem  Verfasser  möglich  sein ,  uns  in  nicht  allzu  langer  zeit  auch  den 
in  aussieht  gestellten  zweiten  band  vorzulegen,  der  unter  anderm  auch  den  versuch 
einer  gesammtwürdigung  von  Gottscheds  pei'sönlichkeit  bringen  soll!  Die  oben 
erwähnte  zusammenfassende  behandlung  des  maunes  in  einer  grösseren  biographie 
und  A^'ollfs  buch  werden  voraussichtlich  mit  nutzen  neben  einander  bestehen  können. 

WKI.MAR,    19.  APRIL    1895.  ALBERT    LEITZMANN. 


Über  Hartman u   von   Aue.     Drei  bücher  Untersuchungen   von  Antou  E.  Schöu- 
bach.     Graz,  Leuschner  und  Lubensky.  1894.     VIII  und  502  s.     12  m. 

Zusammen  mit  seinen  lehrreichen  Otfridstudien ,  deren  abschluss  mir  eben  zu- 
kommt, sind  die  vorliegenden  Untersuchungen  über  Hartmann  von  Aue  Schönbach  aus 
den  Vorbereitungen  zum  vierten  bände  seiner  Altdeutschen  predigten  erwachsen.  Wie 
wertvoll  es  für  die  litterargeschichtliche  betrachtung  unserer  mittelalterlichen  dich- 
ter ist  genauere  und  tiefere  kenntnis  der  kirchlichen  litteratur  des  mittelalters  zu 
besitzen,  sich  den  engen  Zusammenhang  von  kirche  und  leben  in  dieser  zeit  stets 
lebhaft  gegenwärtig  zu  halten,  das  lehren  diese  arbeiten  Schönbachs;  darin  liegt, 
ganz  abgesehen  von  den  faktischen  resultaten,  ihr  hoher  methodischer  wert.  Von 
einem  verhältnismässig  kleinen  augriffspunkte  aus,  der  betrachtung  der  religiösen 
anschauuugen  Hartmauns  im  Gregor,  ergab  sich  eine  tiefeindringende  klare  daiieguug 
des  künstlerischen  iind  menschlichen  Charakters,  der  ganzen  Persönlichkeit  eines  dich- 
ters,  über  den  wir  bereits  eine  umfängliche  litteratur  besitzen,  ohne  dass  uns  das 
gefühl  eines  sichern  abschlusses,  selbst  in  den  hauptfragen,  recht  fest  und  unum- 
stösslich  geworden  ist.  Ich  stehe  nicht  an  in  Schönbachs  buche  diesen  lange  ver- 
missten  abschluss  zu  sehen  und  glaube  nicht,  dass  wir  in  wesentlichen  punkten  über 
ihn  werden  hinauskommen  können.  Gründliche  und  scharfsinnige  gelehrte  kombina- 
tiou  verbindet  sich  hier  mit  geschmackvollster  darstellung,  die  die  errungenen  resultate 
in  krystallklare  sätze  zu  kleiden  versteht;  man  fühlt  sich  oft  unwillkürlich  an  Les- 
sings  philologische  arbeiten  erinneii.  Mit  recht  beklagt  der  Verfasser  in  der  vorrede, 
dass  die  deutsche  philologie,  vollauf  mit  dem  Studium  der  Sachen  um  der  werte  wil- 
len beschäftigt,  textkritischen ,  grammatischen,  metrischen  fragen  hingegeben,  „noch 
nicht  zeit  fand  die  altdeutschen  dichtwerke  aus  dem  zusammenhange  ihrer  zeit  und 
kultur  heraus  zu  erklären''  (s.  V).     Die  hauptmasse  moderner  germanistischer  arbeiten 


406  LEITZMANN,    ÜBER    SCHÖNBACH,    HARTMANN    V.    AUE 

passt  freilich  sehr  wenig  zu  dem  hohen  begriff  des  zieles  philologischer  forschung, 
das  uns  Heyne  und  Wilhelm  von  Humboldt  zuerst  leuchtend  aufgesteckt  haben.  Ich 
gebe  im  folgenden  ein  kurzes  referat  über  Schönbachs  Untersuchungen. 

Das  erste  buch  führt  den  titel  „Religion  und  Sittlichkeit"  (s.  1  —  176).  Es 
werden  hier  alle  stellen  Hartmannscher  gedichte,  welche  sich  auf  religiöse  und 
ethische  Vorstellungen  und  anschauungen  beziehen,  statistisch  verzeichnet  und  ein- 
gehend besprochen.  Erec  und  Iwein  stehen  sich  in  bezug  auf  die  erwähuung  von 
dingen,  welche  gott  und  gottesdienst  betreffen,  ganz  gleich.  Mehr  ausbeute  gewäh- 
ren nach  dieser  hinsieht  natürlich  die  beiden  legenden:  die  behandlung  des  Gregor 
ist  das  muster  eines  fortlaufenden  kommentars  (nur  s.  71  in  der  erkläruug  von  vers 
1552  muss  ich  Bech  gegen  Schönbach  recht  geben).  Hartmanns  ethisch -religiöse 
auffassung  der  dinge  ist  durchaus  die  in  der  kirchenlehre  seiner  zeit  herrschende 
gewesen. 

Das  zweite  buch  behandelt  Hartmanns  „bildung"  (s.  177  —  339):  seine  keunt- 
nis  der  antiken  litteratur,  seine  Vertrautheit  mit  der  bibel  und  den  kirchlichen  Schrift- 
stellern seiner  zeit,  seinen  bildungsgang  auf  geistlichem,  juristischem  und  ritterlichem 
gebiete ,  endlich  seine  auffassung  vom  aberglauben.  Aus  allen  quellen  mittelalterlicher 
bildung  hat  Hartmann  getrunken  und  Lachmanns  bisher  acceptierte  auffassung,  dass 
er  den  „anfaug"  eines  klösterlichen  Studiums  gemacht  habe,  muss  einer  besser 
begründeten  weichen,  dass  er  den  vorhandenen  bildungsstoff  im  reichsten  masse  in 
sich  aufgenommen  hat.  Durchaus  neu  und,  wenn  auch  nicht  in  allen  einzelheiten, 
so  doch  sicher  im  ganzen  überzeugend  dargelegt  ist  hier  die  auffassung  des  ersten 
büchleins  als  eines  regelrechten  altdeutschen  rechtshandels  mit  klage,  gegeuklage, 
wechselrede,  zurückziehen  der  klage  und  Versöhnung;  diese  auschauung  eröffnet  zum 
ersten  male  ein  klares  und  widerspruchsloses  verstcäudnis  des  schwierigen  gedichts, 
woneben  auch  die  textgestalt  durch  glänzende  besserungen  an  mehreren  stellen  ge- 
winnt (vgl.  besonders  s.  246).  Daraus  geht  nun  weiter  hervor,  dass  der  dichter  nach 
verlassen  der  klosterschule  sich  an  der  praktischen  rechtspflege  als  zuhörer  betei- 
hgt  haben  muss,  wie  wir  diesen  umstand  auch  sonst  für  junge  adliche  belegen 
können. 

Im  dritten  und  wichtigsten  buche  bespricht  Schöubach  Hartmanns  „kunst 
und  Charakter"  (s.  341— 480).  Hier  wendet  er  sich  zunächst  gegen  Sarans  athe- 
des  zweiten  und  des  von  ihm  so  genannten  schlussgedichts  im  ersten  büchlein  (die 
tesen  schon  Vogt  Zeitschr.  24,  243.  244  beanstandet  hatte),  nach  meinem  gefühl 
unbedingt  überzeugend.  Auch  mir  ist  immer  das  zweite  büchlein  als  ein  viel  zu 
gutes  gedieht  erschienen,  als  dass  ich  mich  dazu  hätte  verstehen  können  es  einem 
kompilator  zuzuschreiben.  Auch  gegen  Sarans  textlesungen  im  einzelnen,  von  denen 
ja  viele  recht  leichtsinnig  aufgestellt  sind,  macht  Schönbach  eine  reihe  begründeter 
einwendungen.  Die  dann  folgenden  abschnitte  über  Hartmanns  poetische  aai  und 
kunst  und  über  das  Verhältnis  des  künstlers  in  ihm  zum  menschen  gehören  zum 
feinsinnigsten,  was  überhaupt  über  einen  mittelhochdeutschen  dichter  geschrieben  ist. 
Bezüglich  der  chronologischen  fragen  hält  Schönbach  an  der  zuletzt  von  Saran  ein- 
gehend verteidigten  anschauung  fest,  dass  die  reihenfolge  der  grösseren  werke  Erec, 
Iwein,  Gregor,  Armer  Heinrich  gewesen  ist:  ich  glaube,  dass  man  keine  andre  mit 
mehr  und  einleuchtenderen   argumenten    stützen    kann^     Im    rahmen    dieser    letzten 

1)  Ich  kann  diesem  urteile  des  herrn  recensenten  nicht  zustimmen;  vgl.  Zeit- 
schrift 28,  47  fg.     0.  E. 


WITKOWSKI,    ÜBER    ÄLTENKRÜGKR,    NICOLAI  407 

Übersicht  über  Hartinauus  küustlerischen  uad  menschlichen  Charakter  hätte  ich  gern 
seine  besten  und  iuuerlichsteu  diclitungen,  die  kreiizlieder,  noch  einmal  besonders 
gewürdigt  gesehen. 

Leider  sind  die  zahlencitate  an  vielen  stellen  unzuverlässig,    während   druck 
und  ausstattung  sonst  vorzüglich  sind. 

WEIMAR,    1.  MÄRZ   1895.  ALBERT   LEITZMANN. 


Friedrich  Nicolais  Jugendschriften.     Von  Ernst  Altenkrüger.     Berlin,    Carl 

Heymann.  1894.     Yll  und  113  s.     2  m. 
Friedrich  Nicolais  hriefe  über  den  itzigen  zustand  der  schönen  Wissen- 
schaften in  Deutschland.  (1755.)    Herausgegeben  von  Georg' Ellinger  (Ber- 
liner neudrucke  III,  2.)     Berlin,  Gebr.  Paetel.  1894.     XXVIII  und  153  s.     5  m. 
Durch  eine  sonderbare,    aber  keineswegs  ungerechte  fügiing  ist  Nicolai  in  sei- 
ner litterarischen  Wirksamkeit  derselben  Verurteilung  verfallen,   wie  Gottsched,   durch 
dessen  bekämpfung  er  sich  als  Schriftsteller  die  sporen  verdient  hat.     Beide  bleiben 
nach  einem  kurzen,  jugendmutigen  vorstürmen,  das  sie  als  führer  auf  dem  wege  des 
fortschritts  erscheinen  lässt,  an  dem  schnell  erreichten  punkte  ihr  leben  lang  stehen 
und  erheben  ihre  stimme  nur  immer  angestrengter  und  mistönender,    um  von  den 
vorwärtseilenden,    sich  weiter  und  weiter  entfernenden  Zeitgenossen  noch  gehört  zu 
werden  und  sie  (wenn  möglich)  in  ihrem  laufe  aufzuhalten.    Durch  Lessing  ist  Gott- 
sched,   durch  Schiller  und   Goethe  ist  Nicolai  mundtot  gemacht  worden.     "Was   sie 
noch  ferner  zu  sagen  hatten,  verhallte  ungehört  und  eiuflusslos,    und  das  geschicht- 
liche urteil  war  ihnen  auf  lange  zeit  hinaus  unveränderlich  gesprochen. 

Mit  der  strengeren  historischen  auffassung  des  ganges  unsrer  Utteratur  trat 
aber  das  verdienstvolle  in  der  früheren  tätigkeit  beider  männer  hervor.  Seit  dem 
trefflich  belehrenden,  wenn  auch  schwerfälligen  buche  Danzels  hat  Gottsched  sich 
nicht  mehr  über  Unterschätzung  zu  beklagen.  Für  Nicolai  versuchen  nun  die  beiden 
oben  genannten  Schriften  eine  billigere  auerkennung  seiner  frühen  leistungen  herbei- 
zuführen; die  erste,  indem  sie  ein  gesamtbild  seiner  Jugendentwicklung  entwirft,  die 
zweite  durch  erneuerung  seines  frischesten  und  lunfangreichsten  erzeugnisses  aus  die- 
ser zeit.  ^ 

Alteuk rügers  arbeit  ist  offenbar  eine  dissertation  und  kann  als  solche  wol 
als  musterhaft  bezeichnet  werden.  Ein  geschickt  gewählter  gegenständ,  der  weder 
weite  gesichtspunkte  noch  beherrschung  grosser  gebiete  erfordert,  ist  gründlich  durch- 
gearbeitet, der  Stoff  übersichtlich  gruppiert  und  mit  vorsichtigem,  nicht  unselb- 
ständigem mteil  verwertet.  Der  Verfasser  benutzt  wertvolles  neues  material:  eine 
füUe  von  briefen  aus  Nicolais  nachlass,  bei  denen  nur  zu  bedauern  ist,  dass  er  sich 
fast  ausschliesslich  auf  die  mitteilung  der  daten  und  der  für  seine  darsteUung  ver- 
werteten tatsachen  beschränkt,  während  eine  anfühining  des  Wortlautes,  auf  den 
er  sich  stützt,  erwünscht  und  von  wert  gewesen  wäre.  Femer  ist  es  ihm  gelim- 
gen,  einige  bisher  unbekannte  Jugendarbeiten  seines  beiden  nachzuweisen.  Mit 
vierzehn  oder  fünfzehn  jähren  verfasste  er  ein  episch -didaktisches  gedieht  in  un- 
möglichen hexametern  zum  preise  Klopstocks  (beeinflusst  durch  diesen  und  durch 
Pyras  „Tempel  der  wahren  dichtkunst") ,  das  1752  durch  seinen  bruder  Gottlob 
Samuel  gegen  den  willen  des  jungen  dichters,  der  schon  hier  sehr  deutlich  ver- 
riet, dass  er  im  gründe  keiner  war,  veröffentlicht  wurde.     Auch  in  der  zweiten  von 


408  WITKOWSKI,    ÜBER    ELLINGER,    MCOLAI 

Altenkrüger  neu  ans  licht  gebrachten  schiift  Nicolais  sehen  wir  ihn  durch  die  niode 
in  eine  seinem  ganzen  wesen  widersprechende  richtuug  gedrängt.  Auch  er  hat 
„freundschaftliche  briefe"  verfasst;  vier  solche  in  der  von  seinem  freunde  Patzke  1754 
herausgegebenen  Sammlung  werden  als  Nicolais  eigentum  nachgewiesen.  Sein  vorbild 
waren  aber  dabei  offenbar  nicht  Gellerts  musterbriefe  (wie  Altenkrüger  meint),  son- 
der Gleims  „freundschaftliche  briefe"  von  1746.  Unrichtig  ist  es  auch,  wenn  der 
Verfasser  hier  die  atmosphcäre  des  briefwechsels  zwischen  Gleim  nud  Jacobi  zu  finden 
glaubt;  denn  in  der  zweiten  periode  von  Gleims  Anakreoutik  (seit  dem  ende  der 
sechziger  jähre),  der  dieser  angehört,  herrscht  ein  ganz  anderer  stil  und  eine  mehr 
süssliche  Stimmung,  die  sich  deutlich  in  der  früher  fehlenden,  übermässigen  Verwen- 
dung der  Amoretten  kund  gibt. 

Auch  die  bereits  bekannten  schritten  des  jungen  Nicolai  finden  in  Altcukrügers 
darstellung,  die  bis  zu  den  litteraturbriefen  führt,  bessere  Würdigung  als  bisher. 
Vorausgeschickt  ist  eine  Schilderung  der  in  betracht  kommenden  periode  seines 
lebens ,  die  hauptsächlich  den  bildungsgang  des  autodidakten  betont ,  das  bekannte 
sorgfältig  zusammenstellend  und  es  um  manchen  neuen  zug  vermehrend.  Freilich 
stört  hier  mehr  als  in  den  folgenden  abschnitten  eine  gewisse  unbeholfenheit,  die  dem 
Stoff  noch  nicht  das  rechte  leben  einzuhauchen  vermag.  Auch  wäre  wol  mehrfach 
unter  verweis  auf  leicht  zugängliche  ältere  darstellungen  zu  kürzen  gewesen,  schon 
imi  die  widerholte  bespi'ecbung  der  Schriften  in  den  folgenden  abschnitten  zu  ver- 
meiden, während  wir  dort  hier  und  da  grössere  ausfühilichkeit  wünschten,  beson- 
ders bei  der  „Abliandlung  vom  trauerspiele",  wo  es  sich  empfohlen  hätte,  die  ent- 
wicklung  der  auschauungen  Nicolais  auf  grund  des  briefwechsels  mit  Lessing  und 
Mendelssohn  vorzuführen.  Im  übrigen  ist  gerade  die  behandlung  der  „Bibliothek 
der  schönen  Wissenschaften"  sehr  gut  gelungen,  indem  ihre  rolle  in  der  gleichzeitigen 
Journalistik,  ihre  bedeutung,  sowie  anteil  und  einfluss  der  einzelnen  mitarbeiter  klar 
nachgewiesen  wird.  Bei  den  „Litteraturbriefen"  durfte  sich  der  Verfasser  kürzer 
fassen,  da  alle  hier  in  betracht  kommenden  punkte  häufig  und  gründlich  genug  erör- 
tert sind. 

AYeniger  kann  das  Iiefriedigen ,  was  Altenkrüger  über  die  wichtigste  schrift 
Nicolais  aus  dem  behandelten  Zeitraum,  die  „Briefe  über  den  itzigen  zustand  der 
schönen  Wissenschaften  in  Deutschland",  sagt.  Die  grundlagen  sind  nicht  breit  genug 
gelegt,  die  einzelnen,  an  sich  richtigen  und  wertvollen  bemerkuugeu  schliessen  sich 
nicht  fest  genug  zusammen  und  zumal  war  das  Verhältnis  von  Nicolais  kritik  zu  der 
Lessings  ausführlicher  zu  erörtern,  seine  abhängigkeit  von  dem  grossen  Vorgänger 
genauer  zu  untersuchen. 

Zum  glück  tritt  hier  Ellingers  einleituug  ergänzend  ein,  die  nach  allen  sel- 
ten hin  genügend  orientiert.  Auch  da,  wo  Altenkrüger  nicht  scharf  genug  das 
jugendlich  übertriebene  in  Nicolais  poleraik  gegen  Gottsched  hervorhebt,  insbesondere 
bei  der  Batteuxübersetzung,  berichtigt  das  ruhigere  urteil  des  herausgebers  der  briefe 
seine  etwas  zu  günstige  ansieht. 

Die  beiden  besprochenen  Schriften  füllen  in  trefflicher  weise  eine  lücke  in 
unsrer  litte^arhistorischen  kenntnis  aus,  indem  sie  uns  den  tätigen  genossen  Lessings 
in  seiner  Berliner  und  der  zweiten  Leipziger  zeit  als  erfolgreich  strebenden  und  in 
die  allgemeine  litteraturbewegung  der  fünfziger  jähre  des  vorigen  Jahrhunderts  ein- 
greifenden vorführen.  Beide  verdienen  die  aufmerksamkeit  und  den  beifall  derer,  die 
sich  mit  dieser  periode  eingehender  beschäftigen. 

LEIPZIG.  GEORG   WITKOWSKI. 


BRUHN,    ÜBER    KN'ÄUTH,    GOETHES    SPRACHE    UND    STIL  409 

Von  Goethes  spräche  und  stil  im  alter.  Von  Psud  Kiiauth.  Dissertation. 
Leipzig  1894.     In  comm.  bei  G.  Fock,  Leipzig.     46  s.     4.     1,50  m. 

AVer  spräche  und  stil  eines  dichters  untersucht,  der  will  dadurch  entweder 
die  erkeutnnis  der  spräche  oder  die  des  dichters  fördern :  er  will  entweder  zeigen,  wie 
die  Sprache,  in  welcher  der  dichter  schrieb,  zu  einer  bestimmten  zeit,  innerhalb 
eiues  bestimmten  kulturkreiscs  sich  darstellte,  oder  er  will  in  der  eigentümlichen  aus- 
prägung,  welche  der  dichter  der  spräche  seines  Volkes  gab,  des  dichters  eigenart  und 
Werdegang  nachweisen.  Knauths  streben  ist  mehr  auf  das  zweite  ziel  gerichtet,  und 
wenn  er  zum  gegenstände  solcher  Untersuchung  sich  Goethe  wählte  und  sieh  hier 
wider  die  letzte  periode  des  dichters  abgrenzte,  so  hat  er  sich  damit  ohne  zweifei 
ein  fruchtbares  thema  erlesen.  Denn  wo  gäbe  es  einen  so  charakteristischen  stil  wie 
den  des  greisen  Goethe?  und  wo  fände  sich  anderseits  für  solche  forschung  ein  so 
reichhaltiges  material,  wo  eine  solche  füUe  von  Zeugnissen  über  des  dichters  inneres 
und  äusseres  leben?  Knauth  hat  für  die  erscheinung,  welche  ihn  zu  seiner  abgren- 
zuug  des  themas  berechtigt,  für  das  auftreten  eines  neuen  und  charakteristischen 
Stiles  eben  bei  dem  greise,  überhaupt  keine  aualogie  gefunden:  eine  gibt  es  doch, 
nämlich  die  mit  Piaton,  auf  die  Ulrich  von  Wilamowitz-Moellendorff  (Aus  Kydathen^ 
221)  hingewiesen  hat,  iadem  er  feinsinnig  parallelisierend  die  aufgäbe  stellt,  „die 
entwicklung  des  stils  bei  den  beiden  grössten  stillsten  von  Werther  —  Phaidros  bis 
zu  den  wandorjahren  —  gesetzen"  darzulegen. 

Knauth  ist  an  die  lösung  dieser  aufgäbe  wol  gerüstet  herangetreten.  Nicht 
seine  äusserliche  belesenheit  nur  in  der  Goetheschen  poesie  ist  gross;  er  hat  sich  in 
die  dichtungcn  der  spätzeit  wirklich  hineingedacht  und  hineinempfandeu ;  erlegt,  wenn 
er  ihre  spräche  erklärt,  nicht  bloss  richtscheit  und  winkelmass  der  grammatik  an, 
sondern  folgt  der  sichern  leitung  eines  feinen  Sprachgefühles  —  wie  er  denn  auch 
selber  nicht  das  farblose  papierdeutsch  der  dissertationen,  sondern  eiueu  wirklichen 
stil  schreibt.  Und  er  hat  auf  seine  Untersuchung  rastlosen  fleiss  verwandt:  immer 
von  neuem  gesammelt  und  gesichtet,  mühevolle  statistische  forschungen  angestellt, 
deren  resultat  er  dann  in  wenigen  Zeilen  zusammenfasst,  abweichende  lesarten  sorg- 
lich berücksichtigt,  wo  der  dichter  übersetzt,  die  originale  eingesehen,  endlich  die 
moderne  litteratur,  soweit  ich  es  kontrolieren  kann,  A-oUstäudig  herangezogen. 

So  ist  ihm  denn  auch  vieles  gelungen.  Die  poesie  Goethes  in  dieser  epoche 
stellt  ja  dem  ausleger  so  manches  schwer  zu  lösende  rätsei:  wenn  artikel,  konjunk- 
tion,  verbum  fehlen,  ist  ja  oft  genug  diese  oder  jene  beziehung  der  worte  auf  einan- 
der nach  den  allgemeinen  gesetzen  der  spräche  in  gleichem  masse  zulässig  (oder 
unzulässig);  sichere  aufklärung  kann  für  den  einzelnen  fall  nur  geben,  wer  die  ganze 
poesie  dieser  periode  nach  solchen  gesichtspunkten  durchforscht  hat.  Ich  will  hier- 
für besonders  auf  Knauths  ausemaudersetzung  über  jene  eigentümliche  zusammen- 
rückung von  adjektiv  und  adverb  verweisen,  die  er  passend  „Übergang  zur  komposi- 
tion"  nennt  (s.  33  fgg.);  der  Verfasser  hat  hier  nicht  allein  die  verschiedenen  bedeu- 
tungsnuancen ,  welche  aus  dieser  redeweise  sich  ergeben ,  mit  grosser  feinheit  geschie- 
den, sondern  auch  eine  anzahl  von  stellen,  an  denen  diese  Spracherscheinung  bisher 
falsch  aufgefasst  wurde,  einleuchtend  erklärt.  Noch  einen  zweiten  puukt  möchte  ich 
nennen,  wo  die  fähigkeit  des  Verfassers,  dieser  poesie  nachzufühlen,  sich  besonders 
schön  bekundet:  jenes  „liinwerfen  der  begriffe",  wie  er  sich  in  dem  gesang  der  engel 

1)  Philologische  untersuch,  von  Kiessliug  und  v.  Wilamowitz-Moellendorff 
heft  1  (Berlin  1878). 


410  BRUHN 

Faust  11731  —  34  zeigt:  „Woiie,  die  wahren,  Äther  iin  Maren,  Ewigen  schaaren 
Überali  tag."  Hier  hat  Knauth  wirklich,  indem  er  die  sprachliche  erscheiniing  auf 
ihre  psychologischen  gründe  zurückführt,  das  höchste  ziel  des  Interpreten  erreicht  — 
und  wie  vertraut  ihm  diese  redeweise  des  Schriftstellers,  den  er  erforscht,  geworden 
ist,  beweist  er  s.  45,  indem  er  sich  selbst  jenes  hinwerfen  der  begriffe  zum  zwecke 
der  Charakteristik  gestattet. 

Und  dennoch  kann  ich  nicht  finden,  dass  der  Verfasser  den  fordeningen, 
welche  die  aufgäbe  an  ihn  stellte,  wirklich  voll  genügt  hätte.  An  der  stelle,  wo  er 
seine  ergebnisse  zusammenzufassen  sucht  (s.  45),  nennt  er  unter  den  wichtigsten 
Charakterzügen  des  Goethischen  altersstiles  „zuerst  und  vor  allem  die  epigrammati- 
sche kürze  des  ausdracks";  in  der  anmerkung  wideiholt  er:  „Ich  halte  vielmehr  die 
kompression  des  Stiles  unbedingt  für  das  charakteristische."  iSlun  erinnere  man  sich 
einmal  an  stellen  wie  etwa  Wanderjahre  I,  8  (Hempel  18,  101):  „Auch  hier  kam 
die  freundschaft  des  oberamtmanns  zu  statten;  die  entfernung  ihrer  Wohnorte  ver- 
schwand vor  der  neigung,  der  lust,  sich  zu  bewegen,  sich  zu  zerstreuen. 
Hier  nun  fand  der  verwaiste  gelehrte  in  einem  gleichfalls  mutterlosen  famüienkreise 
zwei  schöne,  verschiedenartig  liebenswürdige  töchter;  wo  denn  beide  väter  sich  immer 
mehr  bestärkten  in  dem  ge danken,  in  der  aussieht,  ihre  häuser  dereinst  aufs 
erfreulichste  verbunden  zu  sehen";  oder  ebenda  s.  171  Bei  dem  gleichnisse,  bei 
der  parabel  ist  das  umgekehrte:  hier  ist  der  sinn,  die  einsieht,  der  begriff 
das  hohe,  das  ausserordentliche,  das  unerreichbare.  Wenn  dieser  sich  in 
einem  gemeinen,  gewöhnlichen,  fasslicheu  bilde  verkörpert,  so  dass  er  nun 
als  lebendig,  gegenwärtig,  wirklich  hervortritt,  dass  wir  ihn  uns  zueignen, 
ergreifen,  festhalten,  mit  ihm  wie  mit  unseres  gleichen  umgehen  können,  das 
ist  denn  auch  eine  zweite  art  von  wunder."  Ich  denke,  mau  wird  mit  bezug  auf 
solche  stellen  Lehmann  recht  geben,  wenn  er  (Goethes  spräche  und  ihr  geist  s.  23) 
von  Goethes  „redseligem  greisenstil"  spricht.  Hier  zeigt  sich  ein  befremdlicher  man- 
gel  von  Knauth's  arbeit:  dass  er  die  prosa  neben  der  poesie  gar  nicht  zu  ihrem 
rechte  kommen  lässt.  Er  hat  dadurch  den  wert  seiner  ergebnisse  wescnthch  geschmä- 
lert; denn  Avenn  die  letzte  aufgäbe  solcher  Untersuchung  die  zurückfüirung  der 
stilistischen  eigentümlichkeit  des  Schriftstellers  auf  innere  und  äussere  gründe  ist, 
so  müssen  doch  die  Wirkungen  dieser  Ursachen  da  am  ungetrübtesten  hervortreten, 
wo  der  redende  von  den  fesseln  des  metrums  und  des  reimes  frei  ist.  Wäre  Knauth 
von  der  prosa  ausgegangen,  so  würde  er  ohne  zweifei  die  brachylogie  der  poesie  als 
ein  nicht  ursprüngliches,  sondern  abgeleitetes  merkmal  dieses  Stiles  erkannt  haben. 

Und  sodann:  zum  stil  gehört  doch  nicht  nur  Wortbildung,  -beugimg,  -fügimg, 
sondern  auch  die  auswahl,  die  der  Schriftsteller  unter  dem  wertschätze  der  spräche 
trifft,  ist  für  ihn  im  höchsten  masse  charakteristisch.  Jeder  fülüt  ja  bei  der  lektüre 
der  späteren  prosaschriften,  wie  gemässigt  hier  überall  die  temperatur  des  empfin- 
dens  ist:  wie  leicht  Hesse  sich  dies  gefühl  zu  klarem  bewusstsein  erheben,  wenn 
man  etwa  die  ausdrücke  des  lobes  und  tadeis,  die  Goethe  hier  gebraucht,  zu- 
sammenstellte! Ich  gebe  einige  beispiele,  bei  denen  uns  jene  zui'ückhaltung  im  aus- 
druck  besonders  befremdet.  Eheinreise  1814  und  15  (Hempel  26,  229):  Mittag  war 
schon  vorbei  und  doch  ein  wagen  augenblicklich  bestellt,  um  den  weg  ins  ange- 
nehme Eheingau  zu  suchen;  recension  aus  dem  jähre  1818  (H.  29,  G22):  Der  name 
Maria,  dui'ch  welchen  die  ältere  kirche  jede  .  .  lehre  höchst  anmutig  zu  machen 
weiss;  aufsatz  von  1817  (H.  34,  88):  Werden  sie  (plagiate)  aber,  wie  es  auch  wol 
geschieht,  von  talentvollen  personen  ausgeübt,  so  erregt  es  in  uns  auch  bei  fremden 


ÜBER    KNAUTII,    GOETHES    SPRACHE    UND    STIL  411 

angclegeuhciten  ein  missbehagen,  weil  durch  schlechte  mittel  obre  gesucht  worden. 
Noten  zum  Divan  (H.  4,  287):  So  höchst  erfreulich  sie  (unsere  Nibelungen)  sind, 
wenn  man  sich  in  ihren  kreis  recht  einbürgert  .  .  .,  so  wunderlich  erscheinen  sie,  wenn 
man  sie  nach  einem  massstabe  misst,  den  man  niemals  bei  ihnen  anschlagen  sollte; 
recension  von  1822  (H.  29,  599):  Angst  und  bangigkeit  steigerten  sich  jedoch,  als  ein 
leben  nach  dem  tode  bei  einem  unstetigen  leben  auf  erden  immer  wünschenswer- 
ter erschien;  recension  von  1831  (H.  29,  730):  Desto  erwünschter  (ist)  ein  fun- 
ken menschlichkeit,  der  wie  ein  stern  die  düsteren  gewölbe  wenn  auch  nur  schwach 
und  schwankend  erleuchtet;  Rheinreise  1814  und  1815  (H.  26,  230):  Eine  kapellen- 
ruine,  die  anf  grüner  matte  ihre  mit  epheu  begrünten  mauern  wundersam  reinlich, 
einfach  und  angenehm  erhebt;  recension  des  „Pfingstmontag"  (H.  26,  479):  Klärls 
trauer  über  befürchteten  Verlust  eines  einzig  geschätzten  mannes.  "Wenn  mau 
das  vorkommen  von  Wörtern  wie  angenehm,  anmutig,  behaglich,  erfreulich, 
erwünscht,  heiter,  löblich,  reinlich,  schätzbar,  schätzenswert,  tüchtig 
sowie  von  adjektiven  und  participien  mit  vorgesetztem  wol-  liier  und  in  den  Schrif- 
ten der  Frankfurter  zeit  statistisch  feststellte,  wie  klar  würde  sich  die  Persönlichkeit 
jenes  und  dieses  Goethe  darin  abspiegeln! 

Kuauth  hat  seinen  stoff  nach  grammatisch  -  stilistischen  gesichtspunkten  grup- 
piert. Mich  dünkt,  schon  dies  beweist,  dass  er  den  gründen  der  erscheinungen,  die 
er  darstellt,  nicht  genügend  nachgegangen  ist.  Denn  der  gewinn  für  das  Verständnis 
der  persönlichkeit  des  dichters,  den  doch  eine  solche  untelsuchung  abwerfen  müsste, 
würde  erst  dann  in  voller  klarheit  hervortreten,  wenn  die  gesammelten  einzelheiteu 
geordnet  würden  nach  den  inneren  und  äusseren  Ursachen,  denen  sie  entspringen. 
Ich  will  auch  hier  nur  auf  einen  punkt  hinweisen.  Seit  der  Übersiedelung  nach  Wei- 
mar hat  Goethe  ja  fast  alle  seine  werke  diktiert.  Diese  gewohnheit  kann  doch 
nicht  wol  ohne  einfluss  auf  seinen  stil  geblieben  sein.  Wer  diktiert,  der  hat  — 
meine  ich  —  eine  neigung,  den  schreibenden  lediglich  als  mechanisches  Averkzeug  zu 
benutzen  und  ihm  keinen  eiublick  in  die  geistige  entstehung  der  betreffenden  produktion 
zu  gestatten.  Sobald  aber  im  diktieren  eine  pause  eintritt,  hat  der  diktierende  das  unbe- 
hagliche gefühl,  dass  jemand  auf  den  Vollzug  seiner  geistigen  tätigkeit  wartet,  ihn 
gewissermassen  beobachtet.  Deshalb  hat  er  das  bestreben,  solche  pausen  möglichst 
selten  eintreten  zu  lassen.  Und  nun  ergeht  es  ihm  ebenso  wie  dem  prediger  und 
dem  docenten :  um  die  zeit  zu  gewinnen ,  in  der  er  durch  meditation  ein  neues  moment 
des  gedankeuganges  finden  kann,  reiht  er,  was  für  jeden  nur  einigermassen  sprach- 
lich gewandten  menschen  leicht  ist,  au  einen  ausdruck  mehrere  andere  an,  die  den- 
selben begriff  enthalten,  nur  in  einer  etwas  anderen  bedeutungsschattierung.  —  So 
wird  einerseits  der  diktierende  weitschweifig;  in  anderer  beziehung  dagegen  wird  er 
vielleicht  mehr  kürzen.  AVenu  wir  uns  fragen,  was  durch  manche  der  von  Lehmann 
und  Knauth  gesammelten  Spracheigentümlichkeiten  faktisch  bewirkt  ist  (so  durch  die 
anwendung  des  particips,  die  hinzufüguug  des  adverbs  zum  adjektiv,  die  eUipse  der 
copula  u.  dgi.),  so  ergibt  sich,  dass  es  vor  allem  partikeln,  pronomina  und  „die  lei- 
digen auxiliaren"  sind,  die  Goethe  dadurch  gespart  hat.  Gerade  diese  wörtchen  aber 
erschweren  einen  euphonischen  bau  des  satzes  ungemein,  da  sie  einerseits  in  der 
regel  sehr  kurz  und  deshalb  fast  nur,  wo  sie  sich  an  grössere  Wörter  anlehnen,  für 
die  herstellung  rhythmischer  gebilde  verwendbar  sind,  anderseits  keinen  selbständigen 
begriffsinhalt  haben  und  deshalb  fast  immer  beim  vertrag  tonlos  bleiben  müssen. 
Diese  nachfeile,  welche  mit  der  anwendung  solcher  wörter  verbunden  sind,  empfin- 
det der    diktierende  lebhaft,    weil  er   jeden   satz  vor  dem   niederschreiben   laut  aus- 


412  BRUHN 

spricht;  er  kommt  aber  auch  leichter  zur  auslassung;  denn  indem  er  jeden  satz  laut 
und  mit  richtiger  betonung  vorträgt,  interpretiert  er  ihn  zugleich,  und  die  miss- 
verständnisse ,  in  welche  die  kürze  nachher  den  leser  verwickeln  könnte,  ent- 
gehen ihm. 

Endlich  aber  hat  Knauth  seine  ganze  Untersuchung  in  den  dienst  einer  tendenz 
gestellt,  die  wol  nicht  mir  allein  die  freude  an  seinen  erörterungeu  trübt.  Von  den 
misbilligenden  urteilen  Vischers,  Heines,  Börnes,  Gutzkows  und  anderer  über  den 
Stil  des  Goethischen  alters  geht  er  aus  und  sagt  s.  2  ausdrücklich,  dass  es  ein 
zweck  seiner  uutersuchmig  sei,  „die  erhobenen  vorwürfe  zu  prüfen".  Prüfen  aber 
heisst  in  Knauths  sinne  widerlegen.  Ich  will  durch  einige  beispiele  die  methode, 
nach  der  er  die  fraglichen  Spracheigentümlichkeiten  zu  rechtfertigen  sucht,  kenn- 
zeichnen. Um  den  überkühnen  gebrauch  des  dativs  zu  erklären  (,,drängi  ungesäumt 
von  diesen  mauern  jetzt  Menelas  dem  meer  zurück",  „führe  die  schönen  an  künst- 
lichem reihn")  sagt  er  (s.  37):  „Auch  hier  haben  wir  eine  rückkehr  zu  dem  brauche 
älterer  sprachstufeu ,  nur  dass  wir  hier  noch  über  das  mhd.  zurückgieifen  müss- 
ten  (!)...  Eine  nachahmung  der  alten  sprachen  .  .  .  liegt  zwar  gewiss  in  vielen 
fällen  vor  .  .  .  aber  nicht  iiiinder  oft  war  es  lediglich  das  sichre  Sprachgefühl  für  das 
wesen  des  dativs  (!),  das  bei  aller  ab  weichung  vom  usuellen  doch  zu  richtiger  anwcu- 
dung  dieses  casus  fülirte".  Über  die  stelle  im  Elfenchor  des  Faust  ,,Thäler  grünen, 
hügel  schwellen,  buschen  sich  zur  schattenruh "  sagte  Vischer,  Goethe's  Faust, 
Neue  beitrage  (Stuttgart  1875)  s.  117  mit  unwiderleglicher  logik:  Darf  man  dies, 
dann  darf  man  auch  sagen:  „die  fläche  grast  sich,  der  berg  bäumt  sich,  der  tisch 
tucht  sich,  das  tischtuch  löffelt  sich".  Knauth  erklärt  die  werte  gewiss  richtig 
„Sie  bilden  büsche  aus  sich  hervor";  aber  wenn  er  nun  nachweist,  dass  sich  so 
„unserer  einbildungski'aft  ein  durchaus  bequemes,  nahe  liegendes  bild  bietet",  so 
kann  er  doch  eigentlich  selber  kaum  glauben,  damit  Yischers  kritik  widerlegt  zu 
haben:  er  trifft  ja  gar  nicht  den  punkt,  an  dem  Vischer  anstoss  nimmt.  Noch  ein 
letztes  beispiel:  ich  habe  vorher  die  feiufühligkeit  gerühmt,  mit  der  Knauth  jenes 
„hinwerfen  der  begriffe"  bei  Goethe  aufgefasst  hätte.  Aber  wenn  wir  diese  redeweise 
beurteilen  wollen,  so  müssen  wir  doch  zunächst  fragen,  welchen  effekt  sie  tat- 
sächlich hervorbringt.  Und  das  zeigt  sich  am  klarsten,  wenn  wir  den  redner  beobach- 
ten, der  sie  mit  absieht  und  bewusstsein  als  kunstmittel  anwendet.  "Wir  können  dies 
bei  Cicero  in  seiner  rede  De  provinciis  cousularibus,  wo  er  in  der  peinlichen  läge 
ist,  seinen  hörern  die  frage  beantworten  zu  müssen,  warum  er  jetzt  mit  einem  male 
für  seinen  politischen  gegner  Caesar  eintrete.  Das  geht  so  leidlich,  bis  er  auf  die 
zeit  seiner  Verbannung  kommt.  Verschweigen  kann  er  uiclit,  was  damals  geschehen 
ist,  klar  aussprechen  kann  er  es  auch  nicht,  weil  dann  sein  jetziges  verfahren  ganz 
unbegreiflich  sein  würde:  so  wirft  er  die  begriffe  hin,  ohne  sie  zu  sätzen  auszuge- 
stalten: §43  ecce  illa  tempestas,  caligo  bonorum  et  subita  atque  impiovisa  formido, 
tenebrac  roi  publiuae,  ruina  atque  incendium  civitatis,  terror  iniectus  Caesari  de  eins 
actis,  metus  caedis  bonis  omnibus,  cousulum  scelus,  cupiditas,  audacia.  Also  die 
Wirkung  dieser  ausdrucksweise  ist  eine  Verschleierung  des  gedankens,  die  uns  den 
inhalt  des  gesprochenen  nur  undeutlich,  in  verschwommenen  umi'issen  erkennen  lässt. 
Es  kann  fälle  geben,  wo  die  über  alles  menschliche  begreifen  hinausgehende  natur 
des  dargestellten  objekts  hierzu  nötigt;  aber  davon  abgesehen  soll  mir  eine  derartige 
Unklarheit  auch  in  der  poesie  niemand  als  Schönheit  einreden.  —  Begreiflich  ist  der 
Standpunkt  ja  gewiss,  den  Knauth  und  viele  heutzutage  mit  ihm  einnehmen.  Mehr 
und  mehr  wächst  die   erkenntniss,    dass    für    den    denker  Goethe    die    epoche    des 


ÜBER    KNAUTII,    GOETHES    SPRACHE    UND    STIL  413 

greisenalters  in  der  tat  die  ^epoche  seiner  Vollendung",  dass  das  mass  des  Verständ- 
nisses für  die  oft  so  dunklen  werte  des  meisters  auch  für  den  leser  das  mass  seiner 
geistigen  reife  ist;  da  ist  es  wol  begreiflich,  wenn  man  an  dem  bilde  des  hochver- 
ehrten nun  gar  kein  fleckchen  und  stäubchen  sehen  will,  wenn  man  sich  einredet,  es 
sei  dem  gewaltigen  erlaubt  gewesen,  „dem  gesetzlichen  loibe  der  spräche  die  knochen 
in  etwas  zu  brechen,  die  gelenke  etwas  auszuweiten".  Begreiflich,  aber  nicht  recht. 
„Was  fruchtbar  ist,  allein  ist  schön  —  so  werden  wir  das  viel  citierte  wort  Goethes 
in  seinem  sinne  umwandeln  dürfen;  und  diese  Goethischen  Spracheigenheiten  sind 
nicht  fruchtbar  gewesen:  oder  wüsste  unsere  heutige  poesie  etwa  von  den  „sich 
heerdenden  schafen",  der  „braunenden  herde",  einem  „seeisch  heitren  feste"? 

In  solcher  weise,  meine  ich,  müsste  Knauth  das  gebiet  seiner  Untersuchung 
und  den  kreis  der  zu  untersuchenden  erscheinungen  erweitern,  die  Untersuchung 
selbst  noch  mehr  in  die  tiefe  führen,  endlich  ablenkender  nebenabsichten  sich  ent- 
halten. Entschlösse  er  sich  aber  dazu,  so  würden  wir  nach  den  proben,  die  er 
gegeben  hat,  von  ihm  eine  behandhing  des  problems  erwarten  dürfen,  die  das  ver. 
stiindnis  des  dichters  wesentlich  förderte  und  vertiefte.  Möchte  er  denn  —  um  in 
dem  von  ihm  charakterisierten  stile  zu  schliessen  —  in  solcliein  sinne  freundlichst 
gemeinte  bedenken  aufnehmen! 

KIEL.  EWALD    BRÜUN. 

Goethes  leben  und  werke.  Mit  besonderer  rücksicht  auf  Goethes  bedeutung  für 
die  gegenwart.  Von  Eiig'eu  Wolff.  Kiel  und  Leipzig,  Lipsius  und  Tischer.  1895. 
380  s.     5  m. 

Ich  habe  mich  nach  der  lektüre  des  vorliegenden  buches  über  Goethe  ver- 
geblich gefragt,  welchem  bedürfnis  es  abhelfen,  welchem  leserkreise  damit  gedient 
sein  sollte.  Eine  neue  Goetbebiographie  muss  heute  ihre  existenzberechtigung  aufs 
kräftigste  dokumentiren,  sei  es  durch  Originalität  der  gesichtspunkte  der  bebandlung, 
sei  es  durch  Vollkommenheit  der  darstellung  und  komposition.  Wir  haben  genug 
ärmliche,  mebr  oder  weniger  unzulängliche  bücher  über  Goethe,  als  dass  wir  nicht 
diese  kompetenzfrage  mit  aller  entschiedenheit  aufwerfen  und  mit  strengster  kritischer 
schärfe  lösen  sollten.  „Der  besondere  zusatz  des  titeis",  wird  man  mir  entgegenhal- 
ten, „zeugt  ja  aber  für  das  Vorhandensein  eines  originellen  gesichtspunktes  in  Wolffs 
darstellung  Goethes."  Wie  verhält  es  sich  damit?  Im  verlaufe  des  textes  hebt  Wolff 
an  den  verschiedensten  stellen  mit  emphase  hervor,  dass  unsere  heutige  gegenwart 
nichts  besseres  und  vernünftigeres  tun  könne  als  Goethes  Weisheitsgedanken  in  tat 
umzusetzen  und  sich  von  seinen  ideen  allseitig  durchleuchten  und  befruchten  zu  las- 
sen; dabei  begeht  er  das  unglau Wiche,  dass  er  s.  255  in  Goethes  vers  „ich  muss 
nun  an  die  enkel  denken"  das  wort  „enkel"  presst,  das  natürlich  nichts  als  im  all- 
gemeinen „künftige  generationen "  bezeichnen  soll.  Ausser  diesen  paränetischen  stel- 
len, die  zudem  nicht  frei  von  phrasenhaftigkeit  sind,  finden  wir  am  Schlüsse  des 
Werks  ein  eignes  kapitel  „Goethe  in  der  nach  weit"  (s.  313  —  352),  einen  kurzen  abriss 
der  geschichte  der  beurteilung  Goethes  bis  auf  unsere  tage.  Hier  begegnet  man 
merkwürdigen  urteilen,  z.  b.  einer  leidigen  verkennung  Vischers,  des  „tendenziösen 
Professors"  (s.  331),  dessen  geschichte  von  der  cigarrenschachtel  gar  nicht  erwähnt 
wird;  aber  auch,  was  mich  immer  am  meisten  schmerzt,  einer  jetzt  häufig  gehörten 
nichtachtung  Schillers  (s.  315  „der  durchgebildete  mann  und  die  selbständig  gereifte 
frau  aber  leben  in  Goethe";    s.  329   „der  eines   mentors  wie  Schiller  bedarf"); 


414  LEITZMANS,    ÜBER    E.    WOLFF,    GOETHE 

Goethe  selbst  würde,  weun  er  heute  lebte,  dieser  blinden  verkeuuuug  Schillers  am 
heftigsten  widerspi-echen.  Die  tendeuz  zur  gegenwart  hat  dann  weiter  eine  sehr  eigen- 
artige heurteiluug  der  Goetbischen  dichtungen  zur  folge  gehabt:  Goethes  alterspro- 
duktioneu  sind  mit  unverkennbarer  Vorliebe  behandelt,  wogegen  die  diclitungen  der 
Jünglings-  und  manuesjahre  vcrhältnissmässig  schlecht  wegkommen  (au  den  Leipziger 
liedern  wird  s.  30  der  mangel  an  „dramatischer  entwicklung"  getadelt,  der  harjnlose 
„Wunscli  eines  jungen  mädchens"  „frühreif  blasiert"-  genannt;  die  Laune  des  vei'- 
liebteu  heisst  s.  31  „von  einem  kindlichen  horizout  ausblickend,  im  konventionellen 
Stil";  beim  echten  schluss  der  Stella  wird  s.  87  „innere  emporung"  konstatiert;  ähn- 
lich noch  s.  144).  So  sind  denn  natürlich  die  Wanderjahre  und  der  zweite  Faust 
die  kröne  der  Goetbischen  poesie.  Alle  diese  tendenziösen  gedanken  sind  jedoch  kei- 
neswegs notwendige  Ingredienzien  der  Wolffschen  darstellung;  dieselbe  ist  von  ihnen 
in  keiner  weise  etwa  durchdrangen;  ich  muss  daher  die  oben  gestellte  frage  nach 
dem  berechtigungsnachweis  des  Wolffscheu  buches  ablehnend  entscheiden. 

"Wolffs  art  Goethes  leben  zu  erzählen  ist  ohne  anschaulichkeit  und  frische, 
ferner  ohne  jede  innerliche  Versenkung;  ich  weiss  keine  andere  bezeichnung  als  gerip- 
pehaft; statt  eines  farbenreichen  gemäldes  erhalten  wir  nichts  als  eine  rohe  bleistift- 
skizze.  Dazu  kommt  eine  verhängnisvolle  ueigung  zmn  anekdotenhaften,  ja  zum 
klatsch:  man  sehe  s.  2.  15  (der  barlüer  in  Goethes  väterhchem  hause  bei  der  mes- 
siasrecitation).  32.  44  (Lerse  bei  Goethes  disputationl.  47  (Luise  von  Ziegler).  61. 
67.  75.  126.  174.  227  (Bettina  und  Christiane).  232.  244  (Epimenides  im  Berliner 
volkswitz);  wozu  das  alles?  —  Noch  schlimmer  sind  direkte  geschmacklosigkeiten, 
deren  hauptsächlichste  aufzuzählen  ich  mir  nicht  versagen  kann:  „gemüt  hat  Goethe 
von  der  mutter  geerbt,  aber  rückgrat  vom  vater"  (s.  4);  „das  pärchen  verständigte 
sich  während  der  tafel  aufs  trefflichste  durch  die  eigentümlichste  aller  Zärtlichkeiten, 
indem  die  geliebte  die  füsse  des  Verehrers  als  Schemel  benutzte  und  so  physischen 
schmerz  mit  seelischer  wonne  gleichzeitig  in  ihm  zu  erregen  wusste"  (s.  26);  „die 
erste  grössere  anpflanzung  im  Ziergarten  von  Goethes  Leipziger  poesie"  (s.  31);  „den- 
noch hatte  Wolfgang  unter  dem  unwirschen  wesen  des  vaters  schwer  zu  ächzen" 
(s.  33);  Bettina,  durch  ihre  abstammung,  so  zu  sagen,  „für  den  Goethekultus  präde- 
stiniert" (s.  226);  „der  donuer  der  kanonen  mochte  wol  den,  dessen  ohr  nur  dem 
melodischen  gesang  der  musen  zu  lauschen  gewohnt  war,  ins  innere  seines  hauses 
verscheuchen"  (s.  240);  „der  64jährige  beherrscher  des  Parnass"  (s.  241);  „ein  poe- 
tisches, von  den  schlacken  des  tages  freies  kostüm"  (s.  245);  „wie  hoch  sieh  des 
dichters  liebe  über  gefühle  irdischen  genusses  erhebt,  gegenüber  Ulrike  wie  den  mei- 
sten frauen,  die  in  seiner  poesie  fortleben"  (s.  253),  „Lottes  erscheinung  machte  noch 
immer  eiudruck,  nur  wackelte  sie  leider  schon  mit  dem  köpfe"  (s.  266);  „die  idee 
der  entwicklung  hat  sie  eben  beide  angehaucht"  (s.  323).  Ich  brauche  nichts  hinzu- 
zufügen. 

Noch  einige  einzelbemerkungen  seien  gestattet.  Nach  s.  36  (vgl.  auch  s.  56) 
soll  an  Goethes  neigung  zu  Friederike  die  „poetische  Imagination"  sehr  grossen  anteil 
gehabt  haben.  Ich  gestehe  eine  solche  behauptung  gerade  für  Goethe  nicht  zu 
hegreifen.  —  Die  Shakespoarerede  von  1771  soU  nach  s.  49  die  „erste  öffentliche 
manifestation"  der  genieperiode  gewesen  sein;  sie  erschien  zuerst  1854  im  druck.  — 
S.  152  teilt  Wolff  die  allgemein  verbreitete  falsche  ansieht,  dass  Tasso  am  ende  von 
Goethes  stück  an  Antonios  seite  einem  tätigen  leben  entgegengehe.  Für  jeden  vorur- 
teilsfreien betrachter  des  Stückes  kann  es  keinem  zweifei  unterliegen,  dass  Tasso  sei- 
nem geistigen  ruin  nahe  ist  und  im  Wahnsinn  endet,  der  schon  im  letzten  akte  ver- 


LEITZMANN,    ÜBKR   METKR,    GOETHE  415 

häugnissvoll  durclibricht '.  Mau  hat  das  stück  immer  unter  der  zwaugsparallele  mit 
dem  ergebnis  von  Goethes  italienischer  reise  für  seine  persönliche  entwicklung  betrach- 
tet; aber  wie  h<ätte  Goethe  einen  solchen  Tasso  einen  gesteigerten  Werther  nennen 
können?  So  wenig  Werthers  Schicksal  das  Goethes  war,  so  wenig  war  es  Tassos. 
Es  würde  nicht  schwer  fallen  diese  auschauung  vom  ausgang  des  Tasso  eingehend 
zu  beweisen.  —  S.  218.  Es  ist  nicht  wahr,  dass  den  personeu  in  der  Natürlichen  toch- 
ter  durch  die  bezeichnungen  könig,  herzog,  kammerfrau  usw.  etwas  an  bestimmtheit 
verloren  gegangen  ist.  Sind  Herjnanns  eitern  in  Hermann  und  Dorothea  nicht  ganz 
scharf  umrissene  Charakterbilder,  der  prediger  und  der  apotheker  nicht  realistisch  bis 
ins  einzelne  individualisiert?  Auch  sie  haben  keine  rufnamen  vom  dichter  erhalten.  — 
S.  235.  Was  hat  Ibsens  Nora  mit  den  Wahlverwandtschaften  zu  tun?  —  S.  266.  Das 
urteil  über  die  dichtuugen  des  königs  Ludwig  von  Baiern  ist  zu  günstig.  —  S.  358. 
Wie  kommt  Jacob  Grimms  grammatik  und  besonders  Richard  Wagner  in  eine  Zeit- 
tafel zu  Goethes  leben? 

Verbesserungen:  s.  16  lies:  Racines  Britannicus,  s.  31  und  354:  1770, 
s.  42:  ein  mann  in  den  Vierzigern,  s.  70:  1774,  s.  113  oben:  himmelbrod,  s.  266 
z.  3:    1827. 

1)  Die  ältere  ansieht  vertritt  von  neuem  wider  Düntzer  (Zeitschrift  28,  57. 
66  —  71)  imd  —  wie  mir  scheint  —  mit  sehr  guten  gründen,     o.  e. 

WEIMAR,    5.  JIÄRZ    1895.  ALBERT    LEITZMANN. 


Goethe.     Von  Richard  M.  Mejer.     Preisgekrönte  arbeit.     Berlin,  Hofmann.    1895. 
XXXI  und  628  s.     (Geisteshelden  13.  — 15.  band.)     7,20  m. 

Einer  unserer  vielseitigsten  und  universell  gebildetsten  jüngeren  germanisten 
hat  uns  mit  einer  biographie  Goethes  beschenkt,  die  nach  Inhalt  nnd  form  vor- 
züglich ist  und  zu  den  besten  leistungen  moderner  biographik  gehört.  Fast  alle 
ansprüche,  die  man  an  eine  derartige  arbeit  gerechterweise  stellen  muss,  finden 
wir  hier  erfüllt:  tiefe  durchdringung  des  Stoffes,  breite  und  intime  kenntnis  der 
einschlägigen  litteratur,  klarheit  der  disposition  und  ideenführung,  Selbständigkeit 
und  Unbefangenheit  des  Urteils  über  menschen  und  werke,  gewandtheit  der  dik- 
tion,  endlich  was  von  allem  am  woltuendsteu  ist,  abwesenheit  jeder  hohlen  geist- 
reichen phrase.  Das  buch  wird  neben  Hermann  Grimms  Vorlesungen  über  Goethe 
in  der  litteratur  über  imsern  grössten  dichter  mit  in  erster  reihe  zu  stehen  haben. 
Je  gesättigter  und  tiefer  aber  der  eindruck  dankbarer  erbauung  ist,  mit  dem  ich  von 
dem  buche  geschieden  bin,  um  so  mehr  erachte  ich  es  als  meine  receusentenp flicht, 
was  daran  auszustellen  ist  bis  ins  einzelne  und  kleine  hinein  darzulegen,  weil  an 
einem  solchen  buche  auch  der  geringste  flecken  stört.  Möchte  der  Verfasser  im  fol- 
genden manches  für  eine  zu  hoffende  zweite  aufläge  verwertbare  finden!  Über  auf- 
fassungen  und  subjektive  eindrücke  will  und  mag  ich  nicht  mit  ihm  rechten:  nur 
dass  er  dem  unvergleichlichen  Werther  nicht  gerecht  wird,  dem  er  gerade  das 
abspricht,  was  ihn  gross  macht:  die  naturwahrheit  der  entwicklung,  dass  er  dagegen 
dem  zweiten  Faust  zu  viel  lobsprüche  spendet,  sei  hervorgehoben.  Unpassend 
scheint  es  mir,  bei  Goethe  von  einem  in  aktion  treten  der  naturwissenschaftlichen 
Vorstellung  der  Vererbung  zu  sprechen  (vgl.  s.  121.  145.  175.  192)  und  darin  einen 
modernen  zug  zu  sehen:    in  diesem  sinne,    wie  sie  von  Goethe  hier  gebraucht  wird. 


416  LEITZMANN,    ÜBER    MEYER,    GOETHE 

ist  die  Yorstelluug   der   Vererbung   uralt  und   vor    allem  darum  unmodern,    weil  sie 
ohne  jeden  doktrinären  pathologischen  beigeschmack  auftritt. 

Zunächst  ein  paar  bemerkungen  zum  texte.  Die  behauptung  s.  24,  dass  die 
„höllenfahrt  Christi"  1762  entworfen  und  erst  1765  überarbeitet  sei,  hat  keine  gewähr; 
vgl.  Goethes  gespräche  7,  269.  —  S.  35.  Goethe  las  Shakespeare  iu  Leipzig  sicher 
nur  in  einer  auswahl,  nämlich  in  Dodds,  des  von  Forster  geschilderten  betrüge- 
rischen und  sittenlosen  Londoner  hofpredigers ,  Beauties  of  Shakespeare-^  die  in 
den  briefen  1,  47.  48  citierten  stellen  aus  „Wie  es  euch  gefällt"  stehen  bei  Dodd 
hinter  einander  auf  der  ersten  Seite.  —  Nach  s.  64  soll  Goethe  aus  furcht  vor  dem 
Selbstmord  aus  Wetzlar  geflohen  sein:  hier  scheint  mir  Meyer  doch  die  psycholo- 
gische entwicklang  jener  dinge  nicht  zu  durchschauen.  —  Die  verse  „schaff  das 
tagwerk  meiner  bände"  werden  s.  110  in  die  zeit  des  Clavigo  gesetzt. 

Von  den  folgenden  Verstössen  leichterer  art  können  und  werden  sicher  manche 
auf  druckfchleru  Ijcruhen  (so  erscheint  in  Jahreszahlen  eine  9  statt  einer  4  und  da- 
durch die  grösste  Verwirrung  s.  98.  100.  115  zweimal.  150.  252.  .359.  430);  jedes- 
falls  dürfte  ein  solches  buch  dann  nicht  so  stiäflich  nachlässig  korrigiert  sein,  denn 
es  kostet  mühe  derartige  dinge  zu  übersehen.  Nach  s.  1  war  Goethe  1823  in  Ma- 
rieubad  vierundsechzigjährig.  S.  30  wird  der  Dresdener  ausflug  des  Leipziger  Stu- 
denten in  den  herbst  17G7  statt  in  den  märz  1768  verlegt.  Nach  s.  65  ist  Goethe 
am  21.  September  1772  aus  Wetzlar  geflohen  und  hat  tags  darauf  Kestners  besuch 
empfangen;  in  Wirklichkeit  lagen  zehu  tage  dazwischen.  Der  Götz  erschien  1773, 
nicht  1772  (s.  70).  S.  120  muss  Cäcilie  in  der  späteren  bearbeitung  der  Stella  ster- 
ben! Goethes  einführung  ins  geheime  conseil  fand  1776,  nicht  1777  statt  (s.  136, 
derselbe  fehler  s.  Xj.  Cornelia  starb  1777,  nicht  1778  (s.  138,  ebenso  falsch  s.  XI). 
Die  erste  fassuug  von  Claudine  soll  nach  s.  154  in  Italien  spielen.  Bei  gelegenheit 
von  Goethes  aufeuthalt  iu  Pempelfort  1792  wird  s.  226  erwähnt,  Jacobis  „prächtige 
frau"  habe  in  der  dortigen  geseUigkeit  ein  hauptelemeat  gebildet;  sie  wai'  seit  acht 
Jahren  tot!  S.  252  ist  die  erste  Harzreise  ein  jähr  zu  früli  angesetzt.  Wilhelm  Mei- 
ster erschien  1796,  nicht  1797  (s.  253).  S.  307  wird  der  geologe  Werner  zum  pro- 
fessor  in  Göttingen,  s.  313  der  historiker  Sartorius  zum  geologen  gemacht!  Der  nanie 
des  Kasseler  architektou,  der  zu  den  AYahlverwatidtschaften  modell  sass,  war  Engel- 
hard, nicht  Eberhard  (s.  391).  S.  428  wird  aus  Johann  Baptist  Bertram  ein  dritter 
bruder  Boisseree!  Blumenbachs  abhandlung  über  den  bilduugstrieb  erschien  nicht 
1789,  sondern  schon  1781  (s.  558;  von  mir  schon  im  Euphoriou  1,  490  verbessert).  — 
Warum  schreibt  Meyer  konsequent  Ja/.obi  und  PluudersweiZe^?.? 

Ein  hässlicher  flecken  auf  dem  buche  sind  endlich  falsclie  citate,  selbst  bei 
ganz  bekannten  dichterstellen.  Ich  führe  eine  reihe  von  proben  au,  das  richtige  in 
Parenthesen:  „der  schäfer  schmückte  (putzte)  sich  zum  tanz"  (s.  37);  „selber  toll 
auch  zu  sein,  so  wie  die  zeit  es  gebot  (selbst  auch  thöricht  zu  sein,  wie  es  die  zeit 
mir  gebot)''  (s.  61);  „das  herz  des  volkes  ist  .  .  .  keiner  edeln  bewegung  (begierde) 
mehr  fähig"  (s.  73j;  „nicht  jeden  Wochentag  (wochenschluss)  macht  gott  die  zeche" 
(s.  95);  „füllest  wieder  berg  (busch)  und  tal"  (s.  138.  144!);  „der  jüngling  ...  erweckt 
unstillbare  (unendliche)  Sehnsucht"  (s.  193);  „jüngling,  merke  dir  in  (bei)  zeiten" 
(s.  196);  „rettet  euer  bild  in  meinem  busen  (meiner  seele)"  (s.  206);  „ein  werdender 
wird  (immer)  dankbar  sein"  (s.  235);  „die  sonne  könnt'  es  nicht  (nie)  erblicken"  (s.  250. 
517);  „ach  aus  dieses  tales  gründen,  die  der  ewige  (kalte)  nebel  drückt"  (s.  292!); 
„mein  lied  (leid)  ertönt  der  unbekannten  menge"  (s.  293!);  „dein  licht,  wer  kann 
(will)  es  rauben"  (s.  304);  „marmorschön  (marmorglatt)  und  marmorkalt"  (s.  325.  206; 


AHLGRIMM,  ÜBER  POPPENBERG,  ZACH.  WERNER  417 

s.  355  richtig!);  „höchstes  glück  der  meuscheukinder  (erdenkiuder)  sei  nur  die  Per- 
sönlichkeit" (s.  436.  530!);  „und  nach  dem  takte  reget  und  nach  dem  takt  (mass) 
beweget  sich  alles  an  mir  fort"  (s.  457!);  „grau,  lieber  (teurer)  freimd',  ist  alle  theo- 
rie"  (s.  567!);  „bist  du  aus  erde  (ans  ende)  gekommen"  (s.  595!);  „über  allen  wipfeln 
(gipfeln)  ist  ruh"  (s.  62GI).  Das  heisst  doch  wahrhaftig  goldene  dichterworte  wie 
Scheidemünze  behandeln. 

WEIMAR,   4.  MAI   1895.  ALBERT   LEITZMANN. 


Zacharias  Werner.  Mystik  und  romautik  in  den  „Söhnen  des  tals". 
Von  Felix  Poppeuberg-.     BerUn,  C.  Vogt.  1893.     80  s.     1,80  m. 

Wenn  man  von  Zacharias  Werner  spricht,  so  denkt  man  zunächst  an  den 
„Vierundzwanzigsteu  februar",  jenes  stück,  das  die  reihe  der  sogenannten  schick- 
salsdramen  in  Deutschland  eröffnete  und  dem  namen  Werners  eine  traurige  berühmt- 
heit  verschaffte.  Alle  seine  übrigen  dramen  sind  wenig  bekannt,  vor  allem  auch 
sein  erstes:  Die  söhne  des  tals,  das  1803  und  1804  erschienen  ist;  die  meisten  leser, 
die  jene  werke  in  die  band  nehmen,  werden  eben  von  dem  „mysteriösen  unsinn" 
(nach  Scherers  ausdruck)  abgestossen.  Manche  werke  Werners  werden  erst  verstcänd- 
lich  und  interessieren  erst,  wenn  man  sie  unter  dem  gesichtspunkte  betrachtet,  den 
schon  Mad.  de  Stael  angibt,  dass  sie  nämlich  nui"  mittel  zur  Verkündigung  seines 
mystischen  Systems  waren. 

Die  oben  genannte  sohrift  Poppenbergs,  die  ims  jenes  erstlingsdrama  Werners 
als  den  niederschlag  seines  mystischen  Systems  erklären  will,  ist  deshalb  eine  dan- 
kenswerte und  verdienstvolle  arbeit  zu  nennen.  Wir  haben  in  ihr,  abgesehen  von 
den  letzten  16  selten,  die  den  litterarischen  wert  dieses  dramatischen  gedichts  — 
denn  nur  so  kann  es  benannt  werden  —  und  sein  Schicksal  auf  der  bühne  und  in  der 
kritik  behandeln,  im  wesentlichen  eine  psychologische  Studie  vor  uns,  welche  die 
Voraussetzungen  der  mystik  Werners,  die  anklänge  derselben  in  der  dichtung  des 
17.,  18.  und  19.  Jahrhunderts  imd  vor  allem  die  ausgestaltung  derselben  in  den  „Söh- 
nen des  tals"  zum  vorwui'f  hat. 

Kurz  orientiert  uns  der  Verfasser  darüber,  wie  aus  der  mehr  und  mehr  erstar- 
kenden Opposition  gegen  den  rationalismus  die  romantik  entstand,  deren  wurzeln  sich 
über  den  Göttinger  dichterkreis  hinaus  bis  auf  Hamann ,  Herder  und  Lavater  zurück- 
verfolgen lassen.  Die  romantik  wollte  religion  und  moral  trennen  und  kunst  und 
religion  einander  dienstbar  machen;  der  dichter  ward  zum  mystischen  theologeu. 
Diese  religion  der  romantiker  aber,  die  ihre  theologische  ausbildung  durch  Schleier- 
macher erhält,  ist  abhängigkeitsgefühl  vom  Universum;  das  letzte  ziel  und  das 
höchste  glück  des  menschen  ist  ihr  das  zurückfliessen  in  das  all. 

Ein  priester  oder  „mittler"  dieser  neuen  kunstreligiou  wollte  Zacharias  Wer- 
ner in  seinen  „Söhnen  des  tals"  werden.  Denn  dem  aus  niedrigster  sinneulust  und 
religiöser  exaltation  zusammengesetzten  „gesprenkelten"  Charakter  Zach.  Werners 
war  jene  gefühlsreligion  der  romantiker  durchaus  angemessen.  Seine  lebeusweise 
wurde  dadurch  nicht  berührt  und  gestraft.  —  Zur  ausgestaltung  seines  Systems 
wirkte  neben  dem  Studium  der  romantiker  und  Eousseaus  besonders  mit  der  persön- 
liche verkehr  mit  Job.  Jac.  Mnioch  in  Warschau,  sodann  der  eintritt  in  die  freimau- 
reiioge  und  der  verkehr  mit  Christ.  Mayr  in  Königsberg,  von  welchem  sich  besonders 
die  in  den  „Söhnen  des  tals"  hervortretende   gleichgültigkeit  gegen  das  dogmatische 

ZEITSCHRIFT    F.    DEUTSCHE    PHILOLOGIE.     BD.   XXVIII.  27 


418  AHLGRIMM,    ÜBER    POPPEMJERG,    ZACH.    WERNER 

bekenntnis    herschreibt.      Kurz    zusammengefasst    lautet    das    System  Werners:    Das 
unendliche  wird  angeschaut  durch  die   kunst,    gewonnen  aber  dui'ch  die  vollständige 
aufgäbe  des  ich  im  tode,    der   also   (der  dahingabe  des  ich  im  liebesgenuss  entspre- 
chend) die  höchste  woUust  ist.  —  Diese  lehre  wollte  Werner  der  weit  von  der  bühne 
predigen.     Er  benutzte   dazu  die   geschichte  von  dem  Untergänge   des   tempelordens. 
Dem  ganzen  gab  er  den  titel  „Die  söhne  des  tals".     Der  1.  teil:    „Die  templer  auf 
Cypem"  versetzt  den  zuschauer  in  die  letzten  tage  des  ordens  auf  jener  insel;    der 
2.  teil:  „Die  kreuzesbrüder"  in  die  beiden  letzten  lebenstage  der  häupter  des  ordens. 
Aber  nicht  um  ein  streng  geschichthches  drama  war  es  dem  dichter  zu  tun,  vielmehr 
benutzte  er  den  stoff  nur,    um  durch  das  „tal",   jene  geheime  gesellschaft,    die  sich 
über  den  trümmern  des  von  Philipp  von  Frankreich  vernichteten  tempelordens  erhebt, 
seine  idee  von  der  wahren  religion  zu  verkünden.     Der  1.  teil,    in   dem  sich  in  der 
ersten  ausgäbe  von   1803  nm-  ganz  dunkle  andeutungen  auf  das  tal  fanden,    wurde 
1807  geschickt  umgearbeitet.     In  dieser  ausgäbe  weisen  die  beiden  mystischen  gestal- 
ten der  Astralis  und  des  geistes  Eudo  schon  auf  das   „tal"   hin,    in   dessen  dienst 
(wenn  auch  unbewusst)    der  grossmeister  Molay,    der  grosscomthur  Hugo    und   der 
junge  schotte  Robert  d'Heredon   stehen.     Astralis    und  Eudo    sollen    schon   als    das 
unsichtbar  über  dem  orden  waltende  Schicksal  erscheinen.     Diese  rolle  übernimmt  im 
2.  teile  der  erzbischof  Wilhelm  v.  Paris :    er  leitet  als  Werkzeug  des  „  tals "   den  pro- 
cess  gegen  die  templer  so,    dass   die  Vernichtung  ihrer  edlen  häupter  erfolgen  muss, 
um  gereinigt  im  tale  aufzuerstehen.     Das  tal  aber  verwirft  die  templer,    weil  sie  — 
wie  die  rationalisten  —   ihren  mitgliedern  einen  freudeleeren   pflichtbegriff   gegeben 
imd  die    religion   genommen  haben.     Denn   die   menge,    die  irrenden,    bedürfen    der 
mythologie  —  deshalb  duldet  das  tal  alle  religionen;    erst  in  ferner  Zukunft  ist   viel- 
leicht zu  hoffen,  dass  alle  die  religion  des  tals  haben  können.     Dieser  höchste  glaube 
des  taLs  hat  zum  mittelpunkt  die  aufgäbe  der  eigenen  persönlichkeit,  und  die  höchste 
aufgäbe  desselben  (oder  der  Werner'schen  i'eligion)  ist  Vergöttlichung  der  menschheit 
durch  ertötung  des  eigenwillens.     Die  erste  handlung  der  selbstentäusserung  ist  die 
Opferung  des  eigenwillens  im   „tal",    die  letzte  ist  der  tod,    der   das   zeiüiessen  in 
das  all  einleitet.     Werner  hat  diese  Weisheit  des  tals  einmal  in  mystischem  gewande 
in  der  —  von  Poppenberg  treffend  erklärten  —  Phosphoruslegende  dargelegt,  die  im 
5.  akte   dem  in  das  tal  eintretenden  Robert  vorgelesen  wird,    und  vorher  schon  im 
2.  akte  in  der  widerwärtigen  ballade  vom  „ritter  von  Sidon",  die  der  troubadour  dem 
im  kerker  schmachtenden  Molay  zur  tröstung  vorliest.     Deshalb  ist  der  tod  und  auch 
schon  die  krankheit  innig  zu  lieben,  und  wir-  verstehen  nun,   wie  alle  geweihten  tal- 
mitglieder  in  folterwonnen  und  martyrien  wollüstig  schwelgen,    dem   tode  wie    der 
braut  entgegengehen  oder  schmerzlich  verlangen,    dass  bald  die  röte  der  wangen  in 
Schnee  und  dieser  dann  in  giün  zerrinne.     Denn   „aus   blut    und  dunkel  quillt  die 
erlösung";  so  könnte  das  motte  des  Stückes  lauten. 

Dass  dieser  erotische  todes-  und  krankheitskultus  sich  auch  sonst  in  der  deut- 
schen litteratur  findet,  weist  Poppenberg  zunächst  durch  heranziehung  von  Spee, 
Scheffler  und  Jacob  Bälde  nach,  von  denen  der  letzte  der  Wernerschen  idee  am 
nächsten  kommt,  wenn  auch  hier  wie  bei  den  Herrnhutern  das  widerwärtige  dieser 
bilder  noch  in  etwas  durch  die  beziehung  auf  den  persönlichen  heiland  gemildert 
wird.  Damit  ist  schon  angedeutet,  dass  das  heilige  abendmahl,  das  grösste  myste- 
rium  der  christlichen  kirche,  in  dem  sich  die  gläubige  seele  mit  dem  Heiland  in 
leibhaftige  Verbindung  setzte,  in  vielen  fällen  frommen  gemütern  den  anstoss  zu  sol- 
chen schwärmerischen  Vorstellungen  gegeben  hat.  —  Noch  von  anderer  Voraussetzung 


SCHMEDES,    ÜBER   FARIXELLI,    GRILLPARZER   VKD   LOPE   DE   VEGA  419 

gelangte  Novalis  zu  einer  der  Weruer'sclien  völlig  gleichkommenden  wollüstigen 
todesliebe:  früh  hatte  er  die  verlobte  verloren;  seine  verzweifelte  trauer  sollte  erst 
enden,  wenn  mit  dem  tode  die  brautuacht  beginnen  würde;  in  ihrer  sinnlichen 
ausmalung  fand  er  schon  auf  erden  trost.  Ja  dem  tiefen,  selbstquälerischen  Novalis 
war  der  tod  auch  deshalb  willkommen,  weil  er  von  ihm  erlösung  von  allen  schmer- 
zen erhoffen  durfte,  jenen  schmerzen,  die,  aus  der  sünde  entstehend,  doch  den  men- 
schen für  die  liebe  Gottes  erst  recht  empfänglich  machen.  Poppenberg  ist  geneigt, 
in  anlehnung  an  E.  Th.  Ä.  Hoff  mann  auch  zur  erkiärung  von  Werners  Charakter 
jenes  Verhältnis  von  sünde  und  erlösung  heranzuziehen,  so  dass  also  AVerner  sich 
konsequent  der  sündenlust  hingegeben  habe,  um  dann  um  so  überzeugungstreuer  der 
weit  die  ertötuug  des  fleisches  predigen  zu  können.  Man  darf  aber  nicht  übersehen 
—  was  Poppeuberg  auch  an  anderer  stelle  andeutet  — ,  dass  der  grundzug  auch 
der  religion  "Werners  sinnlich  ist,  und  dass  sie  ihm  nur  ein  neuer  kitzel  für  die  aus- 
gezehrten nerven  war.  In  jedem  falle  erecheint  sein  charakter  in  gleich  schlimmem 
lichte.  —  Ein  exkurs  über  spuren  solcher  todesmystik  bei  Goethe  und  Hebbel 
beschliesst  den  hauptteil  der  schrift. 

Vielleicht  ist  es  mir  gelungen,  die  überreiche  fülle  des  materials,  das  Pop- 
penberg zur  kennzeichnung  der  todeserotik  der  romantik  unter  ausgedehnter  benutzung 
der  einsclilägigen  litteratur  beibringt,  anzudeuten.  Er  beherrscht  sein  gebiet  und 
weiss  uns  in  demselben  vortrefflich  zu  orientieren.  An  druckfehlern  sind  mir  nur 
sehr  wenige  begegnet,  darunter  s.  55  in  den  versen  aus  Novalis  „opfer"  statt 
„opfern".  —  Nicht  genügend  scheint  mir  nur  hervorgehoben  zu  sein,  dass  der  ge- 
danke,  der  mensch  müsse  seinen  eigenwillen  zum  vernünftigen  gesamtwillen  oder 
(religiös  gesprochen)  zum  gotteswillen  vollenden,  und  er  könne  dies  erst  völlig,  wenn 
der  tod  das  sinnliche  vernichtet,  ebenso  ein  glaubenssatz  des  Christentums  wie  der 
Kantischen  moral  ist.  Dass  die  von  Werner  und  den  romantikern  gepredigte  quietis- 
tische  Opferung  des  eigenwillens  und  ihre  wollüstige  todesliebe  etwas  anderes  ist, 
ist  klar.  Aber  ich  vermag  dann  in  dem  s.  61  citierten  Spruche  Goethe's  und  in  den 
vereen  aus  dem  Westöstlichen  divan  nichts  specifisch  mystisches  mehr  zu  finden. 

Dem  werte  der  ganzen  schrift  tut  diese  geringe  ausstellung  wenig  abbruch; 
die  Söhne  des  tales  sind  von  Poppenberg  nach  üirem  wahren  werte  bestimmt:  ein 
als  drama  wertloses  werk,  an  dem  nur  die  lebendige  dramatische  spräche  lob  ver- 
dient, das  aber  interessant  ist  als  denkmal  einer  vielfach  irregehenden  mystik. 

HAMBURG.  FRAN'Z    AHLGRIMM. 


Grillparzer  und  Lope  de  Vega.     Von  Arturo  Fariiielli.     Mit  den  bildnissen  der 
dichter.     Berhu,  Eelber.    1894.     XI  und    333  s.     6,50  m. 

Das  buch  macht  schon  durch  die  wärme,  mit  der  es  geschrieben  ist,  einen 
erfreulichen  eindruck.  Die  eiuleitung  berichtet  ausführlich  über  die  lange  verkennung 
Lopes  in  Deutschland  und  nimmt  für  Grillparzer  das  verdienst  in  anspruch,  den 
Deutschen  das  genie  des  spanischen  dichters  offenbart  zu  haben.  FarineUi  bespricht 
dann  das  Verhältnis  der  drameuGriUparzers  zu  den  comedias  von  Lope :  wo  er  bei  die- 
sen erörterungen  bisher  geltenden  annahmen  entgegentritt,  wird  man  ihm  meist  recht 
geben  müssen.  Der  zweite  hauptteü.  des  buches  fasst  die  eigenen  aufzeichnungen  des 
dichters  mit  äusserungen,  die  er  bekannten  gegenüber  zu  verschiedenen  zeitcn  getan 
hat,  zu  einem  gesammtbildc  seiner  Studien  über  Lope  de  Vega  zusammen.     Im  allge- 

27* 


420  LEITZMAXN,     ÜBER    SCHRÖTKR    ITNT)    THIFXE,    HAMBITRGISCHE    DRAMATURGIE 

meinen  teilt  der  Verfasser  Grillijarzers  Vorliebe  für  den  Spanier  und  findet  sich  mit 
den  urteilen  seines  laudsiuannes  über  die  einzelneu  coniedias  in  Übereinstimmung. 
Doch  zeigt  er  sich  nicht  bhnd  gegen  Übertreibungen  und  berichtigt  gelegentlich  auch 
ungerechte  urteile  über  andere  Spanier  wie  z.  b.  Cervantes.  Das  schlusskapitel  end- 
lich führt  in  ansprechender  weise  den  vergleich  zwischen  der  dichterischen  indivi- 
dualität  GriUparzers  und  der  seines  spanischen  lieblings  durch. 

Gegen  diese  und  jene  ansieht  des  Verfassers  (zum  beispiel  gegen  das,  was  er 
s.  41  über  den  trochaeus  im  deutschen  sagt)  wäre  wol  allerlei  einzuwenden;  als  gan- 
zes ist  sein  buch  ohne  frage  ein  wertvoller  beitrag  zur  Grülparzerhtteratur.  Eine 
erstaunliche  belesenheit  ist  wol  schuld  daran,  dass  namentlich  in  den  anmerkungen 
zuweilen  dinge  zur  spräche  kommen,  die  mit  dem  thema  nur  in  sehr  entferntem 
zusammenhange  stehen.  Vielleicht  entschliesst  sich  der  Verfasser  fiir  eine  zweite  auf- 
läge, die  ich  dem  buche  von  herzen  wünsche,  aus  inicksicht  auf  die  zahlreichen  des 
spanischen  gar  nicht  oder  doch  nur  mangelhaft  kundigen  Grillparzerfreunde ,  die 
citate  alle  in  deutscher  Übersetzung  oder  wenigstens  von  einer  solchen  begleitet  zu 
geben.  Der  darstellung  merkt  man  es  nicht  an,  dass  sie  aus  der  feder  eines  mau- 
nes  geflossen  ist,  dessen  muttersprache  das  italienische  ist;  nur  den  verunglückten 
satz  s.  .54,  z.  6  fgg.  v.  o.  hätte  sein  stilistischer  beii'at  nicht  durchschlüpfen  lassen 
sollen.     Die  ausstattung  des  buches  verdient  entschiedenes  lob. 

WANDSBEGK,    28.  FEBR.    1895.  J.    SCHMEDES. 


Lessings  Hamburgische  dramatiirgie.  Ausgabe  für  schule  und  haus  von  Frie- 
drich Schröter  und  Richard  Thiele.  Halle,  "Waisenhaus.  1895.  VIÜ  und  535  s. 
Das  verdienst  der  vor  fast  zwanzig  jähren  erschienenen  grossen  kommentier- 
ten ausgäbe  der  Lessingschen  dramatui'gie  von  Schröter  und  Thiele  ist  allen  freun- 
den und  forschem,  die  sich  mit  Lessing  beschäftigen,  bekannt  und  unbestritten.  Das 
gleiche  lob  verdient  die  kleinere  ausgäbe  für  schule  und  haus,  welche  die  Verfasser 
jetzt  veranstaltet  haben.  Eine  einleitung  orientiert  ausführlich  über  die  äussere  ge- 
schichte  des  werkes,  klar,  aber  knapp,  vielleicht  stellenweise  zu  knapp  über  den 
theoretischen  Inhalt;  hier  hätte  manches,  was  die  anmerkungen  nachbringen,  hinein- 
verflochten werden  können,  z.  b.  die  katharsisfrage  und  Lessings  Verhältnis  zu 
Shakespeare  (vgl.  jetzt  Witkowskis  aufsatz  im  Euphorien  2,  517).  Im  texte  sind 
einzelne  für  schule  und  [haus  ungeeignete  oder  minder  wichtige  abschnitte  (z.  b. 
die  musikalischen  bemerkungen  zur  Semiramis,  die  langen  anaJysen  des  Esses  von 
Banks  und  des  spanischen  Essex,  dis  beurteilung  der  Veränderungen  der  Teren- 
zischen  adelphi  durch  Eomanus)  ausgeschieden,  was  man  billigen  kann.  Allseitige 
vorzügKche  erklärungen  stehen  unter  dem  text  und  bilden  den  fortlaufenden  kom- 
mentar,  in  welchem  auch  die  sprachform  der  dramatui-gie  eingehend  berücksichtigt 
worden  ist.  Den  Verfassern  ist  es  gelungen,  die  bisher  verlorenen  theaterzettel  der 
Hamburger  entreprise  in  der  Gothaer  bibliothek  zu  entdecken  und  für  einige  kleine 
korrekturen  im  texte  zu  verwerten;  ein  besonderes  schriftchen  Thieles  (Erfuii;  1895) 
orientiert  eingehender  über  den  wert  dieses  fmides.  Den  schluss  des  buches  bilden 
ein  Verzeichnis  sämmtlicher  stücke  sowie  ein  grararaatiseh- lexikalisches  und  ein  Per- 
sonenregister. Der  ausgäbe  ist  die  weiteste  verbreitimg  zu  wünschen.  —  Versehen 
sind  mir  in  der  einleitung  und  den  anmerkungen  kaum  aufgefallen:  s.  11  lies  „Busch" 
statt  „Busch",  s.  35.  201  „Stüven"  statt  „Stüve". 

WEIMAR,    11.  SEPTEMBER    1895.  ALBERT    LEITZMANN. 


HAUIT,    ABTISEN    UMU    AimiAVK  421 

MSCELLEN. 

Artisen  und  arthave. 

I. 

0.  Breuner  hat  in  dieser  zeitschr.  27,  386  —  389  mit  recht  darauf  aufmerk- 
sam gemacht,  dass  für  das  wort  erdiscn  die  ihm  beigelegte  bedeutimg  pflugeisen, 
pflüg  schar  bisher  nirgeods  nachgewiesen,  ja  dass  das  Vorhandensein  des  wortes  in 
hohem  grade  zweifelhaft  sei.  Er  bemerkt  zutreffend,  dass  in  dem  gedichte  „Vom 
rechte"  die  änderung  des  handschriftlich  überlieferten  cardisen  (so,  nicht  ardiseti, 
wie  Brenner  mit  irriger  bezugnahme  auf  Schroeder  angibt,  steht  in  der  handschrift) 
in  erdisen  nicht  statthaft,  und  dass  auch  an  der  zweiten  stelle,  an  der  uns  das  wort 
begegnet  (Mon.  Boica  VIII,  258),  die  überlieferte  form  {erdysin  oder  erdysir)  nicht 
zureichend  gesichert  sei.  Auf  einem  irrwege  befindet  er  sich  aber,  wenn  er  an  beiden 
stellen  cerdlseu  bezw.  erdtsen  durch  eidtsen  (=  egg- eisen)  zu  ersetzen  vorschlägt 
und  den  von  Edw.  Schroeder  im  Anz.  f.  d.  alt.  17,  291  gegebenen  hinweis  auf 
eine  form  ardtsen  ablehnt.  Das  bisher  meines  wissens  unbekannt  gebliebene  wort 
artisen  freue  ich  mich  durch  folgende  drei  urkundliche  stellen  belegen  zu  können: 

1)  A'"erleihung  eines  üeckens  xoschen  Ittingißhusen  unde  Abern-Bcs singen 
seitens  des  grafen  Johann  von  Solms  an  den  waldschmied  Kudiger  am  29.  September 
1448  behufs  anlegung  einer  waldschmiede.  Der  beliehene  soU  davon  jerliehs  of  s. 
Mertins  tag  in  unser  kelnery  gein  Liehe  zto  erbexinß  geben  6  giilden  geldes  Francken- 
furtir  weronge,  %ico  icagen  isens  unde  zweye  par  artysen.  Gedruckt  bei  Bauer, 
Hessische  ui'kunden,  bd.  IV  nr.  166  s.  157  fg.  nach  dem  original. 

2)  In  der  „Beschreibung  aller  zubehörden  des  hauses  Glyperg,  de  1412"  (Nas- 
sauer copialbuch  des  archivs  zu  Wiesbaden  nr.  45)  ist  über  die  Waltsmit  (Hof 
Öchmitte  bei  Eodheim  a.  d.  Bieber)  bemerkt:  Item  die  ivaltsmit  und  Rodheim  gehö- 
rit  allein  gein  Olyperg  und  gildet  jars  der  herschafft  12  gebont  guts  issens  und 
dry  par  gtttes  ardisen  uff  das  slos  Olyperg  usw.  Gedruckt  nach  dem  original 
bei  H.  V.  Ritgen,  Eegesten  zur  geschichte  von  Gleiberg,  im  2.  Jahresbericht  des 
Oberhessischen  Vereins  für  lokalgeschichte  (1881)  s.  64. 

3)  Am  9.  februar  1421  wird  von  graf  Philipp  I.  von  Nassau -AVeilburg  dem 
waldschmied  Otto  von  "Weiününster  die  zu  Weilmünster  gelegene  waldschmiede  ver- 
liehen. Er  verspricht  dagegen,  dass  er  und  seine  erben  dem  grafen  jerlichin  xu 
gulde  gebin  sollin  uff  sant  Martins  tag  mit  ttamen  echte  ivagen  ysens  unde  fiere 
phar  ardt-isen,  daz  ist  mit  namen  fiere  sech  unde  fier  schar,  unde  die  entwurten 
uff  U7iser  host  unde  schaiden  gen  Wilburg  uff  die  burgk.  Die  Urkunde  ist  nach 
dem  original  abgedruckt  bei  Becker,  Geschichte  des  bergbaues  und  des  bergrechts 
in  dem  vormaligen  Nassau'schen  amte  Weilmünster,  in  der  Zeitschrift  für  bergrecht 
XVIll  (1877)  s.  483. 

Durch  die  zuletzt  angeführte  stelle  wird  die  bedeutung  des  neu  gewonnenen 
Wortes  ausser  zweifei  gesetzt:  unter  artisen  werden  die  beiden  am  pflüge  befindlichen 
eisen,  die  pflugschar  (vomer)  und  das  pilugsech  (lat.  ligo,  culter)  zusammengefasst. 
Auch  an  den  beiden  ersten  stellen  werden  darum  als  abgäbe  des  waldschmieds 
paare  von  artisen  festgesetzt,  und  in  der  oben  angeführten  Urkunde  der  Monumenta 
Boica  ^  hat  es  sich  offenbar  gleichfalls  um  die  zinsabgabe  eines  paars  artisen  gehan- 

1)  VIII,  258:  ein  ieglicher  Hirt  . .  .  sol  iarliehen  davon  geben  .  .  .  xioai  erd- 
ysin, wann  die  von  alter  und  mit  recht  daxu  gehörnt. 


422  HAUPT 

delt.  ZeuguissG  für  die  weite  Verbreitung  dieser  art  von  abgäbe  Hessen  sich  wol 
unschwer  in  grösserer  zahl  beibringen.  Hier  möge  nur  noch  angeführt  werden,  dass 
die  zu  Betsingerode  im  Harz  befindUche  eisenhütte  des  klosters  Ilsenburg  diesem 
1477  ein  plochhlath  und  ein  seeck  zu  liefern  hatte',  dass  um  1411  —  1419  als  abgäbe 
der  eisenhütte  bei  Elbingerode  im  Harz  an  den  bischof  von  Halberstadt  zwei  2}loch- 
ysenblat  und  zwei  sek  festgesetzt  waren ,  vgl.  Jacobs ,  TJrkundenbuch  der  stadt  Werni- 
gerode (Geschichtsquellen  der  provinz  Sachsen  25)  s.  163,  dass  ferner  schon  1030  der 
abtei  zu  St.  Marien  bei  Trier  von  dem  markte  Masholder  bei  Bitburg  als  zins  vomcr 
timis  cum  cultro  jährlich  geUefeii  wurde.  Vgl.  hierfür  Beyer,  TJrkundenbuch  zur 
geschichte  der  mittelrheinischen  territorien  bd.  I  s.  354.  In  dem  güterverzeichnis  des 
klosters  Prüm  von  893,  bezw.  1222  (Beyer  a.  a.  o.  s.  161  anm.  3)  erscheinen  unter 
den  abgaben  eines  hofes  „ferramenta  aratri,  quae  vocantur  scar".  Ob  es  sich  hier 
nur  um  die  abgäbe  von  pflugscharen ,  oder,  was  wahrscheinlicher,  um  die  eines  paars 
artisen  handelt,  lässt  sich  bei  der  Unbestimmtheit  des  ausdrucks  nicht  entscheiden. 
Der  schultheiss  des  abtes  zu  Münster  im  St.  Gregorienthai  hatte  jährlich  dem  abte 
3  pflugyscn  ze  jeglicher  zeigen  eins  zu  liefern  (Urkunde  von  1339  bei  Schoepflin, 
Alsatia  diplomatica  II,  163  nr.  980).  » 

Wenn  artisen  an  der  von  Brenner  behandelten  stelle  des  gedichtes  „Vom  rechte", 
wie  es  scheint,  in  der  enger  gefassten  bedeutung  von  pflüg  schar  gebraucht  wird, 
so  liegt  wol  die  gleiche  licenz  vor,  die  im  heutigen  Sprachgebrauch  häufig  pflugeisen 
an  die  stelle  von  pflugschar  treten  lässt. 

Als  die  bedeutung  von  art  bezeichnet  Brenner  bd.  27,  387  „ganz  allgemein 
„landbau";  artisen  wäre  also  nach  Brenner  „Ökonomie -eisen,  doch  ein  zu  weiter 
begriff".  Nachdem  für  artisen  die  bedeutung  „pflugeisen"  ^  festgestellt  ist,  wüxl  man 
aber  art-  notwendig  in  engere  Verbindung  mit  der  pflügung  bringen  und  annehmen 
müssen,  dass  art  in  der  Zusammensetzung  artisen  seine  ursprüngliche  bedeutung  = 
aratio  (oder  =  aratrum?  vgl.  alts.  erida,  altnord.  arctr)  noch  bis  zum  ausgang  des 
mittelalters  beibehalten  hat^. 

Den  vorstehenden  ausführungen  des  herrn  Verfassers  fügt  E.  Schröder,  der 
sie  uns  übermittelte,  die  nachfolgenden  bemerkungen  hinzu: 

1)  TJrkundenbuch  des  klosters  Ilsenburg  (Geschichtsqu.  der  prov.  Sachsen, 
bd.  VI)  s.  379.  Vgl.  dazu  Ed.  Jacobs,  Peter  der  Grosse  am  Harz  und  die  gräflichen 
hüttenwerke  zu  Ilsenburg,  in  der  Zeitschrift  des  Harzvereins  f.  gesch.  u.  alt. -k. 
Jahrg.  XIII  (1880)  s.  254.  Im  jähre  1478  wurden  2  lampna  und  2  seek,  später 
1  lampna  und  1  seek  gezinst.  Jacobs  fasst  lampna  {latmnina)  allgemein  als  abgäbe 
an  eisenblech;  man  vermisst  aber  dann  eine  massbezeichnung.  Mir  erscheint  eher 
lampna  Übersetzung  von  plochhlath  (=  pflugschar) ,  welches  wort  übrigens  bei  Schil- 
ler-Lübben  nicht  erscheint.  Dieffenbach^  Glossar,  latino  -  germanic.  s.  316  verzeich- 
net zu  lamen  u.  a.  die  glossen  ysern  und  eisenick. 

2)  Unter  phluoe-'iscn  hat  man  im  mhd.  offenbar  in  der  regel,  wenn  auch  wol 
nicht  immer,  gleichfalls  die  beiden  haupt- eisen  des  pflugs,  die  schar  und  das  sech, 
zusammengefasst.  So  verzeichnet  z.  b.  das  Inventar  der  Deutsch -ordens-häuser  Inster- 
burg  im  jähre  1487  u.  a.  8  eysern  iJflug,  7  par  pflüg -eysern,  nachdem  unmittelbar 
vorher  12  schor,  10  sech  aufgeführt  waren  (Urkunden  zur  geschichte  des  ehemaligen 
hauptamts  Insterburg,  herausg.  von  A.  Hörn  und  P.  Horu,  Insterburg,  1895  s.  21). 

3)  Zu  art  vgl.  Grimm,  Deutsches  wörterb.  I,  568  und  573.  VII,  1774.  Deut- 
sche grammatik  III,  414.  Gesch.  d.  deutschen  spraclic  I,  55.  Nachweise  des  ge- 
brauchs  von  art  =  ai'atio  im  mittelniederdeutschen  bei  Schiller-Lübben  I,  130  fg., 
im  neuhochdeutschen  bei  Heyne  1,  149,  Grimm  I,  573  und  Staub -Tobler,  Schwei- 
zer. Idiotikon  I,  473  fg.     Die  gleiche  von  Lexer  nioht  bemerkte  bedeutung  im  mhd. 


AEliSEN    UND    AETUAVE  423 

Meiner  absieht,  das  im  „Recht"  bei  Karajan  6,  16  überlieferte  cerdisen  gegen 
Brenners  übereilte  conjectur  ceidisen  zu  verteidigen,  ist  herr  oberbibliothekar  H.  Haupt 
mit  einer  belesenheit  zuvorgekommen,  der  gegenüber  ich  mich  auf  wenige  Sätze 
beschränken  kann. 

Den  aalass,  in  cBrdisen  ein  mögliches  ardisen  zu  vermuten,  bot  mir  die  auf- 
fällige Schreibung  mit  cn.  Ich  habe  aus  der  Millstätter  hdschr.  die  stücke  vom  Eecht, 
Hochzeit  und  Physiologus  coUationiert  (Kar.  s.  3  —  44.  73  —  106).  In  ihnen  kommt 
das  zeichen  cb  168 mal  vor;  davon  stellen:  1)  118  fälle  umlaut  des  a  dar  (eingeschlos- 
sen das  dreimalige  stcet,  das  natürlich  auf  analogie  von  lat  89,  16.  94,  9  beruht); 
2)  43  fälle  gelten  der  jüngeren  resp.  schwächeren  umlautsstufe  von  ä\  3)  2 mal 
{iemccn  9,  13.  niemcen  28,  2)  bezeichnet  cr  ein  im  nachton  zu  e  geschwächtes  a. 
Jo  einmal  bezeugt  ist  ferner  tceidinch  und  mcennischen  (anlehnung  an  man) ;  Schreib- 
fehler ist  das  erste  cß  in  gcBmcehi  94,  7.  Altes  e  ist,  trotz  vielhundertfachem  vor- 
kommen, nur  einmal  als  (b  geschrieben:  dcer  36,  20. 

Es  ist  also  von  vorn  herein  nicht  sehr  wahrscheinlich,  dass  ce  in  cerdisen  als 
altes  e  wie  in  erde  zu  deuten  sei;  man  wird  es  am  ehesten  doch  zu  der  gruppe  2)  stel- 
len, und  sogut  neben  19  mal  yeslcehte  2mal  geslahte,  neben  gemcechede  84,  4.  15  — 
gemachede  88,  2,  neben  gescelbede  78,  1  —  gesalbede  77,  19,  neben  gemcehelen  12,  12 
—  gemahelin  24,  12,  neben  almcehtigen  27,  12.  75,  10.  102,  9  —  eingahtiger 
100,  12  vorkommt,  dürften  wir  neben  (ßrdisen  bei  einer  widerkehr  des  wertes  wol 
auch  ardisen  erwarten  —  oder  ■siebnehr  artisen! 

Denn  ich  glaube  allerdings,  dass  der  Schreiber  der  MiUstätter  hdschr.,  indem 
er  statt  artisen  oder  auch  (artisen  der  vorläge  ardisen  schrieb,  dabei  eine  halb 
unwillkürliche  aunäherung  an  crdisen  vollzog,  und  dass  er,  falls  er  überhaupt  eine 
etymologische  Vorstellung  damit  verband,  diese  an  den  unmittelbar  vorher  (6,  7.  14) 
mehrfach  gebrauchten  ausdruck  il%  (von)  der  erde  bringen  anlehnte. 

Nun  pflegen  solche  mechanischen  wie  die  Volksetymologien  selten  sinnvoll  zu 
sein,  aber  dass  man  ein  wort  erdtsen  an  sich  zu  beanstanden  habe,  kann  ich  Bren- 
ner ganz  und  gar  nicht  zugeben,  erde  ist  im  gegensatz  zur  lockern,  staubigen  molte 
(wiu'zel  viel,  mal)  das  feste,  consistente  erdreich,  und  da  jedes  einfache  eiserne 
Instrument  metonym  auch  „eisen"  genannt  werden  kann,  so  wäre  ein  „eisen"  zum 
bearbeiten  der  „erde''  eben  ein  „erdeiseu". 

Nachdem  Haupt  das  gesuchte  artisen  „  pflugeisen  "  nachgewiesen  hat  \  bedarf 
es  kaum  noch  einer  ausdrücklichen  zuiückweisung  der  conjectur  ceidisen  „eggeisen". 
Die  „egge"  ist,  das  bestätigen  auch  die  giossierungen  trotz  aller  mannigfaltigkeit,  nie- 
mals ein  gerät,  das  in  schwerem  erdreich  den  pflüg  ersetzen  kann:  meist  muss  die- 
ser seine  arbeit  vorher  getan  haben.  An  unserer  stelle  aber  handelt  sichs  gerade  um 
ein  Werkzeug,  das  tief  in  den  unlängst  gerodeten  waldboden  eindringt.  Das  passt 
auf  den  pflüg,  aber  auf  keine  wie  immer  geartete  „egge". 

11. 
Im  Mhd.   handwörterbuch  I,   98  führt  Lexer   unter    den   Zusammensetzungen 
mit  art  auch  art-houwe  mit  der  angebhchen   bedeutung  feldhaue  auf;    auch  Bren- 

erscheint  an  der  von  Vilmar,  Idiotikon  von  Kurhessen  s.  16  angezogenen  stelle  einer 
Urkunde  von  1446:  iglieh  foncergk  sal  jer liehen  xu  ydcr  art  crcn  eynen  tag,  und 
in  einer  Urkunde  von  1388  bei  J.  Ai'noldi,  Beiträge  zu  den  deutschen  glossarien  s.  8. 
1)  In  einer  (was  immerhin  erwähnt  sein  mag)  von  altalemannischen  Siedlungen 
durchsetzten  landschaft;  vgl.  übrigens  auch  Crecelius,  Vilmar  iind  den  "Westerwälder 
Schmidt  s.  v.  art  u.  ä. 


424  HAUPT,    AETISEN   UND   ARTHAVE 

ner  Zeitschr.  27,  387  lässt  die  bedeutuDg  baiiernliacke  gelten.  Das  wort  begegnet, 
soweit  ich  sehe,  nur  an  einer  einzigen  stelle,  nämlich  in  dem  von  herzog  Otto  von 
Baieru  1311  den  bairischen  ständen  ausgestellten  freiheitsbriefe,  der  unter  anderem 
auch  bestimmungen  über  die  bestrafuug  von  diebstabl  gibt.  Vgl.  G.  v.  Lerchen- 
feld, Die  altbaierischen  landständischen  freibiiefe  (1853)  s.  1  und  register  278,  wo 
dem  Worte  die  unmögliche  bedeutung  „das  erste  oder  alt-heu"  unterlegt  wird; 
auch  abgedruckt  in  den  Quellen  u.  erörteruugen  z.  bayer.  u.  deutschen  geschichte, 
bd.  VI  (Monumenta  Wittelsbacensia  II)  s.  184.  Ist  an  dem  diebe  die  todesstrafe  voll- 
zogen, so  soll  nach  dem  freiheitsbriefe  „auf  dem  guet  beleiben,  da  der  deup  auf 
gesessen  ist,  same  arthaue^  und  was  ze  recht  darzu  gehört;  von  dem  andern  tail  sol 
gefallen  des  deubes  hausfrauen  und  kinden,  ob  er  sy  hat,  das  drit  tail;  das  ander 
guet  alles  gefellet  dem  herren,  auf  des  guet  er  sitzet.  Hat  aber  er  weder  weib  noch 
kind,  so  gefellet  es  alles  dem  herren."  Es  handelt  sich  an  unserer  stelle  offenbar 
darum,  aus  dem  nachlasse  des  bestraften  diebes,  der  als  hintersasse  gedacht  wird, 
dasjenige  auszuscheiden,  was  nicht  gegenständ  einer  teilung  zwischen  seinen  hinter- 
bliebenen  und  seinem  gutsherrn  werden  soll.  Der  zusatz  sawe  (idem,  Lexer  II,  590) 
weist  darauf  hin,  dass  das  ausgesonderte  objekt  in  seinem  bestände  nicht  alteriert  wer- 
den soll;  die  werte  tmd  tvas  %e  recht  darxu  gehört  bezeichnen  arthaue  als  einen 
complex  verschiedener  gegenstände.  Die  bedeutung  „  feldhaue "  kann  unter  diesen 
umständen  nicht  in  frage  kommen.  Dem  richtigen  sinne  des  wertes  werdeii  wir 
dagegen  durch  die  betrachtung  der  in  einer  Urkunde  des  Jahres  1262  über  die  eigen- 
tumsverhältnisse  der  hintersassen  des  Passauer  domkapitels  getroffenen  bestimmun- 
gen (s.  Quellen  und  erörterungen  zur  bayer.  und  deutschen  geschichte,  bd.  V  [Monu- 
menta "Wittelsbacensia  I]  s.  189)  näher  kommen.  Dort  heisst  es:  „Si  advocatus 
voluerit  cogere  rusticum  nostrum  per  pignus  aliqi;od,  non  tollet  araturas  nostras, 
quod  vulgo  hof gerillt  dicitur,  ne  propter  hoc  locus  ille  incultus  remaneat  et 
desolatus."  Unter  dem  „gericht",  „hofgericht",  „hausgericht",  „gutsbericht"  verste- 
hen die  bairischen  rechtsurkunden  bis  auf  die  ueuzeit  herab  die  ausstattuug  eines 
hofs  mit  geraten,  vieh,  futter,  düng,  speisevorräten  usw.,  die  in  der  regel  der  grund- 
herr  als  eigentnm  anzusprechen  hatte;  vgl.  Schmeller^  II,  38.  Grimm,  Deutsches  Wör- 
terbuch IV,  1 ,  3636.  Um  nichts  anderes  als  um  diese  aratura  ^  oder  hofgeriht  wird 
es  sich  an  der  obigen  stelle  handeln:  die  im  engsten  sinne  zum  gute  und  zu  dessen 
bcwirtschaftung  gehörenden  gegenstände  soll  der  gutsherr  als  arthaue  bei  der  teilung 
des  nachlasses  des  bestraften  diebes  aussondern  und  für  sich  vorweg  zurückbehalten 
dürfen.  Die  gleichbedeutung  von  arthave  mit  gutsbericht  oder  hofgericht  dürfte  auch 
aus  folgender  stelle  der  „Erklärung  der  Landsfreyhait  in  Obern  und  Niedern  Bairn" 
von  1553  (G.  von  Lerchenfeld,  Die  altbaierischen  landständischen  freibriefe  s.  256) 
erhellen:  „Der  X.  articl.  "Wie  der  grundt-,  vogtherr  und  glaubiger  von  der  ublthäter 
guet  sollen  bezallt  und  enntricht  werden.  Es  sollen  auch  hierinn  vor  der  herrschafft 
und  allen  leuten   von  dem  guet  der  gruudtherr  oder  vogtherr  irer  güllt  und  guets- 

1)  Nach  G.  von  Lerchenfeld's  angaben  s.  CCCCXXXV  schwanken  die  4  verschie- 
denen originalien  des  freiheitsbriefs  zwischen  der  Schreibung  arthaue  und  arthav«. 
Im  legister  heisst  es:  y^arthaue,  in  den  originalien,  wie  sich  wol  von  selbst  versteht  (?), 
mit  übergesetztem  e." 

2)  Dieffenbach,  Glossarium  latiuo-germanicum  verzeichnet  für  aratura,  bezw. 
paratura  die  bedeutungen  garawin,  harauvi,  garue  (=  Zubereitung,  ziu-üstung,  Lexer 
1,  892).  Bei  Müller -Zarncke,  Mittelhochd.  wörterb.  II,  1,  üiQ  vgl.  htlsgerihte,  haus- 
rat  mit  der  gleichzeitigen  lateinischen  Übertragung:  paratura  unius  domus. 


11.    SCIBIIÜT-WAIJTENBEKG,    GEKMAN.    STUDIEN    IN   AMERIKA  42Ö 

benchtung  gewert  werden,   sein  weib,    ob  er  die  hat,    irs  zuegebrachten  heuratguets 
und  morgengab,  und  annder  sein  glaubiger  h'er  schuld  bezallt  ....  werden." 

Einer  fachmännischen  sprachlichen  erklärung  des  wertes  arthave  möchte  ich 
hier  nicht  vorgreifen,  sondern  nur  im  hin  weis  auf  das  sinnverwandte  aratura  mich 
für  die  annähme  entscheiden,  dass  im  ersten  teile  des  wertes  das  uns  bekannte  art 
(aratio)  widerkehrt.  Ob  have  an  die  stelle  eines  ui'sprüuglichen  habe  getreten  ist? 
Wir  hätten  dann  eine  art-  oder  wiii:schafts-habe,  etwa  entsprechend  dem  mhd.  und 
nhd.  „haushabe"  \  das  in  der  doppelten  bedeutung  von  haushaltung  und  hausbesitz 
begegnet. 

1)  Schmeller-  I,  1177.  1032.     Grimm  IV,  2,  6G9.     Lexer  I,  1404. 

GIESSEN.  HERMAN  HAUPT. 


Germanistische  Studien  in  den  Tereini^en  Staaten  von  Amerika. 

Es  ist  eine  bekannte  tatsache,  dass  Amerikaner  einen  grossen  procentsatz  der 
ausländischen  hörer  an  deutschen  Universitäten  bilden.  Seit  einer  langen  reihe  von 
Jahren  —  besonders  seit  Deutschlands  politischer  einigung  —  haben  hunderte  vou 
ihnen  ihre  wissenschaftliche  ausbildimg  dort  genossen.  Dass  dies  früher  oder  später 
fruchte  trage,  war  man  berechtigt  zu  erwarten;  dass  es  anfangs  vielleicht  nicht  in 
dem  gewünschten  masse  eingetroffen  ist,  liegt  an  der  Ungunst  der  Verhältnisse:  der 
natürlichen  begünstigung  mehr  materieller  bestrebungen ,  dem  geringeren  Verständnis 
für  rein  geistige  arbeit,  soweit  sie  als  direkt  praktisch  anwendbar  sich  nicht  erwei- 
sen lässt,  und  dem  hierdurch  bedingten  mangel  an  Instituten,  die  dem  gelehrten 
gelegenheit  zu  produktiver  forschung  gewähren.  Die  letzte  zeit  hat  jedoch  einen  ent- 
schiedenen aufschwung  des  wissenschaftlichen  strebens  gesehen.  Im  jähre  1875 
begann  die  Johns  Hopkins  University  ihre  arbeit  nach  deutschen  idealen  und, 
soweit  es  füi'  amerikanische  Verhältnisse  geeignet  war,  nach  deutschem  muster.  Eine 
reihe  von  lehrinstituten ,  ältere  und  neue,  haben  sich  ihr  im  laufe  der  jähre  ange- 
schlossen; sämmtlich  gehören  sie  zu  der  zahl  derer,  die  der  beispiellosen  muntficenz 
begüterter  Amerikaner  ihr  bestehen  verdanken.  Dass  die  naturwissenschaften  in 
erster  linie  an  diesem  emporblühen  beteiligt  sind,  ist  leicht  begreiflich;  material  in 
erstaunlicher  fülle  lockte  den  forscher  und  sicherte  auch  dem  anfänger  einen  beitrag 
zur  lösuug  untersuchenswerter  probleme. 

Dass  die  deutsche  phüologie  hier  bisher  nur  weniges  aufzuweisen  hat,  das  die 
anerkenn ung  deutscher  gelehrten  herausforderte,  hat  manche  gründe,  welche  alle 
darzulegen  nicht  der  zweck  dieser  kleinen  notiz  sein  kann.  Der  vorurteilslose  beur- 
teUer  aber  \nrd  selbst  bescheidenen  anfangen  seine  Sympathie  nicht  versagen.  Die 
Zukunft  sieht  versprechender  aus  und  deutet  auch  hier  auf  bevorstehenden  fortschritt. 
Einige  Seminarbibliotheken  dürften  sich  schon  jetzt  denen  deutscher  Universitäten 
gleichstellen.  Scherers,  Zarnckes  und  Hildebrands  büchersammlungen  sind  über  den 
ocean  gewandert,  und  die  wachsende  zahl  strebsamer  germanisten  bürgt  dafür,  dass 
diese  schätze  nicht  lange  müssig  die  schränke  zieren  werden.  Deutsche  lehrcurse, 
die  über  das  gymnasialpensum  hinausgehen,  werden  an  allen  besseren  Colleges  abge- 
halten. Leider  freilich  schliessen  die  meisten  notgedrungen  da  ab,  wo  das  vollere 
verständis  und  das  Interesse  an  selbständigem  arbeiten  envacht.  Nur-  wenige  sind 
in  der  läge,  beanlagtere  Schüler  in  methodische  wissenschaftliche  forschung  weiter 
zu  führen. 


426  H.    SCHMIDT  -  WARTENBEKG ,    GERMAN.    STUDIEN   IN   AMEWKA 

Nachstehend  folge  ein  verzeichuis  germanistischer  curse  (mit  ausschluss  des  eng- 
lischen), die  au  amerikanischen  universitüten  im  jähre  1S94  —  95  gehalten  werden. 

I.  Johns  Hopkins  Uuiversity.  (Baltimore.)  Altnordisch.  2  st.  (pro f. 
Wood).  Historische  deutsche  grammatit.  1  st.  (derselbe).  Gotisch.  2  st.  (derselbe). 
Heliand.  2  st.,  erstes  Semester  (dr.  Learned).  Althochdeutsch.  2  st.,  zweites  Seme- 
ster (derselbe).  Mittelhochdeutsch.  1  st.  (derselbe).  Holländisch.  2  st.  (dr.  Vos). 
Geschichte  der  deutschen  nationallitteratur.  1  st.  (derselbe).  Goethe's  Faust.  2st., 
zweites  semester  (prof.  "Wood). 

n.  Harvard  University.  (Cambridge,  Mass.)  a)  Litterarische  curse: 
Allgemeine  geschichte  der  deutschen  litteratur,  mit  besonderer  beräcksichtigung  der 
beiden  klassischen  perioden  des  12.  und  18.  Jahrhunderts.  3  st.,  zweites  semester 
(ao.  prof.  Schilling).  Deutsche  litteratur  des  12.  und  13.  Jahrhunderts.  3  st.,  zwei- 
tes semester  (ao.  prof.  von  Jagemann).  Deutsche  littei'atur  von  der  reformation  bis 
zur  klassischen  periode.     3  st.,  erstes  semester  (dr.  PoU). 

b)  Philologische  curse:  Gotisch.  3  st. ,  erstes  semester  (ao.  prof.  von  Jage- 
mann). Altsächsisch.  3  st.,  zweites  sem.  (derselbe).  Geschichte  der  deutschen 
Sprache  seit  1100.     3  st.,  zweites  sem.  (derselbe). 

HI.  University  of  Chicago.  Die  Chicagoer  Universität  ist  die  einzige,  die 
ohne  Unterbrechung  das  ganze  jähr  hindurch  geöffnet  ist.  Zwischen  den  vier  unter- 
richtsquartalen  ist  nur  eine  je  Stägige  pause.  Professoren  jedoch  wie  Studenten  wäh- 
len ein  quartal  als  ferieu.  Das  programm  des  deutschen  departements  ist  für-  das 
jähr  vom  1.  Oktober  1894- — 1.  Oktober  1895  das  folgende. 

a)  Herbst-quartal:  Das  litterarische  zusammenwirken  Goethe's  und  Schil- 
lers I  (prof.  Cutting).  Phonetik  (ao.  prof.  Schmidt -"Wartenberg).  Mittelniederfrän- 
kisch  (derselbe).  Geschichte  der  deutschen  spräche  (derselbe).  Gotisch  (dr.  von 
Klenze). 

b)  "Winter-quartal:  Das  litterasische  zusammenwirken  Goethes  und  Schil- 
lers n  (prof.  Cutting).  Althochdeutsch  (ao.  prof.  Schmidt -"Wartenberg).  Altnordisch 
(derselbe).     Altsächsisch  (derselbe). 

c)  Frühjahrs-quartal:  Vergleichende  gotische  grammatik  (ao.  prof.  Schmidt- 
"Wartenberg).     Nibelungenlied  (dr.  von  Klenze). 

d)  Sommer-quartal:  Lessing  als  kritiker  (prof.  Cuthiug).  Mittelhochdeutsch 
(derselbe).  Elemente  der  historischen  deutschen  grammatik  (besonders  für  lehrer  des 
deutschen  bestimmt)  (ao.  prof.  Schmidt -"U^artenberg).  Gotisch  (dr.  v.  Klenze).  Ele- 
meutarcurs  des  dänisch -norwegischen  (dr.  Dahl).  Srutlien  über  ßjörnsen  und  Ibsen 
(derselbe).     Altnordische  litteratur  (derselbe). 

Sämmtliche  Vorlesungen  und  Übungen  sind  vierstündig. 

IV.  Columbia  College  (New  York):  Goethe's  Faust,  1.  und  2.  teil.  2st. 
(prof.  ßoyesen).  Geschichte  der  deutschen  litteratur.  1  st.  (derselbe).  Geschichte  der 
deutschen  spräche.  2  st.  (prof.  Carpenter).  Isländisch  2  st.  (derselbe).  Gotisch.  2  st. 
(derselbe).  Mittelhochdeutsch.  2  st.  (derselbe).  Althochdeutsch.  2  st.  (derselbe).  Ger- 
manische mythologie.  1  st.  zweites  semesteer  (derselbe).  Geschichte  der  dänischen 
und  norwegischen  litteratur.  Ist.  (prof.  Boyesen).  Altnordische  litteratur.  2 st., 
zweites  semester  (derselbe).  —  Falls  nicht  anders  angegeben,  erstrecken  sich  die 
curse  durch  die  beiden  semester,  zwischen  denen  keine  ferien  liegen. 

V.  University  of  Michigan  (Ann  Arbor):  Goethe's  Faust.  2  —  3 st.,  zwei- 
tes sem.  (prof.  Thomas).  Curs  für  lehrer  des  Deutschen.  3 st.,  zweites  sem.  (der- 
selbe).    Geschichte  der  deutschen  litteratur,  zweites  sem.  (derselbe).     Althochdeutsch. 


aPHENÜEU,    LOKELEY  427 

3 st.,  zweites  sein.  (ao.  prof.  Hencli).  Historische  deutsche  grammatik.  Erstes  sem., 
Deutsch  und  wortbildungslehre;  zweites  som.,  Syntax.  2 st.  (derselbe).  Gotisch;  für 
anfäuger,  3 st.,  erstes  sem.  (derselbe);  für  vorgeschrittene,  2 st.,  zweites  sem.  (der- 
selbe). Mittelhochdeutsch.  2 st.,  erstes  sem.  (Mensel).  Nibelungenlied.  2st  ,  zwei- 
tes sem.  (derselbe) 

VI.  Leland  Stanford  Junior  University.  (Palo  Alto,  Californien) :  Mit- 
telhochdeutsche grammatik.  2 st.,  erstes  sem.  (prof.  Goebel).  Walth er  von  der  Vogel- 
weide. 2st.,  zweites  sem.  (derselbe).  Althochdeutsche  grammatik.  2st.,  erstes  sem. 
(derselbe).  Otfrid.  2 st.,  zweites  sem.  (derselbe).  Altnordische  grammatik.  2 st., 
erstes  sem.  (derselbe).  Saemundar  Edda.  2 st.,  zweites  sem.  (derselbe).  Gotisch. 
2 St.,  zweites  sem.  (derselbe). 

Vn.  Bryn  Mawr  College  (Bryn  Mawr,  Penusylvanien):  Geschichte  der 
deutschen  litteratur  bis  auf  Klopstock.  2st. ,  zweites  sem.  (prof.  H.  Collitz).  Allge- 
meine phonetik.  Ist.,  erstes  sem.  (dei-selbe).  Gotisch.  2st.,  zweites  sem.  (derselbe). 
Althochdeutsch.  Ist.,  zweites  sem.  (derselbe).  Mittelhochdeutsch.  2 st.,  zweites  sem. 
(derselbej.  Einleitung  in  die  germanistische  philologie.  1  st. ,  zweites  sem.  (derselbe). 
Altsächsisch.  Ist.,  zweites  sem.  (derselbe).  Altnordisch.  Ist.,  zweites  sem.  (der- 
selbe).    Vergleichende  germanische  grammatik.     2st. ,  zweites  sem.  (derselbe). 

VIII.  Com  eil  University.  (Ithaca,  N.  Y.).  Das  Studienjahr  ist  in  3  quar- 
talo  eingeteilt.  Gotische  grammatik.  2 st.,  erstes  und  zweites  quartal  (prof.  Wheelcr). 
Goethe's  Faust.  2st. ,  erstes  und  zweites  quartal  (prof.  Hewest).  Geschichte  der 
deutschen  litteratur.  Ist.,  durch  alle  drei  quaftale  (prof.  Hewett).  Mittelhochdeutsch. 
2st. ,  8  quartalo  (derselbe).  Uhlaud  und  die  schwäbische  schule.  3 st.,  drittes  quar- 
tal (derselbe).  Walther  von  der  Vogel  weide.  2öt. ,  3  quartale  (prof.  White).  Alt- 
hochdeutsch.    2st. ,  zweites  und  drittes  quartal  (dr.  Jones). 

CHICAGO.  H.    SCHMIDT  -  WÄRTENBERG. 

Der  name  der  Loreley. 

Der  name  der  Loreley,  des  berühmten  Eheiufelsens ,  wird  noch  in  den  neusten 
auflagen  der  handbücher  von  Daniel -Volz  und  anderen  erdkundlichen  werken  aus 
der  volkstümlichen  Form  L^srley  als  „Lauerfels"  gedeutet.  Wenn  wir  nun  in  dem 
zweiten  teile  des  wertes  unzweifelhaft  das  mittelrheinische  ley^  =  schieferfels  zu 
erkennen  haben,  so  spricht  gegen  diese  erklärung  des  ersten  bestand  teils  schon  der 
umstand,  dass  Lurley  mit  kurzem  lo  gesprochen  wird,  während  das  u  in  lilren  lang 
ist.  Was  soll  man  sich  übrigens  unter  einem  „Lauerfels"  denken?  Für  den  urheber 
dieser  erklärung  halte  ich  Schmellor,  der  in  seinem  Bayerischen  wörterbuche  -  1,  1499 
unter  „der  lauer"  auf  die  „Loreley  am  Khein"  verweist.  Dass  er  aber  lauern  hier 
nicht  in  der  gewöhnlichen  bedeutung  genommen  hat,  beweist  seine  Verweisung  auf 
hoUänd.  leur  =  täuschung.  Er  nimmt  also  lüren  in  der  im  mittelniederdeutschen  ver- 
breiteten bedeutung  „betrügen,  hintergehen",  die  sich  noch  im  kompositum  be- lüren 
(z.  b.  bei  Fr.  Eeuter)  erhalten  hat.  Schmeller  scheint  zu  dieser  deutung  durch  die 
sage  von  der  uixe  Loreley  veranlasst,  die  durch  ihren  gesaug  die  schiffer  betört. 
Nun  ist  aber  nach  neuereu  forschungen  diese  sage  durchaus  nicht  alt,    sondern  erst 

1)  Schon  mhd.  leie,  Ici  stf.,  fels,  besonders  schieferfels  (s.  Lexer  I,  1866); 
nicht  zu  verwecliseln  mit  U  stm.  (ahd.  Ideo]  „hügel",  wie  es  noch  in  dem  Mhd. 
lesebuche  von  Legeiiotz,  Bielefeld  und  Leiiizig  1892  s.  127  geschieht,  wo  unter  die- 
sem Worte  auf  die  Lore-ley  verwiesen  ist. 


428  SPRENGER,    ZU   GOETHES   IPHIGENIE 

durch  Nicol.  Voigt  erfimden  und  durch  Ol.  Brentano  und  H.  Heine  ins  volk  ge- 
drungen. 

E.  Moritz  Arndt  wollte  den  namen  von  einem  rheinischen  hirleien  „nachspre- 
chen" ableiten.  Dieses  verbum  ist  nun  freilich  nicht  alt  und  wol  erst  von  dem 
namen  der  Lurley  abgeleitet;  es  würde  aber  dafür  sprechen,  dass  dem  volke  an  dem 
berge  stets  das  wunderbare  funfzehnmalige  echo  das  bemerkenswerteste  gewesen 
ist.  Schon  Merlan  hebt  dies  hervor,  wenn  er  (vgl.  Daniel -Volz,  Deutschland  nach 
seinen  physischen  und  politischen  Verhältnissen,  6.  aufl.  Leipzig  1894,  s.  376)  von 
der  Loreley  sehreibt:  „so  von  den  Alten  der  Lurleberg  ist  genennet  worden,  in  wel- 
chem Gebürg  ein  sonderbar  lustig  Echo^  oder  Widerschall  sich  befindet."  Ich  möchte 
daher  den  namen  der  Loreley  auf  ein  in  Luthers  Schriften  erscheinendes  lören  = 
heulen,  schreien  zurückführen.  Vgl.  in  der  bibelübersetzung  Hosea  7,  14:  „so  rufen 
sie  auch  mich  nicht  an  von  herzen,  sondern  lören  auf  ihren  lagern."  Die  neue 
revidierte  Lutherbibel  hat  dafür  heulen  eingesetzt,  die  Vulgata  hat  uhclare.  Luther 
gebraucht  das  wort  widerholt  in  seinen  Schriften;  auch  nennt  er  die  Stifter  löhr- 
und  heulhäuser  (s.  Jütting,  Wörterbuch  zu  Luthers  bibelübersetzung,  Leipzig, 
B.  G.  Teubner  1864,  s.  118).  Da  Ziemann  in  seinem  Mittelhochd.  wörterbuche,  Qued- 
linburg und  Leipzig  1837  —  bei  Lexer  fehlt  das  wort  —  neben  Itereii  aus  WaUraffs 
glossar  auch  die  form  lorcn,  ohne  umlaut,  anführt,  so  wäre  jede  spracliliche  Schwie- 
rigkeit dieser  ableitung  beseitigt. 

NORTHEIM.  R.    SPRENGER. 

Zu  Goethes  Ipliigeuie. 

Im  I.  aufz.   3.  auftr.   erzählt  Iphigenie    dem  könige  Thoas  von    dem   grausen 
mahle,  das  Atrcus  seinem  bruder  Thycst  vorsetzte.     Dabei  heisst  es  v.  164  fgg.: 
Und  da  Thyest  an  seinem  fleische  sich 
Gesättigt,  eine  wehmut  ihn  ergreift, 
Er  nach  den  kindern  fragt,  den  tritt,  die  stimme 
Der  knaben  an  des  saales  thüre  schon 
Zu  hören  glaubt,  wirft  Atreus  grinsend 
Ihm  haupt  und  füsse  der  erschlagenen  hin. 

Dafür,  dass  der  vater  nach  dem  genuss  vom  fleische  seiner  söhne  von  wehmut  befal- 
len wird,  findet  sich  in  der  antiken  sage  kein  anhält.  Unwillkürlich  denkt  mau  dabei 
au  die  dame  von  Fayel  in  Uhlands  Castellan  von  Coucy,  als  sie  das  herz  ihres  gelieb- 
ten verspeist  hat: 

„Wie  die  dame  kaum  genossen. 

Hat  sie  also  weinen  müssen, 
Dass  sie  zu  vergehen  schien 
In  den  heissen  thränengüssen." 

Höchst  wahrscheinlich  ist  es  aber,  dass  Goethe  dies  motiv  aus  einem  deutschen 
märcheu  schöpfte,  das  unter  dem  titel  „Der  machandelboom"  in  den  Kinder-  und 
hausmäichen  der  brüder  Grimm,  als  nr.  47  der  grossen  ausgäbe,  überliefert  ist. 
Hier  heisst  es  vom  vater,  dem  sein  söhnchen  von  der  bösen  Stiefmutter  als  speise 
vorgesetzt  wird:  Da  kölim  de  vader  to  hims  und  sett't  sik  to  disch  un  säd  „ivo 
is  denn  myn  sühn?"  Da  droog  de  moder  enc  groote  groote  schöttel  up  mit 
schicartsuhr,    un  Marleenken  iceend  und  kimii  sich  nich  Hollen.     Do  säd  de   vader 


SPRENGER,    ZUM    SCHRETEL    Tl.    WASSERBÄR  429 

icedder  „ivo  is  denn  myn  sühn'?"  „Ach",  seid  de  moder,  „he  is  äicer  land  gaan, 
na  Matten  erer  grootükm:  he  wull  dar  wat  blytven"  ...  „Ach",  säd  de  mann, 
„my  is  so  recht  trurig;  dat  is  doch  nich  recht,  he  hadd  my  doch  adjüüs  sagen 
schullt."  Mit  des  füng  he  an  to  äten.  Un  he  eet  un  ect,  und  de  Jenakens  smeet 
he  all  ünner  den  disch,  bet  he  allens  up  hadd.  —  Dass  Goethe  unser  märchen, 
"wenn  auch  in  anderer  fassung,  aus  der  sich  auch  die  abweichungen  erklären,  kannte, 
beweist  das  lied  der  wahnsinnigen  Margarete  im  Faust  I.  teil  v.  4059  fgg. ,  worauf 
schon  W.  Grimm  im  3.  (erläuterungs-)  bände  der  märchen  (3.  aiifl.)  s.  78  aufmerk- 
sam gemacht  hat. 

NORTHEIM.  E.    SPRENGER. 


Zum  Schretel  und  wasserbär. 

Fr.  H.  V.  d.  Hagen  bemerkt  im  Gesammtabenteuer  3.  bd.  s.  LXXn  fg.,  dass 
dieses  thier-  und  gespenstermärchen  nicht  nur  in  Norwegen,  sondern  auch  in  der 
Altmark  und  Sachsen  noch  lebendig  ist.  Dass  es  auch  am  Harze  bekannt  war,  be- 
weist eine  erzählung  vom  kämpfe  eines  alten  Soldaten  mit  einer  schar  zwerge,  der 
in  einer  mühle  stattfindet  (mitgeteilt  in  Heinrich  Pröhles  Harzsagen  2.  aufl.  in  1  bd. 
Leipzig,  1886  s.  110  fg.).  Denn  dass  auch  hier  ui'sprünglich  ein  wasserbär  am  kämpfe 
gegen  die  zwerge  teilnahm,  wenn  die  Überlieferung  auch  nichts  davon  erwähnt,  wird 
dadurch  bewiesen,  dass  Pröhles  gewährsmann  erzählte:  „Am  anderen  abende  sass  er 
wider  in  der  mühle  und  der  müller  war  auch  dageblieben.  "Wie  es  nun  an  zwölfe 
kam,  klopfte  etwas  dreimal  an  das  fenster  und  fragte:  Müller,  hast  du  deine  böse 
katze  noch?  Da  schrie  der  alte  soldat  selber:  „Ja,  sie  jungt  alle  nacht  zwölfe."  Da 
riefen  die  zwerge  betrübt:  „Dann  mag  dir  der  teufel  wider  kommen",  und  sind  seit 
der  zeit  nicht  wider  kommen.  Auch  in  der  mhd.  erzählung  v.  321  stellt  der  zwerg 
die  frage:  lebet  dtn  gro^e  kazze  noch?  und  der  bauer  antwortet  329  fgg.:  vünf  jun- 
gen sie  mir  htnt  geican,  diu  sint  schoene  und  tvol  getan,  lancsttie,  wt^  und  her- 
Itch,  der  alten  kaxxen  alle  gelich.  Darauf  entschliessen  sich  die  zwerge  den  hof  zu 
räumen. 

NORTHEIM.  R.    SPRENGER. 

Laugez  liär  —  kurzer  muot. 

Zu  dem  von  Johaun  von  Freiberg  in  seiner  lockeren  erzählung  „Das  rädlein" 
(Gesammtabent.  3,  118  v.  285  fgg.)  dem  Freidank  zugeschriebenen  Spruch: 
Die  vrouwen  hdnt  langez  här 
und  kur%  gemüete;  da%  ist  war. 
haben  Wilh.  Grimm  zu  Freid.  s.  393,    Haupt  zur  "Winsbekin  19,   2  und  Heyne  im 
DWb.  4,  2  s.  9   zahh'eiche    parallelstellen    gesammelt.     Sie    Hessen    sich    leicht    noch 
vermehren.     Auch  Variationen  kommen  vor,  z.  b.  Spangenbergs  Mammons  sold  (Aus- 
gewählte   dichtungen  von  Wolf  hart  Spangenberg,    herausg.   A'on   Martin,    Strassburg 
1887)  V.  626  fgg.: 

Ihr  müst  lernen  den  Newen  Brauch: 
Und  allezeit  haben  forthin  | 
Lange  Kleider  \  vnd  Imrtxen  Sinn. 
Sterziuger  spiele  (herausg.  von  0.  Zingerle,  Wien  1886)  nr.  2  v.  265  fg.: 
Sy  tragen  lange  klayd  vnd  kurom  muet 
vnd  dar  durch  sich  manger  ser  erfreyn  tut. 


430  STOSCH,    LANGEZ    HAR    —    KURZER   MTJOT 

Tobias  Stimmers  Comedia  (herausg.  von  J.  Oeri,  Frauoufeld  1891)  v.  14G: 
Kurtxe  sinn  vnd  lanrje  Rock. 
Auffallend  ist,    dass   der  ungalante  sprucli  — •    der  übrigens   auch  bei  andern 
europäischen  Völkern  sich  findet  (vgl.  Grimm  und  Heyne  a.  a.  o.)  —  grade  in  der  zeit 
des  minnesangs  zuerst  auftaucht.     Da  ist  es  vielleicht  bemerkensweii,    dass  es  nach 
G.  Ebers  Ägypten  11,  110  auch  ein  orientalisches  Sprichwort^  gibt:    „Des   weibes 
haar  ist  lang,    sein  verstand  ist  kurz."  ^     Die  Übereinstimmung    mit  dem   im 
Westen  verbreiteten  Spruch  ist  gewiss  nicht  zufällig,  wenn  aber  eine  entlehnung  statt- 
gefunden hat,    so   dürfte  sie    eher    durch    das   abendland  als  durch    das  morgenland 
geschehen  sein.     Der  satz  entspricht  vortrefflich    der  orientalischen  anschauung  der 
frauen.     Durch  kreuzfahrer  oder  pilger  mag  er  nach  dem  abendland  gebracht  wor- 
,den  sein.     Wenn  ihn  Freidank  nicht  schon  in  Deutschland  gehöi't  hatte,    konnte  er 
ihn  in  Akers  kennen  lernen. 

1)  [R.  Sprenger  macht  uns  darauf  aufmerksam ,  dass  dieses  orientalische  Sprich- 
wort auch  in  Gottfried  Kinkels  trauerspiel  Nimi'od  (akt  1)  sich  findet:  „Der  trauen 
haar  ist  laug,  ihr  sinn  ist  kurz",     red.] 

2)  Ein  türkisches  desselben  Inhalts  führt  Heyne  a.  a.  o.  an. 

KIEL,    28.  AUGUST   1895.  J.  STOSCH. 


Traug.  Ferd.  SclioU. 


Mit  dem  am  28.  april  1895  in  Stuttgart  gestorbenen  professor  dr.  Traugott 
Ferdinand  Scholl  ist  ein  mann  dahingegangen,  der  in  vielen  die  liebe  für  deut- 
sche spräche  und  litteratur  geweckt  hat.  Er  war  am  17.  apiil  1817  zu  Beutelsbach 
in  Württemberg  geboren,  hat  in  Tübingen  als  stiftler  theologie  studiert,  daneben 
sich  mit  deutscher  philologie  beschäftigt.  Diese  neigung  teilte  er  mit  seinem  lange  vor 
ihm  verstorbenen  älteren  brader  Gottlob  Heinrich  Friedrich  Scholl,  der  1852 
als  27ste  publication  des  Stuttgarter  Litterarischen  Vereins  die  Crone  des  Heinrich 
vom  Türlin  herausgegeben  hat,  und  mit  seinem  Schwager  Adelbert  Keller.  Nach 
Vollendung  seiner  Studien  leitete  Scholl  mit  seinem  bruder  zusammen  ein  mädchen- 
institut  m  Ulm,  wo  er  die  bekanntschaft  seiner  frau,  der  tochter  des  stadtbibliothe- 
kars  Neubrormer,  machte,  und  war  von  1843  bis  1853  geistlicher  und  präceptor  in 
Langenburg  im  Hohenlohischen.  Von  1853  an  war  er  professor  am  mittleren  gym- 
nasium  in  Stuttgart  und  legte  sein  amt  erst  mit  70  jähren  1887  nieder.  "Wer  sein 
Schüler  gewesen  ist,  wird  ihm  kein  anderes  als  ein  freundliches  und  dankbares  anden- 
ken bewahren  können.  Er  wusste  lebendig  anzuregen  und  geistige  äusserungen  her- 
vorzui-ufen;  vor  allem  hat  er  die  liebe  zur  deutscheu  dichtung  im  alter  der  begin- 
nenden empfängliclikeit  bei  seinen  Schülern  in  einem  maasse  zu  wecken  verstanden 
wie  wenig  andere;  die  auffühi-ungen  Schillerischer  stücke,  die  er  mit  den  schülern 
veranstaltete,  sind  lichtpunkte  in  ihrer  erinnerung  geblieben.  Mit  dieser  schultätig- 
kcit  hieng  auch  die  bearbeitung  eines  schuUesebuchs  und  einer  neuen  Orthographie 
(in  den  60  er  jähren)  zusammen.  Daneben  hat  Scholl  eine  sehr  ausgedehnte  öffent- 
liche tätigkeit  nach  verschiedenen  richtungen  entfaltet;  seine  regelmässigen  berichte 
über  die  aufführungen  des  Stuttgarter  theaters  und  seine  vorstandschaft  am  Stuttgar- 
ter conservatorium  für  musik  (seit  1869)  mögen  hier  erwähnt  sein.  Vielleicht  war 
es  eben  diese  ausgedehnte,  fast  athemlose  tätigkeit,  was  ihn  leider  verhindei'te,  die 
wissenschaftlichen  Studien  seiner  Jugend  fortzusetzen;  durch  wissen  und  geist  wäre  er 


NEUE    ERSCHEINUNGEN  431 

befähigt  gewesen,  der  litteraturgeschiclite  auch  bleibeode  gaben  zu  spenden.  Mit 
recht  geschätzt  war  die  „Deutsche  litteraturgeschichte  in  biographien  und  proben", 
die  er  mit  seinem  bruder  1841  veröffentlichte  und  die  es  1855  zu  einer  dritten  auf- 
läge gebracht  hat.  Wenn  aber  auch  der  eiuen  platz  in  unser  Wissenschaft  verdient 
hat,  der  durch  das  lebendige  wort  und  das  vorbild  einer  echt  humanen  persönlich- 
keit die  Jugend  mit  liebe  zu  der  litteratur  des  Vaterlands  zu  erfüllen  im  stände  wai', 
so  wird  Scholl  wenigstens  für  den  engeren  kreis  seiner  scliwäbischea  heimat  eineu 
solchen  ehrenplatz  in  ansprach  nehmen  können. 

TtJBINGEN.  HERMANN   FISCHER. 


NEUE   ERSCHEINUNGEN. 


Bremer,  Otto,  Beiträge  zur  geographie  der  deutschen  mundarten  in  form  einer  kri- 
tik  von  Wenkers  Sprachatlas  des  deutschen  reiches.  (A.  u.  d.  t. :  Sammlung  kur- 
zer grammatiken  deutscher  mundarten  herausg.  von  0.  Bremer.  Band  III.)  Leip- 
zig, Breitkopf  &  Härtel,  1895.     XVI,  266  s. 

Duhlerup,  Veruer,  Det  danske  sprogs  historio  i  kortfattet  oversigt.  (Saertiyk  af 
Salmonsons  konversationsleksikon.)     Kopenhagen  1895.     71  s. 

Dsuimarks  gamle  folkeviser.     Danske  ridderviser  efter  forarbeidor  af  Svend  Grundt- 

vig  udgivne  af  Axel  Olrik.     Trykt  og  udgivet  paa  Carlsbergsfondens  bekostuing. 

1.  bind,  1.  hefte.    Kopenhagen,  Otto  B.  Wrcblewski  1895.    (IV),  144  s.    4.   2,50  kr. 

(Fortsetzung  des  Werkes  von  Sv.  Grundtvig,  die  2  bände  von  ca.  50  bogen 

umfassen  wird.) 

Oislasou,  KourjlÖ,  Foretesninger  over  oldnordiske  skjaldekvad,  udgivne  af  kom- 
missionen  for  det  Arnamagna3anske  legat.  (A.  u.  d.  t. :  K.  Gislason,  Efteiiadte 
skrifter,  forste  bind.)     Kopenhagen,  Gyldendal,  1895.     X  (II),  312  s.     5  kr. 

Heyne,  Moriz,  Deutsches  Wörterbuch.  6.  halbband.  Setzen  —  zwölftens.  Leipzig, 
S.  Hirzel,  1895.  Sp.  I  — VIII  und  593  —  1464.  4.  5  m.  (Schluss  des  trefflichen 
Werkes.) 

Losch,  Phil.,  Johannes  Rhenanus,  ein  Casseler  poet  des  17.  Jahrhun- 
derts.    Leipzig,  G.  Fock,  1895.     (Marburger  dissert.)     VI,  98  s.     1,60  m. 

Olafs  saga  Tryggvasouar.  Det  Arnamagnfeanske  haandskrift  310  qvarto.  Saga  Olafs 
konungs  Tryggvasonar  er  ritadi  Oddr  niuncr.  En  gammel  norsk  bearbeidelse  af 
Odd  Snorresous  paa  latin  skrevue  Saga  om  kong  Olaf  Tryggvason.  Udgivet  for 
det  Norske  historiske  kildeskriftfond.  Christiania,  Dybvad  1895.  LXXVIII  (II), 
156  s.     2,40  kr. 

Rech,  Wilhelm,  Germanische  namen  in  rheinischen  inschriften.  Frogr.  des  gross- 
herzogl.  gymnasiums  zu  Mainz  1895.     48  s.     4. 

Rothe,  Paul,  Die  conditionalsätze  in  Gottfrieds  von  Strassburg  „Tristan 
und  Isolde".     Hallische  dissert.     (Max  Niemeyer  in  comm.)     IX,  96  s.    1,60  m. 

Schiifmami,  Conrad,  Bruchstücke  aus  einem  mhd.  passionsgedichte  des 
14.  Jahrhunderts.  Linz,  Ebenhöch'sche  Verlagsbuchhandlung,  1895.  12  s. 
0,80  m. 

Schillers  werke.  Herausgegeben  von  Ludw.  Bollormann.  Kritisch  durchgesehene 
und  erläuterte  ausgäbe.  Erster  band.  Leipzig  und  Wien,  Bibliographisches  Insti- 
tut, 1895.     96,  400  s.     geb.   2  m. 


432  NEUE    ERSCHEINUNGEN.       NACHRICHTEN 

Eine  treffliche  ausgäbe,  der  wir  die  weiteste  Verbreitung  wünschen.  Der 
vorliegende  erste  band  enthält  die  gedichte  mit  kurzen  erklärenden  anmerkungen 
unter  dem  text  und  einem  anhage,  der  über  die  entstehung  und  die  quellen  aus- 
kunft  gibt  und  die  wichtigeren  Varianten  verzeichnet.  Auch  die  vorausgeschickte 
knappe  biographie  ist  sehr  lesenswert.  Die  correctur  ist  sorgfältig  gehandhabt 
und  die  ausstattung  gut.  —  Das  werk  ist  auf  14  bände  berechnet,  von  denen  die 
ersten  8  die  poetischen  schritten  (mit  ausschluss  der  Übersetzungen),  die  wich- 
tigsten der  erzählenden  dichtungen,  die  geschichtlichen  hauptwerke  und  eine 
anzahl  der  philosophischen  abhandlungen  enthalten  werden;  die  6  letzten,  welche 
separat  erworben  werden  können,  dasjenige,  was  nur  für  die  engere  zahl  der- 
jenigen von  bedeutung  ist,  die  sich  wissenschaftlich  mit  dem  dichter  beschäftigen. 

Schmidt,  Charles,  "Wörterbuch  der  Sti'assburger  mundart.  1.  liefening.  Strassburg, 
J.  H.  Ed.  Heitz  (Heitz  &  Mündel),  1895.     48  s.     2,50  m. 

Sciences,  belies -lettres  et  arts  dans  les  Pays-bas  surtout  au  IQ*"  siecle.  Bibliograi^hie 
systematique.  Tome  I.  Linguistique,  histoire  litteraire,  belies  -  lettres.  Avec  une 
table  alphabetique.     La  Haye,  M.  Nijhoff,  1895.    VIII,  301  s. 

Singer,  S.,  Apollo nius  von  Tyrus.  Untersuchungen  über  das  fortleben  des 
antiken  romans  in  späteren  zeiten.     Halle,  M.  Niemeyer,  1895.    VI,  228  s.     6  m. 

Wisser,  Wilh.,  prof.  dr. ,  das  Verhältnis  der  minnelieder-handschriften  A  und  C  zu 
ihren  gemeinschaftlichen  quellen.     Progr.  des  gymn.  zu  Eutin  1895.     24  s.     4. 

Zimmerli,  J. ,  die  deutsch  -  französische  Sprachgrenze  in  der  Schweiz.  II.  teil:  die 
Sprachgrenze  im  Mittellande,  in  den  Freiburger,  "Waadtländer  und  Berner  alpen. 
Basel  und  Geuf,  H.  Georg,  1895.     VIII,  164  s.  nebst  14  lauttabellen  und  2  karten. 


NACHRICHTEN. 


Am  19.  august  starb  zu  Zürich  der  ordentl.  professor  der  german.  philologie, 
dr.  Ludwig  Tobler  (geboren  1.  jimi  1827  zu  Hii'zel),  am  Schweizerischen  Idiotikon 
einer  der  hervorragendsten  mitarbeiter,  dem  auch  unsere  zeitschr.  eine  reihe  wert- 
voller beitrage  verdankt;  am  IG.  sept.  zu  Weimar  der  archivrat  dr.  Ernst  Wülcker 
(geb.  24.  august  1843  zu  Frankfurt  a.  M.),  mit  dem  wider  einer  von  den  fortsetzeru 
des  Grimmschen  Wörterbuches  aus  dem  leben  schied. 

Der  ordentl.  professor  dr.  Friedr.  Kauf f mann  in  Jena  folgte  einem  rufe  an 
die  Universität  Kiel;  an  seine  stelle  ist  der  privatdocent  dr.  Victor  Michels  in 
Göttingen  berufen  worden. 

Professor  dr.  Baechtold  in  Zürich  hat  den  bereits  angenommenen  iiif  au  die 
Universität  Leipzig  nachträglich  aus  gesimdheitsrücksichten  ablehnen  müssen. 


Halle  a.  S.,  Ruchdnicljorei  dos  Waisenhauses. 


ZUE  VOEaESCHICHTE  DES  MUNCHENEE  HELIAND- 

TEXTES. 

Die  Münchener  handschrift  des  Heliand  ist  „von  anfang  bis  zu 
ende  von  ein  und  derselben  sauberen  und  deutlichen  band  geschrie- 
ben" (Sievers,  Heliand,  einleit.  s.  XI).  Bei  der  herstellung  einer  ihrer 
vorlagen  aber  — ■  gleichviel  ob  der  nächsten  oder  einer  dieser  vorauf- 
gehenden —  haben  sich  offenbar  drei  Schreiber  nacheinander  abgelöst. 
Als  „leitfossil",  dessen  wir  uns  bedienen  können,  um  die  grenzen  des 
von  dem  einzelnen  Schreiber  hergestellten  textteiles  zu  bestimmen,  lässt 
sich  vortrefflich  der  accusativ  sing.  masc.  des  bestimmten  arti- 
kels  (bzw.  pronomen  demonstrativums  oder  personale)  benutzen, 
der  bei  dem  Schreiber  von  v.  85  —  1791/1858^  thana  heisst,  bei 
dem  von  v.  1859  —  4923/25  tJiene,  imd  bei  dem  dritten,  von  v.  4926 
ab   [thena]. 

Von  den   beiden  doppelzahlen   ist  der  erste  bestandteil  als  num-  ^ 
mer    desjenigen   verses    zu  verstehen,    welcher   zum    letzten   male    die 
charakteristische   form    des   ungefähr   bis    dahin    reichenden    Schreibers 
enthält,    während   der  zweite   bestandteil   denjenigen  vers  angibt,    wel- 
chen der  vorgehende  Schreiber  ja  zur  not  noch  geschrieben  haben  kann,  ^ 
weil  bis   dorthin   kein  weiterer  fall  eines  accus,   sing.  masc.   vom  be-  , 
stimmten  artikel  vorkommt,    hinter    dem   aber  unmittelbar  darauf  eine 
accusativform  folgt,    die   unzweifelhaft  bereits  die  tätigkeit  des  nächst- 
folgenden Schreibers  verrät. 

Mit  den  äusserlichen  mittein  „gesperrt  antiqua"  für  thana,  „kur-  , 
siv"  für  thene,    „parenthese"    für   [thena]   wechsele  ich  in  der  absieht, 
um  die  Übersicht  über  meine  Zusammenstellungen  zu  erleichtern. 

Wenn  ich  mich  nicht  begnüge,  für  jeden  der  drei   textabschnitte, 
einfach  nur  anzugeben,  wie  oft  jede  der  verschiedenen  formen  (ie^  acc. 
sing.  masc.  vom  artikel  (pron.  demonstr.)  darin  vorkommt,  son/ieri).  jed^,,. 
stelle  einzeln  aufführe,  so  geschieht  dies,  weil  ich  glaiibe,  die  von  mir 
hier   festgestellte    textgeschichtliche    tatsache    wird    leichter ,  _ausg9^iutzt ,. 

1)  Ich  citiere  uacli  der  ausgäbe  von  Sievers.  iivrri;   ,(Y\nfi   «o 

ZEITSCHRIFT    F.    DEUTSCHE    rUILOLOGIE.      BD.   XXVIII.  28 


434  klixghjVrdt 

werdeil,  wenn  jeder  sich  binnen  fünf  niinuten  bequem  überzeugen 
kann,  ob  meine  angaben  verlässig  sind  oder  nicht. 

Meine  nachstehenden  listen  aber  habe  ich  so  eingerichtet,  dass 
ich  für  die  normalform  jedes  Schreibers  einfach  nur  die  versnummer 
jeder  belegstelle  angebe.  Die  dazwischen  vereinzelt  eingestreuten  Vari- 
anten setze  ich  an  der  ihnen  zukommenden  stelle  in  der  aufeinander- 
folge der  versnummeru  mit  ein  und  schreibe  die  abweichende  form 
immer  gleich  hinter  der  versnummer  ihres  Vorkommens  aus. 

Die  tatsachen  nun,  um  die  es  sich  hier  handelt,  sind  folgende. 

Bei  dem  durch  die  form  thana  charakterisierten  schreiberfinden 
sich  folgende  bolegstellen  für  den  acc.  sing  niasc.  vom  bestimmten 
artikel: 

95,  103,  104,  106,  107,  215,  228,  265,  270,  307  then,  309,  363. 
514,  554,  602,  605,  635,  637,  642,  655,  684,  712  than,  Ibl,  762, 
790,  890,  896,  916,  958,  990  thane,  1013,  1023  thane,  1050,  1080, 
1095,  1095,  1096  theu,  1180,  1186,  1190,  1344,  1268,  1270,  1279, 
1282,  1356  thane,  1384,  1416,  1421,  1469,  1484,  1488,  1497,  1581, 
1585,  1627,  1693,  1706,  1786,  1791. 

In  dem  textabschnitte,  in  welchem  sich  uns  ein  neuer  Schreiber 
durch  den  gebrauch  der  foi-m  thcne  verrät,  kommt  der  acc.  sing.  masc. 
des  artikels  an  nachstehenden  stellen  vor: 

1859,  1863  thana,  1864  thana,  1868,  1871,  1888  thana,  1899, 
1005,  1927,  1931,  1979,  1980,  2014,  2158  thana,  2290,  2308,  2313, 
2314,  2319,  2362,  2105,  2410,  2444,  2504,  2511,  2611,  2615,  2671, 
2682,  2688,  2692,  2703,  2704,  2718,  2733,  2737,  2772,  2780,  2788 
then,  2854,  2906,  2921,  2922,  2942,  2944,  2946,  2947,  2986,  3026, 
3110,  3138,  3200,  3201,  3210,  3226,  3237,  3303,  3337,  3348,  3357, 
3359,  3492,  3500,  3617,  3675,  3685,  3711,  3733,  3805,  3907,  3933, 
4080,  4081,  4099,  4130,  4272,  4274,  4442,  4482,  4522,  4555,  4623, 
4764,  4775,  4787,  4809,  4814,  4857,  4874,  4886,  4914,  4923. 

Und  nunmehr  folgt  bis  zum  ende  der  hdschr.  ein  dritter  Schrei- 
ber, welcher  für  die  in  rede  stehende  function  die  dialektform  [thenaj 
gebraucht.     Die  einschläglichen  stellen  sind  folgende: 

4926,  4946  thenc,  4949  thene,  4954  ihene,  4963,  4989,  5071, 
5074,  5133,  5162,  5238  thane,  5260,  5266. 

Man  sieht,  dass  ich  schon  in  der  allerersten  theuc-iorm^  welche 
auftaucht  (v.  1859),  einen  beweis  von  der  tätigkeit  des  ^//ewe- Schreibers 
sehe,  obschon  gleich  darauf  noch  zwei  formen  vom  typus  des  ersten 
Schreibers  („thana",  v.  1863  und  v.  1864)  folgen.  Aber  so  verkehrt 
es  wäre,  anzunehmen,  das  dem  thaua-schreiber,  unmittelbar  bevor  er 


ZUR   VORGESCHICHTE    DES    MÜNCHENER   HELIANDTEXTES  435 

von  seiner  tätigkeit  als  copist  abgerufen  wurde,  zum  ersten  male  eine 
vorher  nie  gebrauchte  form  in  die  feder  gelaufen  sein  sollte,  die  zufäl- 
lig mit  dem  dialekte  seines  nachfolgers  in  der  arbeit  der  codex -ab- 
schrift  übereinstimmte,  so  natürlich  erscheint  die  Vorstellung,  dass 
der  thene -schreiher  zunächst  zwischen  den  beiden  prinzipien  a)  fort- 
setzung  des  dialektes  seines  Vorgängers  b)  diu'chführung  seines  eigenen, 
schwankte,  dann  aber  mit  entschlossenheit  sich  für  das  letztere  ent- 
schied. 

Ähnlich  denke  ich  mir  Situation  und  verfahren  des  [tlienaj- Schrei- 
bers, der  schon  v.  4926  das  ihm  mundgerechte  [thena]  gebraucht,  dann 
aber  noch  dreimal  (v.  4946,  4949  und  4954)  sich  zwang  antut,  um 
die  dialektform  seines  Vorgängers  fortzusetzen,  bevor  er  —  von  v.  4963 
ab  —  sich  entschliesst,  grundsätzlich  seine  eigene  dialektform  zur 
geltung  zu  bringen. 

Unter  diesem  gesichtspunkte  ist  es  auch  durchaus  nicht  unwahr- 
scheinlich, dass  schon  mehrere  derjenigen  th an a- formen,  welche  der 
ersten  the?ie-iorm.  unmittelbar  voraufgehen,  dem  ^/^e^ze- Schreiber  ange- 
hören, und  dass  ebenso  die  letzten  thene-formen  unter  der  bemühung 
des  [thena] -Schreibers  entstanden  sind,  der  vorerst  darauf  ausgieng, 
das  sprachliche  muster  seines  Vorgängers  in  voller  treue  nachzuahmen. 

Wenn  ich  darum  oben  die  beteiligung  der  drei  verschiedenen 
Schreiber  an  der  anfertigung  der  vorläge  oder  einer  der  vorlagen  des 
Monacensis  so  angesetzt  habe: 

th  an  a- Schreiber  v.  85  —  1791/1858, 
//jewe- Schreiber  v.  1859  —  4923/25, 
[thena] -Schreiber  v.  4926  —  5275  (schluss  der  hdschr.), 
so  habe  ich  damit  nur  sagen  wollen,    dass  allerdings  meines  erachtens 
der  /^f«e- Schreiber  bei  v.  1859   und   der  [thena] -Schreiber  bei  v.  4926 
unbedingt  schon  am  copiertisch  gesessen  haben  müssen,  und  dass  denk- 
barerweise der  th  an  a- Schreiber  seine  arbeit   bis  an  irgend  eine  stelle 
zwischen  den  versen  1791/1858,  sowie  der  ^/^e«e- Schreiber  die  seiuige 
bis  zu  irgendwelchem  punkte  der  verse  4923/25  fortgeführt  haben  kann. 
"Wahrscheinlich   aber  ist  vielmehr,    dass  sowol  der  fhe?ie -scliveiher  wie 
der  [thena] -Schreiber  schon  ein  hundert  oder  mehr  verse  vor  der  oben 
bezeichneten  äussersten  grenze  mit  ihrer  arbeit  angefangen  haben,    zu- 
nächst dem  muster  des  Vorgängers  sorgsam  nachgehend. 

Ich  nenne  nun  noch  die  stellen,  wo  der  ta- stamm  nicht  als  artikel, 
sondern  als  pronomen,  personale  oder  demonstrativum,  erscheint. 
Da  beide  functionen  nirgends  im  Heliandtexte  zu  einer  differenzierung 
der  zu  gründe   liegenden  form  gefüln't  haben,    so  weist  auch  der  acc. 

28* 


436  KLINGHARDT,    ZUR   VORGESCHICHTE    DES    MÜNCHEXER    HELIANDTEXTES 

sing,  raasc.  des  pronomens  die  jedem  schi-eiber  für  den  nämlichen  casus 
des  artikels  eigene  form  auf. 

Der  textabschnitt  des  thana-screibers  enthält  nur  einen  fall,  wo 
der  ta-stamm  als  pronomeu  auftritt,  nämlich  v.  1708,  und  zwar  hat 
dasselbe  dort  die  reguläre  form  thana. 

Im  anfeile  des  thene -schveihers^  wie  ich  denselben  oben  bestimmt 
habe,  finden  wir  7  solcher  fälle.  Von  ihnen  bieten  6  die  charakte- 
ristische form  thene:  1870,  1977,  3203,  3923,  4821,  4912;  und  die 
siebente  ist  gegenständ  einer  korrektur  gewesen.  In  v.  2668  hat  näm- 
lich ursprünglich  „//?«»-c"  gestanden,  eine  form,  die  im  anteil  des 
thana-schreibers  3mal  und  in  dem  des  [thena]- Schreibers  Imal,  beim 
thene -sehieiher  aber  sonst  nirgends  vorkommt.  Aus  diesem  ^^tlume^' 
ist  dann  durch  korrektur  „/Ä^e/ze"  gemacht  worden. 

In  dem  erhaltenen  bruchstück  des'  vom  [thena] -Schreiber  ange- 
fertigten textteiles  findet  sich  überhaupt  kein  beleg  zu  unserer  form  als 
pronomen. 

Zähle  ich  nun  artikel-  und  prunominalformen  unterschiedslos  zu- 
sammen, so  ergil)t  sich,  dass  sich  die  im  ganzen  Münchener  Heliand- 
texte  vorkommenden  fälle  vom  acc.  sing.  masc.  des  ta-stammes  auf  die 
drei  verschiedenen  Schreiber  verteilen  wie  folgt: 

thana-schreiber:  55  thana,  3  thane,  2  then,  1  than. 
^//ewe- Schreiber:  93  tliene,  4  thana,  1  then,  1  thoene. 
[thena]-schreiber:  9  [thena],  3  thene,  1  thane. 

Ich  meine  alles  im  vorliegenden  falle  interessierende  gesagt  zu 
haben. 

Nun  wird  sich  jedem  leser  dieser  Zeilen  die  frage  nahe  legen: 
sollten  nicht  die  drei  dialektverschiedenen  Schreiber  der  Monacensis- 
vorlage  ihre  sprachliche  eigenart  auch  noch  in  anderen  dingen,  ausser 
dem  acc.  sing.  masc.  vom  ta- stamme,  verraten?  Die  beantwortung 
derselben  wird  gleiches  interesse  erwecken,  ob  sie  positiv  oder  negativ 
ausfallen  mag.  Leider  hindern  mich  persönlich  näher  liegende  berufs- 
aufgaben,  dem  vorliegenden  gegenstände  in  dieser  richtung  noch  wei- 
ter nachzugehen. 

KEKDSBÜRO    (uOLSTEIn).  H.    KLDCGHAEDT. 


SPRENGER,  ZU  MAI  UND  bSaFLOR  437 

ZU  MAI  UND  BEAPLÖE. 

Den  text  der  durch  Franz  Pfeiffer  besorgten  ersten  ausgäbe  von 
Mai  und  Beaflor  (Leipzig,  Göschen,  1848)  hat  der  herausgeber  selbst 
für  der  besserung  bedürftig  erklärt.  AVas  ich  mir  im  laufe  der  Jahre 
bei  widerholter  lesung  der  schönen  erzählung  zu  einzelnen  stellen 
ans-emerkt  habe,  stelle  ich  im  folgenden  zusammen.  Da  es  mir  an 
zeit  und  gelegenheit  fehlte,  die  in  den  letzten  jähren  über  das  gedieht 
erschienenen  arbeiten  vollständig  zu  vergleichen,  so  hat  auf  veranlas- 
sung der  redaction  dieser  Zeitschrift  herr  dr.  F.  Schultz  in  Kiel,  [jetzt 
in  Husum],  der  sich  selbst  eingehend  mit  Mai  und  Beaflor  beschäftigt 
und  beide  handschriften  neu  verglichen  hat,  meinen  aufsatz  diu'ch 
eine  reihe  von  bemerkungen  und  Zusätzen  ergänzt,  für  die  ich  ihm 
meinen  besten  dank  sage. 

10,  17  ist  lind  nicht,  wie  der  herausgeber  meint,  zu  streichen. 
19,  5.  ob  dir  herzenleit  geschiht, 
daSf  las,  ht  dir  lange  niht. 
dhies  libes  icis  oiich  niht  xe  geil, 
so  volget  dir  scßldc  unde  heil. 
Statt  libes  verlangt  der  Zusammenhang  als  gegensatz  zu  herxcnlcit:  lie- 
bes;   vgl.   Konr.   v.  Fussesbrunnen,    Kindheit  Jesu,    herausg.   von   Ko- 
chendörffer  1623  fgg.:  ouch  ist  uns  dicke  geseit,  ez,  si  ein  grosse  scelec- 
heit,  sicer  sine  fröudc  und  sin  Jdage^i  in   (lies:  xe)  rehter  müz,e  künne 
tragen,  si  sines  liebes  niht  xe  rrö  und  klage  sin  leit  also ,  daz,  er  stn 
niht  >ncre  a)^ 

21,  11.  da  wolde  er  xuo  mischen, 
ob  er  si  mühte  ernüschen 
oder  an  iht  gerähen. 
Die  Vermutung  des  lierausgebers :  er^  xuo  mischen  ist  mir  unverständ- 
lich.    Die  lesart  von   B   sich  xuo  mischen   gibt    allenfalls    einen    sinn 
(sich  darein  mengen?),    doch  vermute  icli,    dass  misclien  aus  wischoi 
entstanden  ist;    vgl.   über  dieses   wort  in   der  bedeutung   „sich  schnell 
wohin  begeben"  ausser  Lexer  III,  938  Schmeller^  II,  1041.  b) 

25,  7.  ich  ivilz,  ligende  hocrcn.  Die  lesart  von  A:  icils  ist  nicht 
zu  bezweifeln,  da  lineroi  auch  den  genetiv  regiert,  c) 

27,  4  hat  die  hdschr.  du  will  Iccht  umbcvüeren  n/ich.  Der  her- 
ausg. vermutet  cht  für  lecht:,  es  ist  aber  Ifht  „möglicherweise,  viel- 
leicht" zu  lesen,  d) 

1)  Die  buclistaben  a)  b)  c)  fgg.  verweisen  auf  deu  zweiten  teil  des  aufsatzes 
von  Schultz. 


438  SPRENGER 

28,  10  lies:  sin  (ihres  vaters)  irre  (verirrimg)  si  nf  irürcn  treip.o) 
28,  28  lese  und  intcrpimgiere  ich: 

e^  is  hez,z,cr,  das,  ich  eine  not 
lide  dann  ivir  beide 
mit  immer  iverndem  leide 
müestcn  doch  entsneut  stn, 
ich  lind  der  leider  vater  min. 
entsneut  setze  ich  statt  des  hdschrl.  entseivnt.     Über  ensnömven,    ent- 
snimven    „beschimpfen"    s.   Mhd.  wb.  II,  2,  450b;    Lexer  I,  567  und 
589.     "Weder  das  in  den  text  gesetzte  entsinnet  Yollmers    noch   die  in 
den  anmerkungen  mitgeteilten  Vermutungen  {entsiienet,  ensamcnt)  ent- 
sprechen dem  zusammenhange. 

37,  23  lese  ich:  nü  ivele  swelhes,  dir  lieher  st  f) 

41,  8  ist  mit  B  zu  lesen: 

da  der  gater  ^esamene  gät, 
das,  sin  der  nayel  solde, 
das,  icas  ein  Intchel  von  gokle. 
Vgl.  41,  25  fg.  daz,  diu  lasset  sohlen  sin,  das,  ivaren  xicene  rubin. 

42,  38  US,  heiser  stimme  si  schre..  Es  ist  kein  grund  das  in  bei- 
den hdschr.  überlieferte  heis,s,er -=  „stark,  heftig,  inbrünstig"  zu  ändern; 
vgl.  heis,e  icortc,  lieiSjiu  rede. 

46,  18  ist  mit  den  hdschr.  zu  lesen:  der  jäiner  die  vreude  in 
durchdranc.  Durchdringen  ist  =  durchbrechen;  vgl.  13,  37  der  jämer 
ir  durch   ir   vreude    brach,    24 ,  18    der   xorn   im   durch  die  lugende 

brach,  g) 

52,  17.  das,  lernt  ist  veste  unde  guot, 
vor  aller  vreise  wol  bchuot. 
an.  einer  eingeht  es,  stät: 
da^  Hier  cdumb  dar  umbe  gät. 
Der  herausgeber  vermutet,  dass  v.  19  ursprünglich  gelautet  habe:   ican 
es,  einxehten  stdt.     Es  genügt  aber  statt  einteilt  eingeht  zu  lesen,    da 
bei  Schmeller-  I,  89  (vgl.  auch  Lexer  I,  532)  auch  ein  subst.  die  Ain- 
xecht  =  einöde   verzeichnet   wird.     Das   wort  hat  hier  die    bedeutung 
einer  ganz  abgesondert  liegenden  örtliehkeit,  wie  ja  auch  Ainoed  noch 
jetzt  in  Tirol  und  Oberbayern  als  bezeichnuug  eines  einsam   und  ganz 
abgesondert  liegenden  bauernhofs  vorkommt. 
53,  7.   genuoc  Hute  wären  da: 
die  liefen  an  die  reise  sä 
und  nänien  des  schiffelines  war. 


zu    MAI    UND   BEAFLÖR  439 

ait  die  reise  loufen  erklärt  Pfeiffer  mit  bcriifiing  auf  Schmeller  3,  125  u. 

126  durcli  „zu  den  Wcaffen  greifen,    sich  in  Verteidigungsstand  setzen." 

Allein    diese    erklärung    entspricht    dem    zusammenhange    nicht.      Ich 

schreibe : 

die  liefen  an  die  rise  sä. 

rise  (vgl.  Mhd.  wb.  I,  726;  Lexer  II,  458)  bezeichnet  eine  rinne,  auf 
auf  der  man  gefälltes  holz  herabrollen  lässt.  Nach  Ulrichs  von  Lich- 
tenstein Frauondienst  365,  31  ein  stechel  rise  xetal  ich  lief  yein  einem 
ivaz,s,cr,  daz,  icas  tief  und  366,  9  nach  mir  die  rise  er  lief  ze  tal  wur- 
den sie  auch  als  fussweg  benutzt.  Der  Schreiber  von  B,  der  sich  den  aus- 
druck  nicht  zu  deuten  wusste,  schrieb  —  nach  Schultz  —  zuo  dem  icasser. 
79,  7.  yenäde,  vrowe.  nu  nemct  war: 

ja  huti  ich  Up  und  leben  gar 

in  iioer  genäde  sns  ergeben, 

das,  ich  wil  iuiver  eine  leben 

immer  al  die  teile  ich  lebe, 
eine  in  v.  10  ist  ein  deutliches  beispiel  für  die  von  Haupt  zu  Engelh. 
2107  angenommene  bedeutung  =   niiiican.     Entsprechend  hat  B:  und 
icill  wann  cwr  aine  leben. 

87,  36.  Das  in  den  text  aufgenommene  Jainnent  entspricht  der 
spräche  des  dichters  nicht,  da  diese  form  erst  seit  dem  14.  Jahrhun- 
dert (s.  Weinhold,  Mhd.  gr.  §  396)  erscheint.     A  hat  richtig  chunnen.h) 

111,  20.   manec  riter  da  gcrle 

als  hnngerige^  vedcrspil. 
Der  herausgeöer  vermutet:    du  strttes  gerte;    eine    änderung    ist    aber 
nicht  geboten,    da  gern   hier  die  begierde    des  Jagdfalken    nach    beute 
(s.  Lexer  I,  885)  bezeichnet.     Ygl.  auch  girvalke! 

118,  39  fgg.  sind  in  Pfeiffers  ausgäbe  folgendermassen  gedruckt: 

renncere  si  vür  sanden: 

die  solden  in  enblanden. 

daz  man  zeck  heiz,eten, 

da  man  die  vint  mit  reibet. 
In    der    anmerkung    v\'ird    enblanden   in    erblanden    verbessert.     Allein 
auch  dies  trifft  den  sinn  nicht.     Ich  interpungiere : 

renncere  si  vür  sanden, 

die  solden  in  enblanden 

dax  man  zechen  heizet, 

da  man  die  vint  mit  reibet. 


440  SPEKNGER 

D.  h.:  Sie  sandten  reitende  boten  voraus,  die  sollten  sich  das  geplän- 
kel  augelegen  sein  lassen,  womit  man  die  feinde  reizt.  Vgl.  si  lie^n 
in  strit  enblanden  „sie  Hessen  sich  den  streit  angelegen  sein,  kämpf- 
ten mit  aller  macht",  Rabensl.  28b. 

122,  29.    er  ist  ob  uns  allen  ein  her.     Es  ist  oh  zu   streichen. 
Die  Schreiber  haben   die- redensart  einem  ein  her  sin  nicht  verstanden 
und  her  als  abgekürzte  form  von  herre  gefasst. 
130,  12  lese  und  interpungiere  ich: 

er  sprach:  „alles,  das,  ich  mac 
nach  eren  geiverbeti 

—  dar  U7nbe  und  muoz,  ich  sterben  — 
durch  iuch  und  durch  die  vrouwen  min, 
des  tuon  ich  ivillecUchen  schin." 
dar  umbe  und  muoz,  ich.  sterben  „und  wenn  ich   dabei   den  tod  erlei- 
den muss".  i) 

138,  31.    dm  vrouwc  vil  untriuwe  pflac. 
vil  lüines  si  sich  gein  im  bewac 
lind  machte  in  trunken  aber  ak  e. 
V.  32  kann  so  nicht  richtig  sein.     Die  handschriften,  die  auch  ivcinens 
statt  lüines   haben,    sind    offenbar   entstellt;    doch  hat  A   richtig  wach 

statt  bewac.     Ich  lese: 

vil  ivines  st  im  icac 

„sie  teilte  ihm  viel  wein  zu".     Vgl.  Mhd.  wb.  III,  630.  k) 
139,  8  liest  B  unzweifelhaft  richtig: 

und  IV i 2,2, et,  ob  ir  das,  lät, 
ich  tcete  iu  wip  unde  Idnt. 
Für  tvisset  hat  A  uart,  was  vun  dem  herausgeber,   dem  mhd.  spracli- 
gebrauch  nicht  entsprechend  in  u'artet  geändert  wird.  1) 

150,  32  lese  ich:  bewart  niwene  dar  an  mich  „nehmt  dabei  auf 
mich  durchaus  keine  rücksicht";  niwene  =  nild  ne;  B  hat  dafür  nur. 

172,  16.    du  urkiiische  der  valande. 
Schon  im   Mhd.  wb.  I,  823   wird    mit   recht    bemerkt,    dass    urkiusche 
(die  hdss.  haben  urchouche)  „schwerlich  richtig"  sei.     Auch  die  Vermu- 
tung urkust  in  den  anmerkungen  trifft  das  richtige  nicht.     Ich  vermute: 
unkiusche  „unreine  l)egierde",   personif.  im  AVälschen  gast  9914.     Vgl 
172,   10  du  bist  des  Übeln  tievels  brilt. 
174,  32  interpungiere  ich: 
ein  guot  epgtaphium 
der  bischolf  machte  über  daz,  grap. 
dar  üf  man  schreib  (ergänze  daz,),  damit  er  gap 


zu   MAI    UND    B^AI'LÖR  441 

urldlnde,  umbe  tviu  si  ivas 
erslagen,  daz,  7nan  da^  las. 

176,  19  lies:    Gehorsam  ivas  diu   (st.  dincr)  mcisterin.  in)     Vgl. 
V.  13  Zuht  was  diu  inehoginjie  und  15  Triice  diu  kamerceriiine  ivas. 

177,  6  ist  mit  A  zu  lesen: 

so  pflac  diner  eren  phat 

Biemuot. 
Der   reim  jjhat  :  tat  kann    bei    unserem   dichter  nicht  auffallen;    vgl. 
229,  39  sidt  :  eren  phat. 

Nach  178,  7  setze  ich  einen  punkt  und  lese  dann: 

ir  herxen  si  nie  verhanJiie, 

daz,  ez,  ie  iviirde  zivivelhaft 

gein  dir. 
Das  ausgelassene  si  findet  sich  in  beiden  hdss. 

181,  22.    ivir  sehen  dort  ein  schiffet  stau, 

daz,  ist  dem  dinen  geliche, 

das,  ir  diu  tugentriche 

xuo  ir  lueten. machen  hat. 
dem  dincu  kann,    obgleich  in  A  überliefert,    nicht  riciitig  sein.     B  hat 
dafür  ieucm.     Es  wird  urspi'ünglich  eiuem  oder  enem  gehiutct  haben. 
184,  13  fgg.  lese  ich: 

si  gieugen  hin.     Beuiguä  truoc 

daz,  Jiint.    daz,  tcart  geniioc 

geküsset  gehaltet  unde  getrüt. 
Vgl.  die  lesarten.  n) 

184,  22.   si  gieugen  an  einer  stille 

in  eine  kemenäten, 

da  ez,  ivas  hin  geraten. 
V.  24  gibt  keinen  sinn.  Ich  vermute:  als  ez,  in  was  geraten  „wie  sie 
dazu  aufgefordert  waren"  (vgl.  sachlich  183,  35  fgg.).  Über  die  hier 
vorliegende  bedeutung  von  rdtcu  vgl.  K.  v.  Fussesbrunnen,  Kindh.  Jesu 
1888  71JI  truoc  diu  Itüsfrouire  dar,  als  ex  ir  was  gerdteu,  obex  unde 
braten,  o) 

187,  9  ist  mit  den  hdss.  zu  lesen: 

Daz,  wunder  ich  besunder 

viir  maneger  hande  ivunder. 
d.  h.:   „Dies  bewundere  ich  mehr  als  manche  wunderbare  begebenheit " 
189,  26.  niweu  ist  unzweifelhaft  =  uiun  „neun"  und  die  Vermu- 
tung von  niuweni  golde   nicht  st.dthaft,    weil   eine   Unterscheidung  von 
altem  und  neuem  golde  überhaupt  nicht  gemacht  wird. 


442  SPRENGER,  ZU  WAI  UND  BEAFLOR 

192,  4.  er  ist  vor  schänden  ein  getwerc.  A  hat  von  schände; 
zu  lesen  ist  aber:  er  ist  der  schänden  ein  getwerc.  Vgl.  er  ist  des 
geloubiti  ein  gettrerc  Martina  221,  57:  des  jwises  ein  rise  niht  ein 
Uverc  MS.  H.  3,  170a. 

204,  24.    si  sprächen  alle:  „ivir  müez,en 
Itden  den  iven,  den  wir  htm 
an  unserr  vroiacen  getan  . . . 
Der  sinn   der  stelle   ist:    „Wir  müssen    das    unrecht   büssen,    das  wir 
unsoi'er  frau  getan   haben."     ircn   (=  iveivcn)  kann   nicht  richtig  sein. 
B  hat:    dg  nidat;    es  wird   also   den  mein  zu  lesen  sein.     Auch  liden 
in   der  bedcutung   „büssen"    ist  nihd.  nicht   möglich;    auf  das  richtige 
führt  aber  wider  um  die  lesart  von  B  Dann,    wofür  schon  der  heraus- 
geber  döun  vermutete.     Es  ist  zu  lesen: 

si  sprächen  alle:  ,^wir  müe^en 
döuiven  den  mein,  den  uir  hän 
an  unserr  vroinven  getan. 
207,  6.  ki-filgeslaht  „pflanzenart",    ein   sonst   nicht  zu  belegendes 
Substantiv  ist  bis  auf  weiteres  aus  dem  Wörterbuch  zu  streichen;  denn 
geslaht  ist  adj.  =  edel,  wie  es  auch  B  (nach  Schultz  hraiitter  stacht)  auf- 
fasst.    Ygl.  ein  kriiitelin  geslaht  im  Wälschen  gast  13,  124.  p) 

209,  18.  Ich  sehe  keinen  grund,  das  überlieferte  )iiht  vernihten 
in  iht  ent)ii]/te)i  zu  ändern,  q) 

211,  17  fgg.  ir  enkoufet  hie  niht  ninlje  ein  ei: 
wcere  ein  Berntcre  enx2vei 
geteilt,  dar  umhe  koufet  ir  niht. 
Was  bedeutet  ein  Berncire?  Der  herausgeber  hat  uns  keinerlei  andeu- 
tung  darüber  gegeben,    aber  fast  scheint   es,    als   ob   er  dabei  an  den 
sagenberühmton  Dietrich   von  Bern   gedacht   hat.     Auch   in   den  mittel- 
hochdeutschen Wörterbüchern  ist  auf  die  stelle   keine  rücksicht  genom- 
men,   wol  weil   man   iner  Berncere   als   eigennamen  fasste.     A  schreibt 
iverner,    und  zu  lesen  ist  berncr,   d.  h.  Berner  pfennig,    denarius  vero- 
nensis;    vgl.  darüber  Lexer  I,  196  und  Schmeller-Fr.  I,  279,    wo  aus- 
führlich darüber  gehandelt  ist.     Der  Berner  ist  eine  sehr  geringwertige 
münze   und    nit  ain   herner  ist  bildliche   Umschreibung  für  „nicht  das 
geringste"    (s.  Schmeller-).      Der  sinn   ist  also:    „Ihr    kauft    hier  auch 
selbst  nicht  für  einen  halben  pfennig.  r) 

216,  16.    min  tohter  itver  xe  mäz,en  gert 
Dass  xe  ma^$en    „zum   tischgenossen"    zu    lesen    ist,    bemerkte  schon 
M.  Haupt  z.  Erec2  1969  (s.  359  oben).     Die  stelle  fehlt  im  register. 

NORTHEIM,    IM    AUGUST    1894.  R.    SPEENGER. 


SCHULTZ,    ZU    MAI    UND    BEAFLOR  443 

Über  Mai  und  Beaflor  finden  sich  verstreute  bemerkungen  bei 
W.  Grimm,  „Zur  geschiclite  des  reims",  sowie  in  Haupts  ausgäbe  des 
„Erec".     Neuerdings  sind  erschienen: 

0.  Wächter,  Untersuchungen  über  das  gedieht  „Mai  und  Bea- 
flor" (Jenaer  diss.)  Erfurt  1889.  (Vgl.  dazu  die  ausführliche  besprechung 
von  Steinmeyer  in  Anz.  f.  deutsch,  altert.  XVI,  292  fgg.) 

F.  Schultz,  Die  Überlieferung  der  mhd.  dichtung  „Mai  und  Bea- 
flor" (Kieler  cüss.).  Leipzig  1890.  (Vgl.  dazu  XXIII,  491  fg.  und 
Anz.  f.  d.  a.  XVII,  74  fg.). 

Meine  arbeit  beruht  auf  einer  neuen  collation  der  liss.  und  bringt 
ausser  manchen  kleineren  ergänzungen  und  berichtigungon  zu  dem 
kritischen  apparate  und  ausser  textkritischen  vorschlagen  auch  mehrere 
ganze  verse  bei,  von  denen  in  der  ausgäbe  jede  spur  fehlt.  Es  seien 
diese  verse  im  folgenden  für  Aveitere  kreise  mitgeteilt. 

92,  11  fgg.  hat  B: 

11.  Syhen  man:  icmin  er  genas 

12.  Mit  seinem  pet  er  das  erlasx 
12  a.  Ben  tiefet  er  von  im  vertraib 
12  b.  Das  er  ivol  gesund  betaih. 

13.  Also  Süllen  wir  i^Htcn  got 

14.  Das  des  cbeln  tief  eis  spot  usw. 
vgl.  dazu  Schultz,  a.  a.  o.  s.  19  fg.; 

hinter  109,  26  finden  sich  in  AB: 

26a.    scmd  er  im,  diu  uris^  ivol  gesniten, 
26  b.   gröX'  7'ichheit-  niht  daran  uns  vermiten, 
vgl.  dazu  Schultz,  a.  a.  o.  s.  37  fg.; 
hinter  218,  38  ebenfalls  in  AB: 

38a.    Si  sprach:  „herre,  nu  exxet  gern''. 
38b.    Er  sprach:  „ich  ivil  iuch^  geivern", 
vgl.  dazu  Schultz,  a.  a.  o.  s.  39;     / 
hinter  234,  28  nur  in  B  (A  bricht  bereits  mit  224,  18  ab!): 
28  a.    vnd,  lieff  an  Röboälen 
28b.    vnd  kust  in  xuo  Tausent  malen 
28c.    an  derselben  stuml 
28  d.    an   irang  an  äugen  vnd  an  mund, 
vgl.  dazu  Schultz,  a.  a.  o.  s.  22  fg.; 

1)  ivas  fehlt  B. 

2)  riüerliait  daran  niclii  icart  vermiten,  B. 

3)  ew  sein  geivern  B. 


444  SCHULTZ 

hinter  236,  14  ebenfalls  nur  in  B  (s.  oben!): 

14a.    nach  bisdiofen,  nach  Cardinäln. 
14  b.    Er  wolt  nicht  entwäln, 
vgl.  dazu  Schultz,  a.  a.  o.  s.  23,  und 
hinter  242,  5  gleichfalls  nur  in  B  (s.  oben!): 
5  a.    tvir  Süllen  vns  gehaben  tvol, 
vgl.  Schultz,  a.  a.  o.  s.  23  fg. 

Zur  fabel  der  dichtung  vgl.  ausser 
Merzdorf,    „Des  Bühelers  königstochter  von  Frankreich",    Olden- 
burg 1867  und 

Suchier,  „Über  die  sage  von  Offa  und  prydo"  PBB.  IV,  500  fgg.  noch 
H.  Hagen,    „Der  roman  vom   könig  Apollonius    von  Tyrus"    in 
Virchows    und    Holtzendorffs    Sammlung    gemeinverständlicher   wissen- 
schaftlicher vortrage,  ser.  XIII,  heft  303,  ferner 

Konr.  Hofmann,  Amis  et  „Amiles  und  Jourdains  de  Blaivies", 
2.  autl.    Erlangen  1882  s.  XXXIII  fgg.  und 

E.  Rohde,  „Der  griechische  roman  und  seine  Vorläufer",  Leipzig 
1876. 

a)  Zu  19,  5.  Bestätigt  wird  Sprengers  Vermutung  durch  die  aus- 
drückliche gegenüberstellung  von  liep  und  leit  in  18,  40.  Es  werden 
die  einzelnen  elemente  dieser  gegenüberstellung  vorher  18,  34  fgg.  nach 
der  allgemeinen  Vorschrift  18,  32  fg.  gleichsam  unbewusst  und  zufällig 
gefunden,  hier  nach  der  präcisierten  fassung  18,  39  fg.  und  nochma- 
liger nachdrücklicher  mahnung  19,  1  —  3  gleichsam  bewusst  und  geflis- 
sentlich herausgekehrt,  um  sie  schliesslich  in  dem  gemeinsamen  lohn 
der  saelde  unde  heil  19,  8  widerum  zusammenzufassen.  Diese  breite 
ausdrucksweise  eignet  durchaus  dem  dichter  und  seiner  volkstümlichen 
lehrhaften  darstell ungs^^oise;  vgl.  Wächter  s.  20  fgg.  Zu  dem  ausdruck 
vgl.  des  roubes  geil  und  ähnliche  Wendungen  mit  geil. 

b)  Zu  21,  11.  Über  da  wolde  er  xno  viisclien  und  erx-  xuo  mi- 
schen vgl.  Mild.  wb.  II,  a,  287b.  Die  änderung  von  nnschen  in  tvischen 
würde  übrigens  einen  rührenden  reim  (ivischen  :  erivischen)  ergeben, 
der  freilich  von  dem  dichter  nicht  ängstlich  gemieden  worden  ist  (vgl 
Wächter  s.  10),  aber  gegen  die  gemeinsame  lesart  beider  hss.  doch 
schwerlich  hergestellt  werden  darf.  Es  empfiehlt  sich  wol,  mit  B  sich 
ziio  mischen  in  dem  oben  vermuteten  sinne  in  den  text  aufzunehmen. 

c)  Zu  25,  7.  Es  entspricht  weder  das  in  dem  texte  stehende 
ich  ivilz  ligende  liaren  noch  die  oben  vertretene  lesart  der  hs.  A  ich 
wils  ligende  Jicereii  der  Situation,  sondern  allein  die  schon  von  mir  in 
meiner  dissertation  s.  60  vertretene  lesart  der  hs.  B  ich  ivil  dich  ligende 


zu    MAI    UND    BEAFLUR 


445 


hceren.  Denn  es  kommt  dem  sprechenden  doch  nicht  darauf  an,  dass 
er  das,  was  die  angeredete  ihm  zu  sagen  wünscht,  im  liegen  hört, 
sondern  doch  darauf,  dass  sie,  die  nach  25,  1  (vgl.  auch  25,  12  fg.) 
nur  erst  einmal  sich  erheben  zu  können  begehrt,  liegen  bleibt  und 
was  immer  sie  zu  sagen  wünscht,  in  dieser  läge,  ohne  sich  zu  erhe- 
ben, mitteilt;  das  ligencle  gehört  also  nicht  sowol  zu  ihm,  dem  vater, 
der  hören  soll,  als  vielmehr  zu  Beaflor,  die  gehört  worden  will  und 
die  er  hören  soll. 

d)  Zu  27,  4.     Ich  schlug  bereits  in  meiner  dissortation  s.  GO  vor: 

du  wilt  Mite  umbevüeren  mich. 

e)  Zu  28,  10.  Ich  vermute,  die  Überlieferung  —  es  handelt  sich 
hier  zudem  infolge  der  durch  das  abhandenkommen  eines  doppelblattes 
in  A  hier  entstandenen  lücke  (vgl.  meine  dissertation  s.  7)  nur  um  die 
der  hs.  B,  über  deren  beschafFenheit  und  Zuverlässigkeit  ich  in  meiner 
dissertation  s.  5  —  48  und  s.  56  —  60  ausführlich  gehandelt  habe  —  ist 
hier  verderbt  und  das  überlieferte  irr  aus  ursprünglichem  ir  herre  ent- 
standen. Es  wäre  Jfcrre  dann  hier  wie  auch  Küdrün  611,  3  (vgl.  610,  2) 
zur  bezeichnung  des  vaters  von  selten  der  kinder  (s.  D.  Wb.  lY,  2,  1127) 
gebraucht  und  mit  anderer  Interpunktion  als  in  der  ausgäbe  sodann 
zu  lesen:  ir  herre  si  üf  trüren  treip, 

daz  leit  smerxte  si  ie  nie. 
Es  dürfte  auch  inhaltlich  und  stilistisch  sich  empfehlen,  so  zu  lesen. 
Denn  einerseits  käme  so,  nachdem  Beaflor  bis  28,  9  nur  an  ihre  glück- 
liche befreiung  gedacht  hat,  jetzt  28,  10  fgg.  der  doch  nur  natürliche 
gedanke  zum  ausdruck,  dass  bei  der  erinnerung,  ihr  vater  sei  es,  der 
sie  zu  vergewaltigen  versucht  habe,  sie  sich  nicht  nur  sehr  betrüben, 
sondern  je  länger  je  mehr  sich  betiliben  musste.  Anderseits  wäre  aber 
auch  so  in  echt  volkstümlicher  ausdrucks weise  zwischen  den  versen  10 
und  11  eine  Verbindung  hergestellt,  bei  der  daz  leit  in  11  den  gan- 
zen letzten  satz  in  10  aufnehmen  und  nicht  mehr  isoliert  dastehen 
würde. 

f)  Zu  37,  23.  Die  änderungen  des  Au  ivele  in  \iü  welc  empfiehlt 
sich  auch  mit  rücksicht  auf  das  iiü  nim  die  tval  37,  14,  das  hier  wider 
aufgenommen  wird. 

g)  Zu  46,  18.  Bei  dem  ausgedehnten  gebrauch,  den  der  dichter 
nach  Wächter  (s.  15  fg.)  von  der  apokope  eines  tonlosen  e  im  auslaut 
vor  konsonanten  macht,  lässt  sich  gewiss  auch  die  durch  beide  hss. 
überlieferte  und  überdies  mit  den  oben  angeführten  parallelen  —  13,  37 
ist  übrigens  auch  ebenso  wie  in  unserem  verse  46,  18  und  in  24, 
18   für    das    zweite    ir   mit  ß    der    artikel   die    zu   lesen  —    auch    in 


446  SCHULTZ 

der  Voranstellung    des   pronominalen  dativs  übereinstimmende  Stellung 

der  iämer  in  die  vreude  durchdranc 
beibehalten;  die  apokope  wird  hier  sogar  vielleicht  noch  durch  das  zu- 
sammentreffen gleicher  konsonanten  (vgl.  z.  b.  39,  11.    195,  38.    216,  1 
und  bei  homorganen  konsonanten  24,  6   und  179,  40)   gemildert  oder 
begünstigt. 

h)  Zu  87,  36.  Ich  habe  in  meiner  dissertation  s.  49  —  55  auf 
grund  einer  statistischen  beobachtung  der  reime  die  grundsätze  für  die 
orthographische  darstellung  der  dichtung  zusammengestellt  und  s.  56 
auch  auf  das  der  3.  plur.  praes.  der  praeteritopraesentia  in  der  ausgäbe 
ohne  grund  angehängte  t  in  kunnent  87,  36.  38,  4.  209,  14  und  in 
mufjent  :  tugent  155,  23.  24  und  andere  versehen  im  texte  der  aus- 
gäbe aufmerksam  gemacht. 

i)  Zu  130,  12  fg.  Der  gedanke  ist  gefällig;  aber  eine  solche  Stel- 
lung des  sätzeverknüpfenden  unde  ist  mir  doch  sehr  bedenklich. 

k)  Zu  138,  31  fg.  Den  überlieferten  lesarten  entspricht^  von  der 
augenfälligen  entstellung  des  sicherlich  ursprünglichen  ivines  abgesehen, 
am  meisten  vü  wines  si  sich  gegen  im  ivac. 

Nach  Mhd.  wb.  III,  628,  b  wird  sich  ivegen  mit  folgender  präposition 
oft  parallel  mit  sich  vUxen  in  der  bedeutung  „sich  bestreben"  gebraucht. 
Vil  ivtnes  si  sich  gegen  im  wac  würde  demnach  bedeuten :  sie  bestrebte 
sich  gegenüber  dem  boten  in  bezug  auf  viel  wein,  und  der  folgende 
vers  tind  7nachie  in  tninlcen  aber  als  c  würde  dann  dieses  bestreben 
durch  die  angegebene  folge  näher  bestimmen.  Es  dürfte  auch  diese 
synthetische  form  des  ausdrucks ,  bei  der  ein  neuer  gedanke  den  ersten 
erweitert  oder  ergänzt  als  grund  oder  folge  oder  auch  als  bild  oder 
Sache,  ebenso  wie  die  synonyme  form,  bei  der  derselbe  gedanke  mit 
anderen  werten  widerholt  wird,  und  wie  die  antithetische,  bei  der  ein 
gedanke  dureh  seinen  gegensatz  genauer  bestimmt  und  eindringlicher 
gemacht  wird,  der  volkstümlichen  darstellungsweise  des  dichters  eignen. 
Wächter  kommt  s.  34  fgg.  freilich  nur  auf  die  synonyme  und  auf  die 
antithetische  form  des  ausdrucks  zu  sprechen,  scheint  aber  auf  diese 
synthetische  form  nur  nicht  eigens  geachtet  zu  haben:  vgl.  z.  b.  noch 
98,  39  fg.,  eine  stelle,  die  auch  Wächter  anführt i. 

1)  Zu  139,  8  fg.  Unzweifelhaft  richtig  scheint  mir  hier  das  von 
dem   herausgeber    unter    Zugrundelegung   von    A  in   den  text  gesetzte 

1)  Es  werden  in  ähnlicher  weise  bei  dem  parallelismus  der  hebräischen  i^oesie 
dieselben  drei  formen,  die  synonyme,  die  antithetische  und  die  synthetische  form 
des  ausdnicks  unterschieden. 


zu    MAI    UND    BKAFLÖR  447 

wartet  zu  sein;   2vizxet,   das  B  hat,  ist  unzweifelhaft  nur  ein  verflach- 
ter ausdruck  für  ivartet. 

m)  Zu  176,  19.  Ich  schlug  dtn  meisterin  in  meiner  dissertation 
s.  56  bereits  vor. 

n)  Zu  184,  13  fgg.  Bei  Sprengers  änderung  sind  doch  gerade 
„die  lesarten"  sehr  wenig  berücksichtigt  worden.  Nach  ihnen  werden 
wir  vielmehr,  wie  auch  in  den  anmerkungeu  nachgetragen  worden  ist, 
184,  14  fg.  mit  AB  lesen:  _ 

dax  kint,  dax  irart  geküsset  gemioc, 
gehalset  unde  getrüt. 
Es  lässt  sich   bei    der  verskunst    unseres    dichters    (vgl.  Wächter 
s.  11  fgg.)  und  dem  nach  Wächter  (s.  16  fg.)  recht  ausgedehnten  gebrauch 
der  Synkope  doch  metrisch  auch  nichts  gegen  die  verse  einwenden  und 
dürften    die    verse    zudem    durch    die    oben   zu   138,  31  fgg.   erwähnte 
synthetische  form  des   ausdrucks  sich  sogar  noch  stilistisch  empfehlen, 
o)  Zu  184,  22  fgg.     Dem  Zusammenhang  und  der  ganzen  Situation 
würde  wol  am    meisten    entsprechen,    184,  23    hinter    kcmenuten    den 
satz  mit  einem  punkt  zu  schliessen  und  dann  zu  lesen: 
dö  ex,  was  hin  geraten, 
si  spartefi  umbe  und  umhe  %uo. 
Es  wäre   alsdann    zu    übersetzen:    „Als    man    (da) hin   gekommen 
war    (vgl.  170,  2),    verschlossen   sie  ringsum   das   haus."     Mir  ist  nur 
der  Wechsel  der  grammatischen  Subjekte  bei  —  freilich  nicht  ganz: 
e%  =  Roböäl,  Benignä,  Beaflur  und  dax  Jdnt; 
sie  =  Röbödl  und  Benignä  — 
gleichen  logischen  Subjekten  nicht  unbedenklich. 

p)  Zu  207,  6.  Die  Vermutung,  dass  geslaht  als  adjektivuni  zu 
fassen  ist,  bestätigt  nicht  nur  die  lesart  krautter  slacht  in  B,  sondern 
auch  die  hs.  A;  sie  hat  deutlich  chrout  geslaht  in  zwei  Wörtern  ge- 
schrieben. 

q)  Zu  209,  18.  Die  angäbe  in  den  anmerkungen  der  ausgäbe 
ist  unrichtig.     Denn  es  ist 

iht  cntnihten 
tatsächlich  von  A  überliefert  und 

niht  vernichten 
nur  von  B;  vgl.  meine  dissertation  s.  59. 

KIEL    1895.  FERDINAND    SCHULTZ. 


448  voaT 

AKIGOS  BLUMEN  DEE  TUGEND/ 

Yfis 

(^)Hie  sich  an  bebet  das  piicbe  der  Qucbt,  1er/  vnd  an- 
weisung,  genant  die  plumen  der  tugent  geuade  vnd  ^ücli- 
ticbeyt. 

Ich  babe  getan  als  der  in  dem  cbiilen  Meyen  In  der  scbönen  vnd 
grünen  praiten  wissen  abgeprocben  batt,  die  edelsten  vnd  schönsten 
plumlein  /  vnd  darans  gemacht  einen  scbönen  vnd  grossen  cbran9e  / 
Den  9n  einer  geleichnus  meine  clainen  werche  vnd  pücblein,  das  mit 
nomen  gebeyssen  ist  die  plumen  der  tugent,  genade  vnd  (^ücbticbeit. 
vnd  alle  die  meine  wercbe  secben,  boren  oder  lessen,  ob  das  were, 
das  icb  dar  Inno  indert  9U  straffen  were,  Das  Ich  williglicben  von 
einem  Iglichen  auf  nyme,  sein  sti^affen  (,'u  mir  in  sein  gewissen  se99en, 
Im  der  eren  vergünnen  vn  mir  den  schaden. 

Von  Erste  von  der  liebe  vnd  vrsache  aller  liebe  nach 
dem  als  vns  vnsre  heylige  lerrer  schreyben. 

VNs  schreybet  der  grosse  lerrer  thomas,  Das  [lust,  liebe] ^  vnd^ 
freüntschaft  Ein  ding  ist.  dan^  er  spricht,  Die  erste  vrsache  einer 
iglichen  liebe  vnd  freüntschaft  das  sey  die  erchentnüs.  CAuch  der  hey- 
lig  lerer  sant  augustin  spricht,  das  die  erchentnüs  pechome  von 
fünferley  9eichen  des  leybeß.  Von  erste  von  dem  gesiebte  der  äugen. 
Das  ander  von  dem  hören  der  oren.  Das  tritte  von  dem  gesmache 
der  nassen.  Das  virde  von  dem  versuchn  des  mundes.  Das  fünfte  mit 
dem  greiffen  der  hende  (2)  Auch  mere  von  Etlichem  andern  teyle^ 
des  leybes.  als  von  den  synnen  der  vermlsf^  die  da  sein  in  der  ge- 
dechnüs    der  vernust    des  leybes.     Ynd  von "'   solcher  gedechnüs  vnßr 

1)  Der  abdruck  ist  bis  auf  die  auflösung  der  abbreviatureu  für  ver  und  et 
buchstabengetreu,  nur  die  interjiunktionen  habe  ich  hinzugefügt,  sofern  sie  nicht 
schon  die  handschrift  in  gestalt  von  Schrägstrichen  undpunkten  bot.  Diese,  die  ein- 
zigen, spärlichen  interpunktionszeichen ,  welche  die  hs.  kennt,  habe  ich  auch  da  bei- 
behalten, wo  sie  unserem  brauche  nicht  entsprechen,  im  übrigen  bin  ich  der  moder- 
nen regel  gefolgt.  Zweifel,  ob  ein  zeichen  von  mir  oder  aus  der  hs.  stammt,  ist  nur 
beim  punkt  am  Schlüsse  des  Satzes  möglich. 

2)  Durch  einklammeruug  werden  werte,  die  am  rande  oder  zwischen  den  Zei- 
len der  hs.  nachgetragen  sind,  gekennzeichnet. 

3)  Durch  cursivdruck  werden  auf  rasur  geschriebene  oder  durch  sonstige  cor- 
recturen  entstandene  Worte  gekennzeichnet. 

4)  dan  aus  wa7i  corrigiert,  so  öfter. 

5)  e,  darüber  ein  strich  von  schwärzerer  tinte. 
G)  Corr.  aus  vernüsticheyt. 

7)  Corr.  aus  Li. 


ARIGOS    BLTTMEN    DER    TUGEND  449 

vermtst  bechomt^  der  erste  vrspriing  der  liebe  vn  freiinschaft.  Doch 
der  mer  vn  gröste  teyle  pechomet  von  dem  gesiebte  der  äugen  CNacb 
dem  als  der  phylosofo^  spricbt,  Das  der  erste  wille  des  leybes  sich 
pegebe  vn  chome  von  der  erchentnüs.  Dar  nach  9U  hant  das  gemüte 
sich  verchere  in  lust,  vnd  vm  sölcheß  ghistes  ivillen  In  dem  hercxen 
sich  begehe  ei?i  iville  vnd^  pegire,  die  der  [mensche]  durch  die  erchent- 
nüs enphangen  hatt.  Die  selbig  pegire  cbomt  von  einer  hoffnung, 
QU  haben  das  Im  dan  vor  gefallen  vn  gelibet  hatte.  Das  ist  das,  do 
von  chomet  die  gröste  vli  hoste  liehe  der  tiigent^  die  da  ist  ein  anfange, 
gruntfest  vn  Schlüssel  aller  tugent,  CAls  dan  der  grosse  lerer  Aristotile 
Im  (!)  dem  decreto  geschriben  hatt  CAuch  der  lerrer  thomas  das  pewey- 
set.     Do  er  spricht,  chein  tugent  nicht  mag  gesein  an^  liebe  [tisiv.). 

S.  3.  Das  ander  Capittel  von  der  minne  vnd  liebe  gott^, 
die  da  genant  ist  pey  den  gelerten  Caritas  -f-  c^ 

S.  5.    Von  der  geporen  vnd  freüntlicher  liebe  -7-  «^ 
S.  7.    Von  der  triften  vnd  freüntlichen  liebe  der   guten 
geselschaft  vnd  günner  -i-  c>o 

S.  10.    Von  der  virden  liebe  vnd  Irem  luste  -f-  <^ 
S.  12.    Von  der  fünften  vnd  natürlichen  liebe  -r-  «^ 
S.  14.    Wer    übel    vnd    gute    von    den    frauen    geschriben 
hatt,  als  dan  ist  Salamon,  Ipocrate,  Omero,  Seneca  -r  «^ 

(17)  Ein  hystorj  von  der  liebe.  Die  Amon  hatte  9U  einer 
Jungen  frauen  vnd  si  zu  Im;  die  was  genät  Ephytica/  der 
chünig  Dionisio  ir  haubte  wolt  ab  geschlagen  haben. 

VOn  der  tugent  der  liebe  man  In  den  alten  hystorien  geschriben 
vint.  Das  chünig  Dionisio  von  Kagusa  Einer  Jungen  frauen,  genant 
Ephytica,  Ir  haubte  ab  wolte  schlagen  /  si  diemütiglichen  vor  pate 
den  chünig,  Er  ir  verleichen  wölte  genade  vnd  frist  des  lebens,  da  mit 
si  vor  möchte  ir  hause  vnd  heymet  versechen,  dar  nach  (18)  si  willig- 
lichen Iren  leybe  den  (!)  tode  enphelhen  wölte,    darum  si  Im  ein  gut 

Nella  virtü  d'amore  si  legge  nelle  Storie  Eomane  che  volendo  lo  re  Dionisio 
tagliare  la  testa  a  una  che  avea  nome  Pitia  (var.  Sofia,  Fifia,  Fisoia),  ella  andö  a 
domandai'e  termine  otto  di  per  andare  a  casa  sua  a  ordinäre  sue  cose,  e  '1  Re  rispose 
per  beffe  che  lo  farebbe,  s'ella  desse  uno  per  sua  sicurtä  che  s'obbligasse  a  tagliare 
la  testa  s'ella  non  tornasse.    AUora   Pitia   mandö  per  iino   che  avea  nome  Damone 

1)  Corr.  aus  erchentnüs  ist. 

2)  Corr.  in:  phylosofg. 

3)  Corr.  aus:  von  solcher  gedeehnils  Vfi  .  .  .  (?)  tcillen  von  dem  herben  (?) 
chomet  ein  (?). 

4)  Auf  rasur;  aus  tugent  der  liebe  (?)  vgl.  ital.  or.  virtü  d'amore. 

5)  Später  corr.  in  on. 

ZEITSCHRIFT   F.    DEUTSCHE   PHILOLOGIE.     BD.  XXVIH.  29 


450  VOGT 

gewissen  vnd  pürgschaft  thiin  wolte.  Der  chünig  der  fraiien  irer  pete 
9u  willen  warde  vnd  spräche:  hat  si  yemant  der  für  si  verspreche  pey 
seinem  haubte,  Er  ir  williglichen  der  der  (!)  9eit  vnd  frist  vergünde. 
aber  das  der  chunig  spräche  mit  einem  halben  gespötte.  Zuhant  die 
Junge  fraue  schichte  nach  einem  iren  guten  freunde  vnd  günner,  der 
was  genant  Amone,  der  si  liebe  hatte  über  alle  dinge  der  weit,  vnd 
dem  si  chunt  thet  alle  ire  sache.  von  stund  an  Amon  9U  dem  chünig 
ginge  vnd  sich  im  antwurt  In  sein  gefancknüs  vnd  dar  Inen  sein 
also  lange,  pis  das  Ephetica  wider  chöme;  vnd  ob  das  were,  das 
Ephytica  nicht  wider  chöme,  man  Im  sein  haubt  nemen  vnd  ab  schla- 
gen sölte.  Die  Junge  fraue  mit  des  chunges  vnd  ires  aller  liebsten 
vrlab  von  danne  schiede,  qu  hause  chome,  Ir  sache  gendet  hatt.  Amon 
In  der  gefencknüs  was;  die  zeit  sich  warde  neheden,  das  si^  sich 
wider  sollte  stellen  vn  ir  haubte  verlissen.  Ein  iglicher  des  Jungen 
mans  Amon  2  vn  seiner  grossen  Eyfelticheit  wart  spotten.  Aber  er  chei- 
nen  9weyfel  noch  sorge  nicht  hatte,  wan  die  liebe  gan9e  was  von  einem 
9U  dem  andern,  also  an  dem  ende  der  9eit,  das  der  chünig  ir  verliehen 
hatte  vnd  si  versprochen,  si  wider  chome.  Vnd  do  der  chunig  das 
Sache,  sich  des  nicht  verwundern  mochte,  (19)  der  grossen  freuutschaft 
vnd  liebe  der  9weyer  liebe;  Ynd  vm  des  willen,  das  solche  grosse, 
rechte,  getreue  liebe  vngescheyden  plibe,  er  der  Jungen  frauen  vergäbe. 
vnd  er  nicht  gelaubet  hatte,  das  die  stercke  der  liebe  vnd  freuutschaft 
vermüget  hat  so  grosse  macht,  das  si  des  todes  nicht  geachtet  hat,  zu 
erleschen  die  süssicheyt  des  lebens.  vnd  die  herticheit  9wiDgen  In  die- 
müticheyt.  Den  neyde  vercheren  in  liebe  vnd  freuntschaft.  Nach  dem 
als  valerio  Maximo  spricht,  das  die  getreuen  her9en  der  menschen 
geheuse  sein,  vn  der  grossen  stercke  der  lieb,  -f-  -^ 

(var.  Amon),  il  quäle  l'amava  sopra  tutte  le  cose  del  mondo,  e  a  lui  disse  il  fatto. 
Incontanente  Damone  andö  al  Re,  e  obbligossi  per  Pitia  a  tagliare  la  testa  se  ella 
non  tornasse;  e  Pitia  si  andö  a  ordinäre  le  sue  cose;  ed  essendo  presse  al  termine, 
ogni  persona  si  facea  beffe  di  costui  per  la  matta  obligazione  ch'  egli  avea  fatta,  e 
egli  non  temea  niente,  tanto  era  la  fede  e  lo  amore  della  sua  amica;  sicctie  alla  fine 
del  termine  Pitia  tornö,  secondo  ch'ella  avea  promesso.  Lo  Ee,  veggendo  il  perfetto 
amore  ch'avevano  costoro  insiome,  si  le  perdonö  la  motte,  acciocche  cosi  leale 
amore  giammai  non  si  partisse  da  loro. 

(Fiore  di  virtü  Milano  1842  cap.  V,  s.  39 — 40.     Zu  den  quellen  der  erzählung 
vgl.  Frati  Eicerche  sul  Fiore  di  virtü,  Studj  di  filol.  rom.  pubbl.  da  E.  Monaci  YI,  s.  415). 

S.  19.    Yon  dem  Neyde  vnd  seiner  pössen  tugent  -^  '^ 
S.  21.    Von  der  frölicheit  Nu  Ich  euch  wille  sagen    v   -^ 
S.  23.    Von  dem  trauren  vnd  der  trauricheyt  -r-  <^ 

1)  wich  durchstrichen.  2)  war  durchstrichen. 


ARIGOS  BLUMEN  DER  TUGEND  451 

(26)  Ein  peyspil  über  die  trauricheit  vö  de  grosse  Al- 
lexäder^. 

MAn  list  von  der  trauricheit  In  den  hystorj  des  grossen  AUexan- 
der,  do  er  tode  was,  sein  lant  herü  den  leichnam  In  einen  gülden 
Schrein  deten  vnd  den  zu  der  pegrebnüs  trugen,  vil  grosser  weisser 
lerer  Imnach  (!)  volgten,  als  dan  gewonhet  was.  Der  erste  was  ge- 
nant CGiulio,  der  sprach^:  „das  ist  der/  der  da  herre  was  des  ganzen 
ertriches  von  dem  auf  gange  der  sünen  pis  In  den  nydergäg.  Nu  er 
he're  ist  in  9wayen  schriten.  Vnd  lasset  sich  genügen."  CBarbarico 
spricht:  „Allexander  pesasse  alle  weit  vnd  ein  Iglicher  In  forchte  mit 
Im  vnd  wider  In  zu  reden,  nun  ein  iglicher  von  Im  redet  an  forchte, 
was  er  wille."  CPrisciano  spricht:  „dem  Allexander  chein  dinge  zu 
swere  was.  vnd  wider  In  nymant  mochte,  vnd  er  hat  nicht  müge 
wider  sten  dem  tode,"  CEgidio  spricht:  „o  grausamer  vnd  herter,  pit- 
ter tode!  wie  hastu  an  deinem  herben  mügen  han  wider  sten  den.  der 
alle  weit,  über  wunden  hat!"  CYerturio  spricht:  „o  finsternus  der  synne! 
0  verporgne  gerechticheyt !  o  verlorne  treu!  o  9erstörung  de^  adels! 
was  du  deine'  (27)  grosse"^  reichtum  vnd  schone  lant,  Seytmal  deinen 
edlen  herren  Allexander  du  verloren  hast  vnd  tode  ist  /.  der  dich 
vor  nicht  geclaget  hatte,  der  nü  wol  mag  wainen  vnd  clagen  dich  / 
seytmal  solcher  gr'^sser  adel,  gut  vnd  reichtum  verlorn  vm  Allexanders 
tode  willen  ist  -^  -^ 

S.  27.  Yon  dem  fride  vnd  seiner  aygenschaft.  -^  <^ 
(28)  Ein  hystory  über  die  tugent  des  fride^^  -^  cv^ 
VOn  der  tugent  des  frides  In  den  alten  Römischen  hystorj 
wir  lessen  von  einem  vn  edlen  (!)  grossen  lant  hern  der  geheissen 
was  Ipolito,  der  einem  andern  herü,  der  genant  was  legisto,  seinen 
vater  getödet  hatte,  vnd  vm  dez  willen  si  einen  ewigen  krige  hat- 
ten /  Nu  etliche  zeit  dez  chriges  sich  verloffen  hatten.  Ynd  Ipolito 
dez  chriges  nicht  mere  wolte  vnd  nicht  mere  seines  chnechtes  chnecht 
sein  [wolt],  wan  si  sprachen,  er  an  si  nicht  geleben  möchte/  disse 
wort  dem  hern  sere  zu  her9en  gingen  vnd  seinen  chuechten  nicht 
dorste  getrauen,  vnd  gedachte,  wie  er  dem  einen  sin  fünde,  vnd  ge- 
dachte, er  (29)  e  seinem  tötlichen  feinde  vntertan  wolt  sein  dan  sei- 
nen chnechten.  Yon  stunde  sich  auf  hübe  vnd  alleine  chome  In  [die] 
stat,  do  sein  feint  legisto  sein  wesen  hatte,   für  die  purcke  chome,    an 

1)  Fiore  di  virtü  cap.  VI. 

2)  Corr.  aus  grosser. 

3)  Fiore  di  virtü  cap.  VII  (Milauo  1842  s.  50). 

29* 


452  VOGT 

[die]  porten  clopfet,  zu  dem  portener  spräche:  „guter  freunt,  dun  auf. 
Ich  habe  mit  deinem  hern  zu  rede."  Der  portner  pegonde  zu  [fragen], 
wer  er  were.  er  Im  antwurt  vnd  spräche:  „Ich  pin  Ipolito."  dez 
sich  der  portner  grosses  wunder  nam,  wan  Im  wol  chuut  was,  er  sei- 
nes hern  tode  feinde  was  /  Er  snelle  zudem  [hern]  chome  vnd  spräche: 
„Edler  herre  mein  /  an  der  porten  ist  euer  feinde  Ipolito  allein  an  alle 
wapen  vnd  were  /  vnd  mit  euch  pegert  zu  reden."  Legisto  Im  schafte 
auf  zu  thun  vnd  ein  zu  lassen,  vnd  also  palde  Ipolito  hin  ein  chome 
vnd  legisto  ansichtig  Avarde,  er  mit  auf  gerackten  armen  y  waineden 
äugen  /  In  vm  finge  vnd  mit  grosser  diemüticheit  spräche  / :  „  Edeler 
freunt  vnd  prüder  mein,  pis  mir  genedig;  vergibe  mir,  das  ich  wider 
dich  verpracht  han,  oder  verprenge  mit  mir  deinen  willen  vnd  riche^ 
deinen  vater/  wan  du  wider  mich  nu  dez  wol  mechtig  pist,  wan 
Ich  dir  vnd  deiner  herschaft  meines  lebens  .e.  vergünen  wille  dan 
meinen  chnechten.  Das  ich  dir  vor  got  vnd  der  weite  vergibe,  was 
du  mit  mir  verpringest."  Do  LEgisto  disse  wort  vernomen  hatte, 
als  dan  Ipolito  gesprochen  hatte,  von  stunde  (30)  er  an  seinen 
hals  warffe  einen  gürtel.  vnd  nyde  auf  seine  chnye  fiele  für  seinen 
feyude  Ipolito,  zu  Im  spräche:  „Ich  dich  pitte  dez  du  an  mich  pege- 
rest.  riebe  dich  an  mir  vm  der  übel  willen,  die  du  vö  mir  enpfangen 
hast"/  Also  disse  czwen  heren  mit  ein  ander  fride  machten/  vnd  für- 
pas  leybliche  prüder  mit  ein  ander  nicht  hatten  In  liebe  vn  freünt- 
schaft  mügen  verpringen  vnd  leben  als  Ipolito  vnd  Legisto  deten. 

S.  30.  Nu  merchet  vö  der  pössen  vntugent  de:^  czorns-r-«^ 
S.  32.  Von  dem  (^orn  vnd  In  ^u  meyden  -f-  <^ 
S.  34.  Ein  peyspil  von  dem    Qorn    In    der    alten  .E.  -i-  «^ 
{David  und  ^^Diiria"'.) 

S.  35.  Ein  Capitel  von  der  Edelen  tugent  der  parmher- 
czicheit,  als  vns  der  heylig  lerrer  Sant  Augustin  saget  -^  ^ 
(37)  Ein  hystory  über  die  tugent  der  parmher9icheit.  ^ 
YOn  der  tugent  der  parmher^icheit  In  den  alte  Römischen  liysto- 
rien  geschriben  ist,  wie  das  ein  rauber  oder  diebe  auf  dem  mere  ge- 
fangen warde  vnd  von  stunde  gefürt  warde  für  den  grossen  Allexander. 
Der  In  fraget,  warum  er  also  ein  grosser  rauber  auf  dem  mere  were. 
Er  Im  antwurt  vnd  spräche  /  „Darü  (38)  das  du  pist  ein  rauber  de^ 
ertriches,  darü  ich  mich  alleine  des  mers  pegen  messe.  Und  darum 
das  ich  albege  allein  pin  In   meinen  (!)  übel  dun  vnd  raube,   pin  ich 

1)  i-punkt  fehlt,  i  dem  e  sehr  ähnlich. 

2)  Fiore  di  virtü  cap.  IX.     (Ausg.  Milano  1842  s.  57).     Quellen  bei  Frati  a.  a.  o. 
s.  413  nr.  LXVIII. 


AEIGOS   BLUMEN   DER   TUGEND  453 

geheyssen  ein  raiiber  vnd  diebe.  Vnd  das  zu  dun  pin  ich  geczwngen 
von  grosser  armut  [vn  not].  Ynd  du  Allexander  mit  grossen  (!)  mech- 
ticheit  zeuchest  vnd  als  ich  von  cheiner  armut  gezwungen  pist,  Darum 
du  pist  geheyssen  ein  chünig,  wan  du  nach  volgest  mit  mechticheit 
allen  den,  die  dich  fliehen  (!),  vnd  die  entwerest  laut  vnd  leute.  "Wer 
aber  daz  [daz  du]  allein  zugest  als  ich  dun,  zu  geleicher  weisse  du 
geheissen  werest  ein  diebe  vnd  rauber  als  ich.  Darum  wisse,  aller 
durchleuchtigester  chünige,  waz  ich  Übels  verpracht  vnd  getan  han, 
Ich  das  nicht  getan  han,  sunder  armut  Ire  wercke  durch  micht  (!) 
verpracht  vnd  mich  zu  einem  diebe  vn  rauber  gemacht  hatt.  Aber 
du  Allexander  ein  diebe  vnd  rauber  pist  nicht  durch  notte  noch  ar- 
mut willen,  sunder  alleine  vm  der  grossen  pössen  deines  gemüte  gei- 
ticheit  willen,  wan  ye  reicher  vnd  mechtiger  du  pist,  ye  mer  dein 
gemüte  pegern  ist.  Aber  solt  mich  das  gelücke  einfart  erfreuet  haben, 
so  wer  ich  vil  pesser  gewessen  dan  du  /  wan  ich  mich  mit  cleymem  (!) 
bette  lassen  genügen.  Ynd  wer  chein  rauber  nicht  mer  gewessen."  Do 
der  chünig  sache  die  grossen  freyhet  de^  maus,  sich  nicht  (39)  ver- 
wundern mochte  der  starchen  vnd  freyen  wort  de^  armen  mäne^,  Ton 
stunde  sich  pegabe  In  parmhercjicheit  Vnd  wol  erchante,  das  er  chein 
übel  täter  nicht  was  dan  allein  durch  armut  willen.  Darum  er  Im 
vergäbe  alle  missetat  vnd  In  pegabet  mit  grossem  reichtum  vnd  machte 
In  zu  einem  Ritter  vnd  an  seinem  hoffe  fürpas  er  der  pesten  Ritter 
einer  wa^.  -^  «^  -f-  <^ 

S.  39.  Von  der  vnparmher9icheyt  vn  vntuget  der  her- 
ticheit  -i-  ~ 

S.  39.  Ein  peyspil  von  der  vnparmhergicheyt  der  Junck- 
frauen  Medea  vnd  der  herticheyt  de:^  Baualistho  -^  <^  [im  text 
Baualistö). 

S.  41.  Von  der  Edlen  vnd  freyen  tugent  der  Milticheyt-^^ 
S.42.  Von  der  tugent  vnd  Milticheyt  de^  Adelers  -^  «^ 
S. 47.  Von  der  pössen  vntugent  der  geyticheit  ^  «^^ 
(49)    Ein    hystorj   über  die  vor  genäten  pössen  vntugent 
der  geyticheyt^ 

MAn  list  von  der  pössen  vntugent  der  geiticheit  vnd  von  einem 
der  was  genant  Germino,  der  alle  sein  tage  nicht  anders  getan 
hatte,  dan  reichtü  vnd  gut  gemacht  vnd  gesämet  von  silber  vnd 
golde,  noch  seinen  geitigen  willen  nye  erfüllet  hatte,  vnd  sein  syn, 
mute    vnd   gedenche    statlichen    gedachten,    wie  er,    [Im  in]   dem  Ein 

1)  Flore  di  virtü  cap.  XII  (s.  68). 


454  VOGT 

genügen  geton  möchte,  vnd  darü  er  worden  was  also  reiche ,  das 
sein  reichtü  an  masse  was/  Doch  einest  er  pedencken  warde  seine 
grosse  geiticheit.  Ynd  das  alter  In  über  gange  hat,  vnd  wol  er  chante, 
zeit  were  gewessen,  er  die  geiticheit  pecheret  hatte  In  milticheit.  aber 
das  Im  die  pöse  gewonhet  vn  auch  sein  natur  nicht  verliehen  hat, 
(50)  Vnd  wol  erchante,  er  dar  Ine  ersterben  moste  /  Ynd  nicht  wolte, 
das  Im  seine  drey  süne,  die  er  hatte,  nicht  nach  volgten  In  der  gei- 
ticheit. Von  stunde  nach  den  allen  dreyen  sante,  In  seinen  willen  uü 
mainüg  offenware  dett  vn  si  fleissiglichen  piten  dett,  Da:^  grosse  gut 
vii  reichtü,  das  er  mit  grosßr  müe  vnd  sorge  vin^  seiner  geiticheit 
willen  gewönen  hatte.  Das  si  das  nemen  vnd  aus  geben  nach  allem 
iren  lust  vnd  willen  Vnd  dar  an  chein  sparung  nicht  hatten.  Wan 
er  an  seinem  her9en  nicht  gehaben  möchte,  icht  aus  zu  geben,  „wan 
das  mir  prechte  pesündern  smerczen  in  meinem  gemüte  vü  an  dem 
her9en.  Darum  seyt  gepeten  vm  chintlicherr  (!)  treue  willen,  wan 
die  geiticheit  der  grösten  vnd  pösten  vntugent  eine  ist  der  weit.  Vnd 
ich  nü  die  gern  fliehen  wölte  als  den  pittern  tode,  aber  das  nicht 
mage  gesein.  wan  mein  gedencke  noch  nicht  müge  nachgelassen,  also 
gar  In  der  geiticheit  si  pegraben  sein."  CVon  dissem  reichen  man, 
genant  Germino,  got  der  almechtig  ein  grosses  wunder  Er9eyget  nach 
seinem  tode.  Do  seine  drey  sün  de:^  vaters  schrein  auf  [deten]  vnd  das 
gelt,  golt  vn  Silber  mit  ein  ander  teylen  weiten,  si  dar  Line  funden  Ires 
vaters  her9e  alle:^  vol  plutes  miten  In  dem  schacc^e.  Da^  geschache 
nach  (xermino  tode  vm  seiner  grossen  pegire  vn  übriger  geiticheit 
willen,  die  er  hatte  an  seinem  tode  ^u  dem  golde  In  de  schrein  H- 

S.  51.  Von  der  tugent  der  straffung.  Vnd  wie  mä  straffe 
sol  -^  ^ 

S.  52.    Von  der  straffung  über  den  chünig  faraon  H-  c^  H- 

S.  54.  Von  der  pössen  vnd  falschen  vntugent  der  liebe 
chosung  oder  petrügnüs  h-  <^  -^  «^ 

(56)  Ein  peyspill  über  die  vntugent  des  falschen  lieb- 
chosers^. 

IN  dem  puch  Esopo  man  list  von  der  vntuget  der  liebchossung, 
nicht  das  es  also  geschechen  sey,  sunder  alleine  zu  einer  geleichuus. 
Vnd  sprich',  wie  das  einest  ein  rabe  auf  einem  paum  sasse  vnd  In 
seynem  munde  hatte  einen  chäse  /  es  sich  füget,  ein  fuxe  für  ginge 
vnd   den  raben  mit  dem   chäse  gesechen  hatte,     von  stunde  gedachte, 

1)  Sieht  eher  wie  vtid  aus. 

2)  Flore  di  virtü  cap.  XIV  (s.  73  fg.). 


ARiaOS   BLTJIIEN   DER   TUGEND  455 

wie  er  den  raben  vm  den  chässe  petrigen  vn  gelaichen  möchte,  (^uhant 
gedachte,  chein  pesser  sin  nicht  möchte,  gesein,  dan  mit  süssem  vnd 
diemütigem  liebchosen;  vnd  sich  zu  dem  paume  pegonde  zu  nachende 
vn  (57)  den  raben  mit  süssen  werten  grüssen  vn  mit  senfter  stimme 
zu  dem  raben  spräche,  „für  wäre  schönern  vogel  mein  tage  ich  nicht 
gesecheu  han  dan  dich,  vnd  ist,  das  sich  dein  gesange  dir  geleichet/ 
ich  spriche,  du  der  edelste  vn  schönste  vogel  aller  weit  pist.  vnd  dein 
gesange  ich  von  herczen  gern  hörn  wölte."  Do  der  rabe  sich  den  fuxe 
vn  liebchosser  So  sere  loben  höret  /  dem  lober  9U  liebe  er  an  hübe 
frölichen  zu  singen,  vnd  mit  dem  gesange  der  chäse  Im  entpfyle  vnder 
den  paum.  dez  der  fuxe  froe  was,  den  zu  Im  nam  vnd  zu  dem  raben 
spräche:  „das  gesange  sey  dein  vnd  der  chäse  mein"/  also  der  rabe 
petrogen  warde  von  dem  fuxe;  Qu  geleiche~  weyse  auch  dut  der  lieb- 
chosser, wan  er  Jemantt  wille  petrigen  -^  c>o 

^  -f-  Prudencia  -r-  '^ 
Von  der  Edelen  Tugent  der  fürsichticheyt  -i-  <^ 

(61)  Ein  peyspil  über  die  tugent  der  fürsichticheyt  eines 
Römischen  Cheysers^. 

yOn  der  tugent  der  fürsichticheit  wir  lessen  In  den  alten  Römi- 
schen hystorien.  wie  das  einest  ein  Römischer  cheyser  durch  einen 
walt  spaciren  reyte,  Er  in  dem  walde  fände  einen  phylosofo  oder 
grossen  lerer  alleine,  de^  sich  der  cheyser  wunder  name  vnd  In  pegonde 
zu  fragen,  was  doch  sein  geschefte  also  aleine  In  dem  walde  were. 
über  de^  chaysers  frage  der  meister  chein  antwurt  gäbe  vn  swayge. 
Noch  mer  der  cheyser  Im  rüffet,  aber  geleiche  die  fodern  antwurtt 
enphingo/  Do  das  der  cheyser  sache,  er  von  seine  rosse  sasse  vnd  [zu] 
dem  phylosofo  ginge  Vnd  In  von  neuem  fraget  seiner  geschefte.  der 
meister  Im  antwurt  vnd  spräche:  „hefe,  ich  lere  und  studire  weistum." 
Der  cheyser  zu  Im  Sprache:  (62)  „Maester,  nu  lere  mich  was  deines 
weistums."  Von  stunde  der  phylosofo  sein  federn  In  sein  haut  name 
vn  schreybe  also,  „wes  du  peginste  oder  zu  schaffen  hast,  vor  dem 
anfange  pedencke  das  ende,  was  sich  da  von  gefügen  müge"  /  Der 
cheysser  die  geschrift  zu  Im  name  vnd  wider  gen  Rom  chome  vnd 
die  geschrift  über  die  porten  seines  pallast  an  dett  schlachen,  da  mit 
alle,  die  da  für  gingen,  die  sechen  [vn  verneme]  möchten.  Nicht  lange 
dar  nach  es  sich  füget,  de^  cheysers  laut  heni  mit  ein  ander  heym- 
lichen  vnd  verporgen  rat  hatten,  wie  si  den  cheyser  toden  vnd  vm 
sein  leben   prengen  möchten,   vnd  des  eins  wurden  mit  seinem   part- 

1)  Hs.  punkt.  2)  Fiore  di  virtu  cap.  XV  (s.  77). 


456  VOGT 

[scherer]  oder  palirer,  dem  si  grosses  gut  versprachen  zu  geben;  de:; 
er  alles  willig  was,  z^u.  verpringen  iren  willen  vm  de:;  geltes  willen, 
das  si  Im  verheyssen  hatten  auch  Im  versprachen  für  all[e  sorge]  ^ 
wan  ir  etlicher  mit  vn  gegenwürtig  sein  tvürde,  wan'^  er  dem  cheyser 
den  part  schären  würde  /  Nicht  lauge  dar  nach  der  cheysser  nach  sei- 
nem scherer  sante,  das  er  chöme  Im  zu  scheren,  (^u  haut  er  sich  auf 
den  wege  machte,  vnd  do  er  an  die  porten  des  cheiserlichn  pallast  chome, 
er  ob  der  porten  die  netten  geschrift  sache  vnd  gar  sere  erschracke. 
von  stunde  gedachte:  „für  war  vnser  verraterschaft  dem  cheyser  sol 
chunt  sein,  vnd  darü  er  disse  geschrift  hat  lassen  an  slage,  da  mit  si 
ein  yder  gelesen  müge."  Ynd  In  Im  selbes  gedachte,  wie  er  wider 
zu  genade  chomen  möclite,  (63)  vnd  snelle  für  den  cheysser  lieffe, 
nyder  auff  sein  chnye  fiele,  mit  grosser  andacht  genade  vn  parmher- 
9icheit  an  den  cheyser  pegeret.  de^  Im  der  cheyser  vergonde  vnd  wil- 
ligt was,  aber  wissen  wolte,  warum  er  genade  vnd  Vergebung  pegeret, 
wan  Im  vnchunt  was  seiner  herfi  verraterschaft  /  also  der  scherer  a'n  (!) 
hübe  zu  sagen  alle  geschefte  der  herfi,  vnd  wie  si  Im  versprochen 
hatten  grosses  gelt,  wä  er  Im  schere,  das  er  Im  solt  den  habs  (!)  ab 
schneyden  vnd  das  leben  nemen.  Der  cheyser  seinem  scherer  willig- 
lichen vergäbe  vnd  von  stunde  sante  nach  seinen  laut  hern  vnd  einem 
nach  dem  andern  das  haubte  schuffe  ab  slachen  /  Dar  nach  er  sante 
nach  dem  phylosofo,  den  er  In  dem  walde  funden  [hatt]  vnd  der  Im 
die  vor  genanten  geschrift  geben  hat,  den  nicht  mer  von  Im  lassen 
wolte  vnd  In  grossen  ern  vnd  wirden  hüte,  -r  "^ 

S.  63.  Yon  der  Torhett  oder  vnweysheit.  -!-  <^ 
(65)  Ein  deine  hystorj  von  der  vntuget  der  torhett^. 
MAn  list  In  den  alten  Römischen  hystorien  von  der  torhet.  Wie 
einest  der  grosse  Allexander  In  der  stat  Macedonia  [spa9iren  reyte]  vnd 
neben  Im  der  grosse  meister  aristotile.  als  dan  gewonhet  ist,  das  Junge 
Volke  gern  nach  volget,  die  grossen  hern  zu  sechen,  also  auch  mit 
allexander  luffen  (66)  vil  Junger  chnaben,  alle  gemeiniglichen  schrien: 
„weiche,  weiche  ab  dem  wege  vnserm  genedigen  hern  Allexander"/ 
ein  torhafftiger  mitten  In  dem  wege  auff  einem  steyne  sasse.  Vnd  von 
der  Jungen  geschrey  sich  nicht  verändert  /  einer  vö  allexanders  fusß 
chnechten  den  torn   ab  dem  steine  wolt  gestossen  haben  /  Das  ersache 

1)  [    ]    am  rande;   ursprünglich  stand  wol  all-  und  im  anfang  der  nächsten 
zeile  es. 

2)  Corr.  aus  wan. 

3)  -ig  aus  -eg  corrigiert. 

4)  Fiore  di  virtu  cap.  XVII  (s.  81). 


AEIG03  BLUMEN  DER  TUGEND  457 

der  meister  Aristotile  vfi  spräche'^  zu  dem  chnechte:  „las  sten!  nicht 
verrüre  den  stein  auf  dem  steine"  /  wan  Aristotile  wol  wäste,  das  es 
ein  tore  oder  narre  was;  darü  er  von  der  Jungen  geschrey  nicht  ge- 
meint warde,  do  si  schrien:  „weiche,  weiche  aus  dem  wege",  wan  er 
chein  mensche  was.  -i-  o>^ 

S.  66.  .  Justicia. 

Von  der  Edlen  Tugent  der  gerechticheyt.  -i-  <^ 

S.  69.  Ein  hjstory  vnd  peyspil  über  die  gerechticheyt 
von  Einem  Einsidel  vnd  [wie]  In  got  versuchte^. 

S.  70.  In  dem  leben  der  heiligen  alten  vatter  man  list  vor  (!)  der 
gerechticheyt.  Wie  das  ein  Eynsidel  lange  zeit  grosse  pusse  vn  peni- 
tenz  gedon  vn  gefürt  hatte.  Ynd  an  Im  hat  ein  grosse  vnd  swere 
chranchet  vnd  die  lange  zeit  mit  grosser  müe  getragen  hatte  /  Des  er 
sich  sere  zu  gott  clagen  warde.  Ton  stunde  an  got  Im  sante  seynen 
Engel  In  maus  weyse'/  der  zu  dem  eysidell  spräche:  „chome  mit  mir, 
wan  dir  got  wille  zeige  seine  heymliche  vnd  verporge  gerechticheit." 
zu  hant  der  Eysidel  dem  vn  erchanten  man,  das  was  der  Engel,  nach 
volget.  Der  In  fürte  In  ein  hause,  dar  Ine  was  ein  gross  schaze  von 
gelt,  das  der  engel  alles  nam  vnd  mit  Im  wege  trüge.  Dar  [nach] 
si  chomen  In  ein  ander  hausse,  do  liesse  der  Engel  das  gelt  vnder 
der  türe  ligen.  Dar  nach  fürpas  er  In  fürt  In  ein  ander  hausse,  dor 
Ine  si  funden  ein  chindlein  In  der  wigen,  das  der  Engel  vö  stude  (!) 
tödet/  Do  der  Eysidel  sache  [den]  Engel  solche  pösse  dinge  verpringen 
vnd  chein  gut  wercke  nicht  dun.  Er  nicht  lenger  pey  Im  wolt  peley- 
ben  vnd  gedachte,  es  der  teuffei  were  vnd  nicht  ein  Engel,  sich  vö 
Im  wolt  scheyden.  Do  das  der  Engel  ersache,  er  zu  Im  spräche: 
„guter  man,  peyte,  hab  mit  leyden,  vernym  die  vrsache  meines  ge- 
schefte  vnd  was  ich  gedon  han  gewürtig  dein.  Darü  mercke:  in  dem 
erste  hause,  do  ich  das  gelt  nam.  wisse  das  der  dassig,  (71)  de^  das 
gelt  was,  der  verchauft  hat  alle:^  sein  gut  vn  das  gelt  geben  wolte 
einem,  der  solt  einen  andern  töten,  der  hat  Im  seinen  vater  getödet 
vnd  vm  sein  leben  pracht  hatte  /  darü  vm  (!)  er  das  gelt  gebii  wolte 
seinen  vater  zu  rechen;  vnd  wan  das  geschechen  were,  so  were  do  von 
pechomen  noch-vil  (!)  grosser  schaden,  schände  vnd  laster  In  der  statt; 
vnd  darü,  das  aus  übel  nicht  ärger  würde  vn  der  gute  man  sich  wider 
cheret  wol  zu  dun.  Ich  im  das  gelt  genomen  han  /  Vnd  wen  er  lieyme 
chomet  vnd  de:^  geltes  nicht  findet,  so  würt  er  lassen  die  weit  vnd  In 

1)  So  durch  correctiu". 

2)  Fiore  di  virtu  cap.  XYII  (s.  84).     Vgl.  Frati  a.  a.  o.  s.  421. 


A 


458  VOGT 

ein  cl oster  chomen,  got  zu  dienen,  seytmal  er  sich  so  arm  sehen  wirt 
vnd  sein  sele  wirt  heylen/  Die  ander  vrsache,  das  ich  das  gelt  Hesse 
In  dem  andern  hause,  die  ist,  das  der  man  von  dem  hause  verlorn 
hatt  grosß  gut  auf  dem  mere,  vm  des  willen  er  sich  selbes  würde  hen- 
chen.  vnd  wen  er  das  gelt  finden  würte,  er  wider  cheren  wirt  vnd  got 
danchen;  also  der  verzagte  tode  vnder  wegen  peleybte.  Die  dritte 
vrsache  ist,  das  ich  das  chinde  In  der  wigen  tödet,  das  det  ich  dar 
vm,  wan  .e.  das  der  vater  das  chint  hatte,  er  nicht  anders  pflage  ze 
dun  dan  alle  gut  der  weit;  vnd  syder  er  das  chint  gehabt  hatte,  er 
nicht  anders  gethan  hatte  dan  wuchern  vnd  alles  übel;  darum  ich  das 
chint  getödet  han,  da  mit  der  vater  sich  wider  chere  (72)  (^u  got,  wol 
zu  dun,  als  er  dan  vor  gethan  hatte  /  Darü  auch  dich  nicht  lasse 
verwundern  noch  pechümern  dein  chranchet;  wan  hastu  ir  nicht,  So 
werestu  auch  nicht  In  dem  dinste  gotes/  Auch  wisse,  das  der  almech- 
tig  [got]  chein  dioge  nicht  düt  an  vrsache;  aber  die  menschen  sein 
nicht  erchenen,  das  got  verbeuget,  von  übel  noch  mynder  übel  cho- 
met."  Also  der  Engel  seine  wort  Endet  vnd  vor  dem  Eysidel  ver- 
swante.  Da^  pey  der  eysidel  wol  erchante,  das  Im  der  Engel  gesaget 
hatte,  das  alles  gotes  geschefte  was.  Vnd  wider  zu  rücke  cheret,  die 
wunder  zu  sechen,  als  Im  dan  der  Engel  gesaget  hatt;  alle  dinge  wäre 
vnd  gesehen  fände;  von  stunde  er  wider  ginge  In  sein  gemache  vn 
got  dienet  mit  gan9em  vleyse  vnd  füret  ein  he3'liges  vnd  gutes  leben/ 
vnd  nach  seinem  ende  er  pesasse  das  Ewig  leben  der  ern.  amen.  -^  <^ 

S.  72.  Von  der  pösen  vnd  vntugent  der  vngerechti- 
cheit  -^  <^ 

S.  75.  LealitacNj 

Von  der  Edelen  tugent  der  trewe.  -i-  <^ 
(77)  Ein  peyspil  von  der  tugent  der  Treue. 

MAn  list  von  der  trewe  In  den  alten  Römischen  hystorien.  "Wie 
das  die  Römer  vnd  die  von  chartagine  mit  ein  ander  grosse  chrige 
hatten  vnd  In  dem  von  einem  vnd  andern  teyle  grosse  volcke  gefan- 
gen warde  /  Vnd  gefangen  warde  der  alte  vnd  weyse  genant  chünig 
Marcho  vnd  gefüret  warde  über  mere  In  die  stat  chartagine.  Auch 
die  Römer  gefangen  baten  vil  Edeler  vnd  mechtiger  herii;  die  pesten 
von  Carthagine  si  in  irer  gefancknüs  hatten.  Die  hern  von  chartha- 
gine  meinten  einen  gefangen  vm  den  andern  zu  haben,  als  dan  vor- 
mals mer  gesehen  (78)  was,  vnd  wider  wider  (!)  vm  schickten  den 
alten  Römer  chünig  Marcho,    den   Wechsel  vm  die  gefangen  machen. 

1)  Corr.  aus  Das. 


ARIGOS  BLUMEN  DER  TUGEND  459 

Ynd  do  er  In  den  rote  chome  für  seine  purger  gegenwürtig  aller 
weissen,  Er  an  hübe  zu  reden  vnd  spräche,  der  Wechsel  vm  der 
gefangen  willen  einen  vm  den  andern  vm  chejnerlej  sache  willen 
auff  zu  nemen  were  von  den  von  Chartagine  /  „Wan  warum  alle 
ire  gefangen  alt  sein,  vnd  die  vnütze  sein,  vn  die  ir  in  euer  ge- 
fencknüs  habt,  alle  Junge  vn  mechtige  sein  in  chrigen  vnd  streyten  / 
Darü  mich  nicht  düncket  die  zu  lassen.  Damit  er  seine  wort  Endet 
vnd  die  von  dem  gan9en  rate  pestet  worden  nach  zu  volgen  de^  chu- 
niges  rate.  Also  chünig  Marcho  wider  gen  Carthagine  für  In  die  ge- 
fenchnüs,  seiner  treue  ein  genügen  don,  als  er  sich  dan  verpunden  hatte 
vnd  die  nicht  zu  prechen  wolle.  E.  in  der  gefencknüs  sein  leben  mit 
pein  vnd  smerczen  wolt  enden. 

Della  lealtä  si  legge  nelle  Storie  Romane,  che  essendo  Marco  Eegolo  preso 
da'  re  di  Cartagine,  che  aveano  guerra  co'  Romani,  fu  mandato  Marco  a  Roma  per 
iscambiare  gli  presi  che  aveano  gli  Romani  di  quegli  di  Cartagine,  e  facendo  di  ciö 
i  Romani  cousigiio  uel  Seuato,  si  si  levö  Marco,  e  consigliö  che  il  cambio  non  si 
dovesse  fare;  percho  i  prigioni  di  Roma  che  erano  a  Cartagine,  si  erano  di  vil  con- 
dizione  e  quasi  tutti  vecchi,  e  quegli  di  Cartagine,  che  erano  a  Roma,  si  erano  tutti 
de'  maggiori  e  migliori  uomini  di  Cartagine,  e  tutti  buoni,  e  giovani  e  valorosi  com- 
battitori  di  guerra.  Sieche,  fatto  il  consigliö,  si  fermarono  gli  Romani  al  suo  detto; 
ed  egli  per  non  rompere  la  fede  si  toraö  nella  prigione  a  Cartagine,  siccom'  egli  avea 
promesso  a'  Cartaginesi.     (Fiore  di  virtu  cap.  XIX,  s.  91.     Vgl.  Frati  s.  416.) 

S.  78.    Von  der  pösen  vntugent  der  falschen  vntreüe  -^  <^ 
S.  82.    Yon  der  falschen   vntrewe  über  die  statt  Sodoma 
vnd  Gamorra,  wie  sich  ir  übel  Endett.  -r-  ^^ 

S.  83.    Yon  der  Edelen  tugent  der  warhett.  -i-  '^ 
Innerhalb  dieses  kapitels  steht  auf  s.  84  fgg.  ohne  besondere  Über- 
schrift folgejide  erxäJilimg:^ 

Yon  der  tugent  der  warheit  wir  lesen  In  dem  leben  der  hey- 
ligen  alten  vatter  /  Yon  einem,  der  hatte  gelassen  (85)  grossen  reich- 
tum  vnd  sich  geben  hatte  in  gotes  dinste  /  vnd  was  chomen  In  ein 
closter,  got  zu  dienen  vnd  sich  von  der  pösen  weit  ziehen  vn  sein 
sele  zu  heylen.  Nu  der  abte  in  hilte  für  einen  chündigen  vnd  aus- 
richtigen man  vnd  meinte,  er  pesser  were  aus  zu  richten  etlich  ge- 
schefte  de:^  closters,  sunder  in  chauffen  vn  verchauffen.  Es  sich  füget, 
der  abt  In  sante  auf  einen  marckte,  zu  verchauffen  etliche  alte  essel 
vnd  wider  vm  zu  chauffen  Junge.  Nu  der  gute  man  vm  gehorsam 
willen  nicht  wider  sten  weite  de^  abte  geschefte,  wie  wol  es  im  wider 
was,   vnd  mit  Im  nam   eynen  ander  prüder  de^  closters  vnd  mit  den 

1)  Fiore  di  virtü  cap.  XXI  (s.  96  fg.). 


460  VOGT 

Essein  zu  marckte  füren/  Ynd  wan  man  In  fraget,  ob  die  Esse!  gut 
weren,  er  antwurt  vnd  spräche:  „gelaubt  oder  meint  ir,  weren  si  gut, 
vnser  closter  ist  noch  nicht  in  also  grossen  noten,  das  wir  si  pedürffen 
verchauffen;  darum,  weren  si  gut,  wir  si  für  vns  pehielten"  /  die  chauf- 
leute  fragten,  warü  si  also  peschunden  vnd  geharet  weren  auf  dem 
rüche  vnd  an  dem  zagel.  Er  In  antwurt  vnd  spräche:  „da  sein  si 
alte  vnd  mugen  nicht  woll  gen  vnd  fallen  dicke  under  dem  some,  vnd 
pey  dem  zagel  man  si  wdder  auf  hebet/  darum  si  In  haben  also  pe- 
schunden" /  Also  der  gute  münche  seiner  esel  nicht  verchaufte  vnd 
mit  den  wider  zu  hause  chome  /  Von  stunde  sein  geselle  zu  dem  (86) 
Abte  ginge  vnd  Im  alle  sach  saget  vnd  warum  si  der  esel  nicht  ver- 
chauft  hatten  vnd  wie  sein  geselle  statlichen  die  essel  den  chaufleuten 
geschendet  vnd  vernicht  hatte,  darü  ir  cheiner  verchaufte  were.  Der 
abte  gar  zornig  wider  seinen  munche  was  Ynd  In  sere  warde  straffen 
vm  der  wort  willen,  die  er  auf  marckte  (!)  geredet  hatte.  Auf  das  der 
gute  warhaftig  man  seinem  abte  antwurt  vnd  spräche,  „herre  vater  vnd 
abt,  gelaubet  ir,  ich  her  chomen  sey  vnd  gelassen  [habe]^  meinen 
schönen  reichtum.  lügen  zu  sagen  vnd  die  menschen  zu  laichen?  fui' 
wäre  nein  ich,  das  gelaubet  mir.  wan  ich  allein  herchomen  pin,  zu 
dienen  dem,  der  da  gancze,  wäre,  lautre  vn  reyne  warhet  ist/  Darum 
In  dissem  hause  In  mir  nicht  anders  dan  warhet  sol  erfunden  wer- 
den/ wan  do  ich  weltliche  leben  füret  die  lüge  mir  nye  gefiele"  ||  Do 
der  abt  höret  die  guten  wort  vnd  mainüg,  er  nicht  fraget  fürpas^. 

(88)  Ein  historj,  wunder  Vnd  zeichen  Von  got  zu  einer 
Junchfrauen  vm  der  grossn,  falschü  lüge  Avilliis  -i-  c>^ 

IN  den  alten  Römischen  historien  wir  lesen  von  der  vntugent 
der  lügen  von  eyner  Junckfrauen,  die  was  genant  Jorina  vn  was  de^ 
cheysers  anastasio  tochter.  Die  grosse  liebe  hatte  zu  einem  Jungen, 
der  was  genant  Ameno  vnd  ires  vaters  des  cheysers  chamerer.  den  si 
gern  pracht  [hat]  in  ir  liebe  vnd  da^  leyplichen  an  in  pegert,  da  mit 
si  hatte  iren  willen  mügen  mit  Im  verpriogeu/  aber  der  Jüngeling  zu 
frome  was  vnd  disse  smacheit  seinem  herii  nicht  dun  wolte  vnd  der 
Junckfrauen  ir  pete  vnd  possen  vncheüschen  willen  versaget  vnd  ab- 
sluge, vm  de:^  willen  die  Junckfraue  in  grosse  schäme  fiele  vn  stat- 
lichen gedachte,  wie  si  sich  an  dem  Jungen  gerechen  möchte  vnd  vm 

1)  von  späterer  band  übergeschrieben. 

2)  Es  stand  ursprünglich  nur  für  da;  aus  dem  r  ist  dann  prts  gemacht,  sodass 
eigentlich  füpas  dasteht. 

3)  Flore  di  virtü  cap.  XXII  (s.  99). 


ARIGOS    BLUMEN    DER    TUGEND  461 

sein  leben  prengen  /  Es  sich  füget,  nicht  hinge  dar  nach  der  Junge 
durch  gescheftes  willen  sein  wege  für  der  Junckfrauen  chamern  ginge, 
von  stunde  si  in  dersechen  hate  für  gan  /  mit  hocher  styme  an  hübe 
zu  schreyen:  „retta  Jo,  retta  Jo.  helffet!  der  pöswicht  mich  wille  nöten 
vnd  Junckfraue  ere  nemen"/  ^u^^^i^^©  ^^s  Tolcke  zu  Helfe,  frauen  vnd 
mäne,  si  fragten  vm  die  mere/  si  in  antwurt  vnd  spräche:  „Ameno, 
meines  vaters  diener,  mich  hat  wollen  nött  (89)  zerren."  Yon  stunde 
der  Junge  gefangen  vü  für  den  chayser  gefürt  warde,  der  in  fraget,  ob 
das  wäre  were.  er  spräche:  „[genediger  herr]  neyn,  noch  solche  dinge 
man  von  [mir  mit  der  w-arhet]  nymer  erfarn  sollen  ^  werden  Ynd  vii 
Über  mir  der  tode  were/  Der  cheyser  nach  der  tochter  sante  vnd  die 
pegonde  zu  fragen,  wie  sich  die  sache  verloffen  hatte,  Vnd  über  de:^ 
cheysers  fragen  die  Junckfrau  chein  antwurt  gäbe.  Noch  mer  von 
neuem  er  si  fraget:  „nu  sage  mir,  Edele  tochter  mein,  wie  hatte  sich 
die  Sache  9wischen  dir  vnd  Ameno  ergangen?"  aber  chein  antwurt  si 
im  nicht  gäbe  /  Pey  dem  cheyser  vil  grosser  fürsten  vnd  hern  stun- 
den, sich  wunder  nomen  der  Junchfrauen,  das  si  über  de^  cheysers 
fragen  chein  antwurt  gäbe.  Ein  weyser  vnder  In  aufstunde  vnd 
sprach/:  „lierre,  fürwar  gelaubet  mir,  die  Junchfraue  ir  [zungen]  ver- 
lorn hatt,  darü  si  euch  chein  antwurt  nicht  geben  mage."  Qu  haut, 
der  cheyser  schuffe  /  das  man  pesechen  solte  /  gethon  vnd  geschaffen 
alles  ein  dinge  was:  man  ir  in  den  munde  sache  vnd  dar  lue  chein 
Zungen  nicht  fände.  Do  das  der  cheyser  sach,  sich  nicht  verwundern 
mochte  vnd  den  Jungen  schuffe  lassen/  vnd  also  palde  der  Jungeling 
gelassen  warde,  ^u  haut  der  Junckfrauen  ir  zunge  vnd  s  (!)  gespreche 
wider  chome  /  Ynd  gegenwürtig  aller  fürsten  vnd  hern  si  an  hübe  zu 
(90)  sagen  alle  sache  vnd  wie  es  sich  verloffen  hat"  vnd  wie  si  den 
Jungen  meinte  vm  sein  leben  zu  prengen  an  schulde  [vm  deß  willen 
dar  (!)  er  nicht  nach  folgen  wolt  irem  posen  willenj.  also  si  dem  chey- 
ser saget  alle  warhet  /  Ymb  de^  willen  si  an  sich  name  heyliges  leben 
vnd  in  ein  closter  chome  vnd  [in]  dem  dinste  got:^  erstarbe,  das  Ewdg 
leben  pesasse.  Das  was  da^  zeichen,  das  got  der  almechtig  det  durch 
der  warhet  willen,  do  mit  die  pösse  vnd  falsche  vntugent  der  lügen 
peschamet  würde. 

(90)  c^  .  fortec:5a  .  ~ 

Yon  der  Edelen  tugent  der  sterche^. -^ -^^ 

STercke    nach    dem    als    der   meister   Magobrio    spricht    dreyerlej 
ist/  Das  erste  ist  stercke  vnd  redlich  zu  sein  de^  leybes  von  nat':  Die 

1)  Corr.  aus  sollen.  2)  Fiore  di  virtü  cap.  XXIII. 


462  VOGT 

stercke  ist  nicht  geheissen  fürsichticheit  oder  tugent.  Dslt,  ander  ist 
stercke  der  fürsichtigcheit  (!):  die  ist  in  der  freyung  de^  gemüte/  als 
dan  ist  zu  förchten  swere  dinge  /  Das  dritte  ist  mit  mitleyduug  sich 
geleiche  auf  halten  in  einem  iglichen  ansprung  der  {cojt.  aus  des) 
vfideY\Yeriicheit^  oder  vngelückes.  Die  dasigen  syn  der  stercke  das  sein 
tugent  geheysen  CUnd  die  tugent  der  sterke  man  geleichü  mage  zu 
dem  leüen,  wan  der  albeg  mit  offen  äugen  slafte,  vnd  wen  in  der 
Jäger  suchte  zu  fachen,  das  er  snelle  vernonen  (!)  hatt;  da  mit  In  (91) 
der  Jager  nich  (!)  finde,  sich  von  dan  hebt  vnd  mit  seinem  zagel  seine 
stappen  prichte,  das  der  Jager  nicht  gesechen  müge,  wo  er  hin  aus 
sey  vnd  alle  dinge  versucht,  da  mit  er  dem  Jager  engen  möchte.  Ynd 
ob  das  were,  das  er  von  dem  Jager  gefunden  würde,  er  nicht  fleüchte, 
sunder  frölichen  vnd  an  alle  sorge  vnd  forchte  dem  Jäger  entgegen 
chomet.    vnd  den  streyte  redlichn  fürte  wider  den  man  vnd  Jager. 

S.  92.    Ein  Historj  von  der  stercke  des  Samson.  ~  ^ 

S.  93.    Yon  der  forchte  vnd  seiner  [vn]tugent.  -i-  c>o 

S.  94.  Ein  historj  vor  (!)  der  forchte  vn  erschrecküg.-^-c>o 
{Dionisio  mit  dem  scMvert  über  dem  haupte) 

S.  95.  Yon  der  Edelen  tugent  der  her9enhafticheit  /  Die 
ist  pey  den  gelerten  genant/  Mangnanimitas.  -^  «^ 

S.  96.  Ein  historj  von  der  grossen  her9enhafticheit  der 
Römer,  -r-  <^     {Ablehmmg  des  anerbietens,  den  Pyrrhiis  zu  vergiften.) 

S.  97.    Yon  der  pössen  vntugent  der  Eytellere. 

S.  98.    Ein  Capitel  über  die  vntugent  der  Eytelere.  -i-  <^ 

(99)  Ein  historj  über  Eytellere  von  eine  Eynsidel.^  -^  <^ 
IN  dem  leben  der  heyligen  vatter  man  list  vö  der  Eytellere  /  wie 
sich  ein  Engel  gesellet  zu  eynem  Eysidel  vnd  mit  einander  aus  gin- 
gen ir  narung  zu  suchen,  vnd  vnter  wegen  fanden  ein  totes  ros  von 
pössem  gesmache  /  zu  hant  der  Eynsidel  sein  nasen  verhüte  von  de^ 
pösen  gesmaches  wegen,  vnd  den  Engel  dauchte,  es  nicht  smecket. 
vnd  fürpas  gingen  durch  einen  schönen  garten,  vnd  dar  Inne  fände  (!) 
ein  gar  schöne  Junckfrauen  In  ch östlichem  gewante  gecleydet,  gar  mit 
Eytellere  /  (^uhant  der  Engel  sein  nasen  verhüte,  der  Eysidel  die  scho- 
nen Junckfrauen  an  Sache  vnd  de^  Engels  warde  spotten  vnd  sich  sere 
[von  Im  gestricheji]  warde  wundern  de^  Engels  vnd  Im  etwas  vor  dem 
Engel  grausen  warde  /  Doch  er  zu  Im  spräche,  warü  er  also  sein  na- 
sen verhüte  „vm  solches  schönes  dinges  wiüen,  als  dan  disse  Junckfraue 

1)  So  durch  correctur;  das  folgende  ode>-  gestrichen. 

2)  Fiore  di  virtü  cap.  XXYI  (s.  107).     Frati  s.  424. 


ARIGOS    BLUMEN    DER    TUGENT)  463 

ist,  vnd  durch  de^  faulen  as  willen,  das  also  faulen  pösen  gesmache 
gäbe,  vnd  du  dein  nasen  nicht  verhütest  /  was  (100)  sol  ich  vor  (!)  dir 
gedencken?"  Der  Engel  Im  antwurt  vnd  spräche:  „darum  das  die 
grosse  hoffart  der  vntugent  der  Eytellere  got  dem  hern  ubeler  smecket 
dan  da^  faule  vnd  tote  rossfleische  /  vnd  alle  faule  asse  der  ganzen 
weite"  /  nach  dissen  werten  der  Engel  von  dem  Ejsidel  verswante. 
an  dem  der  Eysidel  erchante,  das  es  ein  Engel  vnd  pot  got^  gewesen 
was  -^  «^ 

S.  100.   Yon  der  staticheyt  oder  pestendicheit.  -^  ^v) 
S.  101.    Ein  Römische  historj  über  die  staticheyt.  ^  «^ 
S.  103.    Yon  der  pösen  vntugent  der  vnstaticheit.  -^  <^ 
S.  105.    Yon   der   Edlen   Tugent    der   Messicheit,   die   pey 
den  lateynischen  geheissen  ist  tpanc^'a.  -^  <^ 

(107)  Ein  hystorj  von  der  tugent  der  Messicheit  de^  pby- 
losofo  genant  Quadro.^  -i-  <^ 

IN  den  Römischen  hystorien  wir  lesen  vö  der  Messicheit  Wie 
da^  der  chünig  priamo  grosses  wunder  von  weistum  höret  sagen  von 
einem  lerer,  der  was  genant  Quadro,  der  selbig  spricht,  wer  seines 
willen  nicht  geweitig  ist,  der  chein  mensche  ist.  vnd  den  man  zu 
dem  viche  gesellen  vnd  geleichen  sol  /  Der  chünig  den  quadro  versu- 
suchen  wolte,  ob  er  In  petruben  möchte  oder  In  zorn  prengen  /  Quhant 
schickte  nach  alle  die,  die  da  posse  zungen  [vnd  gestrichen]  hatten 
vnd  den  avoI  was  mit  übel  reden  vnd  ir  zungen  pas  prauche  chunden 
In  ubell  reden  dan  In  wol  reden  vnd  pas  prauchen  in  werten  dan  in 
wercken.  Die  alle  er  schuffe  für  sich  chomen  vnd  zu  In  spräche,  das 
si  dem  phylosofo  Quadro  alle^  übel  zu  sprechen  vnd  vö  Im  sagten, 
das  si  mit  der  zungen  möchten  gesprechn  vnd  mit  dem  her9en  geden- 
cken /  Ynd  in  schenten  nach  allem  iren  vermügen.  Dar  nach  zu  hantt 
der  chünig  sante  nach  dem  Quadro,  der  von  stüde  chome  für  den 
chünig  vnd  spräche:  „Edeler  chünig,  was  gepeüt  Euer  genade?"  /  snelle 
eyner  von  den  übel  redern  an  hübe  vnd  spräche:  „0  quadro,  wie 
hastu  so  als  einen  schonen  gestückten  rocke  an"  /  de  er  antwurt  vnd 
spräche  /  „der  mensche  nicht  wirt  (108)  Erchant  durch  sein  gewant, 
sunder  allein  durch  seine  wercke"  /  Aber  einer  auhube  vnd  spräche: 
„secht  lieben  hern ,  wie  hat  quadro  also  ein  schönes  radscheybes  hare"  / 
Dem  er  antwurt  vnd  sprach:  „die  tugen  (!)  de:^  menschen  nicht  sein 
In  dem  hare,  nur  allein  In  dem  herben."  Der  dritte  spräche:  „herre 
vnd  chünig,  hütet  euch  vor  dem  quadro  /  wan  .E.  gester  ich  in  sache 

1)  Fiore  di  vii-tü  cap.  XXTIT  (s.  113). 


464  VOGT 

mit  euren  fejnden  In  dem  felde  pey  den  chrichischen  herü;  für  wäre 
ich  gelanbe,  er  ir  specher  sej /  Dem  er  antwurt  vnd  spräche:  „wan 
das  war  were,  du  es  nymät  sagest."  Aber  ein  ander  spräche:  „secht 
an  den  chröpfeten  narren/  auf  das  er  antwurt  vnd  spräche:  „Es  lange 
zeit  vergangen  [ist],  das  du  anhübest  zu  lernen  übel  vnd  poshet  zu 
reden."/  I^och  einander  spräche:  „secht  vnd  hört,  wie  rett  der  grosse 
verrater  vn  gar  cheine  schäme  nicht  hatt"  /  zu  dem  er  spräche:  „Ich 
sol  nu  dalest  von  dir  werden  sagen  /  wer  mich  fraget/  das  dir  die  Zun- 
gen übel  ZU  reden  gelöst  ist  worden."  „Edel'  chünig  secht  vnd  nemet 
wäre  de^  unschamsamen  hümplers."  /  dem  er  antwurt  vnd  spräche/: 
„wer  Indert  ein  deine  [ere  oder]  schäme  in  dir,  disse  vnuernüstige  wort 
du  nicht  redest"  /  Aber  ein  ander  spräche:  „lasset  sten  den  narren, 
der  also  frömdiglichen  redefürte"  /  Dem  derQuadro  chein  antwurt  nicht 
gäbe  vnd  sweyge.  Der  chünig  zu  quadro  spräche,  wie  da^  chöme, 
das  er  chein  (109)  antwurt  gebe.  Do  spräche  quadro:  herre,  swey- 
gen  ist  ein  schöne  antwurt  zu  solcher  frage  oder  solchen  werten  /  "VVan 
wer  wil  hören  oder  nicht  hören  die  vnützen  vnd  pösen  wort,  der  vil 
mer  praucht  die  tugent  der  orn  dan  die  tugent  der  czungeu/  "VYan  den 
nyemant  fester  peschamen  möchte  dan  er  sich  selbes  dut/  Vnd  geleiche 
als  er  ein  herre  ist  seiner  zungen,  also  ich  auch  pin  ein  herre  meiner 
orn."  /  Do  der  chünig  sache  die  grossen  mitleydung  vnd  Messicheit 
de^  guten  maus,  er  Im  rüffet  vnd  In  zu  seinen  füssen  nyder  schuffe 
sitzen  vnd  in  fragte,  wie  er  so  groses  mitleyden  hat  mügen  haben  vnd 
sich  nicht  hat  lassen  erczürnen.  Er  zu  dem  chünig  spräche:  „here, 
das  ist  darum,  das  ich  ein  herre  pin  [mein]  vnd  si  sein  chnechte  der 
vntugent  vnd  poshet/  Ein  iglicher,  dem  übel  i^u  geret  wirt  /  der  sol 
gedencken,  ob  das  war  sey  oder  nicht/  Ynd  nicht  darum  zornig  oder 
vngemute  sein/  das  ein  ander  übele  dut/  sunder  er  leyden  sol  vnd 
[gedult  habn]  sich  nicht  petrüben  /  wan  er  wol  wayse,  das  übel,  das 
Im  zu  geret  oder  zu  geczogen  wirt,  nicht  war  ist/  Vnd  dem,  der 
Im  übel  zu  ret,  chein  grösser  leyde  nicht  getan  mage,  dan  Im  erzei- 
gen seiner  wort  nicht  achten  vnd  stille  sweygen.  Also  der  grosse  vnd 
tugenhaftige  lerer  vnd  phylosofo  den  chünig  vnd  seine  übel  reder  mit 
der  tuget  der  mitleydung  vn  messicheit  über  Avant,  -i-  <^ 

Unter  dem  capitel  Von  der  pösen  untugent  der  vn  Mes- 
sicheit (s.  110)  steht  auf  s.  111  ohne  Überschrift:^ 

Von  der  vnmessicheit  man  list  in  dem  leben  der  heyligen 
alten  vatter  von  einer  Junckfrauen,  die  was  genant  lucina  vnd  In 

1)  Flore  di  virtü  cap.  XXX  (s.  116).     Frati  s.  426. 


ARI60S    BLUMEN    DER    TUGEND  •  465 

grossen  züchten  vn  ern  stunde,  mer  dan  chein  andre  Junckfraue  der 
■weit,  vü  oft  gehört  hatt  singen  die  andern  fraiien  von  dem  luste  der 
vncheuscheit  /  vnd  von  stunde  gedachte  In  irem  her9en  vnd  gemüte, 
den  lust  der  vncheuscheit  vn  ir  liebe  zu  versuchen,  vnd  ob  das  also 
grosse  freude  werc/  vnd  lust  prechte,  als  si  dan  In  der  frauen  gesange 
vernomen  hatte  /  vn  an  einem  tage  si  saute  nach  einem  Jünglinge,  der 
ir  lange  zeit  hat  heyliche  liebe  getragen  vnd  das  pis  von  Jugent  auf 
über  alle  ding  er  si  liebe  hatt  /  Von  stunde  zu  der  Junckfrauen  chom^ 
vnd  mit  ein  ander  peyder  willen  vnd  lust  der  vnkeüscheit  verpracht 
warde.  Nu  das  etliche  zeit  mit  einander  getriben  hatten,  die  Junck- 
fraw  pedencken  warde  ir  grosse  sünde  der  vncheuscheit  vnd  wie  si  ir 
Junckfrauschaft  verlorn  hatte  vnd  der  nicht  mer  herwider  gechauffen 
möchte,  vnd  darum  In  verzagnüs  vnd  trauricheit  fiele,  das  si  ir  Junck- 
frauliche  ere  also  gar  an  alle  messicheit  so  übel  an  geleget  hatte,  vnd 
von  grossem  leyde  vnd  trauricheit  ir  selbe^  da^  leben  nam  vnd  sich 
erhinge.  ^  <^ 

S.  112.    Von   der  Edelen  vnd  lieben   tugent  der  Diemüti- 
cheit.  ^  ^ 

S.  114.  Ein  historj  über  die  tugent  der  Diemüticheit. -r<^ 

S.  116.  Von  der  pösen  vntugent  der  hoffart.  -r-  '^ 

S.  119.  Ein  historj  über  die  hoffart  de^  teüfels.  -^  cv? 

{Luzifers  stürz) 
S.  119.   Von  der  Edelen   vnd  züchtigen  tugent   der  cheu- 
scheit  vnd  irem  lobe.  H-  ^^ 

Ein  historj  über  die  tugent  der  cheüscheit^.  ^  cvd 
MAn  list  In  dem  leben  der  heyligen  alten  vater  von  Einer  Nun- 
nen  oder  closter  frauen,  (122)  vm  die  huldet  der  herre  von  der  stat,  dor 
In  das  closter  was  /  Vnd  vil  diche  die  frauen  hat  lassen  piten,  si  Im 
zu  willen  würde  in  leyplichem  luste.  Aber  ir  das  nicht  zu  her9en 
ginge,  wan  si  ein  grosse  dienerin  gotes  was  /  vnd  die  pete  dem  hern 
statlichen  absluge,  vnd  nicht  do  von  wolt  hör"  sagen.  Do  der  herre 
vername,  das  [sein]  pete  chein  kraft  hatte,  Er  gedachte  seinen  gewalt 
zu  prauchen  vnd  in  das  closter  chomen,  vnd  mit  gewalte  die  frauen 
heraus  nome  /  vnd  die  meinte  In  sein  haus  zu  füren.  Do  die  gute 
fraue  den  gewalte  des  pössen  hern  sache  [vnd]  In  Im  chein  parmher- 
9icheit  nicht  was  /  si  zu  dem  hern  spräche,  warum  er  ir  mer  gewaltes 
datt  dan  cheiner  andern  frauen  de^  closters.  Der  herre  ir  antwurt  und 
sprach:   „fraue,  wa:^  ich  dun,  da:^  ich  alle:^  dun  vm  Euer  schönen  äugen 

1)  Fiore  di  virtü  cap.  XXXV  (s.  129).     Frati  s.  427. 

ZEITSCHRIFT    F.    DEUTSCHE    PHILOLOGIE.       BD.    XXVIII.  30 


466  '  VOGT 

willen  /  wan  die  mir  lieben  über  alle  dinge  der  weit"  /  Do  sprach  die 
fraue:  „seytmal  ich  euch  gefalle  vnd  übe  vm  meiner  schönen  äugen 
willen,  so  sol  euer  wille  durch  iren  willen  verpracht  werden/  Aber 
mich  vor  lasset  gen  In  mein  zelle,  zu  nemen  mit  mir  etlich  mein  ge- 
rate; dar  nach  gescheche  euer  wille"  /  des  der  herre  willig  was,  vnd 
si  snelle  ginge  in  ir  chamern/  Ynd  ir  selbes  peyde  äugen  außprachs/ 
vnd  dem  hern  schuffe  rüffen  /  Ynd  zu  Im  spräche/  „herre,  damitt 
(123)  euer  wille  verpracht  werde,  vnd  ir  mein  äugen  so  liebe  habt/ 
so  nemt  si  hin  vnd  verpringet  eüern  pössen  willen."  Do  das  der  herre 
Sache;  er  sehr  erschracke,  mit  grossem  wunder  vnd  petrübtem  herczen 
von  dafie  schyede/  Also  die  heylig  fraue  vor  dem  pössen,  uncheuschen 
hern  ir  reine  Junckfrauschaft  errettet  /  Auch  man  list  In  dem  Ewan- 
gelj  /  wie  dar  nach  si  got  wider  erleuchtet.  -!-  cv> 

S.  123.  Yon  der  pössen  vntugent.  der  vncheüscheit.  ^  -^ 

(127)  Ein  historj  über  die  vncheuscheyt^.  -^  ^ 
YOn  der  pösen  vntugent  der  vncheüscheit  man  list  in  den  alten 
Komischen  historien  wie  das  der  cheyser  genant  theodosio  einen 
sun  hat  /  von  dem  die  weysen  meister  vnd  Erczte  sprachen  /  das  chint 
wer  von  solcher  natur  vn  conplexen,  seche  es  die  sunen  vnd  das  feuer 
vor  vir9echen  Jareu,  der  chnabe  erplinten  moste  an  seinem  gesiebte/ 
vnd  do  möchte  nyemant  für  sein.  Do  das  [der]  chünig  vernome, 
ser  leydig  was,  Doch  er  schuffe  machen  Ein  schöne  charaern  in  einem 
turn  vnd  dar  ein  Etliche  frauen  vnd  ammen;  die  den  chnaben  ziehen 
sölten  mit  alle  vleysche  vnd  sein  hüten  vor  den  vor  genanten  Qweyen 
dingen ,  als  dan  der  sünen  vnd  dez;  feuers  /  pis  die  vir9echen  Jare  ver- 
gangen weren.  Also  de^  chünges  geschefte  verpracht  warde  vn  das 
cliinf^  in  dem  turn  was  in  das  fünf^echenst  Jare  vn  weder  sünen  noch 
feüer  nye  gesache  CNach  der  vergangen  zeit  der  cheyser  den  chnaben 
heraus  norae  vnd  In  zucht  zu  leren,  als  dan  der  grossen  hern  gewon- 
het  was  /  von  erste  den  gelauben  vnd  zu  er  ebenen  die  freude  de^  pa- 
radeyß  /  vnd  auch  die  helle,  do  die  teufel  ir  wonung  haben  vnd  zu  In 
nemen,  die  da  übel  dun  In  disser  weit  /  Ynd  alle  andre  dinge,  (128) 
die  Im  dan  vnerchant  waren  /  Also  dem  Jungen  alle  dinge  worden  zu 
erchant  geben,  als  dan  waren  die  menschen,  die  mane  vnd  frauen, 
das  gefügel,  die  wilden  tiere,  rosß,  hunde,  vische  vn  iglich  dinge  pe- 
sunder  Im  zu  erchennen  gebn  warde.  Nu  der  Junge  vil  dinge  gesechen 
hatte  vnd  von  iglichem  pesunder  den  nomen  pegert  zu  wissen,  alle 
dinge  Im  verchündet  worden  /  vü  do  er  chome  an  die  frauen  vnd  der 

1)  Fiore  di  vü-tü  cap.  XXXVI  (s.  133).    Frati  s.  420.  2)  Comgiert  statt  er. 


ARIGOS   BLUMEN   DER   TUGEND  467 

nomen  pegert  zu  wissen  /  Einer  zu  Im  spräche  In  chürtzweyle:  „das  sein 
geheyssen  teüffel,  die  die  menschen  zu  der  helle  füren/'  CNicht  lange 
zeit  dar  nach  verginge,  der  cheyser  den  sun  pegonde  zu  fragen  /  wel- 
liche  dinge  Im  an  dem  pasten  gefielen  von  allen  den ,  die  [er]  gesechen 
hatte/  Der  Junge  dem  cheyser  ant\Yurt  vnd  spräche:  „herre  vnd  vater, 
ich  sol  euch  die  warhet  sagen  /  Ynd  für  wäre,  an  dem  pesten  mir  ge- 
fallen die  teufel,  die  dj  menschen  zu  der  hellen  füren:  die  mir  pas 
gefallen  dan  chein  dinge,  das  ich  gesechen  habe."  -^  <^ 

S.  128.  Yon  der  tugent  der  Masse,  die  mit  den  lateyni- 
schen  genant  ist  Moderacia.^  -^  ^  ^ 

S.  130.    Von  der  tugent  der  Masse  des  hermleins.  -i-  <^ 
S.  133.    Ein  Capitel  von  der  Masse  der  alte  (!)  .ee.  ^  ^^ 
S.  134.    Ein    ander  Capitel  von    der  Masse  vnd    wie    man 
reden  sol.  -^  <^ 

S.  136.  Ein  straffung  über  die  zungen  vnd  ander  lere.-r-<^ 
S.  138.  Ein  Ander   Capitel    über    das    reden   de:^   grossen 
meister  (!)  vnd  lerers  Tulio.  -^  cv^  c^ 

S.  143.    Ein  cleyn  Capitel  über  rat  geben.  ^  '^ 
S.  144.    Ein    ander    dein    Capitel    über    die    Ordnung    Qw 
reden  als  dan  Tulio  spricht,  -r-  »^ 

S.  145.    Ein  Capitel  von  der  torhett.  -^  <^ 

(148)  Ein  ander  lere  vnd  anweysung  des  grossen  phylo- 
sofo  vnd  Meisters  Albertano  /  Von  erste  sein  anfang  /  dar 
nach  von  der  pösen  zungen  Das  dritte  von  dem  dienen  Das 
virde  von  zuchtiger  Milticheit  /  Das  fünfte  ein  straffung  de^ 
maus  Das  sexte  von  der  zuchticheit  der  czungen  /  Das  sybent 
^'^  leste  czu  leben  In  der  forchte  gotes  -i-  «^  AMEN  ^  ?  ^^ 

IN  dem  anfange,  mitte  vnd  Ende  meiner  lere,  zu  lobe  dem 
almechtigen  got  vnd  hern,  schöpfer  der  weit,  "Wan  an  sein  genade  vn 
parmher(,'icheit  nymant  geleben  mage  /  Darum  Ich  sünderliche  diemü- 
tiglichen  czu  Im  rüffe/  Dan  vil  die  sein/  die  den  wege  der  czungen 
verlorn  haben/  Ynd  wenig  sein,  die  ir  zungen  herschen,  9aumen  oder 
straffen  chünnen  CDarum  der  heylig  (^welfpot  sand  Jacob  sprichtt:  „Die 
wilden  tier  man  zäumet  vnd  vntertaniget  menschlicher  natur  /  vnd  sein 
eygne  zungen  der  mensche  nicht  gezaumen  noch  gepinden  mag  /  Darum 
Ich  albertano  phylosofo  gedacht  vnd  fanden  hau  lere  vnd  anweysung 
zu  reden  vnd  zu  sweygen  Darum  aller  liebstes  chint,  freunt  vnd. 
günner    CYnd  wan   du  reden  wilt,    vor  pedencke  die  natur  des  han- 

1)  Später  corrigiert  in  Modernem. 

80* 


468  VOGT 

neii/  wan  .E.  er  sein  gesange  an  hebet  /  vor  (149)  Er  sich  selbes  mit 
seinen  flügeln  zu  drejen  malen  siechte ,  Dar  nach  er  an  hebet  zu 
singe:  Also  auch  du  seit  dun/  pis  züchtig  vnd  straffe  dich  selbs  /  Vor 
aus  teyle  vnd  gedencke,  was  du  reden  wilt/  Ynd  .e.  das  du  an  hebest 
zw  reden,  vor  pedencke  das  Ende,  wie  es  sich  ergen  mügc/  Vnd  ob 
dich  die  sache  an  treffe  oder  an  ge,  oder  nicht/  Wan  gehört  dir  die 
Sache  nicht  zu,  so  soltu  dich  ir  nicht  vnterfachen.  Dar  nach  gedencke, 
ob  dein  gemüte  In  rubüg  sey  oder  In  (^orn  und  an  alle  hoffart  /  Wan 
warum  wer  dein  gemüte  In  trübung  oder  9orn,  so  hüte  dich  icht  zu 
reden  vnd  auch  zu  antworten  CWan  Catone  spricht:  „der  zorn  petrübt 
das  gemüte,  das  der  man  der  warhet  nicht  erchennen  mag  ||  CAuch 
Tulio  der  Römer  spricht,  das^  die  gröste  vnd  höchste  tugent  sey, 
sich  selbs  zu  über  winden  CSant  CIsiderio  spricht:  „Es  ist  ein  sellig 
dinge,  der  In  dem  zorn  sweygen  chan"  CSalamon  spricht:  „hüte  dich, 
nicht  lasse  dich  willen  oder  pegire  überwinden."  CDer  Qwelfpot  spricht: 
„der  sich  nachent  zu  got/  der  an  sich  halten  chan  seinen  willen."  CSa- 
lamon spricht:  wer  hütt  seines  mundes,  der  seiner  seien  hütet.  CAri- 
stotile  spricht:  „wer  nicht  chan  sweygen,  der  auch  nicht  chan  reden." 
CDer  Römer  Cato  (150)  spricht:  „die  erste  tugent  des  maus  vnd  der 
frauen  ist,  zu  meistern  ir  eygne  zun  gen."  CSand  pauls  spricht:  „die 
freunde  gotes  /  chüüen  vnd  wissen  zu  sweygen."  C Santa  chaterina 
spricht:  „die  freunde  vnd  diener  gotes  chünnen  [sweygen]  Vnd  dem 
zornigen  den  wege  geben"  CSalamon  spricht:  „fleuche  die  hoffart  als  die 
gift,  wiltu  seliglichen  leben"  CSand  geronimo  spricht:  „der  hoffertig 
man  oder  weybe  das  reiche  des  hymels  niclit  sechen."  CAuch  mer  er 
spricht  /  „du  solt  nymant  straffen  wider  recht,  noch  verurteylen  vm 
der  Sünde  willen,  dar  Ine  du  verurteylt  pist."  CDer  grosse  maester 
Virgilio  spricht  /  „Wiltu  yemant  straffen,  sich  vor,  ob  du  in  solcher 
Sünde  pegraben  seyest  CDarum  so  sweyge  vnd  nyemant  richte"  CSand 
C Augustin  spricht/  „wei'  wol  rett  vnd  übel  düt,  der  sich  selbes  ver- 
dampt"  CAristotile  spricht:  „wiltu  wol  reden/  so  rede  vnd  pflige  der 
warhet  /  Vnd  von  dir  slache  die  lügen."  Clhü  XjTc  spricht:  „die 
warhet  chein  müe  ist  zu  reden  /  Vnd  über  alle  dinge  peschaue  das 
ende  deiner  wort,  so  würstu  nicht  sünden  CStö  Isiderio  spricht: 
„wiltu  nicht  sünden/  so  sweyge"  C Virgilio  spricht:  „sweygender 
munt/  ist  lobe  vnd  ere"  CSalamon  spricht:  „redender  munt  lescht  chein 
feuer"  CDarum  liebes  chint,  lern  (151)  Vnd  meister  dich  vnd  leine  [dich] 
an  die  edelen  tuget  der  warhet  vnd  wider  die  nicht  streyte  CWan  wer 
sich  leynet  an  die  warhet,  der  sich  leynet  an  got  CWan  got  mit  seinem 
1)  Dahinter  das  gestrichen. 


ARIGOS    BLUMEN    DER    TUGEND  469 

munde  spräche  /  Ich  pin  die  warhet,  Darum  die  warhaftigen  got  ser 
liebe  hat  CVnd  wan  der  meister  Tulio  got  pat  vm  genade  /  albegen  von 
erste  er  got  pate,  das  er  in  pehüten  sölte  sein  zungen  vor  der  pössen 
vfi  falschen  lügen,  -r-  '^ 

Ein  Capitel  vnd  straffung  über  die  pösen  /  vnd  falschen 
Zungen.  ^  <^ 

SAlamon  spricht:  „o  herre  got,  Ich  dich  pite,  das  du  mich  pe- 
hütest  vor  allen  pössen  zungen  CDarum  liebes  chint,  hüte  dich  vnd  dei- 
nen munt  vor  den  pösen  lügen  vnd  in  prauche  in  zucht,  warheit  vnd 
Milticheit/  So  lebstu  in  genade  eines  iglichen  CWan  Salaraon  spricht: 
„Der  züchtig  vnd  warhaftig  man  vnd  weybe  werden  pürger  seyn  der 
stat  de^  hymels."  CSeneca  spricht:  „der  tugethaftig  vnd  züchtig  man 
nicht  sechen  wirt  die  pein  der  helle."  C  Aristo  tue  spricht:  „von  dem 
lügenhaftigen  menschen  zucht,  ere  vnd  Avirdicheit  fleuchet"  CSalamon 
spricht:  „„^er^  guter  nome  ist  über  alle-  edel  vnd  gute  salben"  CDa- 
rum, liebes  chintt,  nach  allem  deinem  vermügen  dich  nöte  vnd  9winge 
(152)  ^u  haben  guten  nomen  in  disser  weit/  so  würstu  erhört  in  dem 
leben  der  ewdgen  salicheit  {usiv.  bis  zum  schluss  der  seite). 

(153)  Wie  man  diene  sol  den  freunden  vnd  ander  pey- 
spille.  ^  -^ 

Noch  mer  vns  lert  die  heylig  geschrift  ein  ander  lere  vnd  mae- 
sterschaft  CYnd  spricht:  „nicht  halt  deinen  freunde  oder  güner  in  wer- 
ten, diene  Im  snelle,  wan  er  deines  dinste  pegert,  ob  du  magest  CNoch 
mer  si  vns  lert  vnd  meistert,  das  wir  snelle  suUen  sein  zu  vergeben, 
die  wider  vns  getan  haben  {usiv.  bis  %um  schluss  der  seife). 

(154)  Von  der  zucht  Ynd  Milticheit  der  zungen. 

SAnd  Ambrosio  spricht,  von  der  milticheit  der  zungen  chomet 
glorj  vnd  ere/  Ynd  von  der  posen  zungen  pechomet  neyde,  hasß  vnd 
Sünde  CSalamon  spricht,  die  messig  zungen  sey  ein  stigen  des  para- 
deyses  CTolomeo  spricht:  „liebes  chint.  Ich  dir  gedencke  zu  haben  einen 
hals  als  der  kranghe"  CSalamon  spricht:  „nyemant  offenware  die  heym- 
licheit  deines  herben  /  Wan  dar  nach  du  ir  nicht  mer  geweitig  pist" 
{usiv.  bis  -xum  schluss  der  seile). 

(155)  Ein  ander  lere  vnd  capitel  der  straffung  de^ 
mans.  ~  ~ 

SAlamon  spricht:  „nicht  schymphe  mit  de  frauen,  die  vor 
über  das  czile  oder  pöglein  getreten  hat  /  Wan  der  ab  gelöschte  cho- 
len  von  cleynem  teuer  sich  gern  [wider]  enzündet  {usiv.  bis  s.  156  7niUe). 

1)  der  aus  ein  corrigiert. 
■2)  über  am  rande  nachgetragen;  alle  aus  eine  corrigiert. 


470  VOGT 

Ein  ander  Capitel  von  der  züchticheit  der  zungen. 

CAtone  spricht:  „nicht  gee  in  den  rat,  du  werdest  dan  gerüffet". 
CSalamon  spricht:  „die  wort  sein  swaerer  dan  das  pley."  Darum  dich 
hüte  mit  Überladung  der  wort,  die  nicht  alle  oder  alwegen  zu  reden 
sein  vnd  dir  nicht  zu  sten  (. . .  so  bis  s.  157  z.  7  v.  u.^  dann:) 

Ein  Capitel  zu  leben  In  der  forchte  gotes. 
0  Du  aller  liebstes  Edles  chinde,  In  einem  werte  allein  ich  pe- 
sliessen  wille  die  weysheyt  de^  hymels  vnd  de^  ertrichs  /  Darü  (158) 
Pis  willig  in  dissem  Jamerlichen  Jamer  tale  vn  Elendiglichen  leben/ 
Wan  wie  du  dein  leben  fürest,  also  du  ersterben  wirst.  Darum  ge- 
dencke,  wie  du  dein  leben  füren  wollest,  das  gar  eben  pesynne  /  Dich 
vnd  dein  leben  zu  füren  In  der  liebe  [gotes  durchstrichen]  Ynd  forchte 
gotes  de:^  almechtigen  vaters  vnsers  hern  Jhü  xpc  Im  zu  lobe  vnd  ern 
der  liebsten  frölichen  Englischen  samnüg  des  paradeyses,  Do  alle  tugent 
vnd  gute  ir  Avonung  habent.  Immer  vnd  Ewig  an  ende.  Do  man  hört 
das  lobsam  vnd  süsse  Englische  gesange  der  ern  vnd  salicheyt  /  Vnd 
vil  ander  grosser  wunder  vnd  freude,  die  menschlich  nat'  nicht  ver- 
chünden  möchte  C^u  dissen  hymlischn  freunden  (!)  Yns  neme  der 
almechtig  got  Vnd  schöpfer  aller  geschöpfe,  der  da  regirt  Imer  vnd 
Ewig  an  ende.  ^     Am .  E  .  N.  -^  ^  ^ 

^  ••    ARIGO    •    ~ 

<^   •    1468   •   <^ 

Opus  perfeci 

An  dem  acht  vn  Qwain9igisten  tage  des  Augsten.  «^ 


Arigos  Übersetzung  des  Fiore  di  virtü  ist  in  einer  schönen  pa- 
pierhandschrift  der  Hamburger  stadtbibliothek  überliefert,  auf  die  Lap- 
penberg in  der  Zeitschrift  für  deutsches  altertum  10,  260  hingewiesen 
hat.  Hierauf  nahm  Zingerle,  Ältere  Tirolische  dichter  I  (Vintlers  Plue- 
men  der  Tugent)  s.  XXIV  anmerkung  ohne  nennung  des  Arigo  bezug; 
sonst  hat  niemand  das  werk  beachtet.  Weder  ist  es  in  den  litteratur- 
geschichten  erwähnt,  noch  hat  man  es  bei  der  frage,  ob  Heinrich  Stein- 
höwel  der  im  eingang  des  deutschen  Decamerone  genante  Arigo  sei, 
berücksichtigt;  und  auch  Frati  hat  es  in  seinen  Ricerche  sul  fiore  di 
virtü  (Studi  di  filologia  Romanza  pubbl.  da  E.  Monaci  Vol.  VI  s.  247 
fgg.)  bei  der  Zusammenstellung  der  Übersetzungen  (s.  290  fgg.)  über- 
sehen. Aber  die  Übersetzung  hat  für  den  romanisten  wie  für  den 
germanisten  ihre  bedeutung.     Sie  darf  bei  der  textkritik   des  in  stark 

1)  auf  rasur.     en  von  über  den  columnenstrich  heraiis. 

2)  auf  rasur. 


ARIGOS    BLUMEN    DER    TUGEND  471 

auseinandergehenden  Versionen  überlieferten  Fiore  nicht  unberücksich- 
tigt bleiben  und  sie  ist  ein  sprachlich  wie  litterarhistorisch  interessantes 
denkmal  jener  populär- humanistischen  richtung,  die  seit  der  mitte  des 
15.  Jahrhunderts  in  der  deutschen  prosa  zu  tage  tritt.  Über  das  äussere 
der  handschrift  und  dessen  bedeutung  für  die  erkeuutnis  ilirer  entste- 
hung  habe  ich  bereits  in  den  Göttinger  gelehrten  anzeigen  jahrg.  1895 
s.  325  i'^.  das  nötigste  bemerkt.  Dass  Arigo  nicht  nur  der  Schreiber  der 
vorliegenden  handschrift,  sondern  auch  der  Verfasser  der  Übersetzung 
sei,  geht  wol  schon  aus  dem  dort  beigebrachten  hervor.  Wie  er  seine 
Übersetzung  noch  während  der  niederschrift  corrigierte,  zeigt  sich  z.  b. 
in  dem  kapitel  vom  Neyde  (s.  20),  wo  für  den  satz  des  Originals  piü 
lieve  cosa  e  a  fiiggire  il  dispiacimento  della  pove?'tu,  che  la  invidia 
della  7-icchex%a  geschrieben  steht:  Auch  vil  i^inglicher  ist  xu  fliehen  die 
[Vernichtung  die]  annut  dan  den  Neyde  des  reichtums.  Die  eingeklam- 
merten worte  sind  durchstrichen.  Arigo  ühersetyAe  dispiacimento  zunächst 
durch  Vernichtung  im  sinne  von  nichtachtung,  fürchtete  dann  aber,  als 
er  mit  der  armuot  fortfahren  wollte,  ein  misverständnis,  schrieb  daher, 
unter  verzieht  auf  die  Übersetzung  von  disjnacimento ,  einfach  die  ar- 
muot und  strich  dann  Vernichtung  und  das  eine  der  beiden  die.  In 
dem  kapitel  von  der  untugent  des  zorns  ist  s.  30 ,  z.  7  v.  u.  indigna- 
zione  zuerst  durch  vnwilligen  zviderwerticheit  widergegeben,  was  dann 
in  vmviUicheyt  geändert  Avurde;  ebenso  ist  in  den  beiden  nächsten  Zei- 
len als  Übersetzung  des  indignazione  auf  rasur  von  grösserer  ausdehnung 
vnivilicheit  hergestellt,  während  es  dann  auf  s.  31  z.  14  schon  von  vorn- 
herein in  den  text  gesetzt  wurde.  Von  den  zahlreichen  correcturen ,  die 
auch  sonst  nach  dem  italienischen  original  gemacht  wurden,  kann  ins- 
besondere das  oben  mitgeteilte  stück  des  ersten  kapitels  eine  Vorstellung 
geben.  Dass  hie  und  da  auch  ein  beim  schreiben  übersprungenes  wort 
nachzutragen  war,  kann  auch  bei  einer  original -reinschrift  nicht  wundern. 
Eine  andere  deutsche  vorläge  als  Arigos  eigenes  concept  anzunehmen, 
besteht  nirgend  ein  grund.  Eine  genaue  feststellung  des  Verhältnisses 
zwischen  Übersetzung  und  quelle  wird  im  einzelnen  erst  möglich  sein, 
wenn  der  Fiore  in  kritischer  ausgäbe  mit  vollständigem  apparat  vorliegt. 
Mir  standen  ausser  den  von  Frati  a.  a.  o.  und  von  Zingerle  in  seinem 
Vintler  nach  der  ausgäbe  von  Gelli  (Florenz  1855)  mitgeteilten  stücken 
durch  die  freundlichkeit  des  herrn  dr.  Wendriner  die  ausgäbe  von  Gae- 
tano  Yolpi  (Milano  1842)  und  die  von  Ulrich  (Leipzig  1890)  herausgege- 
bene versione  Tosco -Yeneta  zur  Verfügung  i.     Die  letztgenannte  schliesst 

1)  Die  foiisetzimg  der  letzteren  (Lipsia  1895)  und  die   ausgäbe  in  der  Ztsclir. 
f.  rom.  phil.  19,  235  fg.  erschien  erst  nach  abschluss  dieser  arbeit. 


472  VOGT 

ebenso  wie  einige  andere  handschriften  (vgl.  Frati  s.  270)  in  dem  kapi- 
tel  (XXXYII)  moderanxa  (s.  139  der  ausgäbe  von  1842,  Arigo  s.  133) 
und  zwar  mit  dem  satze  el  septüno  die  si  reposoe  da  ol-lavoriero 
ch'el'  avea  fato.  Der  ganze  übrige  teil  dieses  kapitels  fehlt  auch  bei 
Arigo.  Aber  dann  fährt  er  in  den  drei  folgenden  kapiteln  wie  die  ita- 
lienische ausgäbe  von  1842  fort.  Diese  schliesst  mit  dem  kapitel  (XL)  del 
guardare;  in  che  modo  si  dee  fare  (s.  156;  vgl.  auch  Frati  s.  270  fg.); 
ebenso  die  vorläge  Vintlers:  der  letzte  vers,  der  ihr  entspricht,  ist 
V.  9396  (vgl.  Zingerle  zu  9397),  d.  i.  nur  wenige  zeilen  vor  dem  schluss 
der  it.  ausgäbe  von  1842.  Dem  schlusssatz  dieser  letzteren  Ancora  de' 
l'uomo  avere  moderanxa  e  misura  in  tutti  gli  suoi  faiti  entspricht  bei 
Arigo  auf  s.  145  (mitte)  der  satz  Auch  der  man  pey  Im  haben  sol 
masse  vnd  das  in  alle?i  seynen  Sachen.  Aber  nun  folgt  noch  bei  Arigo 
ohne  abschnitt  Alexander  spricht  chein  dinge  nicht  ist  da  von  der  man 
mer  gej^reyset  ist  dan  von  der  edelen  vnd  schönen  zucht  usw.  Daran 
schliessen  sich  sehr  verschiedene  lebensregeln,  als  deren  Urheber  Seneca, 
Panfilio,  Seneca,  Seneca,  Boecio  genannt  werden,  bis  zu  dem  satze, 
mit  dem  s.  147  endigt:  Nu  sich  anhebt  ein  ander  lere  des  grossen  phy- 
losofo  vn  Meisters  Alber  tano,  und  es  folgen  nun  aufs.  148  bis  158  in  der 
durch  die  oben  mitgeteilten  kapitelüberschriften  ersichtlichen  weise  Über- 
setzungen aus  traktaten  des  Albertano  von  Brescia,  die  zum  teil  auch 
schon  vorher  im  Fiore  di  virtü  benutzt  waren.  Zu  s,  148  fg.  (oben  s.  467  fg.) 
vergleiche  Dei  trattati  morali  di  Albertano  da  Brescia  volgarizxamento 
inedito  fatto  nel  1268  da  Andrea  Grosseto  publicaio  a  ciira  di  Franc. 
Selmi  [Bologna  1873).,  s.  1  —  4.  Der  deutsche  text  ist  da  ein  allmäh- 
lich immer  freierer  auszug  aus  dem  italienischen.  Bemerkenswert  ist, 
dass  der  Übersetzer  für  die  anrede  des  Verfassers  figliuolo  mio  Stefano 
einsetzt  aller  liebstes  chint,  freunt  vnd  günner.  Dass  Albertano  von 
Brescia  schon  vor  unserer  Tugendblume  durch  eine  Übersetzung  seines 
Liber  consolationis  in  die  deutsche  litteratur  eingeführt  wurde,  habe  ich 
im  Grundriss  II,  1,  406  u.  aum.  bemerkt;  Vetter  gab  in  Kürschners  „Na- 
tionallitteratur "  ein  stück  aus  ihr  heraus,  ohne  das  original  anzugeben 
(„Aus  dem  Mehbeus"  Lehrhafte  litteratur  des  14.  und  15.  jh.  I  s.  456fgg.) 
Wortgetreuen  anschluss  an  das  original  hat  Arigo  sich  auch  ge- 
genüber dem  Fiore  di  virtü  keinswegs  zur  pflicht  gemacht.  Er  liebt 
es  besonders  ein  wort  der  vorläge  durch  zwei  synonyme  werte  zu 
umschreiben;  er  sieht  auf  Wechsel  im  ausdruck ;  Schwierigkeiten  umgeht 
er  gelegentlich  durch  minder  genaue  Übersetzung,  auch  wol  durch  aus- 
lassungen,  während  er  andrerseits  auch  dieses  und  jenes  einschaltet. 
Am  freiesten  behandelt  er  die  quelle  in  den  erzählenden  stücken,  die 


AKIGOS  BLUMEN  DER  TUGEND  473 

ich  mit  ganz  unbedeutenden  ausnahmen  oben  mitgeteilt  habe.  An  den 
geschichten  von  Dämon  und  Phintia  und  „könig  Marcus",  denen  ich 
oben  beispielsweise  den  italienischen  text  beigefügt  habe,  mag  man 
sehen,  wie  seine  Übersetzung  stellenweise  den  Charakter  einer  freien, 
erweiternden  nacherzählung  gewinnt.  Hier  wird  auch  sein  stil  geschick- 
ter. Bei  den  sentenzen  schliesst  er  sich  dagegen  meist  näher  an  die 
quelle  an,  und  den  schwierigeren  anforderungen ,  die  sie  an  den  Über- 
setzer stellen,  zeigt  er  sich  weniger  gewachsen.  Die  Übersetzung  ist  hier 
im  allgemeinen  steifer,  undeutscher  und  von  fehlem  nicht  frei.  Einige 
grobe  misverständnisse  werden  auf  Verderbnis  oder  schlechte  schrift  der 
italienischen  vorläge  zurückzuführen  sein.  So  s.  45:  Darum  herre  got 
ich  dich  pitte  du  der  armut  nicht  nei/dig  seyest  vnd  dich  nicht  veran- 
ders durch  dez,  reichtums  willen,  wan  du  von  Im  vnerchant  pist  für 
Di  due  cose  ti  priego,  Iddio,  che  tu  non  mi  dia  povertä,  ne  tante 
ricchexxe  ch'io  non  ti  conosca  {Duo  rogavi  te  . . .  mejidicitatem  et  divi- 
tias  ne  dederis  mihi:  tribue  tantum  victui  meo  necessaria:  ne  forte 
illiciar  ad  negandum  usw.  Prov.  30,  7  fg.).  Statt  mi  diu  scheint  Arigo 
hier  imiidia  gelesen  zu  haben;  aber  auch  die  weiteren  fehler  werden 
durch  die  beschaffenheit  der  vorläge  veranlasst  sein.  Ähnlich  liegt  es 
wohl,  wenn  cap.  I  der  satz  e  di  questo  cotale  amore  di  concupiscenza 
si  puö  dire  cWe  tratta  la  regola  (var.  che  [ch'el]  trata  le  regolle) 
d' amore  übersetzt  wird  die  übrig  pegire^  man  sprechen  mage  die  ein 
eist  der  regeln  der  liebe  sey.  Ganz  merkwürdig  ist  die  Übersetzung 
des  Schlusssatzes  der  oben  s.  465/66  mitgeteilten  erzähluug  E  la  monaca 
scdvö  la  sna  castitä,  volendo  innanxi  perdere  gli  occki  secondo  che  dice 
il  Vangelio  =  Also  die  heylig  fraue  vor  dem  jwssen  uncheuschen  hern 
ir  reine  Junck frauschaft  errettet  /  Auch  maii  list  In  dem  Eivan- 
gelj  wie  dar  nach  si  got  wider  erleuchtet.  Eine  wunderliche 
Vorstellung  vom  Inhalt  der  evangelieni  Freilich,  wie  es  mit  Arigos 
bibelkenntnis  bestellt  ist,  zeigt  sich  auch,  wenn  er  s.  92  in  der  Historj 
von  der  stercke  des  Samson  über  dessen  persönlichkeit  den  erklären- 

1)  Statt  dieses  Wortes  stand  ursprünglich  liebe  der  pegenius  da  und  daneben 
am  rande  oder  pegire.  —  Gleich  der  folgende  satz  zeigt,  wie  die  Übersetzung  auch  für 
die  kritik  des  italienischen  textes  in  beti'acht  kommt:  dieser  lautet  nach  der  ausgäbe 
Milano  1842  und  nach  der  von  Frati  s.  254  benutzten  von  Bottari:  1' amore  nes- 
suna  cosa  puö  dinegare  di  diletto,  la  mente  non  si  puö  saziare,  ähnlich  auch  nach 
der  von  Zingerle  verglichenen,  während  die  Yers.  Tose.  Venet.  statt  der  beiden  ge- 
sperrten werte  jedesmal  l'amante  überliefert.  Mit  dieser  stimmt  Arigo:  Wan  der 
dassig,  der  da  liebe  halt  durch  die  pegernus  [oder  übrig  begire] ,  Im  dar  Inne  chein 
abprechen  noch  sieh  erfüllen  mage.  Doch  steht  seine  Übersetzung  keineswegs  immer 
mit  dieser  version  gegen  die  andern  zusammen. 


474  VOGT 

den  Zusatz  macht,  dass  Samson  des,  chüniges  dauit  sun,  Salamon  vnd 
absalon  'pruder  gewesen  sei.  Die  sprichwörtliche  zusammenstelhmg  von 
Samsons  stärke,  Salomons  Weisheit  und  Absalons  Schönheit  übt  hier 
ihren  einfluss.  Eine  volkstümliche  Vorstellung  wirkt  auch  in  dem  kapitel 
von  der  straffung  über  den  chünig  faraon  auf  seine  Übersetzung  des 
Satzes  la  seconda  (pistolenza)  si  fu  moltitudine  di  ranocchi,  che  piove 
durch  daz  ander,  dax  auch  vö  hijniel  regent  inancherley  lint  würni 
vn  tracken:  bekanntlich  bringen  nach  altem  Volksglauben  die  drachen 
aus  der  luft  herab  allerlei  krankheit  und  plage. 

Nicht  nur  das  italienische  original,  sondern  ich  meine,  auch  die 
herkunft  des  Verfassers  oder  wenigstens  seine  gewöhnung  an  die  italieni- 
sche spräche  blickt  in  mancherlei  erscheinungen  durch,  auf  die  ich  zum 
teil  schon  in  den  Gott.  gel.  anz.  a.  a.  o.  hingewiesen  habe.  Wollte  man 
der  gelegentlichen  beibehaltung  des  italienischen  Stichwortes  in  den  Über- 
schriften keine  bedeutung  beilegen,  so  verdient  doch  die  beibehaltung  der 
italienischen  formen  für  die  namen  der  klassiker  schon  mehr  bedeutuug. 
Es  kommt  ferner  vor,  dass  ein  italienischer  ausdruck  auch  im  texte  bei- 
behalten wird,  teils  mit,  teils  ohne  beifügung  einer  deutschen  erklärung. 
So  s.  115  das  Capidoglio,  das  ist  daz  rothaus,  s.  83  der  vogel  der 
do  hegst  pernige  vnd  an  der  färbe  vnd  grosse  ist  dem  7'ephim  ge- 
leiche (Ital.  cap.  XXI  figliuoli  della  permice).  S.  129  heisst  der  schiffer 
schlechtweg  der  nochiere;  s.  68  findet  sich  der  tiranno  und  dez  tiranno. 
Vielfach  der  philosofo.  Aber  auch  in  deutschen  Wörtern  zeigen  sich 
hie  und  da  italismen.  Neben  meister  wird  sehr  oft  tnaester  und  so 
auch  maesterschaft  geschrieben.  S.  3  wird  la  patria  durch  seine  vat- 
terliche  lant  widergegeben,  und  entsprechend  heisst  es  s.  34  deine  vat- 
terliche  vnd  geporne  lant.  Ygl.  s.  106  stäche  von  dir  alle  deine  übrige 
iviUen  für  togli  da  te  le  cose  siiperchievoli  e  le  tue  volotitadi  ristrig?ii. 
S.  93  Vo?i  der  forchte  (del  timore)  vnd  seiner  vntugent.  Auch  von 
dieser  seite  bestätigt  es  sich,  dass  der  träger  des  italienischen  namens, 
der  sein  opus  perfeci  unter  die  Hamburger  handschrift  setzte,  Arigo, 
wirklich  das  werk  gemacht,  d.  h.  die  deutsche  Übersetzung  verfasst  hat. 

Ist  aber  dies  der  fall,  so  ergibt  sich  daraus  weiter  von  vornher- 
ein mit  der  grössten  Wahrscheinlichkeit,  dass  wir  dem  Übersetzer  des 
Fiore  di  virtü  auch  die  wenige  jähre  nach  Vollendung  jenes  werkes 
gedruckte  Verdeutschung  von  Boccaccios  Decamerone  verdanken.  Denn 
die  Worte  in  der  einleitung  des  deutschen  Decameron  (Keller  17,  29) 
hau  ich  Arigo  in  (den  freulein)  das  ivercke  machen  vnd  in  teutsche 
zungenn  sch7'eiben  wollen  können  sicherlich  nicht  anders  gedeutet  wer- 
den, als  dass  eben  auch  Arigo  das  werk  gemacht,  d.  h.  die  deutsche 


äRIGOS   BLUMEN   DER   TUGEND  •        475 

Übersetzimg  verfasst  hat  (vgl.  Gott.  gel.  anz.  a.  a.  o.).  Es  müsste  aber 
doch  ein  wunderliches  spiel  des  zufalls  sein,  wenn  um  dieselbe  zeit 
zwei  leute,  die  sich  Arigo  nannten,  italienische  werke  ins  deutsche 
übersetzt  hätten.  In  der  tat  trifft  die  obige  Charakteristik  von  Arigos 
übersetzungsweise  im  wesentlichen  auch  für  den  Decamerone  zu.  Auf 
welche  weise  man  sich  auch  bei  Identität  der  Verfasser  gewisse  unter- 
schiede in  form  und  ausdruck  etwa  erklären  kann,  die  unleugbar  zwi- 
schen den  beiden  Übersetzungen  bestehen,  das  habe  ich  a.  a.  o.  ange- 
deutet. Hier  sei  nur  zur  weiteren  begründung  meiner  zuerst  im  Grund- 
riss  d.  germ.  phil.  II,  1,  405  und  408  ausgesprochenen  ansieht  eine 
reihe  bemerkenswerter  Übereinstimmungen  in  der  spräche  beider  werke 
hervorgehoben. 

Eine  merkwürdige  ausdehnung  hat  beiderseits  das  endungs-e. 
Die  bekannte  anhängung  des  e  an  starke  substantiva  ist  überaus  häu- 
fig, z.  b.  Dec.  leyte  und  leijcle  für  leid,  lobe,  ti'oste,  wege,  lauffe,  rate, 
tode,  volcke,  viche,  luereke,  tage,  sune,  note  usw.  TBL  (Tugendblume) 
puche,  teyle,  anfange,  tode,  dinge,  luste,  vische,  wege  usw.  Aber 
auch  dem  unflektierten  adjektivum  wird  es  zugefügt,  wie  z.  b.  beider- 
seits tode  und  besonders  häufig  liebe  haben.  Beim  verbum  sind  nicht 
nur  starke  präterita  wie  stürbe,  ginge,  gäbe,  flöge,  ivarde,  sacke,  kome, 
stunde,  hübe  in  der  TBL  die  regel,  im  Dec.  mindestens  eine  ganz 
gewöhnliche  erscheinuug,  sind  nicht  nur  präteritopräsentia  wie  rnage 
[mosse],  pedarffe,  iville,  weisse  üblich,  sondern  das  e  wird  auch  den 
verschiedenen  arten  des  endungs-^  in  auffälliger  weise  angehängt;  so 
in  der  2.  pers.:  heste  für  hest,  kettest  Dec.  K.  196,  28,  du  muste  647,  28, 
du  solle  360,  26;  vgl  du  dueste  TBL  9,  käste  8,  chanste  15,  pedarfste 
1  b ,  du  solle  8  usw. ;  in  der  3.  pers. :  erkente  für  erkennet  {erkentt  Augs- 
burger, erkent  Strassburger  druck)  Dec.  K.  28,  29,  sehlefte  (schläft)  197,  2, 
beswerte  (beschwert)  652,  18,  und  in  TBL  z.  b.  spiichte,  laufte,  ^nachte, 
peleybte,  meinte,  nente,  7'egirte,  ivürte,  katte  usw.  (für  hat,  zvird,  regiret 
u.sw.);  für  die  2.  pers.  pL  ir  sülte  Dec.  532,  21,  ir  lieste  (liesset)  440,  36; 
für  das  unflektierte  part.  prät.  z.  b.  geschikte  {welich  grab  sie  geschikte 
fanden  Dec.  K.  6,  37),  geerte  (sein  name  .  .  .  geerte  sey  16,  37),  so 
enbachte  442,  28,  erkante  655,  8,  gesetzte  655,  12;  gepaute  TBL  ge- 
sagte, verchaufte,  desgl.  —  Dieser  Verlängerung  steht  andererseits  in 
beiden  Übersetzungen  eine  kürzung  nebentoniger  silben  gegenüber.  So 
heisst  es  beiderseits  urlab  neben  urloub,  herber  (neben  herberg)  und 
beherbren,  arbet  und  in  den  zusammengesetzten  Wörtern  -het  (z.  b.  frey- 
het  Dec.  K.  211,  11,  gesundhet  226,  11,  geivonhet  29,  36,  und  in  der 
TBL  weishet,    torhet,   geivonhet,    chranchet,  poshet)   neben  formen  mit 


476  YOGT 

ei.  —  Bezüglich  des  vokalismus  der  Stammsilben  sei  folgendes  bemerkt. 
Neben  ä  kommt  vereinzelt  o  vor,  beiderseits  in  do,  ivo,  nomen.  ce 
wird  beiderseits  zu  e  gekürzt  in  sellig.  Für  altes  %  gilt  bei  beiden  ei, 
ey ,  während  in  nebentonigen  hie  und  da  i  bleibt,  so  übereinstimmend 
in  ertrich;  in  recht  seltenem  Wechsel  mit  ai  steht  ei  für  altes  ei.  Für 
altes  ü  und  ou  gilt  übereinstimmend  au\  nur  in  dem  worte  sÖ7n  (last) 
zeigen  beide  6  für  ou  (Dek.  K.  199,  11;  TBL  85).  b  ist  im  anlaut  bei- 
derseits durch  p  vertreten;  iv  für  h  findet  sich  bei  beiden  in  offemvar, 
b  für  IV  übereinstimmend  in  albeg  {albege,  albegeu);  postvokalisch  bei- 
derseits in  rubung  TBL  21,  ge?'ubter  Dec.  199,  12;  sonst  vgl.  erbi7'bstu 
TBL  20,  enbicht  Dec.  Im  ganzen  scheint  der  Wechsel  zwischen  b  und 
IV  in  Dec.  häufiger  als  in  TBL  n  schwindet  bei  beiden  gelegentlich 
in  eif eltig,  vernuftig  (vernustig),  in  der  endung  der  participia  präsentis 
und  in  higet.  Für  5  tritt  bei  beiden  im  inlaut  hin  und  Avider  ss  auf, 
übereinstimmend  z.  b.  in  wessen  neben  wesen.  Angesichts  der  form 
vleische  für  fleisse  TBL  127  braucht  man  geschelschaft  TBL  6  nicht  für 
einen  Schreibfehler  zu  halten,  und  eben  diese  form  findet  sich  Dec. 
s.  19*  der  Originalausgabe  (nicht  bei  Keller).  Inlautendes  ch  für  h  ist 
beiderseits  in  sechen,  xechen,  gechUch  {-Ung),  höche,  fliche7i,  xichen 
(fliehen,  ziehen)  belegbar.  —  Eine  völlige  Übereinstimmung  in  der  Schrei- 
bung des  handschriftlichen  und  des  gedruckten  werkes  wird  niemand 
erwarten.  Es  genügt,  wenn  besonders  charakteristische  raerkmale  der 
hdschr.  der  TBL  im  drucke  des  Dec.  noch  erkennbar  bleiben.  Solche  können 
auch  bei  sonst  consequenter  änderung  doch  gelegentlich  noch  durchschim- 
mern. So  ist,  wie  Wunderlich  richtig  bemerkt  hat,  das  in  TBL  herr- 
schende ch  im  anlaut  in  Dec.  stets  durch  k  ersetzt.  Aber  Dec.  372, 
13  steht  noch  als  Schimpfwort  für  ein  weib  verheyte)'  chacl.  Mag  damit 
hat  (kot)  oder  kad,  das  gefäss,  gemeint  sein,  was  dann  hier  wie  unser 
„Schachtel"  gebraucht  wäre,  jedenfalls  hat  hier  der  setzer  in  einem  ihm 
vermutlich  unverständlichen  worte  das  ch  des  manuscripts  stehen  gelassen. 
Von  Übereinstimmungen  im  wertschätze  verdienen  folgende 
besonders  beachtet  zu  werden:  ansprung  (fiero  assalto)  des  u?iselige?i 
bösen  glucks  ist  im  Deutschen  Wörterbuch  I,  472  aus  Dec.  belegt,  ohne 
irgend  eine  parallele  für  solche  Verwendung  des  wertes  ansprung. 
Genau  so  findet  sich  aber  TBL  39  ansprung  der  widerwerticheit.  Vgl. 
auch  an  springen  von  begirden  und  von  der  geitikeit  gesagt  Dec.  36,  7. 
46,  37.  —  ausrichtig  in  freier  Übersetzung  des  Originals  gebraucht: 
Nu  der  abte  in  Mite  für  einen  chündigen  vnd  ausrichtiqen  man  imd 
meinte,  er  pesser  were  aus  zu  richten  etlich  geschefte  des,  closters  = 
credendo  l'abate,    che   egli  fusse  piii  savio  neue   cose   del  mondo  che 


AEIGOS    BLUMKN    DER    TUGEND  477 

gli  aliri  monaci  TBL  oben  s.  459.  Der  was  für  den  außrichtigisten  und 
redUckisien  man  gehalten  =  fii  uno  de'  piü  notahili  e  de'  piü  magni- 
fici  signori  Dec.  44,  16.  der  dasig  der  für  derjenige  welcher,  häufig. 
So  z.  b.  in  TBL  der  dasig,  der  solcher  liebe  pflegen  ist,  der  falsche 
vnd  nicht  gerecht  ist.  tvan  der  dasig,  der  an  freunde  ist,  allein  ist 
in  seinen  gescheften.  das  er  die  liebe  vnd  freuntschaft  des  dasigen, 
den  er  liebe  hatte,  die  pesixte  vnd  der  getvaltig  ist.  der  dasig,  der  da 
reichtums  oder  salicheit  nicht  gewonet  xic  haben  ist;  nsw.  Vgl.  im  Dec. : 
Auch  die  dasige?i ,  die  das  romore  auff  dem  predigtstid  an  den  grasten 
machen,  dieselben  an  den  meisten  solchen  gescheftenn  nach  gen  208, 
12.  der  dasig,  der  da  tvas  getöt  ivorden  205,  27.  der  dasigen,  die  er 
meinte  xe  finden  197,  5.  die  dasig,  die  gen  ir  verklaget  was,  ersache 
701,  3  V.  u.  —  ein  fart  für  einmal  TBL  38.  Dec.  243,  18.  521,  30 
u.  ö.  —  dunkelgut  für  ipocrisia  mehrfach  in  TBL,  vgL  Dec.  257,  14 
die  vntugent  der  ipocrasia  V7id  dunckel  gut  (im  original  nur  ipoci'esia). 
In  dieser  bedeutung  ist  das  wort  in  den  Wörterbüchern  nirgends  belegt.  — 
eytellere  für  vanagloria  mehrfach  in  TBL,  vgl.  Dec.  23,  11.  259,  4.  — 
ent Wichten  zu  nichte  machen:  vernichten  oder  entwichten  TBL  33.  wem 
das  auf  heben  den  verprachten  dinst  eritwicht  vnd  macht  verliessen  = 
il  rimproverare  fa  perdere  lo  servigio  TBL  44;  Salamon  spricht,  das 
die  süssen  vnd  diemütigen  wol  gesetxten  ivort  entwichten  den  xorn  {il 
dolce  parlare  si  rompe  l'ira)  TBL  140.  (Hier  ist  entwichten  später  cor- 
rigiert  in  erivicheii).  wan  ich  den  erber7i  vn  frümen  man  höre  ent- 
wichten den  vnweysen.  Vgl.  Dec.  wölt  ir  anders  euer  sach  nit  ent- 
ivichten  (guasiare  i  fatti  vostri)  260,  8  (andere  beispiele  aus  Dec.  im 
DWb.  3,  658).  —  In  keinem  wörterbuche  ist  der  gebrauch  von  mitlei- 
dung und  mitleidig  für  geduld  und  geduldig,  ausdauernd  belegt,  wie  er 
in  TBL  und  Dec.  gilt.  So  TBL  s.  92:  Von  der  Edelen  vnd,  tugenthaf- 
tigen  stercke  der  mitleydung  {della  virtü  della  fortexxa  che  si  chiania 
paxie?ixa).  Soct-ate  spricht,  das  mitleydung  sey  ein  porten  der  liebe 
der  parmher(p,cheit  {Socrate  dice:  La  pacienxa  e  parte  —  var.  porta, 
porto  —  della  misericordia).  Proenciale  spricht,  chein  tuget  nicht  m.age 
gesein,  si  sey  dan  pestet  in  mitleydung,  das  ist  der  patiengia.  VgL 
oben  s.  462.  464.  TBL  s.  105  (cap.  XXIX  des  ital.  or.)  wird  sofferenxa 
erst  durch  gedult  vnd  initleidung,  dann  durch  mitleidung  allein  wider- 
gegeben. Entsprechend  wird  Dec.  307,  37  gedidtig  vfid  mitleydig  seyt 
für  siate  paxienti  gesetzt  und  ebenso  129,  22  dax  sie  in  irer  armüte 
gedidtig  vnd  mitleydig  wem  für  che  essi  paxientemente  comportassero 
lo  stato  p)overo.  Das  adjectivum  wird  auch  TBL  s.  112  gebraucht: 
nicht  x,u  gelauben  genüge  mitleydig  zu  sein  \i7i\  allen  dingen,  den  du 


478  VOGT 

dich  Viitertanig  machest  (a  credere  di  non  potere  essere  sufßciente  a 
tutte  le  cose).  S.  105:  Wer  aber  mit  der  tugent  der  gedidt  vnd  mit- 
leydung  den  dasigen  pÖsen  vniugent  (!)  widerstet,  Der  ist  geheysen  ein 
tnit  leyder.  Oben  s.  457  und  s.  464  mitleiden  haben  für  geduld  ha- 
ben. —  Sich  neheden  für  sich  nahen  fehlt  gleichfalls  in  den  Wörter- 
büchern. Die  zeit  sich  ivarde  neheden  TBL  18.  So  ivird  es  sich  züch- 
tiglich  XU  euch  näheden  Dec.  528,  30.  ■ —  nudalest  TBL  oben  s.  464, 
z.  8.  Dec.  8,  27.  243,  24.  650,  30  u.  ö.  Es  wird  im  sinne  von  „jetzt" 
gebraucht.  Die  erklärung  des  dalest  im  DWb.  und  bei  Lexer  wird 
wol  niemand  mehr  befriedigen.  Es  ist  sicherlich  nichts  anderes  als 
eine  der  vielen  entstellungen  aus  tälanc,  die  in  diesem  falle  durch  die 
genetiv-adverbia  beeinflusst  sein  wird.  Die  im  DWb.  erwähnte  ver- 
neinende bedeutung  des  dalest  hat  auch  tälanc  gelegentlich  (vgl.  Mo- 
rolf  616,  3  —  5  E  und  anm.  zu  521,  4.  5).  —  radescheibe  ki'eisför- 
mig  ujid  ir  geselschaft  sich  radescheibe  vmbe  sy  auch  nider  seczten 
Dec.  16,  8.  Das  DWb.  kennt  nur  diesen  einen  beleg.  Aber  das  wort 
findet  sich  nicht  allein  ebenso  Dec.  379,  22,  sondern  auch  TBL  oben 
s.  463.  wie  hat  Quadro  also  ein  schö?ies  radscheybes  hare.  Vgl.  auch 
geringescheib :  si  (die  kraniche)  ü'en  chilnig  pehüten  mit  grosser  vnd 
treulicher  hüte,  ivayi  si  geringe  scheyb  vm  Li  sten  vnd  er  in  der 
mitte  V7uler  In  TBL  —  verlaugnen  wird  in  beiden  Übersetzungen  auch 
im  sinne  von  versagen  gebraucht:  die  verpoten  vnd  verlaügte7i  dinge 
(le  cose  vietate  e  negate)  TBL  106;  darvmb  seyt  gepeten  vmb  der  liebe 
willen,  die  ich  euch  trage,  daz  ir  mir  der  eüern  nicht  verlaugetit 
{che  voi  non  neghiate  il  vostro  verso  di  nie)  Dec.  128,  17.  —  verwe- 
sen: V7id  pegert  er  nicht,  so  verivist  er  (si  consuma)  in  seiner  armut 
TBL  45;  da  .  .  .  verprinnest  vnd  verivisest  {ardi  e  consumiti)  in  liebe 
einer  fr'emden  fraicen  Dec.  198,  29.  —  wetung:  vn  deyi  (reichtiim) 
nicht  gelassen  mage  an  grosse  pein  vnd  wetung  {e  non  le  lascia  senxa 
dolore)  TBL  46;  Daz  im  grosse  pein  pracht,  vmb  ivetung  halben  sich 
7iit  e^ithalten  mocht,  laut  schreyen  must  Dec.  375,  21,  vgl.  28  und 
vnd  dem  kimige  auf  seiner  pruste  ein  ewiger  wetung  beliben  was 
genant  fistola  {gli  era  rimasa  una  fistola)  Dec.  226,  8.  Das  wort 
ist  eme  entstellung  aus  ivetuom,  die  ich  nicht  anderweitig  zu  bele- 
gen weiss,  es  bietet  auch,  soviel  ich  sehe,  in  beiden  Übersetzungen 
das  einzige  beispiel  für  die  wandelung  des  -tiiom  in  -tung.  —  wunder 
wird  beiderseits  unabhängig  vom  italienischen  texte  in  verwandten 
Wendungen  gehraucht:  viind  Bruno  im  von  ferren  nachfolget  vmb 
wunder  zu  sechenn,  wie  sich  doch  der  arczte  stelle?i  wölte  (per  vedere 
come    l'opera    andasse)    Dec.  530,  4.      Vgl.  auß   seinem  geheüsse  vm 


ARIGOS  BLUMEN  DER  TUGEND  479 

ivunders  ivillen  nicht  chöme  {non  esce  mai  fiiori  della  sua  tana) 
TBL  130.  —  In  ganz  übereinstimmenden  Wendungen  verwenden  beide 
Übersetzungen  sich  verwundern  im  sinne  von  sich  genug,  bis  zu  ende 
Avundern.  Vgl.  oben  s.  453.  Der  chünig  .  .  .  sich  nicht  vcrumndern 
mochte  der  starchen  vnd  freyen  wort  des  armen  mannes.  Und  ebenso 
Die  edeln  Herrn  nicht  alleine  sich  des  ritters  sunder  auch  seiner  fraweji 
grosse  miltikeit  nicht  verwundern  mochten  Dec.  646,  4:  sie  konnten 
sich  nicht  genug  wundern  über;  so  beiderseits  mehrfach. 

Aus  der  syntax  will  ich  eine  bemerkenswerte  Übereinstimmung 
in  der  Wortstellung  hervorheben,  die,  ohne  im  einzelnen  falle  dem 
italienischen  original  nachgebildet  zu  sein,  doch  auf  italienische  gewolm- 
heit  zurückzuführen  sein  wird,  nämlich  den  gebrauch  |der  uns  in 
abhängigen  Sätzen  mit  conjunctionen,  relativen  und  interrogativen  ge- 
läufigen Wortfolge  (Subjekt,  adverbiale  bestimmung,  verbum  finit.)  im 
unabhängigen  satze.  So  z.  b.  TBL:  Der  künig  der  frauen  irer  pete 
%u  iriUen  warde.  Die  junge  fraue  mit  des  chuneges  und  ires  aller 
liebsten  vrlah  von  dannen  schiede.  Der  abte  gar  zornig  ivider  seinen 
munche  icas  usw.  Vgl.  Dec:  Fraive  Philomena  irer  rede  gesivigen 
ivas.  Die  edeln  frauen  des  armen  Calandrino  vngelücke  lachten.  Ein 
solches  frawen  Oreseyda  ee  vonn  andern  leilten  dan  von  im  xü  ge- 
höre kam  usw.,  beiderseits  ganz  gewöhnlich.  —  Ebenso  unter  gleich- 
zeitiger Voranstellung  einer  adverbialen  bestimmung  z.  b.  TBL:  Von 
der  tugent  der  liebe  jnan  in  den  alten  Historien  geschriben  vint.  Um 
des  willen  die  Jiinckfrau  in  grosse  schäme  fiele.  Von  disem  reichen 
man  genant  Germino  got  der  almechtig  ein  grosses  ivunder  erxeyget 
nach  seinem  tode.  Nicld  lang  dar  nach  der  cheyser  nach  seynem 
scherer  saute.  Vgl.  Dec:  Änff'  solche  hoffnung  ich  her  zu  dir  komen 
pin.  Li  solchem  lachen  vnd  fremdem  geperde  her  Torello  dem  sol- 
dan  zu  gedancke  kam.  Nach  disenn  tvorten  der  soldan  in  mit  seinen 
armen  vmbfienge.  —  Ebenso  auch  im  nachsatze:  TBL  Vtid  also  palde 
Ipolito  hinein  chome  ...  er  mit  auf  gerückten  armen  in  umfinge.  Do 
das  der  cheyser  saßhe,  er  von  seinem  rosse  sasse.  Vnd  ob  das  were, 
das  Ephytica  nicht  wider  chöme,  man  im  sein  haubt  nemen  vnd  ab- 
schlagen sölte.  Vgl.  Dec:  Vrul  ee  der  tage  kam,  er  mit  sampt  dem 
pette  . . .  gen  Paria  . . .  getragen  ward.  Vnd  damit  sy  im  seines  laden 
und  beherbern  nicht  versagen  möchte^i.,  er  de7i  ivege  hielte.  Vnd  do 
si  nun  gessen  hatten,  der  ritter  ir  mite  bedencken  warde.  —  So  auch 
mit  auslassung  des  Subjektes  im  nachsatze  bei  gleichem  Subjekte  des 
nebensatzes:  TBL  Vnd  do  der  chunig  das  sache,  sich  des  nicht  ver- 
ivundern  mochte.     Do  der  chünig  sache  die  g?vs.sen  freyhet  des  mans, 


480  VOGT 

sich  nicht  verwundern  mochte  der  . . .  wort,  von  stunt  sich  pegahe  .  . . 
Do  das  der  chünig  vername,  ser  leydig  ivas.  Vgl.  Dec:  Do  der  edel 
ritter  den  soldan  vernam  .  .  .  der  fröcst  man  ivarde.  Do  der  kimig 
die  schönen  junckfraictn  sache,  ir  des  si  hegeret  nicht  versagen  mocht. 
Wie  wol  der  Soldan  mit  sampt  seinen  hern  grosse  köstliche  dinge  %e 
Sechen  geiconet  tvarenn,  doch  darumb  sich  solcher  köstUcheyt  nicht 
verivundern  mochten.  —  Sehr  beliebt  ist  beiderseits  auch  die  angege- 
bene Wortstellung  (subject,  adverbiale  bestimmung,  verb.  finit.)  in  dass- 
sätzen  bei  tbrtlassung  des  dass,  so  z.  b.:  si  sprachen,  er  an  si  nicht 
geleben  möchte,  ich  spriche,  du  der  edelste  .  .  .  vogel  .  .  .  pist  TBL 
dai'uynb  man  sprach,  er  tod  teere,  und  sprach,  er  im  fürgenomen 
het  Dec.  —  vnd  gedachte,  er  e  seinem  tötUchen  feinde  Untertan  ivolt 
sein  TBL  ir  gedacht,  sie  nit  alleine  des  küniges  krancheit  halben 
gute  vrsache  het  ge?i  Parisy  xe  komen  Dec.  —  den  enget  dauchte, 
es  nicld  smecket  TBL  auch  in  on  zweyfel  daucht,  daz  grosse  ivirdige 
hern  ...  sein  sollen  Dec.  —  und  meinte,  er  pesser  were  auszurich- 
te?i  etlich  geschefte  TBL  dami  er  meint.,  es  Türeken  und  nicht  kristen 
weren  Dec.  —  gelaubet  ir,  ich  her  chomeyi  sey  und  gelassen  habe  ... 
TBL  und  für  tvar  gelaubet,  sein  fraive  nudalest  einem  anderen  sült 
verheyret  sein  Dec.  —  und  ivol  erchante,  zeit  ivere  gewesen,  er  die 
geiticheit  pecheret  hatte  in  milticheit  TBL  ivol  erkante,  er  i?n  die 
icarheit  gesagt  hatte  Dec.  —  Nicht  lange  zeit  darnach  verginge, 
der  cheyser  den  sun  pegonde  fragen  TBL  Darnach  nicht  lange  ver- 
ginge, sie  auß  dieser  ivelt  schiede  Dec.  —  ...  es  sich  füget,  des,  chey- 
sers  lanthern  mit  einander  rat  hatten  TBL  es  möchte  sich  noch  bege- 
ben, ir  vnser  kauffmanschatz  möclit  sechen  Dec.  —  als  dem  gewonhet 
ist,  das  junge  volck  gern  nach  volget  TBL  nun  wer  mir  ye  von  her- 
czen  lieber  yewesen,  ich  ein  solches  zu  rechter  zeit  vernomen  hett 
Dec.  usw.  usw.  —  Charakteristisch  wie  die  Wortstellung  ist  in  den  bei- 
spielen  dieser  gattung  für  beide  Übersetzungen  auch  das  fehlen  der 
conjunction.  Denn  gegen  bindewörter  herrscht  beiderseits  eine  förm- 
liche abneigung,  sowol  wo  es  sich  um  ein  abhängigkeitsverhältnis  als 
um  die  beiordnung  der  sätze  handelt.  Wunderlich  hat  schon  im  Ar- 
chiv f.  d.  stud.  d.  neueren  sprachen  44,  248  die  verliebe  des  Dec.  für 
die  asyndesis  gegen  Steinhöwels  brauch  hervorgehoben.  Sie  gilt  eben- 
sowol  für  TBL.  Beispiele  werden  jedem  aus  den  oben  mitgeteilten 
stücken  zur  genüge  entgegentreten.  Sowol  diese  eigentümlichkeit  als 
die  neigung  für  die  besprochene  Wortstellung  tritt  auch  in  der  verliebe 
für  demonstrativsätze  und  in  deren  besonderem  bau  in  beiden  Über- 
setzungen zu  tage.     Ist  das  demonstrativum  Subjekt,    so  ist  wider  die- 


ÄRIGOS    BLUMEN    DER    TUGEND  481 

selbe  Wortstellung  wie  oben  beliebt,  z.  b.  die  (nämlich  die  Jungfrau) 
grosse  liehe  hatte  zu  einem  Jungen  TBL  Die  schnelle  gen  ir  auf- 
stunden Dec.  Der  unterschied  zwischen  demonstrativsatz  und  relativ- 
satz  ist  bei  solcher  wortfolge  völlig  aufgehoben,  und  das  gilt  nun  auch 
für  demonstrativsätze  anderer  art,  z.  b.  die  alle  er  schule  für  sich 
chomen  TBL  Baz  ir  der  künig  volkotnenlich  verspräche  Dec.  Dem 
Quadro  chein  antwurt  nicht  gäbe  TBL  Zu  dem  der  ritter  sprach  Dec. 
Des  nicht  lang  zeit  vergangen  ist,  das  in  vnser  stat  . . .  gesessen  ivas 
Dec.  381,  20.  Natürlich  ist  es  unter  diesen  umständen  oft  genug  unmög- 
lich zu  entscheiden,  ob  ein  satz  relativ  oder  demonstrativ  gemeint  ist; 
bei  den  angeführten  beispielen  ist  der  demonstrative  Charakter  zweifel- 
los. Selbst  im  nachsatz  wird  diese  Stellung  angewendet:  do  die  frawe 
Sache,  das  ir  in  des  mannes  ersten  cxorn  nit  Übels  zu  stund,  . . .  umb 
des  willen  sy  ein  gut  hercxe  ßeng  Dec.  376,  7.  vnd  wen  in  der  Jäger 
suchte  zu  fachen,  das  er  snelle  vernomen  halt  TBL  oben  s.  462.  ob 
das  u'ere^  das  ich  darinne  indert  zu  strafen  tvere,  das  ich  ivillig- 
lichen  von  einem  iglichen  auf  nyme  TBL  oben  s.  448.  So  auch  iver 
seines  ivillen  nicht  geiveltig  ist,  der  chein  mensche  ist  vnd  defi  man 
zu  dem  viche  gesellen  sol  oben  s.  463.  Da  pey  der  eysidel  tvol  ercha?ite, 
das  (rel.)  Im  der  Engel  gesaget  hatte,  das  (demonstr.)  alles  gottes 
geschefte  ivas  oben  s.  458  und  ähnlich  alein  got,  dem  (rel.)  alle  di?ig 
kunt  sein,  pey  dem  (demonstr.)  ich  dir  siuer  Dec.  371,  25. 

Auf  weitere  syntaktische  besonderheiten  der  beiden  Übersetzungen 
brauche  ich  liier  nicht  einzugehen.  Nur  im  vorbeigehen  sei  einer  lati- 
nisierenden Wortstellung  gedacht,  deren  sich  beide  an  stellen  bedie- 
nen, wo  die  quellen  gar  keinen  anlass  dazu  bieten:  um  der  grossen 
passen  deines  geniüte  geiticheit  ivillen  oben  s.  453,  vgl.  imib  des 
ivillen  sie  zu  dem  iungen  ires  vaters  schaffer  in  grosse  liebe  enczün- 
clet  Dec.  351,  7.  Und  als  ein  beispiel  für  die  Übereinstimmung  der 
TBL  mit  besonderheiten  des  partikelgebrauches,  die  Wunderlich  (Stein- 
höwel  und  das  Decameron)  am  Dec.  hervorgehoben  hat,  diene  die 
Verwendung  von  nur:  TBL  vnd  chein  freuliche  ere  nicht  an  sechen. 
Nur  si  verpringen  mögeii  Iren  viehischen  vnd  vnuernüftigen  passen 
tust,  vgl.  Dec.  er  hett  ir  {der  eyde)  .  . .  zehen  falsche  .  .  .  geschworen, 
nur  er  seinen  widerteyle  hette  übenvinden  mügen  und  Wunderlich 
s.  30.  Im  übrigen  genüge  es,  zum  schluss  ein  paar  redensarten  anzu- 
führen, deren  übereinstimmende  Verwendung  im  verein  mit  den  voran- 
gegangenen ausführuugen  gewiss  geeignet  sein  wird,  jeden  zweifei  an 
der  Identität  der  Verfasser  beider  Übersetzungen  auszuschliessen:  TBL 
oben  s.  461  gethon    vnd   geschaffen   alles    ein    dinge  ivas    (im  or.  ent- 

ZEITSCURIFT    F.    DEUTSCHE    PHILOLOGIE.      BD.    XXVIII.  31 


482  DÜNTZER 

spricht  gar  nichts),  Dec.  349,  38  das  gcschefte  gepoten  vnd  verpracht 
alles  ein  dinge  was  (im  or.  entspricht  nur  e  cosi  fu  fatto).  —  TBL  oben 
s.  457  tmd  darum,  das  aus  tihel  nit  ärger  ivürde,  Dec.  518,  9  iind 
damit  aus  übel  nit  ergei's  werde;  in  beiden  fällen  entspricht  im  or. 
nichts.  —  TBL  oben  s.  461  mit  hocher  siyme  an  hübe  %u  schreyen: 
„retta  jof  retta  jo!  helffet!  der  pösuicht  mich  tville  nöten  vnd  junck- 
fraue  ere  nemen."  (im  or.  eUa  cominciö  a  gridare:  accorrete,  accorrete, 
che  Amantino  m'ha  voluta  sforxare)  vgl.  Dec.  128,  34  mit  hocher 
stimme  an  hübe  %ü  schreyen:  „retta  io!  retta  iol  vor  dem  pöscn  graf- 
fen  von  Angfers;  er  ivill  mich  nöten  tmd  freueUchen  meiner  ere 
empfremden  vnnd  die  mir  ouch  mit  geivalt  nemen  (im  or.  cominciö  a 
gridar  forte:  ajuto,  ajuto,    che'l  conte  d'Anguersa  mi  vuol  far  forxa). 

BRESLAU.  F.    VOGT. 


GOETHES  BEÜCHSTÜCK  „DIE  GEHEIMNISSE". 

Unsere  philosophen  nehmen  es  als  entschiedenes  recht  in  ansprach, 
bei  deutuiig  schwieriger  dichtungen  die  berufenen  ausleger  zu  sein; 
ihrem  Scharfblick  erschlössen  die  verschlungenen  gänge  des  dichters 
sich  leichter  als  dem  erklärer,  der  von  sprachlichem  Verständnisse, 
sorgfältiger  beachtung  des  einzelnen  wie  des  aufbaues  und  allseitiger 
kenntnis  des  dichters  und  seiner  kunst  ausgeht.  Als  ob  dies  nicht  die 
notwendigen  Schlüssel  wären,  ohne  die  auch  der  tüchtigste  philosoph 
in  die  irre  gehen  muss,  ja  fast  um  so  mehr,  je  gedankenvoller  er  ist. 
Ein  einziger  übersehener  oder  misverstandener  ausspruch  des  dichters 
selbst  kann  das  ganze  kunstvolle  gebäude  des  philosophischen  deuters 
stürzen,  ein  einziger  bezeichnender  zug,  den  er  unbemerkt  gelassen, 
die  willkürliche  Verschiebung  des  ganzen  verschulden:  wer  ohne  ge- 
naueste kenntnis  des  dichters,  ohne  liebevolles  verfolgen  seiner  spuren, 
ohne  kritik  und  ergründung  dessen,  was  wir  von  der  entstehung  des 
kunstwerkes  wissen,  sich  zum  erklärer  schwieriger  dichtungen  aufwirft, 
wird  seinen  zweck  verfehlen.  Der  philosoph  muss  gestatten,  dass  der 
philolog  seine  Offenbarung  revidiert.  Wie  viele  versuche  trefflicher 
männer    sind    an    der   klippe    unzulänglicher   philologischer   auslegung 


gescheitert! 


"Weit  hinab  an  dem  brausenden  gestade 


Liegts  von  der  scheiter  umher. 
Einen  neuen  beleg  bietet  die  mit  viel  geist  und  vollem  Verständ- 
nis von  Goethe's  religiöser  Stimmung  versuchte  lösung  der  rätsei   des 
uns    hier    beschäftigenden    unvollendeten   gedichtes   in    der   schrift  des 


GOETHES    GEHEIMNISSE  483 

Königsberger  philosophen  Hermann  Baiimgart  „Goethe's  Geheimnisse 
und  seine  Indischen  legenden".  Der  Verfasser  bezeichnet  es  als  auf- 
gäbe des  Interpreten,  „mit  hülfe  des  durch  die  forschung  aufgeschich- 
teten materials,  mit  benutzung  der  gesammten  bereitgestellten  mittel 
dem  letzten  ziele  zuzustreben,  im  kunstwerke  dem  sinn  des  künstlers 
nachzugehen".  Aber  ausreichende  philologische  kritik  bei  benutzung 
des  dem  forscher  zu  geböte  stehenden  Stoffes,  methodische  auslegung 
und  vollständige  beheiTschung  desselben  vermissen  wir  eben  bei  unseren 
philosophischen  auslegern,  die  „den  boden  unter  den  füssen  verlieren", 
da  sie  die  festen  stützen  aufgeben,  welche  die  Überlieferung  und  das 
stetige  verfolgen  der  im  aufbau  der  dichtung  hegenden  Wahrzeichen 
darbieten.  Baumgart  will  freilich  auch  die  angaben  über  die  entstehung 
der  „Geheimnisse"  benutzen,  aber  er  thut  es  auf  eine  so  unvollstän- 
dige und  zum  teil  verkehrte  weise,  dass  sein  ergebnis  unwahr  ist,  und 
so  nur  auf  Irrwege  führen  kann.  Dazu  kommt,  dass  er  auf  äusserun- 
gen  Goethe's  baut,  welche  dieser  dreissig  jähre  nach  der  ihm  ganz 
fremd  gewordenen  dichtung  gethan,  als  er  der  bitte  um  aufklärung 
des  darüber  schwebenden  dunkeis  von  selten  Königsberger  Studenten 
nachgab,  die  ihm  ihre  eigene  ansieht  über  deren  plan  und  absieht  mit- 
geteilt hatten.  Baumgart  nimmt  ohne  weiteres  die  Zuverlässigkeit  die- 
ser erklärung  an,  obgleich  es  dem  dichter  dabei  sichtlich  nicht  wol  zu 
mute  war.  Schon  vor  mehr  als  vierzig  jähren  habe  ich  im  „Morgen- 
blatt" (der  aufsatz  ist  in  meine  „Neuen  Goethestudien"  aufgenommen) 
den  nachweis  geliefert,  dass  das  wenige  neue,  was  Goetlie  hier  gibt, 
im  Widerspruch  mit  der  dichtung  selbst  steht,  so  dass  Baumgart,  auch 
wenn  er  nicht  selbst  darauf  gekommen  wäre,  meine  bedenken  hätte 
beachten  und,  wenn  er  es  vermocht,  widerlegen  müssen.  Dabei  wäre 
auch  die  frage  zu  erörtern  gewesen,  wie  es  überhaupt  sich  verhalte 
mit  Goethe's  äusserungen  über  seine  eigenen  älteren  dichtungen,  die 
vollendeten,  wie  die  als  bruchstücke  hinterlassenen ,  zu  denen  der  sechs- 
zigjährige  in  „Wahrheit  und  dichtung "  und  noch  später  anderswo  sich 
veranlasst  sah,  insonderheit  mit  denen  über  die  plane  der  unvollendeten. 
Und  da  ergibt  sich  deren  völlige  unzuverlässigkeit.  Was  seine 
lebensbeschreibung  über  „Mahomet"  und  den  „Ewigen  Juden"  enthält, 
steht  im  Widerspruch  mit  den  vorhandenen  bruchstücken.  Die  bei  der 
späteren  redaktion  der  „Italienischen  reise"  eingefügten  plane  der  „Nau- 
sikaa"  und  der  „Iphigenie  in  Delphi"  sind  nichts  weniger  als  zuverlässig. 
Selbst  die  deutung  des  gedichtes  „Harzreise  im  winter"  ist  nicht  in  allen 
punkten  richtig,  lässt  nicht  einmal  ahnen,  dass  diese  stückweise  entstan- 
den, aus  „fliegenden  streifen  von  den  tausend  gedanken  in  der  einsamkeit 

31* 


484  DÜXTZER 

jener  reise",  Avie  es  in  einem  briefe  an  Merck  von  1778  heisst,  zusam- 
mengesetzt ist.  Da  kann  es  denn  auch  nicht  auffallen,  dass  der  zur 
aufklärung  über  die  „Geheimnisse"  entworfene  aufsatz  (das  tagebuch 
gedenkt  desselben  am  23.  märz  1816,  mundiert  wurde  es  am  9.,  abge- 
sandt am  10  april),  den  er  nach  flüchtiger  lesung  des  bruchstückes  bei 
rascher  durchsieht  des  neu  zu  druckenden  neunten  bandes  der  "Werke 
entwarf,  kein  evangelium  ist,  da  ihm  das  gedieht  längst  fremd  gewor- 
den, und  er  bei  der  grossen  Zerstreuung,  worin  er  damals  so  verschie- 
denartiges durchzudenken  und  vorzubereiten  hatte,  sich  nicht  in  die 
Stimmung  zurückversetzen  konnte,  welche  ihn  vor  einunddreissig  jäh- 
ren beseelt  hatte.  Das  kloster,  worin  „die  Geheimnisse"  spielen,  liegt 
nach  der  dichtang  in  der  „grünen  aue  eines  sanft  geschlungenen  thales", 
in  das  bruder  Markus  herniederschaut,  als  er  einen  steilen  berg  erstie- 
gen hat  und  aus  dem  walde  herausgetreten  ist;  er  eilt  zu  ihm  durch 
einen  „wiesenplan".  Hiernach  heisst  es  denn  auch  in  der  sehr  kurz 
gehaltenen  erklärung:  „Ein  junger  ordensgeistlicher,  in  einer  gebirgigen 
gegend  verirrt,  trifft  zuletzt  im  freundlichen  thale  ein  herrliches  gebäude 
an."  Davon,  dass  bruder  Markus  sich  verirrt  habe,  steht  nichts  im 
gedichte,  wenn  er  auch  „ausser  steg  und  bahn"  geht,  er  folgt  dem 
„erhabenen  antrieb",  der  ihn  zu  einer  besonderen  sendung  bestimmt  hat, 
und  er  muss  dahin,  wohin  der  geist  ihn  führt.  Damit  stimmt  es 
nicht,  wenn  Goethe's  bericht,  „um  den  plan  im  allgemeinen,  und  somit 
auch  den  zweck  des  gedichtes  zu  bekennen",  weiter  mitteilt,  „dass 
der  leser  durch  eine  art  von  ideellem  Montserrat  geführt  werden,  und, 
nachdem  er  durch  die  verschiedenen  berg-,  felsen-  und  klippenhöhen 
seinen  weg  genommen,  gelegentlich  wider  auf  weite  und  glückliche 
ebenen  gelangen  sollte".  Irren  wir  nicht,  so  liegt  hier  ein  missver- 
ständnis  der  ersten  stanze  zu  gründe,  wo  es  bildlich  von  diesem  „wun- 
derbaren liede"  heisst:  „durch  berg'  und  thäler  sei  der  weg  geleitet, 
und  w^enn  sie  genug  geklommen,  wollten  sie  doch  zur  rechten  zeit  dem 
ziele  näher  kommen",  was  auf  die  vielen  erzählungen  deutet,  welche 
der  schliesslichen  einsetzung  des  bruders  Markus  zum  nachfolger  des 
Humanus  vorangehen.  Ferner  wird  dieser  „ideelle  Montserrat"  durch 
eine  sonderbare  erfindung  des  sechszigj ährigen  dichters  näher  ausge- 
führt. „Einen  jeden  der  rittermönche  würde  man  in  seiner  wohnung 
besucht  und  durch  anschauung  klimatischer  und  nationaler  Verschie- 
denheiten erfahren  haben,  dass  die  trefflichsten  mann  er  von  allen  enden 
der  erde  sich  hier  versammeln  mögen,  wo  jeder  von  ihnen  gott  auf 
seine  eigenste  weise  im  stillen  verehre.  Der  mit  bruder  Markus  herum- 
wandelnde leser  oder  zuhörer  würde  gewahr,    dass  die  verschiedensten 


GOETHES   GEHEIMNISSE  485 

denk-  und  empfindungsw eisen,  welche  in  dem  menschen  durch  atmo- 
sphäre,  landstrich,  Völkerschaft,  bedürfniss,  gewohnheit  entwickelt  oder 
ihm  eingedrückt  werden,  sich  hier  am  orte  in  ausgezeichneten  Indivi- 
duen darzustellen,  und  die  begier  nach  höchster  ausbildung,  obgleich 
einzeln  unvollkommen,  durch  zusammenleben  würdig  auszusprechen 
berufen  seien."  Offenbar  ist  unter  dem  „ideellen  Montserrat"  eine 
ähnliche  örtlichkeit  gemeint,  wie  Goethe  sie  durch  W.  von  Humboldt 
brieflich  im  sommer  1800  von  dem  spanischen  berge  erhalten  hatte, 
und  es  kann  keinem  zweifei  unterliegen,  dass  dessen  heranziehen  zu 
unserem  gedichte  durch  Humboldt's  damaligen  brief  veranlasst  ist. 
Dieser  hatte  ihm  geschrieben,  in  den  zwei  unvergesslich  schönen  tagen, 
die  er  auf  dem  Montserrat  zugebracht,  habe  er  unendlich  oft  seiner 
gedacht;  seine  „Geheimnisse"  hätten  ihm  lebhaft  vor  dem  gedächtnis 
geschwebt,  sie  seien  ihm  nicht  werter,  aber  näher  und  eigener  gewor- 
den. „Wie  ich  den  pfad  zum  kloster  hinaufstieg,  der  sich  am  abhang 
des  felsens  langsam  herumwindet,  und,  noch  ehe  ich  es  wahrnahm,  die 
glocken  desselben  ertönten,  glaubte  ich  Ihren  frommen  pilger  vor  mir 
zu  sehen,  und  wenn  ich  aus  tiefen,  grünbewachsenen  klüften  empor- 
blickte und  kreuze  sah,  welche  heilig  kühne  bände  in  schwindelnden 
höhen  auf  nackten  felsen  aufgerichtet  haben,  zu  denen  dem  menschen 
jeder  Zugang  versagt  scheint,  so  glitt  mein  blick  nicht  wie  sonst  mit 
gleichgültigkeit  an  diesen  durch  ganz  Spanien  unaufhörlich  widerkeh- 
renden zeichen  ab."  Freilich  konnte  Humboldt,  als  er  zu  der  berühm- 
ten Benediktinerabtei  auf  dem  von  seinen  sägeförmigen  spitzen  benann- 
ten berge  bei  Barcelona  aufstieg,  sich  an  bruder  Markus  gemahnt  füh- 
len, der  beim  besteigen  des  berges  das  glockengeläute  des  auf  dem 
gipfel  gelegenen,  noch  unsichtbaren  klosters  hörte,  aber  das  kloster  lag 
unten  im  thale,  und  er  musste  noch  einen  längeren  weg  durch  einen 
wiesenplan  machen,  ehe  er  zu  diesem  gelangte,  über  dessen  pforte  er 
das  rosenkreuz  erblickte.  Ton  einem  auf  dem  berge  gelegenen  klo- 
ster, welchem  zwölf  von  einander  getrennte,  auf  den  bis  zur  schwin- 
delnden höhe  der  gipfel  angelegte  einsiedeleien  angehören,  zu  denen 
man  nur  auf  leitern  und  brücken  über  die  schauerlichsten  abgründe 
gelangen  kann,  ist  in  den  „Geheimnissen"  keine  rede,  nicht  einmal 
von  solchen  über  dem  kloster  sich  erhebenden  berggipfeln,  die  doch 
dem  bruder  hätten  auffallen  müssen,  wären  sie  vorhanden  gewesen. 
Die  sämmtlichen  zwölf  bruder  wohnen  nach  dem  gedichte  in  demsel- 
ben gebäude,  dessen  vorhof  Markus  am  ersten  abend  betritt;  das 
innerste  soll  ihm  erst  später  erschlossen  werden.  Täglich  kommen  sie 
hier  zusammen,  während  die  bewohner  der  zwölf  einsiedeleien  nur  an 


486  DÜNTZER 

bestimmten  festtagen,  etwa  zwanzigmal  im  jähre,  zur  klosterkirche  her- 
abstiegen. Das  abgesonderte  leben  in  verschiedenen  regionen  der  berg-, 
felsen-  und  klippenhöhen  ist  durch  die  anläge  des  gedichtes  geradezu 
ausgeschlossen,  und  erst  von  dem  später  nach  dem  ihm  verloren  gegan- 
genen faden,  wie  auch  bei  „Faust",  suchenden  dichter  höchst  unglücklich 
vom  Montserrat  hereingetragen.  Mit  der  erkenntnis,  dass  die  annähme 
von  abgesonderten  einsiedeleien  auf  gipfeln  und  klippen  durchaus  der 
anläge  der  dichtung  widerspricht,  ergibt  sich  auch  alles  damit  zusam- 
menhängende als  spätere  haltlose  erfindung.  Damit  es  möglich  scheine, 
dass  „die  begier  nach  höchster  ausbildung  durch  zusammenleben  sich 
würdig  ausspreche",  sollen  sich  die  zwölf  um  Humanus  versammelt 
liaben,  weil  sie  eine  ähnlichkeit,  eine  annäherung  gefühlt.  Aber  das 
„wunderbare  lied"  nahm  überall  eine  übernatürliche  einwirkung 
der  Vorsehung  an,  die  freilich  dem  sechszigj ährigen  fern  lag.  Huma- 
nus wurde  vom  geiste  hierher  getrieben,  die  übrigen  kamen  alle  in 
höherm  alter  hierher,  indem  sie  einer  inneren  stimme  folgten,  wie  auch 
bruder  Markus  durch  „erhabenen  antrieb"  bestimmt  wurde,  nach  einer 
angegebenen  richtung  zu  wandern,  bis  er  zu  einem  orte  gelange,  wo 
eine  segensreiche  bestimmung  seiner  warte.  In  ähnlicher  weise  ergeht 
in  John  Bunyans  „The  pilgrims  Progress",  der  auch  in  frommen  deut- 
schen kreisen  ein  weitverbreitetes  erbauungsbuch  war,  an  Christman 
der  ruf  der  Vorsehung,  die  heimat  und  die  seinigen  zu  verlassen,  und 
ostwärts  nach  der  goldenen  stadt  zu  wandern,  sich  weder  durch  berge, 
abgründe  noch  ströme  auf  seinem  wege  hemmen  zu  lassen.  Ygl.  meine 
Erläuterungen  zu  Schillers  lyrischen  gedichten,  heft  6,  34  fgg.  Merk- 
würdig ist  von  dieser  übernatürlichen  einwirkung,  diesem  grund  und 
boden  der  ganzen  dichtung,  in  Goethe's  späterer  erklärung  fast  gar 
keine  rede.     Auch  Baum  gart  beachtet  sie  nirgendwo. 

Mit  der  unserer  dichtung  fremden  annähme  von  einsiedeleien  auf 
den  berggipfeln  hängt  Goethe's  versuchte  ausbildung  des  planes  zusam- 
men, wonach  jeder  der  zwölfe,  mit  denen  allen  Humanus  im  laufe  der 
Zeiten  in  berührung  gekommen,  von  einem  teil  seines  grossen  lebens- 
wandels  nachricht  und  auskunft  geben  könne,  wobei  er  ohne  zweifei 
annahm,  jeder  sollte  dies  tun,  so  dass  uns  dui-ch  alle  zwölfe  zusam- 
men ein  volles  bild  seines  lebenswandels  gegeben  werde,  was  ebenso 
unkünstlerisch  als  ausserordentlich  schwer  auszuführen  sein  möchte. 
Übersehen  ist  dabei  (was  auch  Baumgart  nicht  beachtet),  dass  ausser 
den  zwölf  augenblicklich  hier  weilenden  brüdern  früher  auch  andere, 
hier  gestorbene,  zum  bunde  gehört.  Dies  ergibt  sich  aus  der  klage 
des  alten  130  fg.:  schon  viele  sind  hier  vor  ihm  hingegangen,  aber  den 


-GOETHES    GEHEIMNISSE  487 

tod  von  keinem  hat  er  so  bitter  beklagt,  wie  er  das  drohende  abschei- 
den des  Humaniis  empfindet.  Demnach  wäre  die  apostelzahl  zwölf 
nicht  als  feststehend  zu  fassen,  oder  man  müsste  annehmen,  die  Vor- 
sehung habe  beim  tode  eines  der  brüder  einen  anderen  nach  dem  Hu- 
manuskloster gesandt.  Da  aber  Goethe  sich  erinnerte,  dass  „die 
geheimnisse"  auf  die  religiöse  anschauung  sich  bezogen,  so  musste  er, 
so  gut  es  gieng,  dies  mit  den  „denk-  und  empfindungsweisen"  der 
verschiedensten  Völker  und  mit  Humanus  als  vermittler  und  vorbild 
verbinden.  So  fuhr  er  denn  etwas  gezwungen  fort:  „Hier  würde  sich 
dann  gefunden  liaben,  dass  jede  besondere  religion  einen  moment  ihrer 
höchsten  blute  und  frucht  erreiche,  worin  sie  jenem  obern  vermittler 
sich  angenaht,  ja  sich  vollkommen  mit  ihm  vereinigt.  Diese  epochen 
sollten  in  jenen  zwölf  repräsentanten  verkörpert  und  fixiert  erscheinen, 
so  dass  man  jede  anerkennung  gottes  und  der  tugend,  sie  zeige  sich 
auch  in  noch  so  wunderbarer  gestalt,  doch  immer  aller  ehren,  aller 
liebe  würdig  müsste  gefunden  haben.  Und  nun  konnte  nach  langem 
zusammenleben  Humanus  gar  wol  von  ihnen  scheiden,  weil  sein  geist 
sich  in  ihnen  allen  verkörpert,  allen  angehörig,  keines  eigenen  irdi- 
schen gewandes  mehr  bedarf"  "Wäre  diese  wunderliche  begründung  des 
hauptpunktes,  des  scheidens  des  Humanus  und  seiner  ersetzung,  rich- 
tig, so  würde  man  gar  nicht  begreifen,  weshalb  ein  ihm  und  den 
zwölfen  so  unähnlicher  Vertreter  wie  Markus  an  diese  stelle  träte.  Goethe 
glaubte  aber  hier  auch  noch  des  angenehmen  eindrucks  gedenken  zu 
müssen,  den  die  vollendete  dichtung  gemacht  haben  würde.  „Wenn 
nun  nach  diesem  entwurf  der  hörer,  der  teilnehmer  durch  alle  länder 
und  Zeiten  im  geiste  geführt,  überall  das  erfreulichste,  was  die  liebe 
gottes  und  der  menschen  unter  so  mancherlei  gestalten  hervorbringt, 
erfahren,  so  sollte  daraus  die  angenehmste  empfindung  entspringen, 
indem  weder  abweichung,  missbrauch,  noch  entstellung,  wodurch  jede 
religion  zu  gewissen  epochen  verhasst  wird,  zur  erscheinung  gekommen 
wäre."  Wie  ein  wandeln  durch  die  zellen  der  zwölf  ein  solches  bild 
in  einen  fasslichen  rahmen  hätte  schliessen  können,  ist  schwer  vorzu- 
stellen und  die  im  bruchstück  gegebenen  andeutungen  deuten  auf  etwas 
ganz  anderes,  auf  das,  was  im  innersten  des  klosters  geschieht. 
Seltsam  ist  es,  wie  Goethe  darauf  gerade  diesen  besuch  bei  allen  zwölfen 
als  die  handlung  bezeichnet;  denn  unmittelbar  darauf  heisst  es:  „Ereig- 
net sich  nun  diese  ganze  handlung  in  der  karwoche,  ist  das  hauptkenn- 
zeichen  dieser  gesellschaft  ein  kreuz,  mit  rosen  umwunden,  so  lässt 
sich  leicht  voraussehen,  dass  die  durch  den  ostertag  besiegelte  ewige 
dauer    erhöhter   menschlicher   zustände    auch    hier   beim   scheiden    des 


488  DÜ.NTZER 

Humanus  sich  tröstlich  würde  offenbaret  haben."  Davon,  dass  die 
handlung  in  der  karwoche  spiele,  findet  sich  im  bruchstücke  nicht  die 
geringste  andeutung,  was  unmöglich  wäre,  wenn  darauf  gewicht  gelegt 
wäre,  und  wie  darin,  dass  Humanus  am  ostertage  stirbt,  wo  der  Hei- 
land aus  dem  grabe  stieg,  „die  ewige  dauer  erhöhter  menschlicher  zu- 
stände sich  offenbare",  ist  schwer  zu  erkennen,  da  die  auferstehung 
nur  die  göttlichkeit  des  Heilands  bezeugt,  höchstens  auch  noch  als  Wahr- 
zeichen unserer  eigenen  auferstehung  am  jüngsten  tage  gelten  kann. 
Doch  liegt  auch  hier  vielleicht  eine  wirkliche,  aber  ungehörig  ver- 
wandte erinnerung  zu  gründe,  da  ein  bedeutender  teil  des  bruchstücks 
in  der  karwoche  gedichtet  ist.  Die  eigentliche  handlung  ist  nicht  der 
besuch  von  Markus  bei  allen  zwölf  brüdern,  sondern  dessen  von  der 
Vorsehung  bestimmte  Sendung  bis  zur  einsetzung  als  Stellvertreter  des 
Humanus  bei  dem  bunde  des  rosenkreuzes.  Aber  gerade  darüber  hören 
wir  in  Goethe's  späterer  erklärung  nichts  neues.  Es  heisst  nur:  „Da- 
mit aber  ein  so  schöner  bund  nicht  ohne  haupt-  und  mittelsperson 
bleibe,  wird  durch  wunderbare  Schickung  und  Offenbarung  der  arme 
pilgrira  bruder  Markus  in  die  hohe  stelle  eingesetzt,  der  ohne  ausge- 
breitete umsieht,  ohne  streben  nach  unerreichbarem  durch  demut,  erge- 
benheit,  treue  tätigkeit  im  frommen  kreise  gar  wol  verdient,  einer 
wolwollenden  gesellschaft,  so  lange  sie  auf  der  erde  verweilt,  vorzu- 
stehen." Der  gegensatz  zwischen  Humanus  und  Markus  ist  in  der 
dichtung  selbst  angedeutet,  da  die  erzähl ung  von  seiner  sendung  auf 
die  brüder  so  wirkt,  „wie  tiefe  Weisheitslehren  von  kinderlippen",  und 
er  ihnen  an  Offenheit,  an  Unschuld  der  geberde  ein  mensch  von  einer 
anderen  erde  scheint,  während  Humanus  durch  wunderbare  begabung 
von  der  Vorsehung  ausgezeichnet  ist  und  zugleich  „der  edelste  und 
beste  mensch"  ist,  dem  die  höchste  kunst  gelungen,  bei  allem  feurigen 
vorwärtsstreben  „sich  selbst  zu  überwinden".  In  dieser  den  schluss 
bildenden  haupthandlung  muss  die  bedeutung  der  dichtung  liegen,  diese 
kann  nicht  damit  erschöpft  sein,  dass  Markus  diese  berufung  „gar  wol 
verdient".  Am  Schlüsse  der  erklärung  heisst  es:  Wären  die  „Geheim- 
nisse" damals  vollendet  erschienen,  so  würden  sie  der  zeit  einiger- 
massen  vorgeeilt  sein  (was  insofern  auffallen  könnte,  als  sie  erst  nach 
Lessing's  tode  begonnen  wurden),  doch  auch  noch  gegenwärtig,  obgleich 
in  den  letzten  dreissig  jähren  die  ideen  sich  erweitert,  die  gefühle 
gereinigt,  die  ansichten  aufgeklärt  hätten,  „würde  man  das  nun  allge- 
mein anerkannte  im  poetischen  kleide  vielleicht  gerne  sehen  und  sich 
daran  in  den  gesinnungen  befestigen,  in  welchen  ganz  allein  der 
mensch  auf  seinem   eigenen  Montserrat  glück  und  ruhe   finden  kann." 


GOETHES   GEHEIMNISSE  489 

Was  er  unter  dem  „mm  allgemein  anerkannten"  verstehe,  deutet  er 
nicht  an;  er  kann  nur  die  Überzeugung  gemeint  haben,  dass  die  wahre 
religion  in  dem  streben  bestehe,  edel  und  gut  im  leben  zu  wirken,  wie 
er  es  in  der  ode  „Das  göttliche"  ausgeführt  hat.  Allgemein  anerkannt 
war  dies  freilich  auch  nach  den  befreiungskriegen  nicht. 

Hiernach  kann  Goethes  mit  dem  bruchstück  selbst  in  widersprach 
stehender  versuch,  den  ihm  verloren  gegangenen  faden  widerzufinden, 
ebensowenig  auf  Zuverlässigkeit  ansprach  machen,  wie  der  später  ent- 
wickelte angebliche  entwurf  des  „Ewigen  Juden"  (vgl.  Ztschr.  XXV, 
302).  Baumgart  glaubt  an  die  Zuverlässigkeit  dieses  so  kühnen  wie 
unglücklichen  Versuches,  und  baut  darauf  weiter,  wenn  er  auch  nicht 
wagt,  die  angeblichen  zwölf  religionen  nachzuweisen,  sondern  sich 
damit  begnügt,  dass  sie  die  gesammte  religionsgeschichtliche  entwick- 
lung  in  ihren  wichtigsten  phasen  dargestellt,  das  Christentum  mit  seiner 
vielgestaltigen,  weithin  ausgebreiteten  und  in  vielen  partien  so  deut- 
lich vor  uns  liegenden  entwicklungsgeschichte  nicht  auf  einen  einzigen 
Vertreter  beschränkt  gewesen  sein  könne,  wie  er  eine  solche  aus- 
drücklich für  den  katholicismus  und  Calvinismus  ausgewittert  zu  haben 
glaubt. 

"Wenden  wir  uns  zu  der  vorliegenden  gleichzeitigen  Überlieferung 
der  entstehung  unserer  dichtung,  so  vermissen  wir  bei  Baumgart  die 
philologische  genauigkeit,  ohne  welche  wesentliche  Irrtümer  unvermeid- 
lich sind;  er  hat  bedeutende  äusserungen  nicht  beachtet,  andere  miss- 
verstanden. Wir  übergehen  den  am  8.  august  1784  zu  Dingelstadt,  wo 
Goethe  auf  der  reise  nach  dem  Harze  wegen  des  bruches  der  achse 
seines  wagens  einige  stunden  weilen  musste,  gedichteten  prolog,  den 
er  sofort  an  Herder  nach  Weimar  sandte;  dieser  sollte  ihn  der  in 
Kochberg  weilenden  frau  von  Stein  mitteilen.  In  Herders  abschrift 
liegt  uns  diese  ursprüngliche  fassung  vor.  Hier  trat  am  Schlüsse 
die  beziehung  auf  Herder  und  frau  von  Stein,  denen  man  nur  noch 
Knebel  hinzufügen  kann,  als  vertrauteste  herzensfreunde  deutlicher  her- 
vor, aber  es  fehlt  jede  andeutung,  dass  er  „unter  ihrer  reichen  und 
vielseitigen  förderung  jenes  unvergleichliche  Wachstum  seines  wesens 
und  seiner  kraft  erlebt  hatte",  das  Baumgart  hereingetragen.  Goethe 
hatte  Herder  und  frau  von  Stein,  letzterer  ganz  besonders,  den  prolog 
gewidmet,  weil  er  ihnen  das  gedieht  über  die  wahre  religion  ver- 
sprochen. Die  idee  zum  erscheinen  der  Wahrheit,  die  ihm  der  dich- 
tung Schleier  erteilt,  hatte  er  zu  Jena  an  einem  der  tage  vom  25.  juli 
bis  zum  2.  august  gefunden,  als  er  dort  die  sonne  den  dichten  morgen- 
nebel  in  wunderbar  ihn  ergreifender  weise  durchbrechen  sah. 


490  ■  DÜNTZER 

Am  13.  august  schrieb  er  aus  Zellerfeld  im  Harz:  „Ich  denke 
fleissig  an  den  plan  des  gedichtes  [dessen  prolog  er  gesandt  hatte]  und 
habe  ihn  schon  um  vieles  reiner.  "Wenn  uns  regenwetter  oder  sonst 
ein  Zufall  begegnet,  so  fahre  ich  gewiss  fort.  Ich  kann  dir  A^ersichern, 
dass  ich  ausser  dir,  Herder  und  Knebel  durchaus  kein  publikum  habe. 
Aber  bei  seinem  leidenschaftlichen  eifer,  sich  die  mannigfaltigen  fels- 
bildungen  des  Harzes  zu  eigen  zu  machen,  konnte  er  zunächst  am 
gedichte  nur  hin-  und  hersinnen.  Einen  der  von  Braunschweig  aus 
auf  wünsch  der  frau  von  Stein  französisch  geschriebenen  briefe  schloss 
er  am  23.  mit  folgender  deutschen  stanze,  die  in  dem  gedichte  stehen 
sollte,  das  er  „so  sehr  liebe",  weil  er  darin  „von  ihr,  von  seiner  liebe 
zu  ihr  unter  tausend  formen  sprechen  könne,  ohne  dass  irgend  einer 
als  sie  allein  es  verstehe": 

Gewiss  ich  wäre  schon  so  ferne,  ferne. 
So  weit  die  weit  nur  offen  liegt,  gegangen. 
Bezwängen  mich  nicht  übermächt'ge  sterne, 
Die  mein  geschick  an  deines  angehangen, 
Dass  ich  in  dir  nur  erst  mich  kennen  lerne. 
Mein  dichten,  trachten,  hoffen  und  verlangen 
Allein  nach  dir  und  deinem  wesen  drängt, 
Mein  leben  nur  an  deinem  wesen  hängt. 

Unglaublich  scheint  es,  Goethe  habe  ernstlich  daran  gedacht,  diese 
stanze,  die  das  gefühl  seiner  unzertrennlichkeit  von  der  freundin  so 
ergreifend  ausspricht,  in  das  gedieht  von  den  mittelalterlichen  rosen- 
kreuzern  aufzunehmen;  unter  dem  launigen  verwände,  die  verse,  zu 
denen  ihn  die  Sehnsucht  nach  der  geliebten  gedrängt,  gehörten  zu  dem 
versprochenen  religionsgedichte,  ergriff  er  die  gelegenheit,  sie  dieser  zu 
übersenden.  Wenige  tage  später  heisst  es  in  einem  weiteren  briefe: 
„Ich  habe  wider  einige  Strophen  des  gedieh ts  geschrieben,  das  mir 
eine  grosse  erholung  ist,  wenn  ich  ferne  von  dir  bin.  Welche  freude 
werde  ich  haben,  wenn  du  damit  zufrieden  bist;  denn  für  dich  schreibe 
ich  es.  Das  wenige,  was  du  in  deinem  vorigen  briefe  darüber  [über 
den  prolog]  gesagt  hast,  hat  mir  unendliche  freude  gemacht."  Nun 
hat  Scholl  sehr  glücklich  vermutet,  die  stanzen,  aufweiche  diese  äusse- 
rung  gehe,  seien  die  drei,  die  sich  im  nachlass  der  frau  von  Stein  auf 
zwei  blättern  von  Goethe's  band  gefunden,  wovon  die  zweite  des  ersten 
blattes  die  zweite  unserer  „Geheimnisse"  ist.  Die  blätter  wird  er 
seinem  briefe  beigelegt  haben.  Im  jähre  1820  erschien  in  „Kunst  und 
altertum"  unmittelbar  nach   dem  von  Goethe  für  noch  ungedruckt  ge- 


GOETHES    GEHEIMNISSE  491 

haltenen  gedichte  „Die  glücklichen  galten ",    hier  „Für's  leben"   über- 
schrieben, die  stanze: 

Denn  was  der  mensch  in  seinen  erdeschranken 
Yon  hohem  glück  mit  götternamen  nennt, 
Die  harmonie  der  treue,  die  kein  wanken, 
Der  freundschaft,  die  nicht  zweifelsorge  kennt. 
Das  licht,  das  weisen  nur  zu  einsamen  gedanken. 
Das  dichtem  nur  in  schönen  bildern  brennt. 
Das  hatt'  ich  all  in  meinen'  besten  stunden 
In  Ihr  entdeckt  und  es  für  mich  gefunden. 
Sie  trug  hier  die  Überschrift  „Für  ewig"   und  es  folgten  die  wol  dadurch 
veranlassten  verse  an  frau  von  Stein  „Zwischen  beiden  weiten".     Die 
ausgäbe  letzter  band   gab   im   letzten  verse  ihr  statt  des  handschrift- 
lichen   Ihr.     Baumgart    war  verwegen   genug,    für   Ihr    oder    ihr   zu 
setzen  Euch  und  ebenso  eigentümlich  zu  behaupten,  für  Euer  schiebe 
sich  dich  ein,   alles  nur  zu  gunsten  seines  einfalls,    die  stanze  sei  als 
begründung  der  letzten  des  prologs,  der  jetzigen  „Zueignung",  gedich- 
tet.    Um  das  mass  philologischer  Sünden    zu  füllen,    wird    die  stanze 
des  prologs  nicht  in   der  ursprünglichen  gestalt  von  1784,    sondern  in 
derjenigen    angeführt,    die    sie    erst    in   Italien    erhielt.      Ursprünglich 
schloss  der  prolog  mit  dem  ruf  an  die  freunde: 

0  kommt  mit  mir  und  bringt  mir  reichen  sogen. 
Mit  dem  allein  mein  leben  ihr  beglückt. 
Geht  froh  mit  mir  dem  nächsten  tag  entgegen: 
Noch  leben  wir,  noch  wandeln  wir  entzückt, 
Und  auch  dann  soll,  wenn  enkel  um  uns  trauern, 
Zu  ihrer  lust  noch  unsre  liebe  dauern. 
Dass  unmittelbar  darauf  jene  stanze  habe  folgen  können,    scheint  mir 
geradezu  abenteuerlich,    wenn   man  auch  wirklich  das  feststehende  Ihr 
in  Euch  verwandelt;    auch   heisst  es,    den  offenbaren  sinn  der  stanze 
verkehren,    wenn  man  in  ihrer  zweiten  hälfte    den  Übergang   zu    den 
„Geheimnissen"  sieht.     Baumgart  behauptet,    „sicherhch"   habe  Goethe 
erst  1820   das   ursprüngliche  dir  in  ihr  geändert.     Aber  wie  will   er 
beweisen,    dass   das   blatt,    worauf   die   verse  in  deutschen  buchstaben 
sich  finden  (es  ist  noch  vorhanden),  so  spät  geschrieben  sei?     Freilich 
ist  es  auch  unmöglich,   nicht  bloss  des  ihr  wegen,    dass  sie,  wie  man 
angenommen   hat,    unmittelbar  auf  die  stanze   „Gewiss  ich  wäre"  ge- 
folgt: sie  ist  für  sich  trotz  des  beginnenden  „Denn"  entstanden. 

Überraschen  muss  es,    wie  nach  Baumgart  an   den   schluss  jener 
stanze  „Für  ewig",    an  die  beteurung,    in  seinen  besten  stunden  habe 


49 '2  DüNTZER 

er  in  jener  einzigen  das  göttliche  glück  gefunden,  sich  die  stanze  „Ge- 
wiss, gewiss"  unmittelbar  angeschlossen  haben  soll,  „mit  oder  ohne 
welche  das  gedieht  folgerichtig  weiter  zur  ankündigung  des  liedes 
selbst  fortschreite",  das  „jenes  licht  der  erkenntnis  in  reichen  bildern 
den  freunden  in  mannigfach  wechselnden  färben  kunstroU  geordneter 
brechung  widerspiegeln  soll".  Der  sprung  von  frau  von  Stein  auf  die 
Zuhörer  wäre  gar  zu  auffallend,  während  nach  dem  jetzigen  treffenden 
abschlusse  durch  die  anrede  an  die  freunde  das  gedieht  ganz  zweck- 
mässig mit  der  ankündigung  des  ernst  wunderbaren  liedes  beginnt, 
da  ein  Übergang  unnötig  war.  Wie  Baumgart  hier  von  einer  „unter- 
brochenen Publikation"  sprechen  kann,  sehe  ich  nicht.  Die  erste  ein- 
leitungsstanze  bezeichnet  ausser  dem  wunderbaren  Charakter  des  das 
unmittelbare  eingreifen  der  band  der  Vorsehung  voraussetzenden  liedes 
den  mannigfachen  Inhalt,  der  abzuschweifen  scheinen  könne,  aber  sei- 
nem ziele  beständig  zustrebe  und  eine  wichtige  mahnung  dem  zuhörer 
gebe;  vom  „widerspiegeln  in  mannigfach  wechselnden  färben  kunstvoll 
geordneter  brechung"  ist  hier  keine  andeutung.  Übrigens  scheint  es 
mir  ebensowenig  wahrscheinlich,  dass  Goethe  ernstlich  diese  stanze  für 
sein  grosses  gedieht  bestimmt  habe,  wie  ich  es  von  der  stanze  „Gewiss 
ich  wäre"  annehmen  kann. 

Die   zweite  stanze    des  liedes,    die    wir   schon    auf   dem    zweiten 
jener  blätter  finden: 

Doch  glaube  keiner,  dass  mit  allem  sinnen 

Das  ganze  lied  er  je  enträtseln  werde; 

Gar  viele  müssen  vieles  hier  gewinnen. 

Gar  manche  bluten  bringt  die  mutter  erde. 

Der  eine  flieht  mit  düsterm  blick  von  hinnen, 

Der  andre  weilt  mit  fröhlicher  geberde; 

Ein  jeder  soll  nach  seiner  lust  geniessen. 

Für  manchen  wandrer  soll  die  quelle  fliessen, 
deutet  auf  den  verborgenen  sinn,  den  keiner  ganz  verstehen  werde, 
doch  bringe  es  für  die  verschiedensten  neigungen  etwas  erfreuliches. 
Sie  gehört  eben  nicht  zu  den  gelungenen  und  wahrhaft  gehaltvollen, 
gewinnt  auch  keineswegs  durch  Baumgart's  willkürliche  beziehung  auf 
„die  einzigartige  auffassung  des  innersten  wesens  der  religion,  die  auf 
der  einen  seite  ebenso  philosophisch  frei  von  allen  schranken  der  be- 
kenntnisse  erscheinen  konnte,  als  auf  der  andern  mystisch  gläubig 
gegenüber  ihren  mythen  und  Symbolen,  und  die  so  der  freudigen  auf- 
nähme der  einen  ebenso  sicher  sein  konnte  als  der  heftigen  ablehnung 
der  anderen,    einer  gewissen  befremdung  sich  zunächst  aber  bei  allen 


GOETHES    GEHEIMNISSE  493 

versehen  musste".  Von  alle  dem  sehe  ich  keine  spur.  Ebensowenig 
kann  ich  zugeben,  es  habe  im  plane  der  dichtung  gelegen  „in  hervor- 
ragenden Zügen  der  mythischen  Überlieferung  eine  jede  religion  gewis- 
ser massen  ihr  eigenes  Avesen  aus  sich  selbst  heraus  zeichnen  zu  lassen, 
indem  die  kunst  der  darstellung  gleichsam  wie  durch  den  feinsten 
schliff  das  verborgene  feuer  des  edelsteins  zur  leuchtkraft  brachte". 
Die  zwölf  verschiedenen  religionen  beruhen  ja,  wie  wir  sahen,  auf 
einem  sonderbaren  einfalle  des  sechszigjährigen,  sich  selbst  erklärenden 
dichters,  dessen  schlussbemerkimg  aber  weit  entfernt  ist,  dasselbe  zu 
sagen,  was  Baumgart  behauptet,  wie  dieser  vorgibt. 

Noch  haben  wir  der  dritten  stanze  zu  gedenken,  die  in  Goethe's 
handschrift  auf  dem  zweiten,  im  august  1784  an  frau  von  Stein  ge- 
sandten blatte  steht: 

"Wohin  er  auch  die  Blicke  kehrt  und  wendet. 

Je  mehr  erstaunt  er  über  kunst  und  pracht; 

Mit  Vorsatz  scheint  der  reichtum  hier  verschwendet; 

Es  scheint,  als  habe  sich  nur  alles  selbst  gemacht. 

Soll  er  sich  wundern,  dass  das  werk  vollendet? 

Soll  er  sich  wundern,  dass  es  so  erdacht? 

Ihn  dünkt,  als  fang'  er  erst  mit  himmlischem  entzücken 

Zu  leben  an  in  diesen  augenblicken. 
Als  Goethe  im  vierten  bände  der  ausgäbe  letzter  hand  viele  noch 
ungedruckten  gedichte  unter  der  Überschrift:  „Inschriften,  denk-  und 
Sendeblätter"  erscheinen  liess,  gab  er  gegen  den  schluss  auch  unsere, 
auf  einem  besonderen  blatte  ohne  Überschrift  gefundenen  verse.  Es 
ist  ein  leidiges  versehen,  wenn  wir  bei  Baumgart  lesen:  „Die  strophe 
ist  mit  dem  datum  15.  märz  1816  veröffentlicht."  Nicht  dieses  gedieht, 
sondern  das  zunächst  vorhergehende  trägt  mit  recht  die  Überschrift: 
„Bilderscenen.  Den  15.  märz  1816  bei  freiherrn  von  Helldorf."  Mit 
diesem  versehen  fällt  auch  die  darauf  gegründete  Vermutung.  Im 
Inhaltsverzeichnis  heisst  das  gedieht  „Anzuwenden",  was  bedeuten  soll 
man  könne  die  strophe  als  bezeichnung  jeder  vollendeten  kunstdarstel- 
lung  gebrauchen,  wie  es  z.  b.  jene  lebenden  bilder  bei  Helldorf  gewe- 
sen waren.  Die  früher  als  jene  Inhaltsangabe  geschriebenen  „aufklä- 
renden bemerkungen"  nennen  unsere  stanze  „ein  bruchstück,  das  aber 
der  denkende  anzuschliessen  wissen  wird."  Das  kann  nur  heissen,  der 
leser  werde  sich  eine  beziehung  derselben,  einen  Zusammenhang,  in 
welchen  sie  passten,  leicht  denken.  Seltsam  äussert  Baumgart:  „Was 
hätte  den  dichter  bestimmt,  erstlich  die  strophe  [beim  drucke  der  „Ge- 
heimnisse"] fortzulassen,    und  sodann  sie  nach  so   langer  zeit   getrennt 


494  DÜNTZEE 

bekannt  zu  geben,  die,  wenn  sie  lediglich  descriptiver  natur  wäre  (?), 
auf  eine  bedeutung,  aus  der  sich  für  den  denkenden  eine  beziehung 
ergäbe,  keinen  anspruch  hätte!"  Er  hätte  doch  sich  selber  sagen  sollen, 
dass  der  dichter,  dem  es  darauf  ankam,  von  der  ausgäbe  letzter  band 
nichts  mitteilbares  auszuschliessen,  was  sich  in  seinem  archiv  fand, 
durch  jene  bemerkung  die  aufnähme  dieser  abgebrochenen  stanze  ent- 
schuldigen wollte.  Aber  Baumgart  fragte  nicht  einmal,  wo  und  wann 
Goethe  sie  habe  drucken  lassen.  Er  meint,  der  dichter  habe  sie  bei 
Veröffentlichung  des  bruchstücks  weggelassen,  weil  sie  die  Vollendung 
des  ganzen  voraussetze  [doch  nicht  mehr,  als  es  die  erste  stanze  tut], 
dagegen  habe  sie  nachträglich  für  die  Würdigung  des  ganzen,  zumal 
nach  seiner  erklärung,  doch  immer  ihre  bedeutung  gehabt.  Dann 
aber  hätte  Goethe  doch  ausdrücklich  bemerken  müssen,  sie  habe  zu 
den  „Geheimnissen"  gehört,  was  er  kaum  noch  wusste  oder  nicht  für 
bedeutend  genug  hielt. 

Noch  erstaunlicher  ist  es,  wie  Baumgart  unsere  stanze  unmittel- 
bar auf  die  zweite  der  „Geheimnisse"  folgen  lässt,  auf  den  vers  „Eür 
manchen  wandrer  soll  die  quelle  fliessen",  wonach  der  er  dieses  ver- 
ses  der  wanderer  wäre,  der  mit  fröhlicher  geberde  verweilt  und  mit 
lust  der  im  liede  ihm  fliessenden  quelle  geniesst,  was  ein  offenbares 
missverständnis  des  bildlichen  ausdrucks  von  dem  am  quell  sich  laben- 
den Wanderer  voraussetzt.  Ygl.  Klopstock  in  der  ode  Mein  wissen: 
„Ist  wie  ein  trunk,  im  kühlen  geschöpft  aus  der  quelle."  Geradezu 
unmöglich  scheint  es  mir,  die  stanze  von  einer  vorgetragenen  dich- 
tung,  und  dazu  von  einer  eigenen  zu  verstehen:  erscheint  sie  ja  nicht 
bloss  als  volltönendes  lob  des  reichtums  und  der  pracht,  sondern  es 
ist  von  einem  menschliche  kunst  übersteigenden  werke  die  rede.  Aber 
unser  erklärer  wird  gerade  durch  das  nicht  bloss  im  ersten  augenblick 
befi'emdende  in  seiner  annähme  bestätigt,  das  lied  solle  nicht  eigene 
erdichtung  bringen,  sondern  in  der  fülle  der  wundervollsten  schätze 
der  phantasie  alle  Völker  und  zeiten,  die  es  wie  absichtslos  hinstreue, 
dem  erhabensten  ziele  näher  kommen.  Wäre  dies  auch  wahr,  was  wir 
als  entschiedene  missdeutung  abweisen  müssen,  die  stanze  spricht  von 
einer  alle  menschliche  kunst  übersteigenden,  himmlischen  Vol- 
lendung und  ganz  einziger  vortrefflichkeit  des  erdenkens.  Freilich 
darin  hat  Baumgart  recht,  dass  sie  nicht  in  unsere  jetzige  dichtung  passt 
und  weder  nach  stanze  7  noch  nach  36  ihre  stelle  gehabt  haben  kann, 
aber  er  übersieht,  dass  sie  in  den  august  1784  fällt,  in  die  zeit,  wo 
Goethe  zwar  einzelne  stanzen  versuchte,  aber  nicht  die  fortschreitende 
ausarbeitung  von  anfang  an  sich  vorgesetzt  hatte,    er  nur  daran  sann. 


GOETHES    GEHEIMNISSE  495 

höchstens  hie  und  da  eine  stanze  ausführte,  die  sich  meist  auf  frau 
von  Stein  bezogen.  Hier  scheint  der  dichter,  dem  wunderbaren  Cha- 
rakter der  einen  unmittelbaren  einfluss  der  Vorsehung  voraussetzenden 
dichtung  gemäss,  das  kloster  als  einen  von  jener  selbst  übernatürlich 
geschaffenen  bau  sich  gedacht  zu  haben,  ähnlich  wie  den  tempel  des 
gral  auf  dem  Mont  Salvage.  In  der  erläuteriing  von  1816  nennt  er 
ihn  noch  „ein  herrliches  gebäude".  Bei  der  ausführung  wurde  dessen 
äussere  beschreibung  ganz  übergangen,  nur  das  rosenkreuz  über  dem 
bogen  der  pforte  geschildert. 

Auf  die  „Geheimnisse"   habe  ich  selbst  früher  die   stanze  bezo- 
gen, welche  1820  in  „Kunst  und  altertum"    auf  der  rückseite  des  be- 
sondern titeis  „Litterarische,  poetische  mitteilungen"  als  motte  steht: 
Unmöglich  ist  der  tag  dem  tag  zu  zeigen. 
Der  nur  verworrnes  im  verworrnen  spiegelt. 
Und  jeder  selbst  sich  fühlt  als  echt  und  eigen. 
Statt  sich  zu  zügeln,  nur  am  andern  zügelt. 
Da  ist's  den  lippen  besser  denn  zu  schweigen, 
Indess  der  geist  sich  fort  und  fort  beflügelt. 
Aus  gestern  wird  nicht  heute,  doch  aeonen, 
Sie  werden  wechselnd  sinken,  werden  thronen. 
Baiimgart  ist  mir  darin  gefolgt,  nur  meint  er,  die  „höchst  persönliche 
Schlusswendung"    der  beiden  letzten  verse  habe  Goethe  damals   durch 
eine  andere  ersetzt,  was  sich  auch  daraus  ergeben  soll,  dass  die  jetzige 
aus    dem   gedankenzusammenhange    und    dem  jugendfrischen    ton    der 
sechs  ersten  herausfalle.    Der  gedanke  dieser  stanze  solle  den  abschluss 
der  ankündigung  des  so  grossartig  und  hochsymbolisch  angelegten  lie- 
des  bilden,    sie  schliesse  sich  als  ein  „jedoch"  an,    dass  er  das  licht, 
das  dem  dichter  in  den  geweihten  stunden  des  ideentausches  mit  den 
freunden  aufgegangen  sei,    auch  den  mitlebenden,    den  brüdern  zeigen 
wolle.     Aber  es  wäre  ein  arger  sprung,  wenn  die  stanze  an  das  über- 
spannte lob    des    eigenen  liedes  anschlösse.     Meine  eigene  Vermutung, 
dass  sie  im  prolog  gestanden,   nehme  ich  jetzt  zurück,    da  die  mittler- 
weile bekannt  gewordene  ursprüngliche  fassung  gezeigt,   dass  sie  sich 
nicht  darin  gefunden,  ja  ich  bezweifle  überhaupt,  dass  die  in  der  ausgäbe 
letzter  band  „Heut  und  ewig"  überschriebenen  verse  für  die  „Geheim- 
nisse" gedichtet  worden.     Sie  sind  selbständig  für  sich  entstanden,  wie 
so  manche  sprüche.     Der  stanzenform  bediente  sich  Goethe  auch  1817 
in  den  „Urworten",    die  mit  dem  verse  schliesseu:    „Ein  flügelschlag ! 
und   hinter  uns  aeonen."     Dass  die  schlussweudung    zu    dem  anfang 
der  stanze  nicht  stimme,  dass  hier  vielmehr  gesagt  sein  müsse,  wovon 


496  DDNTZER 

in  jenem  wunderbaren  liede  die  rede  sein  werde,  müssen  wir  entschie- 
den abweisen.  Der  schluss  führt  aus,  wie  der  geist  sich  immerfort 
beflügle,  die  entwicklung  zwar  nicht  über  nacht  geschehe,  von  gestern 
auf  heute,  sondern  in  längeren  Zeiträumen,  in  aufeinanderfolgenden 
ungeheuer  langen  perioden.  Aeonen  werden  wechselnd  schwinden 
und  sich  erheben,  was  an  Schillers  wort  von  dem  lebendig  über  der 
weit  webenden  höchsten  gedanken,  den,  ob  alles  im  ewigen  Wechsel 
kreise,  im  Wechsel  beharrenden  ruhigen  geist  erinnert. 

Aber  Baumgart  hat  einen  hülfsbeweis  entdeckt,  dass  alle  vier 
hier  besprochenen  stanzen  zu  unserem  grossen  gedichte  gehörten  und  wir 
darin  alles  besässen,  „was  Goethe  bei  der  Zusammenstellung  des  bruch- 
stücks  weggelassen,  weil  es  die  ganz  persönliche  wendung  enthalte 
oder  unmittelbar  vorbereite  (?)".  Wir  müssen  diesen  hülfssatz  wörtlich 
mitteilen,  um  seine  haltlosigkeit  und  den  mangel  aller  bei  anführung 
der  Überlieferung  nötigen  philologischen  genauigkeit  zu  zeigen.  Wir 
lesen  s.  3fg. :  „Riemer  berichtet,  dass  von  den  „Geheimnissen"  bis  zum 
märz  [im  Januar  und  märz]  1785  48  stanzen  geschrieben  worden,  wäh- 
rend das  gedieht,  wie  es  uns  vorliegt,  die  zwei  Avidmungsstrophen  ein- 
gerechnet, aus  44  stanzen  besteht.  Doch  hat,  wie  es  scheint,  uns 
Goethe  diese  vier  gestrichenen  Strophen  nicht  vorenthalten  wollen, 
deren  Zurückhaltung,  zum  teil  wenigstens,  noch  durch  den  zweiten 
umstand  veranlasst  wurde,  dass,  wenn  in  seinem  herzensgrunde  er  die 
gesammte  dichtung  ganz  ausschliesslich  an  die  geliebte  freundin  rich- 
tete, dies  doch  den  übrigen  freunden  gegenüber  nicht  hervortreten 
sollte."  Hier  beruht  alles  auf  missverständnis,  die  rechnung  ist  falsch. 
Schon  die  berufung  auf  Riemer  statt  auf  dessen  längst  vorliegende  quelle 
fällt  auf;  wäre  Baumgart  auf  diese  zurückgegangen,  so  würde  er  auch 
gewusst  haben,  dass  Goethe  nach  den  48  noch  drei  weitere  stan- 
zen gedichtet  hat.  Und  hätte  er  die  entstehung  des  gedichts  ge- 
nauer verfolgt,  so  würde  er  gefunden  haben,  dass  bei  diesen  48  oder 
vielmehr  51  stanzen  nur  diejenigen  gezählt  sind,  welche  er  seit  dem 
anfange  des  Jahres  1785  gemacht  hatte,  wo  er  die  fortlaufende  arbeit  an 
den  „Geheimnissen"  begann,  dagegen  von  den  einzelnen,  im  august 
1784,  meist  mit  persönlicher  beziehung  auf  frau  von  Stein,  gedichteten 
stanzen  nur  eine  im  gedichte  aufnähme  fand,  also  wirklich  mehr  als 
vier  der  1785  entstandenen  stanzen  beim  drucke  ausgefallen  sind. 

Die  vier  letzten  monate  des  Jahres  1784  ruhte  die  dichtung  der 
„Geheimnisse"  völlig,  da  Goethe  nicht  die  gefasste  Stimmung  fand, 
welche  die  ausfiihrung  einer  so  bedeutenden  arbeit  notwendig  forderte. 
Auf  dem  Harze  fesselte  ihn  die  steinweit;   leidenschaftlich  sammelte  er 


GOETHES   GEHEIMNISSE  497 

die  verschiedenen  steinarten,  ihre  nähere  betrachtung  sollte  ihn  den 
winter  unterhalten.  In  Weimar  und  Ilmenau  zogen  ihn  ganz  andere 
dinge  an  als  diese  hohe  dichtung.  Zunächst  drängte  es  ihn,  das 
ursprüngliche  fünfte  buch  von  „"Wilhelm  Meister"  zu  vollenden,  woran 
auch  frau  von  Stein  lebhaften  anteil  nahm.  Am  16.  Oktober  konnte 
er  dieser  melden,  das  fünfte  buch  sei  fertig;  am  Schlüsse  des  monats 
begann  er  das  sechste.  Vorher  hatte  er  die  bedeutende  abhandlung 
„Vom  Zwischenknochen  beim  menschen"  vollendet.  In  demselben  monat 
zog  ihn  der  von  Jacobi  ihm  in  der  handschrift  geschickte  dialog  des 
ihm  persönlich  bekannt  gewordenen  platonischen  philosophen  Hemster- 
huis  „Alexis  ou  de  Tage  d'or"  an.  Abends  las  er  in  dieser  dichtung 
mit  der  freundin,  gegen  die  er  sie  „die  Geheimnisse"  nennt,  „die  mit 
deinem  geiste  so  viele  Verwandtschaft  haben".  Er  entsprach  auch  dem 
würdigen  tone,  der  freilich  weniger  empfindsam  in  seinem  grossen 
gedieh te  herrschen  sollte,  für  das  er  aber  damals  noch  nicht  diesen 
namen  bestimmt  hatte.  Daneben  labte  er  sich  an  der  „Ethik"  des  Spi- 
noza, des  heiligen  der  kleinen,  aus  ihm,  Herder  und  frau  von  Stein 
bestehenden  gemeinde.  Dichterisch  fand  er  sich  nur  zu  epigrammen 
im  geiste  der  griechischen  anthologie  aufgelegt.  Am  19.  dezember 
fühlte  er  sich  so  wol,  wie  lange  nicht  in  diesem  seiner  gesundheit 
meist  so  ungünstigen  monate.  „Meine  neue  vorstellungsart  trägt  nicht 
wenig  dazu  bei",  schrieb  er.  Diese  bezog  sich  auf  die  in  allen  drei 
naturreichen  übeinstimmend  herrschenden  gesetze. 

Erst  bei  der  Jahreswende,  am  letzten  tage  oder  neujahr  1785, 
scheint  er  frau  von  Stein  das  versprechen  gegeben  zu  haben,  täglich 
eine  stanze  der  „Geheimnisse"  zu  dichten,  damit  das  ganze  am  ende 
des  Jahres  vollendet  sei.  Den  4.  Januar  schrieb  er  dieser:  „In  die 
komödie  will  ich  dir  folgen,  wie  überallhin.  Gestern  abend  hab'  ich 
noch  drei  stanzen  gemacht."  Ob  es  die  ersten  des  Jahres  waren. 
ergibt  sich  nicht.  Das  waren  die  ersten  zeilen  dieses  Jahres  an  die  freun- 
din. Leider  gehört  dieser  brief  zu  den  vielen,  die  in  der  Weimarischen 
ausgäbe,  da  sie  undatiert  überliefert  sind,  eine  falsche  Stellung  erhalten 
haben;  er  ist  dort  mit  Fielitz  wider  alle  möglichkeit  in  den  märz  oder 
april  gesetzt,  auch  der  schluss  falsch  gelesen.  Baumgart  scheint  den 
brief  gar  nicht  zu  kennen.  Dass  er  in  den  anfang  des  Jahres  gehört, 
zeigt  schon  die  erwähnung  des  kornes  und  holzes,  das  die  hofleute 
jährlich  von  der  kammer  erhielten.  Die  holzlieferung,  heisst  es  am 
Schlüsse,  werde  er  erinnern,  wenn  der  herzog,  der  zu  allgemeinem 
Unwillen  so  lange  von  Weimar  entfernt  blieb,  zurückkehre,  was  erst 
am  11.  Januar  geschah.     Der  schauspieldirektor  Bellomo  spielte  zu  Wei- 

ZEIXSCURIFT    V.    DEUTSCHE    PiULOLOGIE.     BD.  XXVUI.  o2 


498  DÜNTZER 

mar  dienstags,  donnerstags  und  sonnabends.  Den  4.  war  theatervor- 
stellung;  am  folgenden  theaterabend  lud  Goethe  frau  von  Stein  und 
Herder  zu  sich  ein.  In  den  weiter  erhaltenen  briefen  an  frau  von 
Stein  vom  6.,  9.  und  11.  ist  der  dichtung  gar  nicht  gedacht;  sie  war 
durch  manches  andere  verdrängt;  nur  der  Umgang  mit  frau  von  Stein 
und  Herder  und  seine  „  naturstudien "  gewährten  ihm  wahre  freude, 
dichterisch  fühlte  er  sich  am  wenigsten  gestimmt.  Er  litt  an  den 
geschäften  wie  „an  Ixions  rad".  Die  teilnähme  des  herzogs  am  für- 
stenbunde  war  ihm  zuwider,  und  doch  musste  er  bei  den  Verhandlun- 
gen als  geheimschreiber,  ja  als  abschreiber  dienen;  er  grollte  Karl 
August,  der  auch  von  der  prinzenkrätze  der  kriegslust  ergriffen  sei, 
und  sein  land  zu  gründe  richten  werde.  Erst  beim  beginn  des  früh- 
lings, in  der  karwoche,  kehrte  er,  eben  von  einem  zahnleiden  befreit, 
zu  den  „Geheimnissen"  zurück.  Am  22.  märz  schrieb  er  der  freuu- 
din:  „Was  ich  ohne  dich  habe,  ist  mir  alles  nur  verlust."  Auf  den 
abend  lud  er  sie  und  Herder  nebst  frau  zu  sich  ein.  Damals  scheint 
er  der  ersteren  das  versprechen  erneuert  zu  haben,  an  den  „Geheim- 
nissen" fortzuarbeiten,  jetzt  täglich  zwei  stanzen  zu  dichten,  so  dass 
die  zahl  der  stanzen  bald  die  der  Jahrestage  (am  22.  waren  es  81) 
erreichen  werde.  In  den  vier  tagen  vom  23.  bis  zum  26.  fehlen  alle 
briefe.  Am  morgen  des  27.,  des  ostertags,  meldet  er  der  freundin: 
„Meine  beiden  verse  hab'  ich  für  heute  gefertigt,  bin  nun  bis  ascher- 
mittwoch  [er  war  1785  der  vierzigste  tag]  gekommen.  Die  kinderei 
hilft  mir,  und  die  leeren  tage  im  kalender  geben  mir  ein  unüberwind- 
liches verlangen,  das  versäumte  nachzuholen.  Tags  darauf  berichtete 
er  Knebel:  „Auch  bin  ich  wider  fleissig  an  meinem  grossen  gedichte 
gewesen,  und  bin  bis  zur  40.  Strophe  gekommen.  Das  ist  wol  noch 
sehr  im  vorhofe.  Das  unternehmen  ist  zu  ungeheuer  für  meine  läge, 
indessen  will  ich  fortfahren  und  sehen,  wie  weit  ich  komme."  Als 
Goethe  sich  zur  fortsetzung  entschloss,  dürfte  das  gedieht  nur  bis  zum 
empfange  des  bruders  Markus  im  kloster  fertig  gewesen  sein,  bis  zur 
jetzigen  12.  stanze;  ostern  war  wol  die  lauge  rede  des  alten  (stanze 
13  —  32)  vollendet,  am  ostertage  selbst  31  und  32  gedichtet.  Dies 
stimmt  zur  bezeichnung  der  32.  als  der  40.,  bei  der  annähme,  dass 
die,  wie  wir  sahen,  bei  der  späteren  Zusammenstellung  weggelassenen 
in  den  ersten  teil  der  dichtung  fallen;  bestätigt  wird  sie  durch  das, 
was  wir  von  der  fortsetzung  hören.  Nach  einem  briefe  an  frau  von 
Stein  gelang  dem  dichter  am  28.  nur  eine  stanze;  das  wäre  die  ganz 
für  sich  stehende  stanze  33.  Wenn  Goethe  am  morgen  des  2.  april 
Knebel  berichtet:  „Ich  habe  48  stanzen  an  meinem  gedichte,  so  müssen 


GOETHES   GEHEIMNISSE  499 

vom  29.  niärz  bis  zum  1.  april  acht  neue  entstanden  sein,  34  bis 
41.  Den  2.  april  konnte  er  vor  Schlafengehen  noch  drei  stanzen  „vor- 
arbeiten", v^ie  er  in  bezug  auf  das  zurückbleiben  hinter  der  zahl  der 
Jahrestage  der  freundin  schreibt;  es  sind  die  enge  zusammengehörigen 
42  —  44.  Bei  seinem  leidenden  zustande  und  der  halben  Verzweiflung 
an  den  Weimarer  zuständen,  da  er  fürchtete,  die  finanzen  des  landes, 
die  er  mit  anspannung  aller  kraft  wider  gehoben,  würden  durch  Karl 
Augusts  auswärtige  plane  zu  gründe  gerichtet  werden,  konnte  er  zu 
keiner  ruhigen  tätigkeit  gelangen,  am  wenigsten  seine  so  bedeutende 
dichtung  weiter  führen.  Bei  der  krampfhaften  aufregung,  an  der  er 
litt,  ist  es  nicht  zu  verwundern,  wenn  auch  nicht  alle  wirklich  gedich- 
teten stanzen  gelungen  waren. 

Baumgart  hat  nicht  bloss  von  der  wirklichen  entstehung  des  gedich- 
tes,  wie  sie  in  den  briefen  an  frau  von  Stein  nnd  Knebel  vorliegt,  keine 
ahnung,  er  entstellt  sie  noch  durch  einen  unglücklichen  einfall.  Bei 
erwähnung  des  zweiten  hauptmotivs,  das  stanze  33  nur  skizziert  werde, 
hören  wir:  „Es  geht  wol  auf  ,die  Geheimnisse',  was  Goethe  anfangs 
juni  1785  an  Herder  schrieb:  „Hier  schick'  ich  dir,  was  du  wol  noch 
nicht  gelesen.  Ich  konnte  es  nicht  einmal  endigen,  geschweige  durch- 
arbeiten; deswegen  fehlt  den  versen  noch  hier  und  da  das  runde  und 
glatte."  Freilich  war  der  betreffende  brief  früher  nach  falscher  Vermu- 
tung in  den  juli,  von  der  Weimarischen  ausgäbe  in  den  mai  1785 
gesetzt  worden,  aber  Suphan  hatte  schon  1881  in  der  bedeutenden 
abhandlung  „Goethe  und  Spinoza  1783  — 1786"  nachgewiesen,  dass 
er  ende  1783  gehöre,  was  Banmgart,  wenn  ihm  jene  abhandlung  ent- 
gangen war,  im  siebenten  bände  der  Weimarischen  ausgäbe  der  briefe 
bemerkt  finden  konnte,  wo  er  zum  zweiten  mal,  an  richtiger  stelle, 
gedruckt  w^orden.  Suphan  hatte  die  äusserung  in  dem  späteren  aufsatze 
„Ilmenau"  auf  das  ebenso  überschriebene  gedieht  bezogen.  Dass  die- 
selbe gar  nicht  auf  eine  dichtung  Goethes,  sondern  auf  eine  Übersetzung 
aus  dem  arabischen  geht,  habe  ich  Ztschr.  XXYII,  76  gezeigt.  Von 
diesem  allen  weiss  Baumgart  nichts.  Wie  haltlos,  abgesehen  von  die- 
ser zeitlichen  Unmöglichkeit,  seine  Vermutung  ist,  mag  ich  nicht  aus- 
führen. Er  aber  bedenkt  sich  nicht,  „in  hohem  masse  ein  solches  prä- 
liminarisches  aussehen"  in  stanze  33  zu  finden,  besonders  soll  die 
letztere  den  eindruck  eines  blossen  füUwerkes  hervorrufen;  stellen  der- 
selben aus  dem  epischen  ton  herausfallen,  weil  der  ausdruck  schlicht 
und  einfach,  freilich  auch  durch  die  reimnot  etwas  gezwungen,  ja,  man 
kann  es  gestehen,  weniger  gelungen  ist. 

32* 


500  DtJNTZEß 

Ergibt  sich  so  eine  ganze  reihe  der  aufstellungen  Baumgarts  als 
folge  des  mangels  an  philologischer  genauigkeit  und  offenbarer  Irrtümer, 
so  ist  leider  auch  das  missverständnis  des  titeis  des  gedichts  für 
seine  deutung  verhängnissvoll  geworden.  „Die  geheimnisse''  ist  ein 
Goethe  gangbarer  ausdruck  für  mysterien,  geheimdienst.  Am  24.  juni 
1781  schreibt  er  der  frau  von  Stein:  „Heute  abend,  ehe  ich  mich  in 
die  Geheimnisse  vertiefe,  bringe  ich  dir  meine  Schlüssel*',  wo  die  Jo- 
hannisloge  gemeint  ist.  Wenn  er  am  9.  november  mit  frau  von  Stein 
in  den  „Geheimnissen"  lesen  will,  so  ist,  wie  schon  bemerkt,  vom 
dialog  „Alexis  ou  de  Tage  d'or"  des  Hemsterhuis  die  rede.  Unsere 
dichtung  erhielt  diesen  namen  erst,  als  Goethe  sie  zum  drucke  bestimmte. 
Herders  gattin,  die  sie  längst  kannte,  nennt  sie,  als  sie  ihrem  gatten 
am  12.  September  1788  berichtete,  Goethe  habe  im  Lengefeld'schen 
hause  zu  Rudolstadt  in  Schillers  gegenwart  das  bruchstück  hergesagt, 
„Das  gedieht  von  den  rosenkreuzern",  wie  es  Goethe  selbst  genannt 
haben  wird.  Ton  seinen  edlen  rosenkreuzern  sollte  die  allgemeine  Ver- 
breitung der  wahren  christlichen  Sittenlehre  ausgehen.  Das  gedieht  fiel 
in  die  zeit,  wo  der  gehemmissvolle  orden  der  rosenkreuzer  sehr  viel 
von  sich  reden  machte,  wo  die  Schriften  „Der  rosenkreuzer  in  seiner 
blosse  zum  nutzen  der  Staaten  dargestellt"  und  „Der  im  Licht  der  weit 
dargestellte  rosenkreuzer,  allen  lebenden  menschen  hingestellt"  lebhafte 
aufmerksamkeit  erregten.  Aber  Baumgart  behauptet,  in  demselben 
sinne,  wie  Herder  in  den  „Ideen"  (IX,  5)  von  der  „Geschichte 
aller  geheimnisse  auf  der  erde"  spreche  [ähnlich  geht  dort  kurz 
vorher  „in  allen  religionen  der  erde"]  habe  Goethe  Die  geheimnisse 
zum  thema  und  zur  Überschrift  [?]  seines  grossen  gedichts  gewählt,  sei 
es  nun,  dass  in  geheim  in  bezug  darauf  die  stelle  der  „Ideen"  ge- 
schrieben worden  [frühestens  im  februar  1785,  während  der  erste  ent- 
warf von  Goethes  dicbtung  fünf  monate  älter  ist],  sei  es,  dass  aus 
ihren  gesprächen  über  diesen  gegenständ  beiden  freunden  die  bezeich- 
nung  in  diesem  sinne  sich  festgestellt  hatte".  Aber  bei  Herder 
ist  geheimnis  gleichbedeutend  mit  religion,  religiöse  tradition, 
lehre  vom  überirdischen,  unsichtbaren,  nicht  mit  symboj; 
denn  eben  dieses  wertes  bedient  sich  Herder  regelmässig.  In  Goethes 
gedieht  kommt  Geheimnis  nur  einmal  vor,  77,  wo  es  den  unter  dem 
bilde  verborgenen  sinn,  nicht  einen  übernatürlich  offenbarten  glaubens- 
satz  über  das  weseu  gottes,  auch  nicht,  wie  Baumgart  sich  ausdrückt, 
„das  geheimnis  der  klostergemeinschaft,  der  die  Sendung  des  Markus 
gelte",  bezeichnet.  Vom  tode  des  Humanus  heisst  es,  er  sei  geheim- 
nissvoll (lllj.     Bruder  Markus  verlangt  zu  wissen,  was  manches  bild 


GOETHES    GEHEIMNISSE  501 

verhehlt  (278).  Auch  ist  vom  erraten  des  unter  dem  bilde  verbor- 
genen (305  —  309),  von  der  verdeckung  der  bedeutung  durch  teppich  oder 
flor  (315  fg.)  die  rede.  Sonderbar  wäre  es  auch,  wenn  ein  gedieht,  das 
sich  auf  das  „aufgeben  der  Symbole"  beziehen  solle,  die  Überschrift 
„Die  geheimnisse"  führte.  Der  titel  bezeichnet  offenbar  den  geheim- 
dien st  der  hier  in  das  mittelalter  verlegten  rosenkreuzer,  die  von  der 
Vorsehung  bestimmt  sind,  die  reine,  segensreiche  christliche  Sittenlehre 
zu  verbreiten;  „die  geheimnisse"  waren  als  eine  grosse  geistliche  dich- 
tung  vom  mittelalterlichen  Wunderglauben  gedacht. 

Verfehlt  war  es,  bei  der  frage  nach  dem  Inhalt  der  rätselhaften 
dichtung  von  dem  titel,  statt  von  der  haupthandlung  auszugehen,  welche 
die  von  der  Vorsehung  beschlossene  einsetzung  des  schlichten  bruders 
Markus  beim  tode  des  Humanus  ist,  eines  durch  geistige  tüchtigkeit 
und  hohe  einsieht  ausgezeichneten  beiden  von  mächtigster  Willenskraft. 
Baumgart  sieht  ein,  wie  wenig  Goethes  eigene  deutung  von  1816  das 
dunkel  aufhellt,  aber  erst  nachträglich  geht  er  an  die  lösung  der  haupt- 
frage,  die  er  denn  ohne  glück  versucht,  nachdem  er  sich  den  blick 
durch  seinen  voreiligen  einfall  getrübt  hat.  Es  ist  doch  gar  zu  wun- 
derlich, wenn  der  tod  des  Humanus  dadurch  begründet  wird,  dass 
die  Symbole  der  christlichen  religion  schwinden  sollen.  Ist  denn  Hu- 
manus mit  den  zwölf  alten,  die  sich  aus  der  weit  zurückgezogen  haben, 
im  stillen  gott  zu  dienen,  ein  Vertreter  der  Symbole,  hat  es  ihn  nicht 
vielmehr  gedrängt,  im  reineren  sinne  Christi  lehre  zu  üben,  die  nach 
Goethes  ansieht  nicht  die  nach  der  fassung  der  zeit  und  des  volkes 
gemachte  Offenbarung  über  gott  und  die  erlösung  der  menschen,  son- 
dern die  sittliche  lehre  der  Selbstüberwindung  und  der  liebe  aller  men- 
schen als  brüder  war,  wonach  er  auch  behaupten  durfte,  er  sei  ein 
wahrerer  christ  als  die  meisten,  die  sich  so  nennten.  Baumgart  hilft 
sich  damit,  dass  die  christlichen  Symbole  in  dem  engen  kreise  der 
zwölf,  demnach  doch  auch  wol  bei  Humanus  selbst,  „die  reinste  geläu- 
terte auffassung  finden",  gibt  aber  zu,  dass  der  glaube  an  ihre  ge- 
schichtliche realität  im  schwinden  begriffen  (s.  60),  was  nicht  dazu 
stimmt,  „dass  die  kleine  gemeinde  durch  des  Humanus  tod  sich  mit 
dem  Verluste  ihres  schönsten  glückes  bedroht  sieht,  weil  die  vielgelieb- 
ten Symbole  dadurch  unwiderbringlich  dahin  gehen  sollen,  ohne  dass 
den  bitter  leidenden  die  hoffnung  auf  einen  tröstlichen  ersatz  sich  zeigt" 
(s.  57).  Hier  ist  alles  brüchig,  wie  das  ganze  hereintragen  der  Sym- 
bole ein  unglücklicher,  haltloser  einfall  ist.  Die  trauer  der  brüder  um 
den  tod  ihres  „vaters,  freundes  und  führers"  ist  rein  persönlich,  nicht 
allegorisch;   der  alte,  der  diese  äussert,  möchte  selbst  gern  mit  seinem 


502  DÜNTZER 

eigenen  leben  das  seines  geliebtesten  freundes  erkaufen.  Es  ist  ein 
ebenso  grosser  Irrtum,  wenn  Baumgart  den  alten  von  den  zwölf  aus- 
nehmen will,  als  wenn  er  in  ihm  eine  allegorie  der  tradition  sieht,  die 
wir  trotz  der  entzückung,  mit  der  ihr  erfinder  davon  spricht,  für  uner- 
träglich steif  halten.  Der  alte  ist  mit  im  kapitelsaale,  wo  nur  dreizehn, 
stülile  sind,  ausser  dem  mittlem  des  Humanus  einer  für  jeden  der 
zwölf.  Der  dichter  bedurfte  eines  Sprechers,  der  den  fremden  empfieng 
und  ihm  über  Humanus,  dessen  leben  und  drohenden  tod  berichtete, 
später  sein  führer  war;  dazu  wählte  er  einen  herzen.sfreuud ,  der  ihn 
von  Jugend  an.  kennt.  Ob  dieser  sich  nie  von  ihm  getrennt,  sondern 
mit  ihm  sich  zu  dem  von  der  Vorsehung  bereiteten  gebäude  im  ein- 
samen tale  getrieben  fühlte,  das  wir  uns  wol  weit  im  osten  zu  den- 
ken haben,  ist  nicht  zu  bestimmen.  Vorlängst  habe  ich  bemerkt,  dass 
bei  dem  kloster  wol  Maria  Einsiedeln  in  der  Schweiz  vorschwebt,  wo 
der  prälat  (er  hiess  Fürst)  auf  den  tod  krank  lag,  als  Knebel  es  im 
jähre  1780  besuchte,  aber  noch  ihn  durch  den  decanus,  „einen  heiligen 
würdigen  mann",  zur  tafel  laden  liess  —  ein  von  Goethe  so  einzig  be- 
nutzter zug.  Hatte  aber  Humanus  sich  mit  den  seinigen  dem  reineren 
Christentum  in  der  einsamkeit  geweiht,  so  erhebt  sich  um  so  dringen- 
der die  frage,  was  hat  es  zu  bedeuten,  dass  Markus,  ein  einfacher 
klosterbruder,  ein  ernsterer  nachfolger  von  Lessings  treuherzigem  ge- 
genbilde des  aufgeblähten,  herrschsüchtigen  patriarchen  im  „Nathan", 
von  der  Vorsehung  zum  Stellvertreter  des  Humanus  berufen  wird? 
Nach  Baumgart  soll  er  „die  erste  nachfolge  Jesu  verkörpern,  wie  sie 
als  das  wesen  und  der  inlialt  der  christhchen  religion  bestehen  bleibt." 
Aber  wie  kann  Markus  dazu  besser  wirken  als  Humanus,  worin  soll 
der  gegensatz  oder  die  fortentwicklung  liegen?  Als  Sinnbild  des  Chri- 
stentums, wie  es  Humanus  aufgefasst,  müssen  wir  doch  das  zeichen 
auf  der  pforte  des  bogens  betrachten,  selbst  wenn  Humanus  es  schon 
vorgefunden  hatte.  Das  kreuz  soll  nicht  auf  die  kreuzigung  gehen, 
wie  es  bruder  Markus  in  gewohnter  weise  fasst,  sondern  auf  die  leiden 
und  mühen  des  lebens,  aber  die  es  umwindenden  rosen  deuten  auf 
lebensgenuss,  da  das  leben  kein  jammerthal,  die  erde  kein  büssungsort, 
das  kloster  kein  ewiges  Memento  mori  sein  soll.  Das  rosenumgebene 
kreuz  wird  zum  himmel  getragen,  da  der  mensch  im  leben  immer 
fortstreben,  „unermüdet  schaffen"  soll,  wie  wir  es  von  der  gottheit 
selbst  glauben  (nach  Goethes  ode  „Das  göttliche").  Das  dreifache,  aus 
der  mitte  quellende  licht,  das  zeichen  der  dreieinigkeit,  ist  wol  hier 
als  bild  der  drei  christlichen  tugeuden,  glaube,  hoffnung  und  liebe, 
gedacht.     Also  herrscht  ein  reineres  Christentum   schon  in  dem  kreise 


GOETHES    GEHEIMNISSE  503 

des  Humanus.  Was  kann  da  der  schlichte,  gottesfürchtige ,  trenherzige 
Markus  ändern?  Nach  Baumgart  soll  durch  ihn,  in  stiller  organischer 
Wandlung  die  summe  religiösen  anschauens,  fühlens  und  denkens,  die, 
ein  produkt  der  gesammten  menschlichen  entwicklung,  in  der  reinen 
lehre  Jesu  enthalten  ist,  in  ihrer  einfachen  gestalt  an  stelle  der  geheim- 
nissvoll symbolischen  unmittelbar  sich  geltend  machon,  durch  ihre 
innere  hoheit  das  führerrecht  für  immer  sich  sichern.  Die  geheimnisse 
schwinden,  aber  das  geheimnis  bleibt.  Das  grosse  geheimnis  der  natur 
und  das  grössere  geheimnis  des  geistes,  die  beide  doch  nur  ein  ver- 
schieden gefasster  ausdruek  für  das  eine  grösste  geheimnis,  dass  das 
unbegreifliche  uns  gewissheit  ist."  Das  wäre  doch  eine  Wandlung,  welche, 
für  des  einfachen  bruders  Weisheit,  die  von  kinderlippen  schallt,  viel 
zu  hoch;  sie  setzt  eine  Umwandlung  von  Markus  selbst  voraus,  und 
Humanus  kommt  dabei  arg  zu  kurz,  der  längst  auf  den  kern  der 
christlichen  lehre  gedrungen  hatte,  und  mit  einer  hoheit  dafür  begei- 
sterte, die  seine  kleine  gemeinde  der  greise,  die  ein  tatenvolles,  erfah- 
rungsreiches leben  geführt  hatten,  hinzureissen  wusste.  Die  aufgäbe, 
die  Markus  zu  lösen  hatte,  kann  nur  darin  bestehen,  dass  er  die 
christliche  geheimlehre,  die  bisher  auf  das  kloster  des  Humanus  be- 
schränkt war,  allgemein  verbreitete,  wozu  gerade  er,  von  Humanus 
belehrt,  auserkoren  war.  Diese  ausbreitung  der  christlichen  Sittenlehre, 
die  zugleich  die  wahre  humanität,  ohne  die  nichts  fördernde,  zu  Schwär- 
merei und  Verworrenheit  des  geistes  verleitende,  vom  leben  und  reiner 
menschlicher  entwicklung  abführende  Offenbarung,  ergibt  sich  als  ziel- 
und  endpunkt  dei'  „Geheimnisse",  dieser  glücklich  erdachten  legende, 
die  einen  herzenswunsch  des  dichters  auszusprechen  bestimmt  war,  auf 
dessen  erfüUung  er  selbst  nicht  hoffte;  es  ist  nur  ein  schöner  träum, 
dessen  dichterische  ausführung  leider  dem  meister  nicht  gelingen  sollte. 
Aus  der  Schilderung  der  reden  des  bruders  Markus  im  kloster,  aus 
stanze  12,  hat  Baumgart  geschlossen,  was  sie  gar  nicht  besagen  soll, 
dass  von  allen  geheimnissen  nur  das  eine  höchste  bleiben  werde: 
„dass  die  einfachheit  das  siege!  der  letzten  Vollendung  ist,  dass  sie  aus 
unschuldiger  reinheit  und  offener  Weisheit  allein  erwachsen  kann  und 
dass,  wie  sie  die  frucht  der  lautern  Selbstlosigkeit  ist,  aus  ihr  die 
unendliche  liebe  quillt,  welche  die  weit  erlöst".  Ebensowenig  finden 
wir  in  dem  bruchstück  eine  andeutung,  „dass,  wenn  solche  gesinnung 
das  führeramt  übernimmt,  die  ewige  dauer  wahrhaft  christlicher  reli- 
giösität  und  religionsgemeinschaft  erst  recht  besiegelt  sein  werde,  weil 
solche  führerschaft  den  herrschenden  streit  aufhebe,  und,  was  in  aller 
weit  an  echt  religiösem  sinne  lebt,    vereinend  um  sich  sammle".     Das 


504  DÜNTZER 

ist  rein  hereingetragen,   dagegen  die  offenbar  beabsichtigte  Wirksamkeit 
der  Humanns -gemeinde  unter  Markus  verkannt. 

"Wirklich  ausgeführt  sind  nur  des  bruders  Markus  von  einer  höhe- 
ren stimme  ihm  aufgetragene  reise,  seine  ankunft  am  abend  beim  klo- 
ster,  abendessen  und  abendandacht,  endlich  nach  kurzem  schlaf  beim 
grauen  des  morgens  eine  merkwürdige  erscheinung.  Der  name  des 
bruders  erinnert  an  den  des  schlichtesten,  als  missionar  in  Afrika  be- 
kannten evangelisten  ^,  aber  wirklich  scheint  bei  ihm  der  lieblingsjün- 
ger des  heilands,  der  an  dessen  busen  gelegen ,  vorgeschwebt  zu  haben, 
der  immer  aus  vollem  herzen  sprach,  an  dessen  „Testament",  dass  die 
christliche  liebe,  die  der  herr  befohlen,  allein  genüge,  Lessing  so  ein- 
drindich  gemahnt  hatte.  Den  namen  Johannes  scheint  Goethe  absieht- 
lieh  gemieden  zu  haben.  Markus  wird  gleich  als  von  der  Vorsehung 
gesandt  bezeichnet;  bloss  dem  geiste  folgend  gelangt  er  am  späten 
abend  an  das  prächtige  kloster.  Das  höchst  verehrte  christliche  kreuz 
erfüllt  ihn  mit  ehrfurcht,  aber  die  ihm  noch  neue  weise,  wie  es  hier 
mit  rosen  umwunden,  von  wölken  getragen  imd  vom  lichte  der  drei- 
faltigkeit  erleuchtet  sich  zeigt,  erregt  in  ihm  erbauliche  gedanken  über 
dieses  hier  ungewohnten  sinn  verbergende  zeichen.  Eingelassen  mel- 
det er,  wie  er  auf  den  befehl  höherer  wesen  hierher  gekommen,  was 
man  mit  heiligem  staunen  vernimmt,  ja  man  fühlt  das  herz  dabei  von 
innerer  gewalt  ergriffen;  alles,  was  er  von  seiner  sendung  erzählt,  wirkt 
wie  weise  lehren,  sein  ganzes  offenes  und  treuherziges  benehmen  ist 
völlig  von  dem  aller  menschen  verschieden;  er  erscheint  wie  ein  himm- 
lisches wesen.  Der  Inhalt  seiner  reden  konnte  hier  nicht  ausgeführt 
werden.  Wir  mussten  zunächst  über  Humanus  und  seine  genossen 
belehrt  werden,  w^as  dessen  alter  freund,  der  nur  als  greis  bezeichnet 
wird,  in  längerer  rede  tut,  deren  würdiger  ton  uns  die  in  diesen  räu- 
men herrschende  hohe  gesinnung  vergegenwärtigt.      So    erfahren    wir, 

1)  Wenn  Herder  kurz  vor  der  abreise  Goethes  nach  Italien  diesem  in  einem 
Scherzbriefe  an  den  herzog  den  Spitznamen  des  „evangelisten  Markus"  gibt  (Schrif- 
ten der  Goethegesellschaft  II,  369),  so  durfte  Erich  Schmidt  dabei  nicht  an  den 
Bruder  Markus  der  Geheimnisse  denken.  Vielmehr  schwebt  Goethes  alter  „Pro- 
log zu  Bahrdts  Offenbarungen"  vor,  wo  der  evangelist  Markus  kurzweg  den  Giessener 
Professor  mit  den  worten:  „Und  wie  und  was  verlangst  denn  du?"  zur  rede  steht 
und  auf  dessen  weitläufige  erkläining,  ohne  ein  wort  zu  erwidern,  ihn  stehen  lässt. 
Matthäus  bemerkt:  „Johannes  ist  schon  weggeschlichen  Und  bruder  Markus  [die  evan- 
gelisten nennen  sich  brüder]  mit  entwichen."  Herder  fand  es  ergötzlich,  dass  dieser 
kürzeste  evangelist  hier  so  kurz  gebunden  ist  (er  allein  spricht  nur  einen  kurzen 
vers,  äussert  sich  nicht  weiter),  und  ebenso  kurz  gebunden  fand  Herder  den  freund 
falschen  ansichten  gegenüber,  die  ihm  widerstanden. 


GOETHES    GEHEIMNISSE  505 

dass  der  baldige  tod  ihres  „vaters,  freundes  und  führers"  sie  in  sorge 
und  furcht  setzt,  aber  der  aublick  des  von  höhern  wesen  gesandten 
hat  ihnen  „trost  und  hoffnung  gebracht,  ihre  seele  erregt";  sie  erwar- 
ten von  ihm  eine  lösung,  da  der  bald  von  ihnen  scheidende  ihnen  nur 
verkündet  hat,  dass  er  in  wenig  zeit  sich  von  ihnen  trennen  werde. 
Wie  alle  als  greise  zu  jenem  „edlen  manne"  gekommen,  dem  friede 
gottes  in  der  brüst  lebt  (der  redende  selbst  hat  ihn  auf  des  lebens 
pfad  begleitet),  ist  nur  kurz  angedeutet,  auch  nicht  verschwiegen,  wie 
ausser  dem  persönlichen  schmerze  über  den  drohenden  verlust,  es  sie 
bekümmere,  dass  er  keinen  zum  nachfolger  sich  bestimmt  habe,  was 
auf  die  durch  Markus  in  ihnen  erregte  hoffnung  ein  licht  wirft.  Täg- 
lich kommt  Humanus  eine  stunde  zu  ihnen,  wo  er  aus  seinem  leben 
erzählt,  „in  dem  die  vorsieht  ihn  so  wunderbar  geführt",  aber  mit  aller- 
grösster  bescheidenheit,  wde  der  freund  weiss,  der  so  manches  als 
augenzenge  erlebte.  Er  wird  als  ein  christlicher  held  dargestellt,  auf 
den  schon  vor  und  bei  seiner  geburt  wunderzeichen  hingedeutet,  der 
bereits  als  kind  ungeheure  kraft  bewährt,  auch  einmal  in  der  not  das 
wunder  vollbracht,  dass  er  mit  dem  Schwerte  eine  quelle  aus  dem  star- 
ren felsen  schlug.  Wenn  wundergeschichten  von  ihm,  wie  von  einem 
heiligen,  erzählt  werden,  so  ist  es  nicht  zu  verwundern,  dass  der 
dichter  solche  wählte,  deren  bekannte  sagen  gedenken,  ja  selbst  anzei- 
chen,  die  des  heilands  geburt  verherrlichten  und  vom  messias  vorher- 
gesagt Avorden.  Dass  dadurch  „eine  fülle  der  fruchtbarsten  ideen  auf- 
geregt werde",  kann  ich  Baumgart  (s.  40)  nicht  zugeben,  es  galt  nicht 
durch  mythische  züge  die  einbildungskraft  zu  erfreuen,  sondern  das 
bild  des  Humanus  als  eines  gottbegnadeten  mannes  auszuführen.  Aber 
Humanus  hat  auch  die  sauerste  probe  des  mannes  bestanden,  er  hat 
sich  selbst  überwunden,  was  an  die  verheissungen  erinnert,  die  in  der 
Offenbarung  Johaunis  dem  überwindenden  gemacht  werden.  Bei  aller 
ihn  mächtig  treibenden  kraft  wusste  er  sich  selbst  zu  beschränken,  sei- 
nes mutes  herr  zu  sein,  wie  es  in  den  Sprüchen  Salomonis  heisst. 
Freilich  hatte  der  vater  ihn  zum  strengsten  gehorsam,  zu  den  niedrig- 
sten diensten  gegen  andere  gewöhnt,  aber  diese  Unterwürfigkeit  war 
bei  ihm  kaum  eine  fügend,  da  sein  herz  ihn  dazu  trieb,  anderen  wol- 
zutun,  verwundete  zu  verbinden,  kranken  beizustehen.  Gehorsam 
gegen  die  eitern  empfand  er  als  sittliche  pflicht,  die  er  so  rücksichtslos 
übte,  dass  auch  der  rauhe  und  scharfe  vater,  der  die  als  edlen  ihm 
gebührenden  Vorzüge  mit  absieht  ihm  vorenthalten  hatte,  endlich  nicht 
mehr  umhin  konnte,  des  sohnes  wert  anzuerkennen  und  ihm  die  ehren 
seines  Standes  zu  gewähren,     Auch  hier  legt  Baumgart  etwas  hinein, 


506  DÜNTZER 

wenn  er  von  dieser  ausführung  rühmt:  „In  symbolischer  kürze  und 
wucht  verkündet  der  dichter  hier  grundüberzeugimgen,  an  denen  er 
sein  leben  lang  festhielt  und  auf  die  er  auch  im  späteren  alter  gern 
und  ausführlich  zurückkam.  Es  sind  die  fugenden  der  ehrfurcht,  der 
demut  und  des  gehorsams,  denen  er  für  die  sittliche  und  religiöse 
erziehung  den  höchsten  wert  beilegte."  Eine  solche  philosophische  aus- 
legung  schädigt  die  dichterische  und  zugleich  die  Wahrheit.  Auch  sehe 
ich  hier  keine  „ganz  allgemein  gehaltene  hindeutung  auf  hauptzüge 
mittelalterlich -christlichen  eutwicklung  der  europäischen  menschheit", 
dagegen  hätte  Baumgart  hervorheben  sollen,  dass  diese  ausführung 
zeige,  unser  gedieht  spiele  im  mittelalter,  das  so  manche  ähnliche 
fromme  sagen  trieb. 

Die  weitere  erzählung  seines  lebens  bricht  hier  zweckmässig  mit 
der  bemerkung  ab,  es  sei  voll  der  köstlichsten  geschichten,  die  in 
dichtungen  durch  ihre  unglaublichkeit  und  den  reiz  der  darstelluug 
orfreuen,  der  sie  dem  hörer  als  wirklich  vorzaubert.  Baumgart  dage- 
gen spricht  hier  von  den  Schönheiten  des  reichen  schmuckes  der  phan- 
tasie  und  der  höheren  Schönheit  ihrer  inneren  unvergänglich  für  alle 
zelten  sich  erneuernden  Wahrheit,  die  sich  im  philosophischen  sinne 
der  geschichte  gleichstelle.  Der  alte  schliesst  mit  der  angäbe  des 
namens,  Avelchen  „der  heilige,  der  weise"  angenommen,  den  „das  aug' 
der  vorsieht"  sich  ausersehen.  Sein  nanie  Humanus  deutet  auf  die 
eutwicklung  des  menschen  als  das  höchste  ziel.  Später,  heisst  es,  solle 
Markus  auch  dessen  wirklichen  namen,  sein  geschlecht  und  seine  ahnen 
erfahren.  Der  Übergang  von  der  rede  des  alten  zur  mahlzeit  ist  frei- 
lich etwas  verkümmert,  ja  diese  selbst  ganz  übergangen,  nur  das  zeit- 
weilige erscheinen  der  anderen  brüder  erwähnt,  die,  wie  es  sonderbar 
heisst,  jenem  das  wort  aus  dem  munde  nahmen.  Wir  finden  stanze  32 
um  so  auffallender,  als  die  rede  des  alten  wirklich  abgeschlossen  ist, 
er  gar  nicht  endete,  wie  es  hier  heisst,  als  gegen  Markus  „das  herz 
am  stärksten  quoll",  sondern  mit  der  nennung  seines  namens  Hu- 
manus. 

Die  folgende,  die  den  Übergang  bildet  zum  danke  an  gott  und 
seine  wirte  für  das  genossene  mahl,  weiter  die  bitte  um  wasser  zum 
trinken  und  das  geleit  zum  kapitelsale  enthält,  wo  die  brüder  ihre 
abendandacht  verrichten,  leidet  wenigstens  zum  Schlüsse  am  reimzwange. 
Im  kapitelsale  tun  wir  einen  zweiten  blick  in  die  einrichtung  des  klo- 
sters.  Jeder  brüder  hat  einen  besonderen  stuhl  mit  einem  schilde  über 
diesem,  das  geheimen  sinn  verkündet;  auf  dem  von  Humanus  war  das 
rosenkreuz  zu  sehen.     Über  manchen  Schilden  hingen  als  zeugen  des 


I 


GOETHES   GEHEIMNISSE  507 

ritterlebens  in  der  weiten  weit  waffen  aller  art,  auch  fahnen  und  gewahre 
fremder  läuder,  selbst  ketten  und  bände,  die  auf  krieg,  letztere  auf  erlit- 
tene gefangenschaft  deuten.  Die  brüder  beten  und  singen  kleine  andäch- 
tige lieder;  ehe  sie  zu  kurzem  schlafe  sich  trennen,  segnen  sie  sich 
mit  frommen  wünschen  zu  ruhigem  schlaf,  da  keine  irdische  begierde 
sie  beunruhigt.  Markus  und  der  alte,  der  gleichsam  als  Vertreter  des 
im  kapitelsale  fehlenden  Humanus  erscheint,  bleiben  im  sale;  ersterer 
wird  von  den  Schilden  zurückgehalten,  deren  verborgener  sinn  ihn 
reizt,  besonders  zunächst  rechts  und  links  von  dem  in  der  mitte  hän- 
genden Schilde  des  Humanus;  davon  stellt  das  eine  einen  in  wilden 
flammen  seinen  durst  stillenden  drachen,  das  andere  einen  arm  in  eines 
baren  rächen  dar,  aus  welchem  heisses  blut  quillt.  Hätte  Baumgart 
beachtet,  was  der  alte  dem  bruder  Markus  sagt,  er  könne  den  sinn 
derselben  nicht  erraten,  da  er  nicht  wisse,  was  mancher  held  getan, 
doch  ahne  er  wol,  wie  manches  hier  (von  den  brüdern,  deren  Schilde  er 
sieht),  „gelitten,  gelebt,  verloren  ward  und  was  erstritten",  so  würde 
er  nicht  gewagt  haben ,  die  beiden  wappeu  auf  die  heftigen  kämpfe  der 
christlichen  konfessionen  zu  beziehen,  und  zwar,  weil  die  beiden 
Schilde  gleich  weit  von  dem  des  Humanus  gehangen  (wie  ohne  zwei- 
fei alle  in  gleichem  abstand  voneinander  sich  befanden),  auf  zwei  vom 
geläuterten  Christentum  des  Humanus  gleich  weit  entfernte  „extrem 
kontrastierende  religiöse  dispositionen".  Als  ob  die  betreffenden  brüder 
solche  falschen  auffassungen  des  Christentums  in  wappen  des  kapitel- 
sals  hätten  verewigen  wollen!  Der  drache  deutet  auf  mordlust,  die  zu 
wilden,  blutgierigen  kämpfen  getrieben,  der  blutige  arm  auf  die  befreiung 
der  erde  von  untieren,  von  denen  das  mittelalter  so  viel  fabelte,  beide 
auf  die  eigene  Vergangenheit.  So  überraschend  wie  unglaublich  ist 
Baumgarts  deutuug  auf  die  angst  vor  dem  geöffneten  höllenrachen  und 
die  quälen  der  wütenden  gewissensbisse;  diese  sollen  die  katholische 
lehre  von  der  ewigen  Verdammnis  und  Calvins  Vorstellung  der  Meta- 
noia  bezeichnen,  ja  mit  froher  Selbstbefriedigung  heisst  es,  der  dichter 
habe  so,  wie  es  überall  seine  art  sei,  schon  in  der  spräche  den  vor- 
handenen keim  zur  gestaltenbildung  sich  entfalten  lassen.  Wir  sind 
nicht  so  kühn,  die  spur  davon  zu  ahnen. 

Der  alte  schliesst  damit:  doch  es  handle  sich  in  ihrem  kloster 
nicht  bloss  von  der  Vergangenheit,  hier  gehe  auch  noch  manches  vor; 
sei  Markus  erst  aus  dem  vorhof,  über  den  er  noch  nicht  hinausgekom- 
men, ins  innerste  aufgenommen,  dessen  er  ihm  wert  scheine,  so  werde 
er  dies  erfahren.  Damit  ist  auf  die  nächsten  tage  und  das,  was  er 
dort  sehen  werde,  hingedeutet,  auf  die  seiner  noch  wartenden  geheim- 


L 


508  DÜNTZER 

nisse  des  innersten.  Wie  Markus  vom  alten  in  seine  schlafzelle  gelei- 
tet worden,  sich  niedergelegt  und  geschlafen  habe,  ist  gleich  dem  mahl 
am  abend  übergangen.  Erst  beim  erwachen  setzt  der  dichter  wider 
ein.  Ein  dumpfes  geläute  der  bisher  noch  nicht  erwähnten  kirche 
weckt  ihii;  als  er  ihm  folgen  will,  wie  er  morgens  gewohnt  ist  (er  hat 
schon  sein  morgengebet  verrichtet),  findet  er  die  thüre  seiner  zelle  ver- 
schlossen. Ein  starkes  versehen  ist  es,  wenn  Baumgart  vom  schlösse 
der  kirche  spricht.  Was  die  drei  letzten  stanzen  enthalten,  kann 
keine  blosse  vision  sein ,  es  ist  eine  wirkliche  erscheinung,  die  Markus 
erlebt.  Ein  dreimaliger  schlag  auf  hohles  erz,  gemischt  mit  flötentönen, 
seltsam  und  schwer  zu  deuten,  erfreut  das  herz,  ernst  einladend,  wie 
wenn  festliche  tanze  von  gesängen  belebt  würden.  Als  er  aber  ans 
fenster  eilt,  sieht  er  beim  ersten  grauen  des  morgens  drei  fackeltra- 
gende Jünglinge  eilig  durch  die  gartengänge  sich  entfernen.  Die  weissen 
gewänder  liegen  ihnen  knapp  und  wol  an,  ihre  locken  sind  mit  blu- 
menkränzen,  der  gürtel  mit  rosen  umwunden;  sie  scheinen  „recht 
erquickt  und  schön"  fortzueilen.  Dann  löschen  sie  ihre  fackeln  und 
verschwinden  in  der  ferne.  Baumgart  meint,  die  fackeln,  welche  sie 
in  die  ferne  hinaustragen,  würden  doch  in  der  Übung  der  künste,  wie 
im  leben  fortleuchten,  nicht  in  der  form  buchstäblich  geglaubter  Sym- 
bole, sondern  als  die  höchsten  motive  der  kunst.  Aber  sie  löschen 
ja  ihre  fackeln,  und  darauf,  dass  die  Jünglinge  die  sjmbole  seien,  deu- 
tet eben  gar  nichts.  Der  erfreuende  schall  und  die  Jünglinge  mit 
ihren  brennenden  fackeln  scheinen  vor  der  gewöhnlichen  kirchenzeit 
aus  der  kirche  zu  kommen.  Ich  kann  hier  nur  eine  nachtfeier  sehen, 
welche  von  einer  der  anstalten  ausgieng,  die  wir  uns  mit  dem  bunde 
der  ZAvölf  nach  der  andeutung  des  alten  in  stanze  40  verbunden  den- 
ken müssen.  Auch  die  mysterien  der  Griechen  wurden  zur  nacht  ge- 
feiert; es  waren  heilige  nachte,  bei  welchen  die  eingeweihten  in  weissen 
gewändern  erschienen.  Bekannt  ist  auch  das  späte  römische  Pervigi- 
lium  Veneris,  eine  feier  der  liebe  beim  anfange  des  frühlings,  das 
Bürger  übertrug,  wodurch  Schillers  „Triumph  der  liebe"  veranlasst 
ward.  Dass  Markus  seine  zelle  verschlossen  fand,  erklärt  sich  daraus, 
dass  diese  nachtfeier,  wie  die  kirche  selbst,  zum  innersten  gehörte,  in 
welches  er  erst  an  diesem  tage,  wahrscheinlich  durch  den  alten,  ge- 
führt wurde.  Es  ist  dies  das  erste  geheimnis  des  Innern,  das  schon 
auf  den  heitern,  von  strenger  askese  weit  entfernten  Charakter  der  nach- 
folgenden geheimnisse  hindeutet. 

Der  alte  sollte  sich  bald  darauf  einstellen  und  die  führung  über- 
nehmen.    Zunächst  wird  er  ihn  zum  einfachen  frühstück,    dann  in  die 


GOETHES  GEHEIMNISSE  509 

kirche  gebracht  haben.  Über  die  zum  biinde  gehörigen  bildungsanstal- 
ten  wäre  jede  Vermutung  eitel;  manches,  was  Goethe  vorschwebte, 
dürfte  spcäter  in  den  „"Wanderjahren"  frei  benutzt  worden  sein.  Jeden- 
falls werden  die  verbundenen  brüder  nicht  bloss  einem  beschaulichen 
leben  sich  hingegeben,  sondern  auch  nach  ihrer  neigung  fördernd  auf 
die  menschliche  bildung  gewirkt  haben,  in  gewissem  sinne  tätige  frei- 
maurer  gewesen  sein;  selbst  die  baukunst  dürfte  nicht  ausgeschlossen 
gewesen  sein,  wenn  sie  auch  das  von  der  Vorsehung  bestimmte  gebäude 
schon  vorgefunden.  Fern  halten  müssen  wir  jeden  gedanken  an  Goe- 
thes unglückliche  aufklärung  von  1816.  Zuletzt  wurde  Markus  auch 
zu  Humanus  geführt,  wo  denn  die  Unterredung  beider  den  glanzpunkt 
der  dichtung  gebildet  haben  würde.  Der  scheidende  Humanus  sollte 
seinem  vom  himmel  ihm  bestimmten  nachfolger  seine  sendung  ans 
herz  legen,  die  reine  christliche  Sittenlehre  ohne  die  erlösung  durch 
den  söhn  gottes  allgemein  zu  verbreiten,  besonders  auf  die  Übung  ihi-er 
grundlehren,  der  Selbstüberwindung  und  der  liebe,  zu  wirken.  Uns 
genügt  es,  das  wort  des  rätseis  gefunden  zu  haben,  dass  die  dichtung 
mit  dem  auftrage  des  Humanus  schliessen  sollte,  die  reine  lehre  Jesu, 
wie  sie  Goethe  empfand,  wie  sie  sein  bund  der  neuen  rosenkreuzer 
übte,  allgemein  zu  verbreiten,  und  so  einen  wünsch  zu  erfüllen,  den 
die  freidenker  der  zeit,  unter  ihnen  auch  sein  freund  Merck,  als  einen 
frommen,  jedesfalls  noch  lange  aussichtslosen  erkannten.  Die  auf  mor- 
schem boden  sich  erhebende  philosophische  ausdeutung  eines  begabten 
denkers  musste,  je  selbständiger  sie  war,  um  so  mehr  von  der  ein- 
fachen Wahrheit  abführen. 

KÖLN.  HEINEICH   DtJNTZEE. 


GEDICHTE  UND  BKIEFE  VON  E.  M.  AENDT  AN  EUSTE 

FEEUNDUST. 

Herr  dr.  R.  Moeller,  oberarzt  des  städtischen  krankenhauses  in 
Magdeburg,  besitzt  aus  dem  nachlasse  seiner  grossmutter,  der  frau 
J.  Zanders,  verschiedene  interessante  manuscripte  von  E.  M.  Arndt, 
deren  Veröffentlichung  er  mir  gütigst  erlaubt  hat.  Sie  bestehen  aus 
einem  bisher  ungedruckten,  einem  schon  gedruckten  gedichte  und  sechs 
briefen.  Frau  J.  Zanders,  geborene  Müller,  wittwe  des  fabrikbesitzers 
Zanders  in  Bergisch -Gladbach,  wohnte  bis  zum  jähre  1857  in  Bonn 
und    stand    in    inui^'eni    freundschaftsverkehre    mit    dem    hoclibetagten 


510  A.    SCHMIDT 

Arndt'schen  ebepaare.  Als  sie  dann  nach  Bergisch- Gladbach  übersiedelte, 
widmete  ihr  Arndt  das  nachfolgende  christlich -trostvolle  gedieht,  dessen 
zweck  und  sinn  durch  die  tatsache  erleuchtet  wird,  dass  frau  Zanders  an 
einer  schweren  lähmung  siech  war.  Nach  Bergisch -Gladbach  sind  die 
briefe  gerichtet,  und  zwar  sind  drei  von  ihnen  gratulationsbriefe  zu  neu- 
jahr  1858,  1859  und  1860;  zwei  sind  dankesbriefe  nach  einem  besuche, 
den  der  89jährige  greis  im  frühsommer  1859  in  Bergisch- Gladbach 
gemacht  hatte;  ein  sechster  aus  dem  herbst  1859  enthält  die  durch  den 
tod  unerfüllt  gebliebene  verheissung,  im  nächsten  jähre  die  reise  wider- 
holen zu  wollen.  Der  zeitlich  letzte  brief,  die  gratulation  zu  neujahr 
1860,  ist  5  tage  nach  Arndts  neunzigstem  geburtstage  und  drei  wochen 
vor  seinem  tode  geschrieben,  also  sicher  eine  der  allerletzten  schrift- 
lichen äusserungen  des  uralten  mannes.  Die  schrift,  deren  typus 
durch  das  dem  Allgemeinen  deutschen  commersbuche  vorgedruckte  dank- 
schreiben  Arndts  vom  jähre  1858  bekannt  ist,  kann  zwar  das  zittern  des 
alters  nicht  ganz  verleugnen,  ist  aber  im  ganzen  gut  leserlich  und 
besonders  in  den  bogen  und  endschnörkeln  noch  erstaunlich  kräftig 
und  sicher.  Sämmtliche  dokumente  geben  uns  keinen  neuen  zug  zu 
dem  bilde  Arndts;  aber  ihr  wert  beruht  darin,  dass  sie  uns  den  dich- 
ter im  höchsten  greisenalter  noch  unverkürzt  und  unverwelkt  als  den- 
selben zeigen,  den  wir  in  der  Vollkraft  seines  wesens  lieb  gewonnen 
haben:  geistesfrisch  und  herzensjung,  voll  zarter  fi-eundschaft  und  alt- 
bewährter Vaterlandsliebe,  „lebensmutig  und  liebesmutig",  gottvertrauend 
und  gottergeben. 

Zur  freuiidliclieii  Erinnerung  für  Julie  Zanders. 

Kind,  trage  Erden  Freud  und  Leid, 
Im  frohen  Sinn  der  Ewigkeit! 
Hier  ist  ja  Alles  klein  und  kurz. 
Und  nichts  als  Wechsel,  Fall  imd  Sturz. 

Vergiss  nicht,  dass  es  also  ist. 
Noch  auch,  dass  du  unsterblich  bist. 
Ein  kleines,  schwaches  Gottesbild, 
Worin  doch  Gottes  Wonne  quillt. 

Dies  sei  dein  Trost,  dein  Licht,  dein  Stern, 
So  schau  empor  zu  deinem  Herrn, 
So  aus  dem  wirren  Erdenlauf 
Schau  fromm  und  selig  himmelauf. 


GEDICHTE   tIND   BRIEFE   VOX   E.    M.   ARXDT  511 

Und  dann  wird  alles  Kleine  gross  \ 
Dann  fällt  dein  Loos  aus  Gottes  Scliooss, 
Du  nimmst  es  fröhlich,  wie  es  fällt, 
Dann  bist  du  gross  in  kleiner  Welt. 
Bonn  den  24"  des  Wonnemondes  1857.  E.  M.  Arndt. 

1.    An  Frau  J.  Zanders  zu  Bergisch -Gladbach  bei  Köln. 
Gott  zum  Gruss! 

So  habe  ich  denn  mein  88"^'  glücklich  vollendet  2,  und  die  lieben 
Wünsche  u.  lieben  Gaben  der  Freunde  machen  mir  den  Einlauf  in  das 
89"""  fast  zu  einem  glückszeichen. 

Auch  Sie,  meine  theure  Freundin,  haben  mit  einer  recht  süssen 
Gabe  mein  altes  Herz  gelabt  und  sollen  meinen  treuesten,  besten 
Wunsch  und  Dank  zum  Neuen  Jahre  dafür  nehmen. 

Wolle  der  gnädige  Gott  mit  Ihnen  und  den  geliebten  Ihrigen 
sein,  und  Ihre  Gesundheit  so  stärken,  als  der  Glaube  an  die  himm- 
lischen Güter  durch  Seine  Gnade  in  Ihnen  stark  ist! 

Also  auf  den  Blüthenmond  1858!  Das  soll  ein  Wort  sein,  wenn 
Gott  nicht  anders  will!  Dann  will  ich  mal  in  Ihre  freundlichen  Augen 
und  in  Ihre  hellen  Teiche  zu  Gladbach  schauen! 

Meine  Frau  wollte  ein  paar  Worte  zusetzen,  sie  fühlt  sich  aber 
durch  einen  Schnupfen  zu  sehr  verhustet,  und  grtisst  aller  herzlichst. 

Auch  ich  habe  14  Tage  die  Grippe  durchgehustet;  gottlob  jetzt 
besser.     Ade!  Ade!     Den  lieben  Kindern  beste  Grüsse 

In  deutscher  Treue 
Ihr 

Bonn,  letzter  Tag  von  1857.  ältester  E.  M.  Arndt. 

3.  Bonn,  letzter  Tag  des  Jahres  1858. 

So  wolle  Gottes  Segen  einziehen  bei  Ihnen,  liebes  Kind,  wie  Sie 
Wunsch  und  Segen  zugleich  mit  süssester  Gabe  des  Mundes  und  des 
Herzens  über  den  überalten  Mann  ausgesprochen  haben!  Möge  das 
beginnende  Jahr  1859  für  Ihre  Körperleiden  milder  werden,  als  die 
jüngsten  Jahre  gewesen  sind! 

Ich  wandle  durch  Gottes  Gnade  auf  der  Stufe  des  höchsten  Alters 
noch  immer  mit  leidlicher  Küstigkeit  hin.     ISTun  so  weiter,  so  lange  es 

1)  Denselben  gedanken  führt  er  aus  in  der  vollständigen  Sammlung  seiner 
Gedichte  2.  aufl.  s.  641  nr.  42,  wie  er  überhaupt  in  seinen  Sinnsprüchen  die  begriffe: 
gross  und  klein  mit  Vorliebe  zusammenstellt,  bald  sie  contrastierend,  meist  sie  in 
einander  auflösend. 

2)  Arndts  geburtstag  fiel  auf  den  26.  december. 


512  A.    SCHMßT 

dem  Herrn  des  Lebens  gefällt!  Und  ich  lebe  des  festen  Vorsatzes, 
Avenn  dieser  Herr  es  mir  erlaubt,  Sie  im  nächsten  Lenze  in  Ihrem 
schönen  Sitze  einmal  fröhlich  zu  begrüssen.  Meine  gute  Frau  wollte 
Ihnen  selbst  schreiben  und  danken,  fühlt  sich  aber  durch  Festtage  und 
manche  Festlichkeiten  jetzt  zu  angegriffen;  sie  fühlt  ihre  73  jähre  auch 
schon. 

Also  Gott  und  Gottes  Glück  und  Gnade  mit  Ilmen  und  Ihren 
Lieben,  welche  Sie  herzlich  von  uns  grüssen. 

In  deutscher  Treue 
Ihr 
E.  M.  Arndt. 

3.  Bonn  4"   des  Heumonds  1859. 

Das  waren  schöne  Tage,  wie  Tage  der  Liebe,  Treue  und  Freude 
immer  sein  müssen  - —  und  ich  spreche  Euch,  geliebte  Freunde,  hier- 
mit meinen  herzlichsten  Dank  aus. 

Grüssen  Sie  mir  auf  das  herzlichste  ganz  Gladbach,  am  meisten 
Sich  selbst,  Ihre  liebe  Schwester  und  unsern  Richard  und  seine  feine 
liebenswürdige  Frau,  deren  Hoffnung  zu  aller  Freude  der  liebe  Gott 
erfüllen  wolle.  Ich  habe  Gladbach  so  kennen  gelernt,  dass  ich  sagen 
kann,  es  führt  den  Namen  mit  Recht;  denn  Gladbach  heisst  auf  gut 
deutsch,  englisch  und  schwedisch  Freudenbach.  "Wenn  ich  noch 
einige  Jahre  lebe,   wird  dieser  Freudenbach  mich  öfter  zu  sich  locken. 

Und  Sie  selbst,  liebste  Freundin!  Ich  habe  mich  sehr  gefreut, 
dass  ich  Sie  geistig  frisch  wie  immer  und  leiblich,  wie  mir  däucht, 
auch  frischer  gefunden  habe,  als  da  Sie  Bonn  verliessen.  Gebe  der 
freundliche  Gott,  dass  Sie  nochmal  wieder  auf  eignen  Füssen  die  Treppen 
auf  und  ab  steigen  können  nach   dem  Beispiel   der  Frau  Wichelhaus  i. 

An  Wichelhaus  selbst  habe  ich  Grüsse  und  Wünsche  schon  abge- 
geben. 

Hier  die  versprochenen  Reime  über  das  Gute  u.  Schöne 2. 

Ade!  Gebe  Gott  Lebensmuth  und  Liebesmuth! 

In  deutscher  Treue 
N.  S.  Grüssen  Sie  mir  auch  den  Ihr  E.  M.  Arndt, 

wackern  Meister  Odenthal. 

1)  Frau  pastor  "Wichelhaus  iu  Bonn. 

2)  Dem  briefe  liegt  das  manuscript  von  folgenden,  in  der  vollständigen  Samm- 
lung seiner  Gedichte  s.  666  unter  nr.  150  schon  veröffentlichten  versen  bei: 

Das  Gute  und  das  Schöne. 
Ach!  zwischen  dem  Guten  und  Schönen 
Der  ewic;  erneute  Sti'eit! 


GEDICHTE   UND   BRIEFE   VON   E.   M.   ÄBNDT  513 

4.  Bonn,  23"  Heumonds  1859. 

Ja,  Freudenbach  —  das  soll  der  Name  sein  des  schönen,  grü- 
nen Flecks  Erde,  worauf  Gott  Sie  die  Hütte  Ihres  Lebens  hat  festen 
lassen!  und  Sie,  liebe  Freundin,  sollen  auch  einmal  —  so  ahnt  es 
mir  —  gleich  der  Frau  Wichelhaus  in  Ihrem  Hause  wieder  Trepp  ab 
und  Trepp  auf  laufen.  Amen!  So  geschehe  es.  Dass  der  liebe  Gott  Sie 
nun  noch  immer  so  ans  Lager  fesselt,  auch  das  können  Sie  am  Ende 
als  nur  Gabe  und  Gnade  Gottes  in  so  weit  annehmen,  als  er  Sie  damit 
wohl  etwas  fester  und  tiefer  hat  anfassen  und  mit  seinen  wundersam- 
sten, leisesten  Fingern  in  das  Herz  seines  lieben  Geschöpfes  hat  hin- 
eingreifen gewollt.  Der  Christ  soll  ja  Alles  Unvermeidliche,  was  er 
nicht  machen  (?)  gekonnt  hat,  nehmen,  als  von  Oben  kommend  und 
nach  Oben  hinweisend.  Und  das  wird  wohl  wahr  bleiben,  dass  Ihre 
lange  Krankheit  Ihnen  Müsse  und  Veranlassung  mehr  als  sonst  gege- 
ben hat,  der  himmlischen  Dinge  u.  der  göttlichen  Gefühle  und  Ahnun- 
gen in  unserer  Brust  mehr  inne  zu  werden,  als  es  im  Getümmel  des 
frischen,  vollen,  gesunden  Lebens  uns  oft  beschieden  ist.  Das  ist  ja 
des  Christen  Betrachtung  und  Gottesruf  (?),  dass  er  sich  alle  Dinge  als 
aus  höherer  Hand  deuten  und  zurecht  legen,  muss,  —  und  diese  selige 
Ansicht  und  Überzeugung  hat  der  liebste  Herr  Ihnen  ja  nimmer  abhan- 
den kommen  lassen.  Darin  wird  er  Sie  erhalten  und  bewahren  in  den 
Schmerzen  und  Freuden  des  irdischen  Lebens.  Die  Freude,  die  ich 
Euch  lieben  Leuten  durch  meinen  Besuch  gemacht  habe.  Ich  danke 
Gott,  dass  dem  so  ist:  Freundschaft  u.  Liebe  sind  ja  die  besten  Sterne, 
die  am  Himmel  leuchten  u.  vom  Himmel  hinunter  u.  von  der  Erde  auch 
wieder  hinauf  leuchten  zur  Heimat  der  Geister.  Ich  habe  beide  reich 
am  Freudenbach  genossen  u.  empfunden.  Das  sollen  Sie  den  lieben 
Kindern,  der  Schwester  u.  den  Freunden  mit  meinen  treusten  Grüssen 
verkündigen. 

Sie  haben  die  Enkel  bei  Sich  gehabt  zur  Freude;  auch  meine 
Nanna  ist  jetzt  aus  Karlsbad  bei  uns;  das  Bad  scheint  ihr  wohlgethan 
zu  haben.  Sturm  und  Hagel  ist  bei  uns  am  Gebirgssaume  von  Pop- 
pelsdorf  bis   gegen    Andernach   hin    fürchterlich    fortgelaufen,    wie   Sie 

Sprich,  Lieber,  was  kann  sie  versöhnen 
Zu  liebender  Herzlichkeit? 

Was?  —  Nieder  aufs  Knie  vor  dem  Guten! 

Nieder  im  Gebet  wie  vor  Gott, 

Dann  strömt  dir  das  Schöne  in  Fluthen 

Entgegen.     Ich  spreche  nicht  Spott.  E.  M.  Arndt. 

ZEITSCHRIFT    F.    DEUTSCHE    PHILOLOGIE.      BD.    XXVIII.  ^O 


514  A.    SCHMIDT,     GEDICHTE    UND    BRIEFE    VON    E.    M.    ARNDT 

wohl  aus  den  Zeitungen  gelesen  haben.  —    gebe  Gott,  dass  das  Unge- 
witter  des  Krieges  an  dem  Vateiiande  glücklich  vorüberbrause. 

Gottes  Segen  Euch  Allen  und  Ihnen  freier,  froher  Muth  aus  ihm! 

In  deutscher  Treue 
Ihr  E.  M.  Arndt. 

5.  Gott  zum  Gruss! 

Freundliche  Kinder,  dass  Ihr  den  alten,  schneeweissen,  fast  kah- 
len Kopf  mit  lustigen  Lenzesblüthen  schmücken  wollt!  Nun,  ich  nehme 
das  fröhliche  Zeichen  an,  u.  wenn  der  liebe  Gott  mich  noch  einen 
Lenz  erleben  lässt,  will  ich  in  ihm  mir  selbständig  und  selbhändig 
in  Eurem  Garten  einen  Kranz  pflücken  und  flechten.  Weil  ich  vom 
Lenz  spreche,  will  ich  beim  Bilde  bleiben  und  Euch  und  vor  allen 
Ihnen,  theure  Freundin,  bei  den  neuen  jüngsten  Wiegenliedern,  die 
nun  bei  Euch  wieder  gesungen  Averden,  alle  Herzen  voll  lenzigster, 
fröhlichster  Hoffnungen  wünschen. 

Gottlob!  der  Kriegslärm  hat  sich  fürs  Erste  vertost,  auch  die 
Plage  der  Hitze  ist  vorbei  und  die  lustige  Weinlese  nahe.  —  Also  wol- 
len wir  dem  Winter  mit  Gottesmuth  und  Hoffnung  entgegengehen. 
Ade!  tausend  beste  Grüsse  an  Alle,  und  ein  immer  junges  Herz  und 
eine  immer  bessere  Gesundheit! 

9"  Herbstmonds  In  deutscher  Treue 

1859.  Ihr  E.  M.  Arndt. 

6.  Liebe  Seele. 

Man  Avird  mitgehüben  auf  den  Flügeln  himmlischer  Liebe  in  der 
schönen  Weihnachtszeit,  wo  alle  Engel  vom  Himmel  zu  unserm  Erd- 
bällchen hinabsteigen,  welchem  der  Heiland  in  Menschengestalt  gebo- 
ren. Ich  sollte  jetzt  mit  doppelter  Stimme  mitjauchzen  und  jubeln 
ob  all  den  Ehren  und  Freuden,  welche  so  viele  treue  liebende  Her- 
zen und  selbst  Fürsten  und  Städte  dem  Neunzigjährigen  dargebracht 
haben. 

Auch  dir,  du  freundliche,  liebe  Seele,  die  am  Freudenbache  flat- 
tert und  durch  Gott  oft  recht  glückselig  hoch  fliegt,  sage  ich  und  meine 
Frau  den  allerherzinnigsten  Dank  für  so  süsse  und  blüthenduftige  Er- 
innerungen. 

Gebe  der  frommste,  gütigste  Geber  droben  für  das  Neue  Jahr 
und  für  viele  andre  frohen  Himmelsmuth  und  leidliche  Gesundheit. 
Wenn  die  Nachtigallen  wieder  in  den  Blüthenbüschen  schlagen,  dann 
wird  der  alte  neunzigjährige  Wandrer  sich  mal  zu  Euch  aufmachen. 


BOHNENBERGER ,   AUSGLEICHUNG   DES   SILBENGEWICHTS  515 

Grüssen  Sie  mir  alle  Lieben  viel  tausendmal,    auch  den  wackern 
Schwaben,  den  Seelenwächter i. 

In  deutscher  Treue 
Bonn,  Jahresschluss  1859.  Ihr  E.  M.  Arndt. 

MAGDEBURG.  A.    SCHiUDT. 


ZUR  FEAGE  NACH  DER  AUSaLEICHUNG  DES  SILBEN- 
GEWICHTS. 

Brenner  (Indog.  forsch.  III,  297  fgg.)  will  quantitätsunterschiede 
bei  vokalen  und  qualitätsunterschiede  bei  diphthongen  heutiger  deut- 
scher mundarten  auf  vorahd.  apokope  zurückführen.  Es  soll  das  nomen 
für  den  abfall  des  endungsvokals  ersatz  bekommen  haben  in  der  ur- 
sprünglich vorletzten  silbe,  falls  diese  Stammsilbe  war.  Es  habe  näm- 
lich die  kurze  Stammsilbe  eine  „Verstärkung  erhalten,  die  zuletzt  als 
länge  des  vokals  sich  offenbarte",  während  der  stammsilbenvokal  bei 
erhaltenem  endungsvokal  kurz  blieb.  Und  die  Stammsilbe  mit  diph- 
thong  habe  schleifenden  accent  erhalten  gegenüber  gestossenem  accent 
bei  bewahrtem  endungsvokal.  Unter  einfluss  des  verschiedenen  accen- 
tes  hätten  sich  dann  die  beiden  formen  des  diphthongs  auch  lautlich 
verschieden  entwickelt. 

Verwandt  damit  ist  Streitbergs  Erklärung  der  idg.  dehnstufe 
(Idg.  forsch.  III,  305).  Streitberg  bezieht  sich  auch  ausdrücklich  auf 
Brenner,  doch  sind  noch  tief  einschneidende  unterschiede  da.  Wenn 
Streitberg  bei  morenverlust  in  der  nächsten  silbe  die  tonsilbe  ausdrück- 
lich sich  dehnen  lässt,  so  redet  Brenner  von  „Verstärkung,  die  zuletzt 
als  länge  des  vokals  sich  offenbarte."  Er  bedarf  dieser  geschraubten 
bestimmung,  weil  die  dehnung  dieser  laute  erst  in  den  heutigen  mund- 
arten zum  ausdruck  kommt,  und  diese  verstärkten  laute  durch  die 
ganze  ahd.  und  mhd.  zeit  hindurch  von  den  gewöhnlichen  längen 
unterschieden  werden  müssen.  Wenn  nach  Streitberg  die  idg.  deh- 
nung nur  bei  kurzer  silbe  (d.  h.  kurzem  vokal  in  offener  silbe)  eintritt, 
so  muss  bei  Brenners  hypothese,  wie  sich  nachher  zeigen  wird,  gerade 
die  dehnung  vor  mehrfacher  konsonanz  eine  hauptrolle  spielen.  Streit- 
berg lässt  betonte  lange  vokale  mit  ursprünglich  gestossenem  accent 
geschleift  werden;  Brenner  gibt  über  deren  entwicklung  keine  auskunft, 
aber  die  diphthonge  mit  gestossenem  accent  sollen  nach  Brenner  dafür 

1)  Pastor  Schütze,  nachmals  in  Crefeld. 

33* 


516  BOHNENBERGER 

geschleift  werden.  Brenner  und  Streitberg  treffen  darin  zusammen, 
dass  sie  diese  genannten  Veränderungen  der  tonsilbe  abliängig  machen 
vom  Verlust  einer  more  in  der  folgesilbe.  Dieses  zusammentreffen  wäre 
gewiss  noch  interessant  genug. 

Xun  erscheinen  mir  aber  Brenners  aufstellungen  über  aus- 
gleichung  des  silbengewichts  in  vorahd.  zeit  unhaltbar.  Bei  einem 
teil  der  von  ihm  angezogenen  fälle  haben  die  vorausgesetzten  parallel- 
bildungen  innerhalb  desselben  wertes  gar  nie  gegolten,  und  da,  wo  solche 
parallelbüdungen  wirklich  vorliegen,  stammen  sie  aus  viel  jüngerer 
zeit  und  haben  sie  sich  in  ganz  anderer  weise  entwickelt.  Nach  Bren- 
ner soll  da,  wo  der  singular  eines  nomens  endigend  auf  die  Stamm- 
silbe heute  in  der  mundart  länge,  der  plural  dagegen  kürze  auf- 
weist, die  dehnung  eine  ausgleichung  darstellen  für  den  verlust  des 
endimgsvokals,  welcher  nach  den  vorahd.  auslautgesetzen  abfiel.  So  soll 
die  länge  des  Singulars  fis  gegenüber  fis  direkter  ersatz  für  abfall  des 
endungsvokals  von  *fiskax  sein.  Solchen  quantitätsuntersclüed  zwischen 
Singular  und  plural  in  der  heutigen  mundart  weiss  Brenner  zu  belegen 
aus  dem  „nordgauischen",  aus  Buchen  im  nördlichen  badischeu  Franken 
(nicht  in  Württemberg,  wie  Brenner  meint),  aus  Schlesien  (Waniek 
ist  mir  leider  nicht  zugänglich).  Da  er  Kauffmann  doch  citiert,  so 
hätte  er  auch  das  schwäbische  zu  berücksichtigen  gehabt  mit  den 
belegen,  welche  Kauffmann,  Schwab,  ma.  §  131  A.  aus  dem  osten  von 
Schwaben  gibt. 

Dntersucht  man  nun  aber  diese  dehnungsfrage  im  schwä- 
bisch-alemannischen näher,  so  fällt  Brenners  erklärung  dahin.  Inner- 
halb des  schwäbischen  gebietes  speciell  habe  ich,  freilich  an  sehr 
abgelegenem  orte  (Korrespondenzblatt  für  die  gelehrten-  und  realschulen 
Württembergs  1887,  502  fgg.)  für  Renningen  bei  Leonberg  nachgewie- 
sen, dass  dort  dehnung  und  erhaltung  alter  kürze  von  den  folgenden 
lauten  abhängig  ist.  Sieht  man  von  der  Stellung  von  n  -f  Spirans  ab,  wo 
für  das  schwäbisch -alemannische  gebiet  eigene  gesetze  gelten,  so  ist  vor 
einfacher  lenis,  einfacher  spirans  und  einigen  konsonantengruppen  (beson- 
ders r  +  konsonant)  dehnung  des  kurzen  vokals  eingetreten,  sonst  ist 
yor  folgender  konsonanz  kürze  erhalten.  Dasselbe  hat  Wagner  für  Reut- 
lingen (Programm  der  realanstalt  Reutlingen  1889.  90)  gefunden.  Die 
eben  ausgegebene  „Geographie  der  schwäbischen  mundart"  von  Her- 
mann Fischer  (Tübingen  1895)  bestätigt  diese  dehnung  (§  13.  15) 
für  das  schwäbische  gebiet  im  allgemeinen,  abgesehen  von  einem  be- 
zii'ke  nördlich  des  Bodensees,  ungefähr  von  Lindau  über  Ravensburg, 
Rottweil  und  weiter  nach  westen,  welcher  in  gewissen  worten  bei  lieu- 


AÜSGLEICHUNa   DES   SILBENGEWICHTS  517 

tigern  inlaiit  auch  vor  lenis  kürze  hat  gegen  länge  bei  heutigem  aus- 
laut,  so  sägd  :  i  säg.  Neben  der  im  allgemeinen  geltenden  dehnung 
vor  lenis  bez.  bestimmten  konsonantengruppen  hat  aber  der  schwäbische 
Osten  noch  eine  zweite:  dort  wird  auch  vor  den  sonst  die  dehnune: 
verhindernden  konsonanten  gedehnt,  falls  die  tonsilbe  schon  mhd.  im 
auslaut  stand;  andernfalls  ist  kürze  erhalten,  also  köpf  sing.  :  ä;ö)>/' plur., 
entsprechend  Brenners  ßsch  sing,  und  fisch  plur.  Fischers  karten 
geben  jetzt  die  genaue  grenze,  etwa  von  Ohlstadt  an  der  Loisach  über 
Ober-Diessen,  Ulm,  Wiesensteig  nach  Murrhardt  und  im  fränkischen 
weiter  über  Berlichingen  hin  nach  norden.  Auf  alemannischem 
boden  erscheint  dehnung,  wo  es  überhaupt  zu  solcher  kam,  teils  vor 
einfacher  lenis,  auch  r  +  konsonant,  ohne  rücksicht  auf  inlaut  und 
auslaut;  so  in  Basel  (Heusler,  Alera.  konsonantismus  von  Basel;  Ed. 
Hoffmann,  Mundarthcher  vokalismus  von  Basel)  und  in  Brieuz,  wo 
überhaupt  sehr  wenig  gedehnt  wird,  doch  vor  r  +  konsonanz  (Peter 
Schild,  Brienzer  ma.  1).  In  einem  andern  teile  bevorzugt  die  deh- 
nung die  Stellung  im  auslaut,  so  ist  in  Kerenzen  vor  lenis  im  auslaut 
die  dehnung  viel  verbreiteter  als  vor  lenis  im  inlaut  (Winteler, 
Kerenzer  ma.).  Doch  haben  wir  auch  dehnungen  im  inlaut  gegen  kürze 
im  auslaut,  so  in  Ottenheim  (Heimburger,  Mundart  von  Ottenheim, 
Beiträge  XHI,  211  fgg.)  und  spuren  davon  auch  in  Brienz.  Yor  n  +  Spi- 
rans wird  alte  kürze  schwäbisch -alemannisch  im  allgemeinen  wie  mhd. 
länge  behandelt.  Somit  zeigt  sich  im  schwäbisch -alemannischen  Sprach- 
gebiet weit  verbreitet  ein  streben  nach  dehnung  betonter  kürze.  Abge- 
sehen von  der  Stellung  vor  ?i  -j-  spirans  war  das  durchdringen  der 
dehnung  besonders  begünstigt  durch  die  position  vor  einfacher  konso- 
nanz und  durch  die  Stellung  im  wortauslaut.  Es  gibt  bezirke,  in  wel- 
chen die  dehnung  sowol  vor  einfacher  konsonanz  als  im  auslaut  durch- 
drang, also  nur  vor  mehrfacher  konsonanz  im  inlaut  kürze  erhalten 
blieb.  Es  gibt  andere  bezirke,  über  welche  sich  nur  eine  von  beiden 
längen  verbreitete,  wider  andere,  welche  gar  nicht  dehnten  oder  anders 
verfuhren.  Über  die  dehnungsverhältnisse  der  von  Brenner  beigezoge- 
nen fränkischen  und  nordgauischen  bezirke  erhalten  wir  keine 
genügende  auskunft.  Dass  dieselben  im  auslaut  dehnen,  ist  nicht  zu 
bestreiten,  aber  wie  sie  vor  einfacher  konsonanz  im  inlaut  verfahren, 
ist  nicht  klar.  Breunig  (s.  35)  sagt  über  Buchen  sehr  unbestimmt: 
„das  von  Paul  aufgestellte  gesetz,  dass  in  geschlossener  silbe  die  kürze 
bleibt,  in  offener  dagegen  dehnung  eintritt,  hat  in  unserem  dialekt 
nicht  unbedingt  statt.  Man  darf  eher  das  gegenteil  annehmen,  wenn 
man  mit  dem  Stammwort  die  pluralform  vergleicht",  und  die  von  ihm 


518  BOHNENBERGER 

aufgeführten  belege  mit  einfacher  konsonanz  bez.  r  +  konsonant  im 
iulaut  zeigen  teils  länge  teils  kürze.  Auch  was  Himmelstoss  über 
Westböhmen  gibt  (Bayerns  ma.  I,  61  fgg.),  genügt  für  unsere  zwecke 
nicht;  jedesfalls  führt  er  aber  auch  beispiele  für  inlautende  dehnung 
vor  einfacher  konsonanz  auf.  Soviel  ergibt  sich  wenigstens,  dass  man 
auch  für  diese  mundarten  kein  recht  hat,  die  dehnung  im  inlaut  zu 
ignorieren.  So  hat  man  heute  die  zeithche  bestimmung  und  die  erklä- 
rung  der  dehnung  zunächst  einmal  für  das  schwäbisch -alemannische 
zu  versuchen.  Geht  man  unbefangen  daran,  so  muss  es  sich  um  fol- 
gende momente  handeln.  In  ahd.  und  mhd.  zeit  ti-effen  wir  keine  spur 
der  beiden  dehnungsweisen.  Ob  dieselben  wesentlich  gleichzeitig  sind, 
oder  beträchtlich  auseinander  fallen,  ist  nicht  aus  inneren  gründen  zu 
entscheiden,  aber  zunächst  wird  man  doch  wenigstens  an  eine  gleich- 
artige tendenz  auf  dehnung  denken,  welche  vor  einfacher  konsonanz 
und  im  auslaut  am  leichtesten  durchdrang.  Bestimmtere  zeitliche  gren- 
zen erhalten  wir  durch  die  diphthongierung  von  *,  ü  und  durch  die 
apokope  des  alten  -e  der  endung.  Darüber  gleich  mehr  in  der  aus- 
einandersetz ung  mit  Brenner.  Nach  Brenner  soll,  wie  schon  gesagt, 
die  dehnung  im  auslaut  ein  ersatz  sein  für  den  verlust  der  germani- 
schen nominativ-endungssilbe,  wozu  gleich  auch  die  accusativendung  zu 
nehmen  wäre.  Die  anfange  des  Vorgangs  müssten  also  der  vorahd.  zeit 
angehören.  Bei  dieser  hypothese  hat  Brenner  zu  erklären,  wie  es 
kommt,  dass  die  neuen  längen  im  ahd.  und  mhd.  nicht  mit  den  alten 
längen  zusammenfielen  und  nicht  mit  letzteren  diphthongiert  wurden. 
Deshalb  redet  Brenner  für  die  erste  zeit  nur  von  „Verstärkung"  und 
für  nachher  will  er  damit  helfen,  dass  bei  den  alten  längen  der  diph- 
thongierung eine  periode  geschleifter  betonung  vorausgegangen  sein  soll, 
so  dass  auf  diese  weise  die  alten  geschleiften  längen  von  den  neuen 
gestossenen  geschieden  blieben.  Diese  ansetzung  von  geschleifter 
länge  vor  der  diphthongierung  ist  ganz  richtig,  aber  damit  ist  die 
Schwierigkeit  keineswegs  beseitigt.  Zunächst  steht  die  behandlung 
alter  kürze  vor  n  +  spirans  im  wege.  In  dieser  Stellung  liegt  heute 
sowol  im  inlaut  als  auslaut  diphthongierung  vor.  Dieser  process  müsste 
jünger  sein  als  die  silbengewichtsausgleichung  im  auslaut.  Es  müsste 
also  ein  jüngerer  process  über  gestossene  länge  in  geschleifte  länge 
und  endlich  in  diphthong  hinübergeführt  haben,  ohne  dass  der  ältere 
process  von  der  gestossenen  länge  aus  mit  weiter  gieng.  Und  von 
seinen  Voraussetzungen  aus  muss  Brenner  mit  Streitberg,  Idg.  forsch. 
in,  314  weiter  annehmen,  dass  hier  der  nasalverlust  zur  dehnung 
des  kurzen  vokals  führt,    d.  h.  zu  gestossener  länge.     Woher   kommt 


AUSGLEICHUNG    DES    SILBENGEWICHTS  519 

nun  aber  der  schwäbische  diphthong?  Die  sache  wird  also  sehr  com- 
pliciert.  Entscheidend  gegen  Brenner  ist  aber  das  Schicksal,  welches 
die  alten  längen  nach  seiner  hypothese  haben  müssten.  Hätte  Benner 
die  frage  nach  der  silbengewichtsausgleichung  bei  länge  in  der  ton- 
silbe  nicht  ausser  betracht  gelassen,  so  wäre  die  Unmöglichkeit  seiner 
aufstell ungen  sofort  hervorgetreten.  Die  längen,  welche  von  haus  aus 
gestossenen  ton  haben,  müssten  bei  abfallender  endungssilbe  so  gut 
wie  die  diphthonge  geschleift  werden.  Nirgends  findet  sich  aber  im 
schwäbischen  bei  den  germanischen  längen  eine  spur  dieser  Scheidung. 
So  müsste  man  endlich  vier  stufen  annehmen:  kürze,  „verstärkter" 
laut  =  heutiger  länge,  gestossene  länge  =  heutigem  diphthong,  ge- 
schleifte länge  =  heutigem  diphthong.  Damit  kommt  man  doch  zu 
einem  unmöglichen  ende.  AVeiter  müsste  sich  die  ausgleichung  des 
Silbengewichts  wol  zu  verschiedenen  Zeiten  widerholt  haben,  da  -a  frü- 
her abfiel  als  -i  und  -u  nach  langer  silbe.  Oder  sollen  die  -i-  und 
-?i- stamme  nur  der  analogie  der  -a- stamme  gefolgt  sein?  Endlich  ist 
mit  dem  neutrum  zu  rechnen.  Beim  neutrum  müssten  doch  so  wol 
Singular  als  plural  verstärkt  sein.  Und  die  Verstärkung  müsste  auch 
schon  wirksam  gewesen  sein,  als  das  suffix  -ir  antrat,  also  müssten 
heute  auch  die  plurale  auf  -er  lang  sein.  Oder  soll  im  neutrum  nach- 
träglich eine  difi'erenzierung  nach  analogie  des  masculinums  platz  gegrif- 
fen haben?  Brenner  hätte  auch  zu  dieser  frage  Stellung  zu  nehmen 
gehabt.  Umbildung  durch  analogie  ist  übrigens  hier  nicht  unwahr- 
scheinlich, da  beim  femininum  zum  teil  zweifellos  solche  vorliegt.  Kauff- 
mann,  Schwab,  ma.  §  131  A.  nennt  hrük  <  mhd.  brücke. 

Gegenüber  all  den  Schwierigkeiten,  welche  Brenners  hypothese 
entgegenstehen,  hat  man  einen  andern  weg  zu  gehen.  Die  verschie- 
dene gestaltung  der  dehnung  in  den  einzelnen  bezirken  des  schwä- 
bisch-alemannischen weist  schon  darauf  hin,  dass  der  process  jung  ist. 
Nur  die  dehnung  vor  n  +  spii-ans  ist  innerhalb  des  schwäbischen  vor 
beginn  der  diphthongierung  der  alten  längen  anzusetzen.  Die  übrige 
dehnung  muss  jünger  sein,  da  hier  die  neue  länge  nicht  mit  der  alten 
länge  in  diphthong  weiter  gieng.  Da  aber  andererseits  kein  zweifei  sein 
kann,  dass  die  dehnung  im  auslaut  ursprünglich  nur  die  schon  mhd. 
auslautenden  formen  getroffen  hat,  so  muss  die  dehnung  vor  abfall  des 
endungs-e  ihren  anfang  genommen  haben. 

Damit  ist  uns  eine  sehr  beachtenswerte  frage  gestellt,  welche 
H.  Fischer  schon  Germania  36,  425  und  Geographie  d.  schwäb. 
ma.,    s.  21,   note  6    aufgeworfen    hat.     Die    anfange    des    diphthongie- 


520  BOHNENBERGER 

rungsprocesses  müssen  schwäbisch  vor  den  abschluss  der  apokope  des 
endiings-e  fallen.  'Nun  gehören  die  ältesten  heute  bekannten  belege 
für  die  diphthongiernng  in  die  zweite  hälfte  des  13.  Jahrhunderts  (s. 
Kauffmann,  Schw.  ma.  §  76.  82)  und  die  apokope  des  e  nach  langem 
vokal  und  nicht- liquida  setzt  man  gewöhnlich  ins  12.  Jahrhundert.  Die 
konsequenzen,  welche  sich  aus  der  dehnung  alter  kürzen  im  schwä- 
bischen ergeben,  erscheinen  mir  aber  so  sicher,  dass  man  genötigt  ist, 
das  altersverhältnis  von  diphthongiernng  und  apokope  für  das  schwä- 
bische darnach  zu  regulieren.  Hiezu  kann  man  zunächst  bei  der  diph- 
thongiernng ansetzen,  und  damit  helfen,  dass  man,  wie  auch  Brenner 
tut,  der  eigentlichen  diphthongiernng  eine  periode  der  länge  mit  ge- 
schleifter beton ung  vorausgehen  lässt.  Es  müssen  ahd.  *,  ü  schon  vor 
der  Vollendung  der  apokope  geschleiften  ton  gehabt  haben  und  diese 
geschleiften  längen  müssen  durch  ihren  accent  von  den  gestosseneu, 
neu  entstandenen  längen  geschieden  geblieben  sein.  Auf  einige  gene- 
rationen  solche  doppellaute  getrennt  neben  einander  anzunehmen,  scheint 
mir  unbedenklich,  wenn  mir  auch  ein  solches  Verhältnis  auf  viele  Jahr- 
hunderte, wie  es  Brenner  annehmen  muss,  auf  oberdeutschem  boden 
unwahrscheinlich  ist.  Andererseits  wird  geschleifte  betonung  der  län- 
gen erst  zu  einer  zeit  sich  entwickelt  haben,  als  alte  kürze  vor  n  +  Spi- 
rans schon  gedehnt  war.  Dies  ist  wenigstens  die  einfachste  erklärung 
für  schwäbischen  diphthong  <  ahd.  kürze.  Es  scheint  mir  aber  auch 
gar  nicht  ausgemacht,  ob  nicht  an  der  zeitlichen  fixierung  der  apokope 
noch  zu  korrigieren  ist.  Die  fi-age  ist  jedesfalls  mit  rücksicht  auf  das 
verfahren  der  dehnung  neu  zu  untersuchen. 

Müssen  wir  aber  auf  schwäbischem  boden  den  diphthongierungs- 
process  im  weitesten  sinne  mit  entstehung  geschleifter  länge  beginnen 
lassen,  so  ist  nun  die  frage  nach  der  herkunft  der  diphthonge  entspre- 
chend mnzugestalten.  Es  handelt  sich  nicht  niehi-  allein  darum,  ob 
der  eigentliche  diphthong  selbständig  auf  schwäbischem  boden  erwach- 
sen ist  oder  aus  Baiern  übernommen  wurde,  sondern  die  frage  nach 
selbständiger  entstehung  oder  Übernahme  ist  schon  bei  der  vorstnfe, 
der  geschleiften  länge,  aufzuwerfen.  Es  ist  ein  dringendes  bedürfnis, 
dass  die  geschieh te  von  ahd.  ?,  ü  auf  österreichisch -bairischem  boden 
einmal  genauer  untersucht  wird.  AUe  übrigen  angrenzenden  deut- 
schen mundarten  sind  an  der  frage  mit  beteiligt.  Endlich  darf  für 
die  frage  nach  der  anordnung  von  dipthongierung  und  apokope  auch 
in  rechnung  gezogen  werden,  dass  die  dehnung  im  anlaut  im  osten 
des  schwäbischen  gebietes  zu  hause  ist,  wo  wir  auch  den  diphthong 
zuerst  nachweisen  können. 


AUSGLEICHUNa   DES   SILBENGEWICHTS  521 

Bei  den  längen  des  germ.  wirft  Brenner,  wie  schon  gesagt,  die 
frage  nach  ausgleichnng  des  sUbengewichts  gar  nicht  auf.  Dagegen 
sollen  sich  bei  den  diphthongen  formen,  welche  auf  geschleiftem, 
und  solche,  welche  auf  gestossenem  accent  beruhen,  gegenüber  stehen, 
imd  erstere  sollen  den  ersatz  für  die  abgefallene  nominativ-endungs- 
silbe  enthalten.  An  belegen  für  heute  noch  vorhandenen  Wechsel  kann 
Brenner  nur  nordgauisch  lo  :  oi  (oe)  <  germ.  ai  geben.  Es  sollen  aber 
auch  schwäbische  doppelformen  für  germ.  ai  =  ahd.  ei,  für  germ.  ai 
=  ahd.  e  und  germ.  au  =  ahd.  ö  ursprünglich  auf  den  Wechsel  von  for- 
men mit  gestossenem  und  mit  geschleiftem  accent  als  ersatz  für  verlorene 
germanische  endungssilbe  zurückgehen.  Nun  kennen  wir  aber  allmäh- 
lich die  schwäbisch -alemannische  mundart  genau  genug,  um  stricte 
sagen  zu  können:  heute  liegen  diese  doppelformen  nur  in  lokaler  son- 
derung vor,  wir  haben  auch  nicht  den  geringsten  anhält  dafür,  dass 
sie  einst  innerhalb  desselben  bezirks  im  flexionswechsel  neben  einander 
gestanden  haben,  und  je  mehr  wir  in  unserer  mundart  derartige  doppel- 
formen kennen  lernen,  welche  nur  lokal  getrennt  vorliegen  und  kei- 
nerlei anhält  für  ehemalige  andersartige  anordnung  geben,  desto  siche- 
rer haben  wü-  auch  die  lokale  Sonderentwicklung  als  das  ursprüngliche 
anzusehen.  Es  wird  ja  niemand  einfallen  heutiges  i  :  di  <  mhd.  /,  heu- 
tiges Vi  :  du  <  mhd.  ü^  heutiges  ui  :  ü  :  ü  (l)  <  ahd.  iu  auf  ehema- 
lige doppelformen,  welche  nach  flexionsformen  wechseln,  zurückzufüh- 
ren. Und  ebenso  unmöglich  ist  dies  bei  ao  :  ö  :  ö  <  mhd.  ä.  Im 
einzelnen  hier  auf  die  frage  nach  den  Vertretern  von  ei^  e,  ö  einzuge- 
hen, ist  nicht  nötig.  Fischers  geographie  hat  den  heutigen  bestand 
nicht  nur  für  das  schwäbische,  sondern  auch  für  einen  beträchtlichen 
teil  des  alemannischen  genau  verzeichnet.  Darüber  hinaus  können  wir 
heute  höchstens  noch  versuchen,  die  Zwischenstufen  zu  eruieren,  welche 
zu  den  heutigen  lauten  führten.  Für  die  schwäbischen  formen  ergeben  sich 
folgende  entwicklungsreihen :  1)  ei  >  ai  >  oi>  oe>  od,  2)  e>  e>  ei., 
weiter  entweder >a^>aß,  oder>ee>e9,  3)  ö> p> pu,  dann  entweder 
>au>ao,  oder  >  00  >  ^09.  Die  form  ea  <  ahd.  e  und  pa  <  ahd.  ö,  wel- 
che Fischer  §  29  für  den  osten  südlich  der  Donau  gibt,  möchte  ich 
eher  aus  p,  od  ableiten  als  direkt  aus  c,  ö,  doch  ist  ja  auch  e  > 
ei  >  Cd  und  ö  >  ou  >  od  möglich.  In  oe'>  od,  ee>  ea,  po  >  qd  liegt 
reduktion  des  zweiten  bestandl^iles  des  diphthongs  zu  d  vor,  wie  mhd. 
tio,  ie  >  Schwab,  tid,  id  (vgl.  Eaufimann,  Schwab,  nia.  §  140).  In  der 
ersten  reihe  ist  der  gebietsteil  mit  od  einfach  über  den  mit  oe  hin- 
ausgegangen, in  der  zweiten  und  dritten  reihe  trat  eine  gabelung  ein: 
sowol  die  gebietsteile  mit  heutigem  ao,  ae   als  die  mit  pe,  p  gehen 


522  EOHNENBEEGER 

von  pu^  ßi  aus.  Die  Ursachen  dieser  ganzen  entwicklung  kennen  wir 
nicht.  Wir  mögen  wol  mit  Kaufi'mann  den  verschiedenartigen  heutigen 
bestand  auf  verschiedene  tonverhältnisse  zurückführen,  aber  immer 
müssen  dieselben  so  gewirkt  haben,  dass  sie  je  an  einem  orte  den 
ganzen  bestand  trafen.  Gibt  hienach  die  geschichte  dieser  laute  kei- 
nerlei anhält  zur  Verwendung  in  Brenners  sinn,  so  spricht  der  compli- 
cierte  entwicklungsgang,  zu  welchem  wir  nach  Brenner  geführt  wür- 
den, geradezu  dagegen,  und  zuletzt  widerspricht  Brenner  seinen  eige- 
nen Voraussetzungen.  Die  alten  diphthonge  sind  in  ahd.  e,  ö  monoph- 
thongiert und  sollen  nach  Brenner  die  accentverschiedenheit  im  monoph- 
thong  fortgesetzt  haben,  sie  sind  wider  diphthongiert  worden  und  sol- 
len auch  da  die  uralte  Verschiedenheit  von  geschleifter  und  gestossener 
betonung  bewahrt  haben,  durch  mehrere  stufen  weisen  die  formen  mit 
verschiedenem  accent  doch  dieselben  laute  auf,  heute  haben  wir  lokal 
getrennt  verschiedene  entwickhmgsstufen ,  und  darin  soll  nun  doch  noch 
der  alte  accent  zum  ausdruck  kommen.  Diese  complicierte  entwick- 
lungsgeschichte  macht  ihrerseits  Brenners  annähme  so  gut  wie  unmög- 
lich. AVeiter  beruht  aber  nach  Brenner  die  diphthon gierung  von  mhd. 
I,  ü  auf  geschleifter  betonung,  nun  soll  aber  bei  e  und  ö  nur  der  eine 
der  beiden  heutigen  paralleldiphthonge  diesen  accent  voraussetzen,  der 
andere  gestossenen.  Hier  kommt  Brenner  also  geradezu  in  widersprach 
mit  sich  selbst.  So  bleibt  allein  noch  der  von  Brenner  beigezogene 
Wechsel  von  nordgauisch  us  :  oi  <  germ.  cd  in  singular  :  plural.  Nun 
ist  aber  klar,  wenn  die  übrigen  belege  für  die  von  Brenner  aufgestellte 
ausgleichung  des  silbengewichts  nicht  stand  gehalten  haben,  so  ist  auch 
dieser  einzelne  fall  nicht  darauf  zurückzuführen,  sondern  als  jung  an- 
zusehen, so  gut  wie  der  Wechsel  von  länge  und  kürze  in  singular  und 
plural.  Über  die  frage  nd  :  oi  liegen  seither  weitere  äusserungen  von 
Nagl  und  Brenner  (Beitr.  XIX)  vor.  Ich  will  nicht  ins  nordgauische 
und  bairisch- österreichische  hinübergreifen  und  bemerke  nur,  dass  das 
schwäbisch  -  alemannische  eine  entwicklungsreihe  ai  >  oi  >  oj  >  iid 
kennt. 

Brenner  und  noch  mehr  Streitberg  haben  an  ihre  sätze  über 
ausgleichung  des  silbengewichts  erwägungeu  der  allgemeinsten  art 
angeknüpft.  Brenner  (s.  299)  fragt,  ob  es  überhaupt  denkbar  sei,  dass 
ein  wort  auf  rein  lautlichem  wege  einen  teil  abgibt,  ohne  ihn  irgend- 
wie zu  ersetzen,  und  Streitberg  ergeht  sich  zum  schluss  seiner  Unter- 
suchung (s.  416)  in  schönen  Worten  über  „jenes  grosse  gesetz,  das 
nichts  untergehen  lässt,  was  einmal  ins  dasein  getreten  ist."  Ich  mei- 
nerseits könnte  mir  keinen   grossen   gewinn  davon  versprechen,   wenn 


AUSGLEICHUNG   DES    SILBENGEWICHTS  523 

es  mode  werden  sollte,  sich  in  sprachlichen  dingen  auf  das  gesetz  der 
erhaltung  der  kraft  zu  beziehen.  Auch  ist  diese  bezugnahme,  genau 
angesehen,  gar  nicht  richtig.  Nicht  die  spräche  ist  selbständiges  Sub- 
strat der  kraft,  welche  sich  gleich  bleiben  soll,  sondern  Substrat  der- 
selben ist  der  sprechende,  der  mensch,  und  in  ihm  kann  docli  die 
kraft,  welche  einmal  der  spräche  zukommt,  ein  andermal  in  andere 
gebiete  übertreten.  Greift  man  aber  auch  nicht  soweit  hinaus  in  prin- 
cipielle  erwägungen,  so  erhebt  sich  doch  bei  Streitbergs  gesetz  und 
etwaigen  entsprechenden  fällen  der  silbengewichtsausgleichung  die  frage: 
wie  sind  die  verschiedenen  hier  in  betracht  kommenden  momente 
kausal  zu  verknüpfen?  Was  ist  die  Wirkung  und  was  die  Ursache, 
dehnung  bez.  geschleifte  betonung  der  tonsilbe,  oder  morenverlust  in 
der  nachtousilbe,  oder  aber  liegt  die  sache  gar  nicht  so  einfach,  dass 
sich  kurzweg  der  eine  Vorgang  als  Ursache,  der  andere  als  Wirkung 
bestimmen  lässt?  Streitberg  selbst  deutet  mehrfach  an,  dass  er  den 
grund  für  die  Schwächung  der  nachtonsilbe  im  wortaccent  sehe  (so 
s.  314),  er  zieht  auch  Kretschmers  ausdruck  von  der  progressiven 
accentwirkung  bei.  Ich  glaube  ebenfalls,  dass  der  anfang  der  bewe- 
gung  in  dem  wortton  zu  suchen  ist.  Der  hauptton  nimmt  für  die  von 
ihm  getroffene  silbe  ein  so  starkes  mass  des  exspirationsstromes  in 
ansprach,  dass  für  die  unmittelbar  folgende  silbe  nur  wenig  bleibt, 
und  deren  vokal  der  gefahr  der  reduktion  oder  völligen  Unterdrückung 
ausgesetzt  ist.  Aber  wie  kommen  wir  von  da  auf  die  dehnung  der 
tonsilbe,  um  zunächst  von  der  geschleiften  betonung  abzusehen?  Dass 
die  Schwächung  oder  Unterdrückung  des  vokals  der  nachtonsilbe  die 
bedingung  für  die  dehnung  des  tonvokals  ist,  bildet  die  grundlage  von 
Streitbergs  gesetz,  aber  daraus  folgt  nicht,  dass  diese  Unterdrückung 
des  vokals  der  folgenden  silbe  auch  die  ausreichende  Ursache  für  die 
dehnung  des  tonvokals  ist.  "Wäre  dieses  der  fall,  so  läge  regressive 
Wirkung  vor.  Der  morenverlust  würde  zurückwirken  auf  die  frü- 
her gesprochene  silbe.  Mit  recht  betont  Streitberg  (s.  315),  dass  eine 
regressive  Wirkung  in  der  spräche  ein  wesentlich  psychischer  Vor- 
gang ist.  So  verständlich  mir  nun  aber  erscheint,  dass  man  die 
vorausgehende  silbe  reduciert,  wenn  man  die  aufmerksamkeit  und 
die  absieht  starker  exspiration  schon  der  folgesilbe  zmvendet,  so 
unwahrscheinlich  ist  mir  die  dehnung  der  vorhergehenden  silbe  allein 
aus  dem  gründe,  weil  man  schon  im  voraus  auf  die  ersparnis  der 
nächsten  more  rechnet.  Die  silbe,  welche  den  wortton  trägt,  tritt 
hervor  und  findet  besondere  beachtung,  sie  kann  daher  auch  eine 
ihr    vorhergehende    silbe    beeinflussen,    aber    nicht    wahrscheinlich    ist 


524  BOHNENBERGER,    AUSGLEICHUNG   DES    SILBENGEWICHTS 

mir,  dass  man  die  behandlung  einer  unbetonten  silbe  so  sehr  schon 
im  voraus  in  rechnung  zieht,  dass  man  für  die  reducierung  dieser 
silbe  schon  in  der  vorausgehenden  tonsilbe  ersatz  schafft.  So  scheint 
es  mir  wahrscheinlicher,  dass  auch  für  die  dehnung  der  tonsilbe 
nach  Streitbergs  gesetz  deren  wortton  direkt  beizuziehen  ist.  Der 
hauptton,  welcher  der  silbe  grössere  exspiratorische  kraft  verschafft, 
kann  auch  auf  dehnung  hindrängen.  Andererseits  soll  aber  offenbar 
im  idg.,  und  wo  sonst  solche  ausgleichung  des  silbengewichts  gilt,  das 
gewicht  der  wortform  in  der  fortlaufenden  rede  nicht  verändert  werden. 
So  kann  die  dehnung  nur  da  wirklich  eintreten,  wo  zugleich  die 
nächste  silbe  erleichtert  werden  kann.  So  wäre  also  dehnung  der  ton- 
silbe und  reduktion  der  nachtonsilbe  gieichermassen  Wirkung  des  wort- 
accentes.  Auch  nach  dieser  auffassung  muss  die  spräche  bei  der  deh- 
nung der  tonsilbe  schon  mit  dem  werte  der  folgenden  silbe  rechnen, 
aber  sie  tut  es  nun  nicht  in  rücksicht  auf  die  gewichtlose  unbetonte 
silbe,  sondern  in  rücksicht  auf  die  gewichtige  tonsilbe.  Auch  den 
Übergang  von  gestossener  in  geschleifte  betonung  in  ursprünglich  lan- 
ger betonter  silbe  bei  ausfall  der  nächsten  more  wird  man  auf  Wir- 
kung des  worttones  und  zugleich  auf  quantitative  Vorgänge  zurückzu- 
führen haben,  wenn  man  nicht  auf  eine  einheitliche  erklärung  von 
Streitbergs  gesetz  verzichten  will.  Wie  der  hauptton  bestrebt  ist  die 
kurze  silbe  zu  dehnen  und  von  einer  auf  zwei  moren  zu  bringen,  so 
drängt  er  auf  weitere  ausdehnung  der  langen  silbe  gegen  das  mass 
von  drei  moren  hin.  Der  überlange  laut  bevorzugt  dann  geschleifte 
betonung,  da  man  nicht  leicht  gestossenen  ton  über  drei  moren  hin- 
zieht. Es  ist  hiernach  also  nicht  der  silbenton  der  ausgeworfenen 
silbe  auf  die  hauptsilbe  herübergenommen  worden,  sondern  er  ist  mit 
seiner  silbe  ausgefallen,  so  gut  wie  bei  vorausgehender  ursprünglich 
kurzer  silbe,  und  es  hat  die  betonte  übergedehnte  silbe  aus  sich  her- 
aus geschleiften  accent  entwickelt.  An  lebenden  mundarten  mit  ge- 
schleiftem ton  bei  silbenverlust  (z.  b.  der  Kieler  mundart,  Idg.  forsch. 
III,  317)  müsste  sich  diese  erklärung  nachprüfen  lassen. 

TÜBmOEN,    MAI    1895.  K.    BOHNEN-ßERGEE. 


■WADSTEIN,    BEITRÄGE    ZUR    WESTGERMANISCHEN   WORTKUNDE.    I  525 

BEITRÄGE   ZUE  WESTGEEMANISCHEN  WOETKUNDE. 

I. 

Nhd.  gären. 

Dieses  wort  und  besonders  isl.  gerä  „gest,  hefe"  sind  nach  Kluge, 
Et.  wb.,   hinsichtlich  des  anlautenden  g  auffällig,    da  die  Wörter  nicht 

gern  von  ahd.  jesan,  schw.  jäsa  {ja aus  aschwed.  ia  ■ —  durch  nord. 

brechung  entstanden),  dial.  .csa,  norw.  dial.  cesa  usw.  „gären"  getrennt 
werden  können.  Die  //-formen  können  indessen  aus  bildungen  mit 
f/ffi-präfix  entstanden  sein.  Ein  urg.  ^^a-iaxian  kann  nämlich  (vgl. 
Paul,  Mhd.  gram.  §§61  und  73)  nhd.  gären  ergeben  haben.  Ebenso 
kann  isl.  ^er<l  aus  nrg.  *ja-ia7-ipö  {>■  * g-'i- >  * g-)  entstanden  sein;  über 
^■-umlaut  in  bildungen  auf  -ij)ö  vgl.  PBr.  Beitr.  XVII,  415.  Die  hier 
vorausgesetzte  ablautforra  urgerm.  ms  liegt  im  ahd.  jerian  vor. 

Nhd.  gaul. 

Von  diesem  werte  gibt  Khige,  Et.  wb.,  keine  etymologie..  Die 
bedeutungen  des  wertes  gehen  auch  ziemlich  weit  auseinander.  Im 
nhd.  schwankt  seine  bedeutung  zwischen  „elendes  pferd"  (so  schon  im 
14./15.  jahrh.)  und  „stattliches  pferd",  auch  „reit-  und  arbeitspferd" ; 
im  Schwab,  bedeutet  gaul  „pferd"  überhaupt,  im  nndl.  hat  das  ent- 
sprechende guil  die  bedeutung  „eine  noch  nicht  trächtig  gewesene  stute" 
(vgl.  Kluge  a.  a.  o.).  Das  wort  kommt  auch  im  schwed.  vor  (aus  dem 
nd.  entlehnt):  aschw.  gid  „pferd",  nschw.  dial.  gule  „schlechtes  pferd", 
gida  „alte  stute",  (auch  kula,  mit  k  aus  g  in  Stellung  nach  s^  t  in.  Zu- 
sammensetzungen wie  hästkula,  hueslagskula  entstanden,  vgl.  Bugge, 
PBr.  Beitr.  XIII,  167;  hierher  gehört  gewiss  auch  schw.  dial.  envis- 
kula  „eigensinniger  mensch",  vgl.  avimsgula  „eifersüchtiger  mensch", 
Rietz  s.  222).  Im  mhd.  bedeutet  indessen  das  entsprechende  wort:  gül 
„eher",  daneben  indessen  auch  „männliches  tier  überhaupt",  und 
die  letztere  bedeutung  dürfte  in  der  tat  die  ursprünglichere  sein. 

Das  hier  besprochene  wort  stellt  sich  nämlich  gut  zu  der  idg. 
Wurzel  ghu  (wozu  wie  bekannt  z.  b.  gr.  yico  „giessen",  isl.  giöta  „gies- 
sen",  auch  „junge  werfen",  Vihd.giessen  usw.)  und  bedeutet  also  eigent- 
lich „ausgiesser,  besprenger"  (über  das  suffix  -l-  vgl.  Kluge,  Stammb. 
§  188),  eine  ursprüngliche  bedeutung,  welche  wie  bekannt  bei  Wörtern 
für  „männliche  tiere"  sehr  häufig  ist;  vgl.  besonders  isl.  gote  „pferd" 
von  derselben  wurzel  (s.  Lottner,  K.  Z.  V,  153  fgg.;  nach  Bugge,  Ant. 
tidskr.  f.  Sverige  V,  136,  Vitterh.  bist.  o.  ant.-akademiens  handl.  XXXT,  3 
21,  dürfte  isl.  gote  „gotisches  pferd"  bedeutet  haben,  was  indessen  auf 


526  WADSTEIN 

einer  späteren  Volksetymologie  beruht  haben  kann;  für  Lettners  ety- 
mologie  von  gote  spricht  auch  nen-norw.  dial.  gaatte,  gaattefisk,  got- 
fisk  „fisk  som  gyder");  über  andere  Wörter  für  „männliche  tiere"  von 
derselben  ursprünglichen  bedeutung  vgl.  z.  b.  Hellquist,  Etymologische 
bemerkungen,  Gefle  1893  (schulprogramm)  s.  YIII. 

"Was  die  spätere  bedeutung  „stute"  (im  ndl.  guil ,  fem.,  schw. 
guTu,  .fem.)  betrifft,  ist  dieselbe,  nachdem  das  wort  erst  (wie  im  schwäb.) 
die  bedeutung  „j)ferd  überhaupt"  bekommen  hat,  sehr  erklärlich.  Die 
erwähnten  ndl.  und  schw.  Wörter  sind  nämlich  ganz  einfach  feminina, 
welche  man  zu  dem  mask.  werte  von  dieser  allgemeinen  bedeutung 
geschaffen  hat.  Die  hie  und  da  auftretende  bedeutung  „schlechtes 
pferd"  erklärt  sich  aus  volksetymologischer  ein  Wirkung  eines  ähnlichen 
Stammes  (der  vielleicht  zu  derselben  wurzel  gehört)  von  der  bedeutung 
„lose,  weich,  schlecht",  der  im  ostfries.  gid  „lose,  weich  usw.",  mndl. 
guyl  „lafaard",  nhd.  gaulig  „widerlich",  gau(l)lieht  „unschlittlicht"  vorliegt. 

Nhd.  geifern,  geifer,  geifeln,  geifel 
sind  nach  Kluge,  Et.  wb.  {geifer)  dunklen  Ursprungs.  Folgende  nord. 
verwandten  hellen  sie  aber  auf:  isl.  geipla  „loses  geschwätz",  schw. 
dial.  gepa,  gqm  „plappern,  den  mund  nicht  rein  halten  können"  (vgl. 
Bhd.  geifern  „schwatzen"),  schw.  dml.gejM  „einen  angrinsen,  zum  narren 
machen",  norw.  geipla  „neckend  plagen"  (vgl.  nhd.  geifeln  „spöttisch 
lachen").  Diese  verba  bedeuten  offenbar  eigentlich  „den  mund  öff- 
nen" (vgl.  schw.  dial.  ^ipa  „mundwinkel",  „gaffen"  u.  nhd.  (yfe//e;z),  dann 
„schwätzen"  (vgl.  schw.  gapa  „gaffen",  dial.  „schwätzen")  und  auch 
„bespotten".  Was  nhd.  geifer  nnd  geifel  „ausfliessender  Speichel"  betrifft, 
so  dürften  diese  nord.  Wörter  auch  zeigen,  dass  Grimms  Wb.  im  recht 
ist,  da  es  (mit  hinweis  auf  mlat.  oscedo,  dass.,  eigentlich  „gähn sucht") 
dieselben  zu  geifen  „gaffen"  stellt,  denn  diese  subst.  (mit  den  verben 
entsprechender  bedeutung)  sind  natürlich  von  den  von  mir  zuerst  ange- 
führten Wörtern  nicht  zu  trennen. 

Nhd.  haschen. 
Die  deutung  dieses  wertes  ist  bis  jetzt  unsicher  gewesen.  Nach 
Kluge,  Et.  wtb.  wäre  Zusammenhang  mit  haft  und  hebe)t  (lat.  capio) 
wahrscheinlich.  Dass  ein  "^hafskön  zu  nhd.  haschen  führen  würde,  ist 
indessen  nicht  sicher  erwiesen.  Mit  hilfe  eines  bis  jetzt  unbeachteten 
verwandten  wertes  dürfte  aber  eine  zuverlässigere  etymologie  gefunden 
werden  können.  Es  ist  dies  schwed.  dial.  hask  „einem  dinge  nachlaufen 
um  es  einzuholen";  vgl.  die  bedeutung  des  nhd.  haschen  „etwas  sich 
bewegendes  mit  geschwindigkeit  greifen  oder  es  zu  ergreifen  streben". 


BEITRÄGE    ZUR    •WESTGERMANISCHEN    WORTKUNDE.    I  527 

Wegen  der  bedeutung  des  schwed.  wertes  passt  es  ja  gut  diese  werter 
mit  ahd.  has,^m,  haz,$6n  „verfolgen",  asächs.  hatön  „nachstellen",  nhd. 
hassen,  schw.  hata  zusammenzustellen.  D.  haschen  und  schw.  dial. 
hask  verhalten  sieh  hinsichtlich  der  mittleren  konsonanten  zu  nhd.  has- 
sen, schw.  hata  wie  z.  b.  isl.  beiskr  zu  got.  haitrs,  isl.  ö^7r  oder  isl. 
Iqskr  zu  got.  lats,  isl.  latr  usw.,  worüber  vgl.  Noreen,  Urg.  lautlehre 
§  35  anm.  und  die  daselbst  angeführte  litteratur. 

Nhd.  ho  de 
ist  nach  Kluge,  Etjm.  wb.  dunklen  Ursprungs.  Ich  sehe  aber  nicht, 
warum  man  das  wort  nicht  zu  der  wurzel  s-ku  „bedecken,  bergen", 
wozu  Avie  bekannt  u.  a.  nhd.  haut,  eigentlich  „hülle",  schote  „hülse  als 
sameubehältnis "  aber  auch  von  den  samen  selbst:  „(grüne)  erbsen" 
stellen  könnte.  Dafür  scheint  auch  das  zu  dieser  wurzel  gehörige  isl. 
skiöita,  agutu.  sciaujm  „beutel"  (vgl.  auch  isl.  skauäir,  norw.  skau 
„scheide,  vorbaut")  zu  sprechen. 

Nhd.  kracke 
„schlechtes  pferd"  stellt  Kluge  mit  fragezeichen  zu  ndl.  kraak,  frz.  car- 
raque  „art  schwerfälliger  haudelsschifie".  Das  wort  hat  indessen  nor- 
dische verwandte,  welche  diese  erklärung  unwahrscheinlich  machen.  Es 
sind  diese:  schwed.  krake  „mageres,  elendes  pferd;  schwacher,  arm- 
seliger mensch",  schwed.  dial.  kraklig?'  „schwach,  elend,  kränklich",  norw. 
krake  „kränkliches  oder  sehr  mageres  tier,  kleiner,  schwacher  mensch", 
krakeleg,  krakutt,  krakkjen  „schwach",  krakk-sitjande,  -scett  „infolge 
schwäche  oder  invalidität  (immer)  sitzend",  krakk  „Stümper,  armer  elen- 
der mensch,  schlechtes  pferd",  kraka,  krakla  „(mit  mühe)  vorwärts 
krabbeln",  isl.  krakligr  „dünn,  schwächlich".  Ich  vermute,  dass  diese 
Wörter  denselben  stamm,  aber  ohne  nasalinfigierung,  wie  nhd.  krank  (im 
mhd.  „schmal,  kraftlos,  schwach"),  ags.  cranc  „schwächlich,  gebrech- 
lich", isl.  krangr  „schwächlich"  enthalten.  Über  den  Wechsel  -g-:-k-: 
-kk-  in  den  hier  angeführten  Wörtern  vgl.  Noreen,  Urgerm.  lautlehre 
§§44,  3  und  46,  3. 

Die  ursprüngliche  bedeutung  des  Stammes  germ.  kra(n)g-,  kra(n)k- 
dürfte  „krimim,  biegsam"  und  daher  „schwächlich"  sein.  Dies  geht 
aus  folgenden  nord.  formen  hervor:  schwed.  kräkla  „krummstab", 
schwed.  dial.  kraka  „niedergebeugt  werden",  isl.  krake  „stauge  mit 
einem  haken",  norw.  krake  „haken,  stange  rait  kurzen  abgeschnittenen 
zweigen  oder  haken,  worauf  man  Sachen  aufhängt",  schwed.  dial.  krake, 
krängla,  dass.  (vgl.  schw.  krängla  eigentlich  „sich  krümmen",  dann  in 
übertragener  bedeutung  „quengeln,  Schwierigkeiten  machen"). 


528  WADSTEIN 

Nhd.  schenken,  schenke!,  schinken. 

Yon  nhd.  schenken  wird  bei  Grimm,  D.  wb.  hervorgehoben:  „die 
bedeutung  „„flüssigkeit  in  ein  gefäss  aus  einem  behältnis  fliessen  las- 
sen, trank  eingiessen""  erweist  sich  durch  den  übereinstimmenden  ge- 
brauch der  altgermanischen  spräche  als  die  älteste." 

Was  die  etymologie  betrifft,  so  stellt  man  (s.  Kluge,  Et.  wb.)  nach 
J.  Grimms  Vorgang  (Kl.  sehr.  II,  179)  das  wort  zu  ags.  scconc(a)  „bein- 
röhre", voraussetzend,  dass  beinröhren  in  der  ältesten  zeit  als  „bahn  am 
fass  benutzt  wurden;  schenken  wäre  daher  eigentlich  „den  bahn  ans 
fass"  setzen".  Diese  erklärung  überzeugt  mich  nicht.  Erstens  ist 
es  ja  nur  eine  Vermutung,  dass  man  beinröhren  als  „bahne  an  fäs- 
sern"  benutzt  hat  und  ferner  dürfte  in  frage  gestellt  werden  können, 
ob  man  dergleichen  einrichtungen  wie  fässer  und  bahne  schon  so  früh 
gehabt  hat,  wie  diese  erklärung  voraussetzen  muss.  Es  dürfte  deshalb 
nicht  überflüssig  sein  zu  versuchen,  eine  andere  etymologie  von  die- 
sem Worte  zu  geben. 

Ich  stelle  nhä.  schenken ,  schw.  skänJm  usw.  zu  isl.  skakkr  {■<*shank-)^ 
nach  Fritzner:  „skjsev,  heldende  (vgl.  isl.  hella  unten)  mere  til  den 
ene  side"  (=  „schräge,  mehr  nach  der  einen  seite  hin  schief  stehend"), 
norw.  skakk,  schwed.  dial.  skakk,  skank  von  derselben  bedeutung.  schen- 
ken bedeutet  also  eigentlich  „(ein  gefäss)  schief  stellen,  und  dadurch 
den  Inhalt  ausgiessen"  (vgl.  isl.  skekkja  <  *skankian,  „bringe  i  skja3v 
stilling");  es  liegt  hier  also  ganz  dieselbe  bedeutiingsentwicklung  vor, 
wie  im  isl.  hella,  schw.  hälla  „ausgiessen",  eigentlich  (s.  Fritzner- 
und  verf ,  Indog.  forsch.  V,  14)  „schief  stellen"  zu  isl.  hallr  „geneigt, 
eine  schiefe  Stellung  habend" ;  nhd.  einschenken  heisst  gerade  auf  schw. 
hälla  i.  Diese  erklärung  von  schenken  wird  auch  dadurch  gestützt, 
dass  man  im  isl.  ein  skak-ker  „gefäss  aus  welchem  eingeschenkt  wird" 
hat,  dessen  erster  teil  offenbar  mit  mhd.  scheine  von  eben  derselben 
bedeutung  identisch  ist. 

Es  ist  indessen  wegen  dieser  neuen  erklärung  nicht  nötig,  schen- 
ken von  den  oben  erwähnten  ags.  sceonc,  scconca  „crus"  und  von 
d.  Schenkel,  schinken,  schunke  und  den  mit  diesen  verwandten  schw. 
skänk  {<:.*skank-),  norw.  dial.  s/lT/^Ji:,  skonk  „Schenkel"  zu  trennen.  Es 
ist  nämlich  zu  beachten,  dass  in  schw.  dial.  auch  skänka,  skunka, 
skinka,  welche  Wörter  natürlich  verwandte  der  vorigen  sind,  mit  der 
bedeutung  „hinken"  vorkommen  (vgl.  auch  aschw.  skinka  „hinken,  eine 
pferdekrankheit",  Söderwall).  Dieser  umstand  zeigt,  dass  alle  diese  formen 
zu  der  bekannten  idg.  wurzel  skhenß  gehören,  wovon  wie  bekannt  u.  a. 
(s.  Fick,  Ygl.  wb.2  1,  567)   skr.  khanj,    gr.  ovAuo  „hinken".     Zu   die- 


BEITRÄGE    ZUR   WESTGERMANISCHEN   WORTKÜNDE.    I  529 

ser  Wurzel  stellen  sich  ja  auch  die  oben  erwähnten  isl.  slcakkr,  schw. 
dial.  skank  usw.  vortrefflich,  da  die  bedeutungen  „schräge,  schief  sein" 
und  „hinken"  nahe  aneinander  liegen. 

Auch  die  bedeutungen  von  ags.  sceonc(a)  usw.,  nhd.  Schenkel  und 
Schinken  erklären  sich  leicht  aus  einem  ursprünglichen  „schief  sein", 
wenn  man  bedenkt,  dass  diese  Wörter  offenbar  ursprünglich  nur  von 
den  h  int  erbeinen  von  tieren  benutzt  worden  sind.  Dass  dem  so  ist, 
zeigt  nhd.  schinken,  schw.  skinka  usw.,  das  ja  noch  nur  den  obersten 
teil  eines  hinterbeines  bezeichnet;  vgl.  ferner,  dass  nhd.  Schenkel  im 
engeren  sinne  „Oberschenkel  des  hinter-fusses"  bedeutet  und  dass  im 
schwed.  im  vorigen  Jahrhundert  (nach  Lind,  Schw.-teutsch.  Wörter- 
buch, Stockholm  1749)  häst-skank  „eines  pferdes  hinter-schenckel" 
bedeutet  hat;  beachte  ferner  schw.  dial.  skinkling  „hinter-fesseln 
von  tieren".  Die  hinterbeine  sind  ja  eben  krumm  und  der  unterste 
teil  derselben  steht  schief  nach  vorn  gerichtet. 

Diese  ursprüngliche  bedeutung  „schief,  gebeugt"  von  germ.  skink-^ 
skank-  „hinterbein"  kann  auch  dazu  beitragen,  das  wort  nhd.  bein,  schw. 
hen  usAV.  zu  erhellen.  Dieses  ist  (s.  z.  b.  Kluge,  Et.  wb.)  zu  isl.  heinn 
„gerade"  gestellt  worden.  Yielleicht  hat  es  ursprünglich  die  geraden 
Vorderbeine   von  tieren    im.   gegensatz    zu   den    krummen  hinterbeinen 

bezeichnet. 

Nhd.  wäre. 

Die  etymologie  dieses  wortes  ist  noch  nicht  ermittelt  worden. 
Skeat,  Et.  dict,  sagt  von  dem  entsprechenden  engl,  tvare  „I  ...  suspect 
it  to  have  been  borrowed  from  Scand."  Ich  glaube,  dass  Skeat  liier 
richtig  urteilt  und  dass  gleichfalls  nhd.  tuare  „kaufware"  eigentlich  ein 
nord.  lehnwort  ist;  in  der  tat  tritt  dieses  erst  im  spätem  mhd.  auf.  Im 
altisl.  und  altnorw.  weist  das  wort  auch  bedeutungen  auf,  welche  offen- 
bar die  ursprünglichen  sein  müssen. 

Nord,  vara  bedeutet  nämlich  (s.  Vigfusson  und  Fritzner)  im  alt- 
norw. hauptsächlich  „feil"  und  im  altisl.  besonders  „grober  wollen- 
stoff"  (=  isl.  „vädmal");  vgl.  auch  altisl.  bukka-vara  „bockfell", 
grd-vara  „grau -werk",  klö-vara  „hides  with  the  claws  left  on" 
ueunorw.  vara-tuku  (s.  Aasen  unter  varskinn)  „decke  aus  feilen" 
und  altnorw.  vqru-kambr,  das  Fritzner  gewiss  richtig  „w  oll -kratze" 
übersetzt. 

Wegen  dieser  bedeutungen  stellt  sich  vara  usw.  offenbar  zu  gr. 
eiQOQ  „wolle",  äQi'jv  „schaf,  widder"  (wie  bekannt  eigentlich  „der  wol- 
lige"), QfivLg.  „Schafpelz"  usw.,  welche  bekanntlich  zu  der  idg.  wurzel 
icar  „bedecken,  hüllen"   gehören. 


ZEITSCIIRin    F.    DEUTSCHE    PHILOLOGIE.     BD.   XXVHI. 


34 


530  PHILOLOGENVERSAMMLUNti    IN    KÖLN    1895 

Hierher  gehört  wahrscheinlich  auch  nhd.  schicarte,  isl.  suqr'är, 
aschw.  sivcerp  (vgl.  verf.  IS'ord.  tidskr.  f.  hlol.  3  r.  III,  11  fgg.,  wo  s.  12 
z.  6,  11  von  imten  ices  in  ivar  zu  ändern  ist),  eigentlich  (wie  im  isl. 
und  mhd.)  „haarige  haut";  über  den  Avechsel  siv-  :  iv-  im  anlaut 
vgl.  z.  b.  Noreen,  Urgerm.  lautl.  s.  208. 

Ursprünglich  ist  vara  usw.  also  nur  zur  bezeichnung  von  feilen 
oder  wolle(nen  Stoffen)  benutzt  worden;  später  aber  hat  das  wort  die 
bedeutung  „kaufmannsgut  im  allgemeinen"  angenommen.  Diese  allge- 
meinere bedeutung  hat  vara  offenbar  dadurch  bekommen,  dass  das 
Warenlager  der  aus  dem  norden  kommenden  kaufleute  hauptsächlich 
aus  feilen  (und  wolle?)  bestand:  diejenige  nordische  „wäre",  welche 
in  alter  zeit  den  fremden  am  meisten  begehrlich  war,  waren  ja  eben 
feile.  Das  in  der  Jetztzeit  so  hervortretende  wort  „wäre"  ist  also  ein 
beredter  zeuge  des  lebhaften  handelsverkehrs,  welcher  im  altertum  zwi- 
schen Deutschland,  England  und  dem  norden  stattgefunden  haben  muss. 

P.    T.    IffilDELBERG.  ELIS    WADSTEIX. 


BERICHT   ÜBER    DIE   YERHANDLITNGEN    DER    GERMANISTISCHEN 

SECTION    AUF   DER   XXXXIII.   VERSAMMLUNG   DEUTSCHER    PHILOLOGEN 

UND   SCHULMÄNNER  IN  KÖLN. 

24.-28.  September  1895. 

Die  germanistische  abteilung  constituierte  sich  am  25.  September  mittags  iu 
einem  klassenzimmer  des  Marcellen  -  gymnasiums ,  das  zwar  für  die  50  mitglieder 
hinreichenden  räum,  aber  für  die  vortragenden  leider  wenig  ruhe  uqd  für  die  zuhö- 
renden nur  recht  unbequeme  sitze  bot.  Nachdem  herr  Oberlehrer  dr.  Blumschein 
die  anwesenden  auf  dem  boden  des  heiligen  Köln  willkommen  geheissen  hatte,  wur- 
den prof.  Wilmanns  und  dr.  Blum  schein,  die  auch  die  vorbereitenden  arbeiten 
übernommen  hatten,  zu  versitzenden,  dr.  Berger  (Bonn)  und  gymnasiallehrer 
Schölten  (Elberfeld)  zu  Schriftführern  ernannt. 

Die  erste  sitzung  wurde  schon  am  nachmittage  desselben  tages  abgehalten; 
denn  da  diesmal  an  dem  letzten  tage  der  Versammlung  nur  noch  die  allgemeine 
Schlusssitzung  gehalten  werden  sollte,  um  den  festteilnehmern  gelegenheit  zu  einer 
fahrt  ins  Siebengebirge  zu  geben,  mussten  fleissige  sectionen  schon  die  nachmittage 
zur  hilfe  nehmen,  obwohl  sie  mancher  gern  ungeteilt  zur  besichtigung  der  reichen 
kunstschätze  Kölns  verwendet  hätte.  —  Nachdem  der  versitzende  in  kurzer  anspräche 
der  seit  der  Wiener  Versammlung  verstorbenen  fachgenossen  gedacht  hatte,  ergriff 
zum  ersten  vortrage  das  wort  herr  bibliothekar  dr.  Kos  sin  na  aus  Berlin,  dem  es 
am  herzen  lag,  den  fachgenossen  die  Wichtigkeit  der  vorgeschichtlichen  archäologie 
nachdrücklich  zu  gemüte  zu  führen;  schade  nur,  dass  es  ihm  nicht  vergönnt  war,  den 
Vortrag  in  einem  wol  ausgestatteten  museum  zu  halten  und  das  wort  durch  den  hinweis 
auf  handgreifliches  material  zu  beleben.  Die  vorhistorische  archäologie ,  führte  er  aus, 
habe  unsere  durch  mangelhafte  nachrichten  getrübte  auffassung  überall  bereichert  und 


PHILOLOGENVERSAMMLUNG    IN   KÖLN    1895  531 

berichtigt.  Nur  völliger  mau  gel  an  saclikunde  könue  es  verschulden,  wenn  noch  jetzt 
mancher  vor  der  angeblichen  Unsicherheit  und  Unklarheit  auf  diesem  gebiete  zurück- 
schrecke oder  gar  die  grundzüge  der  heutigen  prähistorischen  Chronologie  als  unglaub- 
würdig hinzustellen  sich  ruiterfange.  Als  den  beginn  der  germanischen  prähistorie 
bezeichnete  der  vortragende  den  jüngeren  abschnitt  der  neolithischen  zeit,  wo  der 
mensch  bereits  den  ackerbau  kenne,  die  wichtigsten  haustiere  besitze,  geschliffene 
und  geglättete  steinwerkzeuge  führe  und  eine  gefällige  keramik  ausübe.  Bis  in  den 
anfang  des  3.  Jahrtausends  reiche  diese  zeit  zurück.  Er  steckte  sodann  die  folgenden 
Perioden  ab,  hob  ihi-e  charakteristischen  merkmale  hervor,  wies  auf  die  stätigen  fort- 
schritte  einer  vielseitigen  kultur  hin  und  betonte,  dass  man  sich  von  dem  zerrbilde 
germanischer  Wildheit  und  Unkultur,  das  noch  heute  bei  der  mehrzahl  der  römischen 
historiker  beliebt  sei,  losmachen  müsse.  Die  ergebnisse  der  archäologie  hätten  für 
das  wirtschaftsieben  der  urzeit  ganz  neue  grundlagen  geliefert  und  mit  der  Vorstel- 
lung vom  nomadentum  der  Germanen,  vom  fehlen  des  ackerbaues,  von  überwiegen- 
der fleischuahrung,  vom  wohnen  in  zelten  oder  auf  wagen  und  wie  die  unklaren  und 
widerspruchsvollen  uachrichten  alle  lauten  mögen,  gründlich  aufgeräumt.  Bereits  in 
der  frühesten  vorzeit  hätten  die  Germanen  zum  kulturgebiet  Mittel-  und  Westeuropas 
gehört  und  würden  durch  eine  ungeheure  kluft  von  den  um  mehr  als  ein  Jahrtausend 
zurückgebliebenen  Slawen  geschieden.  —  Die  these,  die  der  vortragende  schliesslich 
aufstellte:  „Die  germanische  prähistorie  ist  ein  unentbehrlicher  bestandteil  der  ger- 
manischen altertumskunde  und  verlangt  von  selten  der  germanischen  philologie  ernste 
und  nachhaltige  pflege"  wurde  ohne  Widerspruch  angenommen. 

Der  folgende  Vortrag  des  herrn  dr.  Eötteken  aus  Wüi-zburg  war  nicht  so 
glücklich  allgemeine  Zustimmung  zu  finden.  Der  vortragende  versuchte  darzutun, 
dass  der  aufbau  unserer  landläufigen  poetik  unzweckmässig  und  durch  einen  ande- 
ren zu  ersetzen  sei;  insbesondere  war  er  der  ansieht,  dass  die  herkömmliche  ein- 
teilung  der  dichtungen  in  epos,  lyrik  und  drama  besser  vermieden  werde,  da  die 
Vielseitigkeit  der  mit  diesen  namen  verbimdenen  Vorstellungen  leicht  verwirmng 
anstifte.  Er  verglich  diese  einteilung  nach  den  gattungen  mit  querschnitten  und 
wünschte  statt  ihrer  lieber  längsschnitte ,  in  denen  einzelne  merkmale,  die  z.  b.  zu 
dem  begriff  des  dramas  gehörten,  durch  dichtungen  aller  art  verfolgt  würden.  Als 
solche  gesichtspunkte ,  die  geeignet  wären,  die  kapitel  der  poetik  zu  bilden,  bezeich- 
nete er:  stoffwahl,  Weltanschauung  des  dichters,  urteil  des  dichters,  die  Stimmungen, 
der  bildzusammenhang,  die  arten  der  rede  (einzelrede  und  gespräch),  die  Übermitte- 
lung der  rede  (stilles  lesen,  Vortrag,  aufführung,  musikbegleitung) ,  die  composition. 
Die  meisten  beziehungen  zu  der  üblichen  einteilung  habe  das  kapitel  vom  bildzusam- 
menhang. —  Es  gelang  dem  vortragenden  nicht,  obwol  er  deutlich,  fliessend  und 
lebendig  sprach,  in  der  kurzen  zeit,  die  ihm  zur  Verfügung  stand,  seine  anschauun- 
gen  so  klar  zu  entwickeln,  dass  er  die  hörer  überzeugte.  Die  discussion,  die  von 
prof.  Greiz enach  (Krakau)  eröffnet,  von  prof.  Bötticher  (Berlin)  und  Siebs 
(Greifswald)  weitergeführt  wurde,  griff  emzelne  punkte  an  und  verteidigte  namentlich 
die  drei  alten  gattungen  der  poesie.  Aber  der  streit  rückte  nicht  recht  vorwärts  und 
die  kämpen  räumten  ohne  entscheidung  das  feld,  über  dem  sich  längst  die  friedlichen 
schatten  des  abends  ausgebreitet  hatten. 

Am  morgen  des  folgenden  tages  bat  zunächst  herr  prof.  Bötticher,  die 
gesellschaft  für  deutsche  philologie  in  Berlin  bei  ihrer  bearbeitung  der  Jahresberichte 
durch  Zusendung  der  publicationen ,  besonders  auch  der  gelegenheitsschriften  imd  dis- 
sertationen  zu  unterstützen.     Darauf  sprach  herr  prof.  Schröder  aus  Marburg  über 

34* 


532  PHILOLOGENYERRAMMLITN'G    IN    KÖLN    1895 

die  verfluchten  tänzer  von  KüUiigk  (Grimm,  Deutsche  sagen- I,  275).  Die  sage  geht 
aiif  einen  wirklichen  von  Lambeit  von  Hersfeld  erwähnten  verfall  zurück,  der  sich 
etwa  1013  zugetragen  hat.  Schon  im  11.  Jahrhundert  hatte  die  erregte  volksphanta- 
sie,  geistliche  tendenz,  gelegentlich  auch  schwiudelhafte  reklame  landfahrender  leute 
die  geschichte  sagenhaft  ausgestaltet,  und  schon  damals  hatte  man  sie,  um  ihr  vol- 
len glauben  zu  verschaffen,  in  einem  scliriftstück  niedergelegt,  das  sich  als  bericht 
eines  der  teilnehmer  selbst  ausgab.  Von  diesem,  jedenfalls  dei'  Kölner  diöcese  ent- 
stammenden bericht  haben  wir  nur  ein  unmittelbares  und  nicht  ganz  sicheres  Zeug- 
nis; die  weite  Verbreitung  der  sage,  der  der  vortragende  in  büchern  und  handschiif- 
ten,  in  Frankreich,  den  Niederlanden  und  England  nachgespürt  hatte,  beruht  auf 
zwei  bearbeitungen,  dem  berichte  des  Otbert,  einem  knappen  auszug  nach  dem 
gedächtnis,  und  dem  bericht  des  Dietrich,  in  dem  die  schriftliche  vorläge  mit  stili- 
stischen prätensionen  nnd  einer  bestimmten  lokaltendenz  erweitert  ist.  Auf  dem  kür- 
zeren, aus  Fi'ankreich  stammenden  berichte  beruhen  die  erzilhluugeu  der  sage,  die 
wir  seit  Albei't  von  Stade  und  dem  Erfurter  minoriten  in  deutschen  geschichtsschrci- 
bern  finden;  der  längere  des  Dietrich  kam  namentlich  in  England  zum  ansehn  und 
wurde  auch  in  mittelenglischen  dichtungen  bearbeitet.  Seine  treue  gegen  das  alte 
original  beweist,  dass  die  niederdeutschen  namensformen  der  18  mir  hier  vollständig 
genannten  teilnehmer  noch  deutlich  erkennbar  sind,  und  um  so  höheres  Interesse 
gewähren  die  verse,  in  denen  uns,  leider  nur  in  lateinischer  Übersetzung,  die  erste 
Strophe  jenes  tanzliedes,  das  der  bauer  Gerief  improvisierte  und  vorsang,  erbalten 
ist.  —  Im  anschluss  an  den  gelehrten  und  durclisichtigen  Vortrag,  dem  die  hörer 
leicht  und  gern  hatten  folgen  können,  erinnerte  herr  prof.  Jostes  (Freiburg)  au 
ähnliche  sagen,  namentlich  den  Rattenfänger  von  Hameln,  über  den  er  wol  nächstens 
genauere  mitteilungcn  wird  in  die  öffentlichkeit  ausgehen  lassen. 

Den  zweiten  Vortrag  hielt  herr  dr.  Wrede  (Marburg)  über  den  deutschen 
Sprachatlas.  Mehrere  der  überaus  sauber  und  übersichtlich  ausgeführten  karten,  die 
in  Marburg  iiuter  Wenkei'S  loitung  angefertigt  iind  jährlich  in  ansehulicher  zahl  (jetzt 
ca.  50)  zur  königlichen  bibliothek  in  Berlin  abgeliefert  werden,  lagen  der  Versamm- 
lung als  eine  anschauliche  grundlage  des  Vortrags  vor.  Wrede  betonte  zunächst  die 
Zuverlässigkeit  des  statistischen  materials,  auf  dem  der  Sprachatlas  beruhe.  Im  laufe 
der  langjährigen  bescliäftigung  mit  den  von  ca.  50,000  gewährsleuten  ausgefüllten 
forniularen  sei  den  bearbeitern  der  glaube  an  die  brauchbarkeit  derselben  nicht  gesun- 
ken, sondern  gestiegen,  nur  dürfe  man  an  sie  nicht  forderungen  stellen,  die  sie  ihrer 
natur  nach  nicht  befriedigen  könnten.  Da  den  gewährsleuten  keinerlei  phonetische 
bezeichnungsweise  vorgeschrieben  gewesen  sei  und  auch  nicht  habe  vorgeschrieben 
werden  können,  so  ergebe  sich  von  selbst,  dass  ihre  aufzeichnungen  nicht  als  pho- 
netisch genaue  dialektwidergaben,  die  auf  ihnen  beruhenden  karten  nicht  als  fertige 
dialektkarten  anzusehen  seien.  Um  zu  den  phonetischen  werten  durchzudringen 
erfordere  jede  karte  (gerade  so  wie  jede  alte  hdschr.)  eine  besondere,  häufig  recht 
complicierte  Interpretation,  die  mit  schriftsprachlicher  beeinflussung  der  gewährsmän- 
ner,  mit  dialektisch  gefärbter  ausspräche  des  sciirif tdeutschen ,  mit  diakritischen 
bestrebungen  in  der  Orthographie  der  Übersetzungen  usw.  sich  abzufinden  habe.  An 
zahh'eichen  beispielen  zeigte  der  vortragende  sowohl  die  Schwierigkeiten,  als  auch 
die  m'öglichkeit  bei  inniger  Vertrautheit  mit  dem  gesammten  material  sie  zu  überwin- 
den und  wichtige  resultate  und  aufschlüsse  zu  gewinnen.  Der  Verfasser  wies  auf 
die  problematischen  zusammenhänge  von  dialekt-  und  alten  Stammesgrenzen,  die 
principiellen  i;nterschiede   sprachgeschichtlicher  entwickluug   in  dem  alten  westlichen 


PHILOLOGENVERSAMMLUNG    IN   KÖLN   1895  533 

stammlaud  und  dem  östlichen  kolonisatiousbodeu,  die  intimen  zusammenhänge  von 
Sprachgeschichte  imd  besiedlungsgeschichte  hin  und  erläuterte  dies  an  heispielen  aus 
dem  atlas.  Leider  laste  auf  den  bearbeitem  die  mechanische  herstellung  der  karten, 
die  ihnen  in  erster  linie  obliege,  so  schwer,  dass  ihnen  für  die  wissenschaftliche  Ver- 
arbeitung keine  zeit  bleibe.  Und  doch  sei  es  dringend  zu  fordern,  dass  mit  dersel- 
ben begonnen  werde.  Je  massenhafter  sich  das  material  häufe,  um  so  grösser  werde 
die  gefahr,  dass  selbst  die  bearbeiter  des  atlas  den  überblick  verlören,  wenn  nicht 
mit  der  technischen  weiterführimg  seine  wissenschaftliche  Verwertung  band  in  band 
gehe.  —  Die  erörterungen,  die  sich  dem  vortrage  anschlössen,  zeigten,  dass  die  ger- 
manistische section  dem  Sprachatlas  grosses  Interesse  entgegenbringt  und  den  darlegun- 
gen  des  vortragenden  mit  regster  teilnähme  gefolgt  war.  Allgemein  war  die  Über- 
zeugung, dass  es  allerdings  notwendig  sei,  die  wissenschaftliche  bearbeitung  des 
maierials  nicht  länger  hinauszuschieben  und  ebenso,  dass  kein  anderer  besser  dazu 
befähigt  sein  könne,  als  die  männer,  in  deren  band  seit  sieben  jähren  das  unterneh- 
men ruhe.  Die  section  nahm  dabei  einstimmig  einen  antrag  des  prof.  Schröder  an- 
„dem  herrn  minister  für  die  dem  deutschen  Sprachatlas  gewährte  Unterstützung  ihren 
ehrerbietigsten  dank  und  zugleich  die  dringendste  bitte  auszusprechen,  die  zu  einer 
gedeihlichen  fortführung  und  ausbeutung  des  Unternehmens  nötigen  mittel  zu  bewil- 
ligen." Die  ausführuug  des  beschlusses  wurde  einer  kommission  überlassen.  An  der 
diskussion  hatten  sich  beteiligt:  Burdach,  Schröder,  Franck,  Wilmanns,  Zip- 
per (Lemberg),  Kossinna. 

Etwas  später  und  langsamer  als  an  den  vorhergehenden  tagen  fanden  sich  die 
mitglieder  der  section  am  morgen  nach  dem  festmahl  im  Gürzenich  ein,  um  einen 
Vortrag  des  herrn  prof.  Burdach  aus  Halle  zu  hören.  Mehr  als  ein  anderer  ver- 
trag Hess  dieser  empfinden,  dass  die  germanistische  abteilung  eben  nur  eine  abteilung 
der  allgemeinen  philologenversammlung  ist,  dass  alle  historischen  Wissenschaften  zu- 
sammenhängen und  sich  gegenseitig  befruchten  müssen.  Der  vortragende  wollte  die 
Überzeugung  verstärken,  dass  die  altdeutsche  philologie  gut  tue,  ihre  grenzen  zu 
erweitern,  namentlich  die  entwicklung  der  kunst  zu  berücksichtigen  und  die  latei- 
nische litteratur  heranzuziehen.  Unter  diesen  gesichtspunkten  besprach  er,  bald  mehr 
bald  weniger  eingehend,  eine  reihe  interessanter  erscheinungen  unserer  älteren  litte- 
ratur. Wie  weit  manche  anschauungen,  bei  denen  man  es  auf  den  ersten  blick  kaum 
vermutet,  in  das  altertum  zurückreichen,  zeigte  er  namentlich  an  einem  miniatur- 
bild  zum  falschen  gast,  auf  dem  ein  buhlerisches  weib  durch  verschiedene  gunst- 
bezeugungen  gleichzeitig  mehrere  männer  zu  beglücken  weiss.  Bis  in  die  jüngere 
attische  komödie  verfolgte  der  vortragende  die  weit  verschlungene  wanderaug  dieses 
motivs.  Besonders  aber  lenkte  er  die  aufmerksamkeit  auf  das  gebiet  allegorischer 
darstellungen.  Aus  der  jüngeren  sophistik  der  römischen  kaiserzeit  stamme  die 
anwendung  von  Personifikationen  abstrakter  wesen;  durch  die  vermittelung  mittel- 
alterlicher poetiken  dringe  sie  in  die  lateinische  schulpoesie;  in  die  poesie  der  Lan- 
dessprachen habe  sie  oft  ihi-en  weg  durch  das  medium  der  bildenden  kunst  genom- 
men. In  diesem  Zusammenhang  wurde  der  bekannte  Spruch  TJbermiiot  diu  alte 
behandelt,  Hemrichs  von  Veldecke  darstellung  Salomous  auf  dem  lager  der  minne, 
Eeinmars  von  Zweter  wunderliches  bild  des  idealen  mannes,  und  dann  auf  die  unge- 
meine entfaltuug  der  allegorischen  dichtung  seit  dem  ende  des  13.  Jahrhunderts  hin- 
gewiesen, die  von  bildender  kunst  befruchtet,  ihi-erseits  auf  diese  wider  zurückwirkt.  — 
Dem  anziehenden  vertrag,  dessen  reicher  inhalt  sich  in  einem  kurzen  refei'at  schlecli- 
terdings  nicht  anschaulich   widergeben   lässt,    fügte   herr    prof.    Greiz enach    einige 


534  philologen\"ersajd:lung  in  Köln  1895 

bemertiuigen  hinzu.  Er  wies  auf  die  dramatischen  aufführungen  als  eine  quelle  der 
bildenden  kunst  hin  und  führte  auf  sie  namentlich  darstellungen  des  totentauzes  und 
des  bethlehemitischen  Idndermordes  zurück. 

Nui'  kurze  zeit  war  noch  übrig;  sie  benutzte,  einer  aufforderung  des  ver- 
sitzenden mit  dankenswerter  bereitwilligung  folgend,  herr  prof.  Jostes  aus  Freiburg 
i.  Schw.  zu  mitteilungen  aus  seinen  Untersuchungen  über  die  heimat  der  altsäch- 
sischen denkmäler.  Nach  Westfalen  gehören  nach  der  ansieht  des  vortragenden 
nachweislich  nur  die  beiden  heberollen  von  Essen  und  Freckenhorst,  für  alles  audei-e 
sei  die  herkunft  aus  dem  östlichen  gebiet  des  Sachsenstammes  wahrscheinlicher.  Die 
as.  beichte  (deren  uns  vorliegende  fassung  übrigens  auf  klösterliche  Verhältnisse 
berechnet  und  nicht  älter  sei  als  die  hs.),  die  homilie  Bedas,  die  Gregoriusglossen, 
die  evangclienglossen  ständen  zwar  in  hss. ,  die  ehemals  dem  stift  Essen  gehört  hät- 
ten, aber  diese  hss.  seien  nachweislich  erst  gegen  ende  des  10.  Jahrhunderts  dorthin 
gelangt;  die  hs.  der  Düsseldorfer  Prudentiusglossen  aber,  die  man  nach  Werden 
setzt,  sei  wahrscheinlich  erst  in  der  zeit  der  reformation  aus  Helmstedt  in  das  mut- 
terkloster  Werden  gebracht.  Ebenso  weise  die  Überlieferung  des  Heliand  in  das  öst- 
liche gebiet.  Der  Cottonianus  steht  in  einer  hs.  mit  einem  Über  qnondam  Canuti 
regis,  P.  klebte  auf  dem  deckel  eines  Eostocker  druckes,  M.  ist  durch  Heimich  II. 
nach  Bamberg  gekommen  und  die  hs.  der  Vaticanischen  fragmente  sei  zwar,  wie  der 
in  derselben  hs.  erhaltene  und  von  derselben  band  geschiiebene  kalender  beweise, 
in  St.  Alban  in  Mainz  geschrieben;  aber  dieser  kalender  sei  ein  kalender  der  Mag- 
debm-ger  kirche,  beweise  also,  dass  sich  damals  Magdeburger  in  Mainz  aufhielten. 
Nach  dem  osten  weise  auch  die  spräche:  die  alHtteration  von  g  :  j  und  der  wert- 
schätz, besonders  der  gebrauch,  den  fremden  städtenamen  das  wort  hurg  anzuhän- 
gen. Ein  engeres  gebiet  zu  bestimmen  gestatten  dann  einige  Wendungen,  die  der 
dichter  braucht,  vor  allem  die  stelle,  wo  von  dem  auf  sand  gebauten,  durch  wind 
und  regen  zum  einsturz  gebrachten  hause  die  rede  ist.  Aus  den  venti  ist  westraiii 
wind  geworden,  ans  den  phivia  und  flumina:  tvägo  ström,  sees  üäeon;  nur  an  der 
Westküste  eines  meeres  können  also  der  dichter  und  sein  nächstes  publikum  gewohnt 
haben.  So  kommen  wir  auf  Nordalbingien  und  dazu  stimmen  die  beziehungen  Lud- 
wigs des  Frommen  zum  dichter  und  die  kii-chlichen  Verhältnisse  des  landes.  Ham- 
burg war  der  ausgangspunkt  für  die  christianisienmg  Dänemarks  und  mit  dieser  hatte 
der  kaiser  seinen  Jugendfreund  Ebbe ,  den  erzbischof  von  Eheims ,  später  auch  bischof 
von  Hüdesheim,  den  söhn  eines  deutschen  bauern,  betraut.  Mit  der  tätigkeit  Ebbos 
also  dürfte  die  abfassung  des  Hehand  in  direktem  zusammenhange  stehen.  —  Früher 
als  es  den  zuhöreru  lieb  war,  musste  herr  Jostes  seine  mitteilungen,  die  durch  ihre 
zwanglos  natürliche  Vortragsweise  nicht  weniger  angezogen  hatten  als  durch  ihren 
Inhalt,  abbrechen;  denn  wir  mussten  zur  allgemeinen  sitznng  eilen,  um  dort  einen 
Vortrag  des  herrn  dr.  Wenker  zu  hören.  So  wurde  dann  die  sitzung  nach  schnell 
gewechselten  höflichkeiten  zwischen  dem  Vorsitzenden  und  der  section,  pünktlich  um 
10  uhr  geschlossen. 


AHLGRIMM,    ÜBER    TÄRDEL,    SPIELMANXSPOKSIE  535 

LITTEEATUE. 

Untersuchungen  zur  mhd.  spielmaunspoesie.  1.  zum  Orendel,  2.  zum 
Salmau-Morolf.  Von  Herrn.  Tardel.  Scliwerin  1894.  (Leipzig,  G.  Fock  in 
comm.)     72  s.     1,20  m. 

Der  1.  teil  dieser  Eostocker  dissertation ,  die  schon  vor  E.  H.  Meyers  und 
Laistners  einschlägigen  abhandlungen  (Ztschr.  f.  d.  a.  37  und  38)  beendet  war,  aber 
im  hinblick  auf  die  ergebnisse  jener  noch  einmal  durchgesehen  wurde,  gibt  zunächst 
eine  Übersicht  über  die  verschiedenen  ansichten,  die  betreffs  des  dem  spielmanns- 
gedichte  von  Orendel  zugrunde  liegenden  Stoffes  aufgestellt  sind.  Tardels  Untersu- 
chungen stellen  sich  als  ergänzung  des  1.  teils  der  arbeit  Meyers  dar,  der  die  Oren- 
delfabel  ihrem  kerne  nach  auf  eine  „vollere  frz.  bearbeitung  des  ApoUonius-romans" 
zurückführt.  Dem  gegenüber  versucht  Tardel  den  nach  weis,  dass  dem  deutschen 
dichter  jene  fabel  in  der  gestalt  des  frz.  Jourdain  de  Blaivies  vorgelegen  habe.  Er 
muss  aber  selbst  zugeben,  dass  Orendel  auch  manches  mit  Apoll,  gegenüber  Jourdain 
gemein  hat.  Und  wenn  Tardel  weiter  viele  der  sich  im  Apoll. -Jourd.- Orendel  fin- 
denden motive  auch  sonst  in  frz.  und  deutscher  volkspoesie  nachweist,  so  zeigt  das 
doch  schon,  dass  man  sich  den  deutschen  dichter  nicht  nach  einer  aufgeschlagenen 
vorläge  arbeitend  zu  denken  hat;  vielmehr  nahm  dieser,  der  doch  in  der  Trierer 
gegend  lebte  und  sich  vielleicht  vordem  als  kleriker  in  Frankreich  aufgehalten  hatte, 
auf  was  ihm  von  den  oft  erzählten  Apollonius-geschichten,  die  sicher  unter  einander 
variierten,  haften  geblieben  war.  Und  wie  viel  auch  hier  schon  wider  aus  nur  münd- 
lich fortlebenden  fabeln  und  märchen  entlehnt  war,  zeigen  Laistners  Untersuchun- 
gen. —  Somit  kann  nur  gesagt  werden,  dass  der  Orendeldichter  besonders  motive 
der  Apolllonius  -  fabeln  aufgenommen  hat.  Über  die  direkte  quelle  kann  nichts  behaup- 
tet werden. 

Der  wert  der  Tardelschen  arbeit  besteht  in  der  fleissigen  Zusammenstellung 
von  ApoUonius-motiven,  die  sich  im  Orendel  und  in  der  frz.  und  deutschen  volks- 
poesie finden.  Demnach  ist  der  enge  Zusammenhang  zwischen  frz.  und  deutscher  volks- 
poesie aufs  neue  dargetan.  Mehr  wert  hätten  Tardels  Zusammenstellungen  allerdings 
noch,  wenn  er  die  datierung  der  angezogenen  frz.  volksepen  gäbe.  Denn  es  bleibt 
wenigstens  überall  der  versuch  übrig  nachzuweisen,  welches  volk  das  einzelne  motiv 
in  die  dichtung  eingeführt  hat,  vorausgesetzt  dass  es  nicht  schon  aus  dem  antiken 
roman  übernommen  ist.  Bei  manchen  wird  es  allerdings  nicht  gelingen ,  bei  manchen 
wird  es  nur  mehr  oder  minder  wahrscheinlich  gemacht  werden  können.  Aber  es 
werden  auch  fälle  voi'kommen,  wo  man  ein  motiv  bestimmt  datieren  kann,  wie  z.  b. 
der  Orendel  \ielleicht  doch  ziim  ersten  male  in  der  deutschen  dichtung  die  colee  auf- 
weist, so  dass  wir  dann  die  merkwürdige  tatsache  hätten,  dass  ein  motiv  aus  dem 
ritterlichen  leben  weit  fiüher  in  der  niederen  volkspoesie  als  in  der  höfischen  dich- 
tung behandelt  worden  sei.  Vgl.  dagegen  Vogt,  Ztschr.  22,  484  fg.  Dass  Ise  sich 
bei  diesem  ritterschlage  das  schwert  selbst  umbindet,  wie  Tardel  sagt,  ist  irrig  (vgl. 
V.  2291;  er  gürtet  sich  selbst  dann  zum  furnier  v.  2295). 

Gegenüber  den  historischen  parallelen  zum  Orendel,  die  E.  H.  Meyer  im  zwei- 
ten teile  seiner  abhandlung  zusammengestellt  hat,  beschränkt  sich  Tardel  auf  die 
bemerkung,  dass  dieselben  „mit  reserve  aufzunehmen"  seien.  Auch  Harkensee  und 
Berger  haben  sich  den  diesbezüglichen  ausführungen  Meyers  (Ztschr.  f.  d.  a.  12)  ge- 
genüber ablehnend  verhalten.  Vogt  verhält  sich  ebenfalls  zurückhaltend,  obgleich  er 
(Ztschr.  22,  483)    schon  gegenüber  Berger  das  Meyer  zugibt,    dass    der    historische 


536  AHLGRIMM,    ÜBER    TARDEL,    SPIELMANNSPOESIE 

hintergrund  unseres  gedichtes  auf  die  zeit  nach  dem  dritten  kreuzzuge  hinweist,  wie 
denn  auch  in  einigen  punkten  Meyer  gegenüber  Bergers  ausführungen  (Ausg.  s.  LIX) 
recht  habe.  Mej^er  hat  seine  ausführungen  seitdem  vermehrt  und  verbessert;  danach 
scheinen  mir  denn  doch  mehr  historische  reminiscenzen  aus  der  geschichte  des  drit- 
ten kreuzzuges  im  Orendel  enthalten  zu  sein,  als  man  bisher  annahm.  Dass  die 
spielleute  sich  diese  teilweise  pikanten  anekdoten  nicht  haben  entgehen  lassen,  ist 
doch  auch  von  vornherein  wahrscheinlich.  Aber  auch  hier  wird  man  häufig  nur  bis 
zu  einem  gewissen  grade  wahrscheinlich  machen  können,  dass  ein  zug  nicht  aus  der 
Volksüberlieferung,  sondern  aus  diesen  kriegsgeschichten  stamme.  Auf  einen  von 
Meyer  aus  dem  leben  Alberos  von  Trier  berichteten  historischen  Vorgang  (vgl.  a.  a.  o. 
s.  329)  geht,  glaube  ich,  auch  der  von  Vogt  zur  ergänzung  der  Untersuchungen  Heiu- 
zels  (Ztschr.  2ü,  411)  beigebrachte  zug  zurück,  der  sich  gleiehmässig  im  Seghelijn 
und  Orendel  (v.  3093  fgg.)  findet. 

In  dem  zweiten  teile  will  Tardel  eine  Übersicht  über  die  nachahmungen  geben, 
die  motive  der  Salomosage  in  der  mhd.  volksepik  gefunden  haben.  Es  sind:  die 
brautwerbung  in  ihren  Vorbereitungen,  die  eigentliche  entführung  und  die  wider- 
erwerbung  der  entführten,  deren  ausgestaltung  in  Roth.,  Or. ,  Oswald,  Otn.,  den 
"Wolfdietrichen,  Gudr.,  Nib.,  und  (in  einem  anhange)  in  der  frz.  volksepik  behandelt 
wird.  "Was  also  in  den  ausgaben  dieser  volksmässigen  dichtungen  bisher  in  einzel- 
nen anmerkimgen  über  anklänge  aneinander  in  einzelnen  zügen  kurz  angedeutet  war, 
ist  hier  systematisch  ziisammengestellt  und  als  nachahmung  der  Salomosage  betrach- 
tet. —  Es  ist  allerdings  sehr  wahrscheinlich,  dass  die  Salomosage  in  vielen  fällen 
den  ausgangspunkt  für  diese  motive  bildet;  aber  Tardel  denkt  doch  die  übrigen  dich- 
tungen in  einem  zu  engen  litterarischen  abhängigkeitsverhältnis  zu  jener  sage  stehend, 
wenn  er  in  jedem  falle  bewusste  nachahmung  eines  gedichtes  von  Salm  an  und  Morolf 
vorliegen  sieht.  Ich  glaube  vielmehr,  dass  man  nui"  von  einem  foi-tleben  von  lieb- 
lingsmotiven  reden  kann,  die  zuerst  in  gedichten  von  Salman  imd  Morolf,  ebenso 
früh  aber  vielleicht  auch  schon  in  solchen  vom  könig  Rother  auftauchen,  die  dann 
unzählige  male  von  jedem  spielmann  in  verschiedenen  liedern  gehört  und  gesungen 
sein  mögen  und  die  weiter  auch  bei  der  dichterischen  gestaltung  neuer  Stoffe  ver- 
wendet wurden,  ohne  dass  man  bestimmt  das  eine  oder  andere  gedieht  im  sinne 
hatte.  Diese  motive  waren  eben  gesamtbesitz  der  spielleute,  die  in  gewissen  grossen 
Zügen  deshalb  typisch  wurden,  aber  im  einzelnen  frei  ergänzt  wurden,  wie  z.  b. 
in  der  Gudrun  bei  der  entfühning  der  Hilde  ein  motiv  in  ein  anderes  eingefloch- 
ten wurde.  Deshalb  geht  es  auch  nicht  an,  den  vogel  in  Gudr.  1166  als  raben 
zu  deuten,  wie  Tardel  wiU  (vgl.  s.  53  anm.),  einfach  weil  in  einer  sagengrappe,  die 
auch  auf  Oswald  eingewirkt  hat,  ein  rabe  ats  böte  verwendet  ist;  dagegen  spricht 
doch  schon:  ein  vogel  kam  gevloxxen.  Ebenso  wenig  kann  man  aus  der  in  Roth, 
und  Gudr.  vorkommenden,  aber  in  den  bekannten  deutschen  Versionen  der  Salomo- 
sage nicht  vorliandenen  erkennung  des  verlobten  oder  gemahls  durch  einen  ring  nicht 
auf  eine  dieses  motiv  enthaltende  fassung  der  Salomosage  schliessen,  da  dies  motiv 
schon  aus  den  heimkehrsagen  genugsam  belegt  ist.  Das  hiesse  die  Salomosage  zur 
allherrschenden  in  der  Spielmannsdichtung  machen  und  den  reichtum  der  volksüber- 
lieferung  in  märchen  und  sage  ganz  unterschätzen.  Ganz  anders  liegt  es  bei  den 
angeführten  frz.  gedrehten,  die  ausdrücklich  auf  die  Salomosage  bezug  nehmen  oder 
den  Stempel  der  bewiissten  nachahmung  an  der  stirn  tragen. 

Auf  einzelne  punkte,  in  denen  ich  nach  dem  oben  gesagten  nicht  mit  Tardels 
ausführungen  einverstanden  sein  kann,  gehe  ich  nicht  ein.     Im  ganzen  ist  auch  die- 


BÖTTICHER,    ÜBER   SATTLER,    WOLFRAMS   RELIGION  537 

sei'  teil  als  eine  fieissige  luid  für  die  sagengeschichte  manchen  beitrag  liefernde  arbeit 
zu  beurteüen,  von  der  nur  zu  wünschen  wäre,  dass  das  ganze  material  im  1.  wie 
im  2.  teile  übersichtlicher  angeordnet  und  dass  ein  inhaltsverzeichnis  beigegeben  wäre. 

HAMBURG.  FR.    AHXGRIMM. 

Die  religiösen  anschauiingen  Wolframs  von  Eschenbach.  Bearbeitet  von 
Antou  Sattler,  w'eltpriester  und  professor  am  fürstbischöflichen  gymuasium  in 
Graz.  [Grazer  Studien  zur  deutschen  philologie,  herausgegeben  von  A.  Scliönbach 
und  B.  Seiiffert.     1.  heft.]     Graz,  Styria.  1895.     XI,  112  s.     3,20  m. 

In  den  Grazer  Studien  soUen  haupts<ächlich  doctor  -  dissertationen  von  schülern 
der  beiden  herausgeber  veröffentlicht  werden,  da  die  österreichische  rigorosenordnung 
den  dnick  der  dissertationen  nicht  verlangt.  Den  anfang  dieser  Sammlung  macht 
vorliegende  arbeit,  eine  durchschnittsleistung  auf  dem  gebiete  der  doctorarbeiten,  die 
von  emsigem  sammlerfleisse  und  von  ausreichender  Vertrautheit  mit  dem  mhd.  im 
allgemeinen  und  mit  Wolfram  insbesondere  zeugnis  ablegt.  Aber  zur  fördening  des 
Verständnisses  WoKrams  oder  des  urteils  über  seine  werke  kann  man  nichts  aus  ihr 
gewinnen.  Der  Verfasser  beschränkt  sich  eben  darauf ,  die  im  Parzival  und  Wille- 
halm enthaltenen  religiösen  anschauungen  systematisch  im  zusammenhange  darzustel- 
len, die  lehre  von  gott,  Christus,  Maria,  den  engein,  der  erbsünde,  taufe,  busse, 
messe,  vom  priesteramt,  der  ehe,  der  askese,  dem  begräbnis,  dem  fegefeuer  und 
der  heiligenaurufung.  Diese  ausführung  begleitet  er  mit  weitläufigen  erörterungen 
und  citaten  aus  den  kirchenvätern  und  der  Scholastik,  um  zu  zeigen,  dass  Wolfram  dem 
sinne  nach  mit  ihnen  übereinstimmt.  Er  scheint  dabei  hauptsächlich  eine  wider- 
legimg  San  Martes  im  äuge  gehabt  zu  haben,  der  bekanntlich  evangelische  regungen 
in  AVolfram  gefunden  zu  haben  glaubte  und  ihn  zu  einer  art  von  evangelischem  rit- 
ter  stempeln  wollte.  Diese  ansichten  San  Martes  zu  widerlegen,  soweit  sie  wii'klich 
irrig  waren,  war  ein  solcher  apparat  nicht  nötig,  denn  der  Verfasser  findet  ja  selber 
zum  schluss,  dass  Wolfram  den  theologischen  fragen  fern  stand  und  zu  den  theolo- 
gischen Schriften  gar  keine  beziehungen  hat;  das  aber,  was  davon  richtig  war,  näm- 
lich dass  Wolfram  ein  wahi'haft  innerlicher  chi'ist  und  dem  äusserlichen  werkdienste 
abgeneigt  war,  ja  dass  er  auch  manche  leise  kiütik  an  der  kirchlichen  praxis  übte, 
hat  Sattler  nicht  widerlegt;  er  muss  vielmehr  selbst  zugeben,  dass  einerseits  man- 
ches auffallende  bei  Wolfram  steht  und  anderseits  manches  kirchlich  wichtige  fehlt. 

Sattlers  arbeit  bestätigt  nur  die  tatsache,  dass  sich  Wolframs  religiosität  über 
den  gewöhnlichen  katholischen  begriff,  wonach  religiosität  im  wesentlichen  im  gehor- 
sam gegen  die  Vorschriften  der  kirche  besteht,  erhebt,  und  dass  ihm  die  innerliche 
läuterung  und  Sinnesänderung,  die  widergeburt,  das  allein  massgebende  war.  Das 
erhellt  aus  folgenden  punkten,  die  Sattler  zum  teil  zugeben  muss,  obwol  er  sehr 
leicht  darüber  hingeht: 

1.  In  Parzivals  bussaufenthalt  bei  Trevi'ezent  fehlt  die  formale  beichte,  die 
formale  absolution  und  die  satisf actio  operis.  Dagegen  tritt  um  so  stärker  in 
den  Vordergrund  die  contritio  cordis.  Die  letzteren  beiden  punkte  gibt  Sattler  zu, 
aber  wenn  er  behauptet,  dass  die  satisfactio  operis  kein  wesentlicher  teil  des  buss- 
sacraments  sei,  so  widerspricht  er  damit  dem  Lombarden,  der  ausdrücklich  die  drei 
bestandteile  aufzählt:  contritio  cordis,  confessio  oris,  satisfactio  operis.  Sattler  führt 
ein  paar  stellen  des  IX.  buches  an,  in  denen  die  ausdrücke  ivandel  geben,  ivandeln 
vorkommen  (P.  798,  8.  499,  17.  466,  13.  14),  aber  gerade  diese  beweisen,  dass 
der  ausdruck  nicht  in  dem  kirchlichen  sinne    der    satisfactio  operis  gebraucht  ist. 


538  BOETTICHER 

Und  gerade  die  stelle,    die  für  Sattlers  ansieht  die  wichtigste  ist,    die  worte  Trevre- 
zents  502,  25: 

gip  tnir  dtn  sünde  her  : 

vor  got  ich  bin  dins  wandels  wer. 

und  leist  als  ich  dir  hän  gesagt, 

beltp  des  teilten  unverzagt 
beweist  aufs  klarste,    dass   er  hier  unter  wandet   nicht    die  abbüssung  der  Sünden 
durch  gute   werke   oder   durch   auferlegte  pein  meint,    sondern  die  Wandlung  des 
herzens,  die  umkehr. 

Die  woi-te  gii)  mir  dm  sünde  her  sollen  nach  Sattler,  wie  auch  früher  nach 
Domanig  und  Seeber,  natürlich  die  absolution  enthalten;  das  tun  sie  auch,  aber 
durchaus  nicht  in  der  kirchlichen  form;  Trevrezent  ist  auch  nach  meiner  ansieht 
von  priesterlichem  Charakter,  aber  ob  er  ordnungsinässig  als  zum  priester  geweiht 
gedacht  ist,  ist  mir  sehr  zweifelhaft;  vor  seinem  einsiedlerleben  war  er  es  jedenfalls 
nicht,  dass  er  aber  mit  dem  entschluss,  in  die  einöde  zu  gehen,  die  priesterweihe 
erhalten  habe,  wird  nicht  erwähnt.  Trotzdem  ist  er  ein  heilec  onan,  und  in  des 
dichters  äugen  kein  laie,  und  als  solcher  kann  er  auch  Parzival  die  sünde  abneh- 
men auf  grund  dessen,  dass  er  seine  reuige  umkehr  sieht.  Insofern  hatte  aber  doch 
San  Marte  mit  seinen  hinweisen  auf  evangelische  ahnungen  bei  "Wolfram  nicht  so 
ganz  unrecht,  und  die  „laienbeichte"  ist  auch  nicht  so  ohne  weiteres  herauszuinter- 
pretieren,  ein  punkt,  der  allerdings  von  Wichtigkeit  ist,  da  von  einer  späteren  beichte 
bei  einem  priester,  die  doch  nach  der  kirchenlehre  notwendig  gewesen  wäre,  nicht 
die  rede  ist.  Sattler  sieht  das  priesteramt  Trevrezents  schon  durch  das  Vorhanden- 
sein eines  altars  erwiesen,  aber  ganz  mit  unrecht.  Trevrezent  gehört  zum  Grals- 
geschlecht, und  in  Munsalvaesche  wird  der  Gral  doch  auch  auf  einem  altar  gestan- 
den haben,  ohne  dass  ein  priester  da  war  —  denn  wo  anders  hätte  die  taube  die 
geheiligte  oblate  niederlegen  sollen?  Trevrezent  hatte  also  wol  für  "W'olfram  schon 
durch  seine  Zugehörigkeit  zum  Gralgeschlechte  priesterlichen  Charakter,  und  so  konnte 
er  auch  absolvieren.  Ich  glaube  keineswegs,  dass  Wolfram  sich  hier  ausdrücklich 
in  gegensatz  zur  kirche  habe  stellen  wollen  ■ —  er  folgte  ja  überdies  seiner  quelle  — 
aber  er  stand  den  äusseren  Ordnungen  der  kirche  frei  gegenüber  und  wusste  das 
Wesen  von  der  form  zu  scheiden. 

2.  Der  zweite  punkt  betrifft  das  Verhältnis  zur  heidenweit.  Es  zeigt  densel- 
ben Charakter  innerlicher  religiosität.  Die  zu  seiner  zeit  allgemein  herrschende 
anschauung  von  der  nngiltigkeit  heidenchristlicher  mischehen  nimmt  er  als  tatsache 
hin,  aber  eine  kritik  dieses  zustandes  liegt  für  jeden  unbefangenen  in  der  Charak- 
teristik Belakanes  imd  in  den  gewissensbissen  Gahmiirets  auf  der  haud.  Es  ist, 
glaube  ich,  sogar  niclit  zu  weit  gegangen,  zu  behaupten,  dass  die  triuwe  und  der 
edle  mannes  muot  für  "Wolfram  den  menschen  zum  rechten  Christen  und  der  Seligkeit 
würdig  machte  auch  ohne  taufe.  Dies  scheint  mir  die  bestimmung  des  Feirefiz 
zum  Gral  und  die  äusserlichkeit  der  taufhandlnng  an  ihm  in  ihrer  begründung  und 
ihrer  magischen  Wirkung  ziemlich  deutlich  zu  sagen.  Seine  Charakteristik  der  edlen 
beiden  im  Willehalm  stimmt  dazu.  Ihn  deshalb  als  evangelischen  Vorkämpfer  in 
ansprach  nehmen  zu  wollen,  kann  mir  nicht  einfallen,  denn  das  ist  ebensowenig 
evangelisch  als  katholisch ,  aber  "Wolframs  innerliche  religiöse  richtung  gegenüber  dem 
katholischen  kirchendienste  wird  dadurch  allerdings  beleuchtet.  Ähnliches  liesse  sich 
auch  von  seiner  hohen  auffassung  der  ehe  sagen,  die  nach  ihm  geradezu  den  him- 
mel  erwirbt,  wenn  sie  rehte  e  ist: 


ÜBER   SATTLER,    WOLFRAMS   RELIGION  539 

468,  5    wert  ir  erfunden  an  rehter  e, 
in  maß  %er  helle  tverden  we, 
dnt  not  sol  schiere  ein  ende  hän. 
oder  im  Titurel  51,  2:  %e  himel  ist  reitie  für  got  ir  geleite. 

"Wolframs  Christentum  ist  biblisches  Christentum  mit  einem  stich  ins  huma- 
nistische, wenn  man  so  sagen  darf,  er  hat  aber  keinen  grund,  polemische  kritik  an 
der  kirche  zu  üben.  Er  folgt  allerdings,  wie  Sattler  sagt,  im  allgemeinen  der  her- 
kömmlichen Schulmeinung,  aber  er  steht  dem  kirchentum  mit  seinen  Ordnungen  und 
f orderungen  sehr  frei  gegenüber,  nicht  als  freigeist,  sondern  als  eine  religiöse  natur, 
die  sicher  auf  dem  unverrückbaren  biblischen  gründe  des  evangeliums  von  der  erlö- 
sung  durch  Christus  ruht.  Sattler  nimmt  keinen  bezug  auf  meine  Charakteristik 
Wolframs  in  meiner  Parzivalausgabe ,  obwol  er  sie,  wie  mehrere  stellen  seiner  arbeit 
zeigen,  kennt;  ich  darf  daher  wol  annehmen,  dass  er  gegen  sie  nichts  wesentliches 
einzuwenden  weiss. 

Dies  ist  nun  der  eine  grosse  mangel  an  Sattlers  arbeit,  dass  er  die  eben  erör- 
terten dinge  gar  nicht  berührt.  Der  andere  ist  der,  dass  er  sich  die  gelegenheit,  bei 
seiner  ausgebreiteten  kenntnis  der  patristischen  litteratur  nach  den  quellen  für  gewisse 
ausführungen  Wolframs  zu  suchen,  hat  entgehen  lassen.  Es  war  zu  scheiden  zwi- 
schen den  allgemein  christlichen  anschauungen  und  denen,  die  an  theologische 
erörterungen  anklingen.  Solcher  gibt  es  allerdings  nicht  viel,  und  um  so  eher  kann 
man  deshalb  annehmen,  dass  sie  alle  der  französischen  quelle  Wolframs  angehören. 
Dahin  rechne  ich  z.  b.  die  astronomischen  anschauungen,  die  bei  dem  leiden  des 
Anfortas  erörtert  werden  P.  489  fgg.  Hier  begnügt  sich  der  Verfasser  mit  dem  allge- 
meinen hinweis,  dass  „man"  eben  damals  solche  meinung  von  dem  Saturn  und 
den  planeten  hatte.  Ferner  gehört  dahin  die  angelologie,  die  Trevrezent  gibt  (P.  463 
fgg.),  die  menschenverderbnis  durch  die  ungenuht  der  töchter  Adams,  und  die  heil- 
mittel  für  Anfoi'tas'  wunde  samt  allen  wundern  Indiens  und  des  Orients.  In  der 
französischen  theologischen  litteratur  war  hier  in  erster  linie  zu  suchen.  Eine 
stelle  hätte  dies  dem  Verfasser  besonders  nahe  legert  müssen.  Das  taufbekenntnis 
des  Feirefiz  weicht,  wie  der  Verfasser  zeigt,  von  dem  gewöhnlichen  ritual  der  kirche 
ab,  zeigt  aber  grosse  ähnlichkeit  mit  einem  französischen  formular,  das  vom  cardinal 
Thomasius  in  einem  sehr  alten  französischen  missale  entdeckt  worden  ist.  Wolfram 
wird  es  aus  seiner  quelle  haben,  und  dies  hätte  den  Verfasser  veranlassen  sollen, 
der  spur  nachzugehen  auch  auf  die  möglichkeit  hin,  dass  nichts  dabei  herauskam, 
aber  er  stellt  nicht  einmal  die  frage  auf.  Mit  des  Verfassers  thema  hatte  das  aller- 
dings nichts  unmittelbar  zu  tun,  aber  nützlicher  wäre  gewiss  eine  Untersuchung  gewe- 
sen, die  es  sich  zur  aufgäbe  machte,  festzustellen,  was  von  Wolframs  religiösen  aus- 
führungen aus  theologischen,  besonders  französischen  werken  stammte,  und  was 
etwa  als  seine  eigne  zutat  oder  doch  absichtliche  fassung  za  betrachten  sei.  Nicht 
bloss  hierfür,  sondern  auch  für  des  Verfassers  thema  von  Wichtigkeit  sind  die  letzten 
Untersuchungen  Heinzeis  in  den  Wiener  Sitzungsberichten  über  die  quellen  Wolframs. 
Der  Verfasser  scheint  sie  noch  nicht  gekannt  zu  haben. 

BERLIN,    JULI    1895.  G.    BOETTICHER. 


540  KAUFFMANN 

Zur  geschichte  der  schwäbischen  mundart  m  XY.  Jahrhundert.  I.  All- 
gemeines lind  vokale  der  Stammsilben.  Von  K.  Bohnenberger.  Tübingen,  Lauj^p, 
1892.     X,  139  s.     4  m. 

Das  buch  bringt  nicht  eine  lautgeschichte  im  bereich  des  XV.  Jahrhun- 
derts, sondern  eine  statistische  Übersicht  der  stammsilbenvokale.  Der  stoff  ist 
nicht  einmal  chronologisch  geordnet  und  §  3  bekommen  wir  sogar  zu  lesen,  dass  die 
schwäbische  mundart  „für  den  lauf  des  XV.  Jahrhunderts  einen  wesentlich  sich  gleich- 
bleibenden Charakter"  zeige.  S.  69  hören  wir  in  der  Verwendung  von  ei  zeige  sich 
„zwischen  beginn  nnd  ende  des  Jahrhunderts  ein  ziemlicher  unterschied",  s.  67  steht, 
dass  „auch  in  der  ersten  hälfte  des  Jahrhunderts  die  diphthongierung  schon  auf  dem 
ganzen  gebiet  vollzogen"  gewesen  sei.  Aus  diesem  beispiel  dürfte  deutlich  werden, 
dass  Bohnenberger  geschichte  der  Orthographie  und  geschichte  der  laute  nicht  mit 
erforderlicher  strenge  auseinanderzuhalten  verstanden  hat.  Das  ist  aber  die  haupsache. 
Bohnenberger  erkennt  an,  dass  wir  uns  mit  der  annähme  allmählicher  Um- 
bildung der  laute  nicht  begnügen  dürfen.  Er  ist  auch  darin  mit  mir  einig,  dass  wir 
möglichst  viele  chronologisch  zusammenfallende  lautwandlimgen  auf  eine  gemeinsame 
Ursache  zurückführen  müssen.  Mit  mir  sieht  er  den  grund  der  Sprachveränderung 
in  der  einwanderuug  des  stammes  in  seine  jetzigen  sitze.  Jedoch  im  einverständnis 
mit  Herm.  Fischer  (Germ.  36,  407)  hält  er  daran  fest,  dass  lautwandlungen  „gewan- 
dert", entwicklungsstufen  weitergegeben  worden  seien ,  lehnt  aber  die  Zumutung  ab, 
den  ausgangspunkt  der  bewegung  zu  bestimmen.  Ich  habe  nun  keineswegs  allein 
geographisch -physikalische  bedingungen  im  äuge  gehabt,  sondern  gesellschaftliche 
im  weitesten  sinne  dieses  wertes;  meine  formulierung  weicht  klar  und  deutlich 
von  der  J.  Grimms  (GDS^  574  fg.)  ab,  entspricht  vielmehr  der  von  Burdach  (Anz. 
f.  d.  a.  XII,  144),  Müllenhoff  (DA.  III,  197),  Meitzen  (Jahrb.  f.  nationalökon.  XXXII, 
56)  u.  a.  Meine  gegner  bitte  ich  doch  zu  berücksichtigen,  dass  historiker  ganz  ver- 
schiedener richtung  zu  demselben  ergebnis  systematischer  forschung  gelaugt  sind.  Ich 
eitlere  mit  besonderem  vergnügen  die  werte  von  Lambert  ten  Kate  (Aenleiding  II,  18): 
bij  't  verre  verspreiden  der  Volkeren,  't  bewoonen  van  andere  lugtstreken,  't  gebrui- 
ken  van  andere  kruiden  en  voedsel,  en't  aenneinen  van  andere  xeden  moest  niet 
alleen  een  verandering  van  aert,  van  gemoedsdriften .  van  gestalte  en  van  wexen 
ontstaen  ....  tnaer  ook  gevolglijk  een  andere  evenrediglieid  van  de  tcerktuigen  der 
sprake  en  dacrdoor  een  verschil  van  tongeslag.  Man  gibt  ja  zum  teil  den  mechani- 
schen lautwandel  zu,  lässt  ihn  aber  für  die  laut  Constitution  einer  spräche  nicht 
ausschliesslich  gelten  und  bekennt  doch  wider,  dass  die  konstitutiven  factoren  nicht 
aus  dem  äuge  gelassen  werden  dürfen.  Ich  halte  die  annähme,  dass  es  auch  laut- 
wandlungen und  zwar  gesetzmässig  durchgreifende  gebe,  die  von  mundart  zu  mund- 
art gewandert  seien,  für  vollkommen  überflüssig  und  widerspruchsvoll.  "Wir  stehen 
heute  doch  alle  auf  dem  Standpunkte,  dass  wir  für  jede  mundart  eine  sogenannte 
articulationsbasis ,  einen  eigenartigen  indifferenzzustand ,  oder  wie  Scherer  wollte ,  einen 
sprachlichen  nörmalstand  der  organe  festhalten.  Dieser  normalstand,  sagte  Scherer 
(ZGDS  -  33)  ist  für  alle  sprachen,  ja  für  jeden  besonderen  dialekt  einer  spräche  ver- 
schieden. Dieser  normalstand  bildet  die  einheit  der  Sprachgenossenschaft. 
Eine  allgemein  durchgreifende  lautwandlung  ist  also  für  jedes  einzelne  Individuum  an 
ein  und  dieselbe  Voraussetzung  geknüpft:  eine  Übertragung  annehmen,  heisst  diesen 
nörmalstand  für  einen  teil  der  Sprachgenossenschaft  als  nicht  vorhanden  betrachten. 
Ganz  anders  liegen  selbstverständlich  die  dinge,  wo  es  sich  um  reproduction,  nicht 
um  production  handelt.     Auch  die  leistuugsfähigkeit  der  phantasie  und  des  gedächtnis- 


ÜBER    BOHKENBERGER,    Saro\\BISCHE   MTINnART  541 

SOS  ist  massgebend  für  die  individiialsprache,  die  zwar  physiologisch  keine  anderen 
funktionen  zeigt  als  die  der  sprachgenosseu,  aber  in  der  gruppieriing  des  auf  mecha- 
nischem wege  entstandenen  laiitmaterials  unterschiede  aufweist,  für  deren  ausbreitung 
ganz  andere  normen  gelten  als  für  die  lautwandlungen.  So  weit  derselbe  phonetische 
normalstand,  so  weit  dieselben  constitutiveu  factoren  reichen,  so  weit  reichen  dieselben 
sprachgeschichtlichen  ergebnisse;  unterschiede  innerhalb  dieses  bereichs  beruhen  nicht 
auf  Sprachveränderung,  sondern  auf  individuellen  tendenzen  des  sprachusus,  die 
nicht  von  dem  mechanismus  der  Sprachorgane,  sondern  von  der  gedächtniss- 
mässigen  beherrschung  des  sprachstoffes  abhängen.  Folglich  spielen  nur  bei  den 
auf  association  beruhenden  Veränderungen  des  sprachusus  Übertragungen  eine  rolle. 
Was  die  einzelnheiten  der  grammatik  betrifft,  so  ist  wenig  erfreuliches  zu  ver- 
zeichnen. Seitdem  Brandstetters  arbeiten  vorliegen,  müssen  anforderungen  gestellt 
werden ,  denen  Bohnenbergers  buch  entfernt  nicht  genügt.  Bohnenberger  ist  über  die 
von  mir  gegebenen  directiven  nicht  hinausgekommen.  Dabei  verwertet  er  ein  viel 
beschränkteres  material,  seine  quellen  gehören  meist  der  zweiten  hälfte  des  1.5.  Jahr- 
hunderts an,  die  erste  hälfte  ist  nur  in  sehr  geringem  mass  ausgeschöpft  worden. 
Neben  den  urkuudenbüchern  wären  die  originale,  neben  den  dnicken  die  datierten 
handschriften  heranzuziehen  gewesen.  Bei  der  beschränkung,  welche  Bohnenberger 
sich  auferlegt,  hätte  man  doch  zum  mindesten  Vollständigkeit  der  belege,  wenn  auch 
nur  in  zahlenmässigen  angaben,  erwarten  dürfen.  "Wo  Bohnenberger  eine  neue  sprach- 
geschichtliche auffassung  bietet,  ruht  sie  mehr  auf  raisonnements  denn  auf  tatsäch- 
lichen be Weismaterialien.  Bohnenberger  will  z.  b.  mit  H.  Fischer  (Germ.  36,  413)  ö 
der  heutigen  mundart  für  ä  des  frühen  mittelalters  aus  ao  oo  hervorgegangen  sein 
lassen,  wie  im  ahd.  au  über  ao  zu  o  geworden  sei.  Dabei  hat  er  nicht  bedacht, 
dass  der  vergleich  hinkt,  denn  ahd.  au  ist  zu  geschlossenem  ö  geworden!  Noch  im 
15.  Jahrhundert,  meint  Bohnenberger,  habe  sich  ao  (==  ä)  zu  qo  entwickelt  „aber  nur 
so  weit,  dass  es  deutlich  noch  diphthong  blieb  und  die  Schreibung  au  noch  als  pas- 
sendste widergabe  des  lautes  erscheinen  konnte"  (s.  26) ! !  Was  liegt  da  für  eine 
auschauung  deutscher  Orthographie  zu  gründe!'  Die  Weiterentwicklung  zu  y  habe  sich 
aber  zweifellos  nicht  überall  organisch  vollzogen  —  d.  h.  Bohnenberger  selbst  kommt 
mit  seiner  annähme  nicht  durch.  Und  nun  stimmt  er  auch  noch  mir  bei,  dass  ä 
unter  zweigipfliger  betonung  sich  zu  diphthongischem  ao  entwickelt  habe  und  auf  der 
folgenden  Seite  meint  Bohnenberger,  ich  werde  genötigt  sein,  diese  erklärung  selbst 
zurückzuziehen  (s.  26.  27).  Dass  ich  keine  belege  beigebracht  hätte,  ist  ein  iritum; 
hat  doch  schon  H.  Fischer  hervorgehoben,  was  für  meine  ansieht  spreche.  Ganz 
ähnlich  dem,  was  ich  über  hqt  und  häo  gesagt  habe,  lautet,  was  Bohnenberger 
s.  29  über  da  als  möglicherweise  zulässig- bemerkt  und  wie  wenig  genau  er  verfährt, 
dürfte  daraus  hervoi'gehen,  dass  s.  27  zu  lesen  steht,  o  werde  „von  vereinzeltem 
abgesehen  in  wenigen  bestimmten  erscheinungen  häufiger  geschrieben",  während  der- 
selbe Verfasser  s.  29  sich  über  o  folgendermassen  auslässt:    eine  grosse  roUe  spielt  o. 

1)  Bohnenberger  ist  von  einem  aberglauben  an  den  buchstaben  beherrscht,  den 
man  kaum  für  möglich  halten  sollte.  Es  ist  geradezu  abenteuerlich,  was  er  alles  in 
die  Schreibungen  hineingeheimnisst.  man  vergleiche  z.  b.  §  9.  13.  17.  21  u.  ä.  Be- 
sonders macht  die  folgende  notiz  der  phonetischen  akribie  des  15.  jahres  alle  ehre: 
0  und  e  können  beide  in  der  Schreibung  wechseln.  Wie  oben  gezeigt,  kann  es  auch 
bei  e  unter  einfluss  der  umgebenden  consonanz  zu  einer  gewissen  stärkeren  lippon- 
rundung  kommen  und  wo  man  weiss,  dass  dem  ö  eigentlich  runduug  zukommen  soll, 
"wird  man  daher  dieses  zeichen  in  solcher  Stellung  besonders  gern  gebrauchen  (s.  35). 


542  KAÜFFMANN 

Eiu  energischer  angriff  gegen  mich  erfolgt  §  32.  Ich  soll  in  der  därstellung  der  an 
mhd.  e  sich  knüpfenden  sprachgeschichtlichen  probleme  vielerlei  Verwirrung  ange- 
richtet haben.  Ordnung  habe  erst  H.  Fischer  (Germ.  36,  416)  geschaffen.  An  die- 
ser stelle  hat  Fischer  meine  erklärung  der  diphthongierung  einfach  angenommen. 
Dasselbe  hat  Bohneuberger  s.  54  getan,  desgl.  s.  76  für  mhd.  ö.  So  glaube  ich  der- 
jenige zu  sein,  der  Ordnung  geschaffen  hat.  Bohneuberger  hat  die  dinge  in  einen 
knäuel  verwirrt,  wenn  er  ostschwäb.  ea  aus  mhd.  e  mit  gemeinschwäb.  es  aus  mhd.  e 
verbindet,  denn  dort  liegt  geschlossene,  hier  offene  qualität  zu  gründe.  Ich  kann 
mich  noch  nicht  davon  überzeugen,  dass  ich  volkstümliche  und  nicht  volkstümliche 
formen  durcheinandergemengt  hätte.  Einen  eigenen  gedanken  Bohnenbergers  glaube 
ich  erst  s.  86  (§  56  aum.)  aufgestöbert  zu  haben.  Während  ich  nämlich  für  die  ent- 
wicklung  ö  >  ae  angenommen  hatte,  dass  vor  der  umlautung  ö  diphthongiert, 
diphthongisches  o«  zu  ö><-  und  dieses  secundäre  öü  mit  dem  primären  öü  gemeinsam 
zu  ae  geworden  sei,  entscheidet  sich  Bohnonberger  dafür,  dass  bereits  vor  der  diph- 
thongierung von  e  das  aus  ö  umgelautetete  ö  entrandet,  mit  e  zusammengefallen 
und  fernerhin  mit  diesem  zugleich  diphthongiert  worden  sei.  Bohneuberger  hat  sich 
nirgends  über  das  alter  der  entrundung  geäussert.  Nach  den  von  mir  gesammelten 
belegen  ist  aber  die  diphthongierung  bedeutend  älteren  datums  als  die  entiimdung 
und  so  lange  sich  Bohneuberger  nicht  mit  den  tatsachen  der  Überlieferung  ins  ein- 
vernehmen  setzt,  kann  ich  jenen  ausweg  Mos  für  einen  einfall  halten.  Das  ist  eben 
das  beklagenswerte  an  dem  Bohnenberger'schen  buch,  dass  er  die  gesammtüberlie- 
ferimg  nicht  im  äuge  behält  und  namentlich,  was  dem  15.  Jahrhundert  voraus  liegt, 
vernachlässigt  oder  ganz  überschlägt.  Eine  etwas  eingehendere  betrachtung  des  Sach- 
verhalts erfordert  §  88  anm.  Es  handelt  sich  um  den  laut,  der  in  den  normalisier- 
ten mhd.  texten  iu  gedruckt  zu  werden  pflegt.  Bohneuberger  gibt  zunächst  belege 
für  die  wechselnde  Schreibung,  ohne  dass  nach  der  herkunft  der  verschiedenen 
Systeme  gefragt  wäre  und  das  ist  jetzt  die  erste  aufgäbe  des  dialekthistorikers.  Mir 
wird  vorgeworfen,  ich  hätte  den  alten  diphthong  und  den  umlaut  von  ü  einfach  zu- 
sammengeworfen, das  ist  doch  aber,  wie  der  augenschein  lehrt,  nur  zum  teil  richtig. 
Ich  habe  eine  kategorie  aufgestellt,  in  der  es  sich  nur  um  entsprechungen  von  mhd. 
m  handelt,  allerdings  aber  auch  eine  zweite  kategorie,  in  der  ich  den  alten  diph- 
thong und  den  umlaut  von  ü  zusammeugefasst  habe.  Das  tut  aber  auch  Fischer,  auf 
den  sich  Bohnenberger  beruft  und  das  tut  auch  Bohneuberger  selber  (s.  120),  nur 
fehlte  es  bei  mir  an  der  geographischen  abgrenzung  und  au  der  Unterscheidung  der- 
jenigen m,  welche  nicht  umgelautet  worden  sind.  Auch  Bohnenberger  lässt  genau 
wie  ich  einen  teil  der  tu  zu  «  werden  und  mit  etymol.  *  zusammen  diphthongierung 
erleiden.  Ich  habe  nun  gesagt  (s.  169),  die  diphthongierung  zu  tu  müsse  eingetreten 
sein,  ehe  ü  und  i  zusammengefallen  waren;  Bohnenberger  erklärt,  gei'ade  das  gegen- 
teil  sei  der  faU.  Damit  widerspricht  er  widerum  sich  selbst,  wenn  auch  er  s.  120 
annimmt,  die  entwicklung  sei  über  ü  bezw.  i  gegangen,  er  wisse  allerdings  nicht 
wie  tii  aus  m  entstanden  sei.  Bohnenberger  hat  meinen  text  gar  nicht  genau  ange- 
sehen, bekennt  er  doch  s.  121  selbst,  die  entwicklung  von  tu  >  tii  werde  man  nicht 
in  spätere  zeit  setzen  können,  als  die  von  «  >  a«.  Es  ist  nur  ein  teilgebiet  des 
schwäbischen,  in  welchem  mhd.  *  0  iu  iui  zusammengefallen  sind,  in  anderen 
strichen  begegnet  für  das  unumgelautete  iu  >  ui,  ü.  Es  ist  eine  ganz  unbegründete 
und  unerweisliche  annähme,  in  fällen  wie  iiui  (neu),  suit  (siedet),  tsiiixt  (sieht)  liege 
unumgelautetes  iu  vor.  Mit  andern -werten ,  die  von  Fischer  und  Bohneuberger  gegen 
meine  därstellung  erhobenen  einwände  sind  noch  zu  wenig  begründet,    als  dass  ich 


ÜBER    BREMER,    GRAJLMAT.    DEUTSCHER    MA.  543 

etwas  zurückzunehmen  hätte.  Bohnenberger  behauptet  sogar  s.  122:  wo  mhd.  iu  im 
reim  mit  dem  umlaut  von  ü  gebunden  ist,  setzt  man  am  besten  für  beide  giieder  9i 
an  und  s.  119  hatte  er  mir  vorgehalten,  ich  hätte  den  alten  diphthong  und  den  umlaut 
von  ü  einfach  zusammengeworfen,  als  ob  er  nicht  zum  selben  resultat  von  den  tat- 
sachen  gedrängt  worden  wäre.  In  gleicher  weise  niuss  ich  mich  dagegen  verwahren, 
wenn  Bohnenberger  behauptet  (s.  126),  ich  hätte  für  den  Übergang  von  ou  >-  ao  ein- 
fach auf  die  dabei  vollzogene  entrundung  hingewiesen,  als  hätte  ich  mich  nicht  auch 
über  die  entwieklung  des  2.  componenten  klar  und  deutlich  ausgesprochen.  Gegen 
meine  erkläruug  soll  nun  der  Übergang  von  ai  >  od  und  so  von  ä  <i  q  sprechen, 
im  Osten  liege  langes  offenes  o  vor,  man  habe  folglich  als  ältere  form  ao,  mi  voraus- 
zusetzen. Dabei  hat  Bohnenberger  übersehen,  dass  die  entwieklung  mehr  mit  ö  als 
mit  ä  zusammengeht  und  dass  die  benachbarten  alem.  gebiete  wie  in  vielen  andern 
fällen,  so  auch  hier  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  das  ältere  ou  bewahrt  haben.  Es 
erweist  sich  überall  der  gesichtskreis  des  Verfassers  als  zu  eng  begrenzt. 

JENA.  FRIEDRICH    EAUFFMANN. 


I 


Sammlung  kurzer  grammatikon  deutscher  mundarten  herausgegeben  von 
0.  Bremer.     Leipzig ,  Breitkopf  &  Härtel. ' 

I.   Deutsche  phonetik  von  0.  Bremer.  1893.    XXHI,  208  s.  mit  2  taff.     5  m. 

U.  Bibliographie  der  deutschen  mundartforschung  für  die  zeit  vom  beginn 
des  18.  Jahrhunderts  bis  zum  ende  des  Jahres  1889  zusammengestellt  von 
F.  Mentz.   1892.     XX,  181  s.     5  m. 

Der  gedanke,  eine  allerseits  erwünschte  Sammlung  von  grammatiken  deutscher 
mundarten  durch  eine  phonetik  einzuleiten,  ist  in  jeder  beziehung  gutzuheissen.  Denn 
beobachtung  des  mundartlichen  sprachlebens,  wozu  die  phonetik  anleitung  geben  soll,- 
ist  und  bleibt  die  elementare  Vorarbeit  dialektologischer  forschung.  Diese  beobach- 
tung kann  nicht  sorgfältig  und  eindringend  genug  sein.  Das  vorliegende  buch  selbst 
gibt  davon  ein  rülunliches  beispiel.  Ich  wüsste  dem  herrn  herausgeber  nichts  besse- 
res zu  wünschen,  als  dass  seine  mitarbeiter  sich  an  ihm,  was  gründliclikeit  der 
beobachtung  betrifft,  ein  beispiel  nehmen  möchten.  Es  wäre  schon  viel  erreicht, 
wenn  solches  Vorbild  nachfolge  fände.  Ich  zweifle  wenigstens  nicht,  dass  kein  leser 
von  Bremers  buche  scheiden  wird,  ohne  den  lebhaften  eindruck  davon  ^bekommen 
zu  haben,  dass  hier  mit  unablässiger  energie  die  tätigkeit  der  Sprechwerkzeuge 
beobachtet  und  zur  darsteUung  gebracht  worden  ist.  Zweifelhaft  ist  mir  aber, 
ob  das  buch  geeignet  ist,  zur  Selbstbeobachtung  solche  anzuleiten,  die  ohne  pho- 
netische Vorbildung  an  eine  wissenschaftliche  darsteUung  ihrer  mundart  gehen  wol- 
len. Auf  ein  paar  selten  —  unzweckmässigerweise  am  Schlüsse  des  ganzen  — 
wird  über  lautschrift  gehandelt:  meiner  ansieht  nach  hätte  dieser  anhang  den  ein- 
gang  bilden  sollen,  damit  die  praktischen  aufgaben  gleich  von  vornherein  deut- 
lich werden  und  damit  der  dialektologe  von  den  praktischen  aufgaben  aus  in  die 
Systematik  des  phonetikers  eingeführt  werde.  Unpraktisch  ist  das  buch  für  die 
nächsten  zwecke  der  lernenden  ausgefallen.  Es  sind  zum  Verständnis  dessel- 
ben Vorkenntnisse  erforderlich,  über  die  nur  ganz  wenige  philologen  verfügen.  Es 
ist  im  Interesse  der  sache  zu  bedauern,   dass  Bremer  nicht,  was  seine  absieht  gewe- 

1)  Über  das  erste  heft  dieser  Sammlung  giengen  uns  zwei  reconsionen  zu, 
von  denen  die  erste  bereits  oben  s.  375  fg.  veröffentlicht  ist.  ked. 


544  KAUFFMÄNN,    ÜBER    BREMRK,    GRAMMAT.    DEUTSCHER   MA. 

sen  war,  einen  eleu  anfanger  einführenden  leitfaden  gesclirieben  hat.  Jetzt  wendet  ei- 
sich  nicht  an  anfänger,  sondern  an  einen  sehr  engen  kreis  selbständiger  forscher. 
Nun  sieht  man  aber  nicht  mehr  ein,  warum  Bremer  mit  einem  solchen  buch  gerade 
seine  Sammlung  von  dialektgrammatiken  eingeleitet  haben  wollte.  Mit  dieser  Samm- 
lung hat  das  buch  tatsächlich  nichts  zu  schaffen.  Bremer  selbst  verweist  die  lernen- 
den für  wichtige  probleme  der  dialektphonetik  auf  Sievers,  weil  diese  in  seiner  dar- 
stellung  gar  nicht  behandelt  werden.  Das  buch  erfüllt  auch  insofern  seinen  zweck 
nicht,  als  es  keinerlei  materialien  deutscher  mundarten  bringt:  die  beispiele  sind  auf- 
fallenderweise nicht  der  mundart,  sondern  dem  norddeutschen  „normaldeutsch''  ent- 
nommen. Ja  Bremer  hat  nicht  einmal  dadurch  das  Studium  erleichtert,  dass  er  an 
die  philologische  Vorbildung  seiner  mitarbeiter  anknüpfte,  er  hat  nicht  wie  Sievers 
und  Victor  auf  unsere  philologischen  Interessen  rücksicht  genommen ,  nur  ganz  selten 
(z.  b.  s.  75)  tut  er  einen  sprachgeschichtlichen  ausblick.  Hat  der  dialektologe  —  man 
gestatte  der  kürze  halber  dies  wort  —  seither  an  den  erscheinungen  der  deutschen 
Sprachgeschichte  Verständnis  für  phonetische  probleme  zu  gewinnen  versucht,  so 
bricht  jetzt  Bremer  alle  brücken  ab.  Das  ist  deswegen  zu  bedauern,  weil  die  auf- 
gaben des  phonetikers  und  die  des  dialektologen  sich  nicht  decken  und  Bremer  auf 
die  specifische  Schulung  des  letzteren  verzichtet  hat.  Bremer  sagt  zwar,  sein  buch 
sei  für  philologen  bestimmt,  aber  die  historisch -philologische  Seite  ist  durchaus  ver- 
nachlässigt. Bremer  erklärt  denn  auch,  bloss  als  hilfswissenschaft  beschäftige  sich  die 
phonetik  vorzugsweise  mit  denjenigen  sprachf actoren ,  deren  Wirkung  man  kennen 
müsse,  um  sich  der  Vorgänge  beim  eigenen  sprechen  bewusst  zu  werden  und  die 
Sprache  anderer  nachbilden  zu  können.  Als  specielle  aufgäbe  hat  sich  Bremer  nicht 
die  phonetik  deutscher  mundarten  gesetzt,  sondern  die  phonetik  derjenigen  mundart, 
welche  in  ganz  Deutschland  am  bekanntesten  sei,  die  spräche  der  gebildeten,  vor- 
nehmlich der  Norddeutschen:  meiner  erfahrung  nach  wird  Bremer  in  Mitteldeutsch- 
land, Süddeutschland,  Schweiz  und  Österreich  -  Ungarn  wenige  leser  ünden,  die  mit 
dieser  sogenannten  „normalsprache"  bekannt  sind.  Das  ist  eine  zweite  bedauerliche 
beschränkung  des  leserkreises.  Drittens  besteht  nun  aber  die  Bremersche  phonetik 
schon  aus  einer  akustik  der  geräusche  und  einer  akustik  der  klänge.  Das  ist  nur  ein 
ganz  geringer  bruchteil  dessen,  was  wir  bisher  unter  phonetik  zu  verstehen  gewohnt 
waren.  Sehr  breit  sind  die  erörterungeu  der  vorbegriffe  ausgefallen.  Hier  hätte  stark 
gekürzt  werden  dürfen,  um  räum  für  das  zu  gewinnen,  was  jetzt  in  dem  buche  fehlt. 
Jene  vorbegriffe  haben  allerdings  eine  vorzügliche  darstell ung  durch  abbil düngen  ge- 
funden, die  so  klar  und  so  schön  sind,  dass  ich  sie  nicht  genug  empfehlen  kann; 
namentlich  bringt  tafel  II  eine  reihe  von  aitikulationsbildern ,  denen  ich  grossen  päda- 
gogischen wert  beilege.  Wie  ich  schon  betont  habe,  finden  sich  in  dem  buch  sorgfältige 
beobachtiingen,  aber  sie  bewegen  sich  grossenteils  auf  gebieten,  auf  denen  noch  vie- 
les, wenn  nicht  das  meiste  sehr  unsicher  ist:  ich  denke  dabei  z.  b.  an  die  mit  grosser 
aiisführlichkeit  behandelte  frage  von  den  eigentönen  der  vokale  (vgl.  jetzt  Auerbach, 
Zeitschrift  für  französ.  spräche  XVI,  117  fgg.).  Bremers  darstellung  wächst  hier  weit 
über  den  rahmen  der  praktischen  phonetik  hinaus  in  den  der  allgemeinen  theore- 
tischen phonetik  hinein  und  die  letzten  paragraphen  über  betonung  und  accent  haben 
infolge  des  Übergewichts  der  resonanzlehre  nicht  mehr  die  ausgestaltung  erfahren, 
die  der  Wichtigkeit  der  Sache  entspräche.  Im  ganzen  bringt  das  buch  eine  articula- 
tionslehre  der  einzelconsonanten  und  cinzelvokale  der  norddeutschen  normalsprache. 
Die  reichhaltigkeit  der  beobachtungen  an  diesem  idiom  und  die  anschaulichkeit  in  der 
beschreibnng  derselben   haben   zum   erstenmal  diese  sogenannte  norddeutsche  normal- 


JIRICZEE,    ÜBER    PEDER    LRLE    EDD.    A.    KOCK    ET    C.    AF    PEDERSENS  545 

spräche  für  die  forschung  zugänglich  gemacht,  aber  die  hehandlung  ist  fragmentarisch 
und  für  angehende  dialektforscher  nicht  zu  empfehlen. 

Der  zweite  band  bringt  von  F.  Mentz  eine  bibliographie ,  die  leider  nur  bis 
ende  1889  reicht.  Sie  ist  viel  reichhaltiger  und  nützlicher  als  die  von  mir  in  Pauls 
Grundriss  der  germ.  philologie  gegebene,  bei  der  ich  mit  engem  räum  haushalten 
musste.  Es  ist  ja  auch  bei  Mentz  noch  mancherlei  nachzutragen,  z.  b.  die  litteratur 
über  das  für  dialektgeschichte  so  wertvolle  judendeutsch,  die  arbeit  der  älteren  dia- 
lektforscher, der  mitarbeiter  Leibnizens  (Eccard,  Meier,  Frisch),  eines  Lambert  ten  Kate, 
Reichards  versuch  u.  a.  Aber  aUe  etwaigen  ergänzungen,  die  ich  bieten  könnte, 
kommen  nicht  in  betracht  im  hinblick  auf  die  fülle  des  materials,  die  Mentz  zusam- 
mengetragen hat  und  die  jetzt  eher  einen  überblick  über  die  geschichte  der  forschung 
ermöglicht.  Die  gruppierung  rührt  von  Bremer  her,  der  bereits  (s.  VI  fg.)  in  einzel- 
nen punkten  ändeningen  getroifen  zu  haben  wünscht.  Mir  ist  manches  ganz  unver- 
ständlich, am  unverständlichsten  der  Vorwurf,  die  Knien  auf  den  karten  des  Wen- 
kerschen  Sprachatlas  seien  „zum  grossen  teil  nicht  zuverlässig".  Ich  bin  mit  den 
arbeiten  Wenkers  des  näheren  vertraut  und  weise  eine  deraiiige  anschuldigung,  so 
lange  sie  nicht  durch  belege  begründet  ist,  als  unberechtigt  und  ungehörig  zurück. 

JENA.  FRIEDRICH   KAUTFMANN. 


Östnordiska  och  latinska  medeltidsordspräk.  Feder  Läles  ordspräk  och  en 
motsvarande  svensk  samling  utgivna  för  Samfund  til  udgivelse  af  gammel  nordisk 
litteratur.  I.  bd.  Texter  med  inledning,  utg.  av  Axel  Kock  och  Carl  af  Peter- 
sens. Kopenhagen  1889  —  1894.  VIII  und  284  selten.  II.  bd.  Kommentar  av 
Axel  Kock.     Kopenhagen  1892.     VI  und  446  selten.     Kompl.  22  krönen. 

Das  umfängliche  werk  „Ostnordische  und  lateinische  Sprichwörter  des  mittel- 
alters",  das  liefeningsweise  als  Veröffentlichung  des  dänischen  Vereins  für  publication 
alter  nordischer  Litteratur  zu  Kopenhagen  seit  dem  jahi-e  1889  erschienen  ist,  liegt 
nunmehr  abgeschlossen  vor.  Axel  Kock  und  Carl  af  Petersens  haben  die  arbeit  der- 
art geteilt,  dass  beide  gemeinsam  die  dänischen  Sprichwörter  herausgegeben  haben, 
C.  af  Petersens  allein  die  schwedischen,  von  Kock  allein  rührt  (bis  auf  die  beschi-ei- 
bung  der  schwedischen  hdschr.  von  Petersens)  die  einleitung  imd  der  kommentar  her; 
ein  sehr  praktisches  Stichwortregister  hat  A.  Malm  ausgearbeitet.  Es  handelt  sich 
hier  um  die  ausgäbe  einer  sprichwörtersammlung,  welche  seit  alter  zeit  in  Dänemark 
unter  dem  namen  Feder  Laie  geht  und  gegen  schluss  des  mittelalters  in  Dänemark 
allgemein  als  Schulbuch  verwendet  worden  ist.  Der  älteste  bekannte  drack  stammt 
aus  dem  jähre  1506  (gedruckt  bei  Godfred  von  Ghemen  in  Kopenhagen),  nunmehr 
bloss  in  einem  exemplar  (im  besitz  der  Universitätsbibliothek  zu  Kopenhagen)  bekannt 
(A);  im  jähre  1508  erschien  im  selben  verlage  ein  neudruck  (a),  der  im  wesentlichen 
mit  A  übereinstimmt  und  nur  kleine  ändeningen  zeigt;  auch  von  dieser  aufläge  gibt 
es,  so  weit  bekannt,  nur  ein  vollständiges  und  zwei  defekte  exemplare.  Im  jähre 
1515  erschien  zu  Paris  bei  Jodocus  Badius  Ascensius  eine  neue  ausgäbe  von  Chri- 
stiern  Pedersen  (B);  ob  Chr.  Federsen  die  drucke  A  und  a  gekannt  hat,  ist  nicht 
ganz  sicher,  jedenfalls  nennt  er  sie  nicht,  und  Kock  weist  nach,  dass  er  mehr  als 
eine  handschrift  gekannt  haben  muss.  B  enthielt  fast  alle  Sprichwörter  von  A  a ,  nur 
ganz  wenige  fehlen,  und  ebenso  gering  ist  die  zahl  der  plus-nummern.  Die  anordnung 
ist  bis  auf  die  reihe  unter  dem  buchstaben  S,  die  stark  abweicht,  so  ziemlich  die- 
selbe wie  in  Aa;  B  steht  somit  mit  Aa  als  zu  einer  klasse  gehörig  zusammen;  auch 

ZEITSCHRIFT   F.    DEUTSCHE   PHILOLOGIE.     BD.  XXVIII.  "ö 


546  JIRICZEK 

das  handschriftfragment  Ny  kg],  saral.  der  kgl.  bibl.  zu  Kopenhagen  nr.  813''  4",  erst 
vor  wenigen  jahrea  vom  bibliothekar  Weeke  entdeckt,  aus  der  zeit  von  1450  stam- 
mend (H)  steht  näher  zu  AaB,  als  zu  S,  der  schwedischen  hdschr.  der  Palmsköldska 
samling  nr.  405,  auf  der  Universitätsbibliothek  zu  Upsala,  aus  der  ersten  hälfte  des 
15.  Jahrhunderts,  worin  eine  sehr  grosse  menge  nummern  von  AaB  fehlt,  dagegen 
auch  einige  plusuummern  vorkommen.  Die  geschichte  der  Sammlung  wird  von  Kock 
eingehend  untersucht  und  er  kommt  zu  folgenden  resultaten.  Die  im  mittelalter  ver- 
breitete methode,  heimische  Sprichwörter  im  urtext  mit  lateinischer  Übersetzung  beim 
unteiTicht  in  der  lateinischen  spräche  anzuwenden,  hat  den  anstoss  dazu  gegeben, 
dass  ein  gelehrter  teils  auf  grand  ihm  bekannter  lateinischer  samlungen  lateinische 
Sprichwörter  zusammenstellte  und  die  entsprechenden  heimischen  dazufügte,  oder,  wo 
solche  nicht  gebräuchlich  waren,  eine  Übersetzung  machte,  teils  —  und  zwar  haupt- 
sächlich —  heimische  Sprichwörter  sammelte  und  dazu  eine  lateinische  Übersetzung 
selbst  fertigte.  Der  ursprüngliche  stock  wurde  allmühlich  durch  zutaten  vermehrt; 
nach  Schweden  gelangte  er  bereits  mit  solchen  zutaten,  und  einiges  schloss  sich 
dort  noch  ebenfalls  an;  die  erhaltenen  dänischen  redactionen  zeigen  noch  mehr  Zu- 
sätze als  S,  sowol  gemeinschaftlich,  als  auch,  wenngleich  in  geringerem  masse  in  den 
einzelnen  redactionen  Aa  und  B.  Die  ursprüngliche  Sammlung  ist  in  Dänemark  ent- 
standen, und  zwar  im  14.  Jahrhundert,  vielleicht  ader  auch  schon  im  13.  Jahrhun- 
dert; der  Verfasser  wird  wirklich  der  von  der  tradition  genannte  Feder  Laale,  lati- 
nisiert Petrus  Laglandicus  mit  dem  beinamen  Legista  (nach  dem  Inhalt  der  ersten 
Sprichwörter,  die  von  lex  handeln)  gewesen  sein,  den  man  sich  als  schulmann  und 
geistlichen  —  oder  nur  als  eines  von  beiden  —  zu  denken  genötigt  ist.  Dass  er 
aber  aus  Läland  stammte,  ist  keineswegs  sicher,  ja  nicht  einmal  wahrscheinlich; 
allerdings  heisst  Laglandicus  gewöhnlich  ein  Läländer,  aber  Laale  ist  ein  weitverbrei- 
teter dänischer  name,  der  keineswegs  Läländer  („lollik,  lolk")  bedeutet;  diesen  namen 
hat  Christiern  Pedersen  frei  latinisiert  und  damit  den  anlass  zu  missverständnisseu 
gegeben.  Ausser  der  sehr  genauen  bibliographischen  und  orthographischen  beschrei- 
bung  der  alten  drucke  und  handschriften ,  eingehenden  Untersuchungen  über  das 
Verhältnis  der  verschiedenen  fassungen  zu  einander,  über  das  original  und  seinen 
Urheber,  sowie  die  Stellung  der  Sammlung  zu  ähnlichen  werken,  und  endlich  den 
sonstigen  bemerkungen  über  die  vorherigen  ausgaben  und  den  bei  dieser  ausgäbe 
befolgten  plan  bringt  die  einleitung  —  in  der  man  nur  allenfalls  noch  eine  graphische 
darstellung  des  Verhältnisses  der  Sammlungen  zu  einander  und  eine  vergleichende 
tabelle  über  die  reihenfolge  der  nummern  in  den  verschiedenen  samlungen  wünschen 
könnte  —  noch  zwei  wertvolle  beigaben,  ein  Verzeichnis  über  die  drucklitteratur  der 
schwedischen  Sprichwörter,  und  einen  abschnitt,  der  beobachtungen  über  die  form 
der  Sprichwörter,  und  zwar  alliteration,  reim,  metrischen  bau  (besonders  interessant 
sind  die  nachgewiesenen  visufj6rf)ungar)  usw.  bringt.  Auch  die  lateinischen  fassiingen 
werden  kurz  berührt  und  der  aufmerksamkeit  der  klassischen  philologen  empfohlen. 
In  einer  note  s.  113  bringt  Kock  eine  theorie  über  die  aUiteration  der  vokale  vor, 
die  allgemeines  Interesse  zu  erwecken  geeignet  ist;  da  das  buch  seinem  für  germa- 
nisten  doch  ziemlich  entlegenen  Inhalt  nach  schwerlich  in  die  bände  aller,  welche 
für  diese  allgemeinere  frage  sich  interessieren,  gelangen  dürfte,  sei  hier  diese  stelle 
(in  Übersetzung)  vollständig  mitgeteilt.  Über  die  alliteration  ungleicher  vokale  bemerkt 
Kock  nämlich:  „Es  kann  die  frage  sein,  wie  weit  das  in  der  germanischen  poesie 
etwas  ursprüngliches  ist.  Denn  da  bei  konsonantischer  alliteration  die  gleichen  kon- 
sonanten  gefordert  werden,  ist  es  unbegreiflich,  wanim  man  bei  der  vokalisohen  alli- 


ÜBER  PEDER  LaLE  EDD.  A.  KOCK  ET  C.  AF  PETERSENS  547 

teratioQ  nicht  die  gleichen  vokale  fordern  sollte.     Der  gewöhnliche  versuch ,  dies  Ver- 
hältnis zu  erklären  ist  nämlich  keineswegs  befriedigend.     Man  meint  wol  gewöhnlich, 
dass  die  gleichheit  der  vokalalliteration  sich  auf  den  festen  vokaleinsatz   beschränke. 
Sollte  es  aber  wirklich  denkbar  sein,    dass  diese  in  akustischer  beziehung  äusserst 
verschwindende  aussprachsnüancierung  zu  einem  wesentlichen  faktor  der  versbildung 
gemacht  werden  könnte?      Wir  müssen    bedenken,    dass    der    feste    vokaleinsatz    so 
äusserst  gering  hervoiiritt ,  dass  ein  ohr,  das  nicht  besonders  phonetisch  geschult  ist, 
ihn  nie  wahrgenommen  hat.     Sollte  man  da  glauben  dürfen,  dass  unsere  vorväter  so 
feine  beobachter  nicht  blos  von  sprachlauten,    sondern  von  modifikationen  derselben 
gewesen  sind,    dass  sie  das  publikum  unserer  tage  weit  übertroffen   hätten?    Und 
selbst    wenn    man    diese    unbedeutende    modifikation    der    ausspräche  wahrgenommen 
hätte,    sollte   man  mit  hilfe   einer  solchen  verse    gebildet  haben,    die  bisweilen  vor 
grossen  menschenmassen  vorgetragen  wurden,    und  zwar,   obgleich  es  für  die  mehr- 
zahl  der  zuhörer,  nämlich  für  alle  die  sich  in  einigem  abstand  von  dem  vortragenden 
befanden,  absolut  unmöglich  war  diese  „alliteration"  zu  vernehmen?    Und  noch  mehr: 
wie  weiss  man,  dass  unsere  germanischen  vorväter  gerade  einen  solchen  vokaleinsatz 
hatten?     Die  Engländer  haben  ihn  jetzt  nicht;    es  ist  also  höchst  zweifelhaft,    ob  er 
in  den  germanischen  sprachen  alt  ist.     Ist  es   aber  nicht  der  feste  vokaleinsatz,    der 
die  ähnlichkeit   zwischen   z.  b.  a  und  e  ausmacht,    in   welcher  beziehung  sind  diese 
laute  einander  ähnlicher  als   zwei  verschiedene  konsonanten,    z.  b.  k  und  g?     "Wir 
können   ruhig  antworten:    sie  sind  einander    nicht  mehr  ähnlich.     Dann  findet  sich 
aber  in  der  eigenen  natur  dieser  laute  nicht  der  geringste  grund,    weshalb  man  die 
berechtigimg  haben  sollte,    z.  b.  allr  :  endi,    aber  nicht  koma  :  ganga  alliterieren  zu 
lassen.     Die   sache   dürfte  auf  sprachhistorischem  wege  zu  erklären  sein.  ■  Ursprüng- 
lich hat  man  sicherlich  nur  Wörter  mit  a-  mit  Wörtern  mit  a- ,  solche  mit  e-  mit  sol- 
chen mit  e-  alliterieren  lassen ,  gleichwie  Wörter  mit  k-  mit  Wörtern  mit  k- ,  solche  mit 
g-  mit  solchen  mit  g-  alliterierten.     Doch  die  vokale  haben  auf  grund  der  Wirksam- 
keit verschiedener  Lautgesetze  weit  mehr  Veränderungen  erlitten   als  die  konsonanten, 
oder  richtiger  gesagt,    ein  vokal  ist  als   anfangslaut  weit  öfter   zu  ungleichen  lauten 
in  folge  des  einflusses  verschiedener  lautgesetze  differenziert  worden,    als  es  mit  den 
anfangskonsonanten  der  fall  war.     Daraus  folgte,  dass  in  bereits  vorhandenen  gedich- 
ten  anfangsvokale,  die  einmal  gleich  waren,  ungleich  wurden,  während  die  anfangs- 
konsonanten unverändert  blieben.     Angenommen,  dass  der  gebrauch,  ungleiche  vokale 
zu  reimen,    in  den  germanischen  sprachen  aufgekommen  ist,    so  haben  z.  b.  die  spä- 
teren  nordischen  wörter  allr  :  cndi   einmal    durch  den   anfangslaut  a    mit    einander 
alliteriert,  vgl.  got.  alls  :  andeis.     Nachdem  indessen  a  durch  z-umlaut  zu  e  in  endi 
geworden,  liess  man  sie,    nachdem  diese  werte  sich  in  einem  alten,    vor  der  durch- 
führung  des  *-umlauts  verfassten  gedichte  fanden,   metrisch  in  diesem  gedichte  fort- 
fahrend alliterieren,    d.  h.  allr  :  endi  alliterierten.     Hieraus  kam  der  gebrauch    auf, 
dass    man    auch,    wenn    man    neue    gedichte    schrieb    [soll   wol    heissen   „verfasste"] 
ungleiche  vokale  alliterieren  liess.     Das  gesagte  soll  nicht  so  aufgefasst  werden,  dass 
dieser  gebrauch  gerade  bei  den  germanischen  Völkern  aufgekommen  sein  muss.     Es 
ist  möglich,    dass    er    zu    ihnen  von    einem    andern    stamme  gelangte.     Aber  dieser 
gebrauch  dürfte  bei  dem  volke,   bei  dem  er  zuerst  entstanden  ist,   von  ungefähr  sol- 
chen sprachgeschichtlichen  Verhältnissen,  wie  hier  erwähnt,   nämlich  von  der  grösse- 
ren Veränderung  (differenziening)   der  anfangsvokale  gegenüber  den  anfangskonsonan- 
ten veranlasst  worden  sein."  —    Dass  der  feste  vokaleinsatz  in  den   idg.   sprachen 
nichts  ursprüngliches,  sondern  verhältnismässig  modernen  Ursprungs  sein  dürfte,  und 

35* 


548  JIRICZEK 

darum  nicht  mit  dem  griechischen  Spiritus  lenis  zu  identificieren  ist,  hat  bekanntlich 
auch  Sievers  schon  hervorgehoben,  und  die  erklärung  der  alliteration  ungleicher 
vokale  durch  den  festen  einsatz  ist  wol  endgiltig  zu  streichen.  Aber  dass  der  brauch, 
ungleiche  vokale  aUiterieren  zu  lassen,  erst  secundär  auf  dem  von  Kock  angedeuteten 
Wege  aufgekommen  wäre,  scheint  mir  ganz  ausgeschlossen.  Die  erklärung,  weshalb 
man  bei  konsonanten  vollständige  gieichheit  verlangte,  bei  vokalen  aber  nicht,  liegt 
in  ganz  anderer  richtuug.  Berücksichtigt  man,  dass  bei  konsonanten  als  geräusch- 
lauten schon  infolge  der  artikulation  der  akustische  effekt  geringer  ist  als  bei  reinen 
stimmlauten  (vokalen),  und  dass  ihr  akustischer  effekt  durch  die  Stellung  vor  dem 
accent  hinter  dem  akustischen  effekt  accentuierter  anlautvokale  —  und  dass  der  ger- 
manische feste  accent  Voraussetzung  der  alliteration  ist,  ist  naturnotwendig  und  allge- 
mein anerkannt  —  bedeutend  zurückstehen  musste,  so  scheint  hierin  die  begründung 
zu  liegen,  weshalb  man  bei  konsonanten  (zu  denen  in  diesem  zusammenhange  wegen 
der  Stellung  vor  dem  accent  auch  nasale  und  liquide  zu  rechnen  sind,  wie  der  usus 
beweist)  völligen  gleichklang  braucht,  ja  sogar  diesen  gerne  auf  doppelkonsonanz  aus- 
dehnt (s.  E.  M.  Meyer,  Ztschr.  XXVI,  149  fgg.),  während  bei  vokalen  ihr  gemein- 
samer Charakter  als  reine  stimmlaute,  deren  stimmfülle  im  vorgetragenen  alliterieren- 
den verse  durch  den  auf  sie  fallenden  accent  noch  eindringlicher  hervortrat,  das 
gleichmachende  moment  gewesen  sein  dürfte  (das  auch  heute  von  jedem  musikalischen 
ehre  beim  vertrag  alliterierender  verse  als  gieichheit  empfunden  wird),  dem  gegen- 
über die  durch  die  verschiedene  resonatorische  einwirkung  des  mundraumes  bedingte 
Verschiedenheit  der  einzelnen  vokale  unter  einander  nicht  ins  gewicht  fiel,  im  gegen- 
teil  sogar  beliebt  gewesen  zu  sein  scheint.  Dass  der  gebrauch  der  alliteration  bzw. 
der  ungleichen  vokalalliteration  zu  den  Germanen  von  auswärts  gekommen  sein  sollte, 
muss  bis  zur  erbringung  eines  beweises  ganz  aus  dem  spiele  bleiben  und  das  problem 
zunächst  auf  germanischem  boden  ausgetragen  werden.  Und  da  stösst  die  hypothese 
Kocks  zunächst  principiell  auf  die  Schwierigkeit,  dass,  wenn  dem  obre  der  Germanen 
nur  völlig  gleiche  vokale  als  alliteration  klangen,  es  ganz  unbegreiflich  ist,  wieso  die 
zersprengung  alter  reimender  Verbindungen  durch  die  Veränderung  des  anlautvokales 
in  einem  werte  sie  bewogen  haben  sollte,  nunmehr  verschiedene  vokale  als  alliterie- 
rend zu  empfinden.  Die  auffassung  des  obres  kann  doch  durch  den  sprachhistorischen 
Vorgang  nicht  eine  andere  geworden  sein!  Entweder,  das  ohr  unserer  vorväter  fühlte, 
wie  Kock  annimmt,  nur  a  :  a  als  als  alliteration,  a  :  e  aber  nicht  —  dann  erklären  aber 
die  Veränderungen  der  spräche  nicht,  wieso  man  laute,  die  einander  „nicht  mehr  ähn- 
lich" sind  als  k  und  (7,  dennoch  als  alliteration  gefühlt  hätte  und  sogar  auf  die  Vernich- 
tung der  alten  regel  ein  neues  gesetz  baute;  wie  konnte  man  das,  wenn  das  ohr  die 
alliteration,  zu  der  „in  der  eigenen  natur  der  laute  nicht  der  geringste  grund"  war, 
nicht  vernahm?  Oder,  ungleiche  vokale  wurden  als  alliteration  empfunden,  dann 
ist  zur  sprachhistorischen  erklärung  kern  grund  vorhanden.  Und  ferner  müsste  man 
denn  doch  erwarten,  dass  die  alte  regel,  nur  gleiche  vokale  alliterieren  zu  lassen, 
ihren  retlex  noch  in  den  denkmälern  finden  sollte;  aber  schon  zu  Tacitus  zelten, 
also  in  einer  periode,  wo  die  allermeisten  der  später  im  germanischen  wirksamen 
vokalveränderungeu  noch  nicht  eingetreten  sind,  alliterieren  ungleiche  vokale:  Ing- 
vseones  (mit  älterem  e)  und  (H)erminones  mit  Istvaeones  (i  bzw.  i),  und  in  dem 
erhaltenen  poetischen  belegmaterial  ist  oder  scheint  gerade  regel,  ungleiche  vokale 
vor  identischen  zu  bevorzugen,  und  bei  identischen  die  gieichheit  durch  Verschieden- 
heit der  unmittelbar  folgenden  konsonanten  einzuschränken  (s.  R.  Hildebrand,  Ztschr. 
f.  d.  deutschen   Unterricht  5,  577  fgg.).     Völliger  gleichklang,    wie    er   bei    gleichen 


ÜBER  PEDER  LaLE  EDD.  A.  KOCK  ET  C.  AF  PETERSENS  549 

accentuierten  anlautvokalen  am  schärfsten  hervortreten  inusste,  scheint  eben,  wie 
Hildebrand  hervorhebt,  als  unschön  empfunden  worden  zu  sein;  bei  konsonanten  war 
er  schon  dadurch  gemildert,  dass  er  durch  den  erst  folgenden  accent  an  und  für  sich 
nicht  so  stark  hervortrat ,  zumal  auch  hier  Verschiedenheit  des  folgenden  vokals  be- 
liebt gewesen  zu  sein  scheint.  Man  hat  bis  vor  kurzem  die  betrachtung  der  allite- 
ration  viel  zu  einseitig  und  mechanisch  auf  den  anlaut  des  wertes  beschränkt  und 
darüber  die  rolle  der  folgenden  laute  und  die  bedeutung  des  accentes  zu  wenig  beach- 
tet. Sind  auch  die  denkmäler  der  alliterationspoesie  jünger  als  die  zeit,  auf  die 
Kocks  hypothese  allenfalls  sich  zurückziehen  kann,  so  würde  doch  eine  genaue  durcli- 
forschung  des  materials,  die  sich  auf  statistische  tabellen  stützen  müsste  —  denn 
nur  die  veihältniszahlen ,  nicht  die  absoluten  zahlen  der  einzelnen  erscheinung,  geben 
den  ausschlag  —  unzweifelhaft  licht  auf  diese  frage  werfen,  und  zwar,  soweit  man 
schon  jetzt  urteilen  kann,  nicht  im  sinne  der  Kock'schen  hypothese. 

Sowol  die  dänische  wie  die  schwedische  redaktion  sind  bereits  herausgegeben, 
die  erstere  (von  der  verlorenen  ausgäbe  H[ans]  H[ansen]  S[kaanings]  1614  und  einem 
neudruck  1703,  sowie  der  ausgäbe  von  Ley  1842  abgesehen,  beides  nur  unphilologische 
widergabe  des  dänischen  textes)  von  E.  Nyerup  1828,  die  letztere  von  Reuterdahl 
1840.  Sowol  die  relative  Seltenheit  dieser  alten  editionen  als  die  grösseren  forderun- 
gen  an  philologische  genauigkeit  in  unserer  zeit  rechtfertigen  eine  neue  ausgäbe. 
Zugrunde  liegt  A,  mit  den  abweichenden  lesarten  von  a  und  B  unter  dem  strich, 
in  2  beilagen  folgen  die  unica  von  B  und  ein  abdruck  der  fragmente  von  H.  Daran 
schliesst  sich  die  widergabe  von  S.  Text  und  lesarten  sind  diplomatisch  getreu,  mit 
cursivierung  der  aufgelösten  Verkürzungen  widergegeben,  ein  verfahren,  das  sich  auch 
auf  den  lateinischen  text  erstreckt;  ob  die  abkürzungszeichen  des  druckes  im  däni- 
schen text  mehrfache  auslegungen  zulassen  und  es  notwendig  war,  sie  durch  cursiv- 
druck  zu  kennzeichnen,  oder  ob  bei  unzweideutigkeit  des  Systems  es  genügt  hätte, 
im  Vorwort  darüber  summarisch  auskunft  zu  geben,  wage  ich  nicht  zu  entscheiden. 
Aber  dass  es  im  lateinischen  text  für  irgendjemanden  einen  zweck  haben  kann,  zu 
ersehen,  ob  z.  b.  n  gedruckt  oder  nur  durch  strich  über  dem  vokal  ausgedrückt  ist, 
scheint  mir-  zweifelhaft;  indess  gut  ja  bekanntlich  m  Schweden  der  diplomatorische 
abdruck  als  das  ideal  einer  ausgäbe,  imd  wenn  die  herausgeber  dieses  an  sich  in 
manchen  fällen  und  von  gewissen  gesichtspunkten  berechtigte  princip  auch  auf  einen 
lateinischen  druck  vom  jähre  1506  ausdehnen,  so  ist  das  ihre  Sache,  über  die  mit 
ihnen  niemand  rechten  kann  oder  braucht,  da  dem  benutzer  des  buches  hiedurch 
jedesfalls  nichts  entgeht.  An  diesen  jedesfalls  peinlich  genauen  text,  für  dessen 
richtigkeit  der  name  der  beiden  herausgeber  bürgt,  schliesst  sich  würdig  der  umfäng- 
liche kommentar  von  Axel  Kock ,  der  nach  den  s.  I  fgg.  ausgesprochenen  grundsätzen 
des  Verfassers  zunächst  niu-  der  text- und  sinnerklärung  der  Sprichwörter  (speciell  der 
nordischen)  dienen  soll,  wobei  aber,  wie  zu  erwarten,  in  beziehung  auf  nordische 
parallelen ,  lexikaUsches  und  sprachliches  eine  menge  interessanter  und  femer  beobach- 
tungen  zu  tage  treten,  deren  aufsuchen  ein  Wortregister  erleichtert.  Die  Verdienste 
dieser  leistung  Kocks  im  einzelnen  zu  würdigen  muss  dem  fachmanne  auf  dem  gebiete 
der  Sprichwörterkunde  überlassen  bleiben.  Kommt  auch  der  nächste  gewinn  dieser 
Publikation  der  beiden  schwedischen  gelehi-ten  zunächst  der  ostnordischen  philologie, 
einem  ausserhalb  Skandinaviens  nur  sehr  wenig  gepflegten  gebiete  zu  gute,  so  wird 
doch  auch  niemand,  der  sich  mit  allgemein  nordischer  philologie  beschäftigt,  an  dem 
buche  vorübergehen  dürfen;  vor  allem  aber  möge  durch  diese  anzeige  die  aufmerk- 
samkeit  derer,  die   sich  mit  dem  Studium  der  sprichwörterkunde  beschäftigen,   darauf 


550  WUNDERLICH,    ÜBER   SCHULTHEISS,    GESCH.    D.    NATIONALGEFÜHLS 

hingelenkt  werden,  dass  allen  arbeitern  auf  diesem  internationalen  gebiete  hiermit  eine 
philologisch  streng  gesicherte,  sorgfältige  und  auf  dem  ganzen  gebiet  des  nordischen 
Sprichworts  licht  verbreitende  Veröffentlichung  geboten  ist,  doppelt  wichtig  für  sie 
dui'ch  A.  Kocks  reichen  kommentar,  der  den  w'ert  des  ganzen  Werkes  weit  über  den 
enggesteckten  Wirkungskreis  einer  blossen  publikation  ostnordischer  texte  des  späte- 
sten mittelalters  hinaushebt. 

BRESLAU,    31.  OKTOBER    1895.  0.    JIRICZEK. 


Geschichte  des  deutschen  nationalgefühls.     I.  Von  der  urzeit  bis  zum  Inter- 
regnum.    Von  F.  G.  Schultheiss.     München,  G.  Franz.     VIII  und  290  s. 

Schon  die  ergebnisse,  die  der  Verfasser  in  dem  vorliegenden  ersten  band  seiner 
Untersuchungen  anstrebt,  sollen  nicht  weniger  der  politischen  geschichte  als  auch  der  lit- 
teraturforschung  zu  gute  kommen.  Denn  „das  erwachende  bewusstsein  nationaler  eigen- 
aii  zeigt  schon  die  neigung  sich  auf  geistige  Interessen  zurückzuziehen"  und  unter  den 
„grossen  perioden  der  geschichte  des  deutschen  nationalbewusstseins^'  steht  sein  „Verhält- 
nis zum  humanismus  und  zur  reformation"  ebenbürtig  neben  seinem  Verhältnisse  „zum 
alten  kaisertum,  zu  den  wahlkönigen"  und  „zum  dynastischen  sondertum"  (einl.  s.  7). 
Ebenso  wird  auch  die  Untersuchung  selbst  sowol  auf  historischem  als  auf  litterarischem 
gebiete  geführt.  Der  Verfasser  ist  jedoch  in  erster  linie  historiker  und  seine  ausbeutung 
unserer  mittelalterlichen  dichtung,  wie  sie  im  vorliegenden  ersten  bände  zu  tage  tritt, 
ist  abhängig  von  fremden  —  dazu  vielfach  einander  entgegengesetzten  —  urteilen. 
So  ziemlich  die  meisten  probleme  der  litteraturgeschichte ,  gelegentlich  auch  der 
Sprachforschung,  werden  in  die  darstellung  einbezogen,  oline  dass  immer  diejenigen 
Seiten  gestreift  würden,  in  denen  die  neuere  forschung  den  anschauungen  des  Ver- 
fassers entgegen  kommt.  Auch  scheint  mir  als  ob  der  Verfasser  die  wurzeln,  aus 
denen  das  nationalgefühl  erwächst,  nicht  genügend  blossgelegt  habe,  als  ob  er  im 
gegensatz  zu  den  forderungen  semer  einleitung  in  der  Untersuchung  selbst  zu  viel 
mit  den  entwickelten  formen  operiere.  So  legt  er  wol  zu  wenig  gewicht  auf  die 
äusserungen  des  sippen-  und  Stammesgefühls,  die  sich  auch  litterarisch  kund  geben, 
und  hat  sich  die  reichen  belege  entgehen  lassen,  die  neuerdings  für  das  bairische 
Stammesgefühl  aus  den  dichtungen  des  11./12.  Jahrhunderts  dargeboten  werden.  Das 
ganze  Verhältnis  unserer  nationalen  dichtung  zur  romanischen  hat  in  seiner  darstel- 
lung weder  neue  beleuchtuug  noch  überhaupt  eine  eindringende  widergabe  gefunden. 
Das  höfische  epos,  das  so  manchen  wichtigen  beitrag  für  diese  frage  hätte  liefern 
können,  hat  dem  Verfasser  durchweg  nur  negative  züge  geboten,  am  dürftigsten 
aber  ist  unsere  politische  Spruchdichtung  ausgebeutet  worden.  Sie  hätte  tiefere  ein- 
blicke  in  ihre  entwicklungsgeschichte  eröffnet,  wenn  Schultheiss  nicht  gleich  mit 
"Walther  begonnen  hätte,  imd  in  ihren  späteren  beziehuugen  zu  den  Böhmeukönigen 
hätte  sie  das  deutsche  nationalgefühl  seltsam  widergespiegelt.  Schultheiss  hat  sich 
hier  für  Eeinmar  von  Zweter,  dem  er  fast  ausschliessend  sein  augenmerk  widmet, 
gerade  denjenigen  gewährsmann  entgehen  lassen,  der  am  weitgehendsten  auf  dem 
grenzgebiet  von  geschichte  und  litteratur  bescheid  weiss,  Gustav  Eoethe.  Anderer- 
seits soll  dankbar  anerkannt  werden,  dass  aus  den  historischen  quellen  des  Verfassers 
zahlreiche  mitteilungen  fliessen,  die  dem  litterarhistoriker  von  wert  sind. 

HELDELBERG,   OKT.    1895.  H.    WUNDERLICH. 


FRÄNKEL,    BÜHGERIANA  5f)l 

MISCELLEN. 

Personalien  und  stoff^eschiclitliches  zu  G.  A.  Bürger. 

1.  Bürgers  erste  gattin  dichterin? 
Dass  das  ihm  1774  „angetraute  weib  ein  weib  von  gemeinem  schlage"  nicht 
war,  bestätigt  Bürgers  bedeutsame  „Beichte  eines  niannes,  der  ein  edles  mädchen 
nicht  hintergehen  will"  ^.  Trotzdem  darf  man  über  die  geringfügige  teilnähme,  die 
er  als  dichter  bei  seiner  treuen  Dorette  fand,  nicht  den  mindesten  zweifei  hegen. 
Als  sie  nach  grenzenlos  unglücklicher  ehe  am  30.  juli  1784  „an  der  auszehrung,  die 
in  ihrer  familie  erblich  war"  —  so  heissts  ebenda  —  starb,  widmete  er  ihr  öffent- 
lich einen  rührend  innigen  nachmf.  Dabei  ist  Julius  Sahr^  recht  zu  geben:  „Der 
tod  seiner  frau,  einer  edlen,  stillen  dulderin,  erlöste  ihn  aus  dem  qualvollen  doppel- 
verhältnis;  es  war,  als  heitere  sich  sein  leben  auf",  und  unsere  gründlichsten  Bür- 
gerkenner.  Ed.  Grisebach  und  A.  Sairer^  voran,  betrachten  die  Sachlage  ebenso''. 
Um  so  mehr  sollte  man  da  erwarten,  in  jenem  nekrolog,  der  ihre  Vorzüge  genugsam 
pries,  jede  bemerkliche  fügend  durch  ihn  gleichsam  wie  eine  mittelbare  entschul- 
digung  vor  sich  und  der  weit  herausgestrichen  zu  finden.  Von  einem  poetischen 
talente  der  entschlafenen  oder  gar  von  bezüglichen  erzeugnissen,  die  vor  das  publi- 
kum  getreten,  Hess  er  darin  keine  silbe  verlautbaren.  Und  dazu  wäre  in  dieser  breit 
ausgesponnenen  Würdigung  vollauf  anlass  gewesen.  Auch  sonst  wird  nirgends  etwas 
der  art  direkt  gemeldet;  der  älteste,  der  Bürgers  leben  einigermassen  litterarhisto- 
risch  behandelte,  C.  F.  R.  Vetterlein ^,  imd  dann  Jördens,*^  im  rein  biographischen 
fast  sklavisch  ihm  nachschreibend,  hätten  sich  bei  ihrer  verliebe  für  alles  anekdotische 

1)  Bürgers  Sämtliche  werke,  1844,  IV,  198  fg.;  Strodtmann,  Briefe  von  und 
an  Bürger  IV,  19.  Dieses  Schriftstück  ist  zwar  psychologisch  interessant,  darf  aber 
nur  vorsichtig  zu  Schlüssen  verwendet  werden,  da  es  mit  vollster  absichtlicbkeit  für 
die  zu  gewinnende  noch  nicht  gesehene  braut,  „das  Schwabenmädchen"  (s.  unsere 
m\  2),  ausgearbeitet  war. 

2)  In  seinem  knappen,  deutlich  umrissenen  säkularartikel  „Zum  gedächtnis 
G.  A.  Bürgers",  Ztschr.  des  allgem.  dtschn.  Sprachvereins  IX  (1894),  13.3,  wo  er  sein 
lieblingsthema  (vgl.  Ztschr.  XXVII,  414),  Bürger  als  lehrer  und  pfleger  dei-  deut- 
schen Sprache,  vortrefflich  behandelt. 

3)  Aus  einem  von  diesem  in  seinem  hochwichtigen  abdrucke  des  briefwech- 
sels  zwischen  Bürger  und  Goeckingk  (Vierteljahrschr.  f.  litteraturgesch.  III)  veröffent- 
lichten biUet  Bürgers  vom  31.  juli  (s.  das.  s.  451  fg.)  scheint  mir  dieselbe  empfin- 
dung  zu  sprechen.  Ebd.  s.  434  findet  Dorette  in  Stimmungsberichten  an  Goeckingk 
für  lyrische  Sentimentalität  allerdings  eine  gute  prosa. 

4)  Vgl.  meine  unten  s.  555  anm.  1  angezogene  abhandlung  s.  1208  a. 

5)  „Handbuch  der  poetischen  litteratur  der  Deutschen,  d.  i.  Kurze  nachrich- 
ten  von  dem  leben  und  den  Schriften  deutscher  dichter.  Ein  anhang  zu  seiner  Chre- 
stomathie deutscher  gedichte.  Köthen  1800",  ein  heute  vergessenes  buch,  das  aber 
gar  manche  brauchbare  notiz,  öfters  sogar  nicht  üble  ansätze  zu  einer  Charakteristik 
enthält,  so  über  Bürger  s.  539  —  555,  sogar  auch  schon  4  englische  Leuore- Über- 
setzungen nach  den  drucken  1798/99,  d.  h.  von  1796  fgg.  nennt,  womit  A.  Brandl's 
katalog  darüber  in  seiner  bibliographie  bei  Erich  Schmidt,  Charakteristiken  s.  245  fg. 
(nach  neuerer  brieflicher  mitteilung  hat  Brandl  seitdem  seine  notizen  vervollständigt) 
vorgearbeitet  war  (eine  neuere  in  A.  Mercer  Adam's  [f  anfg.  decbr.  1895]  „Flowers 
of  Fatherland  transplanted  iuto  English  soil",  1870). 

6)  In  seinem  bekannten  vielbenutzten  „Lexikon  deutscher  dichter  und  pro- 
saisten"  I  (1807)  251  —  273;  s.  271,  8  nennt  er  Vetterleiu's  aufsatz.  Sollte  etwa  die 
wörtliche  Übereinstimmung  auf  der  Identität  der  quelle  beruhen  ? 


552  FRÄNKEL 

dieses  pikante  kui-iosum  kaum  entgehen  lassen.  Sauer,  Bürger -ausg.  s.  XVni  fg.  und 
111  hält  auf  grund  des  briefs  an  Boie  vom  7,  aug.  1777  das  im  folgenden  erwähnte 
gedieht  für  „wirklich  von  Bürgers  erster  frau  und  von  ihm  nur  überarbeitet".  Pro  hie, 
G.  A.  Bürger.  Sein  leben  und  seine  dichtungen  (1856)  gibt  s.  62  eine  fussnote,  auf 
deren  Inhalt  er  bei  keiner  späteren  Bürgerpublikation  zurückgekommen  ist: 

„Folgende  seltsame  notiz  in  einem  buche,  betitelt:  „„Deutschlands  Schriftstel- 
lerinnen. Eine  charakteristische  Skizze.  King -Tsching  in  der  kaiserlichen  Drukkerei 
1790""  (s.  12  — 13),  ist  auf  sie  zu  beziehen:  „„Madam  Bürger,  Gattin  unseres 
ersten  deutschen  Volksdichters  und  Privatlehrers  ^  der  schönen  Wissenschaften  zu  Göt- 
tingen, ist  todt.  Sie  war  eine  Anverwandte  des  berühmten  Egyptischen  Usurpator 
Ali-Bey,  der  vor  einigen  Jahren  so  viel  Aufsehen  machtet  Sie  soll  ein  gutes  wack- 
res "Weib  gewesen  sein,  und  das  Liedcheu  in  der  poetischen  Blumenlese  1780*,  Mut- 
tertändeley  betitelt,  ist  eine  schöne  poetische  Frucht,  die  beweist,  dass  sie  vom  Geiste 
ihres  Gatten  etwas  in  sich  gezogen  habe.""  Das  gedieht  „Muttertändelei"  (august  1778) 
versah  Büi'ger  mit  dem  zusatze:  „Für  meine  Dorette",  es  ist  also  von  ihm  selbst. 
Man  findet  es  S.  w.  Ausg.  v.  1844,  I,  s.  253  und  254."     Vgl.  Sauer  a.  a.  o.  s.  111. 

Ob  Pröhle  die  genannte  quelle  selbst  vorgelegen  hat,  oder  ob  er  die  nachricht 
zweiter  band  verdankt,  weiss  ich  nicht;  mir  gelang  es  nicht,  jenes  merkwürdig  beti- 
telte buch  aufzustöbern.  Sollte  man  nun,  wo  es  zudem  nirgends,  auch  nicht  in  dem 
hilfsmittel- Verzeichnisse  des  mnsichtigen  C.  W.  0.  A.  v.  Schindel,  Die  deutschen 
Schriftstellerinnen  des  neunzehnten  Jahrhunderts  (Lpz.  1823  —  25),  der  viele  Zeitge- 
nossinnen von  Bürgers  frau  aufnimmt,  citiert  wird,  an  seiner  existenz  überhaupt 
zweifeln?  Dass  wenigstens  der  Inhalt  obiger  eröffnung  nicht  apokryph,  ist  mir  unwi- 
derleglich, da  ich  vor  kenntnis  dieser  Pröhlischen  armierkung  auf  dieselbe  angäbe 
in  dem  anonymen,  von  K.  F.  "VV.  Erbstein  und  Joachim  Christoph  Friedrich  Schulz*, 
hauptsächlich  wol  von  letzterem,  herausgegebenen  „ALmanach  der  Belletristen  und 
Belletristinnen  für's  Jahr  1782.  Ulietea  bei  Peter  Jobst,  Edlen  von  Omai,  Königl. 
Hofbuchhändler  und  Buchdrucker"^  s.  25  stiess.     Es  heisst  daselbst: 

„Madam  Bürger.  Gattin  des  vorigen.  Eine  Anverwante,  von  dem  berühm- 
ten Egiptischen  Usurpator  Ali-Bey,  der  vor  einigen  Jahren  so  viel  Aufsehn  machte. 
Sie  sol  ein  gutes  wakres  Weib  sein ,  die  vom  Geiste  ihres  Gatten  etwas  in  sich  gezo- 

1)  Damalige  bezeichnung  für  unser  „privatdocent".  Grimm,  D.  wb.  Vn,2138  fg. 
gibt  nichts  näheres  über  die  zeitliche  abgrenzung  beider  im  18.  Jahrhundert  gebrauch- 
ten ausdrücke  an.     Vgl.  auch  unten  s.  553  anm.  2. 

2)  Ah  Bei  war  der  bedeutendste  nnd  berühmteste  der  mamelukenf ührer ,  die 
sich  in  ihren  provinzen  fast  unabhängig  machten  und  den  türkischen  pascha  -  gouver- 
nem-  ignorierten.  Er  empörte  sich  1771  gegen  die  pforte,  schlug  die  truppen  der 
regierang  wie  seine  eigenen  genossen  und  ward  auf  sein  geheiss  durch  den  scherif 
von  Mekka  zum  grosssultan  Ägyptens  und  herrscher  beider  meere  ernannt,  aber 
1773  von  seinem  geueral  und  günstling  Abu-Dahab  ermordet. 

3)  Die  beiden  wichtigsten  authologieu  damaliger  lyrik,  der  von  Boie  gegrün- 
dete Göttiuger  Musenalmanach,  den  von  1779  bis  zu  seinem  tode  Bürger  herausgab, 
imd  der  1776  als  konkurrenzunternehmen  durch  J.  H.  Voss  ins  leben  gerufene,  führ- 
ten den  nebentitel  „oder  poetische  blumeniese  auf  das  jähr....";  hier  ist  natürhch 
der  erstgenannte  gemeint:  1780,  s.  78,  unterschritt  „D.  M.  Bürger  geb.  Leonhart". 

4)  Vgl.  Allgem.  dtsch.  biogr.  XXXII,  742  (nicht  744!). 

5)  In  Wirklichkeit  war  Himburg,  der  berüchtigte  Berliner  nachdrucker  und 
einige  jähre  vorher  Veranstalter  der  unrechtmässigen  ausgäbe  von  „D.  Goethens  Schrif- 
ten" (die  im  „Almanach  der  B.  und  B."  s.  65  gerühmt  werden),  der  Verleger. 


BÜRGERIANA  553 

gen  hat.     Das  Liedchen  im  Aknanach  von  1780,   Mutter tändelei  betitelt,    macht 
uns  nach  mehr  aus  ihrer  Hand  und  ihrem  Herzen  begierig." 

Ersichtlich  fusst  auf  dieser  auslassung  die  obige  jüngere,  wie  nicht  nur  der 
Wortlaut,  sondern  auch  die  zusätze  und  änderangen  —  z.  b.  im  titel  des  angezogenen 
Sammelwerks  —  beweisen.  Der  im  „Almanach  der  B.  und  B."  auf  s.  23  —  25  vor- 
angehende überschwengliche  panegyrikus  Bürgers  hebt  nämlich  mit  dem  empha- 
tischen ausrufe  „Unser  Volksdichter !"  an  und  enthält  gegen  das  ende  die  superla- 
tivische apposition  „Er,  der  Einzige  unsrer  neusten  Dichter!",  woraus  die  vorderhälfte 
der  einleitenden  Standesbezeichnung  in  jener  1790er  notiz  zusammengeflossen  ist. 
Friedrich  Schulz,  wahrscheinlich  der  urheber  der  ganzen  fabel,  oder  wenigstens  der 
der  sie  in  die  weit  gesetzt,  ist  wenige  jähre  danach,  1786,  in  seiner  „Litterarischen 
reise  durch  Deutschland"^  nicht  wider  darauf  zuiückgekonamen ,  ich  vermute,  aus 
einem  gewissen  Zartgefühl,  weil  mittlerweile  Dorette  und  auch  ihre  Schwester,  teil- 
haberin und  nachfolgerln-  in  Bürgers  herzen,  „Molly"  rasch  danach  gestorben  war. 
Der  Verfasser  bez.  kompilator  von  „Deutschlands  Schriftstellerinnen"  besass  nun  ent- 
weder keine  kenntnis  von  diesem  Situationswechsel  oder  ihn  kümmerte  eine  solche 
rücksicht  nicht;  übrigens  liegt  die  annähme  nahe,  er  habe  überhaupt  mit  der  bemer- 
kung  auf  „Molly",  die  von  Bürger  hochgefeierte,  für  die  man  dinim  ein  stärkeres 
Interesse  der  pikanterie  hatte,  gezielt.  Denn,  das  sei  nun  hiermit  festgestellt,  dieses 
buch  ist  wirklich  in  umlauf  gekommen;  das  zeigt  sein  Vorhandensein  in  neueren 
bücherlagern  verschiedener  Jahrzehnte^.  "Woher  aber  die  annähme  einer  poetischen 
ader  bei  Bürgers  ehefrau  im  gründe  stammt,  wird  sich  kaum  ermitteln  lassen. 

2.  Bürgers  dritte  gattin. 
Die  biographen  Büi'gers  sind  stets  mit  leicht  erklärlicher  scheu  daran  vorbei- 
gegangen, das  gewebe  des  geheimnisses ,  das  über  seiner  dritten,  unheiligsten  und 
unheilvollsten  ehe,  mit  dem  „schwabenmädchen"  Elise  Hahn,  lagert,  zu  lüften.  Die 
bündigste  und  verlässlichste  aller  lebensskizzen,  diejenige,  die  Ä.  Sauer  seiner  vor- 
trefflichen ausgäbe  in  Kürschner's  „Deutscher  uationallitteratur "  vorausschickte, 
erkläi-t  ausdrücklich,  darauf  verzichten  zu  wollen,  und  Ed.  Grisebach's  streng  urkund- 
liche „Einleitungen"  zu  seinem  kritischen  gesamtdrack  und  der  imten  berührten  ver- 
diensthchen  Sammlung  der  „Werke"   streifen  das  heikle 'thema  nicht  weiter  als  ein 

1)  Eine  unveränderte  „Zweyte  aufläge"  dieses  bei  Wucherer  in  "Wien  heraus- 
gekommenen büchleins  erschien  „Frankfurt  und  Leipzig,  1780"  unter  der  aufschrift: 
„Litterarische  Anekdoten  auf  einer  Reise  durch  Deutschland  an  ein  Fi-auenzimmer 
geschrieben",  anonym  wie  jene.  Die  begeisterung  für  Bürger  (der  s.  51  und  212 
erwähqt,  s.  258  fg.  eingehend  charakterisiert  wird)  ist  hier  schon  stark  abgeblasst  imd 
der  ton  klingi  sogar  etwas  an  Schillers  „recension"  von  1791  (AUg.  lit.-ztg.)  an. 

2)  Nebenbei  sei  bemerkt,  dass  die  amtliche  registrieruug  dieser,  wol  aus  dem- 
selben grimde  wie  zwei  Jahrhunderte  früher  (bei  Shakespeare)  eilig  vollzogenen  hoch- 
zeit  „aus  dem  aufgebots-  und  trauungsbuche  der  parochie  Bisseudorf  1785"  (17.juni) 
bei  K.  Goedeke,  G.  A.  Bürger  in  Göttiugen  und  Gellinghausen.  Aus  Urkunden  (1873) 
s.  114  fg.  ausgezogen  ist,  obwol  Goedeke's  nachforschungen  im  übrigen  mit  1773 
abschliessen.  Bürger  erscheint  darin  als  „Dichter  und  Lehrer  des  teutschen  Stils  zu 
Göttingen". 

3)  Ich  nenne  da  bloss  „F.  H.  v.  d.  Hagen's  Bücherschatz",  d.  i.  den  katalog 
der  „ Bücher- auction  von  K.  Friedländer  und  söhn  in  Berlin  den  18.  niai  1857", 
s.  83  nr.  2006,  ausserdem  das  „153.  Verzeichnis  des  antiquarischen  bücherlagers  von 
A.  Bielefelds  hofbuchhandlung  Liebermann  und  cie.  in  Karlsruhe"  (o.  j.;  1892),  s.  27 
nr.  646,  wo  die  notiz  „selten"  und  in  pai'enthese  „Ulm  Stettin"  beigefügt  ist. 


554  FEÄNKEL 

gewissenhafter  chronist  muss.  Für  die  breiteren  leserschichten,  auf  die  diese  aus- 
gaben rechnen,  mag  es  so  recht  sein;  dagegen  halte  ich  es  für  geboten,  als  faktum 
der  litteraturgeschichte  ein  für  alle  mal  festzustellen,  dass  die  schuld  für  den  bmch 
des  völlig  unleidlichen  Verhältnisses  auf  Seiten  der  jungen  frau  war.  Denn  diese 
„rettung"  des  anderweit  gerade  genug  belasteten  dichters  ist  ein  erfordernis  der  ehr- 
lichkeit.  "Wer  die  dicken  akten  dieser  tieftraurigen  Vorgänge  zu  jenem  behufe  wäl- 
zen mag,  wird  freilich  reichlich  schmutzige  wasche  waschen  müssen.  Doch  braucht 
er  dann  aus  dem  romau  nur  die  hauptpunkte  auszulesen.  Im  übrigen  Hessen  sich 
die  Studien  zu  einem  charakterbilde  der  äusserst  interessanten^  und  später  auf  der 
bühne  wie  im  salon  noch  zu  hervorragendem  rufe  gelangten  frau,  deren  Vernachläs- 
sigung dui'ch  die  zahllosen  sensationslüsternen  erzähler  der  von  ihr  gefesselten  Jahr- 
zehnte billig  auffallen  muss,  erweitern.  Zu  dem  ende  seien  hier  sämtliche  fundorte 
des  weit  zerstreuten  materials  verzeichnet,  wobei  die  flüchtigen  erwähnungen  in  den 
ältesten  litterarhistorischeu  handbüchern,  wie  bei  Vetterlein  a.  a.  o.  s.  545  fg.  und 
bei  Jördens  a.  a.  o.  I,  255  fg.,  in  den  meisten  fällen  auch  Verweisungen,  die  an 
citierten  stellen  anzutreffen  sind,  fortbleiben: 

Briefwechsel  zwischen  Goethe  und  Schiller,  vom  4.  — 12.  mai  1802,  =  Goethe's 
werke,  Weimar.  (Sophien-)  ausg. ,  4.  abtlg.,  XVI  (1895)  76.2  ^^^^  '^^n't  C."\V.  0.  v.  Schin- 
del, Die  deutschen  schi'iftstellerinnen  des  neunzehnten  Jahrhunderts,  I  (1823)  s.  84  — 
87,  III  (1825)  s.  56  —  59;  ß.  B. *  in:  Blum,  Herlosssohn  und  Marggraff,  Allgemeines 
theater-lexikon,  neue  [unveränderte]  ausgäbe,  II  (1846)  s.  61  fg.  und  I  s.  156  ^; 
H.  Pröhle,  G.  A.  Bürger,  s.  X,  67,  70,  73  —  75,  161;  Fr.  W.  Ebeling,  Mosaik. 
Kleine  schritten  zur  geschichte  und  litteratur  (Lpz.  1867),  s.  XII  —  XV  und  223  — 
270:  „Elise  Bürger.  Zur  geschichte  der  letzten  lebensjahre  des  dichters."  Letztere 
mit  seichtem  geschwätz  kolossal  aufgebauschte  apologie  aus  der  feder  eines  durch 
persönliche  motive,  vielleicht  wesentlich  den  wünsch,  eine  gefälligkeit  zu  erweisen* 
angetriebenen  advokaten  der  längst  verstorbenen  ist  trotz  des  mancherlei  neuen  und 
des  nimbus  der  authenticität  mit  äusserster  vorsieht  zu  gebrauchen^;  unter  dem  titel 
„Bürger  und  Elise  Hahn"  erschien  sie  unverändert  als  selbständiges  buch  1868, 
2.  aufläge  1871.  Die  für  den  Sachverhalt  wichtigen  „Briefe  Bürgers  an  Marianne 
Ehrmann  [die  in  Stuttgart  die  korrespondenz  und  das  weitere  eingefädelt  hatte] ,  her- 
atisgegeben  von  [deren  gatten]  Th.  F.  Ehrmann"  ("Weimar  1802)  scheint  Ebeling  — 
s.  s.  359  anm.  3  —  im  urtext  gar  nicht  gesehen  zu  haben.  Die  sonstigen  biogra- 
phien  und  Charakteristiken  Bürgers,  Goedeke's  Grundriss  z.  g.  d.  d.  d.,  die  „All- 
gemeine deutsche  biographie",  die  (älteren  auflagen  der)  konversationslexika**,  die  ja 
sonst  an  derartigem  detail  nicht  arm  sind  (auch  die  1.  ausgäbe  des  „Pierer",    Ency- 

1)  So  sind  ihre  verschiedenen  poetischen  spenden  keineswegs  schlechthin  ver- 
achtenswert. Eese's  guter  Bürger -artikel,  Ersch-Gruber's  Encyclopädie  XIII  (1824), 
371  —  379  behandelt  die  leidensgeschichte  der  dritten  ehe  richtig  (375  —  377),  gibt  aber 
nichts  über  die  frau.     Im  allg.  vgl.  Sauer's  ausg.  s.  XXXVIII  —  XLII. 

2)  Eobert  Blum,  der  bekannte  48er,  damals  sekretär  am  stadttheater  zu  Leipzig. 

3)  Unter  Stichwort  „Attitüde";  vgl.  meinen  artikel  „Attitüde"  in  der  neuen 
(14.)  aufläge  von  „Brockhaus'  Konversationslexikon"  II  sp.  65  a. 

4)  Vgl.  s.  XII  fg. ,  367  fg.  u.  ö. 

5)  Wie  seine  aufschwellende  Umarbeitung  von  Flögel's  „Geschichte  des  gro- 
tesk-komischen" (1887),  sein  buch  über  „Friedrich  Taubmann"  (vgl.  meine  bemer- 
kung  Allg.  dtsch.  biogr.  XXXVII,  440  und  Euphorien  II,  765  anm.  1),  das  über  „Die 
Kahlenberger"  (1889)  u.  a. 

6)  "V"gl.  in  Brockhaus'  neuestem  "III  758  a  meinen  kurzen  artikel. 


BÜRGERIANA  555 

klopädisches  Wörterbuch ,  IV,  1825,  485b  bietet  uichts  besonderes),  usw.  liefern  keine 
über  das  hier  zusammengestellte  hinausführende  materialien.  Meine  anlässlich  der 
hundertsten  widerkehr  von  Büi-gers  todestag  Yeröifentlichte  abhandlung  „Bürger  im 
Spiegel  seiner  zeit  und  der  gegenwart.  Mit  unbeachteten  zeitgenössischen  und  eigenen 
äusserungen" »  berührt  diese  dinge  mit  sorgsamer  reserve.  Da  ich  daselbst  wol 
sämtliche  1894  zum  Jubiläum  hervorgetretenen  neuen  beitrage  registriert  habe,  so 
muss  ich  hier  nachtragen,  dass  die  kurz  darauf  dazugekommene  5.  aufläge  der  ge- 
schickten einbändigen  ausgäbe  der  „Werke",  die  Eduard  Grisebach ,  als  erster  die  prosa 
nach  gebühr  berücksichtigend,  besorgt  hat,  auf  s.  XXXIX  fg.  der  knappen  doch  aUe 
tatsachen  enthaltenden  biographischen  „Einleitung"  die  dritte  ehe  richtig  erledigte. 

Aus  der  ruhelosen  wanderperiode,  die  Elise  nach  lösung  des  zwieträchtigen 
bundes  durchgemacht  hat,  müssen  wir  ergänzungs-  und  berichtigungshalber  ihren 
Berliner  auf  enthalt  herausgreifen.  Ein  solcher  ist  erst  für  später,  nach  ihres  gatten 
tode  sicher  bekannt,  als  sie  der  theaterleidenschaft  Berlins  begeisterte  verse  entlockte. 
L.  Geiger  hat  in  seine  auslese  „Berliner  gedichte  1763  — 1806"  (1890)-  unter  nr.  78 
zwei  bezeichnende  belege  dafür  eingereiht  (s.  195  fg.):  der  eine  ist  von  Rüdiger,  der 
andere  von  ,  Christoph  Bias  MacKonley'  (!),  worüber  Geigers  notiz  ebd.  s.  XLVII  zu 
vergleichen.  Dagegen  ist  die  bei  E.  B.  in  dem  obgenannten  artikel  des  „Theaterlexi- 
kons" II  s.  61  fg.  aufgetischte  Variante:    „  ..  kam  später  nach  Berlin,    von  wo  aus 

sie    dem  bekannten    dichter   G.  A.  Bürger    ihre    hand   antrug"   gewiss   völlig 

grundlos.  Jedoch  unterlasse  ich  nicht,  auf  bezügliche  andeutungen  über  ihre  etwaige 
mit  öffentlichem  auftreten  verbundene  anwesenheit  zu  Berlin  unmittelbar  nach  der 
officiellen  ehescheidung  aufmerksam  zu  machen,  die  Bürger  in  einem  vom  11.  Sep- 
tember 1792  datierten  briefe  seinem  freunde  Goeckingk*  macht: 

„Dass  Madame  Hahn  nicht  mehr  in  AYolfenbüttel  ist,  das  weiss  ich;  dass  sie 
sich  aber  wieder  nach  Stuttgard  begeben  haben  soUte,  daran  ist  wol  gai"  sehr  zu  zwei- 
feln. Hier  sind  mü*  zwei  Sagen  von  ihr  zu  Ohren  gekommen,  eine,  dass  sie  sich 
nach  "Wien  in  die  Dienste  Sr.  Kaiserl.  Majestät,  die  andere,  dass  sie  sich  nach  Ber- 
lin ,  vennutlich  in  die  Dienste  des  Publikums  unter  der  Direktion  der  Madam  Schupitz 
begeben  habe.  Letzteres  ist  mir  das  Wahrscheinlichste;  und  wenn  es  noch  nicht 
geschehen  sein  sollte,  so  dürfte  es  doch  wol  über  kurz  oder  lang  noch  dazu  kom- 
men. In  der  That  sind  auch  ihre  Talente  da  ganz  allein  an  ihi'er  rechten  Stelle.  Zum 
ein  oder  zweimaligen  Versuch  in  dieser  Qualität  kann  ich  sie  auch  jedermann  mit 
gutem  Gewissen  empfehlen,  allein  keinem,  auch  meinem  Feinde  nicht,  zur  beständigen 
Mätresse,  viel  weniger  zur  Frau." 

Übrigens  hatte  Bürger,  der  im  selben  schreiben  sagt:  „In  der  That  es  kommt 
mir  seit  einigen  Wochen  vor,  als  sähe  ich  weit  besser  aus,  und  fühlte  mich  auch  an 
Leib  und  Seele  weit  besser,  als  vor  25  Jahren  ",  den  mit  dieser  trennung  verknüpften 
ärger  rasch  überwunden;  „wahi-lich  kein  Liebesabenteuer  hat  je  mein  ganzes  Wesen 
so  sehr  in  sich  hinein  verstrickt,  als  das  gegenwärtige  grosse  Weltabenteuer,  von 
welchem  ich  keinen  Ausgang  sehe,  ja  nicht  einmal  zu  ahnden  im  Stande  bin", 
schreibt  er  am  9.  april  1793  demselben  jugendgenossen*. 

1)  Westösthche  nindschau,  I  (1894),  heft  16  (15.  aug.),  s.  1206  f gg. 

2)  In  seiner  Sammlung  „Berliner  neudrucke"  nr.  3;  (vgl.  Unterhaltungsbl.  d. 
Tägl.  rundschau,  1890,  s.  485fg. ,  meine  notiz  Blatt,  f.  lit.  unterh.  1890,  s.  516  fg.). 

3)  In  Sauers  publikation  der  korrespondenz  a.  a.  o.  s.  464  fg. ;  weder  Sauer  noch 
das  register  (s.  622  b)  erklären  die  „Hahn"  als  Bürgers  ehegattin. 

4)  Ebd.  s.  468;  gemeint  sind  natürlich  die  französischen  revolutionsereignisse. 


556  FKÄNKEL 

3.  Bürger's  denkmal. 
Da  sich  fast  alle  persönlichen  beziehungen  Bürgers  aus  seiner  reifeepoche  an 
Göttingen  anlehnen,  wenigstens  dort  der  ganze  härm  der  drei  ehen  sich  abspielte, 
mag  denn  auch  hier  der  genugtuung  darüber  ausdruck  verliehen  werden,  dass  es 
nun  endlich  gelungen  ist,  die  grabstätte  des  dichters  in  der  stadt,  wo  er  leid  und 
freud  so  bitter  gemischt  zu  kosten  hatte,  würdig  zu  schmücken.  Der  29.  juni  1895  — 
die  Verspätung  ist  durch  das  langsame  eingehen  der  nötigen  gelder  verschuldet  —  ist  das 
datum  der  enthüUung  einer  bronzebüste  Bürgers  auf  dem  friedhofe  vor  dem  "Weendertor, 
die  Professor  Eberlein  in  Berlin  schön  ausgeführt  hat.  Die  mittel  sind  bekanntlich 
durch  freiwillige  Sammlungen  aufgebracht  worden,  nachdem  der  auf  ruf  dazu,  selbst 
ein  stück  deutscher  litteratur-  und  kulturgeschichte,  in  tagesblättem  und  germanisti- 
schen Organen,  so  auch  in  dieser  Zeitschrift  XXVII,  144  möglichst  weit  verbreitet 
worden  war.  Danach  hätte  man  allerdings  einen  tiefern  nachhall  hoffen  imd  erwai'ten 
sollen,  dass  die  gegenwart  eine  ehrenpflicht  leistet,  an  die  man  bald  nach  des  dich- 
ters tode  in  schwierigeren  zeitläuften  sich  gewagt  hatte;  denn  schon  Yetterlein  mel- 
det a.  a.  0.  s.  548 :  „  Auf  Veranstaltung  des  herrn  doktor  Althofs  ^  haben  die  freunde 
Bürgers  und  seiner  muse  ihm  ein  steinern  denkmal  verfertigen  und  in  dem  Ul- 
richschen  garten  bei  Göttingen  im  jähre  1799  aufstellen  lassen",  welche  notiz  Jör- 
dens  a.  a.  o.  s.  257  beinahe  wörtlich  übernahm.  Unter  den  neueren,  die  sich  mit  seinen 
äusseren  Schicksalen  näher  beschäftigt  haben ,  ist  keiner  auf  die  entstehungsgeschichte 
dieser  idee  und  das  scheitern  jüngerer  plane  eingegangen,  —  wie  lehrreich  wäre  es 
z.  b. ,  die  personen,  die  sich  bereit  erklärten,  das  andenken  des  arg  verketzerten  zu 
fördern,  kennen  zu  lernen!  Grisebach's  neuere  ausgäbe  der  , "Werke'  (s.  o.)  s.  XL  VI  fg. 
teilt  das  genaue  Ziffernergebnis  jener  Althof'schen  subscription  und  die  fakten  der 
ältesten  aufstellung  von  leichen-  und  denkstein  genau  mit. 

4.  Zu  den  quellen  einiger  „episch-lyrischen  gedichte"  Bürgers. 
Für  die  meisten  der  nicht  der  rein  subjektiven  lyrik  angehörigen  gedichte  Bür- 
gers ist  die  quellenfrage  ziemhch  befriedigend,  wennschon  nicht  endgiltig  gelöst.  Das 
suchen  der  vorlagen  hat  angesichts  seiner  besondern  gäbe,  die  fremden  stoffe  sich 
ganz  zu  eigen  zu  machen  und,  auch  bei  enger  anlehnung,  auf  den  ihm  eigtümlichen  ans 
volksmässige  anklingenden  ton  zu  stimmen,  einen  ungewöhnlichen  reiz.  Freilich 
ist  dabei  meistens  mehr  für  die  parallelen -Schubfächer  der  vergleichenden  litteratur- 
geschichte  als  für  die  kenutnis  seiner  belesenheit  und  die  erkeuntuis  seiner  dicht- 
manier  herausgesprungen.  Das  umfänglichste  an  material  über  die  mit  entlehnten 
motiven  arbeitenden  nummern  bietet  immer  noch  der  zeit  seines  lebeus,  zwar  ein- 
seitig, aber  doch  mannig-fach  erfolgreich  für  Bürgers  rühm  und  Verständnis  tätig 
gewesene  Heinrich  Pröhle  in  seinem  schmächtigen  büchlein  von  1856,  das  so  ziem- 
lich alle  bis  zu  diesem  jähre  zugänglichen  mitteilungeu  auszog.  Seitdem  haben  ver- 
schiedene auf  diesem  felde  weitere  umschau  gehalten,  darunter  in  einem  gewissen 
zusammenhange  widerum  Pröhle,  selten  mit  glück,  dann  Bürgers  engerer  landsmann, 
der  motivkundige  Robert  Sprenger,  letzterer  in  mehreren  germanistischen  Zeitschrif- 
ten gelegentüche  Schnitzel  spendend. 

Doch  hat  Sprenger  auch  eins  der  fesselndsten  stücke,    den  schwank  von  kai- 
ser  und  abt,  ausführlich  betrachtet,   in  den  oft  übersehenen  „Akademischen  blättern. 

1)  Des  dichters  hausarzt,    testameutsvollstrecker,   erster  biograph  und  heraus- 
geber,  sowie  vormimd  der  kiuder. 


BÜRGERIÄNA  557 

Beiträge  zur  litteratur- Wissenschaft  herausg.  von  0.  Sievers"  (1884)  s.  324  —  330, 
wo  das  bei  Pröhle  a.  a.  o.  s.  115  — 123  zusammengetragene,  soweit  ich  sehe,  voll- 
ständig verwei-tet  ist,  obwol  Pröhles  name  fehlte  Trotzdem  lässt  sich,  selbst  wenn 
man  Pröhle's  und  Sprenger's  winke  sämtlich  zusammenfasst,  noch  mancherlei,  älteres 
sowol  wie  neueres,  ergänzen.  Geachtet  hat  man  auf  die  vielen  Wanderungen  und 
Wandlungen  des  Stoffes  schon  lange,  so  K.  Veith  1839 -:  „Ich  will  nicht  behaupten, 
dass  spätere  dichter  jedesmal  aus  Johannes  Pauli  geschöpft,  wenn  sie  einen  stoff 
behandeln,  der  bei  ihm  schon  vorkommt,  ich  will  bloss  einige  fälle  dieser  art  bemerk- 
bar machen",  worauf  vor  andern  durch  neuere  poeten  aufgegriffenen  themen  drei 
weitverbreitete  internationale  erscheinen:  „die  schöne  fabel  vom  vater,  söhn  und 
esel,  welche  es  dem  kritisierenden  publikum  auf  keine  weise  recht  machen  können, 
ferner  Geliert's  "Witwe  ^  femer  Bürgers  Kaiser  und  der  abt  von  St.  Gallen."  Beson- 
ders auffällig  ist  es  mir,  dass  R.  Sprenger,  der  sonst  durch  umsieht  im  herbeiholen 
von  materialien  oft  staunen  hervoiTuft,  die  beiden  neueren  ausgaben  von  B.  Wal- 
dis'  „Esopus"  (daselbst  m,  nr.  92  die  fabel),  die  von  Heinr.  Kurz  und  die  von 
J.  Tittmann,  nicht  nachgeschlagen  und  somit  ihre  reichen  parallelenlisten  unbenutzt 
gelassen  hat.  Ersterer  gibt  sie  bd.  11,  anmerkungen  s.  339fg. ,  letzterer  beim  text, 
II  s.  91,  worauf  hier  einfach  verwiesen  sei.  Beide  steuern  auch  zum  urteil  über 
die  fortpflanzung  und  Umbildung  des  Inhalts  beachtenswestes  bei:  Kurz  bertihrt 
I  s.  XXXVII  die  durch  Waldis  erfolgte  oder  wenigstens  bei  ihm  zuerst  entgentre- 
tende  Übertragung  des  verlangten  klugheitsbeweises  auf  einen  gelehrten  manu,  die 
nicht  eben  glücklich  ist*,  Tittmann  I  s.  LX  fussnote  argumentiert  aus  der,  zuerst 
von  Mittler  in  seinen  mitteilungen  über  Waldis"  s.  41  beobachteten  erwähnung  und 
vei'wertung  von  G.  Forsters  Liedersammlung  (nr.  120)''  die  niederschrift  von  "Wal- 
dis' fassung  „nach  1533" ''.  Ferner  ist  Sprenger  Reinhold  Köhlers  auseinandersetzung 
über  die  vier  fragen  in  der  „  Elite  des  Contes "  des  Ant.  de  Metel  sieur  d'  Ouville 
entgangen,  die  sich  in  seiner  abhandlung  über  Nasr-eddins  Schwanke,  Benfey's 
„Orient  \md  occident"  I,  431  fgg. ,  auf  s.  440  findet.  Damit  deckt  sich  sodann  „fast 
wörtlich"  das  märchen  „Le  Meunier  Astrologue"  in  den  „Nouveaux  Contes  A  Rire, 
Et  Aveutures  Plaisantes    de    ce    temps;    ou  Recreations   Francoises.     A  Amsterdam 

1)  Freüich  kam  es  Sprenger  wol  darauf  an,  in  grösstmöglicher  kürze  seine 
wertvollen  zusätze  einer  gedrängten  Übersicht  des  bisher  vou  verschiedenen  selten 
festgestellten  einzufügen.  Dieser  artikel  Spreugers  ist  für  die  art,  die  ergebnisse 
seines  viel  zu  wenig  gewürdigten  forschens  zu  eröffnen,  typisch. 

2)  Über  den  Barfüsser  Johannes  Pauh  und  das  von  ihm  veriasste  Volksbuch 
„Schimpf  und  ernst"  nebst  46  proben  aus  demselben,  s.  22. 

3)  Das  problem,  das  Grisebach  musterhaft  begleitet  in  „Die  wauderung  der 
novelle  von  der  treulosen  witwe  durch  die  weltlitteratur"  (2.  ausg.  der  Umarbeitung 
1889;  s.  112);  zur  fabel  vou  vater,  söhn  nnd  esel  s.  Oesterley's  J.  Pauli  s.  599,  nr.  577. 

4)  So  auch  der  neueste  herausgeber,  E.  "^^olff,  in  „Reinke  de  vos  und  sati- 
tirisch- didaktische  dichtung"  (Kürschners  Deutsche  nationallitteratur ,  XIX)  s.  299: 
„"Waldis  kehrt  leider  die  tendenz  um." 

5)  Sonderabdruck  aus  „Hessisches  Jahrbuch"  1855  (vgl.  Vilmar  [-Goedeke], 
Geschichte  der  deutschen  national -litteratur"",  s.  678). 

6)  V.  198  fg.  bei  "Waldis  lauten: 

„Und  solchs  in  ein  kurz  liedlin  gfasst 
zu  Nüi'uberg  durch  ein  gierten  man", 
worauf  das  citat  folgt. 

7)  Über  diese  Persönlichkeit  und  die  Chronologie  vgl,  jetzt  Erk- Böhme,  Deut- 
scher liederhort  I,  s.  XXX VU. 


558  FEÄNKEL 

M.DC.  XCIX"  s.  230  fgg.\  worauf  Ad.  Wolff  in  Wagners  „Archiv  f.  d.  gesch.  dtschr. 
Sprache  u.  dichtung'^  (1873/74)  s.  328  aufmerksam  machte.  Wie  mancherlei  noch 
aus  dem  oder  jenem  nicht  abgegrasten  winkel  beigebracht  werden  kann,  zeigt  der 
umstand,  dass  allein  1891/92  vier  neue  beitrage  hervortraten.  In  modernen,  insbe- 
sondere ungarischen  volksüberliefemngen  sticht  E.  Binder  kongruenzen  auf-;  Wlis- 
locki'  holt  aus  seiner  domäne,  der  volksjjoesie  der  osthälfte  der  Habsburger -monar- 
chie,  Seitenstücke  aus  armenischem,  magyarischem,  slovakischem,  südslavischem 
Sprachgebiete  herbei  und  statuiert  das  der  Bukowinaer  Armenier  als  anfangsglied  in 
der  kette  der  ableitungen  der  von  ihm  vorausgesetzten  morgenländischen  urfassimg; 
während  Wlislocki  wie  bei  „Lenore"*  Bürger  am  liebsten  an  mündhche  deutsche  volks- 
überlieferung  anknüpfen  zu  sehen  meint,  findet  E.  Sprenger,  nochmals  auf  den  plan 
getreten^,  in  dem  werte  ,,kreuzchen''  bei  Bürger  ein  direktes  missverständnis  von 
crozier  in  der  alteuglischen  ballade  in  Percy's  „Reliques''  und  damit  einen  sichern 
beweis  der  benutzuug  dieser;  für  letztere  stellt  nun  B.  Honig  gar  in  einer  serie  von 
einzelheiten  durchschlagende  belege  fest  (,,  Percy's  ballade"  King  John  and  the  Ab  bot 
of  Canterbui7"''6). 

In  einem  erst  neuerdings,  durch  Ferd.  Gerhard',  näher  betrachteten  schwank- 
und  anekdoteu-kompendium  des  17.  Jahrhunderts,  Johann  Peter  de  Memel's  „Lusti- 
ger gesellschaft",  stosse  ich  nun  auf  eine  Variation  unseres  themas,  das  mit  derBür- 
ger'schen  „Abt"-gi'uppe  zwar  nicht  in  der  Situation,  wohl  aber  im  kerne  der  erzählung, 
nämlich  in  den  drei  aufgegebenen  fragen  völlig  übereinstimmt.  Sie  folge  hier,  zumal 
Gerhard  bei  seiner  besprechung  ausgehobener  nummern  nicht  darauf  eingeht,  ver- 
gleichshalber, und  zwar  nach  dem.  auch  von  ihm  kollationierten  und  verzeichneten 
exemplar  der  Münchner  hof-  und  Staatsbibliothek*  s.  165  fg.  nr.  047: 

„Eine  Königin  hatte  einen  Gefangenen,  sprach:  Wann  er  folgende  drey  Dinge 
sagen  könte,  solte  er  ledig  sein,  nemlich: 

Wie  viel  sie,  die  Königin  werth  wäre? 

Wo  das  Centrum  oder  das  Mittelst  in  der  Welt  wäre?  und 

Was  sie  gedächte? 

Der  Gefangener  [!]  lag  in  Sorgen,  wie  diese  Dinge  auffzulösen,  es  kommt  aber 
zu  seinem  Glück  ein  Bauer  zu  ihm,  der  ihm  sehr  ähnlich  sähe,  dieser  verwechselte 
die  Kleider  mit  dem  Gefangenen ,  und  lösete  der  Königin  die  drey  Fragen,  sagte  auff 
der  ersten,  Sie  wäre  neun  und  zwantzig  Silberling  werth,  denn  der  Herr  Christus 
hätte  [s.  166]  dreyssig  gegolten,  Sie  müste  ja  einen  geringer  gelten.     Auff  der  andern, 

1)  In  demselben  höchst  seltenen  buche  entdeckte  ich  eine  enge  parallele  zu  dem 
seit  Yriolsheimar  (s.  meinen  artikel  AUg.  dtsch.  biogr.  XL,  374)  oft  bearbeiteten 
schwank  vom  angeblichen  ohrenabschneiden  (vgl.  auch  die  notiz  am  Schlüsse  mei- 
nes H.  Sachs  -  referats  Litteraturbl.  f.  germ.  u.  rom.  phil.  XVII). 

2)  Ztschr.  f.  verglchd.  litteraturg.  n.  f.  V  s.  466  —  469. 

3)  Ebd.  IV  s.  106  —  112;  vgl.  Holzhausen  i.  d.  Ztschr.  XV  s.  321. 

4)  Zu  dieser  sammle  ich  behufs  abschUessender  gruppierung  alle  motivvarian- 
ten  und  bitte  um  mitteüungeu  bez.  hinweise  (vgl.  meine  uotizeu:  Ztschr.  d.  Vereins 
f.  volkskd.  IV  s.  218;  Am  ur- quell  V,  128;  Archiv  f.  d.  stud.  d.  neueren  spr.  u.  litt. 
VC  heft  4,  referat  über  Thimm,  Dtschs.  geistesleben ;  Westöstl.  iimdsch.  I.  1214''). 

5)  Ztschr.  f.  d.  dtsch.  unterr.  V,  275  fg. 

6)  Englische  Studien  XVIII  (307  — 315)"  s.  313  — 315. 

7)  Joh.  Peter  de  Memels  Lustige  gesellschaft  nebst  einer  Übersicht  über  die 
schwank  -  litteratur  des  XVII.  Jahrhunderts.     Heidelberger  dissertation.     Halle  1893. 

8)  L.  eleg.  m.  536".  „Gedruckt  zu  Franckenau  im  Drömling"  (o.  j.),  duodez, 
306  Seiten,  1208  nummern. 


BÜRGERIANA  559 

SO  machte  er  mit  der  Kreide  einen  Punct  vor  ihr  auffn  Tisch ,  sagte :  Das  wäre  recht 
das  Mittelste  in  der  Welt,  wers  nicht  glauben  wolte,  solte  die  "Welt  nach  diesem 
Punct  messen.  Und  auff  der  dritten  frage  sagte  er,  Sie  gedächte  dass  er  der  Gefan- 
gener wäre ,  er  wäre  aber  ein  Bauer  und  nicht  ein  Gefangener." 

Ich  bin  überzeugt,  dass  noch  viele  volkstümliche  vexier  -  rätsei  im  umlaufe 
sind,  die  sich  mit  den  hier  verwendeten  eng  berühren;  allein  die  beiden  Jahrgänge 
IV  und  Y  von  Fr.  Krauss'  Monatschrift  für  Volkskunde  „Am  Ur- quell"  (vgl.  die  regi- 
ster!)  bieten  allerhand  verwandtes.  So  scheint  auch.  Bürger  für  den  Wortlaut  seiner 
rätselfragen  beim  volksmunde  auleihen  gemacht  zu  haben  wie  sonst. 

Zu  Bürger's  Stellungnahme  zur  sagenlitteratur  liefert  Karl  Hessel's  aufsatz 
„Eine  verlorene  und  widergefuudene  Rheinsage"  in  der  Kölnischen  zeitung^  einen 
charakteristischen  beitrag,  obzwar  seine  angaben  keineswegs  unbemerktes  aufstöbern, 
wie  er  vermeint.  Danach  verdankte  Bürger  den  stoff  seiner  ballade  „Der  wilde 
Jäger"  dem  „Chronicon  ffirsaugiense"  des  abts  Johannes  Tritheim[ius]  (1462  — 1516)  ^ 
des  aus  der  geschichte  der  Faustsage  bekannten^,  und  zwar  dem  eintrage  zum  jähre 
1354,  wie  ja  auch  seine  „Weiber  von  Weiusberg"*  auf  diesem  beruhen.  Die  zu 
grande  liegende  fabel  ist  eine  echte  Rheinsage,  und  Hessel  räumt  ein,  in  seiner 
ueuauflage  von  K.  Simrock's  „Rheiusagen"  das  bisher  für  Bürger'sche  ei-findung  ge- 
haltene gedieht  widerrechtlich  ausgemerzt  zu  haben.  Seine  jetzige  genaue  uach- 
erzählung  der  tradition  beweise  unwiderleglich  diese,  wie  er  glaubt,  bisher  von  kei- 
nem Bürger -forscher^  erkannte  tatsache.  Hessel  blieb  nun  aber,  wunderbar  genug, 
unbekannt,  dass  der  vorzüglichste  fachmaun  auf  dem  felde  des  mittelrheinischen 
litterarischen  folklore  *',  Alex.  Kaufmann ,  in  seinen  höchst  gehaltvollen  „Nachträgen  zu 
den  „Quellenangaben  und  bemerkungen  zu  Karl  Simrock's  Rheinsagen""'  s.  30  fgg. 
diese  Sachlage  gründlich,  mit  belegen  und  sogar  im  unmittelbaren  anschlusse  an 
Simrock  (Handbuch  d.  dtsch.  mythol.,  3.  auf.,  s.  581  fg.)  vorgetragen  hattet  Die 
andern  allerdings  wussten  nichts  davon.  H.  Pröhle,  G.  A.  Bürger  s.  124  —  129  — 
Simrock  a.  a.  o.  polemisiert  hingegen  wider  Pröhle's  auzapfung  in  dessen  „Harz- 
sagen" betreffs  der  lokalisiei-ung  von  Bürgers  gedieht  —  behandelt  den  „Wilden 
Jäger"  nach  quelle  und  Varianten  eingehend,  ohne  aber  zu  bemerken,  dass  der 
(s.  127  aum.)  von  ihm  citierte  Nikolaus  Hocker,  ebenfalls  ein  feiner  Rheinsagen -ken- 

1)  1894,  nr.  876  (28.  oktbr.),  2.  beilage  zur  sonntags  -  ausgäbe ,  s.  1. 

2j  Weniger  merkwürdig  ists,  dass  sein  sagenbelesener  landsmann  Uhland  ihn 
zur  vorläge  wählte  (vgl.  P.  Eichholz,  Quellen  -  Studien  zu  Uhlands  bailaden,  s.  75, 
79,80).  freilich  zu  dem  nachlass  -  gedieht  „Das  kloster  Hirschau"  erst  diu'ch  Lessing's 
(Lachmaun-Maltzahn'sche  ausg.  IX,  222  fgg.)  Vermittlung:  vgl.  meme  Uhland -ausg. 
I,  515,  minutiöse  vergleichung  bei  R.  M.   Werner,  Lyrik  und  lyriker,    s.  339—344. 

3)  Vgl.  meine  neuerlichen  nachweise  im  „Euphorien"  II,  760  und  762. 

4)  Auch  hier  weicht  Pröhle  a.  a.  o.  s.  129  —  132  gänzhch  ab  und  bewegt  sich 
lediglich  auf  dem  boden  von  lokalsagen  ohne  sichern   anhält,   wie   zumeist. 

5)  Selbst  dem  specialisten  Honig  (Ztschr.  XXVI,  529),  worauf  mich  Erdmann, 
der  verstorbene  mitherausgeber  dieses  organs,  hinwies;  Sauer's  ausg.  s.  184  u.  231. 

6)  Mein  nekrolog  „Gegenwart"  44  nr.  36  und  der  H.  Hüffer's  Kölnische  Zei- 
tung 1893  nr.  398  brachten  das  wol  zum  bewusstsein. 

7)  Annalen  des  historischen  Vereins  für  den  Niederrhein  XLI  (1884),  s.  1  — 56; 
die  erste  reihe  von  glossen  ebd.  XIX,  s.  37  —  60. 

8)  S.  33  fg.  auch  ein  hübscher  absatz  über  die  gestaltung  des  „Lenore"-themas 
gegenüber  dem  „Wilden  Jäger".  Die  sage  vom  „W.  j."  in  der  Lüneburger  haide 
(Poeck,  Germ.  XXXVII,  119  fg.)  Bürger  war  wol  erreichbar!  Ungedruckt  ist  gröss- 
tenteils ein  werk  über  die  ganze  sage  von  H.  G.  F.  Wohlthat  (s.  Am  Urds-brun- 
nen  VI,  1889,  s.  17  fg.) 


560  FEÄNKEL,    BÜRGKRIANA 

ner  und  ein  intimer  arbeitsgenosse  Simrocks\  die  sage  ersichtlich  nicht  für  willkür- 
lich verpflanzt  gehalten  hat-.  Man  vergleiche  auch  G.  Bonet  —  Maury,  G.  A.  Bür- 
ger et  les  origines  anglaises  de  la  bailade  litteraire  en  AUemague  (1889),  s.  154— 160 ^ 

Endlich  möge  hier  aus  einem  abgelegenen  zeitungsblatte  zu  einem  vielumstrit- 
tenen gedichte,  das  etlichen  Spezialisten,  wie  Grisebach*,  als  perle  der  Bürger'schen 
lyrik  gilt,  und  bei  dem  es  gerade  deshalb  besonders  auziehend  wäre  den  grad  der 
abhängigkeit  von  einem  vorbilde  zu  fixieren,  eine  notiz  wortgetreu  ohne  kommentar 
widerholt  sein.  Im  „Leipziger  tageblatt"  stand  anfang  april  1886  unter  chiffre  =  o.  ^ 
folgendes : 

fl Gottfried  Bürger's  Ballade  „Die  [!]  pfarrerstochter  von  Taubenheim  [!]"  hat 
tausende  von  thränen  für  das  unglückliche  mädchen  entlockt  und  tausende  von  fluchen 
auf  den  herzlosen  junker  Falkenstein  entfacht  und  doch  —  ist  an  der  ganzen  herzbre- 
chenden geschichte  kein  wort  wahr.  Hätte  dagegen  der  genannte  dichter  die  alte, 
berühmte  Wallfahrtskirche  Ebersdorf  bei  Chemnitz  mit  ihren  Sehenswürdigkeiten, 
darunter  der  köpf  einer  kindsmörderiu  mit  reichem  voUen  bloudhaar,  gekannt,  dann 
gäbe  es  wol  keine  dichtung  „Die  pfarrerstochter  von  Taubenheim",  sondern  eine  „Pfar- 
rerstochter von  Ebersdorf ",  die  in  Wahrheit  ihrem  düsteren  Schicksal  vei'fiel.  Die 
geschichte  ist  kurz.  Liebe,  heisses  blut,  verrat,  Verzweiflung  und  ein  henkerschwert, 
das  ist  ihr  Inhalt.  Der  edelherr  vom  schlösse  droben  verliess  das  arme  pfarrerskind, 
das  schönste  mägdlein  weit  umher.  Und  als  er  wider  heimkehrte,  rauschten  die 
alten  buchen  um  das  hochgericht,  von  dessen  pfähl  der  köpf  der  kindesmörderüi 
niederstarrte.  Da  erwachte  in  dem  junker  das  gewissen  und  trieb  ihn  zur  Verzweif- 
lung, Er  liess  der  kindesmörderin  an  geheiligter  statte  ein  grab  bereiten,  und  dann 
ist  er  fortgezogen  in  den  kiieg  und  nimmer  widergekehrt." 

Das  von  Pröhle  s.  132  — 137  hierfür  gewährte  materiaP  ist  nicht  ohne  wert, 
im  ganzen  genommen  aber  ebenso  zu  beurteilen  wie  wir  es  oben  in  der  fussnote  zu 
seinen  sachlichen  glossen  über  „Die  weiber  von  Weinsberg"  getan  haben  (s.  559  anm.  4). 

1)  Seine  sagensammlungeu ,  die  namentlich  den  Moselbezirk  betreffen,  über- 
gehend, weise  ich  auf  sein  nettes  büchlein  über  Simrock  (1877)  hin,  das  Edw.  Schrö- 
der in  der  Allg.  dtsch.  Biogr.  XXXV,  385  nicht  vergass.  Ich  meine,  Hessel  hätte 
den  ihm  so  leicht  erreichbaren  Hocker  persönlich  zu  rate  ziehen  sollen. 

2)  Wie  freilich  da  sogar  ein  geschulter  und  gewitzigter  sagenkundiger  wie 
Simrock  einmal  über's  ohr  gehauen  werden  kann,  erläutert  ein  köstlicher  wahrer 
scherz,  den  ich  in  meinem  aufsatze  über  sein  „Amelungenlied"  (Ztschr.  f.  d.  dtsch. 
unterr.  X.  band,  von  mir  in  erwartung  früheren  abdrucks  Ztschr.  XXVII,  412  schon 
für  1894  augekündigi) ,  „Ein  neudeutsches  heldenepos  altdeutschen  stoffs",  erzähle. 

3)  Dies  fleissige  werk  birgt  für  die  reale,  d.  h.  rein  biographische  und  die 
stoffgeschichtliche  aufgäbe  der  Bürger  -  forschimg  wenig  eigenes;  ich  versuchte  seine 
bedeutuug  zu  kennzeichnen  „Magazin  f.  d.  litteratur  des  in-  und  auslands",  59.  jhi-g. 
1890,  nr.  52  („Das  gegenwärtige  Studium  der  deutschen  litteratur  in  Frankreich"). 

4)  Auch  nach  mündlicher  mitteilung  an  mich.     Vgl.  Sauer's  ausg.  s.  LXu.  241. 

5)  Wahrscheinlich  der  alte  Leipziger  lokalchronist  Otto  Moser,  der  seit  vielen 
Jahren  im  „L.  t."  unter  ähnlichen  chiffren  kulturhistorische  kuriosa  in  einzelnen 
schnitzeln  einrückt  und  damit  aus  seinen  langjährigen,  aber  unkritischen  und  ihm 
selbst  unkontrollierbaren  koUektaneen  bisweilen  nicht  unwichtige  einzelheiten  zu  tage 
fördert,  wie  z.  b.  Fr.  Zarncke  bei  seinen  Chr.  Keuter - forschungen  erfuhr  (s.  dessen 
notiz  in  den  „Berichten  der  kgl.  Sachs,  gesellschaft  der  Wissenschaften.  Philolog.- 
histor.  klasse"  40,  1888,  s.  73;  vgl.  den  artikel  zu  Mosers  80.  geburtstag  im  „L.  t." 
vom  20.  novbr.  1895,  beilage. 

6)  Vgl.  zum  Stoffe  auch  Sauer's  ausg.  der  „Stürmer  u.  dränger"  (1891)  I,  s.  VV. 

MtJNCHEN.  LUDWIG   FRÄNKEL. 


FEÄNKEL,    FRÄULEIN  561 

Materialien  zur  begriffseutiylcklung  von  nM.  „fräulein". 

In  nummer  14  des  53.  jalu'gangs  der  „Grenzboten"  veröffentlichte  Ernst  Mül- 
lenbach s.  33  —  37  einen  artikel  „Demoiselle  —  fräulein  —  gnädiges  fräiüein",  der 
der  ablösimg  dieser  ausdrücke  im  sprachgebrauche  des  achtzehnten  Jahrhunderts  mehr 
kulturhistorisch  als  sprachgeschichtlich  nachgeht,  ja  in  letzterer  hinsieht  mannigfach 
angreifbar,  besonders  stark  ergänzungsfähig  ist.  Uns  betrifft  hier  der  s.  35  stehende 
Satz:  „Die  bis  dahin"  —  "Wielands  ausdrucksregulierungen  im  „Teutschen  Merkur" 
sind  gemeint  —  „seit  etwa  fünfzig  jähren  herrschende  anscliauung  beschränkte  recht- 
lich den  gebrauch  des  wertes  fräulein  auf  die  töchter  adlichen  Standes."  —  Wieland 
verwarf  damals  in  einer  abhandlung  „Über  den  Vorschlag,  unsere  bisherigen  demoi- 
sellen  künftig  fräulein  zu  betiteln"  das  auftauchende  streben  nach  dieser  umtaufo. 
Wir  haben  diesen  Standpunkt  gebührend  in  anschlag  zu  bringen,  wenn  wir  z.  b.  die 
gleichzeitigen  prosadramen  —  denn  nur  diese  können  natürlich  in  betracht  kommen 
—  des  jungen  Schiller  daraufhin  durchsehen.  Amalia  von  Edelreich  („Eäuber")  heisst 
stets  „das  fräulein",  sowie  auch  „das  fräulein  von  Barnhelm",  wie  Lessing  die  Minna 
sich  bei  aufnähme  des  personale  selbst  bezeichnen  lässt.  Aber  auch  „gnädiges  fi-äulein" 
dringt  bereits  ein,  wofür  Karl  Moors  erste  anrede  IV,  4.  scene  ein  typisches  beispiel 
zeigt.  In  „Kabale  und  liebe"  wird  Luise  von  allen  sie  siezenden  „mamsell"  genannt, 
die  Milford  „(Mi)lady"  oder  „gnädige  frau",  -was  der  „madame"  in  „Fiesco"  entspricht; 
so  redet  dort  die  gräfin  Imperiali  Leonoren  geringschätzig  an.  Man  vergesse  nicht, 
dass  Gretchens  absage  an  den  ihr  erstmals  begegnenden  Faust  „bin  weder  fräulein", 
was  seine  nachherige  bezeichnung  „die  dime"  —  dies  selbstverständlich  ohne  jeden 
Übeln  beigeschmack  —  bestätigt,  auf  demselben  brette  liegte  Mag  auch  sein,  dass 
Goethes  verliebe  für  die  ausdrucksweise  des  16.  Jahrhunderts,  insbesondere  Hans 
Sachsens,  mit  grund  für  die  betonung  von  „fräulein"  in  diesem  sinne  war-.  Bei 
dem  volkstümlichen  Nürnberger  poeten  wird  z.  b.  eine  verheiratete  frau  besseren 
Standes  angeredet:  freiclein,  tviltu  mir  thun  ein  sehenek^,  woneben  freilich  das 
(krumb)  frewelem  =  weiblein  steht,  wie  „Des  knaben  wunderhorn"  bereits  in  älte- 
ren nummern  „fahrende  fräulein"  in  einer  bedeutung  gebracht,  die  nichts  weniger  als 
an  den  ehemaligen  rang  des  ritterbüi-tigen  oder  wenigstens  ritterwürdigen  anklingt. 
Auch  altgriechisch  )/j;^(/i>;  schwankt  in  der  bedeutung  zwischen  xögr],  ywri,  ncdXay.tg. 

Zwei  Zeugnisse  aus  dem  anfange  des  vorigen  Jahrhunderts  mögen  beweisen, 
dass  der  von  Wieland  gesetzte  terminus  a  quo  ein  gut  stück  weiter  hinauf  zu  rücken 
ist.  Bei  Albert  Joseph  Loncin  von  Gominn  (d.  i.  Conhn)*,  Der  Christliche  W^eltweise, 
band  n  (Augsb.  1706)  s.  33  heisst  es:  „0  wie  manches  Fräide  (also  wii'd  bey  jetziger 

1)  In  Fr.  Strehlke's  „Wörterbuch  zu  Goethes  Faust"  s.  47a  werden  folgende 
steUen  des  Vorkommens  citiert:  2605,  2906,  3020  (aUes  nach  der  neuen  Weünarer 
ausgäbe),  Urfaxist  457,  459,  760,  874,  i;nd  als  eriäuterung  gesagt:  „ein  junges  mäd- 
chen  von  adel  oder  wenigstens  den  höheren  ständen  angehörig". 

2)  Die  neueren  Untersuchungen  von  Goethes  Verhältnis  zu  H.  Sachs,  verzeich- 
net bei  Sahr,  Ztschr.  f.  d.  dtsch.  unterr.  IX,  676  fgg.,  und  Koch,  Berichte  des  freien 
dtsch.  hochstifts  n.  f.  IX,  226  fg.  (vgl.  mein  referat  über  „Hans  Sachs -festschriften" 
„Litteraturbl.  f.  germ.  u.  roman.  philoL",  XVE)  erwähnen  davon  nichts. 

3)  KeUers  ausg.  (Litterar.  verein)  YI,  121,  die  folgende  steUe  VI,  304. 

4)  Über  diesen  nachäffer  Abrahams  a  Sta.  Clara  vgl.  meine  angaben  Engl, 
stud.  XIX,  203,  und  Euphorien  H,  771  (Flögel-Ebeling,  Gesch.  des  grotesk- komi- 
scheu* [1887]  nennt  falsch  s.  423  Cobui-g  als  veiiagsort,   s.  470aConnus  als  namen). 

ZEITSCHRIFT   F.    DEUTSCHE   PHILOLOGIE.     BD.    XXVIII.  ^" 


562  FRÄNKEL 

zeit  fast  ein  jede  Vogts  Tochter  titulivQi^  und  will  keine  kein  Jungfraii ^  mehr  seyn, 
wie  es  dann  auch  vielleicht  in  der  That  sich  also  befindet)  0  wie  manches  Fräule ,  sag 
ich,  wann  sie  sihet,  wie  dass  die  Natur  einer  armen  Burgers  Tochter  mehr  galanterie 
und  Schönheiten  hat  in  das  angesicht  gesetzet,  als  ihr,  die  sie  doch  ein  gebohme 
von  Adel ,  wann  sie  siebet ,  wie  bey  manichem  Baurn  -  Grettl  ^  die  Oratien  so  Hauifen- 
weiss  Quartier  nehmen,  wann  sie  sihet,  wie  maniches  Bettel  Mädl  Corallen  und  Ala- 
baster gnug  zu  verkauiTen  hat,  ist  einer  solchen  um  ihr  schöne  Gestalt  ....  neidig."  — 
Ebenda  s.  210  lesen  wir:  „erst  kürtzlich  hat  er  ein  junge  Princeßin  ausgeh eurathet, 
da  hat  mau  gleich  ein  Fräule  Steuer  gemacht  ....  ja  sollte  einer  schier  wünschen, 
dass  solche  theure  frälen  in  der  Thonau  schwummen."  Andrerseits  freilich  liest 
man  bei  Christian  ^'^ernike  um  dieselbe  zeit:  „wenn  das  Wort  der  Sache  nutzt,  so 
geb'  ich  alles  nach,  und  ich  bin  nicht  entrüst,  dass  man  die  Fräulein  heisst,  die 
keine  Jungfer  ist" :  Kürschners  Deutsche  national -litteratur  bd.  XXXIX,  544. 

Übrigens  wogte  der  streit  auch  nach  Wieland  noch  längere  zeit  ohne  entscheiduug 
hin  und  her''.  Im  feuilleton  der  „Frankfurter  zeitung"  vom  13.  juh  1894,  zweites 
morgenblatt,  steht  in  einem  anonymen,  manches  gute  enthaltenden  eingesandt  „Zur 
geschichte  der  sprachreiuigung "  folgende  mitteilung,  die  den  kämpf  um  den  rang 
von  „fräulein"  bis  ins  zweite  Jahrzehnt  unseres  Jahrhunderts  lebendig  zeigt:  „Im 
mai  181G  zerbricht  man  sich  in  Berlin  den  köpf  mit  der  Übersetzung  von  madame 
und  mademoiselle:  die  hauptschwierigkeit  findet  man  darin,  dass  bei  den  neuen 
bezeichnungen  der  unterschied  zwischen  adeligen  und  nichtadeligen  frauen  und 
fräuleins  verwischt  wird.  ,Hohe  frau,  edle  frau,  edles  fräulein,  herrin'  —  all  das 
findet  man  geschmacklos.  Endlich  behilft  man  sich  mit  dem  auswege:  frau  und  fräu- 
lein sind  die  einzig  richtigen  ausdrücke;  wer  seinen  adel  besonders  betonen  wolle, 
der  möge  sich  eben  baron,  baronin  und  so  weiter  betiteln  lassen.  Schon  ein  jähr  vor- 
her war  aus  dem  schoosse  einer  Berliner  „Deutschen  gesellschaft"  der  verschlag  her- 
vorgegangen, fräulein  beim  adeligen,  fraulein  beim  bürgerlichen  mädchen  zu  sagen". 
Zu  letzterem  entschluss  entnehme  ich  ferner  der  sehr  dankensweiien  abhandlung 
über  „Die  ehemalige  Berlinische  gesellschaft  für  deutsche  spräche  und  ihre  bücher- 
sammlung",  die  John  Koch  als  „Wissenschaftliche  beüage  zum  Jahresbericht  des 
Dorotheenstädtischen  realgymnasiums  zu  Berlin.  Ostern  1894"  (Berlin,  R.  Gärtners 
Verlagsbuchhandlung)  vorlegte,  s.  29,  dass  der  jeuer  bücherei  entstammende  sammel- 
band  nr.  470  an  18.  stelle  enthält: 

„Der  Freimüthige.   Num.  30,  den  11.  febr.  1815,  Anzeige.  (Geschriebenes  blatt). 

Überzeugt,  dass  bei  einer  Reinigung  der  Sprache,  che,  wenn  Grundsätze  weiser 
Mässigung  sie  leiten,  so  sehr  zu  wünschen  ist,  die  Herausgeber  öffentlicher  Blätter 
mit  einem  guten  Beispiel  vorangehen  müssen,  erkläre  ich  mich,  für  mich  und  den 
Freimüthigen ,  hiermit  öffentlich  für  die  so  überaus  glückliche  Verwandlung  der  fran- 
zösischen Ausdrücke:   Madam  und  Mamsell  in  Frau  und  Fräulein,  welche  durch  eine 

1)  Abgesehen  von  der  Zweideutigkeit  in  diesem  zusammenhange,  ist  hierzu 
eben  das  spätere  mamsell,  wie  es  Schiller  (z.  b.  in  „Kabale  und  hebe"  neben  Jung- 
fer) gebraucht,  zu  vergleichen. 

2)  In  diesem  sinne  war  der  name  wol  auf  bairisch[-schwäbisch]em  boden  im 
Schwange  (Schmeller- Frommann  I,  1017);  J.  Bolte  im  register  seines  neudrucks  von 
Val,  Schumanns  „Naclitbüchlein"  (Litterar.  verein,  197,  1893)  s.  425  erklärt  Gräte 
(245,  14  und  20)  und  G]-etl(e)in  (55,  16  und  56,  1)  direkt  als  bauerndirne.  Vgl. 
W.  Wackernagel,  Kl.  rchr.  III.  130—146  (aus  Germ.  IV/V), 

3)  Sanders  I,  487,  Grimm  IV,  1,  87  fg.  (auch  frä[u]le)  setze  ich  voraus. 


FRÄULEIN  563 

aclituiigswerte  Spracligesellschatt  in  Erfurt  zur  Sprache  gebracht  worden  ist,  und  ver- 
banne jene,  in  einem  deutschen  Munde  wirklich  albern  klingende  werte  aus  dieser 
Zeitschrift,  wie  von  der  Aufschrift  meiner,  an  deutsche  Frauen  und  Mädchen  gerich- 
teten, Briefe.  Überlassen  wir  es  in  Zukunft  den  koketten  Weibern,  sich  Madams,  den 
Freudenmädchen,  sich  Mamsells  nennen  zu  lassen. 

Berlin,  d.  8.  februar  1815.  D.  August  Kuhn.'" 

"Wenige  jähre  später,  in  der  von  K.  B.  Schade  besorgten  5.,  völlig  umgearbei- 
teten aufläge  von  J.  Chr.  Adelungs  „Kleinem  deutschen  Wörterbuch"  (1824)  —  die 
als  eine  art  gradmesser  des  damaligen  Sprachgebrauchs  angesehen  werden  darf  — 
fehlt  mamsell  ebenso  wie  madam,  und  s.  147  steht  fräulein  ohne  weitere  erklärung 
unter  dem  stich woiie  frau.  In  büchern  wie  F.  A.  Brandstäter,  „Die  gallicismen  in 
der  deutschen  Schriftsprache  mit  besonderer  rücksicht  auf  unsere  neuere  schönwis- 
senschaftliche litteratur"  (1874),  sucht  man  vergebens  nach  belegen  für  das  19.  Jahr- 
hundert; s.  99  ist  in  einer  alphabetischon  liste  „madame,  als  anrede  zur  eigenen 
frau"  bei  Schiller,  Neffe  als  oukel  H,  7  nachgewiesen,  also  einfach  beibehalten!  ^Ma- 
dame" ist  übrigens,  wie  ich  nach  vielfacher  eigener  erfahrung  in  laden  usw.  bestä- 
tigen kann,  heute  in  Paris  die  fast  alleinige  anspracheform.  Sachs -Villatte,  Ency- 
clopäd.  wörterb.*^  (1894),  s.  928c  erklärt  es  sehr  gut,  zu  mehreren  obigen  stellen 
parallelen  bietend:  „Titel  und  anrede  (ehem.  nur  der  wirklichen  ritterfrauen ,  jetzt) 
joder  verheirateten  frau  oder  auch  einer  unverheirateten  (wenn  man  nicht  bestimmt 
weiss,  ob  sie  noch  unverheiratet),  auch  einer  unverheirateten  dame  der  demi-monde"; 
nach  Villatte's  „Parisismen"''  (1895)  s.  176a  ist  madame  im  Argot  der  hauptstadt 
„titel  der  bordellvorsteherin". 

Der  hübsche  artikel  von  dr.  Paul  Bartels,  „Titelwesen  und  anrede  in  Deutsch- 
land", Allgemeine  konservative  monatsschrift  f.  d.  christl.  Deutschland,  52.  jahrg. 
(1895;  märz)  s.  268  —  274  bezieht  sich  nur  auf  die  anrede -prouomina  sowie  hoch- 
und  wolgeboren,  erwähnt  fräulein,  madam  usw.  nicht. 

MÜNCHEN.  LUDWIG    FßÄNKEL. 


Berg'  iiud  vögleiu. 

Zu  der  die  owigkeit  versinnbildenden  parabel  vom  demautberg  (., dahin  kommt 
alle  hundert  jähr  ein  vögelein  und  wetzt  sein  schnäblein  daian,  und 
wenn  der  ganze  berg  abgewetzt  ist,  dann  ist  die  erste  Sekunde  von  der 
ewigkeit  vorbei")  in  den  märchen  der  brüder  Grimm  hat  R.  Sprenger  (oben 
s.  71  —  72)  zwei  Strophen  aus  einem  im  „Wunderhorn"  (bd.  2,  Heidelb.  1808,  s.  220) 
nach  mündlicher  quelle  aufgezeichneten  Volkslied  verglichen: 

„AVeun  berg  und  tal  aufeinander  stand', 

viel  lieber  wollt'  ich  sie  tragen, 

als  dass  ich  soll  stehn  vor  dem  jüngsten  gericht, 

soll  all  meine  sünden  beklagen." 

„Und  kam'  alle  jähr'  ein  vögelein 

und  nahm'  nur  ein  schnäblciu  voll  erden, 

so  wollt'  ich  doch  die  hoffnuug  haben, 

dass  ich  könnt'  selig  werden." 
Es   sei  gestattet,    auf  eine  weit  ältere  ähnliche  stelle  aufmerksam  zu  macheu. 
Das  zu  München  im  jähre  1510  aufgeführte  spiel  vom  jüngsten  gericht,    welches  ich 

36* 


564  HÄRTMANN,  nKRG  UND  VÖGLEIN 

nach  der  bandschrift    (cgm.  4433)    auszugsweise  in  seinen    charakteristischen    partien 
widergegeben  habe*,  lässt  die  verdammten  seelen  klagen: 

„Wir  armen  seien  wollten  geren, 

das  ain  perg  auf  gieng  bis  an  die  steren, 

der  alls  prait  war  alls  das  gantz  erdtrich, 

und  alle  jar  ain  vogel  erschwunge  sich 

und  von  dem  perg  füert  ainer  arbais  gros; 

wann  dann  der  perg  wurd  erdtrichs  plos, 

das  wir  erledigt  wurden  von  der  pein, 

dieweil  weiten  wir  geren  in  der  helle  sein 

und  leiden  pein,  die  da  unseglich  ist, 

das  wir  darnach  sehen  Jhesu  Crist. 

das  mag  unns  aber  widerfaren  nicht; 

wir  sein  ewigklich  on  end  gericht" 
Wie  man  sieht,  schliessen  sich  diese  verse  den  beiden  durch  Sprenger  erwähn- 
ten stellen,  näher  jedoch  der  in  dem  volksliede  an. 

Das  Münchener  spiel  von  1510  ist,  wie  ich  a.  a.  o.  s.  421—422  nachgewiesen 
habe*,  eine  jüngere  bearbeitung  des  alemannischen  weltgerichtspieles ,  das  sich,  vom 
jähre  1467  datiert,  in  einer  bandschrift  des  klosters  Eheinau  bei  Schaffhausen  findet^. 
Das  Rheinauer  spiel  enthält  die  obigen  verse  noch  nicht.  Ältere  quelle  des  Mün- 
chener Spiels  in  bezug  auf  die  fragliche  Symbolik  war  möglicherweise  ein  theologisches 
werk  (predigt?)  in  prosa,  vielleicht  aber  auch  schon  ein  volksrätsel,  wie  wir  es  im 
besagten  märchen  als  frage  des  königs  und  antwort  des  hirtenbübleins  vernehmen. 

Etwas  abgeändert  und  auf  zwei  bilder  verteilt  widerholt  sich  unser  gleichnis 
in  einem  protestantischen  erbauungswerke  des  17.  Jahrhunderts,  dem  „Neu  vermehr- 
ten Nürnbergischen  handbuch"  von  Dominicus  Beer,  der  pfarrkirchen  zu  S.  Lorentzen 
diacono  und  seniore,  Nürnberg  1659.  Hier  heisst  es  in  dem  „betrachtung  der  ewig- 
keit"  überschriebenen  70.  büchlein,  s.  1272: 

„Komme  herbey,  du  allerbester  rechenmeister,  und  rechne  mir  diese  summe, 
die  ich  dir  fiirlege,  so  will  ich  dich  für  einen  meister  passieren  lassen.  Ich  setze, 
der  gantze  erdboden  sey  ein  grosser  mächtiger  sandberg  von  den  allersubtilsten  sand- 
körnlein,  ein  engel  vom  himmel  käme  alle  jähr  einmal  und  nehme  mehr  nicht, 
als  ein  einiges  körnlein  mit  sich  hinweg,  wie  viel  1000  mal  1000  millionen  jahr 
würden  dazu  gehören,  biss  der  berg  abgetragen  würde";  dann  auf  der  nächsten  Seite 
(1273): 

„Ich  vermeine,  mein  lieber  christ,  es  werde  dir  nicht  zuwider  seyn,  anzuhö- 
ren ,  was  die  lieben  alten  für  gedancken  hiervon  gehabt  haben.  Sie  pflegten  zu  sagen, 
dass  die  verdambten  in  der  höll  nichts  höheres  wünschen  und  begehren  würden ,  dann 

1)  „Volksschauspiele"  (Leipzig  1880  bei  Breitkopf  &  Härtel)  s.  411— 422. 

2)  Seltsamer  weise  hat  weder  K.  Th.  Gaedertz  („Ein  Münchener  mysterien- 
spiel  im  jahr  1510"  Magazin  f.  d.  liter.  des  in-  und  ausländes  1890,  s.  527  —  529 
und  544  —  546),  noch  H.  Jellinghaus  („Das  spiel  vom  jüngsten  gericht"  Ztschr. 
XXni,  s.  426  —  436)  meine  doch  ausführlichen  nachrichten  einer  berücksichtigung 
wert  gefunden.  Gödeke  Gmndr.  I^  322  (Dresden  1884)  verweist  nur  auf  die  band- 
schrift (cgm.  4433). 

3)  Mone,  Schaupiele  des  mittelalters  I,  265  —  304.  Über  eine  noch  etwas  frü- 
here fassung  vgl.  Barack,  „Die  haudschriften  der  hofbibliothek  zu  DonauescMngen" 
s.  135  —  136. 


WALLNER,    ZUM    PARZIVAL  565 

dieses,  dass  die  gantze  weit  ein  grosses  meer  wäre,  welches  vom  untersten  ab- 
grund  biss  an  den  höchsten  himmel  reichte,  und  kam  alle  tausend  jähr  (o  der 
langen  zeit!)  nm-  ein  kleines  vöglein  und  neme  nur  ein  tröpfflein  heraus,  so  wür- 
den sie  so  froh  seyn,  als  wann  ihnen  die  allererfreulichste  zeitung  verkündiget  würde, 
ungeacht  diss  eine  solche  zeit  erforderte,  die  kein  mensch  aussprechen  kan:  noch 
dennoch  hätten  sie  eine  hoffnung,  dass  es  einmal  zum  end  kommen  müste,  wenn  es 
imzehlich  viel  1000  mal  1000  jähr  gewehret  hätte." 

MÜNCHEN.  AUGUST  HARTMANN. 


Zu  Parzival  826,  29. 

Stosch  weist  (oben  s.  55)  mit  recht  Bartschs  erklärung  der  stelle  zurück;  sei- 
ner eigenen  deutung  aber  kann  man  ebenfalls  nicht  zustimmen.  Ganz  richtig 
bemerkt  er:  „Soll  rede  hier  in  dem  sinne  von  oratio  stehen,  so  kann  mit  rede  sich 
rechen  nur  heissen:  mit  werten  sich  rächen,  schelten",  findet  das  aber  im  zusam- 
menhange höchst  trivial  und  meint:  „Auch  schalt  Erec  Eniten  ja  nicht".  —  Es  seien 
die  stellen  angeführt,  auf  die  Wolframs  anspielung  sich  bezieht. 

Erec  verbietet  3095  seinem  weibe  niim-an  hi  dem  Übe,  ihn  je  anzui'eden.  Als 
Enite  ihn  vor  den  räubern  warnt,  fährt  er  sie  an  3238: 

^wie  nü,  ir  wunderliche^  wtp? 

ja  verbot  ich  iu  an  den  lip 

dax  ir  niht  ensoldet  sprechen: 

iver  hiex  iuch  da'x,  gebot  brechen"? 

da%  ich  von  ivWen  iian  vernomen, 

dax  ist  war,  des  bin  ich  komen 

wol  an  ein  ende  hie: 

swax  man  in  unx  her  noch  ie 

also  tiiire  verbot, 

dar  nach  tcart  in  also  not 

dax  six  77iuosten  bekorn. 

ex  ist  doch  vil  gar  verlorn 

swax  tnan  iuch  m/iden  heixet, 

wan  dax  ex  iuch  reixet 

dax  irx  niht  mtiget  verniiden: 

des  sult  ir  lasier  liden. 

swax  ein  wtp  nimer  getcete, 

der  irx  nimer  verboten  hcete, 

niht  langer  si  dax  verbirt 

ivan  U71X  ex  ir  verboten  wirt: 

son  mae  sis  langer  niht  verlän. 
Er  verzeiht  ihr  gegen  das  versprechen,    sein  gebot  von  nun  an  zu  halten.     Als  sie 
abermals  ihr  schweigen  bricht,  um  ihn  vor  den  Wegelagerern  zu  retten,  fragt  er  3404: 

y^sagt,  ir  wtp  vil  ung exogen^ 

war  umbe  habt  ir  aber  gelogen? 

wan  ich  ex  iu  von  erste  vertruoc, 

nü  dühte  iuch  dar  an  niht  genuoe, 

im  taetets  aber  mere. 


566  WALLNER,    ZUM    PARZIVAL 

und  mohte  dehein  ere 

mmi  an  wibe  begdn, 

ex  solde  nilit  so  ringe  stän, 

ich  ncevie  iu  hie  xehant  den  lip.'^ 

Nachdem  sie  ihm  noch   rechtzeitig  den  geplanten  Überfall  des  grafen  verraten  hat, 
schüt  er  4122: 

y,frou  Ernte, 

ir  habt  iuch  %e  strite 

%e  vaste  wider  mich  gesät. 

dax  ich  da  laxen  bat 

und  ex  iu  an  den  Itp  verbot, 

dax  ist  mir  ein  michel  not. 

dax  ir  des  deste  mere  tuot. 

nü  sage  ich  iu  mttien  muot: 

ich  tvilx  von  iu  niht  lidsn; 

und  weit  ir  ex  niht  midcn, 

ex  get  iu  benamen  an  den  Zip." 
Gleich   darauf  warnt  sie  ihn  vor  dem  anreitenden  Verfolger,     nu  verweix  er  froicen 
Entten  dax  dax  si  sin  gebot  so  dicke  brach,     sin  xorn  wart  grox  und  ungemach 
und  unsenfter  danne  e  (4261  fgg-)- 

Viermal  also  droht  Erec  Eniten  den  tod  au,  wenn  sie  ihr  schweigen  breche, 
jedesmal  aber  begnügt  er  sich  so  ziemlich  mit  langatmigen  scheltreden.  Er  ist  in 
diesem  punkte  das  gegenstück  zu  Loherangrin,  der  seine  drohuug  unerbittlich  wahr 
macht.  In  teilnehmendem  scherze  meint  nun  Wolfram:  „Da  gehörte  Erec  her,  der 
wusste  mit  worten  zu  strafen,  der  hätte  nur-  wider  gescholten!" 

Innsbruck,  19.  juni  1895.  amton  wallner. 


Bericlitiguug. 

Durch  ein  versehen  ist  Seite  448  ausgedruckt  worden,  ehe  ich  die  zweite  kor- 
rektur  eingesandt  hatte.  Da  der  herausgeber  in  der  ersten  korrektur  auch  die  von 
mir  aus  gewissen  gründen  beibehaltenen  abbreviaturen  für  das  einfache  r  und  er  auf- 
gelöst hat,  so  ist  in  der  anmerkung  1  nun  statt  ver  zu  lesen  er  und  r.  In  der 
1.  zeile  des  textes  ist  zwischen  der  und  in,  in  der  2.  zwischen  hatt  und  die  Schräg- 
strich, in  der  6.  hören  statt  hören,  in  der  1.  zeile  der  zweiten  Überschrift  zwischen 
liebe  imd  vttd  punkt  zu  setzen.  Einige  stellen  des  textes  hat  herr  dr.  Rosenhagen 
während  des  dr-uckes  freundlichst  noch  einmal  verglichen. 

F.    VOGT. 


An  die  mitarbeiter  und  leser  der  Zeitschrift. 

Vom  nächsten  hefte  ab  wird  mein  College,  professor  dr.  Friedrich  Kauff- 
mann  hierselbst,  in  die  redaction  der  Zeitschrift  eintreten.  Die  arbeitsteilung  wird 
im  allgemeinen  in  der  weise  stattfinden,  dass  die  aufsätze  zur  ostgermanischen  und 
angelsächsischen  philologie  meiner  durchsieht  unterliegen  werden,  während  alles  übrige 


NEUE    ERSCHEINUNGEN  567 

herrn  prof.  Kauffmauu  zufällt.  Die  correspoudenz  mit  den  herreu  mitarbeiteru  habe 
ich  übernommen  und  bitte  daher,  briefe  und  manuscripte  wie  bisher  an  mich  zu 
adressieren. 

KIEL,    JANUAR   1896.  HUGO   GERING. 


NEUE  ERSCHEINUNGEN. 


Altsäehsische  spraclulenkmäler ,  herausgegeben  von  J.H.  Gallee.  Leiden,  E.  J.  Brill. 
:'-894.  LI,  366  s.  8.  Dazu  Facsimilesammlung.  Leiden  1895.  29  tafeln 
fol.     45  m. 

Düntzer,  Heinrich,  Goethe,  Karl  August  und  Ottokar  Lorenz.  Ein  denkmal.  Dres- 
den, Verlagsanstalt  (V.  W.  Esche),  1895.     124  s.     2  m. 

Festgabe  für  Karl  Weiiiliold.  Ihrem  ehi-enmitgüede  zu  seinem  fünfzigjährigen  doc- 
torjubiläum  dargebracht  von  der  gesellschaft  für  deutsche  philologie  in  Berlin. 
Leipzig,  Rcisland  1896.     VI,  135  s. 

Inhalt:  R.  Bethge,  die  altgermanische  hundertschaft.  —  W.  Luft,  zur 
handschiift  des  Hildebrandsliedes.  —  Derselbe,  zum  dialekt  des  Hildebrandslie- 
des. —  W.  Scheel,  die  Berliner  Sammelmappe  deutscher  fragniente.  —  J.  Bolte, 
in  dulci  jubilo.  —  P.  Kaiser,  Schillers  schrift  vom  ästhetischen  umgang. 

(iartenreclit ,  dat,  in  den  Jacobsfjorden  vnndt  BeUgarden,  med  overssettelse  ved 
W.  D.  Krohu  og  B.  E.  Bendixen.  [Skrifter  udgivne  af  Bergens  historiske 
forening  nr.  1.]     Bergen,  Griegs  bogtrykkeri.   1895.     68  s.  und  1  facsim. 

Heimskriiigla,  Noregs  konunga  SQgur  af  Snorri  Sturluson  udgivne  for  Samfund  til 
udgivelse  af  gammel  nordisk  litteratur  ved  Flimur  Jönsson.  3.  hfefte.  Kopen- 
hagen, Gyldendal  in  comm.  1895.     S.  433  — 460  u.  3  —  128.     4  kr. 

—  De  bevarede  brudstykker  af  skindbögerne  Kringla  og  Jöfraskinna  i  fototypisk 
gengivelse  udgivne  for  Samfund  til  udgivelse  af  gammel  nordisk  litteratur  ved 
Fiunur  Jöussou.  Kopenhagen,  Gyldendal  in  comm.  1895.  (IV),  XX  s.  4"  und 
7  taf.     7  kr. 

Kaiiifinaiiii ,  Fr.,    Deutsche  grammatik.     Kurzgefasste  lautlehre  des  gotischen,    alt-, 

mittel-  und  neuhochdeutschen.     2.  vermehrte  und  verbesseiie   aufläge.     Marburg, 

N.  G.  Elwertsche  Verlagsbuchhandlung.  1895.     VI,  108  s.     2,10  m. 
Merkes,  P.,    Beiträge  zur  lehre  vom  gebrauch,  des  Infinitivs  im  neuhochdeutschen 

auf  historischer  grundlage.     Erster  teil.     Leipzig,  J.  H.  Robolsky.  1896.     171  s. 
Momimeuta  Geriuauiae  historica.     Deutsche  Chroniken  und  andere  geschichtsbücher 

des  mittelalters.     Band  I,  abt.  2:    Der  Trierer  Silvester,    herausg.  von  Carl 

Kraus;    Das  Annolied,    herausg.    von   Max  Roediger.      Hannover,    Hahnsche 

buchhandlung.  1895.     VI,  145  s.     4. 
Noreeu,    Adolf,    Abriss  der  altnordischen  (altisläudischen)  grammatik.     [A.  u.  d.  t. : 

Sammlung  kurzer  grammatiken  germanischer  dialekte,  herausg.  von  W." Braune. 

C.  Abrisse.  Nr.  3.]     HaUe.  M.  Niemeyer.  1896.     60  s.     1,50  m. 

Dieser  auszug  aus  Noreens  ausführlicherem  werke ,  der  nur  den  altisländischen 

Sprachgebrauch  vor   1300   berücksichtigt,    kann   anfängeru  zur  einführuug  in   das 

Studium  des  altnordischen  bestens  empfohlen  werden, 


568  NEUE    ERSCHEINUNGEN 

Pfaff,  Friedlich,  Deutsche  Ortsnamen.  Berlin,  Trowitzsch  und  söhn.  1896.  16  s. 
0,40  m. 

Borges  gamle  lOTe  indtil  1387.  Femte  binds  2det  hefte,  indeholdende  glossarium 
og  anhang  1 — 3  samt  tillpeg  og  rettelsor,  udg.  efter  offentlig  foranstaltning  ved 
Gustav  Storni  og  Ebbe  Hertzberg.  Christiania  1895.  lex.  8.  s.  I  —  XVI 
und  57  —  864. 

Sclierer,  Wilhelm,  Karl  MüUeuhoff.  Ein  lebensbild.  Berlin,  AVeidmann.  1895. 
VII,  173  s.  imd  1  porträt.     4  m. 

Schöuhach,  Anton  E.,  Der  windadler  Heinrichs  von  Veldeke.  (Sonderabdruck  aus 
der  festgabe  für  Eranz  v.  Krones.)     Graz,  im  verlage  des. Verfassers.  1895.     13  s. 

Seelmann,  Emil,  universitätsbibliothekar ,  "NViderauffindung  der  von  Karl  dem  grossen 
deportierten  Sachsen.  Köln  1895.  13  s.  (Separatabdruck  aus  der  Kölnischen 
zeitung.) 

Seelmann  kündigt  in  diesem  artikel  eine  reihe  ausfülirUcher  abhaudluugen 
au,  in  denen  er  den  beweis  führen  will,  dass  die  wallonische  bevölkerung  im 
südöstlichsten  zipfel  Belgiens  (in  der  Umgebung  der  Ardennenstädtchen  Florenville 
und  Chiny)  von  durch  Karl  den  grossen  hierher  deportierten  Sachsen  abstamme. 
Auf  germanischen,  speciell  niederdeutschen,  Ursprung  deutet  der  ganze  typus  der 
bewohuer,  die  articulatiou  der  laute  und  eine  nicht  unbeträchtliche  zahl  im  Sprach- 
schatze erhaltener  deutscher  Wörter,  wie  auch  die  Ortsnamen  z.  t.  nur  aus  dem 
germanischen  sich  erklären  lassen. 

Sociu,  Adolf,  Basler  mundart  und  Basler  dichter.  74.  neujahrsblatt,  herausg.  von 
der  gesellschaft  zur  beförderung  des  guten  und  gemeinnützigen.  Basel;  E.  Reich. 
1895.     63  s.  4»  und  1  lichtdruck. 

Spina,  Franz,  Der  vers  in  den  dramen  des  Andreas  Gryphius.  Abdruck  aus  dem 
Jahresbericht  des  stiftsobergymnasiums  der  Benedictiner  in  Braunau  (Böhmen) 
1894/95.     (In  comm.  bei  Fr.  Bocksch  in  Braunau.)     80  s. 

Wenker,  I.  G-.  und  Wrede,  F.,  Der  Sprachatlas  des  deutschen  reiches.  Dichtung 
und  Wahrheit.     Marburg,  N.  G.  Elwertsche  Verlagsbuchhandlung.  1895.    52  s.    Im. 


NACHRICHTEN. 


Der  ausserordentl.  professor  dr.  Max  Koch  in  Breslau  wurde  zum  Ordinarius 
befördert. 


I.    SACHREGISTER 


569 


I.  SACHEEGISTER. 


I 


alemannisch-schwäbisch,  siehe  schwäbisch. 

alliterierende  ungleiche  vokale  546  —  549. 

altnordisch :  datierung  der  f  ragmente  Bra- 
gis  des  alten  und  des  Ynglingatal  von 
I'j6{)olfr  121—127.     vgl.  beide. 

altsächsisch :  heimat  der  Genesishandschrift 
142.  —  Unterscheidung  verschiedener 
bände  in  der  vorläge  der  Münchener 
Heliandhandschrift  nach  der  form  des 
accus,  sing.  masc.  des  betimmten  arti- 
kels  433—436. 

Arigos  Blumen  der  tugend,  Über- 
setzung des  Fiore  di  virtvi  470  fg.  Ver- 
hältnis zum  italienischen  original  471  — 
474.  nachweis  der  identität  des  Über- 
setzers des  Fiore  und  des  Übersetzers 
des  Decamerone  474  —  482. 

Arndt,  E.  M. ,  briefe  an  iraw  Zanders 
509  —  515. 

berg  und  vöglein,  parabel  563  fgg. 

Boccaccios  Decamerone,  deutsche  Über- 
setzung, siehe  Arigo. 

Bragis  des  alten  fragmente,  datierung  121 
— 127.     vgl.  altnordisch. 

Brittonum  historia,  siehe  dieses. 

Bürger,  G.  A.:  seine  erste  gattiu  dichte- 
rin?  551  fgg.  seine  3.  gattiu  553  —  56. 
—  quellen  einiger  episch  -  lyrischer  ge- 
dichte  Bürgers  556  —  560. 

czechische  übertragirng  von  Warbecks 
schöner  Magelone  392.     vgl.  Magelone. 

diphthonge:  quantitätsunterschiede ,  siehe 
dieses. 

Felix:  mittelhochdeutsches  gedieht  vom 
mönch  F.  35  —  38. 

Fenriswolf,  siehe  mythologie. 

fiebersegen  ans  einer  mittelhochdeutschen 
band  Schrift  39  fg. 

Fiore  di  virtü,  deiüsch  von  Arigo,  siehe 
diesen. 

Frauja,  Fraujo,  siehe  mythologie. 

Freyr-Freyja,  siehe  mythologie. 

Goethes  stil  im  alter  410,  aus  wähl  des 
Wortschatzes  410  fg.  einfluss  des  dik- 
tierens  ai;f  den  stü  411  fg.  rechtfer- 
tigung  von  spracheigentümhchkeiten  412 
fg.  —  Tasso,  ausgang,  enthält  keine 
anspielung  auf  selbsterlebtes  56  fg.  an- 
klänge au  antike  dichter  58.  worter- 
klärung  58  fg.  67  fg.  deutung  des 
Goethischen  ausdruckes  „Verklärung  Tas- 
sos"  59  —  62.  deutung  des  innei'en  Zu- 
sammenhanges 62  fg.  66  —  71.  bedeu- 
tung  des  gedankenstriches  in  Goethe- 
handschriften 63  —  66.  schluss  des  Tasso 
66  fg.  gedieht:  die  geheimnisse, 
kritik   der  von  dem   alternden  Goethe 


gegebenen  erklärung  483  —  489.  gleich- 
zeitige Überlieferung  der  entstehiuig  des 
gedichtes  489 — 499.  benennung  des 
gedichtes  500  fg.  analyse  des  inhaltes 
501  —  509. 

gotische  grammatik,  siehe  dieses. 

grammatik,  gotische:  optativ  in  be- 
dingungssätzen  132  fgg.  in  relativsätzen 
133  fg.  in  temporalsätzen  134  fg.  in 
aussagesätzen  135  fg.  in  folgesätzeu 
136.  —  analogieu  der  ein  Wirkung  des 
hauptsatzes  auf  den  modus  des  neben- 
satzes  im  mittelhochdeutschen  136  fgg. 

handschriften,  aus  mittelhochdeut- 
schen: Dietrich  von  Plieniugeus  Seneca- 
übersetzung  17  —  26;  vgl.  dieses.  — 
Heinrich  Munsingers  buch  von  den  fal- 
ken  USW.  26  —  31;  siehe  dieses.  —  he-* 
besbrief  33  fgg.  —  Vom  mönch  Felix 
35  —  38.  —  Unser  lieben  trauen  ritter 
38  fg.  —  Diz  ist  ein  sogen  für  den 
riten  39  fg.  —  Ein  new  hed  von  Haus 
und  Lienhardt  dem  Yittel  40  fgg.  — 
Wie  man  den  Schwartzen  rieht  42  fg. 

Heliand:  vorläge  der  Münchner  hand- 
schrift,  siehe  altsächsisch. 

historia  Brittonum,  entstehungsge- 
schichte:  Brittengeschichte  aus  dem 
jähre  679  86  fg.  Interpolation  des  alten 
werkchens  87  —  93.  die  Harleian-re- 
cension  93  fg.  nordwelsche  recension 
94  —  99.  die  genealogien  99  —  102. 
civitates  und  mirabilia  102  fg.  tätigkeit 
des  Nenuius  103.  Schema  der  historia 
des  Nennius  103  fgg.  der  Irenapostel 
Patrick  (Patricius)  105  —  109.  Hispe- 
rica  Famina  109  —  112. 

historische  Volkslieder  aus  mittelhochdeut- 
schen handschriften:  Von  Hans  und 
Lienhardt  dem  Vittel  49  fgg.  —  Wie 
man  den  Schwartzen  rieht  42  fg. 

jagd :  Heinrich  Munsingers  buch  von  den 
falken  usw.  26  —  31.     vgl.  dieses. 

Ingväonischer  Nerthuscultus,  siehe  mytho- 
logie. 

Interpunktion:  grundsätze  Dietrich  von 
Plieningens  in  seiner  Senecaübersetzung 
22  —  26. 

lehnwörter  im  deutschen:  grund  der  ent- 
lehnung  378.  lehnwörter  in  mundarten 
378. 

liebesbrief  ans  emer  mittelhochdeutschen 
handschrift  33  —  35.  vgl.  handschriften. 

Lokis  beziehung  zum  Fenriswolfe,  siehe 
mythologie. 

Loreley,  name  427  fg. 

märchen,  siehe  parabel. 


570 


I.    SACHREGISTER 


Magelone,  die  schöne,  aus  dem  fraozö- 
sischen  übersetzt  vou  Veit  Warbeck, 
czechische  Übertragung  392. 

nietrik ,  siehe  vokale. 

mundartliche  lehnwörter  378. 

Munsingers,  Heinr.,  buch  von  falken, 
habichten,  sperbern  und  hunden  26. 

mythologie:  begriff,  umfang,  einteilung, 
methode  der  forschung  156  — 180.  — 
der  Fenriswolf,  deutungen,  Zeugnisse 
180—183.  namen  183  —  188.  beina- 
men  188  — 191.  genealogische  verbin- 
dimg  mit  Loki  191 — -196.  gegensatz 
zu  Tyr  (Zeus)  196  fg.  mythus  von  der 
fesselung  des  wolfes  297  —  305.  deu- 
tung  des  gefesselten  wesens  als  Stern- 
bild ulfs  keptr  305  —  313.  teiloahme 
des  gottes  Tyr  an  der  fesselung  313  — 
317.  beziehung  des  dämonisch  aufge- 
fassten  \volfes  zu  Loki  317  fgg.,  kämpf 
des  befreiten  götterfeindes  mit  Odinn 
und  Vidarr  320  fg.  gleichsetzung  des 
Fenriswolfes  mit  dem  sonnenwolfe  322 

—  328.  das  f reiwerden  des  wolfes  und 
das  flottwerden  des  Schiffes  Naglfar  als 
zeichen  des  Weltunterganges  328  —  341. 

—  excurse:  heimat  der  götter  341  — 
345.  eiuzclheiten  des  berichtes  von  der 
fesselung  des  wolfes  345  —  348.  —  Ver- 
kehrtheit der  trennung  von  höherer  und 
niederer  mythologie  246  fg. ,  der  meteo- 
rologischen und  psychopathologischen 
deutung  247  fg.  —  Identität  von  Frauja- 
Nerthus  (männlich)  und  Fra\ijo-Ner- 
thus  (weiblich)  289  fg.  Ingväonischer 
urspning  des  North  uskultus  290  fg. 
sprachliche  erklärung  der  entstehung 
von  Nerthus  -  Ni(;)rJ)r  und  Frevr-Frevja 
291  —  294. 

Nennius'  tätigkeit  hinsichtlich  der  historia 

Brittonuni,  siehe  diese. 
Nerthuskult,  siehe  mythologie. 
nordische    mythologie,    siehe    dieses.    — 

nordische  runeninsehrifteu,  siehe  dieses. 
Odins  kämpf  mit  dem  Fenriswolf e,   siehe 

mythologie. 
paral3el  (märchen)  vom  berge  und  vöglein 

563  fgg. 
Patrick   (Patricius),   siehe  historia  Britto- 

uum. 
Plieningen,  Dietrich  von,    Übersetzer  Se- 

necascher      und     Pseudo  -  Senecascher 

Schriften     18  —  22.       fühi-t     bestimmte 

grundsätze  der  Interpunktion  ein  22 — 26. 
quantität  der  silbeu:    zurückführuug  von 

quantitätsunterschieden  bei  vokalen  und 

diphthongen    heutiger    mundarten     auf 


voralthochdeutsche  apokope  515fg.  deh- 
uung  und  erhaltung  alter  kürzen  im 
schwäbisch  -  alemannischen  516  —  524. 

Ru  n  e  n  i  n  s  c  h  r  i  f t  e  n :  des  AVedelspangstei- 
ues  und  des  Gottorpsteines  236  fgg.  des 
Danewirkesteines  238  fg.  der  beiden 
ungarischen  spangen  239  fg.  der  spange 
von  Engers  240.  von  Freilaubersheim 
240  fg.  244.  von  Osthofen  und  Char- 
nay  241.  244.  des  Tunesteines  242.  der 
Spange  von  Founaas  243.  des  steines 
von  Einang  243.  des  steines  von  By 
243  fg.     der  spange  von  Nordendorf  244. 

Salomosage,  ihr  fortleben  in  der  Spiel- 
mannsdichtung 536. 

schwäbisch -alemannischer  dialekt:  quauti- 
tätsunterschiede  der  vokale  516 — 524.  — 
angebliche  Wanderungen  von  lautwand- 
lungen  540  fg.  entwicklung  der  vokale 
und  diphthonge  541  fgg. 

schwedisch:  wörtei'buch  der  schwedischen 
akademie  I  394—398. 

schretel  und  wasserbär  429. 

Seneca,  Übersetzung  Senecascher  und  Pseu- 
do -  Senecascher  Schriften  durch  Dietrich 
von  Plieningen  17  —  26.     vgl.  diesen. 

Shakespeare,  tagelied  bei,  siehe  dieses. 

Spielmannsdichtung  nimmt  motive  der  Sa- 
lomosage auf  536. 

Stricker:  sein  Daniel  älter  als  sein  Karl 
43  —  47. 

Syntax:  einfluss  des  hauptsatzes  auf  den 
modus  des  nebensatzes  im  gotischen, 
siehe  grammatik. 

tagelied  bei  Shakespeare  265  fgg. 

f*j6{)olfs  Ynglingatal,  datierung  121 — 127. 
vgl.  altnordisch. 

Tyrs  Verhältnis  zum  Fenriswolfe,  siehe 
mythologie. 

Unser  lieben  frauen  ritter,  gedieht  aus 
einer  mittelhochdeutschen  handschrift 
38  fg.     vgl.  handschriften. 

Vidars  kämpf  mit  dem  Fenriswolfe,  siehe 
mythologie. 

vokale :  quantitätsunterschiede,  siehe  diese. 
—  alliteration  imgleicher  vokale  546  — 
549. 

Volkslieder,  historische,  40  —  43.  vgl. 
historische  lieder. 

Warbecks  Übersetzung  der  französischen 
Magelone  392.     vgl.  Magelone. 

wasserbär  und  schretel  429. 

Wolfram  von  Eschenbach :  sein  Verhältnis 
zum  katholischen  glauben  und  zur  hei- 
denweit 537  fg. 

Zanders,  fi'au:  briefe  an  sie  von  E.M.Arndt 
509  —  515. 


n.     VERZEICHNIS    DER   BESPROCHENEN    STELLEN 


571 


II.     VERZEICHNIS  DER  BESPROCHENEN  STELLEN. 


AltsUchsisch. 

Heliaud  2481  fgg.  s.  1. 
4290  fg.  s.  1  fg. 
5738  s.  2. 
Genesis  I.  bruchstück. 
9  fg.  s.  146. 
10  s.  138. 
12  fgg.  s.  188  fg. 
14  s.  146  fg. 
17  s.  147. 
22  s.  139.  147. 

II.  bmchstöck. 

30  fg.  s.  148. 
32—42  s.   140. 
33  fg.  s.  148. 
72  fgg.  s.  140. 
77  s.  149. 

III.  bruchstück. 

114  —  116  s.  149. 

154  fg.  s.  150. 

160  fgg.  s.  140. 

164  fgg.  s.  140  fg. 

177  fg.  s.  150  fg. 

180  s.  141. 

180"  s.  150  fg. 

182  fgg.  s.  151. 

209"  s.  151  fg. 

254  s.  152, 

258  fg.  s.  152. 

264"  s.  152. 

277  fgg.  s.  141. 

287  s.  141. 

287  fg.  s.  152  fgg. 

321  fgg.  s.  141  fg.  154  fg. 

335  fgg.  s.  142. 

Mittelhoehdeutscli . 

Der  von  Büweuburg  (v.  d. 
Hageu  MS.  U,  262^  = 
Bai-tsch,  Schweiz.  MS. 
XXIII,  4)  s.  295  fg. 
Deutsche  gedichte  des  12.  jh. 
(ed.  Kraus) 

IV  Adelbreht  7  s.  258. 
65  s.  258. 
Hartmanu  von  Aue,  Gregorius 
5  fg.  s.  47  fg. 
36  fg.  s.  48. 
41  s.  48. 
66  —  78  s.  48fg. 
84  s.  49. 
100  s.  49. 


Mai  und  Beaflor  (ed.  Pfeiffer) 
10,  17  s.  437. 
19,  5  s.  437.  444. 
21,  11  S.437.  444. 
25,  7  s.  437.  444  fg. 

27,  4  s.  437.  445. 

28,  10  s.  438.  445. 
28,  28  s.  438. 

37,  23  S.438.  445. 

41,  8  s.  438. 

42,  38  s.438. 

46,  18  s.  438.  445  fg. 

52,  17  s.438. 

53,  7  s.  438  fg. 
79,  7  s.  439. 

87,  36  s.  439.  446. 

92,  11  s.  443. 
111,  20  s.  439. 
118,  39  fgg.  s.  439  fg. 
122,  29  s.  440. 
130,  12  fg.  S.440.  446. 

138,  31  fg.  s.  440.  446. 

139.  8  fg.  s.  440.  446  fg. 
150,  32  s.  440. 

172,  16  s.  440. 
174,  32  s.  440  fg. 

176,  19  s.  441.  447. 

177,  6  s.  441. 

178,  7  s.  441. 
181,  22  s.  441. 

184,  13  fgg.  s.  441.  447. 
184,  22  fgg.  s.  441.  447. 
187,  9  s.  441. 
189,  26  s.  441. 
192,  4  s.  442. 
204,  24  s.  442. 
207,  6  s.  442.  447. 
209,  18  s.  442.  447. 
211,  17  fgg.  s.  442. 
216,  13  s.  442. 
218,  38  s.  443. 
234,  28  s.  443. 
236,  14  s.  444. 
242,  5  s.  444. 
Munsinger,    buch    von    den 
falken  usw.  (ed.  Hassler) 
2,  28  s.  29. 
2,  2  V.  u.  s.  29. 
20,  13  s.  30. 
27,  13.  19  s.  30. 

30,  7.  8  V.  u.  s.  30. 

31,  23  s.  30. 
33,  21  s.  30. 
36,  2  s.  30  fg. 
43,  6.  7  s.  31. 
55,  2  V.  u.  s.  31. 
58,  5  V.  u.  s.  31. 


94,  1  V.  u.  s.  31. 

95,  24  s.  31. 

Das  rädlein  (v.  d.  Hagen  Ge- 
samtab.  III,  118) 
285  fgg.  2429  fg. 
Ulrich  von  Lichtenstein, 
Frauendienst 
10,16.  21,  23  fgg.  22,29. 

24,  5.  32.  26, 16  s.  199. 
28,  2  fgg.  s.  199  fg. 

31,  20.  32,  12.  33,  17. 

25.  44,  6.  52,  32.  53, 
1  s.  200  fg. 

53,  26.  30.  54,  32.  60, 

25.  61.  28.  62, 13  fgg. 
s.  201  fgg. 

66,  1  fgg.  5.  13.  17.  21. 
29.  67,  1.  3  fg.  7  s. 
203  fg. 

67,  11.  15.  19.  25  fg.  30. 
31.  68,  3.  70,  1.  13. 
72,  23.  75,  8.  77,  14. 
25  s.  204  fg. 

78,  2  fg.  23.  79,  21.  29. 

81,  16.  82,  14.  16.  26. 

86,  9  fg.  20.  89,  26. 

90,  8  s.  205  fg. 
91,  25.  92,  16  fg.  9.3,  1. 

9.  25.  94,  1  s.  206  fg. 
95,  6  fgg.  96,  30  fg.  98, 

2.  8.  99,  27  fg.  101,  4 

s.  207  fg. 
102,  20.  107,  11.  109, 

20.  110,  5  fgg.  124,13. 

127,  26.  128,  17  fgg. 

130,  15  s.  208  fg. 
131,  9.  21  fgg.   1.32,  1. 

8.  23.  137,  16.  139, 

3  fg.  140,  7.  23.  141, 

10  s.  209  fg. 
144,  3.  147,  6.  155,  24 

fgg.  156, 29  fgg.  157,18. 

163,  5  fgg.  s.  210  fg. 
165,  7.  166,  17  fgg.  168, 

9  fgg.  170,  13.  32  fgg. 

s.  211. 
174,8.  10.  177,  17.  178, 

17  fgg.  180,  29.  181, 

30  s.  212. 
196,  29.  197,  6.  199,  3. 

8.  10.  200,  11.  201, 

26.  202,  1  s.  213  fg. 
202,  4.  5.  10.  13.  16. 

203,  21.  25.  32.  205, 
16.  206,  17.  18.  30 
s.  214  fg. 


572 


in.     WORTREGISTER 


Ulrich  A^on  Lichtensteiu, 

Frauendienst 
208, 17.f209,  31fgg.   211, 

23.  29.    212,  30.    216. 

14.  17.  220,16  s.  215  fg. 
219,   24.     220,   9.     221, 

29  fg.     225,  21  s.  216. 
242,  21.     250,  4  s.  217. 
262,  10.     263,   16.     266, 

4fgg.  271,  11.  19.  274, 

20  s.  218. 
276,  4.     282,    14.     288, 

21.     297,  4.     303.   28. 

312,  26  s.  219. 
340,  9.      347,   14,      353, 

18.     365,  21  s.  220. 
383,  9.   409,  19  fgg.    418, 

27  fgg.     438,  10.    452, 

19  s.  221  fg. 
454,  4.      458,  28.     460, 

20.  461,9.  11s.  222  fg. 
461,  27.    474,  25.   494,  8. 

495,  7  fgg.  s.  223  fg. 
528,  4.     544  7  s.  224. 

Frauenbuch 

601,  27.    603,  1.    605,  29. 

612,21.  613,1s.  224  fg. 
613,  8.  21.     616,  18  fgg. 

618,  11  fgg.  s.  225. 


Wolfram    von   Eschenbach, 
Parzival 

1,  15  fgg.  s.  50  fg. 

12,  27  fg.  s.  51  fg. 

15.  22  s.  52. 

367,     9  s.  53. 

487,  1  s.  53  fg. 

817.  28  s.  54. 

825,  9  s.  54  fg. 

826,  29  s.  55.  565  fg. 

Mittelniederdeutsch. 

Reinke  de  Yos  3774  s.  32. 

Neulioclideiitseli. 

Goethe,  Weimar,  ausgäbe, 
2,  166  s.  226. 

16,  das  neueröffnete  mo- 
ralisch-politische Pup- 
penspiel s.  354  fgg. 

Parabeln  und  legenden 
V.  1797  s.  356  fg. 

H.  Sachsens  poetische  Sen- 
dung s.  357. 

künstlers  erdenwallen 
s.  357. 

künstlers  apotheose  s.  357. 

die  romantische  poesie 
s.  357. 


des  Epimenides  erwachen 

s.  358. 
Schillers  totenfeier  s.  358 

fg- 
kantate  s.  359. 
17.  Triumph  der  empfind- 

samkeit  s.  359  —  361. 
die  aufgeregten  s.  361. 
Grosskophta  s.  361  fg. 
26,  381  s.  226. 
Tagebücher  6  s.  362—68. 
Briefe  15.  16  s.  368—75. 
Faust  I 

525  (878)  s.  349. 
1658  (2011)  s.  349. 
'    1720  (2073)  fgg.   s.  350. 
3222  (3575)  s.  350. 
3437  s.  351. 
II,  397  (5909)  s.  351  fg. 

3190  (7802)  s.  352.  ' 

5524  (10136)  s.  352  fg. 

6604  (11216)  s.  353  fg. 
Iphigenie  I,   3  (164  fgg.) 

s.'428. 
Goethejahrbuch 

XIV,  286  s.  226  fg. 

XIV,  289  s.  227. 
Brüder  Grimm,  Kinder-  u 
hausmärchen  152  s.  71  fg. 


Altnordisch. 

Fenja  s.  187  fg. 
Fenrisiüfr  s.  183  fg. 
Fensalir  s.  185  fg. 
ulfr  s.  189  fgg. 
vargr  s.  189  fgg. 

Altsächsisch. 

griat  s.  148. 
luokoian  s.  152. 


III.     WORTREGISTER. 

scür  s.  147. 

waran  c.  acc.  s.  148. 

Mittelhochdeutsch. 

artisen  s.  421  fgg. 
arthouwe  s.  423  fgg. 


Neuhochdeutsch. 

fräuleiu  s.  561  fgg. 


gären  s.  525. 

gaul  s.  525  fg. 

geifern,  geifer,  geifelu,  gei 

fei  s.  526. 
haschen  s.  526  fg. 
hode  s.  527. 
kracke  s.  527. 
schenken,    Schenkel,   schin 

ken  s.  528  fg. 
wäre  s.  529  fg. 


Halle  a.  S.,  Bucluliiickeroi  des  Waiseiüiauses. 


II 


BINDING  SECT.  AÜG  l8f)6S 


PF 
3003 
Z35 
Bd.  28 


Zeitschrift  für  deutsche 
Philologie 


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