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Full text of "Zeitschrift für experimentelle Pädagogik"

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Zeitschrift  für 

Experimentelle  Pädagogik, 

Psychologische  nnd  pathologische  Kinderforschung 

mit  Berücksichtigung  der 

Sozialpädagogik  nnd  Schnlhjgiene 

unter  Mitwirkung  von: 

Prof.  Dr.  If.  Ach,  Königsberg  i.  P. ;  Dr.  E.  Ebert,  Lehrer,  Zürich ;  Dr.  A.  Engrels- 
perger,  Lehrer  in  München;  L.  F.  GSbelbeeker,  Hauptlehrer  in  Konstanz;  Prof. 
Dr.  H.  H.  Goddard  in  Vineland,  N.  J.;  Frau  Dr.  L.  Hoesch  Ernst  in  Godesberg ;  Prof. 
Dr.  Ch.  H.  Jadd,  Yale  University,  New  Haven;  Prof.  Dr.  Krogins  in  St.  Petersburg; 
Dr.  Aug.  Mayer ,  Lehrer  in  Würzburg ;  Prof.  Dr.  A.  Xetschajeff  in  St.  Petersburg ; 
Dr.  L.  Pfeiffer,  Lehrer  in  Würzburg;  Prof.  Dr.  Banschbar?  in  Budapest;  Dr.  Fr. 
Schmidt,  Lehrer  in  Würzburg;  Prof.  Dr.  Schuyten  in  Antwerpen;  Prof.  Dr.  E.  D. 
Starbuck  in  Richmond,  Indiana;  Prof.  Dr.  G.  M.  Stratton,  Johns  Hopkins  University 
Baltimore ;     Dr.  A.  StSssner,  Seminaroberlehrer  in  Pirna ;      Dr.  0.  Ziegler  in  München 

herausgegeben  von 

K  Meumann, 

o.  Professor  der  Philosophie  u.  Pädagogik  a.  d.  üniv.  Münster  iW. 


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'V.   IBand. 


OTTONEMNlCH  ^\  Q  1 

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LEIPZIG. 

1907. 


Inhalt. 

Abhandlungen.  Seite 

Visuelle  Erinnerungsbilder  beim  Eechnen.    Von  K.  Eckhardt, 

Frankfurt  a.  M 1—22 

Experimentelle  Untersuchungen  über  den  Aufsatz  des  Volks- 
schülers in  Haus  und  Schule.  Von  Friedrich  Schmidt, 
"Würzburg 23 — 50 

Harmloses  kindliches  Gredankenspiel  oder  phantastische  Lüge, 
abnorme  Selbsttäuschung  oder  pathologische  Einbildung.  Von 
F.  L.  Gröbelbecker,  Konstanz 50 — 63 

Arbeiten  aus  dem  städtischen  pädagogischen  Laboratorium  Ant- 
werpens.    Von  Marx  Lobsien,  Kiel 63 — 66 

Der  sechste  Sinn  der  Blinden  (Nachtrag  zu  der  in  Bd.  HI,  3/4 
und  Bd.  rV,  3/4  veröffentlichen  Abhandlung).  Von  Ludwig 
Truschel,  Straßburg  i.  E 66—77 

Zur  Frage  vom  sechsten  Sinn  der  Blinden.    Von  Aug.  Krogius, 

St.  Petersburg 77—89 

Erziehung    eines    anormalen    Mädchens.       Von    L.    Maurer, 

Langenzenn  bei  Fürth  (Bayern) 89 — 105 

Der  Anteil  der  nachkonstruierenden  Tätigkeit  des  Auges  und 
der  Apperception  an  dem  Behalten  und  der  Wiedergabe 
einfacher  Formen.     Von  Gustav  Albien,  Königsberg     .     133 — 156 

Die    Ideale    der    Kinder.     Von   Henry  Herbert  Goddard, 

West  ehester  (Pennsylvania) 156 — 173 

Bericht  über  den  Kongreß  für  Kinderforschung  und  Jugend- 
fürsorge zu  Berlin.    Von  Alf  onsEngelsperger,  München     174 — 197 

Die  Entwicklung  des  Interesses    des  Kindes,     Von  Ladislaus 

Nagy,  Budapest 198—218 

Neulandstrecken  für  das  pädagogische  Experiment.      Von  Paul 

Lang,  AVürzburg 218—222 


Seite 
"Weitere  Untersuchungen  über  die  Beziehungen  zwischen  Schädel- 
umfang und  Intelligenz  im  schulpflichtigen  Alter.    Von  Dr. 
med.  Bayerthal,  Worms 223—230 

Mitteilungen  und  Diskussionen. 

Die  experimentelle  Pädagogik  in  Belgien.   Von  T.  Jonckheere, 

Brüssel 105—112 

Ein    „Institut   für    angewandte  Psychologie    und   psychologische 

Sammelforschung" 112 — 116 

Literaturberichte 116—131  und  231—252 


Abhandlung'en . 


Visuelle  Erinnerungsbilder  beim  Rechnen. 

Ein  Beitrag  zur  Didaktik  des  ßechenunterrichts  der  Unterstufe. 
K.  Eckhardt,  Frankfurt  a.  M. 

Die  gesamte  ältere  Psychologie,  die  Herbartsche  nicht  ausgeschlossen, 
schildert  als  ihr  Objekt  eine  nur  begrifflich  existierende,  schematische 
Xormalpsyche.  Die  Notwendigkeit  einer  solchen  begrifflichen  Zusammen- 
fassung der  übereinstimmenden  psychischen  Tatsachen  kann  durchaus 
nicht  bestritten  werden.  Jede  Wissenschaft  sucht  soweit  als  möglich 
zu  einem  systematischen  Abschluß  zn  gelangen,  und  das  spekulative 
Denken  findet  in  dem  innerlich  zusammenhängenden  System  seine  Be- 
friedigung. Aber  schon  vom  rein  psychologischen  Interesse  aus  bedarf 
diese  Darstellung  einer  Ergänzung.  Bei  dem  Bestreben,  möglichst  zn 
einem  System  zu  gelangen,  wird  man  das  Studium  der  Besonderheiten 
des  individuellen  Seelenlebens  vernachlässigen  und  durch  allerhand  Hypo- 
thesen und  Spekulationen  ins  Innere  zu  dringen  suchen.  Das  ist  ver- 
gebliches Mühen.  Man  wird  über  das  Zentrum  des  Kreises  erst  etwas 
erfahren,  wenn  man  die  Peripherie  untersucht.  Und  nur  die  peripherischen 
Äußerungen  des  Seelenlebens  sind  unserer  Beobachtung  gegeben. 

Von  didaktischem  Interesse  aus  ist  eine  Psychologie,  die  eine  Normal- 
psyche zum  Gegenstand  der  Betrachtung  hat.  eine  nahezu  unfruchtbare 
Wissenschaft.  Die  Didaktik  ist  Kleinarbeit.  Sie  hat  es  mit  wirklichen, 
nicht  schematischen  Seelen  zu  tun.  Sie  will  jeder  Individualität  gerecht 
werden,  denn  sie  will  ja  mit  der  rechten  Technik  die  nötige  Ökonomie 
der  geistigen  Arbeit  verbinden.  Deshalb  interessiert  sie  nicht  die  Frage 
nach  dem  Wesen  der  Aufmerksamkeit,  sondern  nach  den  individuellen 
Äußerungen  der  Aufmerksamkeit;  nicht  Erörterungen  über  das  Wesen 
des  Gedächtnisses  sind  von  didaktischem  Interesse,  sondern  die  Frage 
nach  den  individuellen  Formen  des  Lernens,  Erinnerns  und  Vergessens 
sind  für  die  Unterrichtslehre  von  Bedeutung.  Eine  Psychologie,  deren 
Gegenstand  eine  Normalpsyche  ist,  wird  auch  die  für  die  unterrichtliche 
Arbeit  so  bedeutsamen  Unterschiede  zwischen  der  Kindesseele  und  dem 
Seelenleben  Erwachsener  übersehen  müssen.  Unsere  Unterrichtsarbeit 
ist  eine  Aneinanderreihung  von  vielen  Einflüssen,  die,  einzeln  betrachtet, 

Meumann,  Exper.  Pädagogik.    V.  Band.  1 


—    2    — 

oft  recht  geringfügig  aussehen.  Bei  dem  Blick  auf  die  großen  Ideale, 
die  als  helle  Leitsterne  am  fernen  Himmel  stehen,  darf  das  Nächst- 
liegende nicht  übersehen  werden,  darf  man  nicht  vergessen,  daß  der  Weg 
zum  Ziel  aus  vielen  tausend  einzelnen  Schritten  zusammengesetzt  ist. 
Jeder  Schritt  soll  zweckmäßig  sein;  deshalb  bedürfen  wir  als  Führerin 
nicht  einer  systematischen  Psychologie,  wie  sie  noch  so  sehr  verbreitet 
ist,  sondern  einer  Anleitung,  die  typischen  Eigentümlichkeiten  der  Kinder 
zu  würdigen  und  zu  pflegen.  Zur  fruchtbaren  pädagogischen  Kleinarbeit 
ist  die  Fortentwicklung  der  experimentellen  Pädagogik  notwendig.  Nun 
steht  man  in  Lehrerkreisen  der  Lehre  von  den  Vorstellungstypen  und 
Arbeitstypen  noch  sehr  abwartend,  um  nicht  zu  sagen  skeptisch,  gegen- 
über. Man  glaubt,  diesen  Typen  könne  man  doch  keine  individuelle 
Ausbildung  gewähren.  Dazu  müsse  man  die  einzelnen  Typen  in  ver- 
schiedene Klassen  sondern.  Man  sucht  sich  vor  dem  pädagogischen 
Imperativ  dieser  Lehren  dadurch  herauszureden,  daß  man  auf  den  alten 
Grundsatz  des  Comenius  hinweist:  Man  soll  möglichst  vielen  „Sinnen" 
gerecht  werden.  Man  vergißt,  daß  sich  diese  Typen  weniger  auf  die 
Wahrnehmung,  als  auf  die  Erinnerung  beziehen,  übersieht,  daß  der  Gregen- 
satz  zwischen  fixierender  und  fluktuierender  Aufmerksamkeit  mit  den 
„Sinnen"  zunächst  nicht  viel  zu  tun  hat. 

Allerdings  ist  dieser  Skeptizismus  erklärlich,  weil  die  Frage  nach 
der  didaktischen  Bedeutung  der  Typen  noch  zu  wenig  besprochen  worden 
ist.  In  diesen  Ausführungen  soll  auf  eine  Seite  dieser  Bedeutung  hin- 
gewiesen werden :  die  Kenntnis  der  Typen  gibt  uns  die  Möglichkeit,  dem 
einzelnen  Schüler  auf  die  Vorteile  seiner  individuellen  Arbeitsweise  auf- 
merksam zu  machen,  ihm  den  rechten  Grebrauch  seines  Typs  zu  zeigen 
und  geläufig  zu  machen.  Wie  das  im  Rechnen  geschehen  kann,  besonders 
beim  Rechenunterricht  auf  der  Unterstufe,  sei  der  Gegenstand  dieser 
Ausführungen.  Ich  beschränke  mich  wieder  auf  einen  Punkt:  Wie 
kann  der  visuelle  Typ  im  Rechnen  besonders  gepflegt 
werden? 

Das  Rechnen  hat  es  mit  Zahlbegrifi'en  zu  tun.  Begriffe  sind  nicht 
vorstellbar ;  sie  können  nur  dann  sinnliche  Existenz  erhalten,  wenn  eine 
Individualvorstellung  als  Repräsentantin  über  die  Schwelle  des  Bewußt- 
seins tritt.  So  kommt  es,  daß  die  rein  logische  Tätigkeit  des  Rechnens 
von  verschiedenen  Vorstellungen  begleitet  ist.  Diese  brauchen  nicht 
immer  visueller  Art  zu  sein.  Man  denkt  gar  oft  nur  an  diese  Art  Vor- 
stellungen, wenn  von  konkreten  Vorstellungen  die  Rede  ist  und  faßt 
nur  sie  in  dem  Wort  Anschauungen  zusammen.  Das  Rechnen  ist 
von  motorischen  Innervationen  begleitet,  der  Akustiker  reproduziert 
Klangbilder  der  Zahlwörter,  der  Visuelle  Gesichtsbilder  verschiedener  Art. 


—    3     — 

Im  Hinblick  auf  diese  letzteren  soll  hier  versucht  werden,  zu  zeigen, 
welche  Bedeutung  sie  für  das  „Zahlengedächtnis"  haben,  inwieweit  sie 
eine  Rolle  bei  den  Rechenoperationen  spielen,  und  ob  sie  einer  Beein- 
flussung durch  den  Rechenunterricht  zugänglich  sind. 

Hinsichtlich  der  Beobachtungen,  die  dem  Folgenden  zugrunde  liegen, 
ist  folgendes  zu  bemerken:  die  Versuchspersonen  sind  Schulkinder  vom 
8. — 10.  Jahr.  Die  Versuche  erstrecken  sich  über  einen  Zeitraum  von  2 
Jahren.  Es  war  dies  möglich,  da  ich  die  Klasse  von  der  zweiten  Hälfte 
des  ersten  Schuljahrs  an  durchgeführt  habe. 

Hinsichtlich  der  Art  der  das  Denken  an  Zahlen  begleitenden  Gre- 
sichtsvorstellungen  mußte  ich  mich  natürlich  auf  die  Aussagen  der  Kinder 
auf  Grund  ihrer  Selbstbeobachtung  verlassen.  Da  die  Art  der  Selbst- 
beobachtung verhältnismäßig  einfach  war,  die  Versuche  sich  in  längeren 
und  kürzeren  Zwischenräumen  wiederholten,  also  fehlerhafte  Aussagen, 
die  durch  suggestive  Einwirkungen  und  dergl.  immerhin  denkbar  waren, 
doch  auffallen  mußten,  so  dürfte  diesen  Aussagen  doch  ziemliche  Grlaub- 
würdigkeit  zugesprochen  werden.  Natürlich  ist  anderweitige  Nachprüfung 
erforderlich. 

Die  Feststellung  der  Vorstellungstypen  erforderte  die  Anwendung 
von  Untersuchungsmethoden,  die  dem  geistigen  Standpunkt  der  Kinder 
gerecht  werden :  Reproduktion  visueller  und  akustischer  Wahrnehmungs- 
inhalte mit  und  ohne  Unterdrückung  der  Sprechinnervationen,  Ablenkung 
während  der  Auffassung  durch  visuelle,  akustische  und  motorische  Ein- 
drücke; Ablenkung  zwischen  Wahrnehmung  und  Reproduktion  durch 
visuelle,  akustische  und  motorische  Eindrücke;  Rückwärtsbuchstabieren 
und  dergl.  mehr.  Zur  Kontrolle  wurden  wieder  die  Schüleraussagen 
über  Selbstbeobachtungen  herangezogen.  Entsprechende  Vorversuche 
gingen  stets  voraus.  Die  Ergebnisse  der  Untersuchungsmethoden  stimmten 
mit  den  Schüleraussagen  überein,  sodaß  deren  Glaubwürdigkeit  dadurch 
auch  an  Bedeutung  gevsdnnt.  Es  macht  den  Kindern  recht  viel  Freude, 
sich  selbst  in  dieser  Weise  zu  beobachten,  und  wenn  auch  der  sprach- 
liche Ausdruck,  in  den  sie  ihre  Beobachtungen  kleideten,  oft  recht  kind- 
lich war,  traf  er  doch  meistens  das  Richtige.  „Ich  fühle,  wie  es  in  mir 
spricht" ;  „ich  möchte  alles  mitsprechen^ ;  „ich  sehe  die  Zahl,  und  dann 
geht  sie  weg,  und  es  ist  alles  schwarz.  Und  dann  kommt  sie  wieder, 
und  idi  höre  ganz  deutlich  den  Klang,  wie  Sie  sprechen"  u.  s.  f. 

Eine  gewisse  Vorsicht  erfordern  die  Versuche  mit  künstlicher  Unter- 
drückung der  Sprechbewegungen.  Bei  manchen  Kindern  war  die  innere 
motorische  Innervation  —  oder  motorische  Wort  vor  Stellung?  —  nie 
völlig  zu  unterdrücken. 

1* 


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Zur  Erklärung  der  Tabelle. 

Die  visuellen  Erinnerungsbilder  sind  (erste  Versuchsreihe ^)) 
P       ==  visuelles  Punktgruppenbild,  sog.  Zahlenbild. 
Z       =  vis.  Bild  der  isolierten  arabischen  Ziffer. 
Zr     =     „        »       n     arabischen   Ziffer  innerhalb  der   Zifferreihe   (vergl. 

Metermaß). 
+  S  =  Zu  der  Ziffervorstellung  treten  Phantasievorstellungen  sachlicher 

Art;  die  Tafel,  auf  der  die  Ziffer  sichtbar  ist;    der  Lehrer,   der 

sie  anschreibt  etc. 
Ak.    j  Vor  Stellungstypen;    bei   gemischten  Typen  gibt   die  Groß- 
Vis.    ?  und  Kleinschreibung  und  die  Anordnung  an,    welche  Typen  vor- 
Mot.  )  herrschen. 

Zahlengedächtnis,  d.  h.  das  unmittelbare  Behalten  der  Zahlen. 
L      =  gelesene  Zahlen,  1   Die  Zensur   bezieht    sich   auf  das  Gedächtnis 
H      =  gehörte  Zahlen,    j   beim  ungestörten  Lernen, 
abl.  =  leicht  ablenkbar,  d.  h.  andre  Eindrücke,  besonders  akustische  (a) 

und  eignes  Sprechen  (m)  bewirken  Vergessen  der  Zahlen. 
Rechenfertigkeit.  Übungen  im  Addieren :  immer  10  zweistellige 
Zahlen  wurden  (schriftlich)  addiert;  Subtrahieren  in  ähnlicher  Weise 
(Kopfrechnen).  Aus  der  Zeit,  die  zum  Ausrechnen  nötig  war,  und  der 
Anzahl  der  richtigen  Fälle  ergab  sich  die  Zensur  für  die  (jetzige)  Rechen- 
fertigkeit. 

1  =  Gut 

2  =  Mittel 

3  =  Unter  Mittel 

4  =  Gering.  Die  Zwischenstufen  sind  dementsprechend  zu  deuten. 

Begabung:    1  =  Gut 

2  =  Mittel 

3  =  Unter  Mittel 

4  =  Schwach. 

Diese  Zahlen  geben  im  großen  und  ganzen  ein  Bild  der  geistigen 
Reife,  wie  sie  sich  in  der  Beteiligung  am  Unterricht,  den  Fragen  der 
Schüler,  der  Entwicklungsstufe  des  Urteilens,  der  Art  des  Verständ- 
nisses beim  Lesen,  der  sprachlichen  Gewandtheit  und  dergl.  äußert.  Die 
Zahlen  für  Zahlengedächtnis,  Rechenfertigkeit  und  Begabung  sollen  nur 
den  Zweck  haben,  daß  der  Leser  ein  allgemeines  Bild  von  den  einzelnen 
Versuchspersonen  erhält.  Bei  Folgerungen  aus  den  Versuchsergebnissen 
werden  sie  nur  vorsichtig  und  da  mit  Vorbehalt  verwendet. 


1)  Erklärung  der  Abkiirzungen  in  der  II.  und  III.  Versuchsreihe  s.  bei  Besprechung 
ders.  u.  S.  14. 


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3    es 


statistische  Übersiclit. 
n.  V.     1.  Nicht  visuell  13  von  52  Schülern  =  25     ''/o 

gem.    2,  Visuelles  Vorstellen  neben  anderen  Typen  nicht 

bevorzugt  19  von  52  =  36,5  °/o 

vis       3.  Visuelles  Vorstellen  bevorzugt  20  von  52  =  38,5  "/o 

Anm. :  Aus  der  Tabelle  geht  hervor,  daß  auch  unter  Grruppe  1  und 
3  die  meisten  Schüler  dem  gemischten  Typ  angehören. 

Erste  Versuchsreihe. 
Den  Kindern    wurde   eine  Zahl   genannt.     Sie   mußten  angeben,    ob 
sie  eine  Gesichtsvorstellung  hatten,  und  welcher  Art  diese  sei. 

I.  Die  Arten  der  Gesichtsvorstellungen. 

Es  treten  folgende  Gesichtsbilder  auf: 

a.  (ausnahmsweise  als  Reminiszens  aus  dem  1.  Schuljahr)  die 
Punktgruppe, 

b.  die  arabische  Ziffer  isoliert, 

c.  die  arab.  Ziffer  in  der  Reihe, 

d.  desgl.  in  Verbindung  mit  sachlichen  Phantasievorstellungen. 

a.  DiePunktgruppe. 
Am  Ende  des  I.  Schuljahrs  begannen  die  Punktbilder  zurückzutreten. 
Die  Schüler  waren  schon  um  diese  Zeit  in  das  Rechen  (Addieren  und 
Subtrahieren)  bis  100  eingeführt ,  sodaß  der  Gebrauch  der  Ziffern ,  der 
Aufbau  bis  100,  das  Zurücktreten  der  Zahlbilder  u.  a.  bewirkten,  daß 
sich  die  visuellen  Punktbilder  bald  dissoziierten. 

Am  Beginn  des  2.  Schuljahrs  —  auf  diese  Zeit  bezieht 
sich  das  „früher"  der  Tabelle  —  fanden  sie  sich  noch  bei 
einem  Schüler. 
%  Auch   bei   diesen   visuellen   Punktbildern    zeigten    sich 

^  Phantasievorstellungen  sachlicher  Art.  Da  sich  meine 
Ausführungen  hauptsächlich  auf  das  Rechnen  im  2. 
Schuljahr  beziehen,  sehe  ich  von  einer  Behandlung  dieser 
Form  der  Gesichtsvorstellungen  ab.  Bemerkt  sei  nur,  daß  die  Kinder 
auf  Grund  der  nebenstehenden  Dienstbachschen  Zahlbilder  ins  Rechnen 
eingeführt  wurden.  Dieselben  wurden  gezeichnet  und  an  der  russischen 
Rechenmaschine  dargestellt. 

b  und  c.    Die  Erinnerungsbilder  der  arabischen  Ziffern. 
Die  russische  Rechenmaschine  wurde    auch  vielfach   im  2.  Schuljahr 
zum  Addieren  und  Subtrahieren  zweistelliger  Zahlen  benutzt.    Bemerkens- 


—     9    — 

wert  ist,  daß  kein  Schüler  Erinnerungsvorstellungen  visueller  Art  auf 
Grund  der  Kugelgruppierungen  dieses  weit  verbreiteten  Lehrmittels 
bildete  ^).  Die  Zahlen  wurden  in  diesem  Schuljahr  visuell  nur  als  Ziffern 
in  verschiedenen  Formen  vorgestellt.  Diese  Ziffervorstellungen  sind 
die  konkreten  Gebilde,  welche  als  Repräsentanten  der  Zahlbegriffe,  die 
wie  alle  Abstraktionsprodukte  nicht  vorstellbar  sind,  denselben  sinnliche 
Existenz  verleihen.  Die  Aufgabe  dieser  Repräsentanten  wird  um  so 
besser  erfüllt,  je  deutlicher  in  ihnen  das  Charakteristische  des  Zahlbe- 
griffs, die  Gliederung  einer  Vielheit  in  Einheiten,  zur  Darstellung  kommt. 
Darin  liegt  der  didaktisch  bedeutsame  Unterschied  des  visuellen  Vor- 
itellens  der  isolierten  Ziffer  und  der  Ziffer,  die  in  einer  räumlichen 
Strecke,  der  Zahlenreihe  lokalisiert  wird.  Jene  Vorstellung  zeigt  keine 
Spur  mehr  von  dem  ursprünglichen  Wesen  der  Zahl.  Deshalb  scheidet 
Pestalozzi  die  Ziffer  vorläufig  aus  und  prägt  die  Strichreihen  der  Ein- 
heitentabelle dem  visuellen  Gedächtnis  ein.  Die  2.  Form  der  Ziffervor- 
stellung jedoeh  läßt  die  Gliederung  der  Vielheit  in  Einheiten  sowohl 
wie  das  „Verhältnis  des  Mehrs  und  Minders"  (Pestalozzi)  erkennen.  Als 
simultane  Vorstellung  kann  die  Zifferreihe  natürlich  nur  dem  visuellen 
Typ  vorstellbar  sein.  Für  denselben  hat  sie  dann  die  gleiche  Bedeutung 
wie  die  Zahlbilder.  Der  Größenunterschied  wird  hier  wie  dort  rein 
räumlich  aufgefaßt:    Von  1 — 36  ist  eine  größere  Strecke  als  von  1 — 27. 

Zu  dieser  Gruppe  (visuelle  Vorstellung  der  Ziffer  als  Glied  einer 
Reihe,  Zr)  gehöre  ich  selbst.  Schon  aus  diesem  Grund  habe  ich  gerade 
dieser  Vorstellungsform  besondere  Aufmerksamkeit  zugewendet,  da  die 
Möglichkeit  der  Kontrolle  größer  ist.  Es  bandelt  sich  um  folgendes: 
Wenn  ich  mir  eine  bestimmte  Zahl  denke,  so  tritt  die  betreffende  Ziffer 
mehr  oder  weniger  deutlich  aus  der  dunkel  vorgestellten  Zahlenreihe 
hervor:  die  benachbarten  Zahlen  werden  mehr  oder  weniger  deutlich, 
besonders  die  Zehnerzahlen,  wenn  die  betreffende  Zahl  in  der  Nähe  einer 
solchen  steht.  Die  Ziffer  steht  innerhalb  einer  Strecke.  So  gleicht  mein 
visuelles  Zahlenvorstellen  etwa  dem  Sichtbarwerden  eines  Zentimeter- 
maßes, bei  dem  die  5  und  10  immer  deutlich  markiert  sind.  Zur  weiteren 
Dlustration  vergleiche  man  die  beiden  oben  angeführten  Schüleraussagen 
(S.  7  Anm.)! 

Diese  Linie  reicht  bei  mir  bis  zu  1000.  Von  da  ab  schieben  sich  die 
Tausender,  Zehntausender  u.  s.  w.  enger  zusammen.  Aber  die  Tatsache, 
daß  die  Zahlen  auf  einer  unendlich  verlängert  gedachten  Linie,    die  von 


1)  Man  vergl.  dagegen,  was  Jänisch  vom  „vorstelligen  Rechnen"  hofft.     S.  Jänisch, 
die  Zahlenkreise  1  —  10,  1—100,  1—1000.     Potsdam  1899.     S.  17  u.  f.,  63  u.  f. 


~     10    — 

mir  aus  geradlinig  gezogen  ist,    erscheinen,    bleibt   auch    für  die  großen 
Zahlen  gültig.     So  reproduziere  ich  eigentlich  räumliche  Strecken. 
Interessant  ist  auch  Gruppe 

d.  Auftreten  von  Phantasievorstellungen  sachlicher  Art. 
Der  eine  sieht  die  Ziffern  auf  der  Bank,  der  andre  an  der  Schul- 
tafel, der  dritte  sah  sie  durch  den  Lehrer,  der  4.  durch  einen  Schüler 
anschreiben.  Manche  Phantasten  leisten  in  diesen  Umrahmungen  des 
nüchternen  Ziffernbildes  Erstaunliches.  Da  kommen  Gestalten  aus  der 
Phantasiewelt,  Könige  und  Prinzen,  die  auf  ihren  Schildern  die  Zahl 
stehen  haben  und  dergl.  m.  Es  liegt  die  Frage  nahe,  ob  diese  Phantasie- 
vorstellungen nicht  das  Zahlengedächtnis  stören  und  eine  ungünstige 
Wirkung  auf  die  Rechenoperationen  ausüben.     Doch  darüber  später. 

2.   Das  Verhältnis  dieser  Arten  zu  den  Vorstellungstypen. 

(I.  Versuchsreihe,  „jetzt".) 


Zahlvorstellungen  vis.  Art 

.4 

a 
<! 

°/o 

1 

nicht  oder 
schwach  vis. 

II 

gemischter  Typ 
vis.  nicht  be- 
vorzugt 

m 

Vorwiegend 
visuell 

Zahl 

'lo 

Zahl 

*/o 

Zahl 

"/o 

a.  keine  Ges.  verst. 
(oder  selten) 

13 

25 

13 

100 

— 

— 

— 

— 

1 
Vorwiegend            ;       . 
b.  die  isolierte  Ziffer   ' 

1 

46 

— 

— 

18 

75 

6 

25 

Vorwiegend 
c.  die  Ziffer  in  der         15 
Reihe  lokalisiert 

29 

— 

— 

1 

6,6       14 

93,4 

Wieviel  von  b  u.  c 
mit  Sachvorstellungen? 

13 

25 

— 

10 

77 

3 

28 

Vorst.-Typen 

Zahl 

0 
,0 

Z 

Zr 

Zahl            o/o 

Zahl 

»/o 

II.  gem.  Typ 

19 

36,5 

18 

94,6 

1 

5,4 

III.  vis.  Typ  bevorz. 

20 

38,5 

6 

30 

14 

70 

—   11   — 

Kein  Gesichtsbild.  Das  Resultat  ist  eigentlich  selbstverständ- 
lich. Wo  kein  visuelles  Vorstellen  vorhanden  ist.  oder  wo  es  zurück- 
tritt, treten  motorische  und  akustische  Vorstellungen  an  die  Stelle  der 
Gesichtsbilder.  Diese  Gruppe  scheidet  von  der  folgenden  Betrachtung 
als  nicht  zum  Gegenstand  gehörig  aus.  Es  wurde  diese  Nebeneinander- 
stellung der  Gruppe  ohne  vis  -  Zahlenvorstellungen  und  der  Akustiker 
und  Motoriker  hauptsächlich  deshalb  eingefügt,  weil  man  bei  den  ersten 
Versuchen  in  einer  Klasse  (s.  die  Rubrik  „früher")  vermuten  könnte, 
daß  es  visuell  arbeitende  Kinder  gibt,  die  infolge  eines  zweiten  An- 
schauungstyps nicht  imstande  sind,  visuelle  Vorstellungen  beim  Rechnen 
zu  bilden.  Anfänglich  treten  dieselben  allerdings  mehr  zurück  (s.  unten : 
5.5  die  Entwicklung  der  visuellen  Erinnerungsbilder),  aber  die  Möglich- 
keit, beim  Rechnen  visuell  zu  arbeiten,  ist  nur  dem  nichtvisuellen 
Typ  versagt. 

Die  isolierte  Ziffer  mit  und  ohne  sachliche  Phantasievorstellungen 
überwiegt  bei  Gruppe  II,  dem  gemischten  Typ,  bei  dem  das  visuelle 
Vorstellen  nicht  bevorzugt  wird.  Nur  einer,  dessen  visuelles  Vorstellen 
allerdings  auch  manchmal  versagt,  sieht  die  Ziffer  in  der  Reihe.  Bei 
5  weiteren  Schülern  dieses  gemischten  Typs  tritt  in  letzter  Zeit  neben- 
bei die  Zahlvorstellung  in  der  Reihe  auf. 

Von  den  rein  und  vorzugsweise  Visuellen  sind  es  nur  6,  welche  die 
Ziffer  isoliert  sehen.  Auch  diese  neigen  in  letzter  Zeit  zur  Vorstellung 
der  „Ziffer  innerhalb  der  Strecke",  wenigstens  zeigen  die  noch  za  be- 
sprechenden Versuche  der  2.  und  3.  Versuchsreihe,  daß  die  meisten 
Schüler,  die  vorzugsweise  visuell  arbeiten,  imstande  sind,  mit  der  „Ziffer 
innerhalb  der  Reihe''  zu  operieren. 

Die  Ziffer  in  der  Reihe  wird,  wie  schon  angedeutet,  von  einigen 
Schülern  des  gemischten  Typs  manchmal  gesehen ;  als  ständig  wieder- 
kehrendes Gesichtsbild  gehört  sie  ausschließlich  dem  vorzugsweise  visuell 
vorstellenden  Typ  an.  Bemerkenswert  ist,  daß  das  Vorstellen  der  Ziffer 
in  der  räumlichen  Strecke  ein  Produkt  der  Übung  ist  und  unter  Rubrik 
„früher"  völlig  fehlt. 

Die  Phantasievorstellungen  scheinen  um  so  zahlreicher  und 
„phantastischer"  zu  werden,  je  mehr  das  visuelle  Vorstellen  zurücktritt. 
Jedenfalls  strengt  sich  der  Schüler,  dessen  visuelles  Vorstellen  schwächer 
ist,  mehr  an,  um  auch  bei  den  Versuchen  etwas  zu  sehen;  der  Erfolg 
findet  sich  dann  in  den  Phantasiegebilden.  Das  visuelle  Vorstellen  für 
Sachen  mag  auch  in  diesen  Fällen  das  für  Zeichen  überwiegen. 

Als  wichtigstes  Ergebnis  des  seither  Erörterten  bezeichne  ich:  Es 
wurde  oben  schon  darauf  hingewiesen,  daß  die  Vorstellung  der  ^.Zahl 
innerhalb  der  Zifferreihe"  das  einzige  Erinnerungsbild  ist,   welches  eine 


—     12     — 

intuitive  Anschauung  der  Größe  und  Zusammensetzung  ermöglicht.  Die 
Versuche  zeigen,  daß,  w i e  vorauszusehen  war ,  nur  die  Visuellen 
derartige  Erinnerungsbilder  aufweisen.  So  wertvoll 
solche  „innere  Anschauungen"  sind,  so  darf  man  ihre  Exi- 
stenz deshalb  noch  nicht  allgemein  voraussetzen^). 

3.  Die  visuellen  Erinnerungsbilder  und  das  Zahlengedäclitnis. 

Mit  dem  Wort  „Zahlengedächtnis"  ist  das  unmittelbare  Behalten 
von  Zahlen  während  der  Lösung  einer  Rechenaufgabe  gemeint. 

Die  Zensuren  in  der  ersten  Tabelle  beziehen  sich  auf  die  Grüte  des 
Zahlengedächtnisses  für  das  ungestörte  Lernen  und  Merken  von  Zahlen. 
Für  die  Praxis  müssen  diese  Noten  eine  Änderung  erfahren:  Die  Ab- 
lenkbaren werden  beim  Kopfrechnen  ein  schlechteres  Zahlengedächtnis 
aufweisen,  wie  die  Schüler,  die  durch  andre  Eindrücke  weniger  gestört 
werden.  Da  es  hier  nur  auf  Näherungswerte  ankommt,  wird  man  viel- 
leicht die  Zensur  bei  „abl.'^  um  50°/o,  bei  „zieml.  abl."  um  25 "/o,  bei 
„wenig  abl."  um  10 "/o  vergrößern,  wählend  sie  für  „nicht  abl."  unver- 
ändert bleibt.  In  der  untenstehenden  Tabelle  ist  der  Kürze  halber  die 
Durchschnittszahl  bei  „abl."  und  „wenig  abl."  um  50°/o  vergrößert 
worden,  während  „wenig  abl."  wie  „nicht  abl."'  behandelt  wurde. 


Zahl 

Zahlengedächtnis 

Rechen- 
fertigkeit 

Bega- 

a 

b 

c 

d 

bung 

1)  Nicht  visuell 

13 

2,1 

85  > 

15% 

rund  2,8 

2,3 

2,2 

2)  Visuell  mit 
Phantasievorst. 

14 

2,5 

50% 

50  > 

rund  3 

2,5 

2,6 

3)  Visuell  ohne 
Phantasievorst. 

25 

1,8 

24  «/o 

76% 

rund  1,9 

2,3 

2,2 

Zum  Vergleich  sind  die  Zensuren  für  Rechenfertigkeit  und  Begabung 
beigefügt. 

Es  bedeutet  a  =  Durchschnittszahl  für  die  Güte  des  Zahlengedächt- 
nisses beim  ungestörten  Lernen;  b  gibt  die  prozuentale  Anzahl  der  Ab- 
lenkbaren,   c  die    der  Nicht-  und  Wenigablenkbaren    an;    unter  d  findet 


1)  Wie  Kallas,  Räther,  Jänisch  u.  a. 


-     13    - 

man    einen  Näherungswert    für    die  Güte    des  Zahlengedächtnisses    beim 
Kopfrechnen,  die  Ablenkbarkeit  wnrde  berücksichtigt. 

Es  ist  zu  beachten,  daß  diese  Durchschnittszahlen  einem  3  stufigen 
Zensursystem  (1,  2,  3)  entnommen  sind,  während  sich  die  für  Begabung 
und  Eechenfertigkeit  auf  eine  Zensureinteilung  in  4  Grade  beziehen. 
Die  Durchschnittszahlen  für  das  Zahlengedächtnis  müßten  also  bei  einem 
Vergleich  mit  jenen  entsprechend  erhöht  werden.  Doch  sind  ja  keine 
mathematischen  Folgerungen  aus  jenen  Annäherungswerten  zu  ziehen  I 
Es  sollen  überhaupt  aus  diesen  Ergebnissen  einer  statistischen  Zusammen- 
stellung, die  jedenfalls  TJngenauigkeiten  enthalten  muß.  keine  voreiligen 
Schlüsse  gezogen  werden.  Die  Vermutung  liegt  jedoch  nahe  —  man  ver- 
gleiche Gedächtnis  mit  Begabung  und  Rechenfertigkeit  der  einzelnen 
Gruppen!  —  daß  die  Xicht\dsuellen  und  die  „Phantasten"'  in  ihrem 
Zahlengedächtnis  benachteiligt  sind.  Recht  instruktiv  ist  fol- 
gender Versuch: 

Die  Schüler  merken  sich  durch  Lesen  oder  Hören,  motorische  Hilfen 
gestattet,  einige  Zahlen.  Zwischen  Einprägung  der  Zahlen  und  Repro- 
duktion schaltet  man  einen  motorisch  -  akustischen  Eindruck  ein,  etwa 
Ohorsprechen  einer  Gedichtstrophe,  einer  Einmaleinsreihe  etc.  Die  Xicht- 
visuellen  fallen  nun  merkwürdig  gegen  die  andern  ab.  Von  3  drei- 
stelligen Zahlen  wurde  von  ihnen  durchschnittlich  1.  von  4  fast  durch- 
weg gar  keine  behalten,  während  die  Visuellen  gar  keine  oder  geringere 
Störungen  im  Behalten  zeigten.  So  erklärt  es  sich,  daß  der  Akustiker 
beim  Kopfrechnen  so  leicht  durch  eine  Frage  des  Lehrers,  durch  das 
flüsternde  Rechnen  des  Nachbars  aus  dem  Konzept  gebracht  werden 
kann  und  wieder  von  vorn  anfangen  muß.  So  kommt  es,  daß  beim  Kopf- 
rechnen die  motorischen  Innervationen,  die  beim  Durchdenken  der  Auf- 
gabe die  WortvorsteUungen  des  Motorikers  begleiten,  die  motorischen 
Ziffervorstellungen  stören.  Die  visuellen  Erinnerungsbilder  werden 
wenig  von  solchen  motorischen  Wortvorstellungen  gestört.  Das  Gesetz 
der  „rückwirkenden  Hemmung"  (Groos,  Seelenleben  des  Kindes)  äußert 
sich  offenbar  hauptsächlich  bei  Eindrücken  desselben  Sinnesgebiets. 

Berechtigt  ist  auch  wohl  die  Vermutung,  daß  die  -Phantasten"  ihre 
Neigung,  die  nüchternen  Zahlen  in  einen  Rahmen  lebensvoller  Sachvor- 
stellungen zu  schließen,  mit  einem  schlechteren  Zahlengedächtnis  bezahlen 
müssen.  Doch  ist  zu  solchen  Verallgemeinerungen  umfangreicheres  Be- 
obachtungsmaterial erforderlich. 

Als  wesentlichstes  Ergebnis  dieser  Erörterungen  hebe  ich  hervor: 
Der  Visuelle  hat  in  seinemTyp  eine  wesentliche  Hilfe  für 
sein  Zahlengedächtnis,  falls  er  diese  Hilfe  zu  benutz.en 
versteht. 


—     14    — 

4.    Die  visuellen  Erinnerungsbilder  und  die  Rechenoperationen. 

(2.  und  3.  Versuchsreihe). 

Versuch :  Welche  visuellen  Erinnerungsbilder  werden  bei  der  Lösung 
der  Aufgabe  24+15  reproduziert  ? 

Die  Selbstbeobachtung  ist  hier  etwas  schwieriger.  Die  Kinder  sind 
geneigt,  die  visuellen  Bilder  nach  erfolgerter  Lösung  zu  beschreiben. 
Diese  entsprechen  meistens  der  Form  24+15  =  39.  Es  handelt  sich 
jedoch  um  die  Beobachtung  dessen,  was  man  innerlich  sieht,  während 
man  denkt:  24  +  10  =  34  +  5  =  39,  also  ist  24  +  15  =  39. 

Es  zeigen  sich  folgende  Gruppen : 

a.  Keine  visuellen  Bilder.  — 

b.  Einzelne  Ziffern:  24  15  39.  —  Z. 

c.  Nur  das  Resultat  in  der  Form  des  schriftl. 
Rechnens:    24  +  15  =■  39.    (ZifFerschrift- 

bild).  —  Zschr. 

d.  Die  Operation    als  schriftl.  Rechnen: 
24  +  10  =  34 

34+   5  =  39.  Zschr. 

e.  Die   Operation   als  Vorwärtsgehen  in 

der  Reihe.  Zr. 

In  jedem  Fall  bedeutet  demnach  der  Gedankenstrich  ( — ),  daß  die 
Operation  selbst  von  keinen  visuellen  Bildern  begleitet  ist,  sondern  nur 
das  Resultat. 

Der  Eindruck  ist  entweder  ein  deutlich  simultaner  dadurch,  daß  die 
zuerst  reproduzierten  Bilder  im  Blickpunkt  des  Bewußtseins  bleiben, 
oder  ein  sukzessiver,  wenn  die  ersteren  von  den  folgenden  verdrängt 
werden.  Ein  Blick  auf  die  Tabelle  lehrt,  daß  die  Gruppe  e  (Anein- 
anderlegen  von  Strecken  in  der  Zifferreihe)  in  erster  Linie  ihre  Ver- 
treter bei  den  Schülern  hat,  die  vorzugsweise  visuell  arbeiten.  Daß  die 
Anzahl  der  „Zr"  in  der  II.  Versuchsreihe  größer  ist  als  in  der  ersten, 
ergibt  sich  aus  dem  Wesen  des  Reizes:  dort  eine  Zahl,  hier  Operieren 
mit  Zahlen. 

In  dieser  Versuchsreihe  haben  die  Gesichtsbilder  —  Z,  d.  h.  die  an- 
einandergereihten Ziffern  und  —  Zschr ,  das  Schriftbild  der  ausge- 
führten Operation,  nur  Bedeutung  als  Zahlengedächtnis.  Die  Operationen 
der  Schüler  sind  nur  von  motorischen  Innervationen  oder  Klangbildern 
begleitet,  erst  die  Ergebnisse  werden  visuell  vorgestellt. 

Auf  einer  Zwischenstufe  steht  Gruppe  d,  das  sind  die ,  welche  im 
Kopf  schriftlich   rechnen.     Eine   sinnliche  Überzeugung   gewährt   dieses 


—    15    — 

Gesichtsbild  nicht,  es  dient  anch  in  erster  Linie  als  Zahlengedächtnis. 
Der  Schüler  sieht  „24  +  10  =  34";  wie  die  Zufügung  der  10  die  Summe 
34  ergeben  hat,  ist  lediglich  Denkarbeit,  ohne  daß  visuelle  Vorstellungen 
das  Zufügen  selbst  begleiteten. 

Ganz  anders  ist  es  mit  der  letzten  Gruppe.  Aus  der  Zahlenreihe 
tritt  in  einiger  Entfernung  hinter  20  die  24  auf;  dann  weiter  zurück, 
häufiger  auch  weiter  rechts,  die  34  und  dann  39. 

O  ...  24 O 39  O  .  .  .  . 

24  34  39 

Diese  Schüler  sind  verhältnismäßig  leicht  imstande,  Aafgaben  wie 
24  +  55  so  zu  beantworten :  24,  74,  79. 

Diese  Zahlenreihe  trat  bei  einigen  Schülern  schon  auf,  als  ich  nur 
die  russische  Rechenmaschine  benutzte.  Da  ich  selbst,  wie  schon  gesagt, 
diesem  Typ  angehöre,  versuchte  ich  dieses  Vorstellen  bei  allen  Visuellen 
einzuüben.  Die  meisten  Visuellen  stellen  sich  nun  beim  Addieren  und 
Subtrahieren,  besonders  beim  Ergänzen  die  räumliche  Reihe  vor,  in  der 
sie  nun  vorwärts  und  rückwärts  gehen. 

3.  Versuchsreihe: 

Stellt  euch  die  Reihe  3.  6.  9  bis  30  vor!  Welcher  Art  sind  die 
Gesichtsvorstellungen  ? 

Auch  hier  zeigt  sich  einesteils  der  Unterschied,  Vorstellungsreihen 
mehr  simultan  oder  sukzessiv  zu  reproduzieren.  Andernteils  haben 
wir  auch  hier  wieder  den  Unterschied  zwischen  den  Reihensehem  uud 
den  Schülern,  die  nur  isoliert  Ziffern  sehen.  Die  letzteren  sehen  die 
Ziffern  entweder  dicht  aneinander  gereiht  (nebeneinander  oder  senkrecht 
untereinander)  (Z),  oder  das  Schriftbild  der  schrift-  1x3  =  3  (Zschr.) 
lieh  ausgeführten  Operation.  Die  Reihenseher  legen  2x3  =  6 
ihrer  Vorstellung  wieder  die  Reihe  zugrunde.  Die  u.  s.  f. 
Einmaleinszahlen  stehen  entweder  durch  Lücken  getrennt  unter  den 
entsprechenden  Zahlen  der  Zifferreihe,  oder,  was  der  häufigste  Fall  ist, 
werden  innerhalb  der  Zifferreihe  sichtbar.  Die  Zwischenzahlen  treten 
entweder  zurück,  und  es  zeigen  sich  Strecken  zwischen  den  Zahlen  der 
Einmaleinsreihe,  oder  auch  sie  sind  undeutlich  sichtbar. 

Die  Lücken  sind  beim  1  . 8  natürlich  größer,  als  beim  1 . 3,  und  die 
Reihe  mit  8  reicht  bis  80,  ist  also  doppelt  so  lang  wie  die  mit  4. 

Als  wichtigstes  Ergebnis  dieser  Versuchsreihen  hebe  ich  hervor: 
Visuelle  Vorstellungen  können  die  grundlegenden  Rechen- 
operationen begleiten.  Die  Rechenseher  haben  in  ihrer 
Vorstellungs weise  gleichsam  eine  innere  Anschauung  für 
ihr  Verfahren. 


16     — 


5.    Die  Entwicklung  der  visuellen  Gesichtsbilder. 

Die  ersten  Versuche  schienen  zu  zeigen ,  daß  die  visuellen  Er- 
innerungsbilder beim  Rechnen  nur  in  geringer  Anzahl  vertreten  seien. 
Die  Ungeübtheit  der  Kinder,  Selbstbeobachtungen  anzustellen,  mag  mit 
die  Hauptursache  zu  den  ersten  Versuchsresultaten  gewesen  sein.  Die 
in  der  Tabelle  angefühlten  Gesichtsbilder  unter  „frülier"  geben  das 
Durchschnittsergebnis  der  Versuche  an,  die  den  ersten,  einführenden 
Vorversuchen  nachfolgten.  Somit  zeigen  sie]  die  Tatsache,  daß  das 
visuelle  Vorstellen  beim  Zahlendenken  anfangs  zurücktrat.  Durch  häufige 
Übung  im  willkürlichen  Reproduzieren  visueller  Erinnerungsbilder  im 
Rechnen ,  wohl  auch  durch  die  Selbstbeobachtungen  wurde  allmählich 
das  visuelle  Zahlvorstellen  geläufiger  und  häufiger. 

Vor  allem  zeigte  es  sich  aber,  daß  die  Art  des  visuellen  Erinnerungs- 
bildes durch  unterrichtliche  Beeinflussung  modifiziert  werden  kann.  Und 
zwar  ist  der  Erfolg  um  so  größer,  je  mehr  das  visuelle  Vorstellen 
gegenüber  andern  Vorstellungsweisen  bevorzugt  wird. 

Es  handelte  sich ,  wie  schon  mehrfach  gesagt ,  um  die  Einprägung 
der  ZifFerreihe  und  Einübung  der  Fähigkeit ,  sie  als  Grundlage  der 
elementaren  Rechenfälle  zu  benutzen. 

Eine  zweite  Richtung  zeigt  die  Entwicklung  der  visuellen  Er- 
innerungsbilder darin ,  daß  die  Phantasievorstellungen  sachlicher  Art 
allmählich  zurücktreten  können. 

Zusammenfassung  der  wichtigsten  Ergebnisse. 

1.  Eine  unterrichtliche  Bedeutung  haben  nur  die  visu- 
ellen Erinnerungsbilder  der  Schüler,  die  dem  visuellen 
Typ  angehören  oder  vorzugsweise  visuell  arbeiten. 

2.  Die  Zahl  dieser  Schüler  ist  verhältnismäßig  groß, 
sodaß  ihre  bes  ondere  Berücksichtigung  wünschenswert  ist. 

3.  Die  visuellen  Erinnerungsbilder  zeigen  sich  als 
wertvolle  Hilfen  des  Zahlengedächtnisses. 

4.  Auch  die  ersten  Rechenoperationen  können  durch 
die  visuellen  Erinnerungsbilder  erleichtert  werden. 

5.  Die  Schüler  zeigen  sich  ohne  Anleitung  in  der  Hand- 
habung und  Ausnutzung  dieser  Vorstellung  durchweg  un- 
sicher und  unbeholfen. 

6.  Die  Zahl  der  visuellen  Zahlvorstellungen  ist  durch 
Übung  steigerungsfähig,  ihre  Art  kann  modifiziert  und 
der  Schüler  in  der  Verwendung  derselben  angeleitet  werden. 


—     17    — 

Didaktische  Folgerungen. 

Als  allernächste  Folgerung  ergibt  sich  wohl  die  ,  man  soll  in  der 
Beurteilung  der  Kinder  vorsichtig  sein.  Der  kleine  Rechner,  dem  die 
Aufgabe  nicht  glücken  will,  leidet  gar  oft  an  Störungen  des  Zahlen- 
gedächtnisses durch  Eigentümlichkeiten  seines  Typs.  Nun  hat  auch 
der  in  dieser  Hinsicht  benachteiligte  Motoriker  manche  Hilfen,  sein  G-e- 
dächtnis  zu  stützen.  Ich  erinnere  nur  an  die  Schreibbewegungsvor- 
stellungen.  die  durch  darauffolgende  Sprechinnervationen  weniger  ge- 
hemmt werden.  Bei  ausgesprochen  schlechtem  Zahlengedächtnis  ist 
meistens  die  Unfähigkeit ,  seinen  Vorstellungstyp  auszunutzen  und  un- 
zweckmäßige Anwendung  derselben  zurückzudrängen,  die  einzige  Ursache. 
Hier  gilt  es.    den  Schüler    seine  geistigen  Gaben   gebrauchen  zu   lehren. 

Das  schlechte  Zahlengedächtnis  führt  sich  auch  oft  auf  die  lebhaften 
begleitenden  Phantasievorstellungen  zurück.  —  Häufig  hat  ein  solches 
Bild  die  Tendenz,  im  Blickpunkt  des  Bewußtseins  zu  verharren  und  die 
übrigen  nötigen  Erinnerungsbilder  zu  hemmen.  Häufig  ist  diese  Hemmung 
rückwirkend.  Gesellt  sich  zu  diesem  eigenartigen  Sachtypus  noch  die 
Neigung,  immer  wieder  auf  dieselbe  Vorstellung  zurückzukommen  (Per- 
severationen), so  ist  damit  die  denkbar  ungünstigste  Voraussetzung  für 
das  Zahlengedächtnis  gegeben,  hier  ist  fortwährende  Übung  erforderlich. 

Ebert  und  Meumann  zeigen,  daß  eine  Übung  des  Gedächtnisses  in 
formaler  Hinsicht  eine  Entwicklung  des  Gedächtnisses  zur  Folge  hat. 
Außerdem  gilt  es,  den  schon  zu  lebhaften  Phantasten  nicht  noch  weiter 
in  seiner  Neigung  zu  unterstützen.  Man  soll  nie  vergessen,  daß  die  so 
beliebte  Pflege  der  schöpferischen  Phantasie  sowohl  eine  fördernde  als 
auch  eine  hemmende  sein  muß,  je  nach  der  Individualität.  Das  von 
manchen  Reformlern  beliebte  Darbieten  der  ersten  Lernobjekte  durch 
Umkleidung  in  allerhand  Phantasievorstellungen  sachlicher  Art,  die  die 
einzuprägenden  nackten  Grundformen  dieser  Lernobjekte  verhüllen ,  ist 
ein  Verstoß  gegen  den  Grundsatz  der  Ökonomie  und  Technik  des 
Lernens. 

Unsere  Versuchsergebnisse  finden  die  Hauptbedeutung  der  visuellen 
Zahlvorstellungen  nicht  in  der  Unterstützung  des  Zahlengedächtnisses, 
sondern  legen  die  Vermutung  nahe,  ob  diese  Vorstellungen  nicht 
auch  für  die  Zahlauffassung  und  die  Rechenoperationen 
nutzbar  gemacht  werden  können.  Aus  dem  Beobachtungsmaterial 
geht  hervor,  daß  eine  Gruppe  diese  Gesichtsbilder  für  die  Operationen 
benutzen  kann.     Das  sind  die  Reihenseher. 

Das  Pestalozzische  Rechenverfahren  verfolgte  schon  diese 
Idee,  natürlich  nicht  für  den  visuellen  Typ  allein,  sondern  für  sämtliche 

Meumann,  Exper.  Pädagogik.    V.  Band.  2 


—    18    — 

Schüler.     Es   ging   darauf  hinaus,    die   visuellen    Erinnerungsbilder    für 
alle  als  Grundlage  des  Verfahrens  zu  benutzen. 

Es  ist  bekannt,  daß  Pestalozzis  8  Übungen  an  der  Einheitentabelle 
ohne  Kenntnis  der  Ziffern  gerechnet  wurden.  Erst  nach  vollen- 
deter Rechenfertigkeit  werden  diese  „Verkürzungsmittel",  diese  mathe- 
matischen Abbreviaturen  eingeführt.  „Es  ist  aber  wichtig,  daß  das 
Bewußtsein  der  Urform  der  Zahlenverhältnisse  durch  die  Verkürzungs- 
mittel der  Rechenkunst  selbst  im  menschlichen  Geist  nicht  geschwächt, 
sondern  durch  die  Formen,  in  welchen  diese  Kunst  gelehrt  wird,  mit 
großer  Sorgfalt  tief  in  denselben  eingeprägt,  und  aller  Fortschritt  dieser 
Kunst  auf  den  fest  erzielten  Zweck  des  im  menschlichen  Geist  tief  er- 
haltenen Bewußtseins  der  Realverhältnisse ,  die  allem  Rechnen  zum 
Grunde  liegen,  gebaut  werde."  (Wie  Gertrud  ihre  Kinder  lehrt).  D.h.: 
die  Zahlvorstellungen  sollen  als  visuelle  Erinnerungsbilder  eingeprägt 
werden.  Diese  Gedächtnisbilder  sollen  die  Gliederung  der  Vielheit  in 
Einheiten  darstellen. 

Im  Anschluß  an  die  Aufgabe:  „Zu  welcher  Anzahl  am  Ganzen  ver- 
halten sich  1^/3,  wie  sich  3  Ganze  verhalten  zu  8^/7?"  sagt  Türk  (Briefe 
aus  Münchenbuchsee  1806  S.  101):  „Bis  hierher  lernten  nun  unsre  hie- 
sigen Zöglinge  unsre  gewöhnlichen  Zahlzeichen  durch  die  arabischen 
ZiiFern  noch  nicht  kennen ,  aber ,  wenn  sie  nunmehr  die  sämtlichen 
Übungen  der  Elementarbücher  vollendet  haben,  werden  ihnen  diese 
Zeichen  und  der  Wert  der  Ziffern,  den  sie  nach  der  Stelle ,  welche  sie 
einnehmen,  erhalten,  bekannt  gemacht". 

Grüner,  einer  der  wenigen,  die  Pestalozzis  Idee  der  Elementar- 
bildung seinerzeit  innerlich  erfaßt  haben ,  hält  sehr  viel  von  diesem 
zifferlosen  Rechnen ,  bei  dem  die  Einheitentabelle  visuell  eingeprägt 
wird.  „Du  mußt  dich",  schreibt  er  in  seinen  Briefen  aus  Burgdorf 
(1806  S.  232  u.  f.),  „der  arabischen  Ziffer  -  Abbreviaturen  entwöhnen, 
wenn  die  populärere,  natürlichere  Anschauung  dir  zur  Natur  werden 
und  den  Typus  der  Tabelle  dir  in  dein  Gehirn  zeichnen  soll." 
An  andrer  Stelle:  „Mache  dich  sobald  als  möglich  von  dem  Zifferwesen 
frei  und  halte  dich  an  die  Anschauung  der  Tabelle".  Nun  werden  wohl 
doch  bei  diesem  gleichmäßigen  Berücksichtigen  des  visuellen  (Tabelle), 
kinästhetischen  und  auditiven  Vorstellens  (Chorsprechen)  die  „mathe- 
matischen Abbreviaturen"  früher  entstanden  sein,  als  Pestalozzi  annahm, 
nicht  als  arabische  Ziffern,  sondern  als  Wortvorstellungen.  Aber  doch 
betont  Pestalozzi  gerade  den  Wert  der  visuellen  Erinnerungsbilder  als 
Grundlage  des  Verfahrens,  und  die  Resultate  des  pestalozzischen 
Rechenunterrichts  waren  ausgezeichnete.    Auch  seine  Gegner  bestätigen 


—     19    — 

dies.  (Vgl.  Niemeyer).  Deshalb  ist  die  Frage  wohl  berechtigt:  Hat 
diese  Idee  pädagogische  Bedeutung? 

Es  handelt  sich  also  um  folgendes:  die  meisten  Schüler  haben  beim 
Rechnen  visuelle  Erinnerungsbilder.  Falls  dieselben  unterrichtlich  be- 
einflußt werden,  treten  sie  bei  den  vorwiegend  visuell  arbeitenden 
Schülern  in  engeren  Zusammenhang  mit  dem  Rechenverfahren.  Ist  diese 
unterrichtliche  Beeinflussung  von  didaktischem  Interesse? 

Ich  wende  mich  gleich  gegen  ein  hier  mögliches  Mißverständnis. 
Man  könnte  annehmen,  es  handle  sich  um  die  Frage,  ob  auch  die  höheren 
Rechenoperationen  dem  Auge  veranschaulicht  werden  sollten.  Gegen- 
über dieser  Yeranschaulichungssucht  gilt  es  eine  scharfe  Grenze  zu 
ziehen.  Veranschaulicht  werden  nur  die  primären  Rechenoperationen: 
Zerlegen  bis  10.  Alle  sekundären,  von  jenen  abgeleiteten  Rechenfälle 
sind  auf  dem  Wege  des  logischen  Denkens  entstanden.  Sie  können  nur 
durch  Zurückführen  auf  ihre  Vordersätze  erklärt  werden. 

Als  vorzügliches  Mittel  zur  Veranschaulichung  der  grundlegenden 
Rechenoperationen  habe  ich  die  oben  erwähnten  Zahlbilder  gefunden. 
Sie  sind  übersichtlich,  brauchen  nicht  umgeschüttelt  zu  werden,  er- 
möglichen ein  einziges  visuelles  Erinnerungsbild.  Das  ist 
die  wesentlichste  Frage  bei  der  Beurteilung  solcher  Zahlbilder,  (Zahl- 
typen): Kann  die  betreff'ende  Punkt groppe  auch  als  visuelles  Er- 
innerungsbild Grundlage  der  Rechenoperation  sein?  Es  ist  das 
Wesentliche  verkannt,  wenn  von  der  Frage  ausgegangen  wird  (Lay): 
Welche  Punktgruppe  wird  am  raschesten  aufgefaßt?  Es  handelt  sich 
um  die  Einprägung  eines  einheitlichen  visuellen  Bildes,  welches  zum 
Operieren  mit  den  Zahlen  bis  10  geeignet  ist. 

Sobald  die  Sicherheit  in  den  grundlegenden  Operationen  erzielt  ist, 
tritt  die  Ziff'er  auf:  allmählich  dissoziiert  sich  die  Punktgruppe.  Die 
Verkürzungsmittel  treten  an  ihre  Stelle.  Ich  möchte  nun  von  dieser 
Entwicklungsstufe  an  die  Pestalozzische  Idee  der  Verwendung  visueller 
Erinnerungsbilder  beim  Rechnen  mehr  berücksichtigt  sehen. 

Die  einzige  Möglichkeit  ist  die,  daß  von  jetzt  ab  die  Zifferreihe 
ein  fest  eingeprägtes  Gesichtsbild  wird.  Da  die  vorerwähnten  Zahl- 
büder  nun  vergessen  werden  müssen,  wäre  es  vielleicht  rat&amer,  für 
das  erste  Rechnen  eine  Gruppierung  zu  verwenden,  wenigstens  für 
den  visuellen  Typ,  die  in  der  Ziff'erreihe  später  gebraucht  wird.  Das 
ist  nur  bei  der  ReihendarsteUung  der  Fall.  Die  Schwierigkeiten  des 
Zerlegens  hatten  mich  seither  abgehalten,  diese  Gruppierung  im  ersten 
Schuljahr   zu   verwenden.     Doch  könnte   die  Übersichtlichkeit   und  Zer- 


—    20    — 

legbarkeit  vielleicht   erzielt  werden,    wenn    der  5.  und  10.  Punkt   durch 
andere  Färbung  markiert  wird. 

Es  handelt  sieh  hier  nur  um  ein  simultanes  Erfassen  von  4  Ein- 
heiten. Ich  will  nur  noch  bemerken,  daß  ich  in  der  Verwendung  dieser 
Punktreihe  keine  Anerkennung  des  reinen  Zählprinzips  sehe.  Die  Ein- 
führung in  das  Rechnen  kann  nur  durch  simultane  Anschauung  der  ge- 
gliederten Vielheit  geschehen. 

Jedenfalls  wären  praktische  Versuche,  inwieweit  die  so  gegliederte 
Punktreihe  dem  visuellen  Typ  von  Vorteil  oder  Nachteil  ist,  von  Interesse. 

Doch  nach  dieser  Abschweifung  wieder  zur  Zifferreihe.  Ich  be- 
nutzte nunmehr  für  das  Rechnen  im  II.  Schuljahr  nicht  die  russische 
Rechenmaschine ,  sondern  die  an  der  Tafel  angeschriebenen  Teile  der 
Zifferreihe.  Die  Schüler  werden  angeleitet,  innerhalb  der  ihrem  Gre- 
dächtnis  eingeprägten  Reihe  heimisch  zu  werden.  Deshalb  werden 
Orientierübungen  vorgenommen.  Welche  Zahl  steht  vor  50?  Welche 
Zahlen  stehen  zwischen  78  und  80.  Vergleiche  die  Strecke  bis  27  mit 
der  bis  29 !  Das  Addieren  erfolgt  ohne  Zerlegen :  20  -f-  10  =:  30, 
24-1-10  =  34;  26 -i- 10  =  36;  es  wird  darauf  aufmerksam  gemacht,  daß 
die  räumliche  Entfernung  21  bis  31,  26  bis  36  immer  dieselbe  bleibt  und 
gleich  viel  Einheiten  enthält.  Da  die  ganze  Reihe  nicht  angeschrieben 
werden  kann,  helfe  ich  mir  mit  folgender  Darstellung^): 

•    1234    5     6789#1234567     etc. 

Diese  Reihe  paßt  nun  auf  die  verschiedenen  Zehnerzahlen.  Beim 
Addieren  und  Subtrahieren  werden  die  Kinder  angeleitet ,  in  dieser 
Zahlenreihe,  die  dem  Gredächtnis  eingeprägt  wurde ,  dem  „  Gehirn  ein- 
gezeichnet" ist ,  vorwärts  und  rückwärts  zu  gehen.  Auf  diese  Weise 
werden  die  visuellen  Erinnerungsbilder  dem  Verfahren  dienstbar  gemacht. 
Ich  habe  öfters  die  Beobachtung  gemacht,  wie  sehr  schwache  Schüler 
auf  diese  Weise  bald  das  Addieren  und  Subtrahieren  verstanden.  Die 
Verwechslungen  35  und  53  kommen  nicht  vor,  und  72 -f- 2  konnte  nie  92 
geben. 

Dem  sicheren  Rechner  sind  diese  begleitenden  Gesichtsvorstellungen 
eine  Kontrolle  der  Rechenmechanismen ;  sie  leiten  wegen  ihrer  Darstellung 
der  Größenunterschiede  zum  Abschätzen  an;  sie  bewahren  später  davor, 
sich  in  der  Dezimalstelle  zu  irren,  da  die  ungefähre  Größe  stets  in 
räumlicher  Darstellung  angedeutet  wird.  Dem  schwachen  Rechner  sind 
sie  ein  wirkliches  Veranschaulichungsmittel,  eine  Lesetafel,  auf  der  er 
die  Resultate  der  Addition  und  Subtraktion  ablesen  kann. 


1)  Praktisch   wäre  vielleicht   eine  ca.  4  m  lange  Latte  mit   den  Zahlen  von  1 — 100. 


—    21     — 

In  diesen  Gresichtsbildem  ist  dem  visuellen  Typ  ein  wesentlicher 
Vorteil  gegeben.  Xur  zu  oft  ist  er  sich  dieses  Vorteils  nicht  bewußt. 
Deshalb  werde  die  Benutzung  der  visuellen  Gesichtsbilder  bei  den  vi- 
suellen Typen  planmäßig  unterrichtlich  gepflegt.  In  dieser  Beschränkung 
wollen  wir  Pestalozzis  Idee  von  der  unterrichtlichen  Verwendung  vi- 
sueller Erinnerungsbilder  beim  Rechnen  das  Wort  reden. 

Es  ist  sehr  wahrscheinlich,  daß  sich  die  Zifferreihe  dem  Visuellen 
dauernd  einprägt.  Ich  habe  in  der  11.  Klasse  (7.  Schuljahr)  in  der 
Algebra  beobachtet,  wie  die  Visuellen  ihren  Typ  recht  praktisch  zur 
inneren  Veranschaulichung  der  positiven  und  negativen  Zahlen  (Thermo- 
meterskala) zu  benutzen  verstanden:  Für  sie  war  deshalb  auch  die  Auf- 
gabe 18 —  ( — 9)  nichts  Widerspruchsvolles  und  Unvorstellbares.  Gerade 
wie  sie  18 — 16  einst  rechneten,  daß  sie  an  ihrer  Skala  ablesen  konnten: 
Von  16  bis  18  sind's  2,  so  lesen  sie  nun  ab:  Von  — 9  über  die  Null  auf- 
wärts bis  +18  sind's  27. 

Ich  selbst  habe  die  genannten  visuellen  Erinnerungsbilder  auch  für 
Brüche,  "^/g  ist  mir  das  Verhältnis  der  Strecke  0  bis  2  zur  Strecke 
0  bis  9,  ein  Zeichen ,  daß  das  einmal  eingeprägte  und  durch  immanente 
Wiederholung  befestigte  Erinnerungsbild  der  Zifferreihe  noch  eintreten 
kann,  wenn  sich  die  Rechenoperationen  schon  längst  in  Mechanismen 
umgewandelt  haben. 

Der  visuelle  Typ  kann  auch  zu  mißbräuchlicher  Verwendung  führen. 
Es  gibt  Schüler,  die  die  Operationen  im  Kopf  in  der  Form  des  schrift- 
lichen Verfahrens  lösen.  Da  erfordert  der  visuelle  Typ  besondere  Auf- 
merksamkeit, und  es  ist  wertvoU.  die  visuell  veranlagten  Schüler  zu 
kennen,  um  diese  Neigung  rechtzeitig  unterdrücken  zu  können.  Be- 
sonders vom  'S.  Schuljahr  an,  wenn  das  schriftliche  Verfahren  ein  an- 
deres wird  als  das  des  Kopfrechnens,  sind  die  Visuellen  nach  der 
Richtung  hin  besonders  zu  beobachten. 

So  ergibt  sich,  wie  wertvoll  die  Kenntnis  der  Anschauungs typen 
ist.  Es  handelte  sich  in  diesen  Ausführungen  um  eine  Frage  von  ver- 
hältnismäßig untergeordneter  Bedeutung,  nämlich  um  die :  Wie  kann  man 
einem  bestimmten  Typ  die  Vorteile  seines  Arbeitens  geläufig  machen? 
Von  dieser  Frage  wurde  nur  ein  spezielles  Gebiet:  das  Zahlenvorstellen 
des  visuellen  Typs  herausgegriffen.  Und  auch  dieses  eng  begrenzte 
Gebiet  konnte  in  den  vorliegenden  Ausführungen  nicht  vollständig  be- 
handelt werden.  Vielleicht  gebt  der  eine  oder  andre  Leser  den  hier 
angedeuteten  Gedanken  von  der  Ausnutzung  der  visuellen  Erinnerungs- 
bilder weiterer  nach.  Besonders  erwünscht  wäre  es,  wenn  von  Lehrern, 
die  einem  andern  Typ  angehören .  weitere  Beobachtungen  gemacht 
würden.     Ob  nun  dadurch   die  vorliegenden  Ausführungen   ergänzt  oder 


—     22     — 

korrigiert  werden,   —  in  jedem  Fall   ist   eine  gemeinsame   Behandlung 
dieser  Frage  vom  psychologischen  und  didaktischem  Interesse^). 


1)  Es  ist  nicht  unmöglich,  daß  die  entgegengesetzten  Ansichten  der  Methodiker 
über  den  elementaren  Rechenunterricht  zum  Teil  durch  die  individuellen  Verstellungs- 
und Aufmerksamkeitstypen  derselben  verursacht  worden  sind.  Bei  den  philosophischen 
Erwägungen  über  das  Wesen  der  Zahl  u.  dgl.  stützt  man  sich  unwillkürlich  auf  die  Er- 
gebnisse der  Beobachtung  seiner  eignen  psychischen  Vorgänge  und  vergißt,  daß  man 
seinen  individuellen  Typ  nicht  auf  alle  ausdehnen  darf,  sonst  wird  die  mit  so  viel  Ge- 
lehrsamkeit behandelte  philosophische  Darstellung  des  Zahlproblems  zu  einer  irreführen- 
den Voraussetzung  der  didaktischen  Folgerungen.  Es  ist  oben  schon  auf  Pestalozzis 
Verallgemeinerung  seines  visuellen  Typs  hingewiesen  worden.  Dem  gleichen  Typ  scheint 
Kallas  anzugehören,  weil  er  fordert:  „Das  Bemerkenswerte  und  Neue  für  die  elemen- 
tare Rechenmethodik  ist  dieses :  l.  es  wird  verlangt,  daß  der  Rechner  und  der  Lehrer 
keine  Zahl  isoliert  denke,  sondern  beim  Denken  jeder  Zahl  die  ganze  Zahlenreihe  in  in- 
tellektualer  Intuition  habe,  2.  es  wird  verlangt,  daß  alle  zu  übermittelnden  Sätze :  Rechen- 
gesetze. Erklärungen,  Auflöseweisen  nur  im  Hinblick  auf  die  Baugesetze  der  Zahlenreihe 
entspringen  sollen".  (Kallas,  die  Methode  des  elementaren  Rechenunterrichts,  Mitau  1889). 
Man  vergleiche  dagegen  Knilling,  (Zur  Reform  des  Rechenunterrichts):  „Ich  stehe  nicht 
an,  zu  behaupten,  alles  Rechnen  ist  im  letzten  Grunde  Sache  des  Ohrs  und  der  Lippen,  • 
bloße  mechanische  Fertigkeit,  nicht  aber  Betätigung  des  Vorstellungsvermögens  (bezieht 
sich  wohl  auf  die  visuellen  Erinnerungsbilder !  E)  oder  irgend  einer  anderen  Vorstellungs- 
laraft".  Wenn  man  sich  ferner  der  scharfen  Worte  Diesterwegs  nicht  nur  gegen  den 
Mißbrauch  des  visuellen  Vorstellens  („Afterkopfrechnen"),  sondern  gegen  das  visuelle 
Vorstellen  überhaupt  beim  Rechnen  erinnert,  findet  man  genügend  Beispiele,  wie  die 
Methodiker  ihren   individuellen  Vorstellungstypus   auf  alle   Individuen  ausgedehnt   haben. 

Die  Kinderpsychologie  warnt  uns  davor,  Erscheinungen,  die  wir  am  Seelenleben 
Erwachsener  beobachten,  den  Kindern  unterzuschieben.  Die  experimentelle  Pädagogik 
macht  auf  die  Gefahr  aufmerksam,  daß  aus  den  Selbstbeobachtungen  leicht  irrige  Ver- 
allgemeinerungen abgeleitet  werden  können,  und  daß  man  gern  geneigt  ist,  sich  in  Bezug 
auf  seinen  Vorstellungstyp  bei  der  Unterrichtsarbeit  nicht  zu  neutralisieren. 


—    23     - 


Experimentelle  Untersuchungen  über  den  Aufsatz  des  Volksschülers 

In  Haus  und  Schule^). 

Von  Dr.  Friedrich  S  c  h  m  i  d  t  -  Würzbarg. 

Die  meinen  Untersuchungen  zu  Grrunde  liegenden  Methoden  veran- 
lassen mich  einige  Worte  über  die  herrschenden  Methoden  in  der  Volks- 
schule im  allgemeinen  zu  reden.  Fast  alle  methodischen  Anweisungen, 
wie  sie  uns  in  den  Lehrbüchern  der  Seminarien  und  Fortbildungskonfe- 
renzen, in  den  Abhandlungen  der  pädagogischen  Literatur  entgegentreten, 
wurden  auf  konstruktivem  Wege  gewonnen  d.  h.  auf  Grund  von  ge- 
legentlichen, hie  und  da  gemachten  Wahrnehmungen  und  Beobachtungen 
wurden  Regeln,  Forderungen  aufgestellt ,  welche ,  wenn  sie  auch  nicht 
immer  einwandfrei  waren,  in  der  Schulpraxis  realisiert  werden  sollten. 
Dabei  konnten  weniger  die  Leistungen  des  Schulkindes  als  Richtschnur 
gelten  als  vielmehr  Anschauungsweisen  Erwachsener,  welche  in  die  kind- 
liche Arbeitsweise  hineingetragen  und  in  der  Praxis  verglichen  wurden, 
was  wir  deutlich  z.  B.  aus  den  überfüllten  Lehrplänen  ersehen  können. 
Eine  Folge  dieses  konstruktiven  Verfahrens  war  eine  unfruchtbare 
Diskussion  subjektiver  Meinungen,  nach  welchen  jeder  recht  zu  haben 
glaubte  und  die  unsere  ganze  Volksschulmethodik  nicht  ins  beste  Licht 
setzten.  In  neuerer  Zeit  nun  wurden  Versuche  angestellt,  welche  die 
Schüler  einer  Klasse  oder  auch  zu  Hause  unter  ganz  bestimmten  Be- 
dingungen arbeiten  ließen.  Diese  Leistungen  wurden  einer  systematischen 
Beobachtung  unterzogen  und  hieraus  wiederum  vorsichtige  Folgerungen 
gewonnen.  Auf  diese  Weise  will  man  die  Pädagogik  zu  einer  selb- 
ständigen Wissenschaft  mit  eigenem  kinderpsychologischen  Forschungs- 
gebiet erbeben.  Freilich  sind  der  Versuche  noch  wenig  und  die  ganze 
Wissenschaft  noch  jung,  die  Untersuchungen  selbst  recht  mühsam  und 
ihre  Ergebnisse  machen  langsamen  Schritt,  aber  wenn  zahlreiche  Pioniere 
dieses  Neuland  bebauen  wie  in  Karlsruhe  und  neuestens  in  Leipzig,  wie 
in  Zürich  und  Kiel  und  wenn  sich  analog  der  Gesellschaft  der  experim. 
Psychologie  eine  deutsche  Gesellschaft  für  experim.  Pädagogik  gründen 
würde :  dann  stünde  es  bald  in  methodischen  Dingen  anders  ■).    Diese  exp. 


1)  Vortrag  gehalten  in   der  freien  Vereinigxing  der  philos.  Pädagogik  auf  der  deut- 
schen Lehrerversammlung  zu  München  1906. 

2)  Inzwischen   ist   ein  Aufruf  zur   Bildung   einer   „Gesellschaft    für   experimentelle 
Pädagogik"  ergangen. 


—     24     — 

Pädagogik  unterscheidet  sich  also  von  der  alten  dadurch,  daß  sie  eine 
Wissenschaft  vom  arbeitenden  Kinde  also  von  einem  Lernenden  ist  und 
nicht  eine  Wissenschaft  für  die  Lehrenden,  die  ihre  Methoden  mehr  auf 
Grund  der  Spekulation  ausbauten. 

Wie  sich  nun  das  exp.  Verfahren  im  besonderen  gestaltet,  will  ich 
im  Gebiete  des  Aufsatzes  zeigen.  Auf  Grund  der  exp.  Arbeiten:  „Über 
Einzel-  und  Gesamtleistung  des  Schulkindes  von  Dr.  Mayer- Würzburg  ^) 
und  meiner  Untersuchungen  über  die  Hausaufgaben  des  Schulkindes  *) 
kam  ich  zu  der  Frage  nach  der  Qualität  des  Haus-  und  Schulaufsatzes. 
Zu  diesem  Zwecke  ließen  wir  in  einer  4.,  5.,  6.,  7.  Mädchenklasse  und 
in  den  entsprechenden  4  Knabenklassen  Aufsätze  anfertigen,  die  einmal 
in  der  Klasse  und  dann  (dieselbe  Arbeit)  zu  Hause,  oder  erst  da  und 
dann  dort  gefertigt  wurden:  in  einer  Klasse  wurde  der  Aufsatz  vorbe- 
reitet, in  einer  andern  nicht.  Sämtliche  Schüler  gingen  in  die  Würz- 
burger Volksschule. 

Die  allgemeinen  Bedingungen  der  häuslichen  Aufsätze  wie 
das  Verhalten  der  Eltern  und  Geschwister,  der  häuslichen  Arbeitsräume, 
der  häuslichen  Arbeitszeit,  sowie  jene  des  Schulaufsatzes  wurden  in  Be- 
rücksichtigung gezogen  und  werden  bei  entsprechenden  Anlässen  mitge- 
teilt. Um  einen  Maßstab  für  die  Qualität  beider  Aufsatzarten  zu  er- 
halten, stellten  wir  eine  Fehlerskala  in  °/o  auf,  deren  Werte  zwar  will- 
kürlich sind,  aber  mit  unbeugsamer  Konsequenz  an  die  Arbeiten  gelegt 
wurden.  Wir  unterschieden  materielle  und  formelle  Fehler;  die  Summe 
beider  gab  den  Maßstab  für  den  Vergleich  der  Haus-  und  Schulaufsätze. 
In  materieller  Hinsicht  sind  folgende  Fehlerarten  unterschieden  worden: 

a)  das   Fehlen   einzelner   Elemente    oder   Komplexe  d.  i.    der   Buch- 
staben und  Wörter ; 

b)  die  Zutaten  d.  sind  überfl.  B.  u.  W. ; 

c)  Vertauschungen  und  Verwechslungen  von  B.  u.  W. ; 

d)  Verstöße  gegen  die  zeitlichen  Verhältnisse; 

e)  Verstöße  gegen  den  Kasus; 

f)  Herstellung  falscher  Beziehungen; 

g)  Verstöße  gegen  die  objektive  Wahrheit; 
h)  Verfehlungen  des  Ausdruckes ; 

i)  unstatthafte  Wiederholungen. 

In  formeller  Hinsicht  kamen  in  Betracht: 

a)  Verstöße  gegen  Groß-  und  Kleinschreibung; 

b)  falsches  Trennen  oder  Aneinanderschreiben ; 


1)  Engelmann,  Leipzig  1903. 

2)  Engelmann,  Leipzig  1904. 


—     25    — 

c)  Verstöße  gegen  die  Satzzeichen: 

d)  Weglassang  von  Anhängseln  wie  u-Haken  etc.; 

e)  Überschreibungen; 

i)  Verschreibungen  im  Texte. 

Dieses  schematische  Verfahren  kann  nicht  als  geisttötendes,  lebens- 
vemeinendes,  unpersönliches,  nüchtern-berechnendes  bezeichnet  werden, 
denn  gerade  es  führt  uns  zur  soliden  Basis  der  Gesetzmäßigkeiten  kind- 
lichen Seelenlebens,  zeigt  uns  das  "V^'achsen  und  Werden  des  kindlichen 
Geistes  und  ist  die  beste  Quelle  zur  Befriedigung  der  Bedürfnisse  und 
drängender  Lebensfragen  jugendlicher  Seelen.  Und  namentlich  eines 
noch:  es  schützt  uns  vor  allzukühnen  Neuplänen  ohne  solide  psycho- 
logische Grundlage. 

Die  inneren  Bedingungen,  welche  im  Schüler  selbst  liegen,  er- 
schlossen wir  auf  Grund  amtlich  eingeführter  Zensurlisten  und  der  Auf- 
satznoten ev.  eingehenderer  Schülercharakteristiken  durch  den  Klassen- 
lehrer oder  die  Lehrerin.  Man  muß  hier  wohl  unterscheiden  zwischen 
exp.  Psychologie  und  exp.  Pädagogik  insofeme,  als  es  letzterer  im  Massen- 
unterrichte einfach  unmöglich  ist,  die  feinen,  von  zufälligen  Erscheinungen 
losgelösten  individualisierenden  Züge  zu  charakterisieren  und  quellen- 
mäßig zu  benutzen.  Dieser  Mangel  berechtigt  aber  noch  lange  nicht, 
Klassenuntersuchungen  als  solche  für  einen  Pädagogen  als  nicht  lehr- 
reich genug  zu  bezeichnen.  Hauptgesichtspunkt  bleibt  für  den  Päda- 
gogen, daß  unter  normalen  Bedingungen  gearbeitet  wird.  In  diesem 
Punkte  hat  Meumann  ^)  nicht  Recht,  wenn  er  die  gesamte  Individualität 
des  Schülers  (hier  bei  unsem  Versuchen  von  302  Schülern)  ausgiebig 
festgestellt  wissen  will.  Denn  dann  müßte  man  auch  ev.  die  Forde- 
rungen, die  auf  dem  3.  internationalen  Kongreß  für  Psychologie  in 
München  für  exp.  Untersuchungen  aufgestellt  wurden  berücksichtigen,  die 
da  mit  Aschaifenburg,  Kemsies,  Trüper  den  Einfluß  des  Kaffees,  Schlafes; 
Ernährung,  Pausen,  ganze  Gemütsverfassung,  Wille,  Charakter  u.  s.  w. 
auf  die  Leistungen  des  Schülers  bestimmt  wissen  wollten.  Das  geht  für 
unsere  Sache  zu  weit. 

Wir  kommen  nunmehr  zu  den  Versuchsergebnissen  und  diskutieren 
die  Aufsätze  der  IV.  Mädchenklasse.  Am  20.  März  v.  J.  gab  die 
Lehrerin  in  der  Schule  das  Thema:  „Der  Solnhofer  Knabe".  Die  Mäd- 
chen sollten  niederschreiben,  wie  derselbe  die  Solnhofer  Steine  bekannt 
machte.  Diese  Schulleistung,  ein  Ergebnis  des  Unterrichtes  und  des 
Vortrages,  war  ein  Probeaufsatz,  d.  h.  die  Kinder  wußten,  daß  er  be- 
notet wurde  und  großen  Wert  hat  für  ihre  Qualifikation. 


1)  Haus-  und  Schularbeit.     Leipzig.    Elinkhardt  1904. 


26    — 


I.  Tabelle 
der  materiellen  Fehler 
in  der  IV.  Mädchenklasse 


I.  Tabelle 

der  formellen  Fehler 

in  der  IV.  Mädchenklasse 


Fehlerarten 

Haus- 
aufsatz 

Schul- 
aufsatz 

F.  W. 

31,86 

88,50 

U.  W. 

33,92 

88,30 

Wv. 

1,54 

26,46 

Fr.  W. 

13,32 

17,94 

F.  B. 

44,89 

114,69 

U.  B. 

38,24 

95,67 

Bv. 

1,72 

5,97 

Fr.  B. 

59,13 

86,92 

Zf. 

3,95 

12,75 

Kf. 

57,50 

63,92 

F.  Bez. 

3,59 

6,65 

•   Sf. 

8,05 

18,81 

A. 

4,50 

5,13 

W. 

42,24 

44,07 

Haus- 

Schul- 

Fehlerarten 

aufsatz 

aufsatz 

s. 

9,25 

7,73 

vt. 

4,00 

2,32 

ü. 

O.Ol 

0,10 

G.  u.  K. 

16,91 

27,00 

Anh. 

4,60 

3,96 

Zt. 

4,94 

5,01 

Az. 

4,60 

3,95 

I    44,31     I    50,07 

I.  Tabelle 
der  gesamten  Fehlerwerte 
in  der  IV.  Mädchenklasse 


Hausaufsatz 

Schulaufsatz 

388,76 

725,85 

344,45  I  675,78 


Am  28.  März  wurde  genau  derselbe  Aufsatz  als  Hausarbeit  gegeben. 

"Wenn  wir  nach  dieser  Fehlertabelle  die  Hauptziffern  betrachten,  so 
ist  der  Hausaufsatz  sowohl  in  materieller  als  formeller  Hinsicht  quali- 
tativ besser  ausgefallen  als  der  Schulaufsatz,  ein  Ergebnis,  das  sich 
auch  erwarten  läßt.  Greifen  wir  ganz  allgemein  einige  Ziffern  heraus! 
Es  ist  für  diese  Altersstufe  (10  Jahr)  eine  ganz  auffallende  Erscheinung, 
daß  die  Schularbeit  im  Prüfungsgedanken  sowohl  das  Fehlen  von  Ele- 
menten und  Komplexen  als  die  überflüssigen  Zutaten  von  solchen  in 
hervorragender  Weise  begünstigt  gegenüber  dem  Hausaufsatz.  Wenn 
wir  auch  nachweisen  können,  daß  der  Einfluß  des  kindlichen  Gedächt- 
nisses als  ein  durchaus  glücklicher  bezeichnet  werden  muß  nicht  nur 
inbezug  auf  Inhalt,  sondern  auch  auf  Korrektur  durch  die  Lehrerin,  so 
sind  gerade  in  diesem  Falle  die  durch  Prüfungsnoten  veranlaßten  Auf- 
merksamkeitsverhältnisse der  Mädchen  in  Hinsicht  auf  diese  beiden 
Fehlerquellen  nicht  günstig  zu  nennen.  Es  ist  hier  die  ganze  innere 
Willensverfassung,  absichtlich  und  bewußt  gute  Schulaufsätze  zu  machen, 
eine  noch  recht  widerstandsarme,  vom  Prüfungsgefühl  und  Prüfungs- 
stimmung abhängige. 


—    27    — 


Dieser  „Prüfangsdrack''  zeigt  sich  auch  sehr  in  den  Vertauschungen 
von  Buchstaben  und  Wörtern,  in  den  Beschreibungen  objektiv  wahrer 
Tatsachen  in  der  Wiedergabe  zeitlicher  Verhältnisse.  Dagegen  ist  die 
Ausdrucksföhigkeit  der  Mädchen  in  Haus  und  Schule  ziemlich  gleich  gut, 
da  der  Hausaufsatz  fast  durchweg  eine  Reproduktion  der  Schulleistang 
war  incl.  der  da  und  dort  relativ  gleichmäßig  auftretenden  Kasusfehler 
und  unstatthaften  Wiederholungen  von  Wörtern.  Dadurch  zeigt  die 
eigentliche  Stilleistung  ein  großes  Ankleben  an  die  Form,  ein  noch 
nicht  entwickeltes  freies  Schaffen,  keine  selbständige  Darstellung  und 
Verarbeitung  eigener  Gedanken.  Durch  den  Gleichlaut  der  Haus-  und 
Schulaufsätze  ist  für  die  Lehrerin  selbst  eine  gewissenhafte  Vorbereitung 
zu  notieren,  ob  aber  dieselbe  die  schriftliche  Darstellung  kindertümlicher 
Gedanken  förderte,  ist  keine  Frage  bei  solchen  deutlichen  Nacherzählungen. 

Die  Ergebnisse  in  formeller  Beziehung  wurden  nicht  erwartet.  Von 
den  Fehlerarten  sticht  die  Groß-  und  Kleinschreibung  in  der  Schule  un- 
vorteilhaft ab  und  es  wurde  im  ganzen  zu  Hanse  schöner  als  in  der  Prü- 
fungsstunde geschrieben.  Dieser  Aufsatz  als  Nacherzählung  bietet  weiter 
hier  kein  Interesse  und  wäre  eine  andere  Kategorie  von  Aufsätzen,  die 
natürlich  in  der  Klasse  auch  zum  Zuge  kommt,  für  uns  dankbarer.  Im 
übrigen  verdienen  die  Handschriften  der  Mädchen  relativ  volles  Lob. 

II.  TabeUe  II.  Tabelle 

der  materiellen  Fehler  der  formellen  Fehler 

in  der  IV.  Knabenklasse  in  der  IV.  Knabenklasse 


Fehlerarten 


Haus- 


Srhul- 


aufsatz    '    aufsatz 


Fehlerarten 


Haus- 
aufsatz 


Schul- 
aufsatz 


F.  W. 
u.  W. 
Wv. 
Fr.  W. 
F.  B. 
o.  B. 
Bv. 


33,30 
4,32 

7,66 
30.01 
10,26 


22,62 
18,88 

17,16 

17,44 

5,98 


Fr.  B. 

11,18 

11,64 

Zf. 

— 

0,53 

Kf. 

17,66 

16,11 

F.  Bez. 

— 

0,44 

Sf. 

3,70 

1,16 

A. 

1,02 

3,55 

W. 

94,50 

56.67 

S. 

1,98 

0,67 

Vt. 

1.28 

2,40 

u. 

0,48 

1,83 

G.  u.  K. 

13,30 

10,78 

Anh. 

1,98 

0,37 

Zt. 

— 

6,13 

Az. 

— 

1,00 

l    19,02        23,48 

II.  TabeUe 
der  gesamten  Fehlerwerte 
in  der  IV.  Knabenklasse 


213,61  !  172,18 


Hausaufsatz 


Schulaufsatz 


232,63 


195,66 


—    28    — 

Einen  interessanten  Gegensatz  bilden  die  Aufsätze  in  der  IV.  Knaben- 
klasse insoferne,  daß  einmal  der  Hausaufsatz  zuerst  und  der  Probe- 
aufsatz später  gefertigt  wurden  und  zum  andern  das  Thema:  „Der 
schulfreie  Nachmittag"  ohne  jegliche  Vorbereitung  zur  Bearbeitung  stand. 
Der  H.-A.  wurde  am  28.  März  und  der  Sch.-A.  am  2.  April  gefertigt. 
Nach  der  Fehlertabelle  fiel  der  H.  A.  in  materieller  Hinsicht  bedeutend 
schlechter  und  in  formeller  Beziehung  dagegen  besser  aus  als  der  Sch.-A. 
Die  fehlenden  Elemente  und  Komplexe  werden  mit  großer  Wucht  in 
das  Haus  verlegt.  Wir  finden  hierin  eine  Bestätigung  früherer  Unter- 
suchungen und  bezeichnen  diese  Auslassungen  als  typisch-häusliche  Fehler. 
Sie  sind  zurückzuführen  auf  ein  bedeutendes  Nachlassen  der  Aufmerk- 
samkeit, welche  das  Schreiben  kontrollierte;  in  der  Schule  förderte  der 
Erinnerungs-  und  Prüfungsgedanke  die  Konzentration  der  Aufmerksam- 
keit und  verdichtete  sich  zu  einem  vorsätzlich  guten  Arbeiten.  Dies 
macht  sich  besonders  auch  geltend  in  den  objektiven  Schilderungen  der 
jugendlichen  Erlebnisse  dieses  Nachmittages ,  in  einer  kürzeren  und 
präziseren  Gedankenfassung.  Als  typischen  Schulfehler  können  wir  in 
Hinsicht  auf  die  Komplexe  die  überfl.  Zutaten  nennen,  was  wir  auch  in 
unserer  früheren  Arbeit  bereits  aussprachen.  Die  Ursache  liegt  in  einem 
gewissen  Übereifer,  rascherem  Denken  mit  nachkommendem  Nieder- 
schreiben. Dies  zeigt  sich  auch  deutlich  in  der  schulischen  Fehlergruppe 
der  „Fr.  W.".  Eine  gewisse  Stabilität  in  Haus-  und  Schulaufsatz  weisen 
die  Ziff'er  der  fremden  B.  und  der  Kasusfehler  auf.  In  formeller  Hinsicht 
sprechen  für  die  Hastigkeit  der  Schulaufsätze  der  Umstand,  daß  Ver- 
bindung und  Trennung  von  Wörtern  und  Buchstaben  nicht  ordnungs- 
gemäß sich  vollzogen  und  daß  der  Prüfungsaufsatz  im  allgemeinen  formell 
minderwertiger  ist  als  der  Hausaufsatz,  eine  Erscheinung,  die  nicht  in 
der  Praxis  geläufig  ist. 

Nun  zur  spezielleren  Analyse  dieser  Tabelle!  Unter  diesen  32  Ar- 
beiten der  4.  Knabenklasse  befinden  sich  10  Hausaufsätze,  die  qualitativ 
besser  ausfielen  als  ihre  entsprechenden  10  Prüfungsaufsätze,  eine  Tat- 
sache die  bislang  empirisch  noch  nicht  nachgewiesen  wurde.  Wir  geben 
diese  Gruppe  in  einer  besonderen  Tabelle.  Aus  ihr  greifen  wir  3  für 
uns  besonders  günstige  Fälleßheraus.  Es  sind  die  H.  u.  Seh.  der  Schüler 
Nr.  9,  5  und  6. 

Der  Schüler  No.  9  hat  in  seiner  Zensurliste  den  Vermerk :  „Manch- 
mal recht  nachlässig!"  Dies  gilt  für  seinen  Prüfungsaufsatz.  Er  ist 
noch  gut  beanlagt  und  seine  Aufsatznoten  schwanken  zwischen  gut  und 
noch  gut.  Sein  Hausaufsatz  wurde  in  der  von  uns  schon  früher  als 
günstigste  Zeit  festgestellte  Stunde  von  5 — 6  angefertigt  ohne  jedwede 
Störung  und  Mithilfe. 


—    29 


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-     30     — 

Der  Schüler  No.  5  hat  den  Vermerk:  „Nachlässig  bezüglich  der 
Hausaufgaben!  Muß  scharf  kontrolliert  werden."  In  der  Anlage  ist  er 
einmal  gut,  einmal  noch  gut,  im  Aufsatz,  gut  —  mittelmäßig  —  noch 
gut  qualifiziert.  Seinen  Hausaufsatz  fertigte  er  wiederum  von  5 — 6, 
Störungen  kamen  keine  vor  und  geholfen  wurde  ihm  auch  nicht. 

Schüler  No.  6  wurde  in  der  Anlage  mit  III,  II/lII  und  IL  im  Auf- 
satz durchweg  mit  II  zensiert.  Er  fertigte  seinen  Hausaufsatz  von  ^/aß 
bis  V^7,  wurde  nicht  gestört;  sein  Vater  hat  ihm  geholfen.  Diese  3 
Einzelfälle  stützen  sich  auf  den  schon  früher  von  uns  aufgestellten  und 
nachgewiesenen  Satz,  daß  die  Kinder  zu  Hause  besser  arbeiten, 
wenn  sie  vor  allem  Ruhe  und  Zeit  haben  als  in  der  Klasse.  Diesen 
bessern  Ausfall  setzen  wir  nicht  nur  auf  Rechnung  der  in  der  Stille 
besser  arbeitenden  Phantasie,  sondern  auch  des  neue  und  alte  Ideen 
kombinierenden  Verstandes  auf  Grund  eines  intensiveren  Gedächtnisses, 
was  alles  beiträgt  zur  Entfaltung  eines  größeren  Sprachreichtumes  und  einer 
besseren  Stilform.  Einen  Einfluß  hieraufhat  auch  die  Zeitfrage.  Zu  Hause 
arbeitet  der  Schüler,  wenn  er  günstige  Arbeitsbedingungen  hat  mit  einer 
relativ  langen  Arbeitszeit,  in  einem  ihm  bequem  liegenden  Arbeitstempo; 
in  der  Schule  ist  der  Wille  des  Lehrers  bestimmend;  der  Ehrgeiz  in 
der  Masse  beschleunigt  das  Tempo  nicht  immer  zu  Gunsten  der  Qualität 
der  Arbeit;  dazu  kommt  die  große  individuelle  Einzel wirkung  des  Prüfungs- 
gedankens auf  die  ganze  Gemütslage  und  Stimmung,  die  die  intellektuelle 
Frisiche  produktiv  und  qualitativ  herabsetzen  kann;  denken  wir  nur  an 
das  sog.  „Prüfungsfieber". 

Was  uns  aber  die  10  Fälle  des  Besserausfalles  der  Hausaufsätze 
nahe  legen,  ist  der  wohl  zum  erstenmale  ausgesprochene  Gedanke,  ob 
wir  mit  unsern  Schülern  dem  eigentlichen  Ziele  des  Aufsatzunterrichtes, 
flotte  Darstellung  der  Gedanken,  nicht  zweckmäßiger  zusteuern,  wenn 
wir  die  Aufsätze  überhaupt  nicht  vorbereiten.  Die  Ausdrucksfähigkeit 
des  Schülers,  die  Ordnung  des  zeitlichen  Verlaufes  der  Tatsachen,  der 
ganze  kindertümliche  Stil  wurde  hier  quasi  vom  Lernenden  selbst  her- 
ausgetragen und  nicht  wie  in  der  IV.  Mädchenklasse  von  der  Lehrenden 
hineingetragen.  In  den  Arbeiten  der  VI.  Klasse  kommen  wir  darauf 
nochmals  zurück.  Hier  liegen  die  psychologischen  Quellen  für  die  Be- 
gründung der  Anschauungen  eines  Scharelmann  und  aller  ästhetisch-  und 
künstlerisch  wirkend  wollender  Aufsatztheoretiker.  Gerade  diese  müssen 
in  erster  Linie  sich  des  exp.  Verfahrens  bedienen,  wenn  sie  dem  rätsel- 
haften Kindergeiste  dienen  wollen. 

Wir  kommen  jetzt  zu  den  Aufsätzen  der  V.  Mädchenklasse.  Der 
Probeaufsatz  wurde  am  20.  März  und  der  Hausaufsatz  am  26.  März  ge- 
fertigt.    Das  Thema   hieß:    „Das  Grab    des   König   Alarich"    nach   dem 


—    31    — 


IV.  Tabelle 

der  materiellen  Fehler 

in  der  V.  Mädchenklasse 


IV.  TabeUe 

der  formellen  Fehler 

in  der  V.  Mädchenklasse 


Haus- 

Schul- 

Fehlerarten 

aufsatz 

aufsatz 

F.  W. 

28,92 

33,40 

U  W. 

4,14 

18,18 

Wv. 

— 

3,72 

Fr.  W. 

2,00 

5,40 

F.  B. 

19,65 

37,61 

U.  B. 

11,79 

23,36 

Bv. 

1,03 

4,40 

Fr.  B. 

9,70 

14,16 

Zf. 

3,44 

6,44 

Kf. 

13,31 

41,77 

F.  Bez. 

0,40 

1,91 

Sf. 

1,70 

11,42 

A. 

2,30 

14.88 

W. 

21,97 

27.41 

Fehlerarten 


Haus- 
aufsatz 


Schul- 
aufsatz 


s. 

vt. 

ü. 

G.  u. 
Anh. 
Zt. 

Az. 


K. 


16,00 
0,76 
0,01 

2,78 
1,99 
0,87 
0,90 


20,97 
0,68 
0,21 

11,86 
2,40 
5,87 
0,86 


:    23,31     ,    42,85 

IV.  Tabelle 

der  gesamten  Fehlerwerte 

in  der  V.  Mädchenklasse 


120,35  I  244,06 


Hausaufsatz 


Schulanfsatz 


143,66 


286,91 


bekannten  Gedichte  von  Platen,  das  im  Lesebuche  stand.  Die  Haus- 
aufsätze sind  ca.  noch  einmal  so  gut  als  die  Schulaufsätze  ausgefallen 
in  materieller  und  formeller  Hinsicht.  Dieser  materielle  Vorsprung  der 
H.-A.  ist  zum  größten  Teil  dem  glücklichen  Gedächtnis  der  Mädchen  zu- 
zuschreiben, das  nicht  nur  fast  durchweg  den  wörtlichen  Gleichlaut  der 
Pr.-A.  reproduzierte,  sondern  auch  die  mit  roter  Tinte  durch  die  Kor- 
rektur veranlaßte  Verbesserung.  Von  den  40  Haus-  und  Schulaufsätzen 
wurde  z.  B.  der  einleitende  Satz  38  mal  im  Wortlaute  gebracht  und  nur 
2  Schülerinnen  erlaubten  sich  eine  andere  Fassung.  Innerhalb  des  Um- 
fanges  des  Aufsatzes  sind  von  den  40  Aufsätzen  mehr  als  die  Hälfte 
gleich  groß  und  der  Rest  weist  nur  eine  Differenz  der  Wörter  bis  10  inner- 
halb der  Leistung  eines  Schülers  in  Haus  und  Schule  auf.  Einmal  hatte  der 
Schulaufsatz  ausnahmsweise  26  Wörter  mehr  als  der  H.,  was  zugleich  die 
größte  Differenz  war.  Dieser  literarische  Aufsatz  ist  Beispiel  dafür,  wie  jede 
Sprachfreiheit,  jede  Entwickelung  der  Ausdrucksfähigkeit,  jeder  formale 
Fortschritt  kindlicher  Intelligenz  unterbunden  wird.  Er  sinkt  herab  zu 
einer  gewöhnlichen  Abschreibeübung,  wozu  das  Original  im  Gedächtnisse, 
liegt.     Sollte  aber  ein  solcher  Aufsatz  den  Zweck  haben,  die  Kinder  an 


—     32    — 

eine  sprachlich-richtige  Darstellung  zu  gewöhnen,  so  heiße  man  dies 
nicht  Aufsatz,  denn  sein  Zweck  wird  nicht  erreicht.    Die  Tabelle  besagt: 

Durchweg  in  allen  Fehlergruppen  ist  der  Einfluß  des  Gedächtnisses 
für  Wortlaut  und  Korrektur  deutlich  zu  erkennen.  31  Kinder  sind  zu 
Hause  nicht  gestört,  was  auch  als  Vorteil  für  die  H.  nicht  zu  unter- 
schätzen ist;  die  Störungen  der  9  andern  verursachten  keine  geringere 
Qualität  der  H.-A,  als  ihre  entsprechende  Pr.-A.  Einige  Worte  über  das 
Wesen  der  Störungen,  die  von  vielen  Pädagogen  überschätzt  werden. 
Störungen  schlechthin  gibt  es  nicht.  Die  Schulkinder  können  Störungen 
kompensieren,  ja  überkompensieren  und  so  eine  gesteigerte  Arbeitsleistung 
hervorrufen.  Dann  spielt  die  Gewöhnung  an  ungünstige  Arbeitsbedin- 
gungen diese  Rolle,  daß  sie  gegen  ablenkende  Reize  schützt.  Durch 
Gegenüberstellung  von  Hausaufsätzen  eines  und  desselben  Schülers  so 
zwar,  daß  einmal  der  Schüler  gestört  und  dann  nicht  gestört  wurde 
hat  sich  ergebsn,  daß  Hausaufsätze  mit  Störungen  besser  ausfielen  als 
solche  ohne  Störungen.  Auch  die  räumliche  Beschränkung  wirkte  nicht 
verschlechternd  auf  die  Qualität  der  H.-A.  Diese  häusl.  Störungen  sind 
rein  äußerlicher  Art  und  haben  mit  den  psychischen  Störungen  nichts 
gemein. 

Die  verhältnismäßig  hohen  Zahlen  beim  Fehlen  von  Buchstaben  und 
—  weniger  deutlich  bei  Komplexen  charakterisieren  diese  Sorte  wieder 
als  typische  Hausfehler,  wie  die  niedern  Zahlen  der  Zutaten  für  die 
typischen  Schulfehler  sprechen.  Die  hohen  Ziffern  der  Wiederholungen 
von  gleichlautenden  Wörtern  zeigt  die  Unbeholfenheit  in  Darstellung 
eines  leichten  Stiles  und  den  großen  Schlummer  des  Sprachgefühles  ^).  An 
den  Kasusfehlern  ersieht  man  die  Wirkung  der  Korrektur:  besonders  in 
formeller  Hinsicht  ist  die  Tabelle  lehrreich.  Der  Hausaufsatz  ist  schöner 
ausgefallen  als  der  Prüfungsaufsatz,  trotzdem  die  Kinder  auch  im  Schön- 
schreiben Noten  erhielten.  In  einem  einzigen  Fall  fiel  der  Schulaufsatz 
formell  besser  aus.  Die  Schülerin  ist  Repetentin  der  V.  Klasse,  mittel- 
mäßig beanlagt,  hat  im  Aufsatz  die  Noten  4,  2 — 3,  2 — 3,  kam  aus  einer 
Klosterschule;  bei  Fertigung  der  häual.  Arbeit  wurde  sie  unterbrochen, 
indem  sie  einen  Gang  besorgen  mußte;  Arbeitszeit  war  6 — 7  Uhr. 

Wir  kommen  nun  zu  den  Aufsätzen  der  V.  Knabenklasse.  Hier 
haben  wir  es  zu  tun  mit  Aufsätzen,  die  auf  Grund  einer  naturgeschicht- 
lichen Lektion  gewonnen  wurden.  Das  Thema  heißt:  „Die  Bewegung 
der  Ringelnatter".     Der  H.  wurde  8  Tage  nach    dem  Pr.-A.   gefertigt. 


1)  Eine  neue  Untersuchung  soll  zeigen ,  ob  diese  Fehlerart ,  die  der  stilkritische 
Lehrer  vorerst  als  unstatthaft  bezeichnet,  nicht  ihre  Ursache  in  der  kindertümlichen 
Sprache  hat. 


33    — 


V.  TabeUe 
der  materiellen  Fehler 
in  der  Y.  Knabenklasse 


V.  TabeUe 

der  formellen  Fehler 

in  der  V.  Knabenklasse 


Fehlerarten 

Hans- 
aufsatz 

Schul- 
aufsatz 

F.  W. 

10,16  1 

37,16 

ü.  W. 

5,04 

35,80 

Wv. 

4,46 

4,26 

Fr.  W. 

5,96 ; 

27,16 

F.  B. 

27.16  ' 

46,06 

U.  B. 

22,06  ; 

43,22 

Bv. 

3,15 

— 

Fr.  B. 

51,09 

44.41 

Zf. 

—     j 

1,00 

Kf. 

32,68  ! 

33,98 

F.  Bez. 

1.63 

8.96 

Sf. 

2,16 

25,10 

A. 

4,77 ; 

12,83 

W. 

55,05 

54.16 

Fehlerarten 


Haus-     1     Schal- 
aufsatz   I    aufsatz 


225.37  I  374.10 


s. 

10,10 

11.64 

vt. 

3,98 

5,86 

u. 

1.35 

1,21 

G.  u.  K 

17,48 

22,34 

Anh. 

1,66 

1.06 

Zt. 

5,09 

1    11,55 

Az. 

4.15 

1,88 

> 

;    43,81 

55,54 

V. 

Tabelle 

der  genannten  Fehlerwerte 

in  der  V. 

Knabenklasse 

Hausaufsatz 

Schulaufsatz 

269.18 


429.64 


Wie  zu  erwarten  fielen  die  Pr.-A.  bedeutend  schlechter  aus  in  materieller 
und  formeller  Hinsicht.  Dieses  enger  begrenzte  Thema  läßt  genau  die 
Gliederungspunkte  erkennen ,  (Beine,  Bewegung,  Biegsamkeit,  Wirbel, 
Schutz)  nach  welchen  der  Stoff  erarbeitet  wurde.  Wenn  auch  im  all- 
gemeinen durch  die  Natur  des  Stoffes  ein  relativer  Grieichlaut  zu  ver- 
zeichnen ist,  merkt  man  mit  großer  Deutlichkeit,  daß  die  Knaben  in  der 
Umformung  des  Ausdruckes,  Umstellung  der  Sätze,  Anknüpfung  rich-^ 
tiger  Beziehungsverhältnisse,  logischen  Ordnung  der  Gedanken  eine  ge- 
wisse Routine  infolge  stattgehabter  Übungen  aufweisen.  Nach  unseren 
Erfahrungen  ist  von  allen  Volksschulklassen  gerade  die  V.  jene,  welche 
inbezug  auf  Kasusfehler  und  überhaupt  Orthographie  oft  haarsträubende 
Leistungen  aufweist.  Das  zeigen  auch  die  hohen  Fehlerwerte  in  fast 
allen  Fehlerarten.  Diese  Aufsätze  tragen  rein  beschreibenden  Charakter. 
Der  eigentliche  Vorgang  der  Bewegung  der  Ringelnatter  ist  für  diese 
Altersstufe  gerade  nicht  leicht  zu  nennen.  Ein  Schüler  schrieb  ihn  so 
nieder:  „Sie  bewegt  sich  durch  Seitwärtsschlängeln  fort.  Das  Schwimmen 
geschieht  ebenso.  Dazu  braucht  die  Ringelnatter  einen  biegsamen  Körper. 
Die  Wirbelsäule  läßt  sich  besonders  gut  biegen.  Die  Wirbel  sind  durch 
Muskel  verbunden.     Jede  Wirbel  besitzt  eine  Gelenkpfanne,    in  welcher 

Meumann,  Exper.  Pädagogik.    V.  Band.  O 


-     34     — 

sich  der  (lelenkkopf  des  nächsten  Wirbels  dreht.  Die  fehlenden  Glied- 
maßen werden  durch  die  Rippen  ersetzt.  Durch  viele  Muskel  der  Körper- 
wand sind  die  Rippen  leicht  vor-  und  rückwärts  beweglich.  Sie  sind 
unten  nicht  verwachsen  und  abgestumpft.  Die  Rippen  greifen  vor, 
stemmen  sich  ein  und  tragen  den  Körper  vorwärts.  Sie  hat  am  Bauche 
Schuppen,  welche  sie  etwas  aufrichtet,  um  das  Ausgleiten  zu  verhindern." 
Man  darf  wohl  sagen,  daß  diese  Leistung  einem  Präparanden  und  Gym- 
nasiasten auch  Ehre  gemacht  hätte.  Ob  aber  die  Beschreibung  dieses 
Bewegungsvorganges  ein  günstiger  Stoff  für  einen  Aufsatz  ist,  verneine 
ich.  Ich  betone,  Stoff  für  einen  Aufsatz.  Das  kann  er  schon  um 
deswillen  nicht  sein,  weil  ja  die  Knaben  mit  denselben  Worten  in  nahezu 
gleicher  Aufeinanderfolge  arbeiten  müssen,  wozu  ein  spezifisch-stilistisches 
'Moment  gar  nicht  hinzuzutreten  braucht.  Das  Kindertümlich  -  Produk- 
tive fällt  ganz  aus  dem  Rahmen  eines  solchen  Aufsatzes  heraus.  Alle 
Schüler  begannen  fast  überall  gleichlautend  damit,  daß  die  Ringelnatter 
keine  Beine  hat,  beschrieben  den  Bewegungsvorgang  wie  ich  ihn  verlas 
mit  mehr  nur  äußerlichen  Variationen,  indem  ein  oder  mehrere  Worte 
weggelassen  oder  hinzugetan  wurden  oder  auch  ein  Nebensatz  in  Weg- 
fall kam  und  endigten  alle  damit,  daß  die  Bauchschuppen  das  Aus- 
rutschen verhindern.  Nur  zwei  Schüler  von  47  endigten  nicht  mit  dem- 
selben Schlüsse ,  weil  sie  nur  ^/4  der  Beschreibung  darstellten  und  die 
Prüfungsnoten  IV.  bezw.  III — IV  erhielten. 

Die  Schwierigkeit  der  Darstellung  des  Bewegungs Vorganges,  der 
ganz  klare  Vorstellungen  voraussetzt,  läßt  die  vielfachen  Wiederholungen 
in  Schul-  und  Hausarbeit;  die  orthographische  Unsicherheit  dieser  Alters- 
stufe, die  hohen  Werte  der  überflüssigen'  Zutaten  und  auch  der  fehlenden 
Komplexe  und  Buchstaben  erklären;  die  in  Haus-  und  Schule  fast  gleich 
hoch  gebliebenen  Ka>usfehler  geben  beredtes  Zeugnis  dafür,  daß  der 
richtige  Gebrauch  der  Fälle  des  Hauptwortes  den  Knaben  große  Schwierig- 
keiten bereiten,  trotz  der  in  Unterklassen  vielleicht  oft  geübten  Beugung 
des  Hauptwortes  als  solches  und  vielleicht  weniger  als  angewandt  im  Satze. 
Daß  von  den  Schülern  der  Bewegungsvorgang  nicht  allgemein  klar  erkannt 
wurde,  ergibt  der  hohe  Ziffernwert  bei  den  Sachfehlern;  daß  aber  eine 
gründliche  Aufklärung  und  sachliche  Besprechung  der  Probearbeiten 
stattfanden,  dafür  sprechen  ein  kräftiges  Wort  die  sehr  niedern  Fehler 
tei  den  Hausaufsätzen^).  Daß  ferner  auch  auf  Verbesserung  des  Aus- 
druckes hingearbeitet  wurde,  finden  wir  ebenfalls  in  den  Hausaufsätzen 
bestätigt.     Ferner  zeigt  die  Tabelle  sehr  klar,   daß  überflüssige  Zutaten 


1)  Nach  Aussage  des  Klassenlehrers   fand   inzwischen    auch  eine  Wiederholung  der 
naturgeschichtlichen  Lektion  statt. 


—    35     — 

speziell  typische  Schulfehler  sind,  von  denen  sich  die  fehlenden  Kom- 
plexe und  Elemente  als  typische  Hansfehler  abheben,  wenn  auch  nicht 
in  so  scharfer  Weise.  Die  Herausarbeitung  richtiger  Beziehungen  ge- 
lang in  den  Hausaufsätzen  bedeutend  besser.  Ob  diese  Erscheinung  im 
Prüfungsgedanken  oder  aber  im  Gredächtnis  an  die  Korrektur  seinen 
Grund  hat.  wollen  wir  hier  nicht  untersuchen.  Charakteristisch  ist  die 
große  Stabilität  der  Wortvertauschnngen  in  Haus-  und  Schulaufsatz. 
In  formeller  Hinsicht  finden  wir  hohe  Werte  bezüglich  der  Groß-  und 
Kleinschreibung  und  Satzzeichen  in  beiden  Aufsatzarten.  Hinsichtlich 
der  Schrift  sind  in  der  Schule  hauptsächlich  zusammengehörige  Züge 
getrennt  und  zu  Hause  getrennt  vorzutragender  Buchstaben  zusammen- 
gehängt worden.  In  der  Schule  kamen  mehr  Verschreibungen  im  Texte 
vor  als  zu  Hause,  während  Buchstaben  und  Wörter  sowohl  als  wie 
Weglassen  von  Anhängseln  da  wie  dort  ziemlich  gleichmäßig  notiert 
wurden. 

Bei  diesem  Aufsatze  kamen  wir  noch  auf  einen  andern  Gedanken : 
In  der  V.  Klasse  treten  bei  uns  in  Würzburg  die  Realien  mit  ihrem 
großen  Stoffumfang  gebieterisch  in  den  Lehrplan. 

Unsere  Lehrordnung  verlangt:  ^Die  Aufsatzübungen  dürfen  keine 
gesonderte  Stellung  im  Unterrichte  einnehmen  und  etwa  fremde,  be- 
ziehungslose Stoffe  behandeln ,  sondern  sie  müssen  mit  dem  gesamten 
Unterrichte,  namentlich  mit  dem  Sachunterrichte  in  engstem  Zusammen- 
hange stehen  und  mit  dem  Schnlleben  in  Verbindung  gesetzt  werden. 
Vorzugsweise  sind  Aufgaben  zu  wählen,  bei  welchen  die  Kinder  Selbst- 
erlebtes ,  auf  eigener  Erfahrung  und  Beobachtung  Beruhendes  —  be- 
richtigt und  erweitert  durch  den  Unterricht  —  darzustellen  haben". 
(S.  56).  Wir  müssen  für  den  Aufsatz  auf  Grund  der  Erfahrungen  in 
den  V.  Mädchen-  und  Knabenklassen  vor  einem  Ausnützen  eines  streng- 
realistischen Stoffes  zu  Aufsatzzwecken  warnen ;  was  dabei  für  den 
eigentlichen  Stil  herausspringt  haben  wir  gesehen.  Wenn  wir  ferner 
den  Status  quo  des  grammatikalischen  und  orthographischen  Wissens 
eines  Schülers  der  V.  Klasse  berücksichtigen  und  betonen,  wie  schwierig 
es  ist,  richtige  Anwendung  desselben  bei  Einkleidung  des  realistischen 
Stoffes  zu  finden,  dann  lasse  man  lieber  die  Finger  von  diesem  unreifen 
Produkt  und  führe  es  durch  fleißigen  mündlichen  Vortrag  zur  Reife. 
Dies  gilt  insbesondere  auch  für  die  erdkundlichen  Themata. 

Die  Tatsache  —  ich  erfahre  sie  heuer  wieder  von  neuem  und  andere 
Kollegen  bestätigten  mir  sie  —  daß  die  aus  der  Volksschule  zu  ent- 
lassenden Schüler  noch  recht  unbeholfen  im  sprachlichen  und  schrift- 
lichen Ausdruck  sind,  hat  im  bisherigen  Aufsatzbetriebe  einen  seiner 
gewichtigen  Gründe.     Wenn  wir  ferner  bedenken,  daß  solche  mangelnde 

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—     37    — 

Aufsatzleistungen  eine  wesentliche  Förderung  in  unsern  Sonntags-  und 
Fortbildungsschulen  nicht  erfahren,  dann  müssen  wir  heute  mit  Sorge 
um  die  Aufsatzraethodik  und  Ausdruckergiebigkeit  unserer  Volksschule 
bezw.  Volksschüler  erfüllt  sein.  Nach  eingehender  Analyse  dieser 
Fehlertabelle  sind  unter  47  Arbeiten,  die  zu  Hause  gefertigt  wurden, 
sieben,  welche  qualitativ  besser  ausfielen  als  ihre  entspr.  Probeaufsätze 
in  der  Schule,  was  aus  einer  Spezialtabelle  ersichtlich  war.  Wir  be- 
sprechen wieder  die  8  günstigsten  Fälle.  Im  ersten  Falle  verhalten 
sich  die  H:  Seh  wie  8:2,3:  im  zweiten  wie  12,32:4,62  und  im  dritten 
wie  16,49:6,93. 

Schüler  No.  5  hat  den  Vermerk  im  1.  Schuljahre  „eifrig,  aber  sehr 
unbeholfen",  im  2.  „ein  Muttersöhnchen'*.  Er  ist  gut  beanlagt  und  hat 
die  Aufsatznote  gut.  Seinen  H. -Aufsatz  hat  er  nicht  auf  einmal  fertig 
gemacht,  sondern  in  der  Zeit  von  2 — b^.  Dabei  hat  er  sein  Konzept 
vom  Probeaufsatz  benutzt.  In  der  langen  Arbeitszeit  hat  er  Gränge 
besorgt;  dann  in  der  Küche  geschrieben,  wo  ihn  die  Mutter  öfters 
fragte. 

Schüler  Ko.  5  hat  den  Vermerk  im  4.  Schuljahre:  „Blutarm,  darum 
schläfrig  und  teilnahmslos".  In  der  Anlage  hat  er  II— III  im  Aufsatz 
2 — 3  und  2.  Seinen  Hausaufsatz  hat  er  in  der  Zeit  von  V26 — V*^  S^' 
fertigt,  gestört  wurde  er  nicht. 

Schüler  No.  1  kam  zu  Anfang  des  Schuljahres  aus  einer  klöster- 
lichen Schule.  In  Anlage  und  im  Aufsatze  ist  er  mittelmäßig  zensiert. 
Er  arbeitete  zuhause  von  6 — 7  und  ist  während  der  Arbeit  unterbrochen 
worden. 

Der  Hausaufsatz  des  l.  Schülers  (No.  5)  unterscheidet  sich  von  dem 
Probeaufsatz  in  materieller  und  formeller  Beziehung.  Materiell  zeigt 
der  H.-A.  durch  die  Verschiedenartigkeit  der  Fehlerarten  einen  Haus- 
arbeiter, der  offenbar  im  Zustand  einer  gewissen  Indifferenz  arbeitete, 
ohne  Arbeitsernst  und  Vorsatz,  was  man  sonst  unter  dem  Ausdruck 
„Bummler"  zusammenfaßt.  Dagegen  zeigt  die  Schulleistung,  abgesehen 
von  einem  Feblerwert,  keinen  andern  auf. 

Seine  Aufmerksamkeitsverhältnisse  waren  hier  offenbar  konzentriert, 
vielleicht  durch  den  Prüfungsgedanken  oder  sonst  wie.  Formell  war 
der  H.-A.  tadellos.  Er  nahm  sich  vor ,  schöne  Formen  zu  schreiben, 
während  diese  in  der  Schule  ein  wenig  entgleisten. 

Der  H.-A.  des  2.  Schülers  No.  1  ist  nahezu  dreimal  so  schlecht,  als  der 
Pr.-A. :  Hier  fällt  ebenfalls  die  materielle  Seite  sehr  tief  in  die  Wag- 
schale. Diese  schlechte  Leistung  wurde  ohne  äußere  Störung  vollbracht. 
Die  innere  Verfassung  der  Teünahmlosigkeit  und  Schläfrigkeit  scheint 
der    Grund   zu    sein.     Es   gibt   solche   energielose,    hinträumende,    aller 


—     38    — 

Pflicht  bare  Hausarbeiter,  die  aber  durch  äußere  Anlässe  wie  z.  B. 
eine  Prüfung  sich  nach  der  Seite  des  Willens  hin  zusammenraffen 
können  und  ganz  gute  Leistungen  vollbringen  wie  der  Pr.-A.  aufweist. 
Formell  wurde  in  H.  u.  Schule  fast  gleich  gut  und  hübsch  gearbeitet. 

Der  H.-A.  des  3.  Schülers  No.  7  ist  mehr  als  2^/4  mal  so  gering  als 
der  Pr.-A.  Der  Klassenlehrer  hat  seine  Schüler  5  Jahre  und  diesen  hier 
inbetracht  kommenden  erst  ein  ^n  Jahre  in  der  Schule.  Dieser  Umstand 
spielt  gewiß  eine  Rolle,  wenn  wir  die  fast  in  jeder  Rubrik  notierten 
Fehler  ansehen,  doch  ist  der  gute  Ausfall  des  Pr.-A.  ein  Beweis  dafür, 
daß  auch  ein  mittelmäßig  beanlagter  und  benoteter  Schüler  aus  Vorsatz 
relativ  gute  Leistungen  hervorbringen  kann.  Im  allgemeinen  wollen 
wir  festhalten,  daß  H.-A.  schlechter  als  ihre  entspr.  Pr.-A.  ausfielen 
und  daß  wir  nicht  so  ohne  weiteres  Urteile  über  häusliche  und  schulische 
Leistungen  abgeben  dürfen,  auch  dann  nicht,  wenn  letztere  Prüfungs- 
arbeiten waren. 

Wenden  wir  uns  jetzt  den  Haus-  und  Schulaufsätzen  der  VI. 
Knabenklasse  zu.  Diese  Arbeiten  machten  uns  aus  2  Gründen  die  sonst 
sehr   langweilige  Korrektur    angenehm,    einmal   wegen    der  Originalität 


VI.  Tabelle 

der  materiellen  Fehler 

in  der  VI.  Knabenklasse. 


VI.  Tabelle 

der  formellen  Fehler 

in  der  VI.  Knabenklasse. 


Haus- 

Schul- 

Fehlerarten      '■ 

aufsatz 

aufsatz 

F.  W. 

11,46 

12,88 

U.  W. 

2,00 

11,80 

Wv. 

2,00 

4,82 

Fr.W. 

1,48 

3,80 

F.  B. 

29,90 

31,55 

U.  ß. 

19,34 

14,93 

Bv. 

4,22 

1,10 

Fr.  B. 

14,61 

35,18 

Zf. 

— 

1,40 

Kf. 

16,49 

23,46 

F.  Ber. 

— 

0,43 

Sf. 

— 

1,81 

A. 

1,60 

1,43 

W. 

30.32 

38,95 

133,42 

183,54 

Fehlerarten 


Haus- 
aufsatz 


Schul- 
aufsatz 


s. 

8,87 

8,89 

Vt. 

3,33 

2,30 

u. 

1,23 

0,62 

G.  u.  K. 

6,88 

10,54 

Anh. 

3,04 

2,36 

Zt. 

3,96 

10.85 

Az. 

0.85 

1.78 

t    28,16     i    37,34 

VI.  Tabelle 
der  gesamten  Fehlerwerte 
in  der  VI.  Knabenklasse. 


Hausaufsatz 


Schulaufsatz 


161,58 


220,88 


—    39    — 

des  Themas:  „Warum  ich  lachen  mußte''  und  zum  andern  deswegen, 
weil  kein  Aufsatz  vorbereitet  war.  Zugleich  ist  zu  vermerken,  daß 
zwischen  Pr.-A.  und  H.-A.  die  17\/2tägigen  Osterferien  dazwischen  lagen. 
Ersterer  wurde  am  5.  März  ,  letzterer  am  25.  April  geschrieben.  Im 
ganzen  waren  es  36  Schüler.  Sie  mußten  lachen  über  lustige  Akte  im 
Theater,  über  ein  Zwiegespräch  zwischen  einem  Münchner  und  Berliner, 
über  Max  und  Moritz,  Maskenzüge,  über  Mehlklöße,  über  Marktgespräche, 
komische  Dinge  bei  einer  Hochzeitsfeier,  eine  Episode  des  Kriegsministers 
Asch  mit  einem  Wachposten ,  über  eine  Geschichte  von  10  kleinen 
Negerlein,  auch  das  Lied:  „0,  Susanna^  und  „trinken  mr  no  a  Tröpfle 
aus  dem  klene  Henkeltöpfche"  gaben  Stoff  zum  Lachen.  Die  Frische  der 
kindlichen  Sprache,  die  Drolligkeit,  aber  auch  die  Aufrichtigkeit  der  Aus- 
führungen verursachten  in  meinem  eigenen  häuslichen  Kreise  beimYorlesen 
große  Heiterkeit.  Eine  Probe:  Als  ich  vor  ein  paar  Wochen  auf  die 
Straße  ging,  begegnete  mir  ein  Schulkamerad  und  erzählte  mir  folgende 
Geschichte.  Einst  saßen  ein  Bayer  und  ein  Berliner  in  einer  Wirtschaft. 
Da  plötzlich  richtete  sich  der  Berliner  auf  und  sprach:  Bei  uns  in 
Berlin  haben  sie  einem  Bayern  das  Herz  herausgenommen,  entfettet, 
gereinigt,  wieder  eingesetzt  und  jetzt  kann  er  wieder  saufen!"  Den 
andern,  der  selber  ein  Bayer  war,  verdroß  diese  Rede  nicht  wenig. 
Dann  fing  er  auch  an  zu  reden  und  sprach:  „Dös  is  gar  nichs,  bei  uns 
in  Münke  haben  sie  einen  Berliner  die  Ohren  5  Zentimeter  weiter  nach 
hinten  gesetzt,  damit  er  das  Maul  weiter  aufreißen  kann.''  Darüber 
mußte  er  lachen.  Wie  diese  Art  von  Aufsätzen  die  kindliche  Courage 
hinsichtlich  der  Darstellung  urwüchsiger  Ausdrücke  hervorlockt,  sagt 
diese  Erzählung :  Der  Kriegsminister  von  Asch  war  auch  bei  dem 
Kriege  1870/71 .  dabei.  Als  er  am  22.  Januar  1871  nachts  einen  Brief 
an  den  Grafen  Moltke  abgeben  mußte,  rief  ein  bayrischer  Vorposten: 
„Haiti  wer  da?"  denn  der  Vorposten  meinte,  es  wäre  ein  Franzose. 
Aber  dem  Kriegsminister  sein  Pferd  war  im  größten  Galopp  uud  konnte 
nicht  gleich  stehen  bleiben,  er  ritt  weiter.  Nun  aber  schrie  der  Vor- 
posten noch  einmal  „Halt,  wer  da?"  Jetzt  wollte  der  Vorposten  schon 
schießen,  aber  der  Kriegsminister  schrie:  „Halts  Maull  Saudununer 
Kerl!"  Als  dieses  der  Vorposten  hörte,  schoß  er  nicht.  Als  der 
Kriegsminister  von  Asch  am  andern  Tag  wieder  zurückkam ,  kam  er 
auch  zu  dem  Vorposten  und  fragte  ihn,  warum  er  denn  nachts  so  ein 
Geschrei  mache  und  warum  er  nicht  geschossen  habe.  Der  Vorposten 
sagte:  „Herr  Kriegsminister,  weil  sie  gesagt  haben:  „Halts  Maul,  sau- 
dummer Kerl!"  An  ihrer  Stimme  erkannte  ich,  daß  Sie  ein  Bayer 
sind.  Ahnlich  waren  die  eigenen  Beobachtungen  der  Schüler  auf 
dem    Stadtmarkte    in    Würzburg,    wo    eine    Butterverkäuferin    darüber 


-     40     — 

ärgerlich  wurde,  weil  eine  Kundin  zu  viel  versuchte  und  nichts  kaufte 
und  andere  originelle  Gassenerlebnisse.  Aus  der  Fehlertabelle  geht  im 
allgemeinen  hervor ,  daß  der  Einfluß  der  Osterferien  auf  die  Qualität 
der  H.-A.  einen  die  Pr.-A.  überschlagenden  Fehlerwert  nicht  erfahren 
hat,  denn  materiell  und.  formell  fielen  jene  besser  aus  als  diese.  Die 
sehr  hohen  Werte  in  den  Wiederholungen  in  H.  und  Seh.  sind  aus  dem 
Bestreben  des  Lehrers  zu  erklären,  die  Schüler  zu  einer  logischen  Auf- 
einanderfolge der  Gredanken  zu  zwingen.  Um  keine  falschen  Beziehungs- 
wörter zu  gebrauchen  —  und  diese  Fehlergruppe  ist  so  gut  wie  nicht 
hier  verzeichnet  —  sind  die  Schüler  gewöhnt,  ein  und  dasselbe  Wort 
in  2  auch  in  3  Sätzen  zu  wiederholen.  So  kommt  es,  daß  erst  das  eine 
und  dann  das  andere  Wort  dieselbe  Häufung  durchmacht ,  welche  den 
ganzen  Aufsatz  durchziehen  und  gerade  nicht  wohlgefällig  wirken  ^). 
Alsdann  kommen  die  Verstöße  gegen  fremde  Buchstaben,  was  mit  der 
oft  schwierigen  Schreibweise  jener  Wörter  zusammenhängt,  die  zwar  in 
den  täglichen  Erlebnissen  der  Schüler  eine  Rolle,  aber  nicht  in  der 
Schule  eine  solche  spielen.  Ich  meine,  das  ist  ein  Fingerzeig  dafür,  daß 
wohl  in  der  Schule  oft  Dinge  behandelt  werden  ,  die  viel  zu  wenig  mit 
dem  praktischen  Leben  in  Verbindung  stehen,  und  darum  hilft  sich  der 
Schüler  einfach  mit  akustischen  Wortbildern,  ungekümmert  um  das,  was 
die  Orthographie  dazu  sagt.  Sobald  aber  durch  die  Korrektur  er  das 
richtige  Wortbild  sieht,  dann  fallen  die  Fehlerwerte  rapid  von  35,18 
auf  14,61.  Das  wäre  eine  dankbare  Aufgabe  für  sich  und  namentlich 
für  den  Psychologen  wertvoll,  inweit  die  Schüler  die  viel  eindringlicheren 
roten  Korrekturzeichen  merken  und  wie  dadurch  der  qualitative  bessere 
Ausfall  in  die  Erscheinung  tritt.  Was  korrigieren  die  Lehrer  alljährlich 
in  ihren  Heften,  was  ist  der  tatsächliche  Eifekt  davon?  Hier  in  unserm 
Falle  ist  er  bedeutend  und  durchgehends  zeigt  er  seine  Wirkungen  neben 
andern  Faktoren.  Die  Kasusfehler  fallen  auch  hier  wiederum  sehr  ins 
Gewicht;  die  überflüssigen  Komplexe  charakterisieren  sich  als  typische 
Schulfehler  im  Gegensatz  zu  jenen  in  den  Hausaufsätzen.  Sehr  lehr- 
reich ist  diese  Tabelle  hinsichtlich  der  Stilfehler  :  Ausdruck  und  Sach- 
fehler. Innerhalb  all  der  sprachlichen  Inkorrektheiten  leuchten  ihre 
niedern  Fehlerwerte  intensiv  hervor.  Klare  Vorstellung  über  objektive 
Dinge  zeigen  diese  H.-A.  durchweg  und  die  Pr.-A.  nahezu.  Damit  ist 
sehr  viel  gewonnen,  wenn  der  rechte  Name  die  Sache  richtig  deckt,  denn 
in  dieser  Übereinstimmung  oder  jener  der  Vorstellungen  unter  sich  liegt 
das  Wesen  der  Wahrheit,   welcher  die  Schule  in  erster  Linie  zu  dienen 


1)  Vgl.  Schmidt,  Experimentelle  Untersuchungen  über  die  Hausaufgaben  des  Schul- 
kindes.    1904     Leipzig.     Engclmann  S.  98. 


—    41     — 

hat.  Die  Fähigkeit  der  Schüler  diese  Wahrheit  auszudrücken  ist  das 
Ziel  des  Aufsatznnterrichtes  nnd  diesem  Ziele  wahrlich  kommen  die 
freien,  kindertümlichen  und  unvorbereiteten  Haus-  und  Schulaufsätze 
in  den  Ziffern  1,60  bezw.  1,43  sehr  nahe.  Und  wenn  Wahrheit  Leben 
ist,  dann  lasse  man  aufleben  den  kindlichen  Geist  in  diesen  Aufsätzen 
mit  ihrem  Kinderzauber  und  glücklichem  Stil.  Rein  formell  fielen  die 
H.-A.  besser  als  die  Pr.-A.  aus.  Zur  genaueren  Analyse  dieser  Tabelle 
ist  folgendes  zu  sagen:     (VII.  Spezialtabelle  siehe  S.  42). 

Von  36  Arbeiten  zu  Hause  sind  6  schlechter  ausgefallen  als  ihre 
entsprechenden  Pr.-A.  Wir  besprechen  davon  wiederum  die  H.-A.  der 
Schüler  Nr.  6,  3  und  2.  Die  Werte  verhalten  sich  jeweils  wie  12,40  :  9,29; 
12,21 :  10,67  und  7.91 : 6,68  sie  sind  demnach  ziemlich  konstant  in  ihren 
Differenzen. 

Schüler  No.  6  hat  folgende  Vermerke:  Im  2.  Schuljahre:  Ist  von 
schwächlicher  Körperkonstitution.  Er  kränkelt  häufig.  Dies  hemmt 
den  Fortgang  im  ünterrichtserfolge.  Muß  die  4.  Klasse  repetieren.  Im 
Rechtschreiben  gehts  gar  nicht.  Er  verwechselt  heute,  was  er  gestern 
recht  zu  machen  wußte.  Hat  für  die  falsch  geschriebenen  Wörter  kein 
Unterscheidungsvermögen.  Im  Fleiß  ist  er  mit  11,  im  Aufsatz  mit  III 
benotet.  Sein  H.-A.  wurde  von  3 — ^1-24:^  im  Wohnzimmer  allein  am 
Tisch  gefertigt.  Mit  45  Worten  schrieb  er ,  wie  ein  Neger  in  der 
Schule  sang.  Sein  korrespondierender  Pr.-A.  enthielt  132  Wörter; 
fügte  noch  eine  Erzählung  bei,  die  davon  handelte,  wie  sein  Bruder  in 
Himmelspforten  bei  Würzburg  über  den  Main  einen  Stein  warf  und  da- 
bei einen  tollen  Sprung  machte,  worüber  er  auch  lachen  mußte.  Die 
Erzählung  von  dem  Neger  wurde  hier  mit  13  Worten  erweitert. 

Schüler  No.  3  hat  im  3.  Lebensjahre  den  Vermerk:  „Sehr  teil- 
nahmslos im  Unterricht."  Anfangs  wurde  er  in  der  Anlage  mit  II — III, 
später  mit  III — IV  zensiert:  sein  Fleiß  ist  mittelmäßig,  seine  Aufsatz- 
leistungen gut.  Arbeitete  zuhause  [in  Gegenwart  seiner  Mutter  und 
seines  Bruders,  welche  ihn  störten;  einmal  wurde  er  unterbrochen;  Ar- 
beitszeit von  4 — ^/45^.  Sein  88  Wörter  umfassender  H.  -  A.  beschrieb 
einen  Maskenzug,  der  durch  Würzburg  zog.  Über  einen  tanzenden 
Bären  mußte  er  lachen ,  weil  er  wie  eine  Ente  wackelte.  Der  Probe- 
aufsatz hatte  eine  Erweiterung  von  53  Wörtern. 

Schüler  No.  2  ist  „mäßig  begabt,  aber  sehr  willig  xmd  fleißig.  Im 
einem  46  Worte  umfassenden  H.-A.  erzählte  er,  wie  ein  Fräulein  aus 
der  Straßenbahn  herausfiel,  worüber  die  Leute  und  er  auch  lachen 
mußten.  Diese  Arbeit  ist  ohne  Störung,  im  Beisein  seiner  Schwester 
von  3 — 4''  gefertigt  worden.  In  seinem  74  Worte  umfassenden  Pr.-A. 
erzählte   er,  wie   freche    Knaben  den   Zylinderhut   eines   Studenten  mit 


42 


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Formelle : 

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—     43    — 


kleinen  Steinen  und  Hölzchen   am  Faschingstage  bewarfen  nnd  mit  dem 
Rand  des  Hntes  davonliefen. 

Wir  kommen  jetzt  zu  den  Aufsätzen  der  VI.  Mädchenklasse. 


Vin.  Tabelle 

der  materiellen  Fehler 

in  der  VI.  Alädchenklasse. 


VIII.  TabeUe 

der  formellen  Fehler 

in  der  VI.  Mädcbenklasse. 


Fehlerarten 

Haus- 
aufsatz 

Schul- 
aufsatz 

F.  W. 

15.16 

13,99 

Ü.  W. 

2,72 

6.86 

Wv. 

— 

4,72 

Fr.  W. 

2,58 

5,56 

F.  B. 

23,72 

36.11 

o.  B. 

7,98 

5,73 

Bv. 

1,88 

2,65 

Fr.  B. 

12,19 

13,10 

Zf. 

1,25 

4,23 

Kf. 

8,68 

26,83 

F.  Bez. 

1,33 

1,24 

Sf. 

3,15 

4,22 

A. 

3,59 

7,35 

W. 

5,99 

814 

Fehlerarten 


Haus- 
aufsatz 


Schul- 
anfsatz 


90.22       140,73 


s. 

18,73 

17,66 

Vt. 

0,93 

0,43 

u. 

0,06 

— 

G.  u. 

K. 

3,80 

2,48 

Anh. 

0,41 

0,53 

Zt. 

4,36    1 

5,06 

Az. 

6.16    ; 

1,67 

34.45 

27,83 

VUI. 

Tabelle 

dei 

•  gesamten  Fehler 

in  der  VI. 

Mädchenkla 

sse. 

Hausaufsatz 

! 

Schulaufsatz 

124,67 


168,56 


Auch  diese  Arbeit  gehört  zu  den  freien  Aufsätzen.  An  einem 
Mittwoch  war  ein  Schneesturm,  so  daß  die  Kinder  ganz  zuhause  blieben. 
Diese  Gelegenheit  benützte  die  Lehrerin  und  gab  ohne  jegliche  Vor- 
bereitung denH.-A. :  „Ein  Stündchen  am  Fenster  meines  Wohnzimmers." 
Materiell  sind  'die  Hausaufsätze  und  formell  die  Schulaufsätze  besser 
ausgefallen.  Erstere  wurden  am  26.  März ,  letztere  am  17.  März  ge- 
fertigt. Hier  zeigt  sich  bei  den  Kasusfehlern  der  Einfluß  der  roten 
Tinte  recht  deutlich,  während  die  fehlenden  Komplexe  und  Elemente, 
die  überflüssigen  Zutaten  in  Haus-  und  Schularbeit  mehr  einen  ver- 
schwommenen Charakter  annehmen.  Die  Ausdracksfähigkeit  dieser 
Klasse  sticht  durch  die  verhältnismäßig  niedern  Stilziff'ern  günstig  von 
den  übrigen  sprachlichen  Inkorrektheiten  ab.  Von  den  39  Hausauf- 
sätzen sind  11  qualitativ  besser  ausgefallen  als  die  zuerst  gefertigten 
und  entsprechenden  Schulaufsätze.  Wir  stellen  diesmal  nur  die  3  gra- 
vierendsten  Fälle   dar:    im  ersten   FaUe   ist   das    Fehlerverhältnis    von 


—     44     — 


H  :  Seh    =   4,82  :  0,02 ;    im    zweiten    wie    4  :  0,83    und    im    dritten    wie 
7,27  :  3.52. 

IX.  Spezialtabelle  über  drei  bevorzugte  Hausaufsätze 
in  der  VI.  Mädchenklasse. 
A.  Hausaufsätze.  B.  Prüfungsaufsätze. 


Fehlerarten 


I.    Materielle : 

F.  W. 

1,20 

2,00 

3,84 

U.W. 

Wv. 

Fr.  W. 

F.  B. 

0,60 

0,50 

0,86 

U.  B. 

0,43 

Bv. 

Fr.  B. 

1,00 

0,43 

Zf. 

0,50 

Kf. 

0,43 

F.  Ber. 

Sf. 

0,43 

A. 

W. 

0,60 

IL    Formelle : 

S. 

1,80 

0,33 

vt. 

0,02 

0,04 

u. 

G.  u.  K. 

Anh. 

0,05 

Zt. 

0,43 

Az. 

0,60 

III.    Gesamtwerte         4,82      4,00    j  7,27 


0,52 

0,52 

1,04 

0,66 

0.52 

0,02 

0,22 

0,39 
0,01 

0,52 

0,02     I  0,88    i  3,52 


Schülerin  No.  1  ist  in  Fleiß  und  Aufsatz  mit  I  gezeichnet.  Zum 
Hausaufsatz  schrieb  sie  folgendes  hinzu :  „Diesen  Aufsatz  fertigte  ich 
zwischen  o — 7  Uhr.  Durch  das  Spielen  meiner  Geschwister  wurde  ich 
hie  und  da  etwas  gestört.  Ich  schrieb  am  Tische  im  Wohnzimmer. 
Meine  elterliche  Wohnung  besteht  aus  3  Zimmern  und  einer  Küche." 
Der  Probeaufsatz  wurde  mit  Note  I  zensiert.  Diese  beiden  Aufsätze 
haben  je  1 66  Wörter  und  eminenten  gegenseitigen  Gleichlaut ;  nur  einige 
wenige  Ausdrücke  sind  verändert  worden.  Nach  den  auch  mündlich  ge- 
pflogenen Untersuchungen  haben  wir  hier  einen  Fall,  wie  Hausaufgaben 
durch  psychische  Störungen  qualitativ  leiden  und  ersehen  aus  dem 
Gleichlaut  die  hohe  Bedeutung  des  kindlichen  Gedächtnisses. 


—    45    — 

Schülerin  No.  2  ist  gut  beanlagt,  in  Fleiß  vorzüglich  und  im  Auf- 
satz mit  I — II  zensiert.  Zum  H. -A.  wurde  notiert:  Diesen  Aufsatz 
fertigte  ich  zwischen  4 — 6  Uhr.  Bei  der  Anfertigung  dieses  Aufsätzchens 
wnrde  ich  nicht  das  Geringste  gestört.  Ich  schrieb  am  Fenster  unserer 
Küche.  Unsere  Wohnung  besteht  aus  drei  Zimmern  und  einer  Küche." 
Offenbar  ist  hier  von  der  Schülerin  das  Nichtvorhandensein  rein  äußer- 
licher Störungen  gemeint ,  die  keineswegs  eine  Besserung  oder  Ver- 
schlechterung der  Qualität  im  Gefolge  haben  müssen.  Trotz  der  langen 
häuslichen  Arbeitszeit  fiel  der  H.-A.  umfänglich  geringer  aus  als  der 
Pr.-A.  (195:221).  Auffallend  ist  wiederum  der  riesige  Gleichlaut  beider 
Arbeiten ;  nur  wurde  zuhause  der  eine  oder  andere  Gedanke  nicht  dar- 
gestellt. Beim  H.-A.  wurden  ganz  besonders  die  im  Pr.-A.  korrigierten 
Verbalzeiten  richtig  wiedergegeben. 

Schülerin  No.  3  ist  mittelmäßig  beanlagt,  in  Fleiß  und  Aufsatz  mit 
II  gezeichnet.  Zum  H.  -  A.  schrieb  sie :  „  Diesen  Aufsatz  fertigte  ich 
zwischen  8  und  9  Uhr.  Durch  dem  Pfiff  der  Lokomotive  wurde  ich 
gestört.  Ich  schrieb  am  Küchentisch.  Meine  elterliche  Wohnung  besteht 
aus  2  Zimmern  und  einer  Küche."  Der  H.-A.  ist  bedeutend  umfang- 
reicher als  die  Sch.-A.  Zugaben  waren  Betrachtungen  über  das  Sonnen- 
licht, über  das  Herabfallen  dichter  Schneeflocken,  ein  Straßenbild  von 
bahnbrechenden  Schnee schauflem  und  von  mit  Schirmen  überspannten  Pas- 
santen. Man  ersieht  hieraus,  daß  die  ausmalende  Schilderung  durch  die 
unmittelbare  Anschauung  lebhafter  ist  als  jene  nur  durch  Erinnerungs- 
vorstellungen hervorgerufene.  Diese  Tatsache  ist  gewiß  ein  Grund  da- 
für, daß  unter  Umständen  der  H.-A.  mehr  Bedeutung  haben  kann  als 
der  Sch.-A. 

Wir  gehen  jetzt  zu  den  H.-A.  der  VII.  Mädchenklasse  über.  Am 
17.  März  hatten  die  Kinder  den  Probeaufsatz :  ;,Des  Menschen  Leben 
gleicht  einem  Flusse:"  am  18.  März  war  derselbe  H.-A.  zu  fertigen. 
Im  allgemeinen  ersehen  wir  aus  der  Fehlertabelle  eine  relativ  gleich 
gute  Qualität  beider  Arbeiten  in  Haus  und  Schule.  Angefangen  von 
der  Quelle  des  Flusses  bis  zum  Meer  der  Ewigkeit  werden  Vergleiche 
gezogen  zwischen  Fluß  und  Menschen.  Durch  die  Natur  des  Stoffes  ist 
eine  Gliederung  durchweg  zu  erkennen.  In  der  Konstruktion  der  Sätze 
jeder  einzelnen  Schülerin  in  Haus  und  Schule  herrscht  eine  gewisse 
Freiheit  der  Sprache ,  losgelöst  vom  Gebundensein  an  die  Form.  Der 
Vergleich  stützt  sich  auf  folgende  Punkte :  Quelle  —  hilfloses  Geschöpf: 
Zuflüsse  —  körperliche  und  geistige  Nahrung;  Arbeiten  da  wie  dort: 
Hindernisse  auf  beiden  Seiten;  Mündung  —  Tod.  Bei  Vergleichung  der 
Haus-  und  Schulaufsätze  hält  die  Qualität  beider  Arbeitsarten  qualitativ 
so  ziemlich  die  Wagschale:   Von  23  Aufsätzen  sind  12  H.-A.  besser  und 


—    46     — 


X.  Tabelle 

der  materiellen  Fehler 

in  der  VII.  Mädchenklasse. 


X.  Tabelle 

der  formellen  Febler 

in  der  VII.  Mädchenklasse. 


Fehlerarten 

Haus- 
aufsatz 

Schul- 
aufsatz 

F.W. 

4.24 

12,95 

U.W. 

6,32 

5,48 

Wv. 

4,16 

0,74 

Fr.  W. 

4,38 

3,42 

F.  B. 

4,44 

7,73 

U.  B. 

0,75 

4,48 

Bv. 

— 

— 

Fr.  B. 

2,31 

3,90 

Zf. 

— 

Kf. 

7,35 

1,80 

F.  Ber. 

2,08 

1,21 

Sf. 

4,43 

7,77 

A. 

4,56 

2,57 

W. 

22.42 

22,36 

Fehlerarten 

Haus- 
aufsatz 

Schul- 
aufsatz 

s. 

5,93 

4,54 

vt. 

0,63 

0,34 

u. 

— 

— 

G.  u.  K 

1,56 

2,69 

Anh. 

0,06 

0,14 

Zt. 

0,98 

1,86 

Az. 

0,83 

0,38 

9,99 

9,95 

X.  Tabelle 

der  gesamten  Fehlerwerte 

in  der  VII.  Mädchenklasse. 


67,44        74,41 


Hausaufsatz 


Schulaufsatz 


77,43 


84,36 


11  H.-A.  schlechter  als  die  entsprechenden  Pr.-A.  Bei  den  12  besseren 
H.-H.  wurden  7  Schülerinnen  überhaupt  nicht  gestört  und  die  übrigen 
5  gaben  rein  äußerliche  Störungen  an,  wie  Haustüre  aufmachen,  Abend- 
essen einnehmen  innerhalb  der  Arbeitszeit  u.  s,  f.  Von  den  11  minder- 
wertigen H.-A.  sind  5  Mädchen  durch  längere  Unterredungen  mit  Eltern 
und  Geschwistern  gestört  worden,  drei  Mädchen  wurden  nicht  gestört 
und  die  übrigen  drei  gaben  keine  Auskunft  hierüber.  Eine  spezielle 
Analyse  des  Einflusses  der  Störungen  auf  die  mindere  Qualität  der  H.-A. 
setzt  eine  genaue  Protokollaufnahme  des  psychischen  Zustandes  des  Schul- 
kindes, sowie  über  das  soziale  Milieu  voraus  und  wäre  ein  Problem  für 
sich.  Von  den  12  besser  ausgefallenen  H.-A.  besprechen  wir  die  3  deut- 
lichsten Fälle. 

Schülerin  No.  1  ist  gut  beanlagt,  im  Fleiß  durch  alle  Jahrgänge 
hindurch  1,  im  Aufsatz  bald  2,  bald  1 — 2.  Zum  H.-A.  schrieb  sie:  Ich 
schrieb  diesen  Aufsatz  von  5 — 6''.  Dabei  bin  ich  nicht  gestört  worden. 
Der  H.-A.  ist  umfänglich  gleich  dem  Pr.-A.,  hat  nahezu  dieselben  Wörter 
und  zeigt  nur  sehr  wenig  Variationen,  er  gleicht  also  einer  Abschreib- 
übung, wozu  das  Gedächtnis  die  Unterlage  gab. 


47     — 


XI.  Spezialtabelle  über  die  bevorzugten  Hausaufsätze 
in  der  VII.  Mädchenklasse. 
A.  Haosanfsatz.  B.  Prüfungsaufsatz. 


Fehlerarten 


1 


I.    Materiell : 

F.  W. 

0,92 

U.W. 

Wv. 

Fr.  W. 

F.  B. 

0,47 

U.  B. 

Bv. 

Fr.  B. 

Zf. 

Kf. 

F.  Ber. 

0,60 

Sf. 

A. 

W. 

0.94 

1,19 

IL    Formell: 

S. 

0,24 

vt. 

0,03 

0,07 

u. 

G.  u.  K. 

Anh. 

Zt. 

Az. 

0.46 

1 

2 

3 

0,92 

1,80 

0,76 
0,76 

0,46 
0,92 

0,45 

0,45 
0,45 

1,52 

0.23 
5,u6 

0,45 

0,19 

0,11 
0,03 

0,23 
0,01 

0,09 

0,45 

0,06 
0,38 

III.    (Tesamtwerte 


1.68      1.86       1,38 


773    ,    4,29     3,76 


Schülerin  Xo.  2  hat  im  Aufsatz  2,  in  Fleiß  I.  Auch  sie  wurde  zu 
Hause  nicht  gestört  und  arbeitete  von  6 — 7''.  Sie  schrieb  in  konkreter 
Sprache  und  großer  Kürze  ihren  H.-A..  der  nur  84  Wörter  aufweist, 
während  der  Pr.-A.  deren  220  besitzt.  Der  Pr.-A.  dagegen  zeigt  Phrasen 
auf  wie:  „Der  ^lensch  endet  auch  und  steigt  ins  Grab  hinein.  Kein 
Tropfen  des  Flusses  geht  im  Ozean  verloren,  so  kommt  auch  nur  der 
Körper  vom  Menschen  fort,  aber  keine  Seele  im  Meer  der  Ewigkeit".  Zu 
Hause  das  nüchtern-ruhige  Denken;  in  der  Prüfungsstunde  der  phrasen- 
hafte Stil. 

Schülerin  Xo.  3  ist  noch  gut  beanlagt,  hat  im  Aufsatz  2 — 3.  Sie 
konnte  ihren  H.-A.  mit  aller  häuslichen  Ruhe  fertigen.  H.-  und  Pr.-A. 
zeigen  je  eine  größere  stilistische  Selbständigkeit,  was  sich  namentlich 
im  Gebrauche  bezw.  im  Wechsel  guter  Vergleichsbüder  bemerkbar  macht. 


48 


Als  letzte  Klasse    führe    ich  meine    eigene  VII.  Knabenklasse    vor. 
XII.  Tabelle  XII.  Tabelle 

der  materiellen  Fehler  der  formellen  Fehler 

in  der  VII.  Knabenklasse  in  der  VII.  Knabenklasse 


Fehlerarten 

Haus- 
aufsatz 



Schul- 
aufsatz 

F.  W. 

10,08 

13,54 

U.  W. 

1,64 

3,32 

Wv. 

2,68 

1,00 

Fr.  W. 

6,60 

2,68 

F.  B. 

11,89 

14,82 

Ü.  B. 

10,29 

11,77 

Bv. 

— 

0,32 

Fr.  B. 

12,19 

11,77 

Zf. 

0,15 

0,96 

Kf. 

11,46 

9,67 

F.  Bez. 

2,98 

2,37 

Sf. 

1,48 

1,66 

A. 

2,15 

2,47 

W. 

13,67 

17,34 

Fehlerarten 


s. 

vt. 

ü. 

G.  u. 
Anh. 
Zt. 
Az. 


Haus- 

Schul- 

aufsatz 

aufsatz 

7,28 

6,66 

1,78 

1,97 

0,71 

0,54 

1,56 

0,40 

0,78 

0,67 

— 

0,33 

0,87 

1,81 

12.98         12,38 

XII.  Tabelle 
der  gesamten  Fehlerwerte 
in  der  VII.  Knabenklasse 


87,26    i     93,69 


Hausaufsatz 


S<hulaufsatz 


100,24 


106,07 


Die  Schüler  pflegten  in  fast  ausnahmsloser  Weise  den  freien  Aufsatz. 
Um  nun  mich  davon  zu  überzeugen,  ob  ein  gewisses  Plus  im  Stil  sich 
auch  in  einem  realistischen  Aufsatz  bemerkbar  mache,  gab  ich  auf  Grund 
einiger  naturgeschichtlichen  Lektionen  am  25.  März  den  H.-A.:  „Was 
uns  die  Leinwand  erzählt"  und  am  nächsten  Tag  dasselbe  Thema  als 
Probeaufsatz.  Die  Fehlertabelle  besagt  im  allgemeinen,  daß  hier  wie  in 
der  parallelen  Mädchenklasse,  obwohl  die  Aufeinanderfolge  der  H.-A.  und 
Sch.-A.  eine  umgekehrte  ist,  die  beiden  Qualitäten  relativ  gleich  gut 
sind.  Daraus  dürfte  der  vorsichtige  Schluß  gezogen  werden,  daß 
die  Oberklässer  eine  gewisse  Konstanz  der  Leistungen  aufzuweisen  haben 
als  die  jüngeren  Altersstufen,  deren  Arbeiten  qualitativen  Schwankungen 
mehr  unterworfen  sind.  Die  niedern  Zifl'ern  der  eigentlichen  Stilfehler 
lassen  die  gute  Wirkung  der  freien  Aufsätze  deutlich  erkennen.  Es 
zeigte  sich  eine  gewisse  Beherrschung  der  Sprache  trotz  der  Vorbereitung 
und  der  ganzen  Natur  des  AufsatzstofFes.  Dazwischen  treffen  wir  auch 
alte  Bekannte  wie  stellenweise  stilistische  Monotonie,  engherzigere  An- 
klebung an  die  Form  und  Mangel  kindertümlichen  Stiles,  weshalb  wir 
nun  unsere  Ergebnisse  kurz  so  formulieren  wollen: 


—    49    — 

Es  erhebt  sich  vor  allem  die  Frage  mittels  welcher  Aufsatzarten 
erreicht  man  das  Ziel  des  Aufsatzunterrichtes  am  besten? 

1)  Wenn  wir  das  Ziel  desselben  in  einer  flotten  Darstellung  der 
Gedanken  erblicken,  so  können  es  nicht  die  sog.  literarischen-reaüstischen 
AnfsatzstoflPe,  sondern  die  originell-kindertümlichen  nur  sein,  mittels  der 
dieses  Ziel  erreicht  wird. 

2)  Der  literarisch-realistische  Aufsatztypus  bringt  Einförmigkeit  in 
den  Stil,  klebt  sehr  an  der  Form,  unterdrückt  die  freie,  sprudelnde 
Kindersprache  in  ihrem  eigentümlichen  Zauber  und  verhindert  so  eine 
Entfaltung  eines  schönen  Stückes  kindertümlichen  Seelenlebens. 

3)  Die  freien,  originellen,  kindertümlichen  Aufsätze  dienen  dem 
wirklichen  Leben  mehr  als  die  andern  und  erhöhen  die  Ausdrucks- 
fähigkeit des  Schulkindes. 

4)  Unvorbereitete  Haus-  und  Schulaufsätze  steuern  dem  Aufsatzziele 
sicherer  zu  als  wohl  vorbereitete,  gut  disponierte  Realienstoffe,  die  als 
„Aufsatz"  keinen  hohen  stilistischen  Wert  aufwiesen. 

5)  Hausaufsätze  zeigten  in  dem  Fehlen  von  Komplexen  und  Ele- 
menten, Schulaufsätze  in  den  überflüssigen  Zutaten  typische  Fehler. 

6)  Der  Prüfangsgedanke  kann  sowohl  zu  vorsätzlich  gutem  Arbeiten, 
als  auch  zu  minderwertigen  Leistungen  führen,  was  jeweils  an  den  ent- 
sprechenden H,-A.  gemessen  werden  konnte  ^). 

Aus  unsern  Untersuchungen  ergab  sich  auch  die  Frage  des  Ein- 
flusses der  roten  Tinte  auf  die  Qualität  der  Aufsätze;  wie  sich  die 
Ausdrucksfähigkeit  auf  verschiedenen  Altersstufen  vervollkommnen  kann, 
wohin  der  Schwerpunkt  der  produktiven  Tätigkeit  jugendlicher  Stilisten 
zu  verlegen  ist,  in  das  Haus  oder  in  die  Schule.  Die  hohe  Bedeutung 
solch  aufgestellter  Fehlertabellen  besagen  dem  Lehrer,  wo  die  typischen 
Verstöße  jedes  einzelnen  Schülers  in  materieller  und  formeller  Hinsicht 
liegt  und  so  bietet  sie  die  beste  Handhabe  für  einen  individuellen  Unter- 
richt und  jedenfalls  bietet  ein  solch  exp.  Verfahren  bessere  und  um- 
fassendere Einblicke  in  die  stilistischen  häuslichen  und  schulischen 
Leistungen  als  das  nur  konstruierende,  bei  dem  der  eine  Methodiker  in 
derselben  Sache  recht  zu  haben  glaubt  und  sein  Gregner  auch.  (In  einer 
Resolution  wurden  die  gewonnenen  Sätze  mit  allgemeinem  Beifall  an- 
genommen und  folgender  Beschluß  gefaßt:  Die  2.  Sitzung  der  „Fr.  V.  f. 
philos.  Päd."  nimmt  mit  Interesse  Kenntnis   von  den  Ausführungen  des 


1)  Der  Einfloß   des  Prüfongsgedanken   auf  die  Qualität  wurde  in  einer  folgenden 
Untersuchung   bestimmt   und  darüber  das  Referat:   Haus-  und  Prüfnngsaufsatz  auf  dem 
Berliner  Kongreß  für  Kinderforschung  und  Jugendfürsorge  am  2.  Oktober  1906  erstattet 
(Als  Sonderabdruck  zum  Preise  von  Mk.  1.20  erschienen  bei:  Nemnich-Leipzig  1907.) 
Menmanii,  Exper.  Pädaeogik.    V.  Band.  4 


—    50    — 

Referenten  Dr.  Schmidt  und  überweist  die  von  ihm  aufgestellten  Leit- 
sätze, da  sie  sehr  wertvolle  Winke  enthalten,  den  Lehrer  versammlangen 
als  Material  für  wissenschaftliche  Diskussionen  und  den  einzelnen  Lehrern 
zur  Verwertung  in  der  Praxis.) 


Harmloses  kindliches  Gedankenspiel  oder  phantastische  Lüge, 
abnorme  Selbsttäuschung  oder  pathologische  Einbildung? 

Ein  pädagogisch-psychologischer  Bericht 
von  L.  F.  Göbelbecker  in  Konstanz. 


Einer  meiner  Religionsschüler  der  ersten  Klasse  (Hm.,  geboren  am 
20.  November  1897,  jetzt  7  Jahre  alt  und  geht  seit  letzte  Ostern  zur 
Schule)  war  dieses  Spätjahr  (1904)  einige  Zeit  an  Masern  erkrankt.  Bei 
seinem  Wiedereintritt  in  die  Schule  am  10.  Oktober  fragte  ich  ihn: 
„Was  hat  dir  gefehlt,  mein  Lieber?"  —  „Nichts,  ich  war  in  Amerika", 
entgegnete  der  wohlerzogene,  sonst  wortkarge  Junge  schlagfertig  mit 
lächelnder  Miene  und  erzählte  mir  im  Beisein  seines  Klassenlehrers,  den 
ich  sofort  rufen  ließ,  vor  den  andern  Schülern  in  auffälligem  Zusammen- 
hange fließend  seine  Erlebnisse  auf  der  Reise.  Ich  hielt  seine  Phan- 
tasmen lediglich  für  eine  nervöse  Nachwirkung  vorausgegangener  Fieber- 
er scheinungen  und  hatte  erst  vor,  den  Herrn  Papa,  einen  höheren  Be- 
amten, davon  in  Kenntnis  zu  setzen.  Doch  stand  ich  aus  verschiedenen 
Bedenken  hiervon  ab,  nahm  aber  nach  ca.  6  Wochen,  am  24.  November, 
zu  einer  nochmaligen  Untersuchung  Veranlassung,  wobei  ich  wiederum, 
sowohl  durch  die  Form  der  Frage,  als  durch  die  Betonung  ihrer  Glieder, 
durch  Wort  und  Miene,  jede  subjektive  Einwirkung  peinlichst  vermied 
und  jede  Beeinflussung,  die  den  Knaben  zur  Phantasterei,  zur  Darbietung 
von  Absonderlichem  hätte  reizen  können,  vorsichtig  unterließ.  Trotzdem 
erzählte  der  Kleine  abermals  dieselbe  Geschichte  fast  wortgetreu,  und 
ich  veröffentliche  das  direkt  niedergeschriebene  Zwiegespräch  nachstehend 
buchstäblich : 

Warum  hast  Du  dein  Brüderlein  (dasselbe  ist  5^/2  Jahre  alt  und 
kommt  bisweilen  mit  ihm  zur  Schule)  heute  nicht  mitgenommen? 

Kn.  Es  ist  nicht  ganz  wohl;  dann  hat  die  Mama  gesagt,  es  soll 
daheim  bleiben. 

Was  fehlt  ihm  denn? 

Kn.     Es  hat  einen  dicken  Backen. 


—  BI- 
SO, so?  (Halb  verwundert,  halb  mitleidsvoll!)  —  Sag  ihm  einen 
schönen  Gruß,  und  das  wird  schon  wieder  besser  werden.  (Beruhigend, 
vertrauenerweckend,  doch  nicht  sentimental!)  Du  bist  ja  jetzt  auch 
wieder  ganz  gesund  und  warst  viel  ärger  krank.  (Aufmunternd  in  mehr 
heiterer  Stimmung!).  Was  (besinnend  im  Wiederholungstoni)  hat  Dir 
damals  alles  gefehlt^)? 

Kn.  Nichts !  Ich  war  in  Amerika  -).  Dort  hab'  ich  gesehen,  daß 
unser  Herr  Lehrer  auf  den  Bänken  her  umgesprungen  ist,  und  hab'  aof 
einem  Baume  Kastanien  geholt.  Dann  bin  ich  zu  einem  Dachfenster 
hineingegangen  und  dann  nach  Afrika  geflogen  zu  den  Menschenfressern 
und  hab'  sie  geschossen.  In  der  Schule  beim  Herr  Lehrer  Sehn,  bin  ich 
auf  die  Tafel  gesessen.  — 

Den  Lehrer  Sehn,  (bei  dem  der  Kleine  nie  Unterricht  hatte,  und 
den  er  höchstens  vom  Sehen  oder  nur  dem  Namen  nach  kannte)  kennst 
Du  ja  wohl  gar  nicht. 

Kn.  Bei  dem  Herrn  Lehrer  Sehn,  in  meinem  Himmel,  in  meinem 
Himmel,  der  schöner  ist,  als  der  da  droben.  Ich  hab'  einen  extraen 
Himmel  und  einen  lieben  Gott  und  ein  Christkindchen  und  Engel. 

Waram  (NB.  Nicht  im  Wiederholungston!  Halb  gleichgültig,  in 
langsamem  Tempo  und  gewöhnlicher  Gesprächsstimme  bei  gleichmäßiger 
Betonung!)  bist  Du  nach  Amerika? 

Kn.     Ich  hab'  nach  den  Dampfschiffen  schauen  müssen^. 

Du  hast  nach  den  Dampfschiffen  schauen  wollen? 

Kn.     NeiD!   (Mit    auffälliger  Entschiedenheit!)   Ich  hab'   nach   den 


1)  Von  der  Aufforderung:  „Erzähle  nochmals,  was  Du  mir  damals  (beim  Wieder- 
eintritt am  10.  Oktober)  alles  gesagt  hast!"  habe  ich  grundsätzlich  Umgang  genommen, 
da  nichts  weniger  in  meiner  Absicht  lag,  als  den  Knaben  an  jenes  Phantasiespiel  zu  er- 
innern und  sein  Gedächtnis  zu  prüfen.  Vielmehr  wollte  ich  untersuchen,  welche  freie 
Antwort  er  mir  jetzt  gibt.  Ganz  unwissend,  bezw.  vergeßlich  und  teilnahmslos 
hätte  ich  mich  dabei  wohl  kaum  stellen  dürfen,  da  ich  ihn  dadurch  sicher  etwas  stutzig 
gemacht  hätte;  lieber  hätte  ich  ihm  noch  die  Meinung,  bezw.  Überzeugung  suggeriert, 
als  wäre  ich  von  der  Krankheit  schon  einmal  ganz  genau  unterrichtet  gewesen  und  könnte 
mich  im  Augenblick  nur  der  Einzelheiten  nicht  mehr  erinnern.  Darum  stellte  ich  obige 
Frage,  allen  Ernstes  mich  besinnend,  in  gemütvollem   Wiederholungston. 

2)  Der  Knabe  verriet  während  der  ganzen  Erzählung  durchaus  natürlichen 
Ernst.  —  Von  wem  und  was  er  schon  alles  von  Amerika  und  Afrika  hörte,  ist  mir 
nicht  bekannt.  Mitte  November  d.  J.  war  ein  Onkel  aus  Amerika  vorübergehend  bei  den 
Eltern  auf  Besuch.  Vielleicht  hat  man  ihm  von  diesem  schon  oft  erzählt  und  dadurch  das 
Ziel  seiner  Träume  übers  Meer  gelenkt.  Doch  sprach  er  weder  am  10.  Oktober,  noch  am 
24.  November,  noch  sonst  in  meiner  Gegenwart  von  diesem  Onkel. 

3)  Dieses  „müssen"  fiel  mir  auf;  darum  stellte  ich  die  nachfolgende  Qualitäts- 
frage und  zwar,  um  ihr  mehr  den  Sinn  der  rein  rhetorischen  Frage  beizulegen,  im  ent-' 
sprechenden  Wiederholungston  und  ohne  das  Wort  „wollen"  zu  betonen. 

^* 


—    52    — 

Dampfschiffen  schauen  müssen.  Ich  bin  hingegangen,  wo  ich  hab'  hin 
müssen,  wo  der  liebe  Grott^)  gesagt  hat. 

"Wann?  (Schwebender  Ton!) 

Kn.  Früher,  wenns  g'schneit  hat^).  Auf  einem  Baume  hab'  ich 
Schneeballen')  auf  die  Kinder  geworfen.  Dann  bin  ich  in  ein  Kamin 
g'schlupft  und  bin  ganz  nunter  bis  ins  Zimmer.  Ich  bin  in  die  Küche 
und  hab'  mir  was  g'holt,  en  Apfel  und  e  Birn,  und  bin  wieder  naus  zum 
Kamin  nach  Amerika.  Ich  bin  auf  einem  Pferd  geritten  und  hab's  so 
arg  gepeitscht,  bis  es  auf  den  Baum  hinauf  ist.  Ich  hab'  Flügel  g'habt, 
einen  ganzen  Eisenbahnwagen  voll.  Zwei  hab  ich  ans  Pferd  gepappt, 
weil  ich  meine  Flügel  daheim  g'habt  hab'.  Dann  hat  der  liebe  Gott 
gesagt,  's  Pferd  soll  mit  mir  nach  Amerika  fliegen.  Meine  Flügel  hab' 
ich  nicht  da*).  Der  liebe  Gott  hat  gesagt,  ich  soll  sie  daheim  lassen, 
weil  er  was  daran  machen  will.  Ich  bin  auch  mit  meinen  Flügeln  schon 
fortgeflogen,  alle  paar  Tage  einmal.  Nächsten  Sommer  geh'  ich  vielleicht 
nach  Afrika. 


1)  NB.  Mein  Religionsunterricht  entbehrt  jeden  orthodoxen  Kolorits,  auch  jeder 
sinnen-  und  geistberausehenden  Weise.  Ich  verkehre  stets  väterlich  schlicht  mit  den 
Kleinen ;  meine  religiösen  Darbietungen  sind  durchaus  natürlich,  frei  von  läppischer  Sen- 
timentalität und  theologischer  Salbaderei.  Meine  Schüler  sind  heiter  und  bewahren  sich 
durchweg  den  kindlichen  Freimut,  sodaß  weder  eine  objektive  Ergriffenheit,  noch  ein 
persönlicher  Nimbus  apperzipierend  hineingestrahlt  hätten  in  die  .augenblicklichen  Be- 
trachtungen des  Knaben.  Er  sprach  nicht  von  Gott,  weil  er  in  der  Religionsstunde  vor 
mir  stand,  sondern  weil  das  religiöse  Moment  ohnedies  mit  hineingewoben  war  in  sein 
phantastisches  Gedankengespinnst. 

2)  Es  fiel  am  gleichen  Tag  hier  Schnee,  Tags  zuvor  der  erste  dieses  Winters.  Ob 
der  Knabe  auch  bei  seiner  Erzählung  am  10.  Oktober  von  Schnee  redete,  weiß  ich  nicht 
mehr  anzugeben.  Es  ist  dies  der  einzige  Passus  der  Geschichte,  an  den  ich  mich  nicht 
mehr  erinnern  kann. 

3)  Ich  glaube  eher  —  doch  nicht  mit  voller  Sicherheit  — ,  mich  erinnern  zu  können, 
daß  er  im  Herbste  konsequent  bei  den  Kastanien  blieb,  so  daß  seine  Kombinationen 
so  ziemlich  zeitgemäß,  d.h.  im  variierenden  Detail,  wozu  ich  indessen  das 
religiöse  Moment  nach  dem  direkt  gewonnenen  Eindruck  durchaus  nicht  rechnen  kann, 
von  den  momentanen  Einwirkungen  seiner  Umgebung  bedingt  waren  und  zwar  bei  aller 
Konstanz  der  leitenden  Hauptidee. 

4)  t)iese  Bemerkung,  die  ich  für  eine  Art  Erklärungsversuch  hielt,  erregte  im  Mo- 
ment in  tnir  den  "Verdacht,  als  handle  es  sich  um  eine  phantastische  Lüge, 
in  dem  Sinne,  als  hätte  sich  die  appellierende  Wirklichkeitserscheinung  des  Knaben  seinem 
Traumgebilde  plötzlich  entgegengestellt  und  ihn  zur  Besinnung  gebracht,  ohne  daß  er 
geneigt  oder  mächtig  genug  gewesen  wäre,  das  Weiterspinnen  des  begonnenen  Fadens 
zu  unterlassen.  Vielleicht  wollte  er  sich  auch  nicht  entpuppen.  Doch  kann  ich  kaum  an- 
nehmen, daß  er  bei  vollem  Bewußtsein  seiner  aller  Wahrscheinlichkeit  entbehrenden  Kom- 
binationen, dieses  objektiven  Unsinns,  dieser  groben  Lügerei,  bei  mir  den  erforder- 
lichen Glauben  vorausgesetzt  hätte. 


—    53    — 

Wie  lange  bleibst  du  fort?  (Nicht  im  Wiederholangston !) 

Kn.     Das  weiß  nur  mein  lieber  Gott^). 

Ist  das  alles  so  ?  Hast  Du  das  Geschichtchen  nicht  erfunden  ?  Hast 
Du  so  geträumt  ?  ^) 

Kn.  Nein!  (Ohne  jegliche  Spur  von  Verlegenheit,  ohne 
jedes  Lügensymptom!) 

Hat  Dir  schon  jemand  —  der  Papa,  die  Mama,  ein  Kindermädchen, 
der  Großvater,  der  Onkel,  die  Tante,  ein  anderer  Knabe  oder  sonst  je- 
mand —  von  solchen  Sachen  erzählt? 

Kn.  Nein,  ich  weiß  es,  weüs  der  liebe  Gott  mir  gesagt  hat.  (Be- 
stimmt, in  kindlich -glaubensinnigem  Tone  und  „ehrfurchts- 
voller" Miene.) 

Hast  Du  den  lieben  Gott  schon  gesehen  ? 

Kn.  Ja,  den  lieben  Gott  im  andern  Himmel  und  in  meinem 
Himmel.  (In  wieder  etwas  heiterer  Stinmiung.) 

Wo  hast  Du  ihn  gesehen? 

Kn.     In  meinem  Himmel. 

Wo  ist  Dein  Himmel? 

Kn.    Auf  der  Erde. 

Wo  auf  der  Erde? 

Kn.  Ganz  unten  in  meinem  Zugwagen.  Alle  Züge  (in  faselnder 
Miene)  auf  der  ganzen  Welt  gehören  mir ;  dem  H.  (damit  meint  er  sein 
5^/2  jähriges  ßrüderlein)  gehören  auch  einige.  Der  Zug  fahrt  so  schnell, 
daß  Du  gar  nicht  sehen  kannst,  wo  der  liebe  Gott  und  das  Christ- 
kindchen drin  ist^). 

Wie  sieht  denn  der  liebe  Gott  aus? 

Kn.  Mein  lieber  Gott  sieht  ganz  weiß  aus,  so  weiß  wie  der  Schnee. 
(Durchaus  nicht  im  Tone  leerer  Schwatzhaftigkeit !  Miene  weder  für  die 
eine,  noch  für  die  andere  Deutung  charakteristisch  1) 

Weiter ! 

Kn.  Auch  blau  und  rot  und  gelb;  er  glänzt.  —  Er  hat  alles  ge- 
macht, was  auf  der  Erde  ist*).  Und  mein  lieber  Gott  hat  jetzt  gemacht, 


1)  Am  10.  Oktober  sagte  er  an  dieser  Stelle:  „Ich  bleibe  300  Jahre  fort;  dann 
komme  ich  wieder,  wenn  alle  Menschen  gestorben  sind.  —  Den  Zahlbegriif  300  besitzt  der 
Kleine  selbstredend  noch  nicht.  300  Jahre  bedeuten  für  ihn  eben  schlechtweg  eine  lange, 
lange  Zeit. 

2)  Der  Roman  war  zu  Ende,  und  jetzt  erst  konnte  ich  mir  erlauben,  durch  einige 
Fragen  der  Sache  tiefer  auf  den  Grund  zu  gehen. 

3)  Ohne  den  Ernst  des  kleinen  Erzählers  beobachtet  zu  haben,  würde  man  aus  dem 
bloBen  "Worte   hier   schlechtweg   wieder   einen   lügenhaften  Erklärungsversuch  vermuten. 

4)  Dieses  reproduktive  urteil  entstammt  u.  a.  dem  Religionsunterricht  in  der  Schule. 


—    54    — 

daß  es  schneit  ^).  (Ohne  in  Ton  oder  Miene  krankhaftes  Selbstgefühl  zu 
verraten !) 

Erzähle  weiter! 

Kn.     Ich  weiß  nichts  mehr. 

Hast  Du  das  auch  schon  dem  Herrn  Papa  gesagt? 

Kn.     Nein! 

Warum  nicht? 

Kn.  Weil  der  liebe  Grott  mirs  noch  nicht  erlaubt  hat.  (Im  hei- 
ligsten Ernst!) 

Erzählst  Du  es  ihm,  wenn  Du  nach  Hause  kommst? 

K  n.  Ich  weiß  es  noch  nicht ;  wenns  der  liebe  Gott  haben  will. 
(In  wiederum  sehr  ernstem  Tone!) 

Soll  ich  das  alles,  was  Du  mir  erzählt  hast,  Herrn  Papa  mitteilen, 
—  soll  ich's  ihm  schreiben?  (NB.  Ohne  den  Verdacht  der  Lüge  durch- 
blicken zu  lassen,) 

Kn.  Ja!  (Ohne  Zögern  und  ohne  jegliches  Bedenken.) 

Was  wird  er  wohl  dazu  sagen? 

Kn.     Ich  weiß  es  nicht. 

Geh'  zu  Herrn  Seh.  (sein  Klassenlehrer)  und  sage  ihm,  er  möge  so 
gut  sein  und  Dir  auf  einen  Zettel  schreiben,  wann  Du  damals  wieder 
zur  Schule  kamst! 

Kn.  (Zu  seinem  Klassenlehrer)  Einen  schönen  Gruß  von  Herrn  G., 
und  Du  sollst  mir  auf  einen  Zettel  schreiben,  wann  ich  wieder  aus 
Amerika  zurückgekommen  bin. 

Am  nächsten  Tage  traf  ich  den  Knaben  bei  andern  Schülern  im  Gange 
des  Schulhauses  und  fragte  ihn  beim  Vorübergehen  kurz  :  Hast  Du's  dem 
Herrn  Papa  erzählt?  worauf  er  allen  Ernstes  antwortete:  Nein,  wenns 
der  liebe  Gott  haben  will.  Dieselbe  Geschichte  erzählte  der  Schüler 
am  1.  Dezember  ohne  mein  Beisein  mit  größter  Sicherheit  auch  Herrn 
Rektor  K.,  der  den  Knaben  an  genanntem  Tage  zum  Zwecke  der  von  mir 
geforderten  Nachprüfung  meiner  Untersuchungsergebnisse  zu  sich  allein 
auf  sein  Amtszimmer  rufen  ließ,  und  fügte  auf  die  an  ihn  gerichteten 
Fragen  mit  aller  Schlagfertigkeit  und  Bestimmtheit  hinzu,  daß  er  von 
Amerika  aus  mit  seinen  eigenen  Flügeln  nach  Hause  zurückgeflogen 

1)  Dieses  Einzelurteil  entsprang  jedenfalls  einem  augenblicklichen  assoziativen 
Anstoß  und  hat  zum  unmittelbar  vorausgegangenen  allgemeinen  Urteil  lediglich  illu- 
strierende Tendenz.  Auch  ließen  in  diesem  Augenblick  Physiognomie  und  Ton  der 
Rede  die  Regung  vorwiegend  intellektueller  Gefühle  erkennen,  so  daß  man  wohl 
kaum  annehmen  darf,  daß  in  seine  Apperzeptionsprozesse  auf  Schritt  und  Tritt  das 
religiöse  Moment  eingeschlossen  ist.  Dabei  beachte  man,  daß  sein  Denkakt  folge- 
richtig, seine  Vorstellungsfolge  vermittelt,  seine  Assoziation  einheitlich  war. 


—     55     — 

sei,  und  daß  ihn  ;,sein"  Grott  in  Afrika  in  einen  großen  Wald  geführt 
und  ihm  dort  die  Menschenfresser,  welche  schwarz  seien,   gezeigt  hätte. 

Hierauf  übersandte  ich  an  den  Herrn  Papa,  mit  dem  ich  über  diese 
Angelegenheit  inzwischen  schon  eine  mündliche  Unterredung  hatte,  zn 
meiner  weiteren  psychologischen  Orientierung  nachhstehende  Fragen  und 
erhielt  von  ihm  die  in  Klammern  beigesetzten  Antworten: 

1)  Welches  ist  der  Grundzug  des  Wesens  ihres  Knaben  Hm?  — 
In  Sonderheit  seinen  Geschwistern  und  andern  Kindern  gegenüber,  die 
mit  ihm  verkehren?  Ist  er  egoistisch  oder  gar  herrschsüchtig?  Ge- 
fällt er  sich  in  altklugen  Plänen?  Wird  dieser  Hang  durch  irgend 
welche  Person  unterstützt?  Was  für  ein  Temperament  und  Gemüt 
hat  er? 

(Egoistisch  ist  Hm.  nur  insoweit,  als  es  Kinder  im  allgemeinen  zu 
sein  pflegen,  herrschsüchtig  nicht.  Selbstverständlich  gibt  er  beim  Spiel 
als  der  ältere  in  der  Kegel  den  Ausschlag.  Verkehr  hat  er  nur  mit 
seinen  zwei  Brüdern  —  5V2  und  27«  Jahre  alt  —  und  einem  gleich- 
altrigen Knaben,  K.  Seh.  ^),  der  ihm  an  Lebenserfahrung  und  -Verständnis, 
soweit  dieses  Wort  bei  so  kleinen  Kindern  Anwendung  finden  kann,  weit 
über  ist.   Von  altklugen  Plänen  ^)  kann  bei  Hm.  nicht  gesprochen  werden.) 

2.  Ist  die  Gemütsentwickelung  des  Knaben  im  Vergleich  zu  seinem 
Alter  etwas  zurückgeblieben?  Wird  er  absichtlich  „kindlich"  gehalten, 
und  welchen  Umgang  hat  er? 

(Er  hat  ein  außerordentlich  kindliches  Wesen  und  Gemüt  und  ist 
in  Anschauungen  und  Geistesäußerungen  vielleicht  für  sein  Alter  zu 
kindlich,  etwas  zurück.  Eine  Absicht,  ihn  „kindlich"  zn  halten,  besteht 
bei  seinen  Eltern  nicht ;  es  ist  wohl  eher  die  Eolge  davon,  daß  er  mit 
Kameraden  selten  zusammen  kommt  ^. 

3.  Welche  ausgesprochene  Richtung  hat  sein  Interesse? 


1)  Ein  sehr  aufgeweckter,  lebhafter,  temperamentvoller  Knabe;  ob  Hm.  auch  zu 
diesem  schon  über  derlei  Dinge,  über  seine  Reise  nach  Amerika,  über  seine  Flügel  and 
seinen  Gott  und  dgl.,  sprach,  habe  ich  aus  gewissen  Gründen  nicht  erforscht,  so  interessant 
und  wichtig  es  vielleicht  auch  gewesen  wäre. 

2)  Ein  vorlautes,  altkluges  Wesen  hat  der  Kleine  auch  in  der  Schule  noch  nicht 
geoffenbart.  Er  ist  äußerst,  ja  auffällig  ruhig.  Dabei  begegnet  er  mir  mit  durchaus  kind- 
lichem Vertrauen;  auch  redet  er  mich  noch  mit  „Du"  an  —  eine  Freiheit,  die  ich  ihm 
wohl  gestatte. 

3)  Nach  meiner  Beobachtung  ist  er  für  Lob  und  Tadel  sehr  empfänglich  und  zeigt 
für  „recht"  und  „unrecht",  für  „gut"  und  „böse",  für  „artig"  und  „unartig"  ein  zartbe- 
saitetes und  inniges,  mehr  mädchenhaftes  Gemüt.  Beim  ersten  Begegnen  ist  er  äußerst 
schüchtern  und  zurückhaltend  und  hat  vor  EIrwachsenen  großen  Respekt. 


—    56    — 

(Besondere  Interessen  *)  hat  er  nicht.) 

4.  Hat  er  besonders  lebhaftes  Interesse  für  religiöse  Dinge? 

(Nein !  Er  betet  mittags  und  abends.  Etwaige  an  sein  Gebet  an- 
knüpfende Fragen  sind  stets  durchaus  kindlich.  Daß  er  von  „meinem 
Himmel",  „meinem  lieben  Gott"  spricht,  kommt  lediglich  daher,  daß  er 
und  sein  Bruder  H.  immer  alles  gleichmäßig  bekommen  und  er  so  ge- 
wissermaßen bei  allem,  was  er  sieht,  sagt:  „Das  gehört  mir,  das  H." 
So  machen  sich  z.  B.  beide  gern  den  Spaß,  bei  Spaziergängen  die  Passanten 
(oder  die  Eisenbahnzüge)  abzuteilen :  der  Mann  gehört  mir,  der  dem  H., 
alle  Soldaten  mit  Helm  mir,  dem  H.  alle  Männer  mit  Zylinder  u.  s.  w., 
alles  durchaus  in  kindlicher  Eröhlichkeit.) 

5.  Zeigt  er  schon  so  viel  Ernst,  daß  er  mit  religiösen  Dingen  nicht 
scherzt '? 

(Von  bewußtem  Ernst  bei  religiösen  Dingen  kann  nicht  die  Rede 
sein  ^). 

6.  Hat  man  sich  bemüht,  über  religiöse  Dinge  (das  Wesen  Gottes 
z.  B.)  a)  oft  und  eindrucksvoll, 

b)  sehr  anschaulich  und  konkret 
und  c)  auch  bezüglich   seiner   eigenen  Beziehungen  zu  Gott]  anthropo- 
morphistisch  mit  ihm  zu  reden  ? 
(Nein,   nicht  mehr  als  allgemein  zu  geschehen  pflegt :  daß  der  liebe 
Gott  böse  ist,  wenn  Kinder  nicht  folgen  u.  s,  w.)  ^). 

7.  Hört  er  oft  und  gerne  Märchen?  Oder  sonstige  phantastische 
Erzählungen?  Speziell  solche  aus  der  Mythologie?  Indianergeschichten 
u.  dgl.  ?  *).  —  Welche  Geschichten  bevorzugt  er  in  Sonderheit  ? 

(Erzählungen  hört  er  außerordentlich  gern  und  hat  dafür  ein  außer- 
ordentliches   Gedächtnis  *).     Nach  Wochen  macht   er    auf   Kleinigkeiten 

1)  Weiß  nicht,  ob  mich  der  Herr  Papa  hier  richtig  verstanden  und  das  Wort  „In- 
teresse" als  psychologischen  und  pädagogischen  Terminus  aufgefaßt  hat. 

2)  Gerade  sein  ausgesprochener  Ernst  religiösen  Dingen  gegenüber,  den  ich 
wiederholt  und  zwar  schon  letzten  Sommer  beobachtete,  ließ  mich  vermuten,  daß  es  zu 
Hause  sehr  religiös  zugehen  müsse.  Allerdings  hatte  ich  mich  hierin,  doch  lediglich  im 
Schluß  auf  die  spezielle  Ursache,  wie  mich  der  Vater  nachdrücklich  versicherte,  ge- 
täuscht. Es  ist  dieser  Umstand  aber  nur  ein  Beweis  dafür,  daß  im  Gemüt  des  Kleinen  selbst 
der  schwächste  und  spärlichste  Same  tiefgehende  Wurzeln  schlug. 

3)  Auch  sein  Klassenlehrer  und  ich  haben  in  dieser  Hinsicht  dem  pädagogischen 
Anschauungs-,  bezw.  Anschaulichkeitsprinzip  kein  Opfer  gebracht.  —  Vergl.  übrigens 
2.  Mos.  20,4! 

4)  Phantastische  Darstellungen  hat  ihm  die  Schule  weder  in  Wort,  noch  in  Bild 
geboten. 

5)  Diese  Beobachtung  habe  auch  ich  an  ihm  gemacht,  während  er  vom  Memorieren 
der  vorgeschriebenen  Spruch-  und  Liedertexte  durchaus  kein  Freund  ist.  Dem  bindenden 
einprägenden  Mitsprechen  zieht  seine  Phantasie  allem  Anscheine  nach  die  Freiheit  in  der 


—    B7    — 

aufmerksam,  die  anders  wieder  erzählt  werden.  Es  werden  ihm  nur  die 
gewöhnlichsten  Erzählungen  und  Märehen  —  Rotkäppchen  etc.  —  ge- 
boten. Er  bevorzugt  solche,  in  denen  Zwerge  auftreten,  und  hört  die 
gleichen  Geschichten  immer  gern  wieder,  phantasiereich  brauchen  sie 
nicht  zu  sein.    Mythologische  Erzählungen  hat  er  noch  keine  gehört). 

8.  Werden  ihm  auch  Dinge  aus  Natur-  und  Menschenleben  in  märchen- 
artiger Weise  erzählt? 

(Nein!) 

9.  Erzählt  er  selbst  oft  und  aus  eigenem  Antriebe? 
(Nein;  er  hört  lieber  zu). 

10.  Zeigt  er  dabei  eine  besonders   lebhafte  Phantasie,    „dichtet"  er 
selbst,  und  verrät  er  Neigung  zum  Absonderlichen,  zu  Abenteuern  u.  dgl.  ? 

(Nein!  —  Er  hat  keinerlei  Hang  zu  Phantasierollen,   und  Neigung 
zum  Absonderlichen  habe  ich  nie  bemerkt). 


Sphäre  behaglicher  Träumerei  vor  —  und  das  ist  mit  Rücksicht  auf  unsem  religiösen 
MemorierstoJBF,  der  vom  psychologischen  und  hygienischen  Standpunkte  aus  (und  nicht  nur 
im  Interesse  des  heranwachsenden  Geschlechts,  sondern  auch  in  dem  der  Religion) 
vor  dem  Forum  der  "Wissenschaft  als  das  schrecklichste  Torturmittel  des  kindlichen  Ge- 
hirns gebrandmarkt  werden  muß,  sicher  kein  schlechtes  Kriterium  seiner  Beanlagung. 
Man  denke  nur  an  Paul  Gerhardt's  9  strophi^es  Morgenlied,  das  die  6  jährigen  Anfanger 
sich  durch  freies  Nachsprechen  bis  auf  den  letzten  Laut  anzueignen  haben  —  der  reiz- 
Tollen  Mühewaltung  des  einübenden  Lehrers  gar  nicht  zu  gedenken! 
Lautet  doch  da  die  1.  Strophe:  Wach  auf,  mein  Herz,  und  singe 

dem  Schöpfer  aller  Dinge, 

dem  Greber  aller  Güter, 

dem  treuen  Menschenhüter! 

Die  3.  Strophe :  Heut,  als  die  dunkeln  Schatten 
mich  ganz  umgeben  hatten, 
hast  Du,  0  Gott,  gewehret, 
daß  mich  kein  Leid  versehret, 
etc.  etc. 

Die  9.  Strophe:  Herr,  segne  meine  Tritte, 

mein  Herz  sei  deine  Hütte, 

dein  Wort  sei  meine  Speise, 

bis  ich  gen  Himmel  reise! 
Welche  Mühe,  welche  Plage  erst  für  die  armen  Kleinen,  wenn  der  betr.  Lehrer  aus 
psychologischer  Unkenntnis  beim  Memorieren  dieser  36  Kunstrerse  gar  noch  der  zer- 
splitternden, auseinanderreißenden  Teilmethode  huldigt!  Herr,  vergib  ihnen  —  gewissen 
Theologen  nämlich  —  ;  denn  sie  wissen  nicht,  was  sie  tun  I  Man  vergl.  auch  D  r.  E. 
Meumann's  Untersuchungen  über  die  Entwickelung  des  Gedächtnisses  und  die  Me- 
thoden des  Memorierens,  wie  er  sie  u.  a.  in  klarer  und  einfacher  Darstellung  in  seiner 
Schrift  „Über  die  Ökonomie  und  Technik  des  Lernens.  Leipzig,  Julias  Klinkhardt.  1903'' 
niedergelegt  hat. 


—     58    — 

11.  Neigt  er  auch  zu  phantasievoller  Auffassung  der  Sinnendinge 
und  Vorgänge  im  Gebiete  sinnlicher  Wahrnehmung? 

(Nein,  durchaus  nicht!) 

12.  Beschäftigt  er  sich  gern  und  oft  mit  Bilderbüchern,  und  mit 
welchen?  —  Weilt  er  besonders  gerne  vor  Schaufenstern,  an  welchen 
Bilder  ausgestellt  sind? 

(Schaufenster  liebt  er,  wie  alle  Kinder,  speziell  Spielwarenläden) '). 

13.  Welche  Beobachtungen  wurden  bezüglich  des  Charakters  seines 
Spiels  gemacht?  —  Übernimmt  er  bei  gemeinschaftlichen  Spielen  —  auch 
älteren  Knaben  gegenüber  —  gerne  die  führende  Rolle?  Treibt  er 
namentlich  gerne  für  sich  allein  dramatische  Phantasiespiele,  bei  welchen 
er  in  der  Illusion  die  Heldenrolle  übernimmt? 

(Seine  Spiele  sind  kindlich ;  von  Heldenrollen  u.  s.  w.  ist  dabei  nicht 
die  Rede.  Beim  Spiel  bevorzugt  er  —  fast  ausschließlich  —  Eisenbahn 
und  Pferde,  wobei  er  den  Kutscher  oder  Eisenbahnschaffner  macht-).) 

14.  Träumt  er  oft,  bezw.  spricht  er  häufig  im  Schlaf?  —  Wovon 
und  in  welcher  Art? 

(Er  hat  einen  guten,  gesunden  Schlaf,  ohne  Traumerscheinungen.) 

15.  Erzählt  er  gerne  seine  Träume,  und  hält  er  dieselben  bisweilen 
sogar  für  wirkliche  Erlebnisse? 

(Selten  erzählt  er,  er  habe  das  und  das  geträumt,  und  dann  sind 
es  immer  Vorgänge  aus  seinem  Kindesleben.) 

16.  Wie  sind  seine  körperlichen  Glesundheitsverhältnisse  im  allge- 
meinen —  früher  und  jetzt  —  und  insbesondere  mit  Rücksicht  auf  das 
Nervensystem  ? 

(Er  war  immer  vollständig  gesund.) 

17.  Hatte  er  schon  oft  und  namentlich  während  seiner  letzten  Er- 
krankung starkes  Fieber,  bzw.  trat  dabei  fieberhafte  Phantasietätigkeit 
in  die  Erscheinung? 

1)  Indessen  müssen  ihm  die  Flügel  der  „Engel"  und  des  „Christkindchons"  besonders 
imponiert  und  in  ihm  den  lebhaften  Wunsch,  auch  solche  zu  besitzen,  nachhaltig  erregt 
haben ;  denn  als  ich  am  6.  Dezember  mit  weitgehendster  Erlaubnis  der  Eltern  ihn  wieder 
zur  Wirklichkeit  zurückzuführen  suchte  und  in  dieser  Absicht  u.  a.  bemerkte :  Du  hast 
doch  gewiß  noch  keine  Flügel  gehabt.  Kein  Mensch  hat  Flügel,  auch  das  Christkindchen 
hat  keine.  Flügel  machen  ihm  nur  die  Maler  und  andere  Künstler,  damit  das  Bild  oder 
die  Figur  schöner  aussehen  und  die  ganz  kleinen  Kinder  meinen  sollen,  das  Christ- 
kindchen könne  vom  Himmel  auf  die  Erde  und  von  der  Erde  wieder  zum  Himmel  fliegen 
etc.  etc.  Da  entgegnete  er,  wenn  auch  höflichst,  doch  mit  aller  Entschiedenheit :  Ja  wohl, 
das  Christkindchen  hat  Flügel;  die  Mama  hat  mir's  gesagt.  —  Wer  in  seiner  Jugend 
hätte  diesen  unschuldigen  Kinderglauben  nicht  auch  gehabt !  Auch  ist  die  Sehnsucht  nach 
Flügeln  —  und  bisweilen  nicht  nur  im  Knabenalter  —  viel  allgemeiner,  als  man  geradehin 
zu  wähnen  glaubt!  Daher  immer  noch  das  Suchen  nach  einschlägigen  Erfindungen. 

2)  Er  scheint  nach  allem  reiselustig  ins  Weite  zu  zielen!  —  Knabenart  1 


—    59    — 

(Nur    einmal   hatte   er    eine   Halsentzündung   und   letztes    Spätjahr 
Masern,  ohne  starkes  Fieber  und  ohne  Phantasieen.) 

18.  Hat  er  bei  seiner  Genesung  davon  erzählt  und  in  welcher  Weise  ? 
—  Oder  geniert  er  sich,  krank  gewesen  zu  sein? 

(Nein !) 

19.  Greift  ihn  das  Lernen  an  und  welche  Lerntätigkeit  am  meisten? 
(Das  Lernen  macht   ihn  müde,    besonders  das  Lesen').     Vom  Ernst 

der  Schule  hat  er  noch  nicht  genügende  Yorstellung.) 

1)  Der  Grad  der  Begabung  des  Knaben  für  den  F  o  r  m  e  n  Unterricht  kann  der 
unausgesprochenen  Entwickelungen  wegen  vorerst  noch  niclit  festgestellt  werden. 
Blutarmut  und  Nejvensch wache  sind  indessen  nicht  zu  konstatieren.  Nach  meiner 
meiner  Beobachtung  bekundet  er  überhaupt  bis  jetzt  nur  S  a  c  h  interesse.  Der  Mechanis- 
mus des  Lesens  hat  für  ihn  keinen  Reiz.  Das  Lernen  selbst  erscheint  ihm  noch  als 
Plage,  ohne  schon  die  nötige  moralische  Eeife  zur  vollständigen  momentanen  Überwindung 
der  Abneigung,  zur  Steigerung  der  Energie  durch  mächtigen  Willensentschluß  zu  besitzen. 
Die  Konzentration  der  Aufmerksamkeit  auf  ein  gegebenes  Ziel  ist  für  ihn  ein  mühseliger 
"Willensakt,  zugleich  ein  Kampf  gegen  Antipathie,  und  damit  gleichsam  zweifache  und 
verlängerte  Arbeit.  Deshalb  die  rasche  und  große  Ermüdung,  deshalb  vor  allem  die 
Mittelmäßigkeit  seiner  Leistungen.  Sein  Lemakt  vollzieht  sich  ohne  die  Seele  des  Ge- 
dächtnisses, ohne  die  Attraktionsfunktionen  des  Interesses,  und  nur  der  die  inneren 
Widerstrebungen  überragende  Willensrest  steht  seiner  Apperzeption  als  durch  mittelbare 
Motive  erregte  und  durch  Hemmung  geschwächte  Kraft  zur  Verfügung.  Das  emotionale 
und  voluntarische  Moment  des  Lemaktes  wird  von  Theorie  und  Praxis  leider  immer  noch 
zu  wenig  beachtet,  und  wenn  es  geschieht,  dann  greift  man  fast  allenthalben  zu  ver- 
fänglichen künstlichen  Reizmitteln,  zum  Zuckerbrot  oder  zum  Meerrohr,  zu  Maßnahmen, 
die  in  ihrer  gewohnheitsmäßigen  Anwendung  mit  Rücksicht  auf  die  moralischen  Folge- 
erscheinungen im  allgemeinen  schlechterdings  zu  verwerfen  sind,  wenn  ich  auch  aufgrund 
eigens  unternommener  Experimente  erfahrungsmäßig  zugeben  muß,  daß  dieselben  im 
speziellen  Falle  bisweilen  geradezu  Wunder  wirken,  nicht  nur  in  Hinsicht  auf  das  reine 
Wollen,  bezw.  die  Willenshandlung,  sondern  auch  bezüglich  des  von  Willensmomenten  durch- 
drungenen intellektuellen  Könnens.  Hatte  ich  doch  u.  a.  einmal  einen  achtjährigen,  kör- 
perlich gesunden  und  geistig  sonst  normalen,  wenn  auch  nicht  besonders  gut  begabten 
Schüler,  der  —  wahrscheinlich  infolge  der  entsprechenden  häuslichen  Erziehung  —  seine 
Additions-  und  Subtraktionsaufgaben  einige  Zeit  regelmäßig  nur  dann  zu  lösen  vermochte, 
wenn  bei  ihm  durch  wirkliche  Wahrnehmung  der  Rute  oder  durch  Erinnerung  an  vor- 
ausgegangene Bestrafung  auf  vasomotorischem  W'ege  die  erforderliche  Konzentration  des 
Bewußtseins  herbeigeführt  wurde.  Andere  Schüler  wiederum  scheinen  bei  allzugroßer 
Strenge  vor  Angst  geradezu  den  Verstand  zu  verlieren.  Im  allgemeinen  bleibt  als  psycho- 
logische Tatsache  bestehen:  „Was  man  aus  Liebe  tut,  geht  noch  einmal  so  gut!"  und 
für  Kinder  gilt  so  recht  das  Milton'sche  Wort:  „Es  gibt  keine  Pflicht,  die  nicht  der 
Heiterkeit  bedürfte,  um  recht  erfüllt  zu  werden!"  Wiederholt  habe  ich  darum  in 
meiner  „Lehrlust"  (1895),  sowie  in  meiner  „ünt  errichtspraxis"  (1904)  auf  die 
hohe  pädagogische  Bedeutung  des  Gefühls  für  Auffassung,  Gedächtnis  und  geistige  Selbst- 
tätigkeit hingewiesen  und  von  solchen  Erwägungen  und  Erfahrungen  ausgehend,  schon  vor  12, 
bezw.  15  Jahren  die  Anlage  und  Ausstattung  meines  ersten  Lesebuchs  für  Kinder  grund- 
sätzlich so  getroffen,  daß  ich  mir  bedingungsweise  erlauben  durfte,  ihm  den  Titel  „Lern- 


—    60    - 

20.  Wurden  abnorme  geistige  Funktionen  (Halluzinationen  u.  dgl.) 
bei  ihm  beobachtet  ?  —  Bei  welcher  Veranlassung  und  welcher  Art  ? 

(Niemals,  fürchtet  sich  im  Dunkeln  nicht,  hat  von  Geistern  u.  dgl. 
keine  Vorstellung.  —  Mir  macht  er  den  Eindruck,  daß  er  sich  bei  seiner 
Erzählung  einen  —  von  ihm  durchaus  als  erlaubt  angesehenen  —  Scherz  ^) 
machen  wollte.  Beim  Wiedererzählen  spielte  sein  Gredächtnis  eine  große 
Rolle.  Es  ist  ihm  die  Sache  jetzt  recht  fatal,  und  er  möchte  am  liebsten, 
daß  man  nicht  mehr  davon  spräche.  Zu  Hause  war  er  nur  mit  Mühe 
dazu  zu  bringen,  die  „Geschichte"  auch  dem  Papa  zu  erzählen,  und  auf 
die  Frage :  Warum  hast  Du  denn  diese  Geschichte  Herrn  G.  erzählt  ? 
folgte  zuerst  ein  langes  Schweigen  . . .,  dann  ...  ich  weiß  nicht"  und 
endlich:    „Ich  hab'  dem  Herrn  Lehrer  was    erzählen  wollen.") 

Auch  mir  gab  er  am  6.  Dezember  auf  die  Frage :  Warum  hast  Du 
denn  das  alles  erzählt  ?  Warum  von  deinen  Flügeln  gesprochen,  trotzdem 
Du  keine  hast?  Warum  hast  Du  gesagt,  Du  hättest  den  lieben  Gott 
gesehen,  wenn  es  nicht  wahr  ist  ?  etc.  etc.  nach  längerer  Pause  die 
Antwort:  „Ich  weiß  es  nicht"  und  [machte  eine  Miene,  als  wollle 
er  von  der  ganzen  Sache  nichts  mehr  wissen.  Hingegen  hörte  ich  die  Be- 
merkung: „Ich  wollte  dem  Herrn  Lehrer  was  erzählen"  trotz 
wiederholten  Eindringens  niemals  aus  seinem  Munde.  Gleichwohl  unter- 
schob auch  ich  anfangs  hin  und  wieder  seinen  phantastischen  Darlegungen 
das  Motiv  der  scherzweisen  Erzählung  und  nahm  an,  er  hätte  in  kind- 
lichem Übermut  zur  guten  Stunde  mir  als  Bubenstreich  vielleicht  etwas 
aufbinden,  vor  meinem  Blicke  nach  raschgefaßter  Idee  einen  einheitlich 
aufgebauten  Roman  im  kleinen  Stil  entrollen  wollen.  Auf  andere, 
ernstere  Vermutungen  kam  ich  erst,  als  der  Knabe  am  10.  Oktober  die 
Geschichte  schlankweg  in  Gegenwart  seines  Klassenlehrers  und  am  1. 
Dezember  Herrn  Rektor  K.  frank  und  frei  erzählte  und  dies  immer 
wieder  mit  denselben  Worten,  trotzdem  er  am  24.  November  nach  seinen 
Erfahrungen  in  der  Schule  vor  den  Folgen  eines  plötzlichen  Geständ- 
nisses nicht  hätte  zurückschrecken  brauchen  und  es  für  einen  wirklichen 
Spaßvogel  doch  wohl  viel  mehr  Reiz  gehabt  hätte,  wenn  er  mir  bei  dieser 


lust"  beizulegen.  Endlich  vergleiche  auch  bezüglich  des  vorliegenden  Falles  Meumann's 
scharfsinnige  und  allseitig  gründliche  Untersuchungen  über  Haus-  und  Schularbeit. 
(Dr.  E.  Meuraann,  Professor  an  der  Universität  in  Zürich,  Haus-  und  Schularbeit. 
Experimente  an  Kindern  der  Volksschule.  Leipzig,  Julius  Klinkhardt.  1904). 

1)  Als  Scherz  betrachtete  ich  es  auch,  wenn  er  eines  Tages  mir  gegenüber  konse- 
quent, allerdings  mit  spitzbübischem  Lächeln,  behauptete,  er  hätte  von  Papa  und  Mama 
noch  nie  Schläge  bekommen,  trotzdem  dies  der  Wirklichkeit  nicht  ganz  entspricht,  da  er, 
wenn  auch  selten,  doch  schon  zu  Hause  wiederholt  die  Rute  fühlte  und  sich  dabei,  wie 
der  Herr  Papa  schriftlich  bemerkte,  jeweils  mehr  zerknirscht  als  weich  zeigte. 


—    61     — 

zweiten  Erforschung  —  deren  Tendenz  er  ja  nach  den  Voraussetzungen 
der  väterlichen  Deutung  hätte  ahnen  müssen  —  kurz  entgegnet  hätte : 
„Gelt,  ich  soU  Dir  wieder  das  Geschichtchen  erzählen  ?  0,  Du  hast's  ge- 
glaubt I"  Noch  will  ich  unentschieden  lassen,  welche  Ernüchterungs- 
wirkung die  inzwischen  ergangene  Drohung  des  Vaters  hatte,  der  dem 
Knaben  das  Gerede  von  seiner  Reise  nach  Amerika  bei  strengster 
Strafe  untersagte.  Anderseits  könnte  die  Tatsache,  daß  der  Kleine 
erst  nach  der  väterlichen  Zurechtweisung  —  wenn  man  überhaupt  so 
sagen  darf  —  die  Geschichte  allen  Ernstes  und  mit  größter  Bestimmt- 
heit auch  Herrn  Rektor  K.  erzählte,  zu  dem  Schlüsse  führen,  daß  die 
Phantasterei  des  Jungen,  wenn  nicht  das  Grundstadium  einer  fixen  Idee, 
so  doch  drei  Stufen  aufweist: 

I.  Am  10.  Oktober  erlaubte  er  sich  einen  Scherz. 

II.  Am  24.  November  und  den  folgenden  Tagen  beging  er,  unter- 
stützt durch  ein  auffällig  gutes  Gedächtnis  für  derlei  Dinge,  eine  phan- 
tastische Lüge. 

III.  Am  6.  Dezember  gesteht  er  seinen  Scherz  und  seine  Lüge  mit 
den  Worten :  „Ich  hab  dem  Herrn  Lehrer  was  erzählen  wollen." 

Dieser  Deutung  widerstreitet  indessen  die  bejahende  Antwort,  welche 
der  Knabe  ohne  jedes  Bedenken  allen  Ernstes  auf  die  Frage  gab:  „Soll 
ich  das  alles  auch  dem  Herrn  Papa  erzählen?"  Und  wäre  er  wirklich 
naiv  genug,  bei  Vater  und  Lehrer  den  Glauben  an  die  Wahrhaftigkeit 
seiner  Erzählung  vorauszusetzen,  so  wäre  diese  Naivität  für  einen 
7  jährigen,  körperlich  gesunden  Jungen  so  abnorm,  daß  wir  sie  unstreitig 
als  pathologisch  bezeichnen  müßten.  Eins  oder  das  andere :  entweder 
gehört  die  Spinnerei  als  Aktion  oder  die  Arglosigkeit  des  Erzählers 
ins  Bereich  des  Psychopathischen  —  wenn  nicht,  dann  läge  bei  der  frei- 
mütigen Wiederholung  der  Erzählung  eine  Verstellungskunst  und  eine 
Kühnheit  bedenklichster  Art  vor,  deren  moralischen  Schwerpunkt  ich 
in  den  Worten  erblickte :  „Ich  hab's  dem  Papa  noch  nicht  erzählt,  weil 
mirs  mein  lieber  Gott  noch  nicht  erlaubt  hat".  „Ich  erzähle  es  ihm, 
wenns  mein  lieber  Gott  haben  will".  Doch  war  ich  von  der  Wahrheits- 
liebe des  Schülers  von  vornherein  so  überzeugt,  daß  ich  dieselbe  nicht 
einen  Augenblick  in  Frage  stellte  und  darum  unterließ,  besondere  Er- 
kundigungen darüber  einzuziehen.  Ich  wäre  weit  eher  geneigt,  phan- 
tastische Träumerei  und  Autosuggestion  anzunehmen,  der  durch  ver- 
schiedene Einwirkungen    später   Ernüchterung  und  —  Scham  (?)  folgte. 

Item,  bleibt  nach  den  zur  Verfügung  stehenden  Daten  selbst  unent- 
schieden, ob  wir  es  hier  mit  einem  harmlosen  kindlichen  Gedankenspiel, 


—    62     - 

mit  einer  phantastischen  Lüge '),  mit  einer  abnormen  Selbsttäuschung 
oder  mit  krankhafter  Einbildung  zu  tun  haben:  drei  Momente  als  Er- 
gebnis meiner  Untersuchung  möchte  ich  doch  vor  allem  hervorheben: 

1.  Die  Aussagen  des  Kindes  gleichen  selbst  dann,  wenn  sie  nach 
einer  einheitlichen  Idee  selbständig  aneinander  gereiht  sind  und  stets  wort- 
getreu wiederholt  werden,  nur  zu  oft  einer  trüglichen  Kette  unhalt- 
barer- Seifenblasen  —  und  welchen  fixen  Glauben  schenken  efFekt- 
haschende  Untersuchungsrichter  trotzdem  oft   gerade  dem  Kindermund! 

2.  Die  märchenhafte  Duselei  in  der  Kinderstube  kann  je  nach  der 
Disposition,  dem  psychophysischen  Typus  der  Kleinen  in  einem  kind- 
lichen Gehirn  bisweilen  die  größte  Verwirrung  anrichten  und  zur  be- 
denklichsten Phantasterei  und  Lügerei  führen. 

3.  Namentlich  hat  die  Schule  die  Pflicht,  bei  der  Pflege  der  Phan- 
tasie, zumeist  der  religiösen,  alle  Vorsicht  zu  beachten  und  den  zügel- 
losen Flattergeist  des  Kindes  immer  und  immer,  wieder  zur  Wirklich- 
keitswelt zurückzuführen  —  wenn  auch  nicht  gerade  in  die  abstoßende 
Dürre  und  reizlose  Gemütsarmut  des  krassesten  Positivismus. 

Die  Idee  der  Wahrhaftigkeit  und  der  Ernst  des  Unterrichts,  prak- 
tische und  psychologische  Gründe  zwingen  uns,  in  der  Schule  dem  Kinde 
nur  Tatsachen  vorzuführen,  und  auch  der  erdichteten  Handlung  muß, 
gerade  so  lange  Geist  und  Gemüt  für  einen  freieren  und  höheren  Kunst- 
genuß noch  nicht  reif  sind,  der  Charakter  der  kausalen  Wahrscheinlich- 
keit gewahrt  bleiben.  Allermeist  aber  soll  der  angehende  Schüler  mit 
eigenen  Augen  sehen  und  eigenen  Ohren  hören  und  im  Dienste  der  not- 
wendigen Selbstüberzeugung  und  wirklichen  Selbstbildung  die  auf  dem 
Wege  direkter  Wahrnehmung  und  objektiver  Anschauung  erzeugten 
Vorstellungen  gedanklich  richtig  in  gegenseitige  Beziehung  setzen  lernen. 
Niemals  darf  der  Lehrer  ein  bedingtes  X  in  ein  freies  U  verwandeln, 
nie  weiß  in  schwarz,  nie  blau  in  grün  verkehren.  Und  wie  der  Schöpfer 
des  kunstgemäßen  Dramas,  so  ist  auch  unser  kleiner  Dichterling  selbst 
beim  Aufbau  einer  Handlung  nicht  nur  an  die  Einheit  von  Ort  und  Zeit, 
sondern  nächstdem  an  das  Gesetz  der  Kausalität,  an  das  Prinzip  der 
Wahrscheinlichkeit,  an  die  Normen  der  Logik,  Ästhetik  und  Ethik  ge- 
bunden. In  Sonderheit  aber  bleibt  bei  aller  Freiheit  der  Darstellung  die 
Objektivität  die  Grundtendenz  des  ersten  Unterrichts,  und  ist  es  wahr,  — 
wie  Kant  behauptet  —  daß  die  größte  Zweckmäßigkeit  aucb  immer  die 
vollendetste  Schönheit  ist,  dann  greifen  die  Forderungen  der  Verstandes- 
kultur und  die  der  Gemütsbildung  harmonisch  ineinander.  Diese  Grund- 


1)  Vergl.  auch  Dr.  G.  Stanley  Hall,   „Ausgewählte  Beiträge   zur  Kinderpsychologie 
und  Pädagogik.  IV.  Das  Lügen  der  Kinder.  Altenburg.  1902. 


—    63    — 

sätze  leiteten  mich  u.  a.  bei  der  Herausgabe  meines  neuesten  Lehr-  uftd 
Lesebuchs:  „Das  Kind  in  Haus,  Schule  und  Welt"*). 

Möge  vorstehend  veröffentlichte  Untersuchung  zu  weiterer  For- 
schung auf  diesem  Gebiete  anregen,  und  möge  es  mir  vor  allem 
gelungen  sein,  zu  zeigen,  in  welcher  Weise  ein  Lehrer  derar- 
tigen psychischen  Erscheinungen  auf  den  Grund  zu  gehen 
hat:  dann  ist  der  Zweck  meiner  Berichterstattung  erfüllt. 


1)  0.  Nemnich,  "Wiesbaden  1903.  Vergl.  auch  des  Verfassers  „Unterrichtspraxis  im 
Sinne  naturgemäßer  Reformbestrebungen  für  das  Gesamtgebiet  des  ersten  Schuljahres  u. 
ihre  theoretische  Begründung  vom  Standpunkte  der  Kinderpsychologie".  Wiesbaden. 
0.  Nemnich.  1904.  I.  TeU,  S.  36  bis  40,  II.  Teil  S.  4  bis  7  u.  s.  f. 


Arbeiten  aus  dem  städtischen  pädagogischen  Laboratorium 

Antwerpens. 

(Schluß  aus  dem  Jahre  1905). 
Von  Marx  L  o  b  s  i  e  n ,  Kiel. 

9.  Nachtrag:  Verschiedenes: 

a)  E.  t'Kindt:   Hoe  trekken  de  leerlingen   eener  hoogste  klas   eene 
rechte  lijn  van  een  decimeter  ?     Jaarb  1905  S.  23  ff. 

b)  ders. :  Het  ideal  der  kinderen.     ebend.  S.  36  ff. 

c)  Schuyten :  Over  variatie  in  de  natuur.     ebd-  S.  45  ff. 

d)  ders. :    Over  de  validiteit  van  het  lager  aanschouwingsonderwijs. 
ebd.  S.  61  ff. 

a.  Wie  ziehen  die  Zöglinge  einer  Oberklasse  eine  gerade 
Linie  von  1  decm,  Länge? 
30  Prüflinge  einer  Oberklasse  einer  Volksschule  —  im  Alter  von 
11 — 14  Jahren  —  wurden  gegen  Ende  des  Schuljahres  folgendem  Ver- 
such unterworfen  :  Jeder  Prüfling  empfing  zu  Beginn  der  Untersuchung 
16  Blättchen  Papier  von  20  cm  Seitenlänge  und  ein  Lineal  von  1  dem  Länge. 
Die  Länge  der  Linie  ist  den  V.  P.  bekannt.  Auf  ein  gegebenes  Zeichen 
legen  die  V.  P.  den  Maßstab  mit  der  rechten  Hand  auf  das  Blatt,  um  ihn 
dann  nach  •/2  Min.  so  schnell  wie  möglich  auf  ein  gegebenes  Zeichen 
hin  zu  verbergen.  Nun  erst  wird  ihnen  gesagt,  daß  sie  auf  das  Papier 
eine  Gerade  von  1  dem  Länge  entwerfen  sollen  und  zwar  derart,  daß 
auf  das  erste  Blatt  mit  der  Rechten  von  links  oben  nach  rechts   unten 


—    64    — 

^ ,  auf  das  zweite  mit  der  linken  Hand  in  gleicher  Richtung  auf  die 
folgenden  Blätter  gezogen  wird  u.  s.  f.  nach  folgender  Übersicht :  (R  = 
rechte,  L  =  linke  Hand)  R  "^  und  i^,  L  "^  und  i^,  R  "^  und  /,  L  »^  und  /, 
R  ->  und  ^~ ,  L  ->  und  <—,  R  ^  und  f  ?  L  ^  und  '|^.  Jedes  Blatt  wurde 
nach  der  Benutzung  durch  die  freie  Hand  umgewendet.  Der  Versuch 
wurde  im  folgenden  Jahre  wiederholt. 

Die  entworfenen  Linien  wurden  einer  doppelten  Messung  unter- 
zogen, es  ward  bestimmt  1.  deren  scheinbare  Länge,  d.i.  der  Abstand 
zwischen  ihren  beiden  Endpunkten  und  ihre  wirkliche  Länge ,  d.  h.  die 
Länge  der  gezogenen  Linien,  um  zu  sehen,  wie  weit  sich  der  Schüler 
der  richtigen  annähere;  die  letztere  wird  berechnet.  Mithin  wird  ein 
doppeltes  untersucht:  1.  Der  Begriif  der  Länge  eines  Dezimeters, 
2.  die  richtige  Linie.  Die  Ergebnisse  werden  beiderseits  in  10  Milli- 
meterdistanzen geordnet,  3.  ward  auf  den  Neigungswinkel  der  Schrägen 
zur  Diagonale  des  Blattes  und  4.  darauf  geachtet,  ob  die  Wagerechten 
und  Senkrechten  die  Mitte  der  Blattseite  innehielten,  bezw.  wie  weit 
sie  sich  davon  entfernten.  —  Das  Ergebnis  der  in  zwei  umfänglichen 
Tabellen  dargestellten  Beobachtungen  ist :  die  V.  P.  verfügten  im  all-, 
gemeinen  über  eine  genaue  Auffassung  der  Distanz  eines  dem  und 
waren  imstande,  in  den  verlangten  Richtungen  Dezimeterlängen  zu 
zeichnen,  die  1  dem.  recht  nahe  kamen,  besonders  mit  der  rechten  Hand. 

b.     Die  Ideale  der  Kinder. 

Der  Verf.  erhebt  die  Frage,  ob  Kinder  über  Ideale  verfügen,  d.  h. 
Vorstellungen  von  VoUkommenheitszuständen.  Er  glaubt,  mit  nein  ant- 
worten zu  müssen.  Den  vorhandenen  Untersuchungen  nachgehend  wirft 
er  ihnen  vor,  daß  ihre  Ergebnisse  durch  mancherlei  Einflüsse  zu  sehr  ge- 
trübt seien,  als  daß  man  von  Kinder  idealen  in  den  Angaben  der  V.  P. 
reden  könne,  es  stecke  zuviel  vom  Versuchsleiter  darin.  Kindt  will 
in  seinen  Versuchen  vollkommene  Freiheit  für  die  Beobachter,  nur  her- 
nach unterwirft  er  sie  insofern  einem  Zwang ,  als  er  sie  nach  dem 
Warum  ihrer  Entscheidung  fragt:  Wem  möchtest  du  ähnlich  werden? 
Warum?  Ergebnis:  Die  Schüler  nannten  als  Ideal,  (hier,  wo  sie  durch 
keinen  bestimmten  Hinweis  des  Versuchsleiters  bestimmt  wurden)  nahezu 
ausschließlich  Personen  ihrer  Umgebung.  Auch  in  der  Begründung 
zeigt  sich  weit  größere  Übereinstimmung  als  bei  den  früheren  Unter- 
suchungen; trotz  aller  kleineren  Differenzen  dominierten  Güte,  Liebe, 
Macht  und  Ehre.  Die  Schule  machte  sich  zwar  deutlicher  bemerkbar: 
von  8  Beobachtern  behielten  vorderhand  nur  3  dasselbe  Ideal  unter  an- 
nähernd gleicher  Begründung  bei;  bei  den  übrigen  zeigte   sich  Wandel- 


—     65     — 

barkeit,    sodaß  sich  die  jugendlichen  Ideale   als    wenig  widerstandsfähig 
erweisen. 

c.  Über  Variation  in  der  Xatur. 
Die  Arbeit  erörtert  einleitend  den  Begriff  der  Variation  in  der 
Natur  und  geht  dann  ihren  mannigfachen  Formen  in  der  leblosen  und 
belebten  Xatar.  der  Natur  und  Geisteswelt  nach.  (Jährliche  Tempe- 
raturkurven, Erhebungen  der  Erdoberfläche.  Variation  der  Xaturkräfte: 
das  Tanzen  der  "VS'ellen.  ihre  Ausbreitung  am  bespülten  Ufer.  Einfluß 
des  Windes  auf  losen  Sand ,  das  Errichten  von  Gebäuden  in  den  ver- 
schiedenen Zonen ,  chemische  Variationen,  periodische  Befruchtung  der 
Blumen,  Fruchtlänge  von  Oenothera  Lamarckiana.  Keimen  der  Saat, 
diskontinuierliche  Variation,  die  Form  der  Baumstämme,  usf.  Geburten 
und  Todesfälle,  periodische  Längs-  und  Gewichtszunahme  der  Kinder, 
periodische  Wärmeausstrahlung,  Muskelkraftvariation,  jährliche  Auf- 
merksamkeitskurve des  Bandes ,  geistige  Arbeitskurve ,  ergographische 
Kurven  usf.).  Überall  offenbart  sich,  ungeachtet  der  unendlichen  Varia- 
tionsmannigfaltigkeit im  besonderen,  die  Quetelet  -  Kurve  zu  gründe 
liegend  (wahre  oder  pseudo).  die  in  Gestalt  einer  Welle  verläuft. 

d.  Über  die  Validität  des  niederen  Anschauungsunterrichts. 
Schuyten  tritt  nachdrücklichst  für  das  Prinzip  der  Veranschaulichung 
ein;  alles,  was  nur  möglich,  müsse  den  Sinnen  der  Schüler  vorgeführt 
werden.  —  Der  Besuch  einer  R echen stund e .  die  von  einem  Lehrer  ge- 
geben wurde,  dessen  methodische  Spezialität  auf  diesem  Gebiete  liegt, 
der  von  sensoriellen  Vorstellungen  beim  L'nterrichte  fast  ganz  abstra- 
hierte —  und  doch  überraschende  Resultate  zeitigte,  machten  Zweifel 
an  die  Allgemeinverbindlichkeit  der  alten  pädagogischen  Wahrheit 
rege.  Er  stellte  im  Juni  1905  in  zwei  Oberklassen  (Mädchen-  und 
Knaben-)  einen  Versuch  an ,  dessen  Aufgabe  war ,  zu  erkunden ,  auf 
welchem  Wege,  ob  auf  dem  auditiven  oder  visuellen  (der  dann  noch 
durch  den  ersten  verstärkt  wird)  eine  Zahl  (Ziffern-)  reihe  am  leich- 
testen und  sichersten  ins  Gedächtnis  aufgenommen  werde.  Er  wählte 
die  Zahlenreihen: 

59    37    65    83    72    94    26    48 

69  23  58  76  42  87  35  94 
Die  erste  Reihe  ward  ausschließlich  auditiv  dargeboten,  jede  Zahl  ward 
vom  Versuchsleiter  vor-  und  von  den  V.  P.  nachgesprochen ;  alle  8 
wurden  auf  ein  gegebenes  Zeichen  niedergeschrieben.  Das  geschah  nach- 
einander 3 mal.  wobei  durch  Umfalten  des  Papiers  ein  Nachschreiben 
unmöglich  gemacht  wurde.     Der   ganze  Versuch    dauerte   etwa  5".     Bei 

Meumann,  Exper,  Pädagogik.    V.  Band.  5 


—    66    — 

der  zweiten  Weise  wurde  der  Zählrahmen  benutzt.  Jede  Zahl  wurde 
gezeigt,  auf  ein  Zeichen  ausgesprochen  und  dann  wurden  alle  8  nieder- 
geschrieben, Zeit  etwa  6".  Somit  kommen  zwei  Versuchsarten  in  Frage, 
eine  auditiver,  eine  visu-auditiver  Art.  Zahl  der  Prüflinge :  32  Knaben 
und  27  Mädchen,  Ergebnis:  Die  Resultate  der  zweiten  Ver- 
suchsreihe, die  man  als  die  günstigeren  doch  erwartete, 
blieben  nicht  unerheblich  hinter  den  andern  zurück.  Eine 
Wiederholung  des  Versuchs  nach  einigen  Wochen  bestätigte  das  Er- 
gebnis durchaus.  Dieses  Resultat  war  Schuyten  so  überraschend,  daß 
er  erst  fernere  Untersuchungen  abwarten  will,  bevor  er  weitere  Schlüsse 
zu  ziehen  wagt. 


Der  sechste  Sinn  der  Blinden. 

(Nachtrag  zu  der  in  Bd.  III,  3/4  und  Bd.  IV,  3/4  veröffentlichten  Ab- 
handlung). 
Von  Ludwig  Truschel,  Straßburg  i.  E. 

Dieser  Nachtrag  soll  von  den  in  Bd.  IV,  S.  138  und  140  ange- 
deuteten TJnterproblemen  handeln,  weil  dem  Verfasser  bei  seinen  Vor- 
untersuchungen mehrere  bisher  nicht  mit  dem  6.  Sinn  des  Blinden  in 
Beziehung  gebrachte  Erscheinungen  und  bezügliche  Hypothesen  sich  auf- 
gedrängt haben,  die  er  hiermit,  ohne  sie  selbst  weiter  zu  verfolgen, 
nebst  Literaturnachweis  den  berufenen  Spezial-Forschern  als 
eventl.  verwertbares  Material  aufzeigen,  bezw.  sie  zur 
etwaigen  Inangriffnahme  anregen  möchte. 

Die  hauptsächlichsten  Schlußergebnisse  des  physikalisch  -  physiolo- 
gischen Teils  der  Voruntersuchungen  seien  hier  kurz  wiederholt. 

1)  Der  sogenannte  sechste  Sinn  der  Blinden  beruht  ausschließlich 
auf  der  Reizung  der  Grehörsorgane  durch  reflektierte  Schallwellen. 
(Bd.  II,  S.  136,  Sonderdruck,  S.  149). 

Eingeschränkt  wurde  dieser  Satz  wiederholt  durch  den  Hinweis  auf 
die  mögliche  Beteiligung  nicht  untersuchter  Reizgattungen  (Strahlen  des 
nicht  leuchtenden  Spektrums  z.  B.). 

2)  Veränderungen  in  der  Tonhöhe  sind  (soweit  die  I.  Gattung  der 
X-Reize  in  Betracht  kommt)  das  Hauptkriterium  für  die  X-Empfindungen, 
namentlich  der  Maßstab  für  die  Abschätzung  des  Abstandes  zwischen 
Ohr  und  Reflektor.     (S.  140,  bezw.  153). 

3)  Je  geringer  der  Abstand  vom  Reflektor  ist ,  dem  man  unver- 
mittelt gegenübertritt,   desto  größer  ist  das  Intervall  zwischen  der  ur- 


p 


—    67    — 

sprimgKclien  und  der  sekundären  Tonhöhe  —  und  umgekehrt.  —  Am 
häufigsten  sind  die  Intervalle  von  Sekunde  bis  Quarte.  (S.  139,.  bzw.  152). 

Wie  die  Fähigkeit  der  „akustischen  Raumwahmehmung"  sich  bei 
den  Blinden  entwickelt,  welchen  Einfluß  dieser  Sinn  auf  die  übrigen 
Raumvorstellungen  gewinnt,  und  wie  er  planmäßig  ausgebildet  und  den 
praktischen  Forderungen  des  Lebens  in  erhöhtem  Maße  dienstbar  ge- 
macht werden  kann,  hat  Verf.  in  den  anschließenden  Kapiteln  IV  und 
V  (Bd.  IV)  in  raschen  Strichen  darzulegen  versucht.  TJnerörtert  mußten 
jedoch  u.  a.  folgende  Fragen  bleiben: 

1)  Wie  entstehen  die  pp.  Intervalle?  2)  Besteht  ein  physikalischer 
Unterschied  zwischen  den  als  I.  und  den  als  II.  Grattung  bezeichneten 
X-Reizen?  3)  Welche  Teile  des  Grehörsorgans  werden  gereizt?  4)  Rea- 
gieren auf  beide  Reizgattungen  dieselben  Organe? 

Da  Vf.  diesen  schwierigen  Problemen  als  Laie  gegenübersteht,  so 
wollen  die  nachstehenden  Ausführungen  nur  Hinweise  sein  und  sich  auf 
den  ganz  bescheidenen  Zweck  beschränken,  der  eingangs  ausgesprochen 
wurde. 

Welche  akustischen  Erscheinungen  sind  überhaupt  mit  der  X- Wahr- 
nehmung verbunden? 

Zunächst  ist  offenbar  ein  rein  quantitativ-zeitliches  Mo- 
ment zu  beachten.  Sowohl  bei  größerem  als  bei  geringerem  Abstand 
tritt  zu  dem  direkten  Schallwellenbündel  das  reflektierte  hinzu,  und  da 
der  Weg  der  Reflexionswellen  in  jedem  Falle  länger  ist  als  der  der 
direkten,  so  entsteht  genau  genommen  auch  immer  ein  Unterschied 
in  der  Zeit  der  Ankunft.  Dieser  Unterschied  ist  jedoch,  da  in  der 
Länge  der  beiden  Schallwege  in  der  Regel  nur  eine  Differenz  von  höch- 
stens 3 — 5 — 10 m  besteht,  so  minimal,  daß  von  einem  Echo  im  gewöhn- 
lichen Sinn  nicht  die  Rede  sein  kann. 

—  Damit  soll  natürlich  nicht  gesagt  sein,  daß  auf  größere  Entfer- 
nungen nicht  auch  das  Echo  für  das  Sensorium  der  Blinden  eine  wich- 
tigere RoUe  spielt  als  für  uns  Sehende,  ebenso  wie  die  Blinden  auf 
allerlei  andere  Fern-Reize  des  Greruchs  und  der  Hautsinne  (Luftdruck 
und  Temperatur)  sowie  des  Gehörs ,  auch  soweit  gewöhnliche ,  direkt 
empfundene  Geräusche  und  Töne  in  Betracht  kommen .  in  erhöhtem 
Maße  angewiesen  sind.  Aber  alle  diese  Empfindungen  weichen  nach 
meinen  bisherigen  Beobachtungen  weder  in  ihrem  Charakter  noch  in 
ihrer  Intensität  ab  von  den  gleichartigen  der  Voll.-,innigen  und  haben 
also  mit  dem  in  Frage  stehenden  „sechsten  Sinn  der  Blinden"  nichts 
zu  tun.  — 

5* 


—    68    — 

Als  wichtiger  wird  man  vielleicht  den  Unterschied  ansprechen, 
der  sich  zwischen  den  rechts-  undden  linksseitig  en  Empfin- 
dungen einstellt  in  der  Weise,  daß  bei  einer  Drehung  des  Kopfes  oder 
bei  seitlicher  Stellung  des  Reflektors  das  zugewandte  Ohr  durch  die 
Reflexionswellen  stärker  gereizt  würde  als  das  abgewandte,  auf  das  die 
direkten  Wellen  deutlicher  und  reiner  wirkten.  Die  Neigung  des  blinden 
Beobachters,  dem  Objekt  ein  Ohr  direkt  zuzukehren,  unter  Umständen 
also  den  Kopf  rasch  zu  drehen,  zeigte  sich  während  meiner  Experimente 
bei  jeder  Grelegenheit  mit  unzweifelhafter  Deutlichkeit  und  war  durch 
keine  entgegengesetzte  Verhaltungsmaßregeln  zu  unterdrücken.  (Man 
vergl.  die  diesbezügl.  Bemerkung  Bd.  IV,  S.  136;  Sonderdruck  S.  149). 
Vielleicht  bietet  der  X-Sinn  den  Physiologen  überhaupt  wertvolles  Ma- 
terial zur  Nachprüfung  der  Theorien  über  Schall-Lokalisation. 

Auch  Schallstärke  und  Klangfarbe  variieren  in  der  Nähe 
eines  Reflektors.  Es  versteht  sich  von  selbst,  daß  der  Schall  mit  der 
Annäherung  der  Quelle  an  eine  Wand  zunächst  immer  stärker  wird. 
Aber  diese  Zunahme  der  Intensität  hat  ihre  nahe  Grenze.  Schließlich 
tritt  das  Gegenteil  ein:  der  Schall  wird  schwächer.  (Interferenz).  Die 
Intensität  korrespondiert  selbst  in  den  einfachsten  Fällen  nicht  durch- 
gehend mit  dem  Abstand,  viel  weniger  bei  der  Mitwirkung  zweier  oder 
mehrerer  Reflektoren  oder  gar  in  geschlossenen  Räumen.  Ich  erinnere 
ferner  an  die  Abhängigkeit  dieser  beiden  Kategorien  von  dem  Material, 
bezw.  der  Überkleidung  des  Reflektors,  sowie  von  der  Größe,  Gestalt, 
Füllung,  Wandbekleidung  ganz  oder  teilweise  geschlossener  Räumlich- 
keiten. Infolge  dieser  vielseitigen  Bedingtheit  ist  mit  der  Annäherung 
an  einen  Reflektor  bald  eine  Ab-  bald  eine  Zunahme  der  Schallstärke 
und  von  Fall  zu  Fall  ein  ganz  erhebliches  Variieren  der  Klangfarbe 
verbunden.  Ein  halbwegs  sicheres  Kriterium  kann  also  hierin  nicht 
liegen.  Und  da  geübte  Blinde  sich  tatsächlich  nur  sehr  selten  in  der  Ab- 
schätzung des  Abstandes  täuschen,  so  muß  das  Hauptkriterium  in  etwas 
Anderem  zu  suchen  sein.  Ich  erblicke  es ,  wie  in  Bd.  IV  ausgeführt 
und  eben  wiederholt  wurde,  in  den  Veränderungen  der  Tonhöhe  (so- 
weit die  I.  Gattung  der  X-Reize  in  Betracht  kommt) : 

Bei  direktem  Zugehen  auf  einen  Reflektor  (Wand  z.  B.)  ent- 
,  steht  eine  chromatische  Tonleiter  in  auf-,  beim  Abgehen  eine  solche 
in  absteigender  Folge.  Tritt  man  einem  Reflektor  unvermittelt 
gegenüber,  so  entsteht  zwischen  dem  Reflexions-Ton  und  der  ur- 
sprünglichen Tonhöhe  ein  Intervall,  das  jeweils  mit  dem  Abstand 
in  umgekehrter  Proportion  korrespondiert. 


—    69    — 

Wie  können  solche  Intervalle  entstehen? 
Da   sie   bei   direktem   Zn-    oder  Abgehen   während  der    Annähe- 
rung oder  während  der  Entfernung  vom  Reflektor    auftreten,   drängt 
sich  die  Frage  anf,  ob  hier  nicht  das  Dopplersche  Prinzip  mitspielt. 

Im  vorigen  Heft  habe  ich  unter  einer  Reihe  ähnlicher  Beobachtungen 
folgenden  Fall  erwähnt: 

Man  fährt  im  Schnellzuge  an  einem  andern  stehenden  Zng 
(oder  auch  einem  langsamer  fahrenden),  oder  einem  Stationsgebäude, 
einem  Wärterhänschen ,  einer  Passerelle .  einer  ganz  nahen  Signal- 
stange 0.  a.  vorbei:  das  Gerassel  hat  für  die  Daner  des 
„Nebeneinander"  einen  höheren  Ton.  (Bd.  IV,  S.  139,  Sdr. 
S.  152). 

Ich  füge  hinzu,  daß  selbstverständlich  bei  entsprechender  Stellung 
einer  Fläche  des  Reflektors  mit  der  Annäherung  eine  chromatische  Er- 
höhung, mit  der  Entfemimg  ein  chromatisches  Fallen  verbunden  ist,  — 
analog  den  bei  den  X-Wahrnehmungen  beobachteten  Er- 
scheinungen. 

Man  vergleiche  damit  ein  ähnliches,  anf  Dopplers  Prinzip  beruhendes 
Phänomen : 

Während  der  Zug  eine  kleine  Station  passiert,  macht  die  Signal- 
glocke  fünf  Schläge  und  erzeugt  dadurch  fünf  Töne  von  objektiv  gleicher 
Schwingungszahl.  Der  Beobachter  im  Zug  hört  die  beiden  ersten  wäh- 
rend der  Annäherung,  den  dritten  im  Angenblick  des  Nebeneinander 
nnd  die  beiden  letzten  nach  der  Durchfahrt,  also  bei  wachsendem  Ab- 
stand. Infolge  der  raschen  Fortbewegung  empfindet  er  die  beiden  ersten 
las  höher,  den  4.  und  5.  als  tiefer;  nur  den  3.  hört  er  in  annähernd 
objektiver  Höhenlage  (wenn  die  Glocke  sich  nicht  vor,  sondern  etwas 
entfernt  neben  dem  Gebäude  befindet). 

Nach  Dopplers  Prinzip  erklärt  sich  dieser  Vorgang  daraus,  daß 
man  infolge  der  Annäherung  an  die  Tonquelle  mehr  Schwingungen 
empfindet,  während  die  Weiterentfernung  das  Umgekehrte  zur  Folge 
hat.  Das  Intervall  zwischen  dem  objektiven  nnd  dem  subjektiven  Ton 
ist  also  bedingt  durch  die  Geschwindigkeit  der  Fortbewegung 
entweder  der  Schallquelle  oder  des  Beobachters.  Bezeichnet  man  den 
objektiven  Ton  mit  w,  den  subjektiven  mit  n*,  die  Geschwindigkeit  des 
Beobachters  mit  a,  die  Geschwindigkeit  des  Schalls  mit  c,  so  ist^)  bei 
der  Annäherung  des  Beobachters  an  eine  ruhende  Tonquelle  —  also  wie 
in  dem  vorstehenden  Beispiel: 


1)  Nach  Müller-Pouillet-Pfaundler,  Physik.  Braunschweig,  Vieweg.  9.  Auflage.   S.  733. 


-     70    — 

Durch  mehrfache  praktische  Untersuchungen  (Probefahrten  mit  Lo- 
komotiven *)  u.  a.)  wurde  dieses  Gesetz  nachgeprüft  und  bestätigt : 

Bei  einer  Höchstgeschwindigkeit  von  20  m  in  der  Sekunde 
wurde  als  größtes  Intervall  zwischen  dem  subjektiven  und  dem  ob- 
jektiven Ton  ca.  eine  halbe  Tonstufe  erreicht. 

Bei  den  (zu  andern  Zwecken  veranstalteten)  Probefahrten  der  elek- 
trischen Schnellbahn  Berlin  -  Zossen  wurden  ,  wenn  ich  mich  recht  ent- 
sinne, bei  Greschwindigkeiten  von  ca.  55  m  in  der  Sekunde  entsprechend 
höhere  Intervalle  beobachtet. 

Die  Vorgänge  bei  einer  X- Wahrnehmung  lassen  sich  insofern  hiermit 
vergleichen,  als  man  bei  direkter  Annäherung  (an  eine  Wand  z.  B.)  die 
reflektierende  Wand  als  ruhende  Tonquelle  und  den  sich  nähernden 
Blinden  als  Beobachter  betrachtet,  —  wobei  man  allerdings  von  allen 
andern  Einflüssen ,  die  bei  einer  solchen  Reflexion  mitspielen ,  absehen 
muß.  —  Nach  ganz  geringer  Annäherung  hat  sich  der  Ton  bereits  um 
mehr  als  eine  Terz  erhöht. 

Setzen  wir  die  Gang- Gre  seh  windigkeit  =  2m  und  untersuchen  wir, 
um  zu  erkennen,  ob  das  Dopplersche  Prinzip  hieran  beteiligt  sei,  1. 
welche  Geschwindigkeit  zu  einer  Terz  -  Erhöhung  erforderlich  wäre, 
2.  welche  Erhöhung  eine  Zweimeter  -  Geschwindigkeit  nach  Dopplers 
Prinzip  zur  Folge  haben  müßte. 

Zu  1 :  Der  dem  Trittgeräusch  (dem  von  der  Wand  reflektierten)  zu 
gründe  liegende,  hier  also  objektive  Ton  n  sei  a'  =  435  Schwingungen; 
der  subjektive  Ton  n^  wäre  dann  eis'*  =  ca.  548  Schw. ;  c  (Schallge- 
schwindigkeit) =  340;  a  (Annäherungsgeschw.  —  gesucht)  =  oc. 


548.340      „..       ^^^ 

X  =  T-.7= 340  =  öö,o  .  . . 

4do 

Es  wäre  also  die  unerhörte  Geschwindigkeit   von  88,3  . . .  m  in  der 


1)  Buij's  Bailot,  Pogg.  Ann.  1845.    LXVI.  S.  321  f. 
Vogel,  „  „       1876.     CLVIII.     S.  287  f. 

Mach,  Wien.  Akad.  d.  W.  1878.  LXXVII.     S.  299  f. 


—    71     — 

Sekunde  erforderlich,   um  nach   Doppl.  Pr.    eine  Terz-Erhohung  herbei- 
zuführen. 

Zu  2:  G-esucht  ist  das  Intervall  zwischen  subjektivem  und  objek- 
tivem Ton,  also  die  Differenz  n^  —  n  =  x.  n  (wie  oben)  =  435 ;  c  =  340 ; 
a  =  2. 


..  =  «(1+1) 


na 

n^  —  n  =z  —  =  X 
c 


485.2         ^__ 
^  =  -34^  =  2,oo9 

Es  ergäbe  sich  also  nach  Doppl.  Pr,  eine  Erhöhung  um  ca.  2V2 
Schwingungen,  mithin  ein  dem  bloßen  Ohr  unmerkliches  Intervall, 
während  es  doch  tatsächlich  eine  Terz ,  d.  h.  in  diesem  Falle  eine  Er- 
höhung von  113  Schw.  empfindet.  Selbst  bei  einer  Ganggeschwindig- 
keit von  4  m  betrüge  die  Differenz  noch  keine  Achtel-Tonstufe,  d.  h.  in 
dem  angenommenen  Falle  keine  6,659  sondern  bloß  5,118  Schw. ;  mit 
einer  solchen  Geschwindigkeit  ließ  ich  die  Versuchspersonen  jedoch  selbst- 
verständlich nicht  laufen,  da  sie  dabei  das  Hindernis  nicht  nur  nicht 
besser,  sondern  in  der  Regel  überhaupt  nicht  oder  nicht  anders  gemerkt 
hätten  als  mit  dem  Anprall. 

Ich  erinnere  ferner  daran,  daß  in  sehr  zahlreichen  Fällen  seit- 
liche Wahrnehmung  erfolgte  bei  plötzHch  eintretender  seitlicher 
Reflexion,  wobei  also  das  Dopplersche  Prinzip  gar  nicht  in  Frage  kommt, 
daß  überhaupt  die  Intervalle  ganz  unabhängig  von  der  nur  ganz  tm- 
wesentlich  variierenden  Annäher ungs geschwindigkeit  und  unabhängig 
von  der  Annäherungsrichtung  ausschließlich  mit  dem  Abstand 
zwischen  Beobachter  und  Reflektor  zu  korrespondieren  schienen. 

Da  sich  aus  den  verschiedenen  Abstufungen  des  Abstandes  und  der 
dadurch  bedingten  Tonhöhen  eine  regelmäßige  Skala  ergibt,  dachte  ich 
von  Anfang  an  an  die  Möglichkeit  einer  Art  (unvollkommener)  ste- 
hender Wellen  zwischen  dem  Körper  des  bl.  Beobachters  und  dem 
Reflektor.  Da  das  Trittgeräusch  wie  alle  Geräusche  aus  harmonischen 
Schwingungen  verschiedener  Dauer  zusammengesetzt  ist,  so  wäre 
vielleicht  die  Möglichkeit  gegeben,  daß  jeweils  eine  Tonhöhe  die  mit 
ihrer  Schwingungszahl  korrespondierende  Distanz  fände ,  sich  also  je- 
weils für  eine  Tonhöhe  die  Bedingungen  erfüllten,  unter  denen  (durch  In- 
terferenz) stehende  Wellen  von  ganz  geringer  Intensität  und  kurzer  Dauer 
sich   bilden   könnten.     Diese  beständen  bei  ganz  geringem  Abstand   aus 


—    72    — 

halben  Schwingungen  mit  Phasenwechsel,  wodurch  die  Lokalisation  we- 
sentlich erleichtert  würde  ^). 

Beim  Eintritt  in  einen  ganz  oder  teilweise  begrenzten  Raum,  z.  B. 
einen  Tunnel  wäre  die  Situation  etwas  komplizierter.  Da  schwänge  zu- 
nächst die  ganze  Luftmasse  als  Längssäule  in  einem  verhältnismäßig 
tiefen  Ton  und  unterrichtete  dadurch  den  Blinden  über  die  Dimensionen 
des  ganzen  Raumes.  Zn  gleicher  Zeit  schwängen  aber  auch  die  seit- 
lichen (unvollkommenen)  stehenden  Wellen  (zwischen  den  Wänden  und 
dem  Körper  des  bl.  Beobachters)  und  unterrichteten  ihn  über  den  Ab- 
stand von  den  Wänden. 

Ob  diese  angenommenen  Möglichkeiten  alle  wirkliche  Möglichkeiten 
sind,  vermochte  ich  als  Laie  selbstverständlich  nicht  zu  beurteilen;  es 
konnte  und  kann  auch  nicht  meine  Aufgabe  sein,  mich  mit  dieser  Ma- 
terie zu  beschäftigen. 

Ich  muß  mich  deshalb  damit  begnügen,  im  Nachstehenden  hinzu- 
weisen auf  die  Bemühungen  zweier  angesehener  Forscher,  auf  die  ich 
später  zufällig  aufmerksam  wurde.  Mit  den  bezüglichen  Wahrnehmungen 
der  Blinden  brachten  sie  zwar  die  akustischen  Erscheinungen  nicht  in 
Zusammenhang,  aber  die  Verwandtschaft  läßt  sich  unschwer  erkennen. 
Müller-Pouillet^)  glaubt  die  Veränderungen  des  Reflexionsge- 
räuschs in  der  Nähe  einer  reflektierenden  Wand  auf  den  Umstand  zu- 
rückführen zu  können,  daß,  wie  er  mit  der  Seebeckschen  Sirene  nach- 
gewiesen habe,  schon  zwei  Impulse  genügten,  um  einen  Ton  wahrzu- 
nehmen.    Er  sagt: 

Man  wähle  eine  Stelle  nahe  an  einer  den  Schall  reflektierenden 
Mauer ,  von  wo  man  das  einförmige  Geräusch  eines  entfernteren 
Wasserfalls  oder  eines  Eisenbahnzuges  hören  kann.  Alle  die  un- 
zähligen Einzelimpulse,  welche  von  der  Schallquelle  ausgehen,  ge- 
langen dann  zweimal  an  das  Ohr :  das  erste  Mal  direkt,  das  zweite 
Mal  nach  Reflexion  an  der  Mauer.  .  .  .  Falls  diese  Aufeinander- 
folge für  sich  eine  Tonwahrnehmung  hervorzurufen  vermag,  so  muß 
man  bei  1  m  Distanz  den  Ton  340  hören,  (ungefähr  /'.  D.  Vf.).  Um 
den    Ton    a^  der  Normalstimmgabel    von  440  Schw.  zu    hören,   muß 

340 
man  sich  auf  -j^pr  =  0,77  m  der  Mauer  nähern.     (Also   auf  0,23  m 

Annäherung  ein  Terz-Intervall.     D.  Vf.)     Diese    Töne  werden   nun 
unter  günstigen  Umständen  wirklich  gehört.     Nur  die  erste  Auffin- 


1)  Vergl.  z.  B.  A.  Gray.  Fortschritte  der  Physik  53  I  S.  568. 

2)  a.  a.  0. 


—     73     — 

düng  macht  manchmal  Schwierigkeiten;  sie  gelingt  am  leichtesten, 
wenn  man  das  Ohr  ziemlich  rasch  der  Mauer  nähert  und  es  wieder 
entfernt,  weil  dann  der  gesuchte  Ton  ansteigt  und  absinkt.  .  .  . 
Beim  Vorübergehen  an  den  Bäumen  einer  Allee,  welche  einem  rau- 
schenden Flusse  parallel  verläuft,  hört  man  bei  jedem  Stamme  den 
auf-  und  absteigenden  leisen  Ton"  (S.  732).    Soweit  Müller-Pouillet. 

Genauer  hat  van  Gulik^)  die  Erscheinungen  untersucht.  Er  er- 
wähnt den  Irrtum  Müller-Pouillets,  die  Wellenlänge  gleich  dem  Abstand 
zu  setzen.  Nach  seinen  Beobachtungen  ist  die  Wellenlänge  gleich  dem 
doppelten  Abstand.  (Also  halbe  Schw.,  s.  oben.  D.  Vf.).  Van  Gulik 
stellte  genauere  Beobachtxmgen  und  Messungen  an  auf  einem  Bahnhof 
und  an  einem  Wasserfall.  Über  die  ersteren  berichtet  er  im  wesentlichen 
folgendes. 

„Ich  legte  horizontal  auf  den  Perron  ein  großes  Brett  an  eine 
solche  Stelle,  daß  die  vom  Brett  reflektierten  Wellen  in  das  Ohr 
gelangten;  wenn  nun  die  Schallquelle  und  das  Brett  (seine  horizon- 
tale Lage  beibehaltend)  in  die  Höhe  gehoben  wnrde,  so  erhöhte 
sich  der  Ton.  Auch  wenn  das  Brett  aus  der  horizontalen  Lage  in 
einen  schrägen  Stand  gebracht  wurde,  änderte  sich  der  Ton*.  (1.  c. 
S.  288). 

Ebenso  erhöhte  sich  der  Ton,  wenn  van  Gulik,  sich  bückend,  das 
Ohr  dem  Brett  näherte,  und  zwar  bis  zu  einer  Oktave. 

An  einem  Wasserfall  rief  van  Gulik  dieselbe  Erscheinung  hervor, 
indem  er  veranlaßte,  daß  die  Schallwellen  von  einem  vertikalen  Brett 
senkrecht  reflektiert  wurden.  Das  dem  Fall  zugekehrte  Ohr  verschlossen, 
das  off'ene  dem  Brett  zugewandt,  näherte  er  sich  diesem  bis  er  den  Ton 
o'  hörte. 


I.  (S.  288). 

Ton 

Wirkliche  Wellenlänge 

Gemessene  Wegdifi'erenz 

c" 

133  cm 
66,5  cm 

136  cm 
69  cm 

Eine  Bestätigung  dieser  bloß  mit  dem  Gehör  beoba<ihteten  Erschei- 
nnngen  durch  Resonatoren  gelang  van  Gulik  nicht.     Überhaupt  fiel  ihm 


1)  D.  van  Gulik,  Archives  Neerlandaises  Serie  ü,  T.  6,  p.  287  ff. 


—        74:        — 

II.  (S.  289). 


Ton 


Wirkliche  Wellenlänge 


2  X  40  cm 
2  X  33  cm 


Abstand  d.  Ohres  vom  Brett 


41cm 
34  cm 


ni.  (S.  292). 


Ton 

Gemes 

sener  Abstand 

Berechneter  Abstand 

c" 

34  cm 

33  cm 

a' 

41  cm 

40  cm 

c',c",g",e"(?) 

67  cm 

67  cm 

a'  (Oberton) 

83  cm 

80  cm 

eine  genaue  Tonbestimmung  sehr  schwer^).  Man  unterscheidet",  sagt 
er,  „den  Ton  fast  nur  bei  Bewegung,  also  durch  seine  Änderung". 
(S.  292). 

Auf  mathematischem  Wege  kam  v.  Gr.  zu  dem  Ergebnis,  daß  durch 
die  Reflexion  die  ganze  Tonreihe  in  das  Geräusch  hineingetragen  werde. 
(Vergl.  oben  Tabelle  III).  Er  führte  die  Rechnung  aus.  als  ob  die  har- 
monischen Schwingungen,  aus  denen  jedes  Geräusch  zusammengesetzt  ist, 
unabhängig  unter  sich  von  der  Quelle  ausgesandt  würden.  Knoten-  und 
Bauchlinien  dieser  Töne  legten  sich  nebeneinander  und  jede  Knotenlinie 
dehnte  sich  zu  einem  allerdings  unreinen  Spektrum  aus.  In  Bezug  auf 
diese  spektrale  Zerlegung  sei  ein  beliebiges  Geräusch  einem  Gemisch 
lauter  harmonischer  Schwingungen  gleichwertig.  Wir  könnten  deshalb 
sagen,  daß  die  Töne  des  Geräusches  wie  die  Farben  des  weißen  Lichts 
bei  dem  Lloydschen  Spiegelversuche  räumKch  getrennt  würden  und  eine 
Tonspektrum  bildeten  Art.     (S.  293).  —  Soweit  van  Gulik. 

Vielleicht  würde  eine  Nachprüfung  und  Weiterführung  dieser  Unter- 
suchungen unter  Verwendung  geübter  Blinder  zu  wertvollen 
Ergebnissen  führen. 

Es  wird  nicht  überflüssig  sein,   auch   an    dieser  Stelle   noch    einmal 


1)  Vgl.  meine  ähnlich   lautenden  Bemerkungen  über  die  X-Wahrnehmungen  Bd.  IV 
S.  141,  Sdr.    S.  154. 


—    75     — 

daran  zu  erinnern,  daß  durcli  die  vorstehenden  Ausfüliningen  die  II. 
Gattung  der  X-Reize  niclit  berührt  wird. 

Den  durch  diese  konstant  wirkenden  Reize  hervorgerufenen  Eindruck 
darf  ich  %'ieUeicht  in  Parallele  setzen  mit  dem  bekannten  „Kochen*  in  einem 
großen  Schneckengehäuse.  Halten  wir  ein  solches  dicht  an  ein  Olir, 
so  bleibt  uns  kein  Zweifel  darüber,  daß  es  sich  nur  um  die  durch  Re- 
sonnanz  und  Reflexion  verstärkten  und  veränderten  Greräusche  aus  der 
Umgebung  handelt.  Wir  hören  ab  und  zu,  wie  gewisse  mit  dem  freien 
Ohr  ganz  deutlich  als  solche  nnterschiedene  Einzelgeräusche  sich  aus 
dem  sonst  ganz  konstanten  und  eintönigen  Gresumme  hervorheben.  Ent- 
fnrnen  wir  die  Schnecke  etwas  vom  Ohr,  so  beibt  nur  der  Eindruck  des 
konstanten  Summens  bestehen ;  der  Einfluß  der  Einzelgeräusche ,  aus 
denen  es  entsteht,  verliert  sich  vollständig :  wir  merken  bloß  noch,  daß 
^ etwas  summt"  auf  der  betreffenden  Seite. 

Ahnlich  dürfte  vielleicht  der  akustische  Vorgang  sein,  der  sich 
zwischen  der  Wand  oder  dem  in  die  Nähe  des  Ohrs  gehaltenen  Gregen- 
stand  und  dem  Ohr  abspielt.  Nur  daß  hier  der  verstärkende  Einfluß 
der  Schneckenwindungen  und  -Wandungen  wegfällt,  die  resultierende 
Wirkung  infolgedessen  sehr  viel  schwächer  ist  und  den  meisten  Sehenden, 
da  sie  nicht  genötigt  sind,  darauf  zu  achten,  unbemerkt  bleibt. 

Ich  darf  wohl  erwarten,  daß  unter  den  intelligenten  Blinden,  die 
schon  jähre-,  z.  T.  jahrzehntelang  ihren  eigenen  X-Sinn  zum  Gregenstand 
sorfältiger  Beobachtungen  gemacht  haben,  einer  oder  der  andere  selbst- 
ständig zu  dieser  Frage  Stellung  nehmen  wird. 

Aber  ich  vermute,  daß  sich  das  Problem  hiermit  nicht  erschöpft, 
auch  dann  nicht,  wenn  man  weiterhin  die  Möglichkeit  einer  Beteiligung 
unbekannter,  bezw.  von  mir  nicht  in  Erwägung  gezogener  oder  nicht 
untersuchter  Reiz-Gattungen  außer  Acht  läßt.  Der  ausgesprochen  räum- 
liche Charakter  dieser  Empfindungen  (bes.  II.  Grattung)  und  die  ver- 
blüffende Lokalisationsfahigkeit ,  die  sie  trotz  ihrer  so  außerordentlich 
geringen  Intensität  aufweisen,  drängten  mir  schon  bei  Beginn  meiner 
Untersuchungen  die  Vermutung  auf,  daß  diese  Erscheinung  eine  ganz 
spezifisch  physiologische  Grundlage  haben  dürfte  und  sich  mit  physi- 
kalischen (s.  oben)  und  entwicklungsgeschichtlichen  (Kapitel  IV)  Erör- 
terungen schwerlich  hinreichend  erklären  lassen  würde. 

Einerseits  wiesen  die  räumlichen  Eigenschaften  der  offenbar  unter 
der  Hörschwelle  (Hören  im  gewöhnlichen  Sinne)  liegenden  Reize  von 
selbst  auf  die  Frage:  wirken  diese  Reize  nur  infolge  von  Summation, 
oder  werden  sie  anstatt  im  sogenannten  Hörlabyrinth  vielleicht  im 
Tonuslabyrintb  perzipiert.  das  ja  am  Zustandekommen  der  räum- 
lichen  Empfindungen    erwiesenermaßen    sehr    wesentlich    beteiligt    ist? 


—     76    — 

Andrerseits  wurde  icli  auf  dieses  Organ  hingewiesen  durch  die  Beob- 
achtung, daß  die  Blinden  dem  sogen.  Drehschwindel  (und  Höhen- 
schwindel?) in  ähnlicher  Weise  unterworfen  sind  wie  die  Sehenden. 

Brachte  ich  z.  B.  einen  Blinden  in  kreisende  Bewegung,  so  hatte  er 
ebenso  wie  jeder  Vollsinnige  die  Empfindung,  als  rotiere  der  Boden 
unter  ihm  in  entgegengesetzter  Richtung.  Erfolgte  dieses  Experiment 
an  einem  Ort,  wo  sich  andere,  vom  Boden  aufragende  Gegenstände  be- 
fanden, so  tanzten  diese  während  der  ganzen  Dauer  des  Drehschwindels 
mit.  Das  war  auch  dann  der  Fall,  wenn  der  Blinde  mit  verschlossenen 
Ohren  und  desorientiert  an  den  betreffenden  Ort  gebracht  worden  war, 
also  das  Mitkreisen  (der  Bäumchen  z.  B)  nicht  die  Folge  einer  be- 
stimmten Erwartung  sein  konnte,  vielmehr  auf  den  Einfluß  der  betref- 
fenden X-Empfindungen  zurückgeführt  werden  mußte. 

Nach  ziemlich  übereinstimmenden  Forschungen  (Groltz,  Breuer,  Ewald, 
Kreidl,  Strehl ,  Cyon ,  Nagel ,  Barany ,  Abels  u.  A.)  ist  der  Sitz  dieses 
Schwindelgefühls  und  der  damit  verbundenen  Reaktionsbewegungen  im 
Tonuslabyrinth  zu  suchen ,  und  dieses  wird  zugleich  als  peripheri- 
sches Organ  des  Raumsinns  überhaupt  bezeichnet.  Allerdings 
scheint  man  dabei  soweit  ich  unterrichtet  bin,  ausschließlich  subjektive 
Reize  im  Auge  zu  haben,  wie  sie  den  Bewegungsund  Lageempfindungen 
zu  Grunde  liegen,  während  ich  mit  dem  Hinweis  auf  den  X-Sinn  der 
Blinden  die  Frage ,  auf  werfen  möchte ,  ob  nicht  die  X  -  Reize  als  ob- 
jektive  Reize  einen  wesentlichen  Anteil  hätten  an  all  dem,  was 
mit  Raumsinn ,  statischem  Sinn ,  Drehschwindel ,  Höhenschwindel  und 
dergl.  bezeichnet  worden  ist.  Ich  vermute ,  daß  diese  Reize  nicht 
nur  auf  das  Sensorium  der  Blinden,  sondern  —  wenn  wir  sie  auch  we- 
niger beachten  und  anscheinend  nicht  so  empfindlich  dafür  sind  —  auch 
auf  das  der  Vollsinnigen  wirken.  Wo  wir  gehen,  stehen,  sitzen,  liegen, 
fahren,  wirkt  unsere  Umgebung  (auch  der  Boden !)  mittels  der  X-Reize 
auf  uns  ein.  Vielleicht  ist  das  unbehagliche  Gefühl,  das  wir  bei  Drehung 
sowie  bei  Erhebung  von  der  Bodenfläche  oder  an  einem  steilen  Abhang 
empfinden,  wesentlich  mit  auf  die  Störung,  bezw.  Verminderung  dieser 
Reizwirkung  zurückzuführen. 

Sollten  diese  Vermutungen  durch  exakte  fachmännische  Forschungen 
auch  nur  teilweise  bestätigt  werden,  so  wäre  damit  für  die  Blinden  und 
Sehenden,  besonders  aber  für  die  ersteren,  eine  bedeutsame  Beziehung 
—  räumlich  —  zur  Umgebung  nachgewiesen  und  damit  eine  Korrektur, 
bezw.  eine  Bereicherung  des  Begriffes  Raumsinn  sowie  unserer  Einsicht 
in  die  Entstehung  der  Raumvorstellung  überhaupt  und  der  Raumvor- 
stellungen im  einzelnen  nachgewiesen.  Der  X-Sinn  würde  dann  eines- 
teils auf  einer  erhöhten  Übung  im  Empfinden   und  Verwerten  einer  be- 


—     77     — 

stimmten  Gattung  schwächster  undeutlichster  Tonintervalle  beruhen, 
andernteils  (für  ßaumsinn  wichtigster  Teil)  in  einer  erheblichen,  eben- 
falls durch  Übung  erworbenen  Verfeinerung  des  statischen  Sinns 
in  seiner  objektiven  Componente  bestehen,  und  als  eigent- 
liches Organ  des  ^.sechsten  Sinns  der  Blinden'^  ergäbe  sich 
der  Vestibularapparat. 


Zur  Frage  vom  sechsten  Sinn  der  Blinden. 

Von  Dr.  Aug.  Krogius,  Doc.  der  Freien  Hochschule  (in  St.  Petersburg). 

Vor  kurzer  Zeit  ist  in  der  Zeitschrift  „Experimentelle  Pädagogik", 
Bd.  III,  H.  3/4  der  erste  Teil  der  Abhandlung  „Der  sechste  Sinn  der 
Blinden''  von  Ludwig  Truschel  erschienen.  Da  ich  längere  Zeit  mit 
derselben  Frage  beschäftigt  bin,  hoffe  ich  durch  die  l^Iitteüung  der  Er- 
gebnisse meiner  Untersuchung,  die  auf  vollkommen  anderem  Wege,  als  die- 
jenigen L.  Truschels  gewonnen  worden  sind,  zur  allseitigen  Beleuchtung 
des  Problems  etwas  beitragen  zu  können.  In  diesem  Artikel  beschränke 
ich  mich  darauf,  die  Ergebnisse  meiner  Arbeit  in  aller  Kürze  zusammen- 
zufassen ;  ausführlicher  wird  die  Frage  in  meiner  nach  einigen  Wochen 
erscheinenden  größeren  Arbeit :  „Das  Seelenleben  der  Blinden"  behandelt. 
Ich  benutze  hierbei  die  Gelegenheit,  meinen  innigsten  Dank  meinem 
teuren  Kollegen.  Herrn  Prof.  Netschajew,  der  mir  sein  reichlich  ausge- 
stattetes Laboratorium  für  experimentelle  pädagogische  Psychologie 
freundlichst  zur  Verfügung  stellte,  auszusprechen,  Auch  bin  ich  allen 
meinen  Versuchspersonen,  besonders  aber  Frl.  Alexandrow,  die  mir  bei 
der  ganzen  Arbeit  behilflich  war,  den  größten  Dank  schuldig. 

Der  Lösung  der  Frage  über  den  sechsten  Sinn  der  Blinden  habe  ich 
hauptsächlich  durch  vergleichend  -  psychologische  Untersuchungen  an 
Blinden  und  Sehenden  näher  zu  kommen  gesucht.  Zu  diesem  Zweck 
habe  ich  mehrere  Reihen  Untersuchungen  vorgenommen. 

Die  erste  Reihe  betraf  die  Druckempfindlichkeit  der  Haut  bei  Blinden 
und  Sehenden.  In  der  Stimgegend,  ungefähr  in  der  Mitte  zwischen 
beiden  Augenbrauen,  wurden  drei  Druckpunkte  mittelst  des  von  Frey- 
schen  Haarästhesiometers  (cf.  Zimmermanns  Katalog,  1903,  X.  400)  auf- 
gesucht, und  auf  diese  drei  Punkte  der  Reihe  nach  (um  eine  Ermüdung 
zu  verhüten)  ein  bestimmter  Druck  appliciert.  Zur  Untersuchung  wurde 
Strattons  Druckwage  (cf.  Zimmermanns  Katalog,  1903,  X.  408),   die    es 


—    78    — 

gestattet ,  den  Druck  ohne  geringste  Erschütterung  zu  verändern ,  ge- 
braucht. Da  mittelst  dieser  Wage  jedoch  nur  eine  Untersuchung  der 
Druckempfindlichkeit  der  Hand  möglich  ist,  so  ist  der  Apparat  etwas 
von  mir  modifiziert  worden.  Die  Entfernung  zwischen  dem  druckaus- 
übenden Stift  und  dem  Gestell  auf  welchem  das  zu  untersuchende  Glied 
ruht,  wurde  durch  Anbringung  eines  zweiten  Brettes  und  Verkürzung 
des  ersten  bedeutend  vergrößert.  Auf  diese  Weise  konnte  der  Kopf 
der  in  horizontaler  Lage  sich  befindenden  Versuchsperson  bequem  auf 
das  Gestell  (das  speziell  für  den  Kopf  verfertigt  wurde)  gelegt  werden. 
Sowohl  bei  dieser,  wie  auch  bei  den  übrigen  Untersuchungen  habe  ich 
Binets  Methode  „der  unregelmäßigen  Änderungen"  (Annee  Psycholo- 
gique,  1903),  die  eigentlich  eine  Modifikation  der  Methode  der  richtigen 
und  falschen  Fälle  darstellt,  angewandt.  Nach  eigener  Erfahrung  stimme 
ich  Binet  vollkommen  bei,  daß  durch  diese  Methode  eine  leichte  und 
sichere  Orientierung  über  die  Sensibilitätsverhältnisse  zu  erreichen  mög- 
lich ist.  Als  Normalreiz  habe  ich  4  Gramm  genommen.  Die  Vergleichs- 
reihen wurden  in  einer  bestimmten  Reihenfolge  gewechselt:  4-}-l'/2, 
4  —  72,  4+  1,  4  —  1,  4  —  1^2,  4-f  V2.  Die  Applikation  jedes  Reizes  dauerte 
1^/2  Sek. ;  der  Vergleichsreiz  folgte  unmittelbar  dem  Normalreiz.  Es 
wurden  10  Blinde  und  10  Sehende  (alles  Erwachsene,  20 — 30  Jahre  alt) 
untersucht,  mit  einem  jeden  wurden  60  Versuche  gemacht.  Die  fol- 
genden Tabellen  stellen  die  Zahl  der  von  einem  jeden  in  10  Bestim- 
mungen gemachten  Fehler  dar,  wobei  die  Gleichheitsurteile  für  '/a 
Fehler  gerechnet  wurden.     (H  in  den  Tabellen  ==  Herr). 

Blinde. 


Normal-  und 
Vergleichs- 
reiz 

0 
'S 

« 

OS 

tu 

s 

s 

CO 

'S 

0 

'eS 
< 

'S 

0 

ei 

'S 

0 

'S 

'S 

03 

Gesamtzahl  d. 
Fehler  bei  jed. 
Vergleichsreiz 

4          5,5 
4          3,5 
4            5 
4            3 
4           2,5 
4          4,5 

0,5 
7 

2,5 
5 
5 
1 

0 

3,5 
4,5 

6 

4 

2,5 

1,5 
6 
2 
2 
4 

4,5 

1,5 
4 

2,5 

4,5 
2 

3,5 

2 

6,5 

3 

4 

1 
1,5 

2,5 
4 

1,5 
2,5 
3,5 
2,5 

2 
1 

3,5 
0 

1,5 

6 

1 

3 

1,5 
1,5 

3 
3,5 

1.5 

2,5 

2 

2 

1,5 
3 

0 
2,5 
2 
0 
0 
4 

12,5 

40 

25 

27,5 

25,5 

32 

Gesamtzahl  d. 
Fehler  bei  jed- 
Versuchspers. 

21 

20,5 

20,0 

18,0 

18,0 

16,5 

14 

13,5 

12,5 

8,5 

162,5 

—    79    - 
Sehende. 


Normal-  und 
Vergleichs- 
reiz 

SD 

o 
o 

'S 

&4 

5 

OD 

'S 

o 

ab 

o 

Frl.A.Rütb. 
11.  Semljan. 

Gesamtzahl  d. 
Fehler  bei  jed. 
Vergleichsreiz 

4          5,5 
4          3,5 
4            5 

i            3 
4          2,5 
4           4,5 

5,5 
4 
6 

4,5 
5 

5.5 

6 
3 
9 

1,5 
2 
8 

4 
4 
6 
2 
2 
7,5 

5 
2,5 
4 
7 
2 
4 

5 
3 
5 

4 
3 
3 

4 
5 
5 
3 

l 
4,5 

1,5 
5 
3 
5,5 
4,5 
2,5 

1,5 
5 
3 

2,5 
2 
6 

2 
4 
1 
0 
4 
5 

0,5 

5,5 

2 

1 

0,5 

5 

35 
41 

44 
31 
26 

51 

Gesamtzahl  d. 
Fehler  bei  jed. 
Versuchspers. 

30,5 

29,5 

25,5 

24,5 

23 

22,5 

22 

20 

16 

14,5 

228 

Aas  dieser  Tabelle  ist  ersichtlicli,  daß  die  Sehenden  im  Allgemeinen 
mehr  Fehler,  als  die  Blinden  gemacht  haben  (228;  162,5).  Anch  trifft 
dasselbe  bei  jedem  einzelnen  Vergleichsreiz  zn.  Das  Maximnm  der 
Fehler  bei  jeder  Versnchsperson  ist  anf  Seiten  der  Sehenden  (30.5, 
29,5),  das  Illinimum  anf  Seiten  der  Blinden  (8,5;  12,5  etc.).  Bei  einigen 
Sehenden  ist  jedoch  die  Zahl  der  Fehler  geringer,  als  bei  den  Blinden, 
trotzdem  erstere  keine  Spar  des  sechsten  Sinnes  besaßen.  Es  ist  folglich 
nicht  möglich  den  Fernsinn  der  Blinden  darch  eine  Vervollkommnang 
der  Drnckempfindlichkeit  za  erklären,  wenngleich  eine  solche  Yervoll- 
kommnang  bei  den  Blinden  tatsächlich  in  einem  gewissen  Maße  statt- 
findet. 

Th.  Heller  sagt  in  seinen  „Stadien  znr  Blindenpsychologie"  (p.  115), 
er  vermate  daß  bei  den  Blinden  die  Drackempfindlichkeit  der  Stirn 
mehr,  als  diejenige  der  Hand  entwickelt  sei.  Um  diesen  Satz  za  prüfen, 
habe  ich  eine  Untersachang  der  Drackempfindlichkeit  des  rechten  Zeige- 
fingers bei  Blinden  and  Sehenden  vorgenommen.  Die  Untersnchnng  ge- 
schah ganz  analog  derjenigen  der  Drackempfindlichkeit  der  Stirn ,  nur 
daß  für  die  Hand  selbstverständlich  eine  andere  Unterlage  gebraucht 
warde.     Es  ergaben  sicii  folgende  Zahlen:     (Siehe  folg.  S.) 

Wir  sehen  aas  diesen  Tabellen,  daß  die  Blinden  wiedemm  in  ihren 
Bestimmnngen  weniger  Fehler ,  als  die  Sehenden  (167,5  j  196)  gemacht 
haben.  Das  Maximum  der  Fehler  jeder  Versuchsperson  ist  auch  hier 
auf  Seiten  der  Sehenden  (29,5 ;  26),  das  LIinimum  auf  Seiten  der  Bliaden 
(9,5  etc.)     Jedoch  ist  der  Unterschied  kleiner,  als  in  der  Drackempfind- 


-     80    - 
Blinde. 


Normal-  und 
Vergleichs- 
reiz 

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CO 

CO 

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Gesamtzahl  d. 
Fehler  bei  jed. 
Vergleichsreiz 

4          5,5 
4          3,5 
4            5 
4            3 
4          2,5 
4          4,5 

3 

3 
6,5 

1 
1,5 

8 

3 
6,5 

5 

1,5 
2,5 

3 

1,5 
6 

4,5 

2,5 
3 

3,5 

1,5 
5 

4,5 
2 
1 

3,5 

2 
3,5 
0,5 
4,5 

3 

3 

2,5 
4 
2,5 
2,5 
3,5 
1,5 

2 
3 
2 
2 
3 
3 

1,5 
7,5 

1 
2 
1 

1 

0 
2 
3 
1 
0 
7 

0 
1 
3 
0 

1,5 
4 

17 

41,5 

32,5 

19 

20 

37,5 

Gesamtzahl  d. 
Fehler  bei  jed. 
Versuchspers. 

23 

21,5 

21 

17,5 

16,5 

16,5 

15 

14 

13 

9,5 

167,5 

Sehende. 


Normal-  und 
Vergleichs- 
reiz 

CO 

'S 

CO 

'S 

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2 

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2 

pä 

Gesamtzahl  d. 
Fehler  bei  jed. 
Vergleichsreiz 

4          5,5 
4          3,5 
4            5 
4            3 
4          2,5 
4          4,5 

3 

8 

8 

5,5 

3,5 

1,5 

8 
0,5 
7,5 
0,5 

0 
9,5 

5 

3 
6,5 

1 
0,5 

8 

2,5 
4,5 
4,5 
2,5 
2,5 
5,5 

1,5 
5,5 
1,5 
5,5 
3 
5 

2,5 

3,5 

3 

2 

0 

5,5 

3 
3 
2 
2 

1 
4 

0 
6 
0 
4 
3 
2 

2 
4,5 

1 
2,5 
0,5 

3 

0,5 

3,5 

0,5 

2 

1 
5 

28 

42 

34,5 

27,5 

15 

49 

Gesamtzahl  d. 
Fehler  bei  jed. 
Versuchspers. 

29,5 

26 

24 

22 

22 

16,5 

15 

15 

13,5 

12,5 

196,0 

Kchkeit  der  Stirn  (162,5 ;  228).  Demgemäß  stehen  sich  auch  die  Maxima 
und  Minima  der  Fehler  bei  den  Sehenden  einer-  und  bei  den  Blinden 
andrerseits  näher.  Bei  den  Blinden  ist  die  Druckempfindliehkeit  der 
Stirn  größer,  als  diejenige  des  Fingers  (162,5;  167,5),  bei  Sehenden  um- 
gekehrt (228;  196).  Hellers  Vermutungen  finden  wir  also  durch  diese 
Zahlen  bestätigt. 

In    den   letzten  Jahren   haben   viele  Neuropathologen  die  Härchen- 
empfindungen als  eine  besondere  Art  von  den  übrigen  Tastempfindungen 


—    81     — 

unterscilieden.  Jene  sollen  von  den  übrigen  Tastempfindungen  ganz  un- 
abhängig sein.  Ohne  in  die  Diskussion  dieser  Frage  einzugehen,  er- 
laube ich  mir  die  Ergebnisse  meiner  Untersuchung  über  die  Empfindungen 
dieser  Art  bei  Blinden  und  Sehenden  mitzuteilen.  Die  Untersuchung 
wollte  ich  zuerst  mittelst  des  elektrischen  Trichoästbesiometers  Bech- 
terews (cf.  Obosrenije  Psychiatrii,  1898,  H.  10)  vornehmen,  er  erwies 
sich  jedoch  als  für  meine  Zwecke  unbrauchbar,  da  die  von  ihm  hervorge- 
rufenen Reize  zu  stark  waren ,  und  bei  dem  Schluß  des  Stroms  ein 
starkes  Geräusch  entstand,  das  höchst  störend  auf  die  Aufmerksamkeit 
der  Versuchsperson  wirkte.  Darum  bediente  ich  mich  einer  höchst  ein- 
fachen Modifikation  dieses  Apparates.  Mein  Apparat  bestand  aus  einem 
ungefähr  1  '/s  cm.  langen ,  sehr  feinen  Härchen  einer  Daunfeder ,  dessen 
Ende  ich  in  eine  Klemme  mit  einem  langen  und  dünnen  Handgriff  be- 
festigte. Indem  ich  letzteren  in  die  Hand  nahm,  führte  ich  mit  dem 
freien  Ende  des  Härchens  einen  ungefähr  1  cm.  langen  Strich  über  die 
Hand  der  Versuchsperson:  die  Berührung  war  so  leicht,  daß  das  Här- 
chen eine  kaum  merkbare  Krümmung  bekam.  Die  Versuchsperson  wurde 
gefragt,  ob  sie  eine  Berührung  gefühlt  habe,  und  im  Falle  einer  be- 
jahenden Antwort  mußte  sie  die  berührte  Stelle  mit  dem  Finger  zeigen. 
Er  erfolgten  die  Berührungen  an  folgenden  6  Stellen:  1)  Über  der 
Mitte  der  Augenbrauen,  auf  der  ^,2  Höhe  der  Stirn,  2)  in  der  Mtte 
zwischen  beiden  Augenbrauen,  3)  am  oberen  Lid,  4)  ungefähr  1^/2  cm. 
unter  der  Glitte  des  unteren  Lids,  5)  etwas  über  der  Mitte  der  Nasen- 
mundfalte ,  6)  in  der  Schläfengegend.  Jeder  Punkt  wurde  10  mal  ohne 
bestimmte  Reihenfolge  berührt.  Die  Zahlen  I,  II,  III,  IV,  V  und  VI 
entsprechen  den  obengenannten  Punkten.  Die  Zahl  der  Fehler,  d.  h. 
derjenigen  Fälle,  wo  die  Berührung  nicht  gefühlt  worden  ist,  ist  in 
folgenden  Reihen  angegeben.     (Siehe  folg.  Seite). 

Aus  dieser  Untersuchung  folgt,  daß  die  Blinden  eine  höhere  Här- 
chenempfindlichkeit, als  die  Sehenden  besitzen.  Der  L^nterschied  ist  je- 
doch auch  in  dieser  Hinsicht  kein  so  auffallender,  daß  man  durch  ihn 
den  Fernsinn  der  BHnden  erklären  könnte  —  viele  Sehende  machten  bei 
diesen  Bestimmungen  ebensoviel  Fehler ,  wie  die  Blinden ,  trotzdem  sie 
keinen  Fernsinn  besassen. 

Schließlich  habe  ich  noch  den  Temperatursinn  bei  Blinden  und  Se- 
henden untersucht.  Zu  diesem  Zweck  bediente  ich  mich  der  Heizspitzen 
Kiesows  (Zimmermanns  Katalog  1903,  X.  397),  die  mit  Wasser  ver- 
schiedener Temperatur  gefüllt  wurden.  Die  Reize  wurden  etwa  V2  cm. 
nach  unten  und  lateralwärts  von  der  medialen  Falte  des  rechten  Augen- 
lids applicirt,  an  eine  Stelle  mit   sehr  entwickeltem  Temperatursinn  (cf. 

Meumann,  Exper.  Pädagogik.    V.  Band.  6 


-    82    - 
Blinde. 


Berührte 
Stellen 

'S 
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70 
O 

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Gesamtzahl  d. 
Fehler  bei  jed. 
berührt.  Stell. 

I 
II 

in 

IV 

V 
VI 

1 

2 
8 
2 
0 
5 

0 
1 

9 

1 
3 
4 

3 
2 
7 
2 
2 
2 

0 
2 

7 

0 

3 
0 
7 
0 
4 
2 

3 
0 
6 
0 
3 
2 

2 

1 
5 
0 
0 
2 

0 
0 
4 
0 
0 
2 

1 

5 

3 

'S 

12 
8 
53 
11 
12 
21 

Gesamtzahl  d. 
Fehler  bei  jed. 
Versuchspers. 

18 

18 

18 

17 

16 

14 

10 

6 

117 

Sehende. 


s 

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CfS 

Gesamtzahl  d. 

Berührte 
Stellen 

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03 

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Fehler  bei  jed. 

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berührt.  Stelle 

I 

5 

9 

1 

8 

2 

1 

1 

3 

5 

3 

38 

II 

0 

3 

0 

2 

4 

0 

0 

0 

0 

0 

9 

III 

10 

10 

10 

10 

7 

9 

10 

8 

7 

9 

90 

IV 

4 

0 

0 

2 

3 

0 

6 

2 

0 

1 

18 

V 

9 

0 

8 

2 

5 

8 

4 

4 

5 

3 

48 

VI 

2 

6 

6 

0 

3 

4 

0 

0 

0 

0 

21 

Gesamtzahl  d. 

Fehler  bei  jed. 

30 

28 

25 

24 

24 

22 

21 

17 

17 

16 

224 

Versuchspers. 

Physiologie  der  Hautsinnesnerven  von  Prof.  Groldseheider,  1898,  Bd.  II, 
p.  168.  Cf.  auch  beigelegte  Tabelle  -  Topographie  des  Kältesinns).  In 
dieser  Gegend  wurden  3  Kältepunkte  aufgesucht,  und  auf  diese  der 
Reihe  nach  (um  die  Ermüdung  zu  verhüten)  die  Kiesowschen  Heizspitzen 
appliziert.  Die  Applikation  jedes  Reizes  dauerte  1,5  See,  das  Intervall 
zwischen  der  Applikation  des  Normal-  und  Vergleichsreizes  war  15  See. 
Bei  den  Vorversuchen  erwies  sich,  daß  sogar  bei  geringer  Vergrößerung 
•des    Druckies    die    Temperaturunterschiede    bedeutend    besser    aufgefaßt 


—    83    — 

wurden.  Damm  erschien  es  notwendig,  den  Druck  der  Heizspitzen 
konstant  zu  machen,  was  bei  AppKkation  mittelst  der  Hand  vollkommen 
unmöglich  war.  Ich  schlug  folgendes  Verfahren  ein.  Die  Versuchs- 
person legte  sich  auf  ein  Bett,  unter  den  Kopf  wurde  ein  kleines  Kissen 
untergelegt.  Die  Heizspitze  wurde  an  einen  Hebel  einer  sehr  empfind- 
lichen Apothekerwage  aufgehängt;  letztere  wurde  durch  die  den  an- 
deren Hebel  belastenden  Aufsatzgewichte  zuerst  ins  Gleichgewicht  ge- 
bracht, wonach  von  den  Aufs  atzgewichten  2  Gramm  fortgenommen  wurden. 
Die  am  anderen  Hebel  aufgehängte  Heizspitze  wurde  auf  einen  der 
vorher  bestimmten  Kältepunkte  appliziert  (wobei  der  Zeiger  der  Wage 
auf  0  stehen  blieb),  und  übte  folglich  auf  letzteren  einen  konstanten 
Druck  von  2  Gramm  aus.  Das  Verhältnis  der  Normal-  zur  Vergleichs- 
reihe ist  in  den  folgenden  Tabellen  angegeben.  Wegen  der  Schwierig- 
keit der  Experimente  wurden  mit  jeder  Versuchsperson  nicht  60,  son- 
dern nur  30  Versuche  gemacht,  die  Zahlen  bedeuten  also  die  Fehler  in 
je  5  Bestimmungen. 


Blinde. 


Vergleichs-  u. 
Normalreiz 

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w 

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Gesamtzahl  d. 
Fehler  bei  jed. 
Vergleichsreiz 

29,6      29 
28,8      29 
29,4       29 
28,6       29 
28,4       29 
29,2       29 

1,5 

2,5 

4 

1 

1 

1,5 

1 

2 
4 
2 
1 
1,5 

1,5 

3 
2,5 
1,5 

1 
1,5 

0,5 

1,5 

2 

2 

2 

2,5 

0,5 
3,5 
1 
2 
0 
3 

0 
2 
2 
2 
0 
3 

2 
2 
2,5 
0 
0 
2 

0,5 

3 

1 

1.5 

2,5 

0 

0 
2,5 
0,5 

2 

1 
2 

1 
1 
0 
0 
2 

4 

8,5 
23 
19,5 
14 
10,5 
21 

Gesamtzahl  d. 
Fehler  bei  jed. 
Versuchspers. 

11,5 

11,5 

11 

10,5 

10 

9 

8,5 

8,5 

8 

8 

96,5 

Auch  bei  diesen  Versuchen  haben  wir  ein  Resultat,  das  den  früheren 
ganz  analog  ist  —  die  Zahl  der  Fehler  ist  bei  den  Sehenden  größer, 
als  bei  den  Blinden  (108 ;  96,5).  Das  Maximum  ist  wiederum  auf  Seiten 
der  Sehenden  (13;  12,5;  12),  das  Minimum  —  auf  derjenigen  der  Blinden 
(8;  8;  8,5).  Aber  auch  hier  finden  wir,  daß  die  Zahl  der  Fehler  bei 
Blinden  und  Sehenden  sich  nicht  dermaßen  unterscheidet,  daß  wir  dui'ch 
eine  besondere  Verschärfung  des  Temperatursinns  den  sechsten  Sinn  der 


—    84    — 
Sehende. 


Vergleichs-  u. 
Normalreiz 

< 
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< 

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1' 

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Gesamtzahl  d. 
Fehler  bei  jed. 
Vergleichsreiz 

29,6      29 

2 

1 

3 

3 

3 

2 

2 

0,5 

2 

1,5 

20 

28,8       29 

2 

4,5 

1,5 

2,5 

1,5 

2 

3 

2,5 

1 

3,5 

24 

29,4       29 

3 

0,5 

2 

1 

2,5 

2 

2 

1,5 

2 

1 

17,5 

28,6       29 

2 

2 

2 

2,5 

1 

2 

0 

1,5 

2 

1 

16 

28,4       29 

1 

1,5 

1,5 

0 

1 

1 

2 

1 

0 

0 

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29,2      29 

3 

3 

2 

2,5 

2 

2 

1 

2,5 

2,5 

1 

21,5 

Gesamtzahl  d. 

Fehler  bei  jed. 

13 

12,5 

12 

11,5 

11 

11 

10 

^ 

9,5 

8 

108 

Versuchspers. 

Blinden  erklären  könnten.  Bei  dieser  Untersuchung  haben  wir  uns  je- 
doch der  gewöhnlichen  punktförmigen  Reize  bedient.  Es  ist  aber  be- 
kannt, daß  den  Temperaturreizen  eine  kumulative  Wirkung  eigen  ist. 
Das  klassische  Beispiel  hierfür  ist  der  Versuch  mit  dem  Eintauchen  der 
Daumen  in  kaltes  resp.  warmes  Wasser :  taucht  man  beide  Daumen  ein, 
so  ist  die  Temperaturwirkung  intensiver,  als  es  beim  Eintauchen  eines 
Daumens  der  Fall  ist  (cf.  Sanford  Cours  de  psychologie  experimentale, 
1900,  p.  11).  Die  Anwendung  der  pimktförmigen  Reihe  war  folglich 
für  die  Charakterisierung  des  Temperatursinns  ungenügend.  Es  wäre 
ja  leicht  möglich,  daß  der  Unterschied  in  der  Temperaturempfindlichkeit 
vom  Prozeß  der  Kumulation  eine  weitere  Vergrößerung  erhielte.  Ich 
habe  darum  noch  andere  Reize  gebraucht.  Ich  nahm  einen  Metallzy- 
linder von  ungefähr  8  cm.  Diameter ,  mit  dünnen  Wänden  auf  einer  un- 
gefähr 30  cm.  langen  Grlasstange  befestigt,  einen  von  solchen ,  die  von 
Physikern  zur  Untersuchung  der  strahlenden  Wärme  gebraucht  werden. 
Die  eine  Seite  dieses  Zylinders  war  weiß,  die  entgegengesetzte  schwarz. 
Nachdem  ich  das  untere  Ende  der  Glasstange  in  die  Hand  nahm,  näherte 
ich  ganz  lautlos  den  Zylinder,  der  entweder  leer,  oder  mit  Wasser  von 
Zinmiertemperatur ,  oder  endlich  mit  Wasser  von  42"  C.  gefüllt  war, 
dem  Gesichte  der  Versuchsperson.  Die  Geschwindigkeit  der  Annäherung 
war  ungefähr  1  Meter  in  50 — 60  Sekunden.  Die  Zahlen  in  den  folgenden 
Tabellen  bedeuten  die  Entfernung  in  cm. ,  in  welcher  die  Annäherung 
des  Zylinders  richtig  bestimmt  wurde.  Jede  Zahl  stellt  das  Ergebnis 
aus  8 — 10  Versuchen  dar. 


-    85    — 
Blinde. 


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"Wasser  V.  Ziminer- 

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Zylinder 

13 

13,5 

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14 

16,5 

17,5 

19,5 

19,5 

22,5 

37,5 

47,5 

21,3 

Mit  42°  C  Wasser 

gefüllter  Zylinder 

20 

24 

25 

26 

29 

30 

31,5 

33,5 

31,5 

57,5 

62,5 

33,7 

Sehende. 


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Leerer    oder   mit 

"Wasser  V.  Zimmer- 

temperat, gefüllt. 

Zylinder 

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0,5 

0,5 

0,5 

1 

1 

1 

6,5 

9 

2,1 

Mit  42«  C  "Wasser 

gefüllter  Zylinder 

9 

11 

12,5 

13,5 

13,5 

11 

11 

13,5 

17,5 

22,5 

13,5 

Wir  seben  ans  diesen  Tabellen,  daß  der  IJnterscliied  zwischen  den 
Blinden  und  Sehenden  stark  ausgeprägt  ist,  Die  am  genauesten  die 
Annäherung  des  Apparates  bestimmende  Frl.  Philip,  ist  Lehrerui  im 
Blindeninstitut  und  giebt  an,  daß  sie  den  Fernsinn  hat  —  sie  kann  sich 
z.  B.  frei  im  dunklen  Räume  mit  geschlossenen  Augen  bewegen ,  ohne 
anzustoßen.  Frl.  Alex,  konnte  nicht  genau  angeben ,  ob  sie  auch  den 
Femsinn  besitzt,  doch  scheint  es  auch  bei  ihr,  wenn  auch  in  geringerm 
Grade,  der  Fall  zu  sein.  Aus  der  Tabelle  ist  außerdem  ersichtlich,  daß 
die  Intensitäten  des  Fernsüms  im  ersten  und  zweiten  Falle  (die  Be- 
stimmung der  Annäherung  des  leeren  und  des  von  42"  C  warmen  Zy- 
linders) einander  genau  proportional  sind.  Da  sich  der  zweite  Fall  vom 
ersten  nur  durch  intensivere  Temperatureinwirkung  unterscheidet,  so 
können  wir  schließen,   daß  der  Femsinn  eine  Funktion  des  Temperatur 


—    86     — 

sinns  ist.  Es  ist  vielleicht  noch  von  einiger  Bedeutung  hervorzuheben, 
daß  in  den  meisten  Fällen  die  Blinden  die  eben  empfundene  Annäherung 
des  42"  C  warmen  Zylinders  ganz  ebenso  wie  diejenige  des  leeren  Zy- 
linders beschrieben  —  „sie  fühlten  einen  Schatten". 

Daß  wir  hier  keine  Wirkung  der  Bewegung  der  Luft  haben,  stellte 
ich  auf  folgende  Weise  fest.  Ich  lenkte  die  Aufmerksamkeit  der  Blinden 
durch  ein  Gespräch  ab  und  brachte  unterdessen  den  Zylinder  in  eine 
Entfernung,  die  etwas  kleiner  als  die  der  eben  wahrnehmbaren  Annähe- 
rung entsprechende  war.  Der  Blinde  merkte  in  der  Regel  diese  An- 
näherung nicht.  Alsdann  brach  ich  das  Gespräch  ab  und  bat  den  Blinden 
zu  sagen,  ob  ein  Gegenstand  vor  ihm  sei.  Trotzdem,  daß  sonst  der 
Blinde,  wie  auch  der  Apparat  sich  in  Ruhe  befanden,  fand  die  Bestim- 
mung statt. 

Es  schien  mir  folglich  eine  enge  Beziehung  zwischen  dem  Tempe- 
ratur- und  Fernsinn  vorhanden  zu  sein.  Ich  konnte  nicht  vermuten,  daß 
wir  hier  mit  irgend  einer  anderen  Temperatur  Wirkung  als  derjenigen 
der  strahlenden  Wärme  zu  tun  haben.  Um  diese  Frage  weiter  aufzu- 
klären, habe  ich  folgende  Versuche  vorgenommen.  Ich  kehrte  den  in 
eine  verhältnismäßig  nahe  Entfernung  gebrachten  Zylinder  abwechselnd 
mit  seiner  schwarzen  und  mit  seiner  weißen  Wand  zur  Versuchsperson. 
Die  Sehenden  erhielten  verschiedene  Empfindungen  meist  nur  dann,  wenn 
der  Zylinder  mit  Wasser  von  42"  C  gefüllt  war.  Die  BKnden  aber  er- 
kannten einen  Unterschied  auch  beim  leeren  oder  mit  Wasser  von 
Zimmertemperatur  gefüllten  Zylinder.  Wurde  letzterer  zu  ihnen  mit 
der  schwarzen  Seite  gekehrt,  so  bestimmten  fast  alle  Blinden  mit  voll- 
kommener Sicherheit,  daß  der  Gegenstand  zu  ihnen  näher  sei,  als  dann, 
wenn  er  zu  ihnen  mit  der  weißen  Wand  gekehrt  war.  Da  in  diesen 
Versuchen  nichts  außer  der  Intensität  der  Wärmeausstrahlung  (von  der 
schwarzen  resp.  weißen  Wand)  geändert  wurde,  so  beweist  dieser  Ver- 
such aufs  augenfälligste  die  Abhängigkeit  des  Fernsinns  von  der  Ein- 
wirkung der  strahlenden  Wärme  der  Gegenstände. 

Man  könnte  mir  vielleicht  erwidern,  daß  der  von  mir  untersuchte 
Fernsinn  nur  für  eine  geringe  Entfernung  (Maximum  auf  62  cm.)  galt. 
Dagegen  muß  ich  hervorheben,  was  ich  schon  einmal  gesagt  habe  und 
was  durch  meine  Versuche  bestätigt  worden  ist  —  man  darf  nicht  die 
cumulative  Wirkung  der  Temperaturreize  vergessen.  Ich  habe  mit  einem 
verhältnismäßig  kleinen  Gegenstande  (8  cm.  Diameter)  experimentiert. 
Je  größer  der  Gegenstand,  desto  größer  seine  Wirkung.  Größere  Gegen- 
stände können  folglich  in  größerer  Entfernung  wahrgenommen  werden. 
Ich  gebe  aber  gerne  zu,  daß  der  Fernsinn  nicht  nur  durch  den  Tempe- 
ratursinn bestimmt   wird.     Eine   wesentliche  Componente   mag  wol  der 


—    87    — 

Gehörsinn  abgeben.  Schon  Heller  hat  es  in  seinen  Studien  zur  Blinden- 
psychologie  (cf.  p.  113  und  ff.)  festgestellt.  Besonders  lehrreich  in 
dieser  Beziehung  ist  der  soeben  erschienene  erste  Teil 
der  Untersuchungen  Truschels. 

Mit  dieser  Annahme  stehen  jedoch  die  Ergebnisse  von  Griesbachs  Ar- 
beit: Vergleichende  Untersuchungen  über  die  Sinnesschärfe  Blinder  und 
Sehender  (Archiv  für  die  gesamte  Physiologie,  Bd.  74)  in  krassestem 
Widerspruch.  In  dieser  Arbeit,  die  so  warm  von  vielen  Typhlopäda- 
gogen  begrüßt  wurde,  beweist  Griesbach,  daß  nicht  nur  keine  Verfeine- 
rung der  Sinne,  sondern  im  Gegenteil,  eine  Herabsetzung  deren  Funktion 
bei  den  Blinden  zu  konstatieren  sei.  Das  betrifft  auch  den  Gehörsinn. 
;,In  Bezug  auf  die  Bestimmung  der  Schallrichtung  besteht  kein  erheb- 
licher Unterschied  zwischen  Blinden  und  Sehenden ;  eine  kleine  Differenz 
spricht  mehr  zu  Gunsten  der  Sehenden  (p.  608)",  behauptet  Griesbach. 
Fragen  wir  jedoch  nach  der  Methode,  mit  HüKe  deren  dieser  Satz  fest- 
gestellt worden  ist,  so  erweist  sie  sich  als  eine  etwas  zweifelhafte. 
Beim  Ertönen  eines  Signals  streckte  die  Versuchsperson  den  Arm  mit 
geballter  Faust  horizontal  nach  derjenigen  Richtung,  aus  welcher  sie 
den  Schall  wahrzunehmen  glaubte.  Die  Visierlinie  wurde  zwischen  der 
Ohrmuschel  der  Versuchsperson  und  dem  Capitulum  meta  carpi  ihres 
in  die  Vola  eingeschlagenen  Mittelfingers  gezogen. 

Als  ich  meine  Untersuchungen  über  den  Gehörsinn  der  Blinden  be- 
gann, schlug  ich  Griesbachs  Methode  ein,  aber  überzeugte  mich  nach 
wenigen  Vorversuchen,  daß  sie  mir  keine  Lösung  der  Frage  geben  könne. 
Bei  ihr  werden  erstens  die  kinästhetischen  Empfindungen  der  Blinden 
in  Anspruch  genommen  —  ein  neues  Moment,  das  zur  Funktion  des 
Gehörsinns  hinzukommt,  und  von  Griesbach  gamicht  in  Betracht  ge- 
zogen worden  ist.  Zweitens  habe  ich  mich  überzeugt,  daß  die  Blinden 
überhaupt  sehr  schwer  begreifen,  was  es  bedeutet,  in  der  Richtung  eines 
bestimmten  Gegenstandes  die  Hand  auszustrecken  —  sie  stellen  sich 
nicht  klar  vor,  in  welcher  Beziehung  die  Richtung  der  Hand  (desto 
mehr  der  von  Griesbach  gebrauchten  Visierlinie)  zur  Lage  des  Gegen- 
standes stehen  kann.  Die  Raumvorstellungen  der  Blinden  haben  viel 
Eigentümliches,  die  Frage  über  das  Verhältnis  der  verschiedenen  Rich- 
tungen ist  für  sie  besonders  kompliziert.  Darum  konnte  Griesbachs 
Untersuchung  auch  zu  keinem  sicheren  Resultat  führen. 

Ich  habe  den  Gehörsinn  der  Blinden  auf  andere  Weise  untersucht. 
Hier  fasse  ich  nur  ganz  im  Allgemeinen  die  Ergebnisse  meiner  Arbeit 
zusammen.  Die  Untersuchungen  wurden  zuerst  an  einem  freien  Platze, 
mit  einem  Radius  von  ca.  8  Meter  vorgenommen.  Als  Reize  wurden 
zuerst  ein  starker  Pfiff  und  dann  lautes  Rechnen  (bis   fünf)  gebraucht. 


—    88    - 

Der  Normalreiz  wurde  in  der  Richtung  von  90"  (als  0°  die  frontale 
Richtung  linker  Hand  gerechnet,  also  90°  =  sagittale  Richtung),  von 
135°  (d.  h.  mehr  nach  rechts),  und  von  180°  (in  frontaler  Richtung,  rechts) 
gegeben.  Der  Vergleichsreiz  wurde  nach  der  Methode  der  Minimal- 
änderungen etwas  mehr  nach  rechts  oder  nach  links,  als  der  Normalreiz 
geliefert,  wobei  die  Versuchsperson  nur  wörtliche  Bestimmungen  geben 
mußte:  „Zweiter  Pfiff  mehr  nach  rechts,  oder  mehr  nach  links,  oder  in 
derselben  Richtung,  wie  erster"  etc.  Jede  Versuchsperson  hat  im  Mitt- 
leren ca,  150  Bestimmungen  gemacht.  Es  wurden  20  Blinde  und  20 
Sehende  (Mädchen,  durchschnittlich  14 — 15  Jahre  alt)  untersucht.  Dabei 
ergaben  sich  für  die  Raumschwelle  der  Lokalisation  der  Gehörseindrücke 
folgende  Zahlen : 


Blinde 

Sehende 


Stimme 


Pfiif 


90° 

135° 

180° 

90" 

135° 

3,9 

4,8 

9,9 

6,5 

8,0 

6,6 

11,3 

18,2 

10,9 

16,1 

Aus  dieser  Tabelle,  die  anf  Grrund  etwa  von  6000  Versuchen  zu- 
sammengestellt worden  ist,  sehen  wir ,  daß  die  Schwelle  bei  den 
Sehenden  bedeutend  größer  ist.  Mit  dieser  Untersuchung  konnte 
ich  mich  jedoch  nicht  begnügen.  Erstens,  konnten  die  objektiven  Reize 
nicht  immer  gleichgemacht  werden  —  sowohl  die  Stimme,  wie  auch  der 
Pfiff  wechselten  fortwährend.  Außerdem  schien  es  mir  notwendig,  bei  der 
Methode  der  Minimaländerungen  sehr  große  Abweichungen  als  zufällig  zu 
betrachten  und  sie  außer  Betracht  zu  lassen.  Darum  habe  ich  eine 
zweite  Untersuchung  vorgenommen,  mit  objektiv  vollkommen  gleichen 
Reizen,  nach  Binets  Methode  der  regelmäßigen  Änderungen.  Es  wurde 
ein  Viertelkreis  mit  einem  Radius  von  ungefähr  l^/o  Meter  aus  Stahl 
verfertigf,  auf  einem  massiven  Stativ  derart  angebracht,  daß  er  in  allen 
Richtungen  gestellt  werden  konnte.  Längs  dieses  Kreises  konnte  eine 
elektrische  Glocke  leicht  verschoben  werden.  Die  Versuchsperson  setzte 
sich  ins  Zentrum  des  Kreises  und  letzterer  wurde  auf  das  Niveau  der 
Ohren  gehoben  und  in  horizontale  Lage  gebracht.  Die  Untersuchung 
wurde  bei  der  Lage  des  Normalreizes  45°  (als  0°  wiederum  die  frontale 
Richtung  linker  Hand  gerechnet)  vorgenommen.  Jeder  Reiz  dauerte 
etwa  eine  Sekunde,  der  Intervall  zwischen  beiden  Reizen  etwa  ebenso- 
lange. Es  wurden  30  Blinde  und  30  Sehende  (wiederum  Mädchen  von 
durchschnittlich  14 — 15  Jahren)  untersucht.     Eine  jede  Versuchsperson 


89     — 

hat   60   Messungen    gemacht.     Jede    Zahl    folgender    Tabelle    stellt   die 
mittlere  Zahl  der  Fehler  auf  10  Bestimmungen  dar. 

Vergleichsreiz 

Gesamtergebnis 

cnalreiz  45'* 

50«  (+  5« ) 

44'-'  (—  P)  ,  48«  (+  3")    42»  (_  3«)  ^  400  (-  5«)    46°  (-f  P) 

(auf  je  60 
Bestimmungen) 

durchschnittlich 

],^ 

0,67 

3,0 

1,67 

2,1 

1,47 

3,27 

12,2  Fehler 

W 

2,45 
ir  sehen . 

4,5 
die    An 

3,8 
er  a  h  e  n    ( 

2,82 
ier    Seh 

1,98 
enden    e 

4,6 
n  thalte 

20,2      „ 
n    mehr 

Fehler,  als  diejenigen  der  Blinden.  Die  Behauptung  Truschels, 
der  den  Fernsinn  auf  die  Verschärfung  des  Grehörs  zurückführt, 
stößt  also  keineswegs  auf  Widersprüche. 

Zweifellos  ist  aber  bei  dem  Fernsiun  auch  dem  Temperatursinn  etue 
große  Rolle  einzuräumen.  Die  Bedeutung  des  Gehör-  und  Temperatur- 
sinns wechselt  bei  verschiedenen  Individuen,  wie  auch  aus  den  oben  an- 
gefürten  Tabellen  über  den  Temperatursinn  klar  hervorgeht.  Denselben 
Eindruck  habe  ich  auch  aus  den  subjektiven  Angaben  der  Versuchsper- 
sonen erhalten.  Ein  interessantes  Zeugnis  der  individuellen  Differenzen 
in  betreff  der  verschiedenen  Bedeutung  für  den  Fern-,  des  Gehörs-  resp. 
den  Temperatursinn  giebt  uns  Le^^'^  in  seinem  Buch:  ,,Blind  and  the 
Blindness"  (p.  64  u.  ff.).  Bei  Levy  ist  der  sechste  Sinn  vorzüglich  auf 
den  Temperatur-,  bei  Kilburne  auf  den  Gehörsinn  zurückzuführen. 
(Eingegangen  den  25.  Dec.  1906). 


Erziehung  eines  anormalen  Mädchens. 

Von  L.  M  a  a  r  e  r ,  Langenzenn  bei  Fürth  (Bayern). 

Im  Oktober  1905  sah  ich  ein  Mädchen,  dessen  auffallendes  Benehmen 
mir  sofort  das  anormale  Kind  verriet.  Der  Vater  bemerkte  meinen 
fragenden  Blick  und  bald  wußte  ich,  daß  das  Mädchen  für  hochgradig 
schwerhörig  gehalten  wurde.  Tatsache  war,  daß  es  sich  nur  sehr  schwer 
verständlich  machen  konnte.  Ich  beschloß,  das  Mädchen  zu  unterrichten. 
Das  Kind  ist  schön,  8V2  Jahre  alt,  hat  rotblonde  Locken,  ist  sehr 
kräftig  entwickelt,  in  seinen  Bewegungen  äußerst  gewandt,  im  Verkehr 


—    90    — 

mit  den  Kindern  als  „böse"  bekannt,  d.  h.  es  verteidigt  sein  Recht.  Gar 
mancber  größerer  Junge  hat  einen  derben  Puff  von  ihm  davongetragen. 
Ich  möchte  fast  sagen,  im  Verkehr  mit  ihresgleichen,  in  ungebundener 
Freiheit  gleicht  sie  mit  ihren  großen  leuchtenden  Augen  mehr  einer 
wilden  Katze.  Ihr  Wille  ist  scharf  ausgeprägt,  das  Gemütsleben  innig, 
teilnahmsvoll,  mitleidig,  sie  fühlt  des  Anderen  Schmerzen,  Freude  und 
Leid.  Sie  ist  äußerst  ordnungsliebend  und  lernbegierig.  So  kam  das 
Mädchen  —  Grethl  —  zu  mir.  Nach  eingehender  Prüfung  ihres  Wort- 
schatzes und  des  Vermögens,  denselben  und  damit  sich  selbst  anderen 
mitzuteilen,  kam  ich  zu  einem  vernichtenden  Resultat.  Grethel  war 
arm ,  sehr  arm  an  Begriffen.  Sie  konnte  sich  nur  mit  ihrer  nächsten 
Umgebung  verständigen.  Fragte  sie  ein  der  Familie  Fremder,  so  gab 
sie  gar  keine  Antwort,  schaute  die  Frager  selbst  mit  ihren  großen 
Augen  fragend  an  und  lief  davon.  Es  kostete  große  Mühe,  das  Kind 
zum  Sprechen  zu  bringen.  Wo  ich  anpackte,  was  ich  fragte  —  nirgends 
irgend  welche  Reagenz.  Rudimente  des  Wortschatzes  gleich  alteriger 
Kinder  —  sonst  nichts.  Sie  nannte  den  Tisch  =  Stuhl ,  die  Leute  =  ■ 
Papa,  die  Großmutter  =  Eibahn  (Eisenbahn).  Dabei  war  ihr  Reden, 
ihr  Sprechen  ein  hervorquellendes  Kauderwelsch;  es  kam  mir  vor,  als 
wenn  das  Kind  die  Worte  sprechen  wollte,  aber  sein  Vermögen  nicht 
ausreiche.  Die  Eltern  hielten  das  Kind  für  fast  taub  und  sprachunfähig. 
Grethl  besuchte  die  Schule,  mußte  jedoch  —  und  das  ist  selbstver- 
ständlich —  die  Klasse  repetieren  und  müßte  sie  immer  repetieren,  wenn 
ihr  nicht  geholfen  worden  wäre. 

Die  bange  Frage  für  mich  war  die:  Wo  einsetzen?  Das  war  mir 
zur  Gewißheit  gekommen,  daß  Grethl  nicht  so  schlecht  hört,  wie  die 
Eltern  angenommen  haben.  Das  Kind  war  fast  begriffios.  Das  be- 
stärkte den  Glauben,  als  wäre  es  wirklich  in  einem  sehr  hohen  Grade 
taub.  Nachdem  mir  einmal  diese  Tatsache  zur  Gewißheit  geworden  war, 
ging  ich  rücksichtslos  auf  das  Ziel  zu,  den  Bewußtseinsinhalt  des  Kindes 
mit  Begriffen  zu  bereichern.  Welchen  Bewußtseinsinhalt  ein  vorschul- 
pflichtiges normales  Kind  hat,  habe  ich  schon  des  öfteren  erörtert  z.  B. 
in  der  Zeitschrift  für  Psychologie  und  Pathologie  von  Kemsies.  Eine 
weitere  Abhandlung  über  das  Anschauungsvermögen  des  6  jährigen  Kindes 
erscheint  demnächst  in  dieser  Zeitschrift  und  eine  dritte  Arbeit  liegt 
in  ihrer  Analyse  vor  mir  :  der  Bewußtseinsinhalt  eines  5  jährigen  Kindes. 
Praktisch  führte  ich  den  Vergleich  zwischen  dem  Begriffsinhalt  eines 
2  jährigen  Kindes  und  dem  der  anormalen  Grethl  durch.  In  der  Quan- 
tität war  das  '2jährige  Kind  überlegen,  in  der  Qualität  und  Intensität 
Grethl. 

Grethl  kannte  die  meisten  Buchstaben ;  eine  Anzahl  kleiner  und  die 


—     91     — 

größere  der  Großbuchstaben  fehlte.  Diese  Tatsache  legte  die  Diagnose 
klar,  daß  Grrethl  nicht  so  schlecht  hören  könne.  Denn  entgegengesetzten 
Falles  hätte  sie  im  Massenunterricht  nicht  einmal  die  wenigen  Buch- 
staben kennen  gelernt,  sie  gab  ferner  Winke  zu  erfolgreicher  Behand- 
lung. Die  Schrift  war  gut.  Mit  Hilfe  dieser  wenigen  Kenntnisse  ließ 
sich  schon  etwas  bewerkstelligen.  Der  Unterricht  erstreckte  sich  diesen 
Tatsachen  entsprechend  auf:  Sprechen,  Lesen,  Schreiben  und  Anschau- 
ungsunterricht. Nach  6  "\r\'ochen  schon  konnte  ich  „Rechnen"  hinzu- 
nehmen und  nach  8  Memorieren.  Als  Lesebuch  diente  mir  das  „Brügge- 
mannsche"  nach  phonetischen  Prinzipien  eingerichtete.  Als  Anschauungs- 
mittel benützte  ich  die  „Bilder  zum  ersten  Anschauungsunterricht  für 
die  Jugend  von  Eduard  Walther,  Direktor  der  Königlichen  Taubstummen- 
anstalt zu  Berlin".  Nebenbei  bemerkt:  Eine  für  derartige  Zwecke  ge- 
radezu mustergültiges  Werk. 

Zuerst  wollte  ich  mir  genau  notieren,  welchen  Wortschatz  das 
Kind  eigentlich  in  sich  berge.  Da  ich  aber  —  wie  schon  bemerkt  — 
zu  meiner  größten  Verwunderung  erkannte,  daß  der  Bewußtseinsinhalt 
ein  ganz  minimaler  sei,  schrieb  ich  mir  das  auf,  was  Grethel  nicht  wußte. 
Hier  folgen  die  negativen  Ergebnisse  der  ersten  Tage : 

Das  Kind  wußte  nichts  von:  Star,  Speise,  Traum,  Schlaf,  Wand, 
Spiegel ,  Tisch ,  LeLnstuhl ,  Sofa ,  Ofen ,  Kachel ,  Klavier ,  Waschtisch, 
Flasche,  Strauß,  Veüchen,  Fell,  Wald,  Wolle,  Wolke,  Wirt,  Hals,  Finger, 
gelb,  Wolf,  Flügel,  Stiefel,  dort,  Zwirn,  Ferse,  kurz,  werfen,  Mark, 
klopfen,  wie,  wo,  Aste,  später,  Gras.  Türe,  spritzen.  Fleisch,  Zähne, 
Schnupfen,  Zigarren,  Tabak,  Thee,  Gewehr,  Joppe,  Jahr,  Woche,  Tag, 
Monat,  rechts,  links,  Absatz,  Spitze,  Schmied,  Semmel,  Scheune,  Sonne, 
Spazierstock,  Zähne,  Stirn,  Zehe,  Zündholz,  (kennt  keinen  Vogel)  vier, 
Baum,  Kirche,  Turm,  Schmied .  Dach,  Brücke,  Kopftuch,  Wochentag, 
hören,  sehen,  riechen,  gehen,  Dreschflegel.  Ziege.  Xase,  Schwanz,  Deichsel, 
Stnnde,  Gans,  Flügel,  Frühstück,  Fußboden,  Decke,  Krug,  Straße,  hobeln, 
Bauer. 

Nun  lasse  ich  diejenigen  Wörter  folgen,  von  denen  Grethel  eine 
Erklärung  gab : 

Lampe  =  das  ist  Licht. 

Tisch  =  Stuhl. 

Lehnstuhl  =  Sofastuhl  (nachdem  der  Begriff  Sofa  gegeben  war). 

Zeitnng  =  Papier. 

Pfanne  =  Teller. 

Beil  =  Messer. 

Reibeisen  =  Mein  Mariele  sein  Zwieback. 


—    92    — 

Laterne  =  Licht. 

Greld  =  kaufen. 

Speise  =  Fleisch. 

Bier  =  Seidle  Bier  essen. 

Säbel  =  Messer. 

Schankel  =  Karussell. 

Feuer  =  grennt  (brennt). 

Herr  =  Küche. 

Großmutter  =  Eisbahn  (Eisenbahn). 

Otto  =  weiter  Weg. 

Papa  =  Grrathaus  (Rathaus). 

(Eine  Freundin  der  Mutter  heißt  Wagenhöfer)  =  schöne  Frau. 

Baum  =  Holz. 

Fehler,  entstanden  durch  Klangassoziationen. 
Schule  =  Stuhl;  erst  nach  längerem  Besinnen  —  wo  bei  die  Stuhl 
drin  is,  is  Schule. 

Veilchen  =  Feuer  (Klangassoziation  =  ei). 

Fell  =  Löffel  (Silbenassoziationsklang  feil). 

Wald  =  Tafel  (a). 

Hals  =  heiß  (Klangassoziation   =  Holz). 

gelb  =  Geller  (soll  Teller  heißen). 

dort  =  Storch  (o). 

Zwirn  (Bim)  Suppe. 

Ferse  =  Vogel. 

kurz  =  Suppe. 

Einschaltung:    von  kurz    oder    lang    kein  Verständnis;    ebenso- 
wenig von  kürzer  oder  länger. 

werfen  =  waren. 

Äste  =  essen. 

spritzen  =  schwitzen. 

Scheune  =  schneien. 

vier  =  führen. 

Zähne  =  Sehne  (beides  ohne  reale  Bedeutung). 

Spazierstock  =  was  spüren. 

Zähne  =  zehn. 

Hobeln  =  Ofen. 

Abel  =  Tafel. 

Ich  komme  jetzt   auf  die   Aussprache   selbst.     Es   war   dem  Kinde 
unmöglich,  den  „k-Laut"  hervorzubringen,  wenn  k  verlangt  wurde.    An- 


—    93    — 

dererseits  sprach  es  das  k,  wenn  es  dasselbe  nicht  hervorbringen  sollte, 
so  vor  r  und  Dr.  = 

statt  Blume  sprach  es  krume 


V 

drei 

n 

JJ  'krei 

JJ 

Frau 

7} 

„   krau 

}} 

Bube 

JJ 

JJ    C^uge 

7) 

BriUe 

JJ 

„    Grille 

n 

r 

JJ 

n   kr 

JJ 

rau 

JJ 

„   krau 

» 

rei 

JJ 

v   krei 

JJ 

rein 

JJ 

j,   krein 

JJ 

Rind 

JJ 

„    Tind 

JJ 

brin^^t 

JJ 

„    kringt 

JJ 

drauf 

JJ 

„    krauf 

JJ 

braut 

JJ 

„   brauk 

JJ 

treu 

JJ 

-   kreu. 

Sodann  setzt  es  vor  manche  Konsonanten  den  „S-Laut"  oder  „Seh''. 
Z.  B.  statt  Töchter  =  Stöchter 

„       Knaben  =  Schnaben 

„       kneife  =  schneife 

j,       knote  =  schnote 

„       Nase  =  Schnase 

Der  G-Laut  wird  zum  „K^-Laut,  wenn  auf  g  Vokal  folg  t. 
Umstellung  der  Laute. 

Statt  Schreibtisch  =  breischtisch 

„  blase  =  balse 

„  trage  =  targe 

ji  Fleisch  =  schleisch 

„  eitel  =  eitle 

„  naseweiß  =  anseweiß 

„  fließen  =  fleißen 

„  Fleisch  =  schleif 

„  Thee  =  et 

„  Krug  =  urgk 

„  Teppich  =  keppi. 

Sie  bringt  oft  das  „F"  im  Auslaut  nicht  deutlich  hervor  so:  Feuer 
assoziiert : 

grennt  statt  brennt. 


—    94    — 

Auch  erscheint  bei  dem  achtjährigen  Kinde  noch  das  „d"  des  An- 
fangsstadiums im  Sprechen : 
Statt  Gaul  =  Daul 

„      Fußboden  =  Dudoden. 
Flexion  —  keine  Spur 

Geld  kaufen,  Bier  10  Pfg. 

ich  hab  1  Karussell  fahr 

Hab  mein  Kaffee  trunkt 

hat  mein  Papa  mitbringt 

Wo  was  der  Bu? 

Die  Anwendung  des  Artikels  war  äußerst  mangelhaft,  am  häufigsten 
gebrauchte  sie  den  weiblichen  Artikel:  die. 

Geradezu  auffallend  ist  der  vollständige  Mangel  irgend  welcher 
Zeitbestimmung.  (Beute  ist  der  7.  April).  Bis  1.  April  wußte  sie  noch 
nicht  den  Unterschied  zwischen  Tag  und  Nacht,  Vormittag  und  Nach- 
mittag, kannte  weder  die  Wochentage  noch  die  Monate ,  weder  Jahres- 
zeiten noch  Feste. 

Nun  hatte  ich  diesen  fast  leeren  Kopf  zu  füllen,  dem  Bewußtsein 
Inhalt  zu  verschaffen.  Gerade  mit  einem  Abschnitte  fertig,  fühle  ich 
den  Drang  in  mir,  die  schöne  Arbeit  in  ihrem  Anfangsstadium  schriftlich 
niederzulegen. 

Aus  dem  bereits  dargelegten ,  geht  klar  hervor ,  daß  sich  die  Ge- 
samtarbeit in  zwei  Hauptgruppen  zu  teilen  hatte : 

1.  in  Sprechübungen 

2.  in  Sprachübungen. 
Selbstverständlich  ist  hier  mit  dem  Worte  „Sprach"  nicht  Gram- 
matik gemeint,  sondern  die  Sprache  als  der  Ausfluß  des  Wortschatzes. 
Weil  dieser  nur  in  minimaler  Quantität  vorhanden  war,  mußte  er  erst 
beschafft  werden.  Damit  er  in  seiner  Qualität  rein  aufgespeichert  werden 
konnte,  mußten  die  Sprechübungen  vorausgehen  und  die  Sprachübungen 
dieselben  nur  insoweit  begleiten,  als  bestimmte  Wärter  als  solche  be- 
zeichnet werden  konnten,  die  Grethel  auszusprechen  vermochte. 

Die  Sprechübungen. 

1. 
Daß  die  Fehler,  die  Grethel  im  Sprechen  kund  gibt,  auf  physio- 
logische Ursachen  zurückzuführen  sind,  ist  klar.  Doch  waren  diese 
krankhaften  Erscheinungen  nicht  von  so  tiefgehender  Natur,  als  daß 
ich  wirklich  ernste  Bedenken  über  die  Heilung  derselben  hegte,  obwohl 
die  Eltern  das  Grundübel  ihres  pathologischen  Kindes    eben  in   diesen 


—    95    — 

Erscheinungen  erblickten.  Meine  Diagnose  war  richtig.  Nach  5  monat- 
lichem Unterricht  sprach  das  Kind  lautrein.  Ich  wendete  dabei  ver- 
schiedene Kunstgriffe  an,  die  ich  ja  als  bekannt  voraussetzen  darf!  Ich 
verweise  an  dieser  Stelle  auf  den  Vortrag ,  den  Albert  Liebmann  am 
7.  Febr.  1902  im  Verein  für  Kinderpsychologie  zu  Berlin  gehalten  hat. 
(Zeitschrift  für  „Pädagogische  Psychologie,  Pathologie  und  Hygiene"  von 
Kemsies  IV  19U2  S.  97—120). 

Nachdem  ich  konstatieren  konnte .  daß  kein  Laut  mehr  versagte, 
wußte  ich,  daß  im  Sprachorganismus  selbst  nichts  Krankhaftes  zu  ent- 
decken sei.  Diese  Lautverstümmelungen,  wie  „z"  statt  „p**,  „s"  statt 
„sch^,  „1"  statt  „r"  erscheinen  auch  bei  normalen  Kindern  während  der 
Periode  des  Sprechenlernens.  Wenn  auch  der  „K"-Laut  vor  dem  „R"- 
Laut  noch  oft  erschien,  trug  ich  keine  Bedenken,  daß  der  „R^-Laut 
nicht  doch  zuletzt  noch  rein  erscheinen  würde.  Eine  fortgesetzte  Übung 
in  dem  Sprechen  des  „R"  mit  Anweisung  auf  den  richtigen  Ansatz,  die 
Übung  in  der  Embouchure,  in  der  besonderen  Art  und  Weise ,  wie  die 
Instrumente  (hier  die  Einzelsprachorgane)  zur  Hervorbringung  des  ge- 
wollten Lautes  zu  gebrauchen  seien ,  half  bald  über  die  Schwierigkeit 
hinweg. 

Ein  Berühren  des  Kehlkopfes  erzeugte  statt  T  (in  Kind)  lautrichtiges 
-K".  In  Verbindung  hiermit  förderte  die  Übung  in  der  Embouchure 
die  Umwandlung  des  „krauf"  in  „drauf". 

Die  Anwendung  des  weichen  „sch^-Lautes  vor  dem  „h^-Laut  deutete 
ich  auf  ein  von  Grethel  selbst  erfundenes  Hilfsmittel,  um  das  „h"  wirk- 
lich hervorzubringen. 

Aus  der  Tatsache ,  daß  einzelne  Laute  in  verschiedenen  Zusammen- 
setzungen richtig  zum  Ausdruck  kamen,  während  sie  dort,  wo  sie 
wirklich  angewendet  werden  sollten,  versagten,  schloß  ich,  daß  dies  in 
der  Schwierigkeit  Worte  zu  bilden  seinen  Grund  haben  müsse.  Z.  B. 
vor  „R-  spricht  das  Kind  den  „K^-Laut  rein  und  richtig  aus.  In  dem 
Worte  „Kind"  wird  das  „K"  zu  „T"  in  „Katze"  zu  „H"  =  Hatze. 

In  „Bube"  wird  das  B  im  Anlaut  zu  (x  =  Guge,  während  „Gold" 
wie  „Hold"  gesprochen  wird.  Es  ist  demnach  die  Diagnose  richtig,  daß 
die  Einzelorgane  des  Sprechorganismus  gesund  sind.  Die  mangelhafte 
Aussprache  liegt  in  der  Unfähigkeit,  Laute  zum  Worte  richtig  zu  ver- 
binden. Das  Hauptübel  liegt  also  nicht  in  der  Aussprache  der  Laute, 
sondern  in  der  mangelhaften  Fähigkeit  Worte  zu  bilden. 

Klar  und  deutlich  tritt  diese  Tatsache  vor  Augen,  wenn  wir  die 
Entwicklung  des  Kindes  in  dem  Stadium  verfolgen,  innerhalb  dessen  es 
Worte  zu  bilden  hat. 


—    96     - 

Wie  schon  eingangs  bemerkt,  benützte  ich  das  Brüggemansche  Lese- 
buch, das  auf  phonetischer  Grundlage  aufgebaut  ist. 

Im  Anschluß  an  die  5  Vokale  werden  hier  die  Konsonanten  in  Ver- 
bindung mit  den  einzelnen  Vokalen  geübt ;  z.  B.  a — am — ma — mam — mama 
— am — a — alla — ala — lala — a — r  u.  s.  w.     Ebenso  mit  o — u — a — e — i — . 

Das  Kind  las  und  mußte  das   Grelesene   sofort  niederschreiben  d.  h. 
es  las,    schrieb    und    sprach    d.  h.  optische,  akustische  und    kinematische 
Übungen  wurden  angestellt,   um    dem   Gesamtsprachorganismus   produk- 
tives Leben  einzuhauchen.    Während  dieser  Übungen  fiel  sofort  die  Tat- 
sache auf,  daß  das  Kind  die  Laute  fast  vollständig  umstellte. 
Statt  blase  liest  es  balse 
„      trage  liest  es  targe 
„      Fleisch  liest  es  schleif 
„      krug  schreibt  es  urg 
„      Teppich  liest  es  keppi 
Auch  diese  scheinbare  Anormalität    erschien  mir  nicht  für  schlimm. 
Ich  erinnerte  mich  der  Untersuchungen,    die  ich    einst  über  das  Rechtr 
schreiben   anstellte.     Verwertet   sind   die   Ergebnisse   derselben    in   der 
schon    erwähnten   Zeitschrift   für    Päd.  Ps. .  v.  Kemsies  III  1901  S.  343 
bis  348.     Dort  findet  man  dieselben  Umstellungen: 

z.  B.  kars  statt  Gras. 
Ich  beziehe  mich  auf  die  dort  verzeichnete  Fußnote  :  „Solche  Metathesen- 
Umstellungen  zwischen  Vokalen  und  Konsonanten  innerhalb  verschiedener 
Silben  finden  sich  vielfach  in  der  historischen  Entwicklung  der  Sprachen". 
Das  anormale  Kind  hat  eben  die  physiologischen  Stadien  in  einem 
späteren  Lebensalter  zurückgelegt  als  das  normale.  Ohne  therapeutische 
Behandlung  wäre  Grethel  in  dem  Anfangsstadium  der  physiologischen 
Entwicklung  —  nach  meiner  Schätzung  der  eines  2V2  jährigen  Kindes  — 
stehen  geblieben.  Durch  die  therapeutische  Behandlung  konnte  sich  der 
Sprachorganismus  regen  und  heute  nach  5  Monaten  Unterrichtszeit  ist 
auch  von  diesen  Umstellungen  keine  Spur  mehr  vorhanden. 

Neben  dieser  Erscheinung  finden  wir  noch  die  gewöhnliche  kind- 
liche Sprechweise  des  bekannten:  Du  —  Dost,  Fußboden  =  Dudoden. 
Mit  diesen  Darlegungen  wollte  ich  nur  den  Beweis  führen,  daß  dieses 
8  jährige  Mädchen  in  seiner  Sprechfähigkeit  trotz  ihrer  wohlausgelbil- 
deten  körperlichen  Gestaltung  und  trotz  der  Tatsache,  daß  im  Sprech- 
organismus selbst  kein  namhafter  Fehler  zu  finden  ist,  daß  dieses  Mäd- 
chen eben  ganz  einfach  „nur"  zurückgeblieben  ist.  Die  unter- 
richtliche Behandlung  nach  den  dargelegten  Grundsätzen  förderte  das 
Kind  innerhalb  5  Monaten    derart,    daß   es    sehr   gut   lesen   kann,    die 


—    97    — 

deutsche  Schreib-  und  Druckschrift   sowohl,   als   auch  die  Antiqua.     Sie 
beherrscht   beide   im   Lesen    und    Schreiben    derart ,    daß    der   prüfende 
Schulinspektor   dies  anormale  Kind   im  Lesen   und  Schreiben  nicht    von 
dem  normalen  Kindern  zu  unterscheiden  vermochte. 
Sofort  drängen  sich  uns  zwei  Fragen  auf: 

1.  Worin  ist  die  Ursache  dieses  Zurückbleibens  zu  suchen?  und 

2.  Was  ist  das  Grundübel  ? 

1)  Das  Kind  hatte  in  den  ersten  Lebensjahren  viel  an  Konvulsionen 
zu  leiden.  Schon  in  seinem  ersten  halben  Lebensjahre  trug  der  Arzt 
für  die  geistige  Entwicklung  Sorge.  Erst  später  entdeckten  die  Elternj^ 
daß  das  Kind  sehr  schlecht  höre.  Sprechen  konnte  es  bis  zu  seinem 
4.  5.  Lebensjahre  nicht  und  sich  nur  durch  unartikulierte  Laute  ver- 
ständlich machen.  Das  Grundübel  ist  meines  Erachtens  aber  nicht  die 
Schwerhörigkeit.  Denn  Grethel  hört  die  Vögel  singen,  hört  auf  8  m 
Kinder  sprechen,  hört  durch  eine  dicke  Wand  hindurch  plaudern  und 
singen,  hört  alles  Pfeifen,  ja  sie  hält  sich  die  Ohren  zu,  wenn  zu  stark 
gepfiffen  wird.  Es  scheint  also,  daß  die  Gehörorgane  sogar  ziemlich 
empfindlich  sind.  Wenn  ich  ohne  die  Stimme  zu  erheben,  normal  spreche, 
versteht  sie  das,  worauf  sie  zu  reagieren  imstande  ist.  Wenn  ein  Wort, 
ihr  völlig  fremd,  zu  ihrem  Innenleben  dringt  —  freilich  dann  sagt  sie: 
hab  ich  nicht  standen  (verstanden).  Weil  nun  der  Bewußtseinsinhalt 
ein  gar  so  ärmlicher,  minimaler  war,  daß  man  kühn  behaupten  darf:  ein 
2 jähriges  Kind  besitzt  einen  quantitativ  größeren  Begriff'fonds ,  weil 
die  Sprechwerkzeuge,  die  Muskelsynergien  vollständig  gesund  sind  und 
das  Kind  bei  minimalem  Gehörfehler  doch  nicht  sprechen  kann,  so  er- 
gibt sich  hieraus  eine  ganz  andere  Diagnose.  Bevor  ich  auf  dielbe  ein- 
gehe muß  ich  eine  Behauptung  Gustav  Siegerts  zurückweisen.  G.  S. 
schreibt  in  einem  Aufsatz  über  „Pathologisches  aus  meinen  Schulklassen" 
(Zeitschrift  für  Kinderfehler  v.  J.  Trüper  I,  S.  176.  „Auch  die  miß- 
bräuchliche Anwendung  der  Zungenverschlußlaute  d  und  t  an  Stelle  der 
Gaumenverscblußlaute  g  und  k  und  umgekehrt  erklärt  sich  aus  orga- 
nischen Schäden". 

Das  ist  nach  meiner  Meinung  vollständig  unrichtig.  Das  sind  keine 
organische  Schäden.  Das  Kind  braucht  sehr  lange,  bis  es  schön,  deutlich 
sprechen  kann.  Es  bemüht  sich  zunächst,  so  deutlich  zu  sprechen,  wie 
es  die  Sprache  von  seiner  Umgebung  vernimmt.  In  diesem  Bemühen 
muß  es  sich  sehr  anstrengen,  mehr,  als  wir  Erwachsene,  denen  zwar 
die  mündliche  Wortbildung  immer  gelingt,  nicht  aber  stets  die  münd- 
liche oder  schriftliche  Satzbildung.  Diese  Anstrengung  ist  ein  vom 
Kind  zu  überwindendes  Hindernis.  Das  Kind  bildet  sich  seine  Sprache 
selbst  (Siehe   Preyer,    Compayre.   Jahn)   d.h.  es   büdet   sich    nicht  eine 

Menmann,  Exper.  Pädagogik.    V.  Band.  7 


—    98    — 

andere,  neue,  fremde  Sprache,  sondern  jedes  Eünd  kommt  auf  dem  ihm 
individuellen  Wege  zu  der  Sprache  seiner  Umgebung.  Auf  diesem  Wege 
hat  es  Hindernisse  zu  überwinden.  Diese  Hindernisse  äußern  sich  in 
Stottern,  Stammeln  und  allen  jenen  Fehlern,  die  G.  S.  ja  auch  syste- 
matisch geordnet  hat  und  die  auch  bei  Grethel  bermekbar  waren. 

Was  nun  das  Grundübel ,  an  dem  Grethel  leidet ,  betrifft ,  so  wage 
ich  die  Behauptung  aufzustellen,  daß  sie  durchaus  nicht  so  schwerhörig 
war,  als  von  den  Aerzten  angenommen  wurde,  sondern  durch  die  im 
ersten  halben  Jahre  aufgetretenen  Konvulsionen  die  Psyche  derart  al- 
teriert  wurde,  daß  sie  der  Außenwelt  gegenüber  oder  für  die  Eindrücke 
aus  der  Außenwelt  fast  vollständig  indifferent  geworden  ist.  Weil  sie 
infolge  dessen  fast  auf  keine  Einwirkungen  reagieren  konnte,  hielt  man 
sie  für  taub.  Ein  Beweis  hierfür  dürfte  wohl  der  sein,  daß  ihre  Ge- 
berdensprache sich  nur  auf  das  Gefühlsleben  erstreckte,  während  sie 
vollständig  versagte,  wenn  sie  Objekte  zeigen  sollte.  Ich  erinnere  mich 
soeben  eines  7  jährigen  Taubstummen.  Dieser  Junge  konnte  sich  durch 
seine  lebhafte  Geberden  spräche  ziemlich  deutlich  verständlich  machen. 
Grethel  stand  anfangs  da  wie  ein  Ölgötze.  Hätte  sie  Yorstellungen 
aufnehmen  können,  so  hätte  sie  gewiß  Gegenstände  ihres  Wohnzimmers 
wie  Tisch,  Stuhl,  Teller,  Löffel,  Spiegel  p.p.  wenigstens  im  Bilde 
wiedererkannt.  Aber  von  alle  dem  keine  Spur.  Ebenso  fehlte  jeglicher 
Formen-  und  Farbensinn,  jegliche  Zeitbestimmung  und  der  Ortssinn  war 
ganz  minderwertig  ausgeprägt  und  heute  noch,  nach  fünf  Monaten,  braucht 
sie  lauge,  um  sagen  zu  können,  daß  es  „Nacht"  ist,  wenn  man  schläft, 
„Morgen",  wenn  die  Sonne  aufgeht  und  man  Kaffee  trinkt ,  ,.Mittag" 
wenn  man  die  Suppe  ißt  und  „Abend",  wenn  man  Licht  anzündet. 

Daß  das  Kind  hören  konnte ,  beweist  der  Umstand ,  daß  es  Rudi- 
mente doch  in  sich  mit  der  Zeit  aufnahm ;  daß  es  sehen  konnte,  beweist 
sein  Alltagsleben,  daß  es  sprechen  konnte,  das  Hervorbringen  falsch  an- 
gewendeter Wörter ;  daß  es  riechen  konnte ,  seine  Vorliehe  für  Blumen 
und  der  Gesichtsausdruck,  wenn  sein  Schwesterchen  unreinlich  war;  be- 
wundem mußte  ich  seinen  ausgesprochenen  Ordnungssinn,  seine  Reinlich- 
keit. So  reifte  in  mir  nach  und  nach  das  Urteil,  daß  die  Gehirnpar- 
tieen  alle  gesund  seien,  daß  die  physiologische  Beschaffenheit  der  Zentren 
normal  sei,  nur  daß  sein  Gesamtseelenleben,  die  seelische  Kraft,  auf 
welche  sich  die  Teilkräfte  der  Zentren  konzentrieren  —  daß  diese  Kraft 
zu  schwach  war,  um  aufnähme-  und  produktionsfähig  sein  zu  können. 

Oben  sagte  ich,  daß  das  Kind  sehen  konnte.  Wie  ist  aber  die 
Frage  zu  beantworten:  Warum  kennt  das  Kind  keine  einzige  Farbe? 
Zeigte  ich  ihm  bunte  Bilder,  oder  die  Farbenskala,    so  erhielt  ich  lange 


—    99    — 

Zeit  die  Antwort :  Alles  weiß.  Es  reagierte  also  auf  die  Farbe  in  keiner 
Weise. 

Erfährt  der  FarbenanschaumigsimteiTicht  nicht  eine  fortwährende 
Übung,  ist  die  Benennung  der  Farben  bald  vergessen. 

Es  sah  die  Dinge  seiner  Umgebung  täglich  —  und  doch  blieb  kein 
Bild  andauernd  in  seinem  Bewußtsein  haften ,  während  es  jetzt  nach 
dem  fünfmonatlichem  Unterricht  z.B.  eine  Leiter,  ein  Viereck,  einen 
Tisch  fast  tadellos  auf  die  Wandtafel  zeichnet. 

Aus  dem  allen  ist  zu  entnehmen,  daß  hier  der  Fall  gege lien  er- 
scheint, als  hätte  die  Psyche  des  Kindes  bis  zu  dem  Moment  eines  in- 
tensiven Unterrichtes  ein  traumhaftes,  nur  in  Gefühlen  sich  äußerndes 
Dasein  geführt.  Trauer,  Schmerz,  ausgelassene  Freude  bei  Neuerschei- 
nangen,  sich  Wichtigmachen  bei  den  geringsten  Anlässen,  kokettes  Auf- 
treten, stark  ausgeprägtes  Selbstbewußtsein,  hoher  Grad  von  Eitelkeit, 
Teilnahme,  Mitleid,  Güte  sind  Züge,  die  heute  noch  besonders  charak- 
teristisch hervortreten;  Zorn,  eine  gewisse  Wildheit  namentlich  den 
Knaben  gegenüber  geben  dem  Mädchen  ein  Gepräge  furchtlosen,  eigen- 
willigen Auftretens. 

Wäre  das  Mädchen  wirklich  taub  gewesen,  so  würde  es  sicher  eine 
gewisse  Unsicherheit  auf  der  Straße  geäußert  haben  —  nichts  von 
alle  dem. 

Vergleiche  ich  den  Bewußtseinsinhalt  dieses  anormalen  Kindes  mit 
dem  eines  normalen  2  jährigen,  so  finde  ich,  daß  dieser  quantitativ  viel 
bedeutender  ist  als  jener. 

Sollte  ich  zu  der  Annahme  berechtigt  sein,  hier  vor  mir  ein  mensch- 
liches Wesen  zu  haben,  das  bis  zu  seinem  Eintritt  in  den  ihm  besonders 
erteilten  Unterricht  ein  Mensch  war  ohne  Sprache  mit  all  ihren  weitest- 
gehenden Konsequenzen;  welches  zwar  gesunde  Organe  hatte,  durch- 
lassungsfähig,  fortleitungsfähig,  welche  jedoch  den  Anschluß  an  die  mo- 
torischen Zentren  nicht  fanden?  Hatten  die  Konvulsionen  eine  so 
furchtbar  hemmende  Wirkimg  hervorgebracht? 

Compayre  schreibt  in  seiner  Entwicklung  der  Eandesseele  S.  283: 
„Die  Tätigkeit  des  Gehirns  ist  also  notwendig,  um  die  Verbindung  zu 
ermöglichen,  damit  die  äußeren  Eindrücke  des  Gehörs  in  innere,  geistige 
Bilder  umgewandelt  werden  können,  die  nunmehr  ihrerseits  geeignete 
Bewegungen  in  den  Sprachorganen  veranlassen.  Die  Gehimentwicklung 
des  Kindes,  welche  zur  Ausübung  dieser  Tätigkeit  notwendig  ist,  tritt 
nicht  sofort  ein".  Diese  Tätigkeit  des  Gehirns  scheint  nun  bei  Grethel 
nicht  eingesetzt  zu  haben  oder  doch  nur  so  rudimentär ,  daß  die  Um- 
gebung, ja  selbst  Arzte  die  Meinung  hegten,  das  Kind  wäre  taub  Auf- 
fallend bleibt  immer    der  Umstand,    daß    dieses  Ruhen  der  Tätigkeit  so 

7* 


—    100    — 

lange  —  8  Jahre  —  angehalten  hat.  "Weil  „die  Erwerbung  der  Sprache 
alle  Fortschritte  des  Kindes  kurz  zusammenfaßt,  da  alle  seine  Fähig- 
keiten dabei  mitwirken",  (Comp.  S.  281),  deswegen  mußte  jetzt,  nachdem 
der  Sitz  des  Grundübels  mir  klar  geworden  war,  jene  oben  geschilderte 
Tätigkeit  in  das  Rollen  gebracht  werden,  sie  mußte  jetzt  einsetzen 
dürfen  um  dieses  leere  Menschengefäß  mit  einem  Seeleninhalt  zu  füllen, 
der  es  ermöglichte,  daß  die  geistigen  Partieen  in  dem  Kinde  geweckt 
und  in  ihm  der  wahre  Fortschritt  von  dem  Anormalem  zum  Normalen 
betätigt  werden  konnte. 

Es  war  ein  hartes  Stück  Arbeit.  Ich  ging  von  der  Wohnstube 
aus  und  zeigte  dem  Kinde  die  in  derselben  befindlichen  Gegenstände. 
Die  Unkorrektheit  der  Aussprache  trat  für  mich  zunächst  in  den  Hinter- 
grund. Galt  es  doch  dem  8  jährigen  das  auf  unterrichtlichem  Wege 
beizubringen  was  das  l\/2  jährige  innerhalb  seiner  Umgebung  von  selbst 
lernt.  Damit  der  Lehrer  einen  Begriff  hiervon  bekomme,  setze  ich  die 
Wörter  nochmal  hierher,  die  Grethel  vollständig  unbekannt  waren,  auf 
welche  sie  in  keiner  Weise  reagierte: 

Wand,  Brille,  laufen  (Grethel  kannte  die  Verschiedenheit  des  Gehens- 
wie  Gehen,  laufen  springen,  hüpfen,  nicht,  während  das  normale  2  jährige 
den  Unterschied  in  seinen  Ausdrucksbewegungen  fein  markiert.  Ich  er- 
wähne hier  das  zweijährige  Kind  öfters,  weil  ich  stets  den  Bewußt- 
seinsinhalt des  normalen  Zweijährigen  verglich  mit  der  anormalen  acht- 
jährigen Grethel)  Teppich,  Fußboden. 

Daß  ich  es  hier  mit  einem  anormalen  Kinde  zu  tun  hatte,  das  in 
seiner  Sprachentwicklung  dem  eines  1^/2—2 jährigen  Kinde  glich,  be- 
weist der  Umstand,  daß  es  Wörter  fast  durchweg  so  nachsprach,  als 
wenn  es  eben  2  Jahre  alt  wäre.  Ich  will  damit  sagen,  daß  das  8  jährige 
Kind  als  ein  2 jähriges  zu  betrachten  war.  Statt  Fußboden  sprach  es 
z.  B.  Dudoden.  Also  nicht  allein  in  der  Leere  des  Bewußtseinsinhaltes 
glich  es  dem  2  jährigen,  sondern  auch  in  der  Qualität  der  Sprachäuße- 
rungen, sodaß  es  unumgänglich  notwendig  ist  zum  besseren  Verständnis 
dieser  Abnormität  die  Sprachentwicklung  des  2jährigen  Kindes  als 
Parallelismus  hier  mit  hereinzuziehen  und  zu  verfolgen.  Daß  das  acht- 
jährige Kind  rascher  vorwärts  schritt  als  dem  2  jährigen  es  möglich  ist, 
liegt  in  der  Natur  selbst  begründet.  Die  Gehirnstruktur  des  achtjäh- 
rigen ist  eben  doch  kräftiger  quantitativ  entwickelt  als  die  des  zwei- 
jährigen. Zudem  ist  die  große  Intelligenz  der  achtjährigen  Grethel 
nicht  zu  unterschätzen.  Sie  unterstützte  mich  im  Unterricht  in  einer 
ganz  hervorragenden  Weise. 

Ich  lasse  diese  Bemerkungen  bei  Wörtern  einfließen,  die  so  recht 
deutlich  zeigen,    daß  der  Parallelismus  zwischen   dem  8jährigen  Anor- 


—    101     — 

malen  und  dem  2jährigen  Normalen   in   der  Tat  gegeben   ist:    Worter, 
die  es  nicht  kennt:  Teuer,  Korb,  Reibeisen. 

Compayxe  schreibt  a.  a.  0.  S.  13.  Während  die  Erfindungsgabe  des 
Kindes  unter  dem  schon  erörterten  Gresicbtsponkte  sehr  beschränkt  ist, 
hält  sie  sich  schadlos,  wenn  es  für  das  Blind  gilt,  den  Sinn  der  Worter, 
die  es  fertig  der  Sprache  der  Eltern  entnimmt,  oder  die  es  selbst  her- 
gestellt hat,  zu  erweitem,  zu  verallgemeinem  und  abzuändern.  Oder 
Preyer:  ^Xacbdem  sich  die  erste  Assoziation  zwischen  einer  Vorstellung 
und  einer  Silbe  durch  Eingebung  oder  auf  instinktmäßige  Weise  einmal 
gebildet  hat,  ;. findet  das  Kind  neue  Assoziationen  von  selbst*. 

Auch  dieser  Fall  ist  bei  Grethel  gegeben. 
Star  =^  ist  das  Taube 
Laterne  ^  Licht 
Lampe  ==  Licht 
Zeitung  =  Papier 
Alles  was  Flügel  hat  ist  Vogel. 

Sodann  finden  wir  die  sog.  Identifizierung.  Sie  sieht  ein  » Reib- 
eisen" und  kann  das  Objekt  nicht  benennen.  Sie  weiß  aber,  daß  ihrem 
Schwesterchen  der  Zwieback  auf  dem  Gregenstand,  der  ihr  hier  im  Bude 
gezeigt  wird,  gerieben  wird.  Rasch  sagt  sie:  das  ist  Mariele  sein 
Zwieback.  Es  identifiziert  eine  Handlung  mit  dem  Gregenstand,  an 
welchem  diese  Handlung  vorgenommen  wird.  Das  ist  ein  Stuck  der 
Selbstbildung  der  Sprache  durch  die  Kinder.  Ich  zitiere  hier  das  Wort 
Taines  -die  Originalität,  die  Erfindungsgabe  ist  beim  Kinde  so  lebhaft, 
daß  wir  von  ihm  seine  Sprache  lernen,  wenn  es  von  uns  die  unsere 
lernt«. 

Eine  Freundin  ihrer  Mutter  war  bis  ungefähr  Weihnachten  -die 
schöne"  Frau,   obwohl  man   ihr  oft  den  richtigen  Namen  gesagt  hatte. 

So  ist  Schnabel  der  Mund,  der  Säbel  das  Messer,  Schaukel  das 
Karussell;  keinen  Begriff  hatte  es  femer  von:  Traum,  Schlaf,  Wand, 
Spiegel,  Tisch,  Lehnstnhl,  Sofa,  Ofen,  Kachel.  Klavier,  Waschtisch,  Wein, 
Flasche. 

Statt  Veilchen  sagt  es  j,Feuer".  Diese  Klangassoziationen  (Vei  = 
Feu)  finden  wir  auch  bei  normalen  Kindern.  Wenn  sich  das  Kind  ein 
Wort  nicht  erklären  kann,  wenn  es  den  das  Wort  deckenden  Begriff 
noch  nicht  als  Bestandteil  seines  Bewußtseinsinhaltes  hat .  dann  heKen 
die  Assoziationen.  Ich  untersuche  gegenwärtig  den  Bewußtseinsinhalt, 
das  Denkvermögen  eines  5  jährigen  Kindes.  Selbst  dieses  wendet  noch 
die  sog.  Klangassoziationen  an :  z.  B. 

Das  Kind  weiß   nicht,    was   ein  Arzt   ist,   obwohl  es  den  Doktor 


—    102    — 

kennt.     Es    besinnt    sich   und    sagt  Adler.     Es   kennt    den  Krebs    nicht 
und  sagt:  recht. 

Statt  „Rudi"  =  ausruhen. 
„      Zwirn  =  Birn — Zwiebel 
„      näher  =  nähen 

„      leicht  =  Grab  (im  Stillen  erschien  die  Klangassoziation :  Leiche, 
diese  führte  zu  Grrab). 

Statt  kosten  =  Post 

„  Stier  =  Stirne 

„  fluchen  =  fliegen 

„  gaffen  =  Affen 

„  Summe  =  Suppe 

„  Segen  =  Holz  sägen 

„  Fohlen  =  fädeln  u.  s.  w. 

Dieselben  Assoziationen  finden  wir  nun  bei  Grrethel: 
Veilchen  =  Feuer 
Fell  =  Löffel 
Wald  =  Tafel 
Hals  =  Holz 
gelb  =  Greller  (soll  Teller  heißen). 

Weil  Grethel  damals  noch  nicht  Teller  sprechen  konnte,  sondern 
nur  „Geller"  hervorzubringen  imstande,  produzierte  sie  als  Erklärung 
von  Gelb  =  Gelber.  Ein  glänzender  Beweis  für  den  Sprachmechanismus 
und  dafür  wie  lose  die  Worte  noch  ohne  den  realen  Begriffshintergrund 
in  der  Seele  des  Kindes  haften. 

Zwirn  =  Birn  —  Suppe  (siehe  5  jähriges) 

kurz  =  Suppe 

dort  =  Storch 

Abel  =  Tafel 

Aste  =  essen 

spritzen  =  schwitzen 

Scheune  =  schneien 

Spazierstock  =^  was  spüren 

Zähne  =  gehn 

vier  =  führen  (Hermine,  eine  Frau  tut  Mariele  führen  die) 

Hobeln  =  Ofen. 

Weitere  Wörter,  die  es  nicht  kennt. 

Strauß,  Fell,  Wald,  Wolle,  Wolke,  Star,  Wirt,  Hals,  Finger,  gelb, 
Wolf,  Flügel,  Stiefel,  dort,  Zwirn,  Ferse,  kurz,  werfen,  Mark,  klopfen, 


—    103    — 

Kaffeemühle,  Gras,  Türe,  Schnupfen.  Zigarren,  Tabak,  Thee,  Gewehr, 
Joppe,  Jahr,  Woche,  Tage,  Sohle,  Absatz,  Spitze,  Schmied,  Sonne,  Spa- 
zierstock, Stirn,  Zehe,  Zündholz,  Kirche,  Turm,  Dach,  Brücke,  Kopf- 
tuch, Wochentage,  hören,  sehen,  riechen,  schmecken,  sprechen,  gehen, 
Dreschflegel,  Ziege,  Schwanz,  Deichsel,  Stunde,  Grans,  Flügel,  Frühstück, 
Krug,  Strafe,  hobeln,  Bauer. 

Ferner  keine  Idee  von  rechts  und  links ,  keine  Antwort  auf  die 
Fragen:  wo  oder  wie. 

Greife  ich  nun  in  den  Bewußtseinsinhalt  des  zweijährigen,  so  finde 
ich  hier  bereits  entweder  ausgesprochen  oder  gedeutet:  (hingedeutet) 
Tisch,  Stuhl,  Sofa,  Bild,  Ofen,  Mutter,  Luise,  Hermine,  Paula,  Sesselchen, 
Schwamm,  Sportwagen,  Weckla,  Zucker ,  Schaufel ,  Milch ,  Geburtstag. 
(Auch  diesen  kannte  Grethel  nicht).  Spiegel,  Zeichnen,  Taschentuch, 
sämtliche  Kleidungsstücke,  Körperteil,  gehen,  laufen,  knieen,  springen, 
schlafen,  Hand,  Türe,  Wand,  Kommode.  Spiegel,  Fußboden,  Vorhang, 
Fenster,  Nähtisch,  Lampe,  ewiges  Licht,  KLalender,  Aschenbecher,  Zünd- 
holz ,  Federhalter ,  Stift ,  Federbüchse ,  Nähmaschine ,  Zimmer ,  Schlaf- 
zimmer, Sophakissen,  fortgehen,  guten  Tag  sagen.  Danke  sagen,  gut, 
brav,  böse,  Löffel,  essen,  Katze,  Vogel,  Ei,  Uhr,  ich.  Hund,  Maus,  lesen, 
Vögelein,  Henne,  Pfanne,  Wasser,  Holz,  Schuh,  Bier,  Bügeleisen,  Pferd, 
Eäder,  Baum,  Garten,  Apfel,  Sonne,  Mond,  Bett,  Engel. 

Eine  weitere  Arbeit  stellt  den  Bewußtseinsinhalt  des  5 jährigem 
fest.  So  führte  ich  Grethel  ein  in  unseren  Sprachschatz  und  heute  nach 
5  Monaten  kann  sie  sich  schon  sehr  gut  verständigen.  Am  Schlüsse 
dieser  Arbeit  füge  ich  den  Wortschatz  Grethels  an.  Was  Grethel  an 
Wörtern  gelernt  hat,  schreibt  sie  auch  und  seit  ein  paar  Wochen  ver- 
sucht sie  sich  auch  in  der  zeichnerischen  Darstellung  derselben. 

Mit  dem  Fortschritt  in  der  Sprachentwicklung  hielt  die  Besserung 
des  Gehörs  gleichen  Schritt.  Heute  hört  Grethel  wieder  das  Ticken 
der  Uhr  (auf  dem  rechten  Ohr  etwas  schwächer)  und  mit  mäßig  lauter 
Stimme  gesprochen  versteht  sie  jedes  Wort,  welches  auf  Verwandtes  im 
Bewußtsein  stößt. 

Sprach  Grethel  früher  nur  in  unvollkonmienen  Sätzen  nach  Art  der 
kleinen  Kinder  (Beispiele  folgen),  so  übt  sie  sich  jetzt  in  Sätzen  zu 
sprechen  und  zwar  ist   sie   stolz ,   wenn  sie   sich   gut  ausdrücken  kann. 

Früher  sagte  sie  z.  B. :  Hab  mein  Kaffee  trunkt ;  hab  mein  Vater 
mitbringt;  ich  hab  1  (hebt  dabei  einen  Finger  in  die  Höhe)  Karussell 
fahr,  langt  schon. 

Eine  Flexion  kannte  sie  nicht.  Alle  Wörter  hatten  den  Artikel: 
„die". 

Nun  will  ich  in  aller  Kürze  die  Behandlung  skizzieren,   welche  ich 


-     104     — 

dem  Kinde  angedeihen  ließ.  Die  Distriktsscliulinspektion  konstatierte  in 
einem  Ansclireibeii  vom  10.  April  1906,  daß  „die  Leistungen  der  Gret- 
chen  Wölfel  im  Lesen  und  Schreiben  sich  nicht  wesentlich  von  denen  ihrer 
Mitschülerinnen  unterschieden".  Die  Kgl.  Lokalschulinspektion  versagte 
mir  ein  Zeugnis,  mit  dem  Bemerken,  ,,daß  sie  in  die  Schulverhältnisse 
grundsätzlich  nicht  weiter  eingreife  als  es  Notwendigkeit  und  Pflicht 
erforderte". 

Ich  zeigte  dem  Kinde  die  eingangs  erwähnten  Bilder  dann,  wenn 
mir  die  Gregenstände  selbst  nicht  zur  Verfügung  standen.  Jedes  Wort 
wurde  deutlich  vorgesprochen,  das  Objekt  gezeigt,  dessen  Zweck  ent- 
weder erklärt  oder  vorgeführt  und  das  Wort  geschrieben.  Geschriebenes 
Wort,  gesprochenes  Wort  und  Objekt  selbst  bildeten  fortwährend  im 
Unterricht  den  Konzentrationspunkt  der  Psyche  des  Kindes.  Dabei 
wendete  ich  dieselbe  Methode  an,  die  Albert  Liebmann  in  der  Zeitschrift 
für  Päd.  Ps.  von  Kemsies  IV,  2  S.  104  beschreibt:  ,,Man  zeigt  z.B. 
dem  Kinde  die  Gegenstände  des  Zimmers  in  möglichst  lebendiger  Weise, 
um  das  Interesse  des  Kindes  zu  erregen.  Man  rückt  den  Tisch  von 
seinem  Platz.  Man  legt  den  Stuhl  auf  die  Erde,  entlockt  den  Gegen- 
ständen allerlei  Geräusche  nimmt  Bilder  und  Figuren  herunter,  zieht 
Vorhänge  auf  und  nieder,  läßt  die  Uhr  schlagen ,  läßt  den  Wasserhahn 
laufen".  Es  erinnert  diese  Methode  lebhaft  an  die  Berlitz-Schule.  Daß 
das  Kind  in  so  kurzer  Zeit  im  Lesen  und  Schreiben  solche  Fortschritte 
machte,  daß  es  seinen  Mitschülerinnen  gleichgestellt  werden  konnte, 
schreibe  ich  dem  Umstände  zu,  daß  das  Ohr,  das  Auge  und  die  Hand 
zu  gleicher  Zeit  in  Tätigkeit  versetzt  wurden. 

Etwas  anderes  war  es  nun  mit  dem  Rechenunterricht.  Voraus- 
schicken muß  ich  hier,  daß  ich  ein  Gegner  der  Rechenmethode  bin,  die 
sich  zunächst  an  die  Zahl  5  hält,  dann  an  das  Zehnersystem.  Nach 
meiner  Ansicht  gehören  Systeme  gereifteren  Menschen.  Darüber  ein 
ander  Mal. 

Wochenlang  ging  es  im  Rechnen  nicht  vorwärts.  Die  Eltern  und 
die  Lehrerin  (d.  h.  die  Klassenlehrerin)  hatten  die  Überzeugung,  daß  im 
Rechnen  mit  Grethel  nichts  anzufangen  sei.  Ich  war  anderer  Meinung 
und  ich  behielt  Recht.  Wie  mir  die  Lehrerin  mitteilt,  findet  sie  sich 
auch  hier  zurecht ,  allerdings  mit  Hilfe  von  Anschauungsmitteln  —  und 
diese  sind  —  ihre  Finger.  Grethel  rechnet  innerhalb  der  Zahlen  1—40 
verhältnismäßig  gut  d.  h.  Zuzählen,  Abziehen,  Vervielfachen.  Dividieren 
habe  ich  noch  nicht  versucht.  Mit  1,  2,  3,  4,  5  operiert  sie  rasch  und 
geläufig,  schwieriger  gestaltet  sich  das  Abwickeln  der  Rechenoperationen 
mit  den  Zahlen  6,  7,  8,  9. 

Es  liegt  nicht  im  Rahmen  dieses  Aufsatzes,  über  den  Rechenunter- 


—    105    — 

rieht  zu  berichten.  Ich  wandte  diese  Methode  —  Erweiterung  des  Zahl- 
begriffes von  1  zu  1  ungeachtet  der  fünf  und  zehn  bis  über  zwanzig 
—  bei  normalen  Kindern  wiederholt  an  und  hatte  sehr  gute  Resultate 
zu  verzeichnen. 

Nachdem  Grethel  jetzt  einen  Wortschatz  besitzt,  mit  dem  sich 
operieren  läßt,  kann  sie  auch  ganz  gut  weiter  geführt  werden.  Die 
nächste  Aufgabe  wird  jetzt  die  sein,  sie  über  den  logischen  Zusammen- 
hang der  Wörter  zu  orientieren,  damit  es  möglich  wird,  den  ge- 
wonnenen Wortschatz  durchzubilden,  damit  sie  ihn  sicher  anzuwenden 
versteht. 


M^itteilung^n  und  Diskussionen. 


Die  experimentelle  Pädagogik  in  Belgien. 

Von  T.  Jonckheere,  Brüssel. 

Es  ist  keineswegs  notwendig,  auf  die  hohe  Wichtigkeit  der  experi- 
mentellen Pädagogik  in  einer  Zeitschrift  hinzuweisen,  die  ausschließlich 
dieser  Wissenschaft  gewidmet  ist.  Die  Tatsache,  daß  die  Zeitschrift 
für  experimentelle  Pädagogik  nicht  allein  in  Deutschland,  sondern 
auch  in  andern  Ländern  eifrige  Leser  und  Leserinnen  gefunden  hat,  be- 
weist, daß  man  deutlich  einzusehen  beginnt,  daß  die  Pädagogik  auf  der 
genauen  Kenntnis  des  Kindes  beruhen  muß.  Es  ist  nur  erstaunlich, 
daß  eine  so  beträchtliche  Zeit  verflossen  ist,  bis  man  zu  einem  Resultat 
gelangt  ist ,  das  eine  elementare  Wahrheit  darstellt.  Nichts- 
destoweniger würde  man  sich  einer  seltsamen  Täuschung  hingeben,  wenn 
man  annehmen  wollte,  daß  die  Notwendigkeit  eines  wissenschaftlichen 
Studiums  des  Kindes  schon  heutzutage  von  der  Mehrheit  der  Er- 
zieher und  Schulautoritäten  zugestanden  werde. 

Ich  glaube,  mich  nicht  zu  täuschen,  wenn  ich  sage,  daß  diese  Situa- 
tion nicht  allein  in  Belgien  sich  findet,  sondern  daß  sie  alle  Länder 
charakterisiert.  Viele  glauben  noch  immer,  daß  allein  die  Praxis  des 
Unterrichts  den  Erzieher  bilden  und  ihm  die  gewollte  Erfahrung  ver- 
leihen könne.  Das  ist  ein  Irrtum.  Gewiß  kann  die  Erfahrung  eine  hohe 
Bedeutung  erlangen,  aber  sie  ist  wertlos,  wenn  sie  nicht  auf  die  Kenntnis 


—     106    — 

der  Psychologie  des  Kindes  gründet.  Diese  letztere  hat  in  der  Tat 
den  Zweck,  das  Wesen  des  Kindes  im  allgemeinen  und  einer  jeden  jungen 
Individualität  im  besonderen  genau  zu  bestimmen;  zunächst  um  auf 
diese  Weise  die  vielen  Vorurteile  zunichte  zu  machen,  die  unser  Gehirn 
noch  anfüllen,  in  Bezug  auf  all  das,  was  das  Problem  der  Erziehung 
betrifft;  dann  aber,  um  so  die  zahlreichen  „Versuche",  die  heute  noch 
die  Praxis  des  Unterrichts  begleiten,  auf  ein  Minimum  zurückzuführen, 
und  endlich,  um  genau  festzustellen,  welches  die  wahren  Prinzipien 
sind,  die  uns  leiten  müssen,  wenn  wir  mit  Erfolg  an  der  Entwicklung 
der  Intelligenz  und  des  Karakters  arbeiten  wollen. 

Belgien  hat  an  der  Bewegung,  welche  seit  einer  Reihe  von  Jahren 
auf  die  Erneuerung  der  Pädagogik  hinzielt,  lebhaften  Anteil  genommen. 

Der  Zweck  dieses  Berichtes  ist  der,  genau  festzustellen,  in  welcher 
Lage  sich  die  experimentelle  Pädagogik  in  diesem  Lande  zur  Zeit  be- 
findet. 

Ebenso  wie  die  meisten  Länder  besitzt  Belgien  Laboratorien  für 
experimentelle  Psychologie,  so  an  der  Universität  Brüssel,  an  der  Uni- 
versität Gent  und  an  der  Universität  Löwen.  Das  Laboratorium  in 
Brüssel  wird  von  Fräulein  Dr.  J.  loteyko  geleitet,  das  in  Gent  von 
Professor  J.  J.  Van  Biervliet  und  das  in  Löwen  von  Professor  A. 
Thiery. 

Im  Jahre  1900  hat  die  Stadt  Antwerpen  ein  Laboratorium  für  Pä- 
dologie  errichtet.  Die  ganze  Einrichtung  führt  den  Namen:  ;,Paedo- 
logische  Schooldienst  en  Paedologisch  Laboratorium".  Die  Arbeiten, 
die  im  Laboratorium  oder  unter  Mitwirkung  desselben  entstehen,  werden 
alljährlich  in  einem  Werk  veröffentlicht,  das  den  Titel  führt:  „Paedo- 
logisch Jaarboek"  und  seit  1900  erscheint^).  Dieses  Jahrbuch  wird  in 
niederländischer  Sprache  veröffentlicht,  aber  den  meisten  Abhandlungen 
folgt  eine  Zusammenfassung  in  französischer,  deutscher  oder  englischer 
Sprache. 

Dank  der  Tätigkeit  des  Direktors  dieses  Laboratoriums  in  Ant- 
werpen ist  im  Januar  1902  in  dieser  Stadt  eine  Gesellschaft  für  Pädo- 
logie  gegründet  worden:  die  „AUgemeen  paedologisch  Gezelschap",  und 
im  November  1903  ist  in  Gent  eine  Sektion  dieser  Gesellschaft  ent- 
standen. 

Im  Jahre  1903  hat  Herr  Schuyten  an  der  Schule  „des  Hautes 
Etudes"  eine  Reihe  von  Vorlesungen  über  Pädologie  gehalten. 

Inzwischen    (November    1901)    hatte  Herr  V.  JVlirguet ,    damals    Di- 


1)  Vgl.  den  Bericht  über  das  pädol.  Laboratorium    in  Antwerpen   in  Heft  1  Bd.  II 
und  den  über  seine  Untersuchungen  seit  seinem  Bestehen  in  Heft  3/4.    Bd.  IV. 


—    107    — 

rektor  des  Seminars  in  Hny.  eine  pädagogische  Zeitschrift  „L'Ecole  na- 
tionale" gegründet,  in  welcher  seit  5  Jahren  pädologische  Berichte  er- 
scheinen. Verschiedene  Probleme  sind  hier  in  Angriff  genommen  worden, 
so :  Das  Kind  und  der  Alkohol ;  das  Kind  nnd  der  Tabak :  das  mutmaß- 
liche Verhalten  des  Kindes  in  einem  bestimmten  Fall;  über  den  G-rad 
der  geistigen  Minderwertigkeit  der  Kinder,  welche  die  Voksschulen  be- 
suchen; über  Sprachstörungen. 

Durch  Anregungen  von  Professor  J.  Demoor  an  der  Universität 
Brüssel  (medecininspecteur  de  l'enseignement  special  ä  BruxeUes  et  secre- 
taire  general  de  la  Societe  protectrice  de  FEnfance  anormal)  wurde  da 
und  dort  ein  Schulmann  auf  die   experimentelle  Pädagogik   aufmerksam. 

Im  Jahre  19<J4  erschien  eine  bemerkenswerte  experimentelle  Arbeit 
über  geistig  zurückgebliebene  Kinder  von  Dr.  A.  Ley.  damals  Arzt  der 
Hilfsschule  in  Antwerpen,  zur  Zeit  Chefarzt  am  Sanatorium  für  geistes- 
kranke Frauen  in  Fort  Jaco  in  Uccle  bei  Brüssel.  Dieses  Buch  ist  be- 
titelt: „Larrieration  mentale".  (Beitrag  zum  Stadium  der  Pathologie 
des  Kindes). 

Seit  dieser  Zeit  widmet  sich  auch  Dr.  Decroly  solchen  experimen- 
tellen Nachforschungen  über  normale  und  anormale  Kinder. 

Eine  solche  Tätigkeit  —  wie  wir  sie  eben  überblickt  haben  — 
konnte  nicht  ohne  Wirkung  bleiben.  Im  September  des  Jahres  1905 
nahm  die  Stadtverwaltung  von  Brüssel,  die  2  vom  Staate  genehmigte 
Seminarien  besitzt,  das  eine  für  Lehrer ,  das  andere  für  Lehrerinnen, 
die  Pädologie  als  obligatorisches  Fach  in  den  Lehrplan  ihres 
Lehrerseminars  auf.  Der  Unterricht  hier  wird  vom  Verfasser  dieses 
Artikels  erteilt. 

Der  Erste,  welcher  dem  Direktor  des  Seminars,  Herrn  A.  Sluys, 
vorschlug,  den  neuen  Zweig  in  den  Lehrplan  dieser  Anstalt  aufzunehmen, 
war  Dr.  Demoor  ^).  Der  Direktor  unterstützte  diese  Bitte  lebhaft.  Hier 
soll  ein  Auszug  aus  dem  Brief  folgen,  den  Dr.  Demoor  an  Herrn  A. 
Sluys  richtete: 

Die  pädagogischen  Wissenschaften  haben  sich  im  Laufe  dieser  letzten 
10  Jahre  rasch  entwickelt.  Sie  haben  angefangen,  exakt  und  selbst  ex- 
perimentell zu  werden.  Dieser  Fortschritt  ist  der  Sorgfalt  zuzuschreiben, 
welche  darauf  verwendet  worden  ist,  alle  psychischen  und  anderen 
Fähigkeiten  des  Kindes  systematisch  zu  erforschen,  um  so  eine  neue 
Wissenschaft  zu  gründen:  die  Pädologie. 

Die  Untersuchung  des  Kindes  geschieht  nach  genau  definierten  Ge- 


1)  Dr.  Demoor  erteilt   am   Seminar   Unterricht  in   physiologischer  Psychologie  und 
in  Pädagogik  der  Schwachsinnigen. 


—    108    — 

setzen ;  das  Resultat  der  Untersuchung  bietet  für  denjenigen  großes 
Interesse,  welcher  in  Zukunft  die  Erziehung  zu  leiten  hat. 

Der  Lehrer  muß  also  mindestens  imstande  sein,  eine  solche  Unter- 
suchung genau  ausführen  zu  können,  damit  er  den  wahren  Karakter 
seiner  Schüler  erkennen  lernt. 

Ich  erwarte,  daß  eine  Stunde  in  der  Woche  im  4.  Kurs  hinreichen 
wird,  den  Zöglingen  eine  genügende  Einsicht  in  das,  was  Pädologie  ist, 
zu  erteilen,  und  auch  hinreichen  wird,  gleichzeitig  sie  praktisch  in  die 
Untersuchungen  einzuführen ,  die  dazu  dienen ,  die  Eigenschaften  eines 
Schülers  genau  zu  bestimmen.  Damit  ein  solcher  Unterricht  zu  einem 
Resultat  führen  kann,  wird  es  nötig  sein,  daß  die  Schule  ein  Labora- 
torium für  Pädologie  besitzt.  Dieses  Laboratorium  würde  dem  ent- 
sprechen, was  in  Antwerpen  die  Laboratorien  von  Herrn  Dr.  Schuyten 
und  Herrn  Dr.  Ley  darstellen.  Es  könnte  übrigens  gleichzeitig  dem 
Lehrerseminar  zum  Unterricht  in  der  Heilpädagogik  dienen. 

Es  ist  bekannt,  daß  im  Seminar  von  Emporia  in  Kansas  der  erste 
Unterricht  in  Pädologie  erteilt  worden  ist.  Am  Seminar  in  Lima  (Peru) 
ist  dieser  Zweig  in  den  Lehrplan  aufgenommen,  aber  es  wird  darin  aus 
Mangel  an  einer  geeigneten  Lehrkraft  nicht  unterrichtet.  In  Europa 
gebührt  Brüssel  die  Ehre,  den  neuen  Zweig  zuerst  in  den  Lehrplan  für 
Seminarien  aufgenommen  zu  haben. 

In  den  2  Seminarien,  im  Lehrerseminar  in  Charleroi  und  im  Lehrer- 
seminar in  Mons,  welche  die  Provinz  Hainout  (Belgien)  im  Oktober 
nächsten  Jahres  eröffnet,  wird  ebenfalls  Unterricht  über  Pädologie  ge- 
halten werden.  In  beiden  Anstalten  ist  er  Fräulein  Dr.  J.  Joteyko 
übertragen.  Das  Programm  dieser  beiden  Schulen  schreibt  in  Bezug 
auf  die  Errichtung  eines  Laboratoriums  für  Pädologie  folgendes  vor : 

„Lange  Zeit  war  die  Pädagogik  unserer  Seminarien  eine  "Wissen- 
schaft a  priori,  allgemein  und  unbestimmt,  ihr  Charakter  mehr  Formel. 
In  Folge  davon  fehlte  es  den  Unterrichtsmethoden  ,  welche  daraus  her- 
vorgingen, weil  sie  sich  auf  schlecht  definierte  Prinzipien  stützten,  an 
einer  wissenschaftlichen  Grundlage,  und  sie  bemühten  sich  vergebens, 
von  Routine  und  Tradition  los  zu  werden.  Es  wird  also  für  den  zu- 
künftigen Lehrer  zur  Notwendigkeit  werden,  sich  mit  der  experimen- 
tellen Pädagogik  vertraut  zu  machen,  die  eine  concrete  und  induktive 
Wissenschaft  ist,  eine  Wissenschaft,  die  durch  Beobachtung  und  strenges 
Experiment  die  physiologischen  und  psychologischen  Phänomene  der 
Kindheit  studiert  und  unter  Beihülfe  der  Soziologie  sich  verbindlich 
macht ,  daraus  diejenigen  Unterrichtsmethoden  herzuleiten .  die  logisch 
richtig  sind ,  und  sich  am  besten  zur  Pflege  des  Körpers ,  des  Greistes 
und  des  Karakters  des  Kindes  eignen. 


—    109    — 

In  Folge  davon  wird  jedem  neu  zu  errichtenden  Seminar  ein  Labo- 
ratorium für  Pädologie  angegliedert,  wo  die  Zöglinge  sich  direkt  und 
praktisch  im  Gebrauch  dieser  Methoden  üben.  Sie  sollen  hier  die  Kunst 
erwerben,  sowohl  die  Schüler  nach  ihrer  physischen  Konstitution,  ihren 
intellektuellen  Fähigkeiten  und  ihren  moralischen  Fehlem  und  Eigen- 
heiten zu  analysieren  und  individuell  zu  studieren,  als  auch  die  ge- 
machten Beobachtungen  logisch  zu  interpretieren.  Sie  werden  dann 
viel  eher  geneigt  sein ,  jeden  Schüler  nach  den  Bedürfnissen  seiner  In- 
dividualität zu  behandeln,  anstatt  sich  darauf  zu  beschränken,  das  un- 
persönliche Niveau  ihres  Unterrichts  auf  die  verschiedenartigsten  Na- 
turen auszudehnen.  Um  die  Erziehung  eines  Kindes  mit  Erfolg  zu 
leiten,  ist  es  unumgänglich  notwendig ,  daß  man  es  genau  kennt ,  und 
wenn  man  zu  diesem  Ziel  gelangen  will,  muß  man  in  den  Stand  gesetzt 
werden,  es  nach  aUen  seinen  physischen,  intellektuellen  und  moralischen 
Betätigungen  zu  studieren". 

Der  Fortschritt  der  Ideen  auf  dem  Gebiet  der  experimentellen 
Pädagogik  geschieht  übrigens  mit  einer  solchen  Intensität,  und  man  be- 
ginnt so  sehr  sich  von  der  Notwendigkeit  zu  überzeugen ,  daß  neues 
Licht  in  das  ungeheure  Ganze  der  zerstreuten  Elemente  dringen  muß, 
aus  denen  Jahrhunderte  hindurch  unsere  empirischen  Erziehungssysteme 
entstanden  sind,  daß  die  Pädologie  sobald  als  möglich  und  mit  dem- 
selben Recht  in  den  Lehrplan  unserer  Seminarien  aufgenommen  werden 
muß  wie  die  Psychologie  und  die  Pädagogik. 

Auf  dem  „Zweiten  Kongreß  für  Neurologie  und  Psychiatrie",  welcher 
in  Brüssel  Ende  August  vorigen  Jahres  abgehalten  worden  ist.  hat  man 
sich  beklagt,  daß  die  Arbeiten  über  Pädologie  und  Psychiatrie  so  wenig 
bekannt  seien.  Es  wurde  verlangt,  daß  die  Arzte  in  Zukunft  ein 
größeres  Interesse  für  die  psychologischen  Untersuchungen  des  Kindes 
zeigen.  Auch  wurde  hervorgehoben,  daß  es  wünschenswert  wäre,  wenn 
alle  diejenigen,  die  zu  unterrichten  haben,  genaue  Kenntnis  über  den 
jeweiligen  Stand  der  Kinderpsychologie  bekommen  könnten.  Daher  hat 
der  Kongreß  die  Wünsche  ausgesprochen:  1)  daß  die  Pädologie  in  den 
Lehrplan  der  Lehrerseminarien  aufgenommen  werde,  ^)  2)  daß  die  Lehrer 
durch  Veröffentlichung  von  Broschüren  Kenntnis  von  den  wichtigsten 
Arbeiten  über  Künderpsychologie  bekommen  sollten. 

Dieser  zweifache  Wunsch,  dessen  Wichtigkeit  vor  Augen  liegt,  soll 


1)  Schon  auf  dem  „Ersten  internationalen  Kongreß  für  Erziehung  und  Schutz  der 
Kindheit  in  der  Familie"  (Lüttich,  September  05)  wurde  eine  ähnliche  Resolution  gefaßt, 
dahingehend,  daß  die  Seminar-Zöglinge  in  den  Seminarien  zur  Beobachtung  des  Kindes 
angeleitet  werden  sollten. 


—    110    — 

an  den  Herrn  Minister  des  Innern  und  des  öffentlichen  Unterrichts  ge- 
sandt werden. 

Ein  Kongreßmitglied  hat  weiterhin  die  Abhaltung  von  Ferienvor- 
lesungen über  Psychologie  und  Pädologie  für  Lehrer  vorgeschlagen.  Es 
ist  nicht  ohne  Interesse  hervorzuheben,  daß  die  „Societe  protectrice  de 
l'Enfance  anormale"  schon  seit  mehreren  Monaten  über  die  Organisation 
ähnlicher  Vorlesungen  beratschlagt.  Die  Sache  liegt  nicht  sehr  einfacli, 
denn  es  müssen  zahlreiche  Faktoren  in  Betracht  gezogen  und  vor  allem 
einige  praktische  Fragen  gelöst  werden.  Auch  ist  nützlich,  die  Erfah- 
rungen kennen  zu  lernen ,  welche  benachbarte  Völker  gemacht  haben. 
Im  letzten  Februar  hat  die  „Soci^te"  die  Mitteilung  erhalten,  daß  zu 
Ostern  in  Gießen  unter  der  Leitung  von  Professor  Sonmier  eine  Ferien- 
vorlesung: Kurs  der  medizinischen  Psychologie  mit  Bezug  auf  Behand- 
lung und  Erziehung  der  Schwachsinnigen"  (2 — 7.  April  1906)  abgehalten 
werde.  La  Societe  beschloß  sofort,  den  Herrn  Minister  des  Innern  und 
des  Unterrichts  und  den  Herrn  Minister  der  Landwirtschaft  zu  bitten, 
Herrn  T.  Jonckheere  und  Herrn  Dr.  Decroly  als  Delegierte  zu  dieser 
Vorlesung  zu  senden.  Die  Tatsache ,  daß  die  beiden  Herrn  Minister 
dieser  Bitte  bereitwillig  entgegengekommen  sind,  bezeugt  ihr  hohes  In- 
teresse ,  das  sie  diesem  Werk  der  Erziehung  entgegenbringen.  Und 
gerade  die  Untersuchung  schwachsinniger  Kinder  bietet  ein  ausgedehntes 
Arbeitsfeld  für  die  experimentelle  Pädagogik. 

Um  diesen  kurzen  Bericht  zu  beendigen ,  ist  es  vielleicht  nicht  un- 
nötig, einige  Einzelheiten  aus  der  Organisation  dieses  Unterrichts  in 
Pädologie  am  Lehrerseminar  in  Brüssel  aus  dem  Jahr  1905 — 1906  zu 
geben. 

Die  Vorlesung  ist  als  obligatorisches  Fach  in  den  Lehrplan  des 
vierten  Jahrganges  aufgenommen  und  nimmt  wöchentlich  eine  Stunde  in 
Anspruch.  Sie  hat  theoretischen  und  praktischen  Karakter  zugleich; 
denn  es  ist  an  der  Schule  ein  Laboratorium  für  Pädologie  gegründet 
worden. 

Dieses  Laboratorium,  zu  dessen  Errichtung  die  Stadtverwaltung  von 
Brüssel  einen  ersten  Beitrag  von  500  fr.  (400  M)  geleistet  hat ,  besitzt 
folgende  Apparate : 

1.  Kymographion  (Registrier-Apparat)  und  Stativstab  mit  Mikro- 

meterschraube. 

2.  Mar ey sehe  Schreibkapsel  mit  Feinstellung  gegen  die  Trommel. 

3.  Mareysches   Ventil. 

4.  Zeitmarke  mit  V*  Sekunden-Kontakt. 

5.  Markiermagnet  mit  Elektromagnet. 


-   111   — 

6.  Pneumograph  nach  Lehmann. 

7.  Cardiograph  nach  Marey. 

8.  Sphygmograph  volumetrique  nach  Franpois  Franck. 

9.  DyDamometer  elliptique  nach  Collin. 

10.  Algesimeter  nach  Cheron. 

11.  Aesthesiometer  nach  Manouvriez. 

12.  Brückenwage. 

13.  Apparat  znm  Messen  der  Körpergröße. 

Hierzu  kommen  noch  folgende  weitere,  neuerdings  angeschaffte 
Apparate : 

1.  Apparat    zur  dreidimensionalen   Analyse   von  Bewegungen    an 

den  Händen,  nach  Sommer. 

2.  Baraesthesiometer  nach  Eulenburg. 

3.  Chromatophotoptometer  nach  Chibret. 

4.  Chromatoskop  nach  Ribeiro  Santos. 

5.  Sehproben  nach  Snellen. 

6.  Doppel-Olfaktometer  nach  Zwaardemaker. 
7)  Akkumulator  mit  2  Zellen. 

Das  Laboratorium  wird  dann  alle  Apparate,  die  zu  einer  theore- 
tischen und  praktischen  Vorlesung  über  Pädologie  unbedingt  notwendig 
sind,  enthalten. 

Der  theoretische  Teil  soll  folgende  Abschnitte  enthalten  :  Greschichte 
der  Pädologie  —  Ziel  der  Pädologie  —  Methode  —  Physische  Erfor- 
schung des  Kindes  —  Erforschung  der  Sinnesorgane  —  Psychische  Er- 
forschung des  Kindes. 

Im  praktischen  Teil  muß  notwendig  jeder  theoretische  Satz  beson- 
ders demonstriert  werden.  Diese  Demonstration  erstreckt  sich  womög- 
lich auf  ein  normales  Kind,  ein  anormales  und  zugleich  auf  eine  er- 
wachsene Person ,  (einen  Schüler  des  4.  Jahrganges  z.  B.).  In  diesem 
praktischen  Teil  soll  auch  in  Zukunft ,  wenn  die  Zeit  es  erlaubt ,  vom 
Lehrer  und  den  Zöglingen  eine  einfache  Untersuchung  ganz  durchge- 
führt werden. 

Die  Schüler  besitzen  kein  Lehrbuch,  aus  dem  einfachen  Grrund,  weil 
ein  solches  bis  jetzt  noch  nicht  veröff'entlicht  worden  ist.  Es  bleibt  dem 
Vortragenden  vorbehalten,  auf  die  Spezialwerke,  die  bis  jetzt  erschienen 
sind,  und  ganz  besonders  auf  die  einschlägigen  Zeitschriften  hinzuweisen. 

Dieser  Bericht  zeigt  deutlich,  daß  der  Fortschritt  der  experimen- 
tellen Pädagogik  nicht  aufgehalten  wird,  trotz  der  Gleichgültigkeit  der- 
jenigen ,  die  an  den  langsamen  aber  nützlichen  Bemühungen  der  Arbei- 
tenden kein  Literesse  haben,   daß   er  nicht   aufgehalten   wird   trotz  des 


—     112    — 

spöttisclien  Lächelns  von  Seiten  derer ,  welche  die  langen  und  Greduld 
erfordernden  Arbeiten  lächerlich  zu  machen  suchen,  die  oft  die  geringste 
pädologische  Untersuchung  nach  sich  zieht.  Die  Entwicklung  der  päda- 
gogischen Ideen  geschieht  fast  unmerklich  unter  dem  Einfluß  von  Ar- 
beiten, die  sich  jedes  Jahr  mehren ,  und  die  schließlich  ein  Ganzes  von 
wissenschaftlich  bewiesenen  Tatsachen  darstellen  werden,  das  man  weder 
ignorieren  noch  läugnen  kann.  Dank  dieser  Tätigkeit,  die  sich  in  allen 
Ländern  zeigt,  und  die  unweigerlich  unter  den  jungen  Lehrern,  welche 
eine  Vorlesung  über  Pädologie  gehört  haben,  zahlreiche  Mitarbeiter  finden 
wird,  kann  man  mit  Gewißheit  voraussagen,  daß  die  Zeit  nicht  mehr 
fern  ist,  wo  das  Werk  der  Erziehung  eine  wesentlich  exakte  Grundlage 
hat,  und  wo  alle  pädagogischen  Probleme ,  trotz  ihrer  Mannigfaltigkeit 
nach  der  allein  richtigen  Methode  behandelt  werden,  nämlich  nach  der 
experimentellen. 


Ein  „Institut  für  angewandte  Psychologie  und  psychologische 
Sammelforschung''. 

Durch  das  tatkräftige  Vorgehen  der  Herren  Dr.  W.  Stern  und  Dr. 
O.  Lipmann  ist  in  Wilmersdorf  bei  Berlin  (Aschaffenburgerstraße  27) 
ein  „Institut  für  angewandte  Psychologie  und  psychologische  Sammel- 
forschung" ins  Leben  gerufen  worden,  dessen  Arbeiten  in  vieler  Be- 
ziehung eine  wertvolle  Ergänzung  zu  unseren  Bestrebungen  auf  dem 
Gebiete  der  experimentellen  Pädagogik  bilden  werden. 

Die  Aufgaben,  die  sich  das  Institut  gestellt  hat,  sind  durch  seine 
Satzungen  von  den  Begründern  in  ausführlicher  Weise  formuliert  worden. 

Schon  auf  dem  letzten  Kongreß  für  experimentelle  Psychologie  in 
Würzburg  gab  Herr  Dr.  Stern  die  ersten  Anregungen,  die  dann  zu  einer 
vorläufigen  Ausarbeitung  von  Statuten  und  erstem  Arbeitsprogramm  des 
Instituts  führten.  Diese  wurden  dann  aufs  Neue  von  den  Begründern 
nach  gemeinschaftlicher  Durchberatung  mit  Herrn  Prof.  G.  E,  Müller  in 
Göttingen  und  Prof.  E.  Meumann  in  Münster  i.  Westf.  während  des 
Kongresses  für  Kinderforschung  und  Jugendfürsorge  im  Oktober  1906 
in  Berlin  aufgestellt.  Der  Zweck  dieser  Zusammenkunft  in  Berlin  war 
namentlich  der,  eine  Einigung  der  Institutsbestrebungen  mit  den  Ar- 
beiten der  Gesellschaft  für  experimentelle  Psychologie  herbeizuführen 
und  dem  Vorstand  dieser  Gesellschaft  ein  Aufsichtsrecht  und  aktive  An- 
teilnahme   an    den  Arbeiten    des  Instituts    einzuräumen.     Dieser  Zweck 


—    113    — 

wurde  auch  erreicht  und  es  ist  zu  hoffen,  daß  damit  die  Ausbreitung 
der  psychologischen  Sammelforschung  in  ein  neues  Stadium  gerückt 
worden  ist. 

Über  die  Aufgaben  des  Instituts  möchten  wir  unsre  Leser  zunächst 
orientieren  durch  den  Abdruck  des  ersten  Entwurfs  der  Satzungen^): 

Der  Vorstand  der  „Gesellschaft  für  experimentelle  Psychologie"  hat 
beschlossen,  ein  „Institut  für  angewandte  Psychologie  und  psychologische  Sanunelfor- 
schung"  ins  Leben  zu  rufen,  welches  am  1.  Oktober  1906  eröffnet  wird. 

Das  Institut  hat  nicht  den  Charakter  eines  psychologischen  Laboratoriums,  tritt 
also  nicht  in  Konkurrenz  zu  den  bestehenden  psychologischen  Instituten ;  es  soll  vielmehr 
als  Zentralstelle  für  die  Organisation  gemeinschaftlicher  Untersu- 
chungen und  für  die  Anlage  psycho  logis  eher  Sammlungen  dienen.  Es 
will  nicht  nur  die  Fachpsychologen  unter  einander,  sondern  auch  diese  mit  den  Ver- 
tretern der  mannigfachen  Anwendungsgebiete  zu  systematischer  Arbeitsgemeinschaft  ver- 
binden. 

Das  Institut  wird  geleitet  durch  einen  von  der  Gesellschaft  für  experimentelle  Psy- 
chologie eingesetzten  Ausschuß,  dem  z.  Z.  Prof.  G.  E.  Müller  (Gröttingen),  Prof.  Meu- 
mann  (Münster),  Prof.  Sommer  (Gießen),  Privatdozent  Dr.  Stern  (Breslau),  Dr.  Otto 
Lipmann  (Berlin)  angehören.  Dr.  Stern  ist  Leiter,  Dr.  Lipmann  Sekretär;  ihnen  üegt 
die  eigentliche  Verwaltung  des  Instituts  ob. 

I.    Aufgaben  des  Instituts. 

Neben  der  stillen  Forscher-  und  Laboratoriums  -  Arbeit  der  reinen  Psychologie,  für 
welche  die  Analyse  der  Bewußtseinserscheinungen  und  die  Feststellung  psychischer  Ge- 
setzmäßigkeiten Selbstzweck  ist,  beginnt  sich  seit  einigen  Jahren  eine  Forschungsweise 
von  sehr  abweichender  Tendenz  und  Methode  geltend  zu  machen. 

Die  Absicht  geht  auf  Gewinnung  solcher  psychologischer  Ergebnisse ,  die  auf 
andere  Gebiete  des  Lebens  und  des  Wissens  Anwendung  gestatten :  auf  die  der  Er- 
ziehung und  des  Unterrichts,  der  Rechtspflege ,  der  Psychiatrie  und  Psychopathologie 
einerseits,  andererseits  auf  eine  Reihe  theoretischer  Disziplinen,  wie  Sprachwissenschaft, 
Erkenntnistheorie,  Ethik,  Ästhetik  usw. 

Dem  Verfahren  nach  muß  die  angewandte  Psychologie  in  ganz  anderem  Maße 
als  die  reine  Psychologie  sammelnd  vorgehen.  Da  sie  die  Fülle  der  seelischen  Diffe- 
renzierungen, Entwicklungsformen  und  ümweltbedingungen  berücksichtigen  muß,  bedarf 
sie  zu  ihren  Schlüssen  eines  umfangreichen  Massenmaterials.  Femer  darf  sie  nicht,  wie 
die  reine  Psychologie,  das  Studium  der  künstlich  vereinfachten  elementaren  Bewußtseins- 
erscheinungen bevorzugen,  sondern  sie  muß,  durch  Einbeziehung  der  komplexen  Seelen- 
phänomene und  Fähigkeiten,  eine  größere  Lebensnähe  ihrer  Ergebnisse  erstreben. 

Bei  der  Durchführung  dieser  Forderungen  erhoben  sich  aber  Schwierigkeiten,  welche 
den  Erfolg  dieses  so   aussichtsreichen  Forschungsgebietes    teilweise   ernsthaft   bedrohten. 

Die  erste  Schwierigkeit  bestand  darin,  das  Postulat  der  größeren  Lebensnähe  mit 
demjenigen  Grade  wissenschaftlicher  Exaktheit  zu  verbinden,  der  eine  einwandfreie  V  e  r- 


1)  Die  Beratungen  des  Vorstandes  der  Gesellschaft  für  experimentelle  Psychologie 
über  das  Verhältnis  dieser  Gesellschaft  an  dem  Institut   sind  noch   nicht   abgeschlossen. 
Meumann,  Exper.  Pädagogik.    V.  Band.  8 


-     114    — 

■Wertung  der  Ergebnisse  rechtfertigt.  Hier  wird  z.  T.  erst  eine,  den  besonderen  Auf- 
gaben angepaßte,  Methodik  ausgearbeitet  werden  müssen. 

Sodann  aber  führt  das  Verlangen,  Massenmaterial  zu  schaffen,  leicht  zu  einem  rein 
extensiven  Betrieb,  der  sich  auf  Kosten  der  Intensität  mit  der  schnellen  Anhäufung  und 
der  Verrechnung  recht  großer  Materialmengen  begnügt;  (hierher  gehören  nicht  wenige 
der  im  Auslande  sehr  verbreiteten  Fragebogen-Erhebungen).  Verzichtet  aber  der  Forscher 
—  wie  meist  in  der  deutschen  Wissenschaft  —  auf  so  fragwürdigen  Untersuchungsstoff, 
dann  vermag  er  als  Einzelner  eben  nur  an  einer  kleinen  Zahl  von  Versuchs-  oder  Beob- 
achtungs-Personen fragmentarische  Arbeit  zu  leisten. 

Diese  Mißstände  haben  in  den  letzten  Jahren  schon  mehrfach  dazu  geführt,  daß 
die  Forderung  einer  Organisation  psychologischer  Arbeitsgemeinschaft  erhoben  wurde. 
Für  Einzelprobleme  ist  sie  auch  bereits  hier  und  da  verwirklicht  worden,  und  einige 
Laboratorien  haben  sich  auch  schon  die  Pflege  eines  besonderen  Anwendungsgebietes 
(namentlich  der  experimentellen  Pädagogik)  zur  Aufgabe  gemacht.  Aber  alle  diese  Unter- 
nehmungen sind,  so  dankenswert  sie  sein  mögen,  von  der  privaten  Initiative  des  einzelnen 
Forschers  abhängig;  die  bedauerliche  Zersplitterung  der  Kräfte  ist  nicht  beseitigt;  die 
Forderung  des  einwandfrei  gewonnenen  und  verarbeiteten  Massenmaterials  harrt  noch 
immer  der  Erfüllung. 

So  ergibt  sich  die  Notwendigkeit  einer  dauernden  Organisation,  welche  für 
die  Probleme  der  angewandten  Psychologie  die  Arbeitsgemeinschaft  der  Interessenten 
herbei-  und  durchzuführen  und  das  Verfahren  der  Sammelforschung  methodisch  auszu- 
bauen hätte. 

Ein  Bedenken  sei  schon  im  voraus  beseitigt.  Bei  der  Heterogenität  der  verschie- 
denen oben  aufgezählten  Anwendungsgebiete  kann  es  zweifelhaft  erscheinen,  ob  ihre  ge- 
meinsame Unterstellung  unter  eine  Zentrale  zweckmäßig,  und  ob  nicht  Sonderinstitute 
für  pädagogische  Psychologie,  für  forensiche  Psychologie  u.  s.  w.  empfehlenswerter  wären. 
Demgegenüber  muß  hervorgehoben  werden,  daß  die  angewandte  Psychologie  in  vielen  Be- 
ziehungen eine  wirkliche  Forschungseinheit  darstellt.  Gemeinsam  sind  den 
mannigfachen  Anwendungsgebieten  zunächst  gewisse  methodologische  Besonderheiten, 
die  eine  Zentralisation  der  Bearbeitung  wünschenswert  machen :  die  Forderungen  des 
Massenmaterials,  des  sammelnden  und  statistischen  Verfahrens,  der  größeren  Lebensnähe, 
der  höheren  Komplexion  der  zu  untersuchenden  Phänomene.  Sodann  aber  haben  sie 
auch  sachlich  so  viele  Probleme  gemeinsam,  daß  ihre  Trennung  unzweckmäßig  wäre; 
ja,  es  gibt  Fragen,  bei  deren  Untersuchung  man  noch  gamicht  übersehen  kann,  nach 
wievielen  Richtungen  sich  die  Anwendbarkeit  der  Ergebnisse  erstrecken  wird.  So  sind 
Ermüdungsmessungen,  Intelligenzprüfungen,  Gedächtnisforschungen  für  den  Pädagogen 
ebenso  wichtig  wie  für  den  Psychiater.  Die  Aussage  ist  nicht  nur  ein  Problem  der  foren- 
sischen, sondern  auch  der  pädagogischen  und  pathologischen  Psychologie,  sogar  auch  der 
Geschichtswissenschaft.  Vor  allem  aber  ist  es  das  weite  Gebiet  der  seelischen  Entwick- 
lung (Psychogenesis),  auf  dem  sich  die  Kindespsychologen  und  Pädagogen  mit  Vertretern 
der  Kulturwissenschaften :  Historikern,  Linguisten,  Kunstwissenschaftlern  u.  s.  w.  treffen. 
Hier  bestehen  also  Aufgaben,  die  nur  ein  die  ganze  angewandt«  Psychologie  umfassendes 
Institut  zu  lösen  vermag. 

II.    Betrieb  des  Instituts. 
Den  Aufgaben  des  Instituts  (dessen  Tätigkeit  durch  private  Mittel  für  längere  Zeit 
sichergestellt  ist)  dienen  folgende  Einrichtungen: 


—     115    — 

1 .     Kommissionen. 
Für  jedes  zu   bearbeitende  Spezialthema  wird  vom  Ausscbuß   eine  Kommission   ge- 
bildet,  die  ihrerseits   wieder  Hilfskräfte   zur  Durchführung    ihrer  Untersuchungen  heran- 
zieht.    Auch  Xichtmitglieder  der  Gesellschaft  können  einer  Kommission  angehören 
oder  als  Hilfskräfte  fungieren. 

Die  Kommissionen  beraten  und  beschließen  über: 

a)  die  zu  wählende  Methode, 

b)  Umfang,  Zeit,  Orte,  Material  der  Untersuchung, 

c)  die  heranzuziehenden  Hilfskräfte, 

d)  die  Art  der  statistischen  Verarbeitung, 

e)  die  Art  und  Herausgabe  der  Publikation. 

2.    Sammelarchiv  und  Bibliothek. 

Das  Sammelarchiv  ist  bestimmt : 

a)  für  die  vom  Institut  selbst  zu  veranstaltenden  Sammlungen,  die  sich  auf  be- 
stimmte psychische  Äußerungen  und  Leistungen  beziehen. 

b)  als  Depot  von  psychologischen  Gelegenheits-  und  Rohmaterialien  {Tabellen,  Proto- 
kollen, kasuistischen  Beobachtungen  u.  s.  w.),  welche  der  einzelne  Forscher  nicht  zu  ver- 
werten gedenkt  oder  schon  verwertet  hat,  und  nun  zu  weiterer  Benutzung  zur  Verfü- 
gung stellt. 

c)  Dem  Sammelarchiv  soll  eine  Bibliothek  angegliedert  werden,  welche  die  sehr 
zersplitterte  Literatur  zur  angewandten  Psychologie  in  ihren  Haupterscheinungen  umfaßt. 

Die  Materialien  des  Sammelarchivs  und  der  Bibliothek  können  gegen  eine  Gebühr 
im  Institut  benutzt  und  z.  T.  auch  nach  auswärts  entliehen  werden. 

3.    Übernahme  fremder  Materialien. 

Das  Institut  übernimmt  in  gewissen  (vom  Ausschuß  zu  genehmigenden)  FäUen,  gegen 
eine  Gebühr  die  rechnerische  Verarbeitung  übersandter  Protokolle  und  überläßt  die  Re- 
sultate dieser  Verarbeitung  dem  Autor  zur  Verwertung, 

Das  Institut  befindet  sich  in   Berlin- Wilmersdorf,   Aschaffenburgerstr.  27  ((dicht  am 
Pragerplatz),  Gartenhaus  4  Treppen. 

Als  reguläre  Arbeitszeit  gelten  wochentäglich  die  Stunden  von  9 — 2  Uhr. 
Außerdem  findet  Sonnabend  Nachmittag  von  6 — 7  Uhr  Sprechstunde  des  Sekretärs  statt 

Organ  des  Instituts  ist  die  vom  Jahre  1907  ab  erscheinende  „Zeitschrift  für  an- 
gewandte Psychologie  und  psychologische  Sammelforschung",  herausgegeben  von  WiUijun 
Stern  und  Otto  Lipmann. 

Für  den  Arbeitsplan  der  ersten  Zeit  sind,  vorbehaltlich  der  Genehmigung  durch 
den  Gesamtausschuß,  folgende  Themen  in  Aussicht  genommen : 

1.  Entwicklung  des  Sprechens  und  Denkens  in  den  ersten  Lebensjahren  des  Kindes 
(nebst  Berücksichtigung  völkerpsychologischer  Parallelen). 

2.  Die  Aussagciu  ihrer 

a)  foroüsischen, 

b)  pädagogischen  Bedeutung. 

3.  InteUigenzprüfung. 

4.  Eigenart  und  Entwicklting  der  hypemormalen  Begabungen. 

5.  Anschauungstypen. 

8* 


—    116    — 

Sammlungen  sollen  zunächst  angelegt  werden  über: 

1.  Kinderzeichnungen  und  andere  kindliche  Kunstbetätigungen, 

2.  kindliche  Sprachentwicklungen,   Sprachschätze  und  besondere  Sprachphänomene, 

3.  hypernormale  Begabungen. 

Inzwischen  sind  die  Institutsleiter  nicht  müssig  gewesen.  Zu  meh- 
reren der  in  dem  Arbeitsprogramme  entworfenen  Aufgaben  wurden  aus- 
führlichere Programme  versandt,  nachdem  schon  in  der  erwähnten  Sitzung 
in  Berlin  die  ersten  Arbeitskommissionen  festgesetzt  worden  waren. 

Da  diese  ausführlichen  Arbeitsprogramme  zum  Teil  sehr  lehrreich 
sind,  werden  wir  von  Zeit  zu  Zeit  das  eine  oder  andere  besprechen, 
wenn  die  Leiter  des  Instituts  sie  durch  Veröffentlichung  in  ihrem  eigenen 
Organ  bekannt  gemacht  haben. 


Literaturberichte. 


Neue  pädagogische  und  kinderpsychologische  Literatur. 

Pädagogisches  Jahrbuch,  Rundschau  auf  dem  Gebiete  des  Volksschulwesens 
1905.  Unter  Mitwirkung  namhafter  Schulmänner.  Herausg.  v.  Otto  Schmidt  und  Her- 
mann Rosin.     2  Tle  in  1  Bd.     3.  Jahrgang.     Berlin,   Gerdes    u.  Hödel  1906.     Mk.  5.20. 

Jahrbuch  der  pädagogischen  Literatur  für  Lehrer,  Erzieher  und  päda- 
gogische Schriftsteller  IL  Bd.  Das  Jahr  1902.  Herausg.  v.  Max  Hohnerlein.  Horb  1906. 
P.  Christian  Mk.  4.50. 

Fr.  Kir stein,  Dr.  med.  Mitwirkung  des  Lehrers  bei  Bekämpfung  übertragbarer 
Krankheiten.    Berlin,  J.  Springer  1907.     Mk.  1.20. 

W.  F.  Türmer,  Die  Veranschaulichung  im  Schulbetrieb  der  Gegenwart.  Pädag. 
Zeitfragen.     11.  Heft.     München  1907.     Höfling.     Mk.  —.60. 

A.  Wahrheit.  Die  Bedeutung  der  Phantasie  im  Lichte  der  Jugendschutzbe- 
strebungen.    Ein  Beitrag  zur  Frage  der  Sexualpädagogik.    Dieselbe  Sammlung.    12.  Heft. 

F.  G  r  ü  b  e  r ,  Pinselspiele,  Unterhaltung  mit  Pinsel  u.  Farbe  im  Dienste  der  Kunst- 
erziehung 1.  Tl.  2.  Heft.    W-Jena  1906.     Thüringer  Verlagsanstalt.     Mk.  1.— 

H.  Jantzen,  Die  Mädchenschulreform.  Vortrag.  Königsberg  i.  Pr.  Graefe  und 
Unzer  1906.    Mk.  —.80. 

Leo  Diet,  Über  die  Kongruenz  und  das  Kongruenzgefühl  und  über  graphische 
Darstellbarkeit  körperlicher  Objekte.     Wien  1907  A.  SchroU  u.  Co.     M.  1.20. 

H.  Langhans,  Methodik  des  ersten  Schreib-  und  Leseunterrichts.  Hannover 
1907.     C.  Meyer.     M.  1.25. 

H.  Loebner,  Die  Grundzüge  des  Unterrichts-  und  Erziehungswesens  in  den  Ver- 
einigten Staaten  von  Nordamerika.     Wien  1907.     F.  Deuticke.     M.  5. — 


—    117    — 

Paul  Förster,  Anti-Roethe!  Eine  Streitschrift.  An  die  Freunde  des  huma- 
nistischen Gymnasiums.     Leipzig  1907,  Teutonia- Verlag. 

K.  Leuterich,  Elementarer  Lehrgang  f.  d.  modernen  Zeichenunterricht.  2.  verm. 
Aufl.     Stuttgart  1907.     K.  Wittwer.     M.  2.50. 

K.  Markert,  Die  Freude  und  Kraft  des  Kindes  und  der  erste  Leseunterricht. 
M.  0.80  Markert  und  Schander,  Mein  erstes  Lesebuch.    Xümberg  1907.    F.  Korn. 

A.  Pabst,  Die  Knabenhandarbeit  in  der  heutigen  Erziehung.  Leipzig  1907.  B. 
G.  Teubner. 

Schauen  und  Schaffen,  Zeitschr.  des  Vereins  deutscher  Zeichenlehrer  herausg. 
V.  H.  Grothmann.    Halbjährl.  Nr.  4.     Stade.     A.  Packwitz. 

Gust.  Broesicke,  Anatomie,  Physiologie  und  Hygiene  des  menschl.  Körpers. 
Gemeinverständlich  dargestellt  für  den  Schulgebrauch.    Leipzig  1906-    F.  C.  W.  Vogel.  M.  3. 

Fr.  Dreyer,  Deutsche  Kulturgeschichte.  Als  Grundlage  f.  d.  Unterricht  in  der 
deutschen  Geschichte.    Langensalza  1906.     Schulbuchhandlung.     M.  4. 

Fr.  Friedrichs,  Das  Schulzeichnen  und  seine  Verwertung.  Flensburg  1906. 
Heuwald.    Mk.  —.60. 

A.  Geyer,  Der  moderne  Zeichenunterricht.  2.  Aufl.  Langensalza  1906.  Schul- 
buchhandlung.   M.  — .50. 

Fr.  Kuhlmann,  . Bausteine  zu  neuen  Wegen  des  Zeichenunterrichts.  H.  Das 
Gedächtniszeichnen.     Dresden  1906.     A.  MüUer-Fröbelhaus.     M.  1. — . 

H.  Lukas  und  H.  ültmann.  Elementares  Zeichnen  nach  modernen  Grundsätzen. 
Derselbe  Verlag.    M.  3. — 

J.  Moses,  Die  hygienische  Ausgestaltung  der  Hülfsschule.  Leipzig.  Engelmann 
1906.     M.  1.— 

H.  Tewes,  Völkertypen.  (Japaner,  Beduinen,  die  Menschenrassen.  Tafeln  und 
Erltrgn.)     Leipzig  1906.     F.  E.  Wachsmut. 

Wege  zur  Kunst,  Vorträge  zur  künstlerischen  Erziehung  der  Jugend  von  S. 
Both  und  V.  Roth.    Hermannstadt  1906.     W.  Krafft. 

M.  Kunz  (Direktor  der  Blindenanstalt  lUzach-Mülhausen  i.  E.)  Rückblick,  ümblick, 
Ausblick.  Vortrag,  geh.  am  11.  Blindenlehrerkongreß  in  Halle  a.  d.  Saale.  2—6.  Aug. 
1904.    Halle  a.  S.  Buchdruckerei  des  Waisenhauses  1905.    S.  A.  aus  dem  Kongreßbericht. 

Der  vorliegende  Vortrag  giebt  einen  ausgezeichnet  orientierenden  Überblick  über 
die  Entwicklung  und  den  gegenwärtigen  Stand  des  Blindenanstaltswesens  in-  und  außer- 
halb Deutschlands.  Er  sei  allen,  die  sich  für  die  Blindenerziehung  interessieren  lebhaft 
empfohlen. 

Lehrmittel-Verlag  der  Blindenanstalt  Illzach-Mülhausen  1903. 
Direktor  Kunz  hat  einen  ausgedehnten  Lehrmittelverlag  mit  seiner  Blindenanstalt  in 
Illzach-Mülhausen  verbunden,  über  dessen  hauptsächlich  für  Blinde  bestimmte  Lehrmittel 
dieser  Katalog  ausführlich  berichtet.  Besonders  sei  noch  hingewiesen  auf  pädagogische 
Abhandlungen,  die  in  dem  gleichen  Verlage  erscheinen.  Von  diesen  seien  erwähnt :  Das 
Modell  in  Dienste  des  geographischen  Unterrichts.  Das  Bild  in  der  Blindenschule.  Der 
geographische  Unterricht  in  der  Blindenschule.  Ist  es  ratsam,  Blinde  zu  Sprachlehrern 
auszubüden  ?  Büder  und  Zeichnungen  in  der  Blindenschule.  Zur  Geschichte  der  Blinden- 
fürsorge und  Blindenbüdung.  Zur  Blindenpsychologie  („Das  Sinnenvikariat").  Verglei- 
chende Messungen  der  Sinnesschärfe  Blinder  und  Sehender.  Sämtlich  von  M.  Kunz  (die 
zuletztgenannte  Schrift  stützt  sich  auf  Versuche  von  Griesbach). 

Fr.  Nietzsches  Werke,  Taschenausgabe,  Bd.  I  und  H.  Leipzig,  C.  G.  Nau- 
manns Verlag.    1906. 


—    118    — 

Die  Verlagsbuchhandlung  von  C.  G.  Naumann  in  Leipzig  veranstaltet  seit  kurzem 
eine  Taschenausgabe  der  Hauptwerke  Nietzsches,  die  in  sehr  handlichem  Format  mit 
tortrefflicher  Ausstattung  in  Druck  und  Papier  erscheint  und  bis  Ende  März  d.  J.  fertig 
vorliegen  soll.     Für  den  Inhalt  dieser  Ausgabe  ist  in  Aussicht  genommen: 

Band  I.  Homer -Rede.  Geburt  d.  Tragödie.  Der  griech.  Staat.  Das  griech.  Weib. 
Musik  u,  Wort.  Homers  Wettkampf.  Zukunft  unserer  Bildungsanst.  Das  Verhältnis 
der  Schopenh.  Philos.  zu  einer  deutsch.  Cultur.  Philosophie  im  tragischen  Zeitalter  der 
Griechen.  Über  Wahrheit  u.  Lüge.  (1869/73).  —  ü.  Unzeitgemäße  Betrachtungen  inkl. 
Wir  Philologen.  —  IH.  Menschliches  Allzumenschliches.  Aus  d.  Nachlaß  (1876/77).  — 
IV,  Vermischte  Meinungen  und  Sprüche.  Wanderer  und  sein  Schatten.  Aus  dem  Nachlaß 
(1877/79).  —  V.  Morgenröthe.  Aus  d.  Nachlaß  (1880/81).  VL  Die  ewige  Wiederkunft. 
Fröhliche  Wissenschaft.  Lieder  des  Prinzen  Vogelfrei.  Aus  dem  Nachlaß :  Gedichte 
(1871/86).  —  VH.  Also  sprach  Zarathustra.  Aus  d.  Nachlaß  (1882/85).  —  VHL  Jen- 
seits V.  Gut  u.  Böse.  Genealogie  d.  Moral.  Aus  d.  Nachlaß  (1883/86).  —  IX.  Wille 
zur  Macht  (1882/88).  —  X.  Wille  zur  Macht  (Fortsetzung).  Fall  Wagner.  Nietzsche 
contra  Wagner.  Götzen-Dämmerung.  Antichrist.  Dionysosdithyramben  (1882/8).  Preis 
pro  Band  brosch.  M.  4. — ;  geb.  M.  4.80. 

In  dem  Vorwort  zum  ersten  Bande  erfahren  wir,  daß  die  vorliegende  Ausgabe  vor 
allem  Wert  legt  auf  Anordnung  und  Aufeinanderfolge  von  N.'s  Schriften.  In  der  großen 
Gesamtausgabe  seiner  Werke  wurden  nämlich  2  Abteilungen  gemacht,  indem  die  acht 
Bände  der  ersten  Abteilung  die  von  N.  selbst  veröffentlichten  Schriften  enthalten,  wäh- 
rend die  zweite  Abteilung  den  Nachlaß  umfaßt.  Dadurch  wurde  natürlich  die  zeitliche 
Folge  der  Abfassung  der  Werke  aufgehoben.  Diese  ist  nun  in  vorliegender  Ausgabe 
hergestellt  und  sie  erhält  dadurch  einen  eigenen  Wert,  indem  sie  leichter  als  die  an- 
deren Ausgaben  über  die  ganze  Entwickelung  N.'s  orientiert.  Dem  ersten  Bande  hat 
die  unermüdliche  Schwester  N.'s,  die  bekannte  Verfasserin  seiner  dreibändigen  Biographie 
einen  gedrängten  Lebensabriß  ihres  Bruders  und  einen  Überblick  über  seine  innere  Ent- 
wicklung beigegegeben.  Auch  dadurch  erhält  diese^  Taschenausgabe  den  Wert,  eines  der 
besten  Hilfsmittel  zur  Einführung  in  das  Studium  der  Persönlichkeit  und  des  Schaffens 
N.'s  zu  sein.  Dem  zweiten  Bande  ist  ebenfalls  eine  Einleitung  beigegeben,  in  der  Frau 
Elisabeth  Förster  -  Nietzsche  mit  Anknüpfung  an  den  Inhalt  des  ersten  Bandes  über 
die  Probleme  orientiert,  die  N.  in  den  Schriften  der  beiden  ersten  Bände  beschäftigten. 
Über  Inhalt  und  Bedeutung  der  übrigen  Bände  werden  wir  nach  dem  Erscheinen  der 
ganzen  Ausgabe  noch  besonders  berichten. 


Neue  Zeitschriften. 


1.  Philosophische  Wochenschrift.  Unter  Mitwirkung  hervorragender 
Fachgelehrter.  Herausgegeben  von  Prof.  Jerusalem,  Wien,  Prof.  Linkel ,  Gießen,  Dr. 
Renner,  CLarlottenburg.  Bd,  1906  u.  7.  Verlag  v.  H.  Rohde,  Leipzig.  Preis  viertel- 
jährlich 3  Mk. 

Es  ist  ein  erfreuliches  Zeichen  für  die  Ausbreitung  des  Interesses  für  Philosophie 
in  weitere  Kreise  der  Gebildeten,  daß  die  Herausgeber  und.  der  Verlag  eine  philosophische 
„Wochenschrift"  begründen  konnten,  die  durch  ihr  häufiges  Erscheinen,  und  durch  den 
ausgezeichneten  Kreis  ihrer  Mitarbeiter  eines  der  besten  Orientierungsmittel  über  den 
Wandel  der  philosophischen  Stimmungen  und  über  die  philosophische  Arbeit  unsrer  Zeit 


—     119    — 

werden  dürfte.  In  den  bisher  erschienenen  Heften  —  die  jedes  ungefähr  drei  Bogen 
umfassen  —  sind  Abhandlungen  über  alle  unsre  Zeit  bewegenden  philosophischen  Fragen 
einschließlich  der  Probleme  der  Grenzwissenschaften,  der  Philosophie  (Rechtsphilosophie, 
Religionsphilosophie,  Sozialwissenschaften  u.  a.  m.)  erschienen.  In  regelmäßigen  Beigaben 
von  Referaten  wird  der  Leser  über  die  neueste  philosophische  Literatur  orientiert.  Die 
„Mitteilungen"  enthalten  Berichte  über  Institute,  Kongresse ,  Yereinstätigkeit.  Perso- 
nalien u.  s.  f.  Bücheranzeigen  geben  die  neusten  philosophischen  Erscheinungen  an.  Eine 
„Zeitschriftenschau"  giebt  Überblicke  über  philosophische  und  verwandte  Zeitschriften. 
Von  den  bisherigen  Mitarbeitern  nennen  wir,  außer  den  Herausgebern:  0.  Braun,  F. 
Clement,  J.  Dammüller,  W.  Geißler,  R.  Honigs wald,  Horst-Kramer,  A.  Kohut,  G.  Opitz, 
Rohland,  L.  Roth,  Th.  Schwartze,  F.  Staudinger,  Th.  Sternberg. 

2)  The  Journal  of  Abnormal  Psychologie,  Editor  Morton  Prince  M.  D. 
Associated  Editors:  Münsterberg,  James  J.  Putnam,  August  Hoch,  Boris  Sidis,  Charles 
L.  Dana,  Adolf  Meyer.  Vol.  1.  Heft  1.  April  1906.  Boston,  Mass.  The  Old  Corner 
bookstore,  Inc. 

Diese  neue  amerikanische  Zeitschrift  wird  in  erster  Linie  Abhandlungen  aus  dem 
Gebiete  der  klinischen  und  Laboratoriums  -  Untersuchungen  über  abnorme  geistige  Er- 
scheinungen bringen.  Die  erste  Nummer  enthält  einen  Artikel  von  Pierre  Janet:  The 
pathogenesis  of  some  impulsions;]  eine  Studie  von  Bechterew:  What  is  Hypnosis?  und 
Untersuchungen  von  Putnam:  Recent  experiences  in  the  study  and  treatment  of  hysteria 
at  the  Massachussets  General  Hospital;  with  remarks  on  Freud's  Method  of  treatment 
by  „Psycho- Analysis".  Morton  Prince  behandelt:  The  psychology  of  sudden  religious 
conversion.  Über  die  einzelnen  Abhandlungen  werden  wir  besondere  Besprechungen 
bringen,  soweit  sie  für  unser  Arbeitsgebiet  Interesse  haben. 

3)  Zeitschrift  für  allgemeine  Ästhetik  und  Kunstwissenschaft, 
herausg.  von  Max  Dessoir.     1.  Bd.     1.  Heft.     Stuttgart,  Ferdinand  Enke,  1906. 

Die  ersten  Hefte  dieser  Zeitschrift  enthalten  Abhandlungen  von  Lipps,  K.  Lange, 
H.  Riemann,  G.  Simmel,  H.  Spitzer  und  Th.  Poppe,  J.  Segel,  K.  Groos,  Spitzer,  Vol- 
bebr  und  anderen  namhaften  Ästhetikern  der  Gregenwart  und  Besprechungen  neuerer 
ästhetischer  Literatur. 

4)  Manhem,  Schwedische  Zeitschrift  für  Erziehung  und  Unter- 
richt, herausg.  von  Frans  v.  Scheele.    Stockhohn,  Wahlström  und  Widstrand,  1906. 

Von  dieser  neuen  pädagogischen  Zeitschrift  liegen  bis  jetzt  vier  Hefte  vor,  die 
zeigen,  daß  in  Schweden  die  neuen  Methoden  pädagogischer  Forschung  sich  Boden  er- 
obern. Der  Name  des  Herausgebers  Frans  v.  Scheele  ist  in  pädagogischen  Kreisen  wohl- 
bekannt, seine  redaktionelle  Tätigkeit  bürgt  für  einen  gediegenen  Inhalt  der  Zeitschrift. 


Handarbeit. 

Papst  Dr.  A.  Seminardirektor,  die  Knabenhandarbeit  in  der  heutigen  Er- 
ziehung (Aus  Xatur  und  Geisteswelt)  Leipzig.     B.  G.  Teubner  1907. 

Die  Bedeutung  der  Handarbeit  und  die  vielseitigen  Erfahrungen  seines  Verfassers 
mögen  die  eingehende  Besprechung  des  wertvollen  Büchleins  in  der  experimentellen 
Pädagogik  rechtfertigen.  Denn  die  Handarbeit  bleibt  die  ursprüngliche  Form  aller  Experi- 
mente, jeder  Prüfung  von  Ursachen  und  Wirkungen  unserer  Tätigkeit 


—    120    — 

Zur  Begründung  des  Handarbeitsunterrichtes  aus  der  Kulturgeschichte  wird 
erstlich  gezeigt,  wie  die  Werkzeuge  ursprünglich  zur  Verstärkung  der  Tätigkeiten  dienten, 
welche  die  Hand  ausübt.  Der  Stein  mit  einem  Holzstiele,  die  Urform  des  Hammers  und 
der  Axt,  ist  eine  Nachbildung  des  Vorderarmes  mit  der  geballten  Faust.  Der  Zahnreihe 
an  Säge  und  Feile  dienten  die  Schneidezähne  als  Vorbild.  Dann  bot  die  Natur  nebst  den 
Rohstoffen  auch  zur  technischen  Arbeit  dienliche  Formen,  als  Dornen,  Zähne  und  Knochen- 
stücke von  Tieren,  Feuersteine.  Durch  die  Benutzung  des  Feuers  wurde  das  Härten, 
Aushöhlen,  Zuspitzen  und  Glätten  solcher  Stoffe  ermöglicht.  Die  Vervollkommnung  der 
Werkzeuge  führte  durch  die  Vervielfältigung  der  Verrichtungen  auch  zur  weiteren  Aus- 
bildung der  Handfertigkeiten.  Denn  das  verbesserte  Werkzeug  verlangt  eine  sorgfältigere 
Behandlung  und  gestattet  zugleich  eine  vielseitigere  Verwendung.  Durch  den  Gebrauch 
des  Werkzeuges  wurde  nicht  nur  die  Hand  geübt,  sondern  auch  der  Tastsinn  geschärft. 
Die  Hand,  von  der  unmittelbaren  Berührung  mit  dem  harten  Stoffe  befreit,  konnte  mit 
verminderter  Anstrengung  allmählich  ihre  Beweglichkeit  und  Geschmeidigkeit  steigern,  ihre 
Tastempfindungen  verfeinern.  Der  Feinmechaniker  kann  seine  Hand  zu  einem  so  feinen 
Werkzeug  entwickeln,  daß  sie  bei  Prüfung  und  Einpassung  der  Mikroskopröhre  Diffe- 
renzen empfindet  und  ausgleicht,  die  mit  technischen  Maßen  nicht  mehr  faßbar  sind. 
Anderseits  fordert  die  Vervollkommnung  der  Maschinen  wieder  bessere  Ausbildung  der 
Arbeiter,  welche  diese  bedienen.  Solche  darf  nicht  nur  die  Organfertigkeiten  steigern, 
sie  muß  auch  das  Sachverständnis  erweitern  und  das  Taktgefühl  verfeinern. 

Die  Besprechung  der  physio-psychologischen  Grundlagen  der  Handarbeit, 
macht  darauf  aufmerksam,  daß  die  Koordination  der  Bewegungen  der  feineren  Muskel- 
gruppen länger  eingeübt  werden  muß  als  die  einfacheren  Verrichtungen  der  größeren 
Glieder,  weil  zu  jener  auch  die  Hemmung  der  unzweckmäßigen  Mitbewegungen  zu  erlernen 
ist.  Für  die  technische  Erziehung  hat  besonders  die  feinere  Anpassung  der  Muskelbe- 
wegungen und  des  Augenmaßes  an  die  Zwecke  und  Regeln  der  wechselnden  Verrichtungen 
bleibenden  Wert,  weil  solche  auch  die  Nervenzentren  der  Erinnerung  und  Einbildung  be- 
tätigt, aus  denen  gegliederte  Vorstellungen  und  geregelte- Verrichtungen  hervorgehen. 
„Nicht  die  Axt  und  das  Brecheisen,  sondern  der  leichte  Hammer,  die  Säge,  der  Hobel, 
Meißel,  Messer  und  Schere  sind  die  Werkzeuge,  die  in  der  Handarbeitsschule  zur  Ver- 
wendung kommen  sollen." 

Die  frühzeitige  Entwicklung  der  Tastempfindungen  und  -bewegungen  beim  Kinde 
weist  darauf  hin,  daß  Handfertigkeiten  in  früher  Jugend  am  leichtesten  erworben  werden, 
(Vom  8. — 16.  Altersjahr).  Die  Hand-  wie  die  Zeichen-  und  Sprechübungen  schließen  sich 
am  besten  an  Spiel  und  Kampf  des  Kindes  mit  einfachen  Dingen  und  gegen  äußere  Wider- 
stände an.  Sie  gehen,  wie  die  frühesten  Zeichenversuche,  von  schematischen  Grundformen 
und  elementaren  Verrichtungen  aus.  Anfänglich  muß  die  Handführung  sich  den  Wirkungen 
des  Werkzeuges  anpassen.  Das  Kind  muß  Schere  und  Messer  führen  lernen,  daß  die 
Schnitte  genau  den  vorgezeichneten  Richtungen  und  Bogen  folgen.  Der  Knabe  muß  Säge, 
Hobel  und  Feile  so  halten  und  führen  lernen,  daß  die  Schnitte  und  Flächen  eben  werden. 
Je  sicherer  Augenmaß  und  Handführung  die  vorgezeichneten  Formen  herstellen,  die  vor- 
geschrieben Zwecke  erreichen,  umso  mehr  verketten  sich  die  Vorstellungen  der  Mittel  und 
Zwecke.  Dann  erscheint  das  Werk  der  Hand  nach  und  nach  als  Werk  des  eignen  Vor- 
stellens,  als  Äußerung  des  steten  Willens  und  des  persönlichen  Taktgefühles.  Dadurch 
gewinnen  Erzeugnisse  der  Handarbeit,  gleich  Zeichen  und  Worten,  Bedeutung  für  den 
Austausch  der  Vorstellungen  und  Gefühle. 

Handfertigkeit,  Zeichen-  und  Sprachbildung.  Abgesehen  von  dem  Zu- 
sammenhang zwischen  der  Rechtshändigkeit  und  Sprachentwicklung,  der  von  der  Forschung 


—    121    — 

doch  noch  nicht  vollständig  aufgehellt  ist,  suchen  wir  die  Förderung,  welche  Handfertigkeit 
und  Sprachbildung  einander  wechselseitig  bieten,  vielmehr  in  dem  Gewinn  an  geistigem 
Leben.  Die  Handfertigkeit  soll  nämlich  zu  sachlich  begründeten  und  zweckmäßig  ge- 
gliederten Vorstellungen  führen,  zu  einem  den  tatsächlichen  Zuständen  und  Vorgängen 
angemessenen  Ausdruck  in  Worten  und  Zeichen,  in  Satzbau  und  Darstellung  befähigen, 
richtige  und  genaue  Wertung  der  Erzeugnisse  in  ihrer  Herstellung  sichern.  Durch  die 
angemessene  Verbindung  von  Hand-,  Zeichen-  und  Sprechübung  soll  der  Schüler,  der 
Lehrling  sich  von  seinen  individuellen,  mechanischen  Gewöhnungen  erheben  zum  Ver- 
ständnis allgemein  gebräuchlicher  Formen  der  Auffassung  und  Darstellung,  in  welchen  der 
Zusammenhang  der  Erscheinungen,  Ursachen  und  Wirkungen  der  Vorgänge 
zur  Geltung  kommen.  Im  angemessenen  Wechsel  mit  dem  anschaulichen  und  sprachlichen 
Austausch  der  Vorstellungen  sichert  Handfertigkeit  der  Einbildung  die  Mittel  und 
Wege  zur  zweckmäßigen  Verwirklichung  ihrer  Absichten,  befestigt 
sie  den  klaren  Überblick  über  den  Bau  der  Gegenstände,  sowie  die 
Einsicht  in  die  Wirkungen  der  Kräfte. 

Das  Verständnis  für  den  Zusammenhang  der  Erscheinungen,  für  Ursachen  und 
Wirkungen  der  Vorgänge  setzt  Verkettung  sachlicher  Vorstellungen  aus  der  Handarbeit 
mit  formalen  Vorstellungen  aus  der  Zeichen-  und  Sprachübung  voraus  und  solche  tritt 
erst  ein,  wenn  durch  elementare  Organübungen  des  Augenmaßes  und  der  Handführung 
bei  der  Handarbeit  und  dem  Zeichnen  einerseits,  des  Sprachgehöres  und  der  Wortfügung 
anderseits  die  Wechselwirkung  zwischen  Wahrnehmungen  und  Bewegungen,  spontanen 
Erinnerungen  und  Einbildungen  soweit  geregelt  ist,  daß  sie  weder  durch  äußere 
Störungen  noch  durch  innere  Hemmungen  von  der  zweckmäßigen  Reihenfolge  der  Be- 
obachtungen und  Bewegungen  abgelenkt  wird.  Erst  wenn  der  Schüler  vorgezeichnete 
Richtungen  und  Bogen  mit  dem  Zeichenstift,  dem  Messer,  der  Schere  oder  Säge  einiger- 
maßen sicher  einhält,  kann  man  ihn  mit  Worten  anweisen,  vorgeschriebene  Umrisse  nach- 
zuzeichnen, auszuschneiden  oder  auszusägen.  Wenn  der  Lehrling  imstande  ist  ebene  Flächen 
glatt  abzuhobeln  oder  zu  feilen,  runde  Flächen  genau  abzudrehen,  kann  man  ihm  be- 
fehlen Körper  von  vorgezeichneter  Gestalt  und  Größe  herzustellen.  Wenn  der  Schüler 
gelernt  hat  seine  Anschauungen  planmäßig  aufzuzeichnen,  über  seine  Verrichtungen  sich 
in  treffenden  Worten  klar  und  bündig  auszusprechen,  wird  er  seine  Tätigkeiten  in 
weiterem  Zusammenhang  zweckmäßig  regeln  und  seine  Ansichten  im  Verkehre  zur  Geltung 
bringen  können.  Aber  anfänglich  müssen  Werk-  Zeichen-  und  Sprechübung  gesondert 
nebeneinander  hergehen,  damit  der  Schüler  seine  ganze  Aufmerksamkeit  auf  die  Ein- 
stellung der  Sinne  und  das  Wirken  der  Muskeln,  sowie  auf  die  genaue  Anpassung  der 
Bewegungen  an  die  Beobachtungen  richten  und  dadurch  die  Wechselwirkung  zwischen 
den  sensorischen  und  den  motorischen  Zentren  des  Sehens  und  Tastens,  des  Hörens 
und  Sprechens,  den  Erinnerungen  und  Einbildungen  ungestört  sich  anbahnen  kann. 

Arbeitsgemeinschaft.  Gleich  jeder  folgerichtigen  Betätigung  der  Organe,  des 
Verstandes  und  der  Gefühle  zu  bestimmten  Zwecken  trägt  auch  die  Handarbeit  zur 
Festigung  des  Charakters  bei;  namentlich  dadurch,  daß  sie  den  Menschen  an  sachliche 
Prüfung  der  Erlebnisse  gewöhnt  und  zur  Dienstbereitschaft  befähigt.  Überhaupt  bereitet 
die  Handarbeit  den  sachlichen  Boden  der  Arbeitsgemeinschaft,  auf  welchem  die  verschie- 
denen individuellen  Anschauungen  und  Bestrebungen  sich  zusammenfinden  und  ver- 
ständigen können.  So  stehen  Lehrer  und  Schüler  bei  den  Übungen  der  Handarbeit  ohne 
Vermittlung  einer  Überlieferung  den  Stoffen  und  den  durch  diese  wirkenden  Kräften 
gegenüber.  Denn  die  Führung  der  Werkzeuge  und  die  Gestalt  der  Werkstücke  ist  zu- 
nächst nur  von  räumlich-stofflichen  Bedingungen  und  technischen  Zwecken  abhängig.    Auf 


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die  Gemeinschaft  der  durch  die  sachlichen  Verhältnisse  gestellten  Aufgaben  gründet  sich 
die  Arbeitsgemeinschaft  des  Lehrers  mit  den  Schülern,  welche  in  der  Arbeitsgemeinschaft 
der  Leitenden  und  der  Ausführenden  im  Berufsleben  ihre  natürliche  Ergänzung  findet. 
Nicht  überliefertes  Wissen,  wie  beim  geschichtlichen  Unterricht,  hat  der  Lehrer  der 
Handarbeit  und  des  Zeichnens  fortzupflanzen,  sondern  die  Beobachtungen  und  Bewegungen, 
die  spontanen  Erinnerungen  und  Einbildungen  der  Schüler  soll  er  durch  stufenweise  ge- 
steigerte Aufgaben  so  lenken,  daß  diese  ihre  Vostellungen  sachgemäß  gliedern  und  ver- 
knüpfen, ihre  Verrichtungen  zweckmäßig  regeln  lernen. 

Praktische  und  pädagogische  Ziele.  Ohne  Zweifel  arbeiten  methodisch 
geordnete  Werkübungen,  wie  Papp-  und  Holzarbeiten,  Modellieren  und  Metallarbeiten  der 
Werkstattlehre  gründlicher  vor  als  der  einseitige  Sprach-  und  Zeichenunterricht,  der  sich 
mit  Worten  und  oberflächlichen  Anschauungen  begnügt. 

Aber  auf  tatsächliche  Erfahrungen  im  Sinne  der  experimentellen  Pädagogik 
kann  sich  die  Berufswahl  erst  dann  stützen,  wenn  sich  aus  den  Leistungen  und  der  Vor- 
stellungsweise erkennen  läßt,  ob  ein  junger  Mensch  mehr  der  verständig  berechnenden 
Bautätigkeit  des  Mechanikers  zuneige  oder  der  anschaulichen  Auflas sungs weise  der  Aus- 
stattungsgewerbe. In  diesen  beiden  Richtungen  beruflicher  Tätigkeit  geben  sich  auch 
die  Bestrebungen  zur  Förderung  des  Arbeitsunterrichtes  kund.  „Die  eine,  die  von  der 
Notwendigkeit  bestimmt  wird  dem  Gewerbe  und  der  Technik  geeignete  Kräfte  zuzuführen, 
kann  man  die  praktische  nennen.  Die  andre  wurzelt  in  der  Erkenntnis,  daß  die 
Entwicklung  des  kindlichen  Geistes  nur  durch  Selbsttätigkeit  und  Bearbeitung  der  ihm 
zugänglichen  Bildungselemente  möglich  ist,  zunächst  also  durch  technische  Arbeit".  In 
weiterem  Sinne  durch  Begründung  des  methodischen  Sachverständnisses  und 
des  kunstsinnigen  Taktgefühles  auf  die  elementaren  Organfertig- 
keiten des  Augenmaßes  und  der  Handführung,  des  Sprachgehöres  und 
der  W^ortfügung. 

Diese  pädagogische  Richtung  hat  die  Kunsterziehung  des  Menschen  zum 
Ziele,  jene  praktische  strebt  mehr  nach  Ausbildung  aller  physischen  und  geistigen  Kräfte 
im  Dienste  der  Weltwirtschaft  und  des  Weltverkehres. 

Nationale  Ziele.  Der  schwedische  Slöjd  verfolgt  vornehmlich  erziehliche 
Zwecke.  „Das  Kind  soll  lernen  selbst  zu  beobachten  und  aus  eigenem  Antrieb  tätig  zu 
sein,  nicht  erwarten,  daß  ihm  alles  und  jedes  erklärt  wird.  Der  Lehrer  soll  ihm  nichts 
zeigen,  was  es  durch  den  Gebrauch  seiner  eigenen  Kräfte  auffinden  kann,  er  soll  nicht 
über  den  Gebrauch  der  Werkzeuge  reden,  sondern  er  soll  sie  gebrauchen.  Der  Schüler 
soll  beobachten,  wie  der  Lehrer  sie  gebraucht;  er  soll  dazu  die  Haltung  des  Körpers  be- 
obachten und  das  Maß  von  Kraft  abschätzen,  das  zur  Ausführung  einer  bestimmten  Be- 
wegung notwendig  ist." 

Der  französische  Handarbeitsunterricht  soll  nicht  nur  die  Formauflfassung  durch 
das  Augenmaß  und  zweckmäßige  Handführung  lehren,  sondern  auch  das  Formverständnis 
anbahnen  durch  die  Verbindung  mit  dem  messenden  Zeichnen  und  Rechnen.  Auch  in 
den  englischen  Volksschulen  soll  die  Handarbeit  nebst  der  Entwicklung  des  Be- 
obachtungsvermögens der  Ausbildung  von  Raum-  und  Zahlbegriffen  dienen,  „auf  Grund 
der  Selbstbetätigung  und  im  Zusammenhange  mit  dem  Sachunterricht." 

Das  Bildungsideal  der  europäischen  Völker  ist  erwachsen  aus  den  sprachlichen 
Überlieferungen  des  Altertums,  das  der  Amerikaner  dagegen  aus  dem  technischen 
Schaflfen  der  Neuzeit.  Unsere  Gewerbeschulen  betrachten  die  Werkstattlehre  als  Vor- 
bedingung für  einen  mit  Namen  bezeichneten  Beruf,  dessen  technische  Fertigkeiten  durch 
den  Inhalt  dieses  Begriffes   umschrieben  sind.     Der  Maurer  muß  lernen,   wie  man  Stein- 


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blocke  zu  Wänden  aufeinanderschichtet,  der  Zimmermann,  wie  man  Balken  zu  festen 
Gebinden  zusammenfügt,  der  Schreiner,  wie  man  Wände  mit  Holz  vertäfert,  Gestelle  und 
Kasten  aus  Rahmwerk  baut,  der  Spengler,  wie  man  aus  Blechtafeln  Gefäße  bildet  usw. 
Die  technische  Mittelschule  (Manual  Training  High  School)  in  Amerika  lehrt  dagegen  die 
Werkstattarbeit  nur  als  ein  „Element  der  allgemeinen  Bildung  auffassen  und  pflegen". 
Dem  Amerikaner  erscheint  „diejenige  Bildung  als  die  beste  für  einen  jungen  Menschen, 
die  ihm  den  Eintritt  in  die  verschiedenen  Lebensverhältnisse  und  Berufsarten  ermöglicht, 
ohne  ihn  von  vornherein  für  eine  bestimmte  Richtung  festzulegen". 

Diese  Wertschätzung  der  technischen  Fertigkeiten  für  die  Zwecke  der  Geistesbildung 
wird  unterstützt  durch  die  Ergebnisse  der  psychologischen  Forschung.  Ein  Hauptvertreter 
dieser  pädagogischen  Auffassungsweise,  John  Dewey,  baut  sein  Erziehungssystem  auf 
dem  Tätigkeitstriebe  des  Kindes  auf.  Vier  Triebe  hat  die  Schule  zu  entwickeln:  sich 
mitzuteilen,  zu  forschen,  zu  schaffen  und  sich  künstlerisch  zu  betätigen.  „Die  technischen 
Arbeiten  in  Holz  und  Metall,  das  Weben,  Nähen  und  Kochen  müssen  so  in  den  Er- 
ziehungsplan aufgenommen  werden,  als  seien  sie  Lebenszweck  und  nicht  nur  Lehr- 
fächer". Das  gilt  aber  auch  schon  von  den  elementaren  Organfertigkeiten.  Denn  man 
vergesse  nicht,  daß  der  Lebenszweck  des  Kindes  zunächst  von  den  momentanen  Anre- 
gungen abhängt,  die  es  in  seine  Erinnerungen  aufnehmen,  durch  seine  Einbildungen  sich 
aneignen  und  deren  Wirkungen  das  Kind  nach  seinen  Neigungen  in  Handbewegungen  oder 
AVorten  zum  Ausdruck  bringen  soll.  Daß  bei  den  Organübungen  des  Augenmaßes  und 
der  Handführung  deren  Anwendung  zu  berücksichtigen  sei,  gibt  auch  der  schwedische 
Slöjd  zu,  indem  er  sich  an  Gebrauchsgegenstände  hält.  Doch  nicht  minder  als  technische 
Arbeit  ist  die  Sprache  Lebenszweck.  Diese  ist  für  die  Entwicklung  des  geistigen  Ver- 
kehres so  unentbehrlich  als  die  technische  Arbeit  für  den  Fortschritt  der  Kultur.  Darum 
gilt  es,  technische  und  sprachliche  Erziehung  der  Jugend  in  einer  der  Fassungskraft  und 
dem  Arbeitstakt  des  Einzelnen  angemessenen  Weise  zu  paren. 

Auf  der  Unterrichtsausstellung  in  St.  Louis  trat  der  Einfluß  des  von  den  Vereinigten 
Staaten  gegebenen  Beispieles  einer  starken  Betonung  des  technischen  Unterrichtes  sehr 
hervor.  Das  gilt  vor  allem  auch  von  Japan,  dessen  Ausstellung  durch  Reichhaltigkeit, 
vorzügliche  Ajiordnung  und  methodische  Durchbildung  die  Aufmerksamkeit  auf  sich 
lenkte.  Es  zeigte  sich,  daß  die  Japaner  namentlich  in  der  Metalltechnik  Modellformen 
und  Arbeitsverfahren  anwenden,  die  den  deutschen  fast  vollständig  gleichen,  ohne  daß 
ein  geschichtlicher  Zusammenhang  zwischen  beiden  Systemen  erkenntlich  wäre.  Diese 
Ähnlichkeit  bestätigt,  daß  jede  echte  Technik  materialgerecht  sein  muß. 

Kunsterziehung.  In  der  Tat  bedingen  gleiche  Natur  des  Stofi'es,  gleicher 
Körperbau  und  die  gleichartige  Entwicklung  der  Vorstellungen  auch  bei  allen  Völkern 
übereinstimmendes  Sachverständis  und  technisches  Verfahren.  Doch  äußere  Reize  be- 
stinunen  nicht  allein  die  Taktgefühle,  welche  das  Geistesleben  regeln,  sondern  vornehmlich 
individuelle  innere  Triebe.  Solche  Triebe  verursachen  den  Wechsel  der  physischen  und 
psychischen  Zustände,  welcher  sich  durch  die  Taktgefühle  kund  gibt,  vermittelst  dieser 
Richtung,  Dauer  und  Stärke  der  Blick-  und  Tastbewegungen  bestimmt  und  jede  Art  der 
Kunstübung  regelt.  In  dieser  Kunstübung  offenbart  sich  also  das  individuelle  Geistes- 
leben des  Menschen  und  jedes  Volkes,  das  ihr  Wirken  über  die  allgemein  gültigen  Regeln 
erhebt,  den  Erzeugnissen  ihrer  Tätigkeit  im  Weltkampf  der  Arbeit  besonderen  Wert 
verleiht.  Darum  dürfen  wir  nicht  nur  „durch  Arbeit  zur  Arbeit",  sondern  wir  sollen 
durch  Veredlung  der  Taktgefühle  zur  Kunstübung  erziehen. 

Zürich,  März  1907.  F.  Graberg: 


—     124     - 
Zur  Konzentration  der  technischen  Arbeit    und  Berufsbildung. 

Naumann  D.  Fr.     Neudeutsche  Wirtschaftspolitik.     Berlin  1906.     Hilfe. 
Bendel  H.     Zum  Ausbau  des  gewerblichen   Fortbildungsschulwesens.     Zürich  1907. 
Gebrd.  Leemann  und  Gs. 

Diese  beiden  Zeugnisse  zweier  Männer  von  vielseitiger  Lebenserfahrung  weisen  über- 
einstimmend auf  die  Konzentration  der   technischen  Arbeit  und  Berufsbildung  hin. 

Reichstagsabgeordneter  D.  Fr.  Naumann,  Mitarbeiter  der  Hilfe,  geht  von  den 
Tatsachen  der  Bevölkerungsvermehrung  aus.  Wo  im  Deutschen  Reich  vor 
90  Jahren  2  Menschen  lebten,  leben  jetzt  5.  Der  Vermehrungsvorgang  hat  die  ganze 
germanisch-slawische  Menscheitsgruppe  ergriffen  und  ist  über  sie  hinaus  sichtbar.  Nach- 
dem der  Mensch  die  Natur  technisch  gebändigt  hat,  und  nachdem  Krieg  und  Hungersnot 
seltener  geworden  sind,  fehlen  die  Hemmnisse  der  alten  Zeit.  Wo  sind  Wölfe?  Wo  ist 
Pestilenz  ?  In  günstigen  Jahren  erreicht  Rußland  einen  Zuwachs  von  18°/ oo,  Deutschland, 
Holländer,  Dänen  und  Norweger  15°/ oo",  Österreich-Ungarn,  Großbritannien,  Belgien  12°  oo  y 
Finnland.  Schweden,  Schweiz  ll°/oo;  Italien  10°/oo;  Frankreich  2°  oo-  In  den  Vereinigten 
Staaten  von  Nordamerika  stieg  die  Zahl  in  20  Jahren  um  26  Millionen. 

Diese  Vermehrung  zwingt  die  Völker  Nahrungsmittel  durch  Bearbeitung  von  Stoffen 
zu  erkaufen.  Daraus  entspringt  der  W  ettbewerb  um  die  beste  Technik,  die 
beste  Form  und  die  beste  Organisation  der  Arbeit  und  des  Handels.  „Wo  ist  die  höchste- 
menschliche  Leistung  zur  Massenerscheinung  geworden?  Wo  gibt  es  die  wenigste  Arbeits- 
vergeudung, die  wenigste  Verschleuderung  von  Zeit  an  wertlose  Produkte,  die  wenigsten 
Störungen  des  Produktionsprozesses  ?  Wo  gibt  es  die  vollendetste  Ausnützung  der 
inländischen  Naturschätze,  die  verständigste  Verwendung  der  Anlagen  und  Be- 
gabungen der  Bevölkerung,  die  gewandtesteAnpassung  an  die  Bedürfnisse 
der  Käufer?  —  Nicht  auf  die  Menge  der  Leistungen  kommt  es  an,  vielmehr  auf  deren 
Vervollkommnung.  Denn  Masse  ohne  Steigerung  der  Arbeitsqualität  wird  zur  Last.  Alle 
einfache  und  ungelernte  Arbeit  hat  die  Tendenz  so  billig  wie  möglich  bezahlt  zu  werden, 
da  jeder  sie  nachmachen  kann.  Nur  Waren,  die  nicht  jeder  nachmachen  kann,  erleichtern 
das  Dasein  eines  Volkes.  Was  sich  in  der  Welt  bezahlt  macht  ist  stets  nur 
die  höhere  Qualität.  Höhere  Qualität  der  Ware  ist  aber  nicht  möglich  ohne  höhere 
Qualität  der  Arbeitskräfte,  und  zwar  aller  Arbeitskräfte.  Die  gute  Arbeit  muß 
Volkscharakter  werden." 

Wie  erziehen  wir  unser  Volk  zu  guter  Arbeitsleistung  ?  Wie  können  wir  die  Organ- 
fertigkeiten des  Augenmaßes  und  der  Haudführung,  des  Sprachgehöres  und  der  Satzbildung, 
das  Sachverständnis  der  Maßverhältnisse  von  Raum,  Zeit  und  Kraft,  der  Beziehungen 
zwischen  Stoffeigenschaften  und  Arbeitsverrichtungen  steigern,  daß  die  Arbeitsqualität  im 
Volk  erhöht  wird?  Wie  können  wir  die  Taktgefühle  des  kunstsinnigen  Schaffens  und 
der  sittlichen  Lebensführung  veredeln,  damit  sie  sich  immer  gewandter  den  materiellen 
und  geistigen  Bedürfnissen  der  Käufer  anpassen ?  Nur  durch  Konzentration  der 
technischen  Arbeit,  durch  planmäßiges  Zusammenwirken  aller  Faktoren  der  Berufsbildung, 
insbesondere  auch  der  genauen  Prüfung  aller  Vorgänge  im  Seelenleben  der  Heran- 
wachsenden mit  dem  lebendigen  Unterrichte,  sind  diese  Aufgaben  zu  lösen. 

Tatsächlich  wird  die  Konzentration  der  Arbeit  schon  begründet  durch  die  Vermehrung 
der  Abhängigkeitsverhältnisse  zwischen  Gruppen  und  Einzelgliedern  eines 
wachsenden  Volkes.  „Schon  der  Stadtbewohner  ist  an  größere  Zahl  von  Rücksichten 
und  Regeln  gebunden  als  der  Ackerbauer,  der  auf  seinem  Gute  allein  sitzt  und  seinen 
Bedürfnissen   selbst   genügt.     Das   höchste  Maß   von  Vorschriften  tritt   jedoch  erst  dann 


—    125    — 

ein,  wenn  an  Stelle  der  Selbstwirtschaft  die  Produktion  für  den  Verkauf  trittj  Der  Ver- 
käufer wird  abhängig  vom  Käufer,  aber  auch  vom  Mitverkäufer.  Der  deutsche  Landmann 
wird  abhängig  vom  Verkäufer  in  Argentinien,  der  Händler  in  der  Kleinstadt  vom  Kaufmann 
in  der  Großstadt,  der  Bauer  von  der  Kaufkraft  des  Städters,  der  Städter  von  der  Kauf- 
kraft des  Landes,  der  Exporteur  von  der  Leistung  der  Gewerbe  seines  Hinterlandes,  der 
Importeur  von  Geschmack  und  Zahlungsfähigkeit  seiner  Abnehmer,  der  Fertigfabrikant 
vom  Halbzeugfabrikanten,  der  Walzwerksbesitzer  vom  Kohlenbesitzer,  der  Mieter  vom 
Hausbesitzer,  der  Hausbesitzer  von  der  Nachfrage  nach  Wohnungen,  der  Arbeitnehmer 
vom  Arbeitgeber,  der  Arbeitgeber  von  Zahl  und  Qualität  der  vorhandenen  Arbeitskräfte, 
der  Beamte  von  der  Steuerkraft  der  Bevölkerung,  der  Geschäftsmann  von  den  Vorschriften 
des  Beamten.  Es  entsteht  ein  Netz  von  Verträgen,  Tarifen,  Gewohnheiten,  Rechten, 
Krediten,  Gesellschaften,  Pflichten,  wie  es  nie  vorher  in  der  Menschheit  so  verwickelt  und 
bunt  vorhanden  gewesen  ist."  Der  Einzelmensch  gilt  nur  in  dem  Grade,  als  er  seine 
Individualität  im  Dienste  seiner  Umgebung  oder  im  Wettbewerbe  seiner  Genossen  zu 
entfalten  vermag.  Wir  sagen  nicht  mit  N. :  „Der  Einzelne  hört  auf  eine  Größe  zu  sein." 
Denn  die  Wettspiele  der  Sportübungen  vde  die  Wettkämpfe  auf  allen  Gebieten  der 
technischen,  wissenschaftlichen  und  Kunsttätigkeit  zeigen  deutlich  ein  Ringen  der  Indivi- 
dualität nach  Geltendmachung  der  persönlichen  Kräfte ,  das  eben  die  Arbeitskraft 
steigert. 

Bodenbesitz,  Wohnungsbau,  Beschaffung  von  Kleidung,  Nahrung,  Holz,  Eisen  und 
Kohle,  sowie  der  Güteraustausch  liegen  unserem  Hauptzweck  femer  als  die  Frage  nach 
der  Organisation  der  Arbeit.  Als  Arbeit  wird  erklärt:  „zweckvolles  Handeln, 
dessen  Ziel  die  Überwindung  lebensfeindlicher  Mächte  ist"  und  als  solche  sind  genannt : 
Hunger,  Kälte  und  Hitze,  Dürre  und  Überschwemmung,  Überwältigung  durch  Tiere  oder 
fremde  Menschen,  Vereiosamung,  Dunkelheit,  Krankheit  und  Tod.  In  diesem  Sinne  der 
Notwehr  gegen  Natur-  und  Schicksalsgewalt  wirkt  die  Arbeit  nur  als  Gesamtleistung 
sozialer  Kreise,  von  Familie,  Sippschaft,  Rasse,  Stand,  Ortschaft,  Volk,  weil  die  Kraft 
des  Einzelnen  zu  dieser  Notwehr  nicht  ausreicht.  Solche  „Arbeitsgemeinschaft"'  tritt  bei 
wachsender  Volksdichtigkeit  stärker  hervor,  ist  aber  schon  in  kleinem  Kreise  vorhanden 
und  zeigt  in  Arbeitsteilung  und  Arbeitsleitung  die  Merkmale  der  Organisation. 
Solche  besteht  aus  folgenden  Elementen: 

a)  Erlangen  der  Rohstoffe;  — 

b)  Schutz  der  Stoffe  und  Arbeitsvorgänge  vor  feindlichen  Gewalten.     (Naturereignisse, 
Tiere,  Streiker,  Militär,  Rechtsbildung) ;  — 

c)  Feststellung  der  Arbeitstechnik  für  jeden  Rohstoff. 

d)  Herstellung  der  Werkzeuge  und  Hilfsmittel  für  jede  Art  von  Technik 

e)  Verteilung  der  Arbeitskräfte  auf  die  verschiedenen  Aufgaben. 

f)  Anordnung  der  Arbeitdisziplin  in  den  einzelnen  Gruppen. 

g)  Austausch  der  gewonnenen  Waren. 

Von   diesen  Elementen   kommen  hier  bloß  die  von  c  bis  f  angegebenen  Tätigkeiten 
in  Betracht. 

Technik.  Wie  die  Sprache  auf  einem  Schatz  überlieferter  Worte  und  Satzformen, 
so  beruht  die  Technik  auf  einem  Schatz  überlieferter  Sachkenntnisse  und  Handfertigkeiten. 
In  beiden  Fällen  unterscheidet  sich  die  Neuzeit  von  der  Vergangenheit  durch  zielbwußtere 
Analyse  und  Synthese  von  Zuständen  und  Vorgängen.  Gleich  jeder  »schöpferischen  Syn- 
these"   erwachsen  Sprache   und  Handwerk   ursprünglich   aus  aufdämmernder  Erkenntnis, 


1)  Bücher,  Entstehung  der  Volkswirtschaft  §  233.  2.  Aufl.  Tübingen  1898.    H.  Laupp. 


—    126    — 

unwillkürlichem  Geschick  und  erwachsendem  Taktgefühl.  Allmählich  lernt  man  den  Zu- 
stand der  Stoffe  und  Werkstücke  beachten,  die  Wirkungen  der  Handgriffe  und  Werkzeuge 
unter  wechselnden  Bedingungen  vergleichend  prüfen,  die  Flächenumrisse  aufzeichnen, 
Stoffe,  Tätigkeiten  und  Erzeugnisse  benennen,  Ausdehnungen  messen,  Dinge  und  Schläge 
zählen,  Kräfte  wägen  und  so  die  Vorstellungen  gliedern,  die  Verrichtungen  regeln.  Man 
zerlegt  den  Schlag  des  Hammers  in  seine  Teilwirkungen,  überläßt  der  Schwere  der  Masse 
und  der  Spannkraft  des  Dampfes  die  Stoßwirkung  und  behält  der  Wachsamkeit  und 
Geistesgegenwart  des  leitenden  Arbeiters  das  Regeln  der  Bewegungen  vor.  Die  verstandes- 
mäßige Gliederung  des  Arbeitsvorganges,  die  Herstellung  von  Hilfsmitteln,  Werkzeugen 
und  Maschinen  hat  also  doch  keine  „Entpersönlichung"  der  Handarbeit  zur  Folge,  wie 
N.  sagt  und  man  früher  glaubte.  Wohl  aber  fordert  die  Überwachung  der  stetigen  Be- 
wegungen von  Maschinenteilen,  die  nach  vorberechneten  Naturzwecken  wirken,  strammere 
Regelung  der  psychischen  Verrichtungen  als  die  Führung  der  Handwerk- 
zeuge; insbesondere  die  Anpassung  der  Aufmerksamkeit  an  den  Takt  der  Werkzeugbe- 
wegungen und  sicheres  Eingreifen  bei  jeder  Störung  des  Betriebes.  Am  elektrischen 
Webstuhl  muß  die  Arbeiterin  gleichzeitig  die  Bewegungen  der  Kettenfaden  und  die  des 
Schußfadens  überwachen,  während  der  Motor  die  Triebrolle  dreht.  Schon  die  Koordination 
dieser  beiden  Richtungen  der  Aufmerksamkeit  setzt  persönliche  Triebregungen  voraus, 
die  erst  nach  längerer  Übung  dem  Gang  der  Maschine  und  den  Wechselfällen  der  Arbeit 
sicher  folgen. 

Dagegen  ist  richtig,  daß  die  Verwendung  von  Maschinen  nur  scheinbar  die  Arbeit 
von  Menschenhänden  erspart,  sowie  daß  die  Maschine  erst  bei  hohem  Grade  der  Vervoll- 
kommnung wirtschaftlichen  Gewinn  bringt,  indem  sie  nicht  nur  schnellere,  sondern  auch 
genauere  Arbeit  liefert  als  die  Menschenhand. 

Konzentration.  Mit  den  genaueren  Arbeitsbedingungen,  den  sicher  geregelten 
Verrichtungen,  mit  der  Vereinigung  vielseitiger  Arbeitskräfte,  der  zum  wirtschaftlichen 
Betriebe  notwendigen  Massenproduktion,  welche  die  Maschinenarbeit  herbeiführt,  ist  auch 
eine  mannigfaltigere  Arbeitsteilung  verbunden  uud  diese  fordert  zur  übereinstimmenden 
Leitung  der  verschiedenen  Zweige  übersichtliche  Gruppierung  der  Einzeltätigkeiten, 
räumliche,  mechanische  und  kaufmännische  Konzentration  der  einzelnen  Akte  In  Indien 
hat  die  Bevölkerungsdichtigkeit  auch  ohne  Maschine  eine  weitgehende  Arbeitsteilung 
hervorgerufen.  Auch  im  Sklaven-  und  Klientenwesen  des  alten  Rom  war  das  Spezia- 
listentum in  der  Arbeit  weit  verbreitet.  Mit  der  Maschine  hat  nur  die  Absonderung  ge- 
werblicher Handgriffe  zugenommen.  „Die  große  Zwangsgewalt  der  Umgestaltung,  die 
Volksvermehrung,  hat  ihre  besondere  Wirkung  dadurch  erhalten,  daß  sie  mit  der  Rati- 
onalisierung der  Technik  zusammentraf.  Dieses  Zusammentreffen  ist  der  Kern  dessen, 
was  wir  als  modern  bezeichnen." 

Arbeitsverfassung.  Teilung  und  Konzentration  wirken  nun  in  der  neuen 
Arbeitsverfassung  zusammen.  Im  Handel  führt  die  Gliederung  der  Gütervermittlung  zu 
Spezialgeschäften  nach  Maßgabe  der  verschiedenen  Arbeitsverfahren,  die  Konzentration 
derselben  dagegen  zum  Warenhaus,  nach  den  Gesichtspunkten  der  Konsumation.  Der 
Massenverbrauch  führt  zum  Großbetrieb,  die  persönlichen  Dienstleistungen  erfordern 
Spezialisierung  der  Kenntnisse  und  Fertigkeiten. 

Persönliche  und  Berufsbildung.  Hier  scheiden  sich  die  Wege.  Von  seinem 
volkswirtschaftlichen  Standpunkt  aus  sieht  N.  nämlich  den  Großbetrieb  ins  Grauenhafte 
sich  ausdehnen.  „Wir  bekommen  wieder  gebundene  Zeit  im  Wirtschaftsleben,  wo  der 
Einzelne  untertaucht.  Um  uns  herum  türmen  sich  unliberale  Gestaltungen:  Syndikate, 
Preiskartelle,  Riesenbetriebe,  Arbeiterverbände,  Verkaufsgenossenschaften  aller  Art".    Wir 


—    127     — 

vermögen  dagegen  in  der  Ausdehnung  der  Großbetriebe  keine  so  besorgniserregende 
Gefahr  zu  erkennen.  Denn  erstens  beweist  die  Zunahme  der  Streikbewegungen,  daß  die 
individuellen  Stimmungen  der  Arbeiter  sich  immer  wieder  geltend  machen  gegenüber  vor- 
herrschend verstandesmäßiger  Anordnung  der  Leitenden.  Namentlich  aber  in  der  Pflege 
der  persönlichen  und  Berufsbildung  aller  Arbeitenden  erkennen  wir  den  sichersten  Aus- 
gleich zwischen  den  allgemein  gültigen  gesetzlichen  Ordnungen  der  Geschäftsbetriebe  und 
den  verschiedenen  Stufen  individueller  Naturanlage  der  Arbeitenden.  Denn  die  persönliche 
Bildung  soll  nach  P  a  u  1  s  e  n  *  die  unbestimmte  Naturanlage  ererbter  Fähigkeiten  zu  indi- 
viduell ausgeprägten  Kenntnissen  und  Fertigkeiten  entfalten.  Die  Berufsbildung  wiederum 
soll  den  Einzelnen  befähigen,  diese  Kenntnisse  und  Fertigkeiten  im  Dienste  des  geschäft- 
liche!: und  sozialen  Verkehres  fruchtbringend  zu  verwerten. 

Nun  hängt  das  Gedeihen  jedes  technischen  oder  kaufmännischen  Groft-  oder  Klein- 
betriebes nicht  allein  von  der  Arbeitsverfassung  ab,  sondern  hauptsächlich  auch  von  der 
persönlichen  und  beruflichen  Bildung  jedes  einzelnen  Arbeiters,  jedes  leitenden  oder  ver- 
waltenden Beamten.  Die  in  allen  Berufskreisen  sich  mehrenden  Bestrebungen  nach  tech- 
nischer, kunstgewerblicher,  kaufmännischer  und  wissenschaftlicher  Fortbildung  zeigen,  daß 
neben  dem  wirtschaftlichen  Aufschwünge,  der  zu  allgemein  gültigen  Ordnungen  drängt, 
doch  auch  geistige  Strömungen  sich  geltend  machen,  welche  die  individuelle  Freiheit  der 
Einzelnen  zu  wahren  bemüht  sind.  Damit  aber  diese  geistigen  Bestrebungen  sich  den 
wirtschaftlichen  gegenüber  behaupten,  ist  notwendig,  daß  jene  sich  ebenfalls  konzentrieren. 

Vertiefung  der  beruflichen  Fortbildung.  Hören  wir  darüber  den  viel- 
jährigen eidgenössischen  Experten  für  gewerbliche  Fortbildung,  Professor  Bendel.  Er 
begründet  die  Notwendigkeit  derselben  wie  folgt:  „Das  stete  Anwachsen  der  Bevölkerung 
unseres  Landes,  die  dadurch  hervorgerufene  intensive  Ausnützung  unserer  bisherigen 
und  die  Schaffung  neuer  Erwerbsquellen,  die  zunehmende  Erschwerung  unseres  Exportes, 
die  Bekämpfung  der  fremden  Konkurrenz  im  Inneren,  die  Steigerung  unserer  kulturellen 
Bedürfnisse  und  unser  Wille,  die  nationale  Unabhängigkeit  zu  bewahren,  stellen  stetsfort 
neue  und  schwierigere  Aufgaben  an  die  wirtschaftliche  und  technische  Leistungsfähigkeit 
der  Gesamtheit  wie  der  Einzelnen.  Deren  erfolgreiche  Lösung  setzt  allseitige,  erhöhte 
Anstrengungen  eines  jeden,  der  nicht  müßig  am  Wege  stehen  will  oder  muß,  klaren  Willen 
und  den  Einsatz  persönlicher  und  bürgerlicher  Tugenden  voraus.  Die  Führer  bedürfen 
mehr  denn  je  intelligenter,  gut  instruierter  und  disziplinierter  Massen,  die  vor  keiner 
Schwierigkeit  zurückweichen.  Für  die  auf  den  Gebieten  der  Gewerbe  und  Industrien  be- 
tätigten Massen  aber  bildet  über  einer  mehr  oder  weniger  ausgebauten  Volksschule  die 
gewerbliche  Fortbildungsschule  fast  die  einzige  Gelegenheit  neben  der  Werkstattarbeit, 
die  Urteilskraft  zu  schärfen,  jene  Kenntnisse  und  Fertigkeiten,  welche  zur  erfolgreichen 
Ausübung  des  Berufes  und  zur  raschen  Erfassung  der  an  ihn  herantretenden  Neuerungen 
erforderlich  sind,  sich  zu  erwerben  und  die  sittlichen  Kräfte  zu  steigern.  Bie  Benutzung 
dieser  Bildungsgelegenheit  wird  somit  für  die  breite  Masse  zur  Notwendigkeit." 

Unter  solchen  in  steter  Fortentwicklung  begriffenen  Verhältnissen  hat  sich  die  Auf- 
gabe der  beruflichen  Fortbildung  vertieft.  Die  heutige  gewerbliche  Fortbildungsschule 
darf  sich  nicht  mehr  bloß  auf  Befestigung  des  in  der  Volksschule  erworbenen  Wortwissens, 
auch  nicht  auf  die  Pflege  einzelner  Fertigkeiten  beschränken.  Sie  ist  vielmehr  berufen, 
den  Lehrlingen  die  grundlegenden  Kenntnisse  und  Fertigkeiten  beizubringen,  die  zur 
Einsicht  in  den  Zusammenhang  der  technichen  und  wirtschaftlichen  Verhältnisse 
notwendig   sind,   und   zwar  in  einer  das  selbständige  Beobachten  und  Prüfen  anregenden 


1)  Kultur  d.  Gegenwart  II.     S.  55.     Berlin  1906.     B.  G  Teubner. 


—     128    — 

Weise,  so  daß  die  Anwendung  der  Kenntnisse  und  Fertigkeiten  im  Berufsleben  dem 
Schüler  nahegelegt  ist.  Gleichzeitig  sollte  die  Schule  das  Verständnis  jedes  einzelnen  für 
seine  beruflichen  und  bürgerlichen  Pflichten  und  Rechte  fördern,  die  Liebe  zur  Heimat 
pflegen  und  das  Verantwortlichkeitsgefühl  wecken. 

Gliederung  der  Berufsbildung.  „Die  Werkarbeit  soll  den  Ausgangs-  und 
Anknüpfungspunkt  für  das  Wirken  der  Fortbildungsschule  bilden,  das  Ziel  des  Unter- 
richtes aber  die  Vergeistigung  der  Werkarbeit  sein,  wodurch  der  Arbeitende  und 
Lernende  selbst  auf  eine  höhere  Bildungsstufe  gehoben  wird."  Immer  allgemeiner  bricht 
sich  die  Überzeugung  Bahn,  daß  es  notwendig  sei,  alle  Lehrlinge  gesetzlich  zum  regel- 
mäßigen Besuch  der  gewerblichen  Fortbildungsschule,  die  Lehrmeister  aber  zum  Einräumen 
der  hiezu  erforderlichen  Tageszeit  zu  verpflichten,  weil  es  der  Mehrzahl  der  jungen  Leute 
an  Willenskraft  gebricht  zur  ausdauernden  geistigen  Tätigkeit  neben  der  körperlich  an- 
strengenden Berufsarbeit.  Von  der  obligatorischen  Fortbildungsschule  müssen  Lehrling 
und  Lehrmeister  verlangen,  daß  ihr  Unterricht  eine  stete  Ergänzung  der  Werkstattlelire 
bilde,  überall  anknüpfe  an  deren  Vorkommnisse,  deren  Vorgänge  erläutere  und  begründe. 
Der  Lehrling  muß  dies  verlangen,  weil  die  Gegenstände  und  Verrichtungen  des  Berufes 
seine  Anschauungen  und  Erfahrungen  erweitern,  sein  Interesse  wecken  und  das  Fundament 
für  den  Aufbau  seiner  Existenz  bilden.  Der  Lehrmeister  muß  dies  verlangen,  weil  er 
für  das  Opfer  an  Zeit,  die  er  dem  Lehrling  einräumt,  als  Gegenleistung  sachverständiges 
und  planmäßiges  Arbeiten  desselben  beanspruchen  muß. 

Für  diese  ergänzende  berufliche  Ausbildung  kommen  drei  Momente  in  Betracht: 
technische  Kenntnis  der  Stoffe  und  Arbeitsverfahren,  geschäftliche  Einsicht  in 
den  wirtschaftlichen  Verkehr  und  Verständnis  der  sozialen  Beziehungen  zwischen  Be- 
rufsarbeit und  bürgerlichem  Leben. 

Planmäßige  Unterweisung  in  den  Berufskenntnissen  bahnte  neben  der  Werkstattlehre 
bisher  nur  der  Unterricht  im  Werkzeichnen  an,  indem  er  die  Werkformen  nach  der 
Lage  ihrer  Grenzflächen  gliedern  und  den  Zusammenhang  ihrer  Risse  übersichtlich  dar- 
stellen, Pläne  von  Bauten  und  Maschinen  anfertigen  lehrte.  Die  geschäftliche  Einsicht 
in  den  wirtschaftlichen  Verkehr  bereiten  Rechnen  und  Buchführung  vor,  auf 
höherer  Stufe  auch  Kostenberechnungen.  Dagegen  sind  Geschäftsbriefe  nur  eine 
kümmerliche  Anwendung  der  Sprachbildung  auf  den  beruflichen  Unterricht.  Tech- 
nische Kenntnisse  und  Erfahrungen  findfen  ihre  sprachliche  Erklärung  und  Begründung 
in  der  Berufskunde.  Diese  soll  den  Lehrling  einführen  in  den  Arbeitsraum,  dessen 
Beschaffenheit  und  Einrichtung,  ihn  bekannt  machen  mit  den  Rohstoffen  und  Halb- 
fabrikaten, deren  Gewinnung,  Eigenschaften,  Wert,  Kennzeichen  ihrer  guten  und  schlechten 
Beschaffenheit,  Aufbewahrung;  ihn  unterweisen  in  den  verschiedenen  Verarbeitungsarten 
der  Stoffe,  in  Gang  und  Verlauf  des  Betriebes,  Arbeitsteilung,  Verkauf;  endlich  ihm  Ein- 
blick verschaffen  in  die  geschichtliche  Entwicklung  des  Handwerks,  des  speziellen  Berufes 
und  dessen  jetzige  Lage^).  Dieser  Unterrichtsstoff  kann  aber  den  Schülern  nur  nach 
Maßgabe  ihrer  Fassungskraft  und  persönlichen  Arbeitserfahrung  so  dargeboten  werden, 
daß  die  Belehrung  deren  Einsicht  in  den  Geschäftsbetrieb  vertieft,  deren  Tüchtigkeit  und 
Arbeitslust  fördert. 

Stufen  der  Fortbildung.  Dennoch  fragt  es  sich  im  Hinblick  auf  die  vielen 
mittelmäßig  oder  schwach  begabten  Lehrlinge,  welche  der  Pflichtbesuch  entgegen  ihrer 
Neigung  der  Schule  zuführt,  inwiefern  es  ratsam  sei  die  Werkstattlehre  von  vornherein 
mit  vielem  Wort-  und  Zahlunterricht  zu  begleiten,  bevor  durch  Ausbildung  der  technischen 


1)  Dr.  M.  Mehner  Fortbildungsschulkunde  S  84. 


—     129     — 

und  Zeichenfertigkeiten  die  körperlichen  Sachvorstellungen  fest  angeeignet  sind.  Wir 
geben  gerne  zu,  daß  die  raschere  wirtschaftliche  und  soziale  Entwicklung  der  heutigen 
Berufstätigkeit  auch  eine  frühere  Gewöhnung  an  den  Verkehr  durch  sinnbildliche  Zeichen, 
Worte  und  Zahlen  fordert.  Aber  nicht  zu  unterschätzen  ist  die  Gefahr  der  Oberfläch- 
lichkeit, welche  sich  auf  den  Gebrauch  der  Sinnbilder  auch  dann  verläßt,  wenn  demselben 
nur  ungenügende  sachliche  Erfahrungen  zu  Gebote  stehen.  Soche  Bedenken  erweckt  uns, 
neben  der  Berufskunde,  namentlich  die  Forderung  des  Verständnisses  für  die  bürgerlichen 
Pflichten  und  Rechte,  wenn  sie  an  die  Lehrlinge  gestellt  wird.  Wäre  es  nicht  angezeigt 
solchen  Unterricht,  wie  den  höheren  Sach-  und  Zeichenunterricht,  auf  die  Zeit  größerer 
Reife  zu  verlegen  V  Wann  soll  der  minderbegabte  Lehrling,  dessen  Kräfte  schon  die 
Werkstattarbeit  mehr  als  bei  anderen  in  Anspruch  nimmt,  der  zu  den  elementaren  Zeichen-, 
Sprach-  und  Rechenübungen  längere  Zeit  braucht,  um  ein  beschränktes  Ziel  zu  erreichen, 
der  doch  auch  der  religiös-sittlichen  Unterweisung  und  der  Erholung  bedarf,  wann  soll 
dieser  zu  bürgerlicher  Belehrung  Zeit  finden  ?  Wird  ein  Lehrling,  der  mit  Mühe  die 
Werkstattunterweisung  begreift  und  daneben  sich  den  Zerstreuungen  hingibt,  geordnete 
Vorstellungen  von  sozialen  Verhältnissen  sammeln  können  ?  Nicht  die  Schule,  sondern 
die  ernsten  Erfahrungen  des  Lebens  können  solche  junge  Leute  allmählich  zu  einer  ge- 
wissen Reife  bringen. 

Konzentration  der  Berufsbildung.  Hat  überhaupt  die  Schule,  die  vor- 
herrschend auf  sinnbildlichen  Verkehr  angewiesen  ist,  allein  die  Konzentration  der  Be- 
rufsbildung zu  besorgen  ?  Nein.  Die  jedem  fruchtbringenden  Berufsunterricht  zugrunde 
legenden  Arbeitserfahrungen  sammeln  und  ordnen  zunächst  die  Techniker  selbst.  Ge- 
werbemuseen bringen  die  mustergiltigen  Erzeugnisse  zur  übersichtlichen  Darstellung. 
Lehrwerkstätten  pflanzen  die  erprobten  Arbeitsverfahren  fort.  Fachvereine  der  Meister 
und  Gehilfen  regen  ihre  Mitglieder  durch  Ausstellungen  und  Besprechungen  zu  steter 
Wahrnehmung  und  Prüfung  der  technischen  Fortschritte  an.  Wie  zur  Konzentration  der 
Arbeit  haben  auch  zur  Konzentration  der  Berufsbildung  alle  Organe  des  geschäftlichen 
und  sozialen  Lebens  zusammenzuwirken,  denn  sie  wächst  mit  der  Tätigkeit  aller  und 
dient  allen  zum  Wohle.  Doch  einleiten  kann  die  Schule  solche  Konzentration,  indem 
sie  die  Organfertigkeiten  steigert,  das  Sachverständnis  sicher  begründet,  die  Taktgefühle 
veredelt.  Denn  jeder  Akt  der  Aufmerksamkeit,  jeder  sichere  Zug,  jedes  treffende  Wort, 
jede  treue  Erinnerung  und  formrichtige  Einbildung,  die  von  klarem  Sachverständnis  und 
geregeltem  Takte  zeugen,  kräftigen  die  Konzentration  des  W  i  1 1  e  n  s ,  welcher  das  Wahre 
sucht,  das  Schöne  pflegt  und  das  Gute  schaö't. 

F.  Graberg. 


Scherer,  H.,  Schulrat.  Die  Pädagogik  als  Wissenschaft  von  Pesta- 
lozzi bis  zur  Gegenwart  in  ihrer  Entwicklung  im  Zusammenhange 
mit  dem  Kultur-  und  Geistesleben  dargestellt.  —  L  Abteilung:  Die 
Entwicklung  des  Kultur-  u  nd  Geisteslebens.  —  Leipzig  1907.  E.Brand- 
stetter.    416  S.  gr.  8«.    Preis  6  M. 

Der  verdiente  Herausgeber  der  „Pädagogischen  Jahresberichte"  bietet  mit  vorliegendem 
Buche  den  zweiten  Band  eines  vorläufig  vierbändig  geplanten  größeren  Werkes  mit  dem 
Haupttitel:  „Die  Pädagogik  in  ihrer  Entwicklung  im  Zusammenhange  mit  dem  Kultur- 
und  Geistesleben  und  ihrem  Einfluß  auf  die  Gestaltung  des  Erziehungs-  und  Bildungs- 
wesens mit  besonderer  Berücksichtigung  der  Volksschulpädagogik  und  des  Volksschul- 
Meumann,  Exper.  Pädagogik.    V.  Band.  9 


-     130    — 

Wesens."  —  Zur  Rechtfertigung  seines  Unternehmens  hemerkt  der  Autor:  „Ein  Werk,  das 
die  Geschichte  der  Pädagogik  als  eine  Entwicklungsgeschichte  des  pädagogischen  Ge- 
dankens und  der  pädagogisschen  Tat  erfaßt,  hat ,  .  ,  die  neue  Zeit  noch  nicht  geliefert, 
trotzdem  der  Entwicklungsgedanke  neu  belebt  worden  ist  und  eine  neue  Grundlage  er- 
halten hat.  Der  Verfasser  dieses  Buches  hat  mit  dem  ersten  Bande  der  „Pädagogik  in 
ihrer  Entwicklung"  dazu  einen  Versuch  gemacht.  So  mangelhaft  und  verbesserungs- 
sedurftig  dieser  Versuch,  der  in  dem  vorliegenden  Bande  seine  Fortsetzung  findet,  auch 
bein  mag.  so  dürfte  er  doch  nicht  ohne  Wert  für  die  Entwicklungsgeschichte  der  Päda- 
gogik sein.  Er  zeigt  doch  wenigstens,  in  welcher  Richtung  die  Lösung  der  Aufgabe 
liegt,  welches  Material  zur  Verfügung  steht  und  wo  noch  Lücken  in  der  Bearbeitung  des 
Quellstoffes  sind.  Unsre  Zeit  ist  für  die  Aufnahme  solcher  Gesamtamtdarstellungen  nicht 
günstig.  Sie  neigt  auf  wissenschaftlichem  Gebiete  zur  Einzelforschung  hin.  So  wertvoll 
nun  diese  auch  ist,  so  darf  doch  nicht  übersehen  werden,  daß  durch  sie  gar  leicht  der 
Überblick  über  das  Ganze  und  die  Stellung  des  Einzelnen  zum  Ganzen,  respektive  der 
Wert  desselben  für  das  Ganze  verloren  geht.  Geringwertiges  wird  oft  vielfach,  Wert- 
volles oft  gar  nicht  bearbeitet.  Der  Wert  der  Bildung  liegt  aber  nicht  in  der 
Menge  von  Einzelwissen,  sondern  in  der  Zusammenfassung  desselben 
zu  einer  Ge  samt  ans  c  hauung."  Eine  solche  „Gesamtanschauung"  zu  bieten,  hat 
Verfasser  offensichtlich  einen  enormen  Fleiß  und  eine  bedeutende  Darstellungskraft  auf- 
gewendet; daß  der  Effekt  nicht  völlig  den  durch  den  Wortlaut  des  Titels  ausgelösten 
Erwartungen  entspricht,  wird  verständlich,  wenn  man  bedenkt,  daß  Seh.  sein  Ziel  ohne 
jede  Mitwirkung  von  Fachgelehrten  zu  erreichen  suchte.  Er  wollte  dadurch  jenem 
Mangel  an  Einheitlichkeit  vorbeugen,  welcher  sich  z.  B.  an  Schmids  „Geschichte  der  Er- 
ziehung" zeigt.  Doch  fragt  es  sich  eben,  ob  angesichts  einer  Aufgabe,  wie  der  hier  vor- 
liegenden, und  der  Begrenztheit  auch  der  tüchtigsten  Arbeitskraft  die  Einheitlichkeit 
der  „Gesamtanschauung"  nicht  Schaden  leidet.  Entging  der  Verfasser  jener 
Scylla,  so  doch  nicht  ganz  dieser  Charybdis.  Statt  vieler  Belege  dafür  nur  ein 
einziger:  Gerade  das  Ausgehen  von  Pestalozzi,  dem  anerkannt  sozialen  Denker, 
hätte  bei  einer  Darstellung  der  Entwicklung  der  Pädagogik  als  Wissenschaft  im  Zu- 
sammenhange mit  dem  Kulturleben  dazu  zwingen  müssen,  den  engen 
Zusammenhang  zwischen  Volksbildung  und  Volkswirtschaft  unserer  sozialpolitisch 
orientierten  Zeit  ausführlich  darzutun.  Dies  ist  nicht  geschehen,  doch  ließe  sich  diesem 
Mangel  zur  Not  in  einem  der  folgenden  Bände  abhelfen.  Dessenungeachtet  ist  aber  das 
Ganze  kritischen  Lesern  durchaus  zu  empfehlen  und  zwar  nicht  nur  Pädagogen 
von  Fach. 

„In  der  Einleitung  ist  eine  Orientierung  über  den  Stand  der  Pädagogik  zu  der 
Zeit  gegeben,  in  welcher  die  mit  Pestalozzi  beginnende  Periode  in  der  Entwicklung  der 
Pädagogik  einsetzt.  Der  Inhalt  selbst  zerfällt  in  drei  Abteilungen.  Die  erste  Abteilung 
beschäftigt  sich  mit  der  Entwicklung  des  Kultur-  und  Geisteslebens  der  betreffenden 
Zeit,  die  zweite  führt  die  daraus  hervorwachsende  Entwicklung  der  wissenschaft- 
lichen Pädagogik  vor.  Die  dritte  Abteilung  endlich  macht  mit  den  wichtigsten  Dar- 
stellungen der  wieder  auf  diesen  aufgebauten  empirischen  Pädagogik  bekannt". 

Es  wäre  zu  wünschen,  daß  dieser  abschließende  Literaturnachweis  in  der  2.  Auflage 
des  Buches  gesichtet  und  vermehrt  erschiene.  Auch  ein  „Sachregister"  sollte  nicht 
fehlen.  Dazu  würde  es  den  Gebrauch  des  Buches  etwas  erleichtern,  wenn  an  Stelle  der 
überflüssigen  Wiederholung  des  Hauptgesichtspunktes  am  Kopfe  von  gegen  vierhundert 
Seiten  der  Inhalt  jeder  einzelnen  Seite  mit  drei,  vier  Stichwörtern  angegeben  wäre. 


—    131    — 

In  der  Angabe  des  Titels  des  in  Aassieht  stehenden  dritten  Bandes  des  Gesamt- 
werkes ist  auf  Seite  XYII  anscheinend  ein  Druckfehler  untergelaufen,  sodaß  dieser  Titel 
wohl  lauten  dürfte:  „Die  Pädagogik  als  Kunst  von  Pestalozzi  bis  zur  Gegenwart", 

Dr.  Ernst  Ebert,  Zürich. 


Dr.  Schumann,  J.  Chr.  Gottlob  und  Professor  G.  Voigt.  Lehrbuch 
der  Pädagogik.  —  Erster  Teil:  Einleitung  und  Geschichte  der  P.  mit 
Musterstücken  aus  den  j.  Meisterwerken  der  verschiedenen  Zeiten.  — 
12.  vermehrte  und  verbesserte  Auflage,  Karl  Meyers  Verlag,  Berlin  und  Hannover.  — 
484  S.  gr.  8".    Preis  gebunden  5,20  M. 

Einem  Lehrbuche,  welches  wie  das  vorliegende  seit  seinem  erstmaligen  Erscheinen 
im  Jahre  1874  die  zwölfte  Auflage  erlebt,  müssen  ohne  Zweifel  eine  Reihe  ganz  be- 
deutender Vorzüge  innewohnen.  Es  hat  sich  —  wie  es  scheint  —  im  praktischen 
Unterricht  besonders  der  preußischen  Seminare  bewährt  und  bedarf  kaum  einer  weiteren 
Empfehlung.  Sache  der  Unterrichtenden  wird  es  sein,  den  angehenden  Lehrern 
das  zu  bieten,  was  das  Buch  mehr  oder  weniger  vermissen  läßt,  vor  allem  bei  konzen- 
trierterer  Darstellnng  schärfere  Herausarbeitung  der  Probleme  und  innigeres  Beziehen 
des  Erziehungswesens  zu  den  wirtschaftlichen  Verhältnissen. 

Dr.  Ernst  Ebert,  Zürich. 


A-bh-andlungen. 

Der  Anteil  der  nachkonstruierenden  Tätigkeit  des  Auges  und  der 
Apperception    an    dem    Behalten    und    der  Wiedergabe   einfacher 

Formen 

von  Dr.  Gustav  Albien,   Königsberg. 

Einleitung. 

Rückblick  auf  die  Creschichte  der  Methode  des 
Zeidienmiterrichts. 

Obgleich  die  zeichnerische  Begabung  oft  zum  Gegenstande  von  Unter- 
suchungen gemacht  worden  ist,')  fehlt  es  bis  zum  heutigen  Tage  noch 
immer  an  einer  genauen  psychologischen  Analyse  des  zeichne- 
rischen Aktes,  insbesondere  mit  Rücksicht  auf  die  individuellen 
Unterschiede  der  Begabung  und  ihre  Ursachen.  Die  zeichnerische 
Tätigkeit  ist  ein  komplexer  Tatbestand,  der  sich  aus  einer  Summe  von 
Partialtätigkeiten  zusammensetzt.  Um  ihn  ganz  zu  verstehen,  ist  es 
notwendig,  jene  Elemente  zu  erforschen.  Die  Tendenz  der  Analyse 
dieser  Untersuchungen  ist,  womöglich  die  elementaren  Vorgänge  zu 
finden,  welche  beim  Zeichnen  zusammenwirken.  Insbesondere  sollte  die 
Art  und  Weise  untersucht  werden,  wie  die  elementaren  Vorgänge 
zusammenwirken,  und  wie  individuelle  Differenzen  in  den  Elementar- 
vorgängen zusammenwirken.  Welche  Bedeutung  die  genaue  Erkenntnis 
dieser  Elementarvorgänge  für  die  Pädagogik  hat,  liegt  klar  zu  Tage. 
Kann  doch  eine  der  kindlichen  Psyche  und  ihrer  Entwickelung  ent- 
sprechende Methode  im  Zeichenunterricht  erst  nach  Erforschung  jener 
Elementar  Vorgänge  aufgestellt  werden.  In  der  Unkenntnis  dieser  Tat- 
sache liegt  die  Ursache  der  Unsicherheit  in  der  Wertschätzung  der 
einzelnen  Zeichenmethoden.  Wie  weit  die  Grundsätze  bei  der  Auf- 
stellung von  Lehrplänen  für  den  Zeichenunterricht  auseinandergingen, 
möge  ein  kurzer  geschichtlicher  Abriß  zeigen. 

Das  Verständnis  für  den  erziehlichen  Wert  des  Zeichenunterrichts 
hat  sich,  trotzdem  bereits  die  großen  Pädagogen  des  17.  und  18.  Jahr- 
hunderts (Comenius,  Rousseau,  Pestalozzi)-)  dafür  eingetreten  sind,  nur  all- 

1)  Siegfried  Le\'instein,  Kinderzeichnungen  bis  zum  14.  Lebensjahr,  Leipzig  1905. 
Georg  Kerschensteiner,  Die  Entwickelung  der  zeichnerischen  Begabung,  München  1905. 

2)  Prof.  0.  Pupikofer,  Die  i^eform  des  Volksschul-Zeichenunterrichts  im  Lichte 
Pestalozzis.     Leipzig  1904.     II.  Auflage. 

Meumann,  Exper.  Pädagogik.    V.  Band.  10 


—    134    — 

mählich  Bahn  gebrochen,  und  in  den  neuesten  Lehrplänen  der  preußischen 
Unterrichtsbehörde  von  1901  gelangen  die  naturgemäßen  Bedingungen, 
unter  denen  allein  ein  erfolgreicher  Unterricht  möglich  ist,  zur  Berück- 
sichtigung. Wenn  der  tatsächliche  Erfolg  noch  kein  so  bedeutender  ist, 
als  zu  erwarten  stände,  so  findet  dies  in  rein  äußerlichen  Ursachen  seine 
Begründung,  welche  an  dieser  Stelle  zu  erörtern  sich  erübrigt.  Das 
Zeichnen  war  während  zu  langer  Zeit  „technisches"  Fach,  als  daß  es  so 
schnell  den  vollen  Wert  eines  allgemein  bildenden  erhalten  könnte.  Wie 
verschieden  seine  Bewertung  im  Laufe  der  Jahre  gewesen,  auf  G-rund 
welch  zahlreicher  divergierender  Motive  die  Aufstellung  einer  exakten 
Methode  versucht  worden  ist,  davon  legt  eine  in  wenigen  Konturen  an- 
gelegte Skizze  Zeugnis  ab.  Eine  gedrängte  bis  zum  Jahre  1838  gehende 
Übersicht  über  die  Methodengeschichte  bietet  Hentschel.^)  F.  Worms 
liefert  in  Diesterwegs  Wegweiser  -)  eine  Kritik  jener  B,ichtungen  und 
vervollständigt  die  Methodengeschichte  bis  1875.  Wohl  gemerkt,  es 
handelt  sich  hier  um  den  Zeichenunterricht  an  Volksschulen.  Die  höheren 
Schulen  waren  mehr  oder  weniger  vom  Stande  der  jeweiligen  Kunst- 
richtung abhängig,  und  zwar  umsomehr,  als  an  höheren  Schulen  meist 
akademisch  gebildete  Maler,  jedenfalls  aber  an  Kunstakademien  aus- 
gebildete Zeichenlehrer  tätig  waren.  Die  gegenwärtige  Zeit  sieht  beide 
Strömungen  vereinigt.  Die  allgemein  gültigen  Gesichtspunkte  bei  Fest- 
legung der  Ziele  und  Pläne  sind  die  gleichen.  Verfolgen  wir  also  zu- 
nächst die  Entwicklung  des  Zeichenunterrichts  in  den  Volksschulen.^) 
Die  ersten  Bestimmungen  für  Elementarschulen  finden  sich  in  den 
Regulativen,  Ministerialerlaß  vom  1.,  2.  und  3.  Oktober  1854.  Der 
Zeichenunterricht  soll  dem  Bedürfnisse  des  praktischen  Lebens  angepaßt 
werden :  Fertigkeit  in  der  Handhabung  von  Lineal  und  Maß.  Die 
Provinziaibehörden  waren  nicht  immer  von  der  Notwendigkeit  des 
Zeichenunterrichts  überzeugt:  Siehe  das  E-egierungszirkular  in  Köln 
1861,  nach  dem  der  besondere  Unterricht  im  Zeichnen  wegfallen  soll. 
Andererseits  nennt  die  Regierung  zu  Oppeln  am  10.  November  1864  den 
Zeichenunterricht  „einen  wichtigen  Unterrichtszweig."  Die  Ausführungen 
lassen  ebenfalls  praktische  und  technische  Zwecke  erkennen,  sollen  aber 
auch  den  Ordnungs-  und  Schönheitssinn  der  Kinder  wecken.  Hinsicht- 
lich der  methodischen  Behandlung  des  Stofi'es  wird  besonders  Gewicht 
auf   das   Vorzeichnen   und   Erklären   gelegt,    ebenso    „langsames    Fort- 


1)  Hentschel,  Wegweiser,  4.  Auflage  1856. 

2)  Diesterwegs  Wegweiser.    3  Bände.   Essen,  bei  Baedeker.   5.  Auflage  1875.    (Hier 
Band  II,  Seite  381  fl), 

3)  Jahrbuch    für    den   Zeichenunterricht   (1.  Band)    und   Kunstunterricht   Band  I, 
Hannover  1905.    Seite  161  ff. 


—    135    — 

schreiten  und  genaues  Nachbilden"  verlangt.  Ferner  sollen  die  Indivi- 
dualität sowie  größeres  oder  geringeres  Talent  bei  den  Schülern  berück- 
sichtigt werden  (Individualpädagogik). 

Leider  blieb  es  bei  gutgemeinten  Verfügungen;  aus  vereinzelten 
Berichten,  z.  B.  aus  einem  Reisebericht  von  1865  über  die  Einrichtung 
einer  Seminarübungs schule,  ersieht  man,  daß  es  bei  äußerlichen  Maß- 
nahmen verblieb. 

1865  veröffentlichte  die  Unterrichtsbehörde  einen  umfangreichen 
Lehrplan,  in  welchem  in  bezug  auf  den  Zeichenunterricht  gesagt  wird: 
Er  solle  das  Auge  und  die  Hand  bilden,  und  wenn  die  Bildung  einer 
sichern  und  gewandten  Hand  auch  sein  nächstes  Ziel  sei,  solle  er  doch 
zugleich  auf  jeder  Stufe  mit  geeigneten  Sprechübungen  verbunden 
werden.  Die  Aufgabe  dieser  Besprechung  ist,  das  Kind  zu  einer  klaren 
Erkenntnis  und  sichern  Unterscheidung  der  Formen  und  Maße  der 
Dinge,  die  seine  Umgebung  erfüllen,  zu  erziehen.  Weiter  wird  das 
gedankenlose  Abmalen  von  allerlei  Vorlageblättern  ausgeschlossen. 

Wie  nahe  kommt  doch  bereits  diese  Verfügung  den  modernen  Lehr- 
plänen ! 

In  späteren  Erlassen  wird  darauf  hingewiesen,  daß  die  Begabteren 
unter  den  Schülern  zur  perspektivischen  Betrachtung  und  Darstellung 
einfacher  geometrischer  Körper  angeleitet  werden  sollen. 

1870  wird  dem  Zeichenunterricht  von  der  Königlichen  Unterrichts- 
behörde eine  ganz  besondere  Aufmerksamkeit  geschenkt.  Durch  die 
Mißerfolge  des  deutschen  Kunstgewerbes  auf  der  Weltausstellung  in 
Paris  im  Jahre  1869  kam  man  zu  der  Einsicht,  ein  rationell  erteilter 
Zeichenunterricht  werde  diese  Niederlage  beseitigen  helfen.  Die  damals 
gehaltenen  Vorträge  und  die  Verhandlungen  seitens  der  Regierung  lassen 
gründliche  Reformvorschläge  erkennen,  die  sich  in  manchen  Punkten  mit 
den  heutigen  Grrundsätzen  decken;  nur  trat,  wie  zu  erwarten  war,  das 
Nützlichkeitsprinzip  zu  sehr  in  den  Vordergrund.  „Der  Zeichenunterricht 
soll  zur  künstlerischen  Darstellung  führen,  indessen  soll  der  Volksschul- 
unterricht nur  grundlegend  wirken."  „Verständnis,  Geschmack  und 
Neigung  sollen  gefördert  werden."  Ferner  werden  viele  technische 
Ratschläge  (Zeichenmaterial,  Körperhaltung  usw.  betreffend)  erteüt. 

In  einer  Verfügung  vom  6.  Mai  1872  (Regierung  in  Merseburg)  heißt 
ein  Satz :  Jede  Aufgabe  muß  vollständig  zum  geistigen  Eigentum 
des  Schülers  geworden  sein,  so  daß  er  dieselbe  auch  nach  Entfernung 
der  Vorlage  in  gleich  guter  Ausführung  und  möglichst  richtig  zu  lösen 
imstande  ist,  und  jede  ähnliche,  gleich  schwierige  Aufgabe  nach  der- 
selben Methode  zu  lösen  vermag.  —  Ein  Satz,  der  auch  in  den  heutigen 
Lehrplänen  stehen  könnte. 

10* 


—    136    — 

Die  Falkschen  Bestimmungen  vom  15.  Oktober  1872,  die  für  den 
Unterricht  im  Allgemeinen  von  einschneidender  Bedeutung  waren,  hielten 
sich  betreffs  des  Zeichenunterrichts  an  die  früheren  Bestimmungen.  Man 
blieb  bei  Lineal,  Maß  und  Zirkel.  Der  am  meisten  in  die  Augen  fallende 
Fortschritt  war  die  Festlegung  bestimmter  Stunden  für  den  Zeichen- 
unterricht. 

1875  erschien  das  Flinzersche  Lehrbuch  ^)  über  den  Zeichenunterricht. 
Obwohl  dasselbe  von  der  Unterrichtsverwaltung  nicht  besonders  empfohlen 
wurde,  hat  es  bei  den  Vorschriften  für  die  Lehrpläne  im  Zeichenunterricht 
eine  ausschlaggebende  Rolle  gespielt.  F.  sucht  frischeres  Leben  in  die 
Nachzeichenmethode  zu  bringen ;  er  will  den  inneren  Zusammenhang  und 
die  logische  Entwickelung  der  zur  Darstellung  gelangenden  Formen  klar 
gelegt  wissen.  Wenn  auch  vieles  in  dem  Lehrbuche  über  die  Leistungs- 
fähigkeit der  Volksschule  hinausgeht,  so  haben  die  Lehrer  doch  mancher- 
lei Anregung  aus  ihm  erhalten. 

Nun  folgte  eine  Zeit  der  Erhebungen  und  Besprechungen,  die  schließ- 
lich zur  Einführung  der  Dr.  Stuhlmannschen  Methode  führten.  1887 
(Minist.  Erlaß  vom  20.  Mai)  wird  der  Beginn  des  Zeichenunterrichts  mit 
dem  2,  Schuljahr  festgesetzt  (2  wöchentliche  Halbstunden).  Vom  3.  Schul- 
jahr ab  2  Stunden  wöchentlich  Netzzeichnen.  Aufgabe :  TJbung  der  Hand 
Entwicklung  des  Auffassungsvermögens,  ferner  Anregung  des  Verständ- 
nisses und  des  Vorstellungs Vermögens  für  einfache  ebene  Formen.  „Alle 
Formen  werden  vom  Lehrer  entweder  an  der  Schultafel  ganz  oder  teil- 
weise entwickelt  und  nur  mündlich  beschrieben."  Im  4.  bis  6.  Schuljahr 
soll  freies  Zeichnen  ebener  Gebilde  ohne  Netzvordruck  betrieben  werden, 
(regelmäßige  Figuren,  gerad-  und  kreislinig  begrenzte  und  krummlinige 
Figuren)  und  zwar  zunächst  im  Klassen-,  später  im  Abteilungsunterricht. 
Wesentlich  Neues  brachten  die  Bestimmungen  für  die  Oberstufe;  an- 
geordnet wird  das  Zeichnen  nach  der  Wirklichkeit.  Die  Fähigkeit, 
Erscheinungen  körperlicher  Gegenstände  aufzufassen,  soll  besondere  Be- 
rücksichtigung erfahren.  (Geometrische  Körper,  Gipsmodelle).  Einzel- 
unterricht. Die  Schüler  sollen  Sicherheit  im  genauen  Auffassen  und 
richtigen  Darstellen  des  Umrisses  erlangen  und  hiernach  auch  zur  Be- 
obachtung und  Wiedergabe  der  Beleuchtungserscheinungen  einfacher  körper- 
licher Gegenstände  angeleitet  werden.  Zum  Gebrauch  für  den  Lehrer 
erschien  auf  Veranlassung  der  Unterrichtsbehörde  ein  Leitfaden  bei 
Spemann-Stuttgart.  Vielleicht  ist  in  der  sich  hieraus  entwickelnden 
Kopiermethode  ein  Grund  für  die  Strömung  zu  suchen,  welche  gegen 
die   Stuhlmannsche  Methode    einsetzte.     Die  Absicht   der   Behörde  war 


1)  Prof.  Fedor  Flinzer,    Lehrbuch  des  Zeichenunterrichts    an    deutschen  Schulen. 
Bielefeld  1903.    Velhagen  und  Klasing. 


I 


—     137     — 

gut,  aber  an  der  ungenügenden  Vorbildung  der  Lelirpersonen ,  an  ver- 
schiedenen äußerlichen  Umständen  (Lehrmitteln,  Zeichensälen  etc.)  schei- 
terten die  erhofften  Erfolge.  Man  gewann  allmählich  die  Erkenntnis, 
daß  auf  diesem  Wege  wenig  zu  erreichen  sei,  und  mit  der  Reform  des 
Zeichenunterrichts  an  den  höheren  Schulen  sollte  es  zugleich  zu  einer 
gründlichen  Umgestaltung  des  Volksschulzeichenunterrichts  kommen. 

1901  erschienen  die  Lehrpläne  für  die  höheren  Unterrichtsanstalten, 
ein  Jahr  später  ein  neuer  Lehrplan  für  die  Volksschulen,  jedoch  ohne 
daß  die  allgemeine  Einführung  verfügt  wurde.  Erst  die  Verfügung  vom 
29.  Februar  1904  durfte  mit  der  Einführung  des  neuen  Planes  beginnen. 

Bevor  wir  auf  die  grundlegenden  Gesichtspunkte  des  neuen  Lehr- 
plans eingehen,  skizzieren  wir  noch  in  gedrängter  Kürze  die  Greschichte 
des  Zeichenxmterrichts  an  den  höheren  Lehranstalten: 

Wie  bereits  erwähnt,  wurde  hier  der  Unterricht  meist  von  Künstlern 
im  Nebenfach  erteilt,  so  daß  er  trotz  der  Verfügungen  abhängig  von  der 
jeweiligen  Kunstrichtung  blieb. 

Wilhelm  von  Humboldt  (Brief  vom  19.  Oktober  1809),  bemerkt,  daß 
der  Zeichenunterricht  unvollkommen  erteilt  werde,  und  es  an  einer 
sicheren  Methode  mangele.  Höchstens  wird  eine  gewisse  Fertigkeit  er- 
langt, welche  für  die  allgemeine  Bildung  nur  von  geringem  Nutzen  ist. 
An  eine  Bildung  des  Schönheitsgefühls  und  -geschmacks  sei  gamicht 
zu  denken. 

In  einer  Zirkularverfügung  des  Ministers  vom  14.  März  1831  heißt 
es,  daß  dem  Zeichenunterricht  an  vielen  Anstalten  bedeutende  Hinder- 
nisse im  Wege  ständen;  es  wird  daher  dem  Direktor  und  den  Aufsichts- 
behörden empfohlen,  ihm  die  nötige  Aufmerksamkeit  zuzuwenden.  Hier 
wird  schon  bestimmt:  Der  Zeichenunterricht  soll  in  zwei  aufeinander 
folgenden  Stunden  erteilt  werden.     (Heute!) 

In  dem  erwähnten  Erlasse  finden  sich  auch  noch  andere  wohlgemeinte 
Forderungen  vor,  die  heute  entsprechend  vertieft  aufgenommen  sind. 
Jedoch  darf  bezweifelt  werden,  daß  sie  in  größerem  Umfange  zur  Aus- 
führung gelangt  sind,  da  spätere  Verfügungen  dieselben  Mängel  zur 
Sprache  bringen. 

1859  am  9.  Oktober  erließ  der  Minister  für  Realschulen  ein  Reglement: 
^der  Zeichenunterricht  solle  auch  zu  einer  gründlichen  Beschäftigung  mit 
den  G-egenständen  der  Natur,  der  Technik  und  der  Kunst  vorbereiten.'' 
„Richtigkeit  der  Auffassung,  Schärfe  der  Konturen,  Genauigkeit  und 
Sauberkeit  der  Ausführung  sind  die  Hauptsache;  Anwendung  von  Farben 
ist  nur  in  seltenen  Fällen  zu  gestatten.''  1863  erschienen  neue  ein- 
gehende Bestimmungen  für  den  Zeichenunterricht.  Er  wurde  als  all- 
gemeines   Bildungsmittel   für    die   Jugend   anerkannt.     Auf  den    „Stand 


—    138     — 

der  Kunst  und  der  Industrie"  wird  Rücksicht  genommen.  Methodisch 
wichtig  sind  folgende  Bemerkungen:  Allmähliche  Folge  vom  Leichten 
zum  Schweren  unter  Vermeidung  pedantischer  Einförmigkeit.  Anleitung 
zum  verständigen  Anschauen  der  Natur  und  der  Meisterwerke  der 
bildenden  Kunst  durch  planmäßige  Übungen  in  der  Auffassung  der 
charakteristischen  Formen  der  Dinge.  Das  Zeichnen  soll  nicht  mecha- 
nische Handfertigkeit,  sondern  ein  auf  inneres  Verständnis  gegründetes 
Können  sein.  "Wenn  man  diese  und  ähnliche  Leitsätze  liest,  so  ist  es 
erstaunlich ,  wie  bei  derartig  zweckmäßigen  Vorschriften  der  Zeichen- 
unterricht bis  in  die  neueste  Zeit  hinein  auf  so  niederer  Stufe  stehen 
bleiben  konnte.  Am  31.  März  1882  erschienen  neue  Lehrpläne.  Das 
Zeichnen  nach  lebenden  Pflanzen  soll  geübt  werden.  Zeichnen  nach 
kunstgewerblichen  Gregenständen ,  Skizzieren  nach  Ornamenten,  Dar- 
stellung wirklicher  Gegenstände  (Maschinen-  und  Architekturteile)  lassen 
erkennen,  daß  besonders  praktische  Gresichtspunkte  bei  der  Aufstellung 
des  Planes  maßgebend  waren. 

Die  im  Jahre  1892  erschienenen  Lehrpläne  geben  zumeist  äußerliche 
Neuerungen  an :  Stundenzahl  etc.  Methodisch  bemerkenswert  ist  die 
Anweisung,  daß  durch  geeignete  Besprechungen  auf  das  Verständnis 
der  Form  und  Farbe  hingewirkt  werden  soll. 

So  war  im  Laufe  fast  eines  Jahrhunderts  eine  durchgreifende  Reform 
des  Stoffes  und  der  Methode  auf  natürlicher,  der  kindlichen  Psyche 
entsprechender  Grundlage  nicht  zustande  gekommen.  Neben  das  anfangs 
geübte  Kopiersystem  traten  als  Vorlagen  Gipsmodelle,  kunstgewerbliche 
Gegenstände  etc.  Man  ging  von  der  abstrakten  Linie  aus ,  und  stieg 
zu  Körpern  auf.  So  befand  man  sich  im  Prinzip  immer  im  Gegensatz 
zu  den  Forderungen  bedeutender  Pädagogen  früherer  Zeiten,  von  denen 
die  Grundsätze  vertreten  waren,  man  müsse  von  der  Gesamterscheinung 
der  Dinge  ausgehen  (Rousseau)  und  das  Kind  selbst  beobachten  und 
wiedergeben  lassen. 

Vorbereitet  war  jene  neue  (alte!)  Strömung  durch  Georg  Hirth 
und  Konrad  Lange  ^).  Die  Hamburger  Lehrervereinigung  machte  für 
dieselbe  Propaganda  durch  Herausgabe  verschiedener  Veröffentlichungen, 
unter  denen  die  wichtigste  das  "Werk  von  Liberty  Tadd,  die  künstlerische 
Erziehung  der  Jugend^),  war. 

1)  Georg  Hirth,  Ideen  über  Zeichenunterricht  usw.  München  1894.  Konrad 
Lange,  Das  Wesen  der  Kunst.    2  Bde.    Berlin  1901. 

2)  J.  Liberty  Tadd,  Neue  Wege  zur  künstlerischen  Erziehung  der  Jugend. 
Leipzig  1900.     R.  Voigtländers  Verlag. 

Das  vorliegende  Buch  ist  eine  Übersetzung  des  1899  in  Amerika  und  England  er- 
schienenen: New  Methods  in  Education  etc.  by  J.  Liberty  Tadd,  Director  of  the  Public. 


—    139    — 

Es  wirkte,  trotz  seiner  Übertreibangen  und  Unredlichkeiten  (man 
warf  ihm  vor.  Flinzersche  Zeichnungen  kopiert  zu  haben),  äußerst  an- 
regend. Andere  Publikationen  folgten;  immer  wieder  wurde  darauf 
hingewiesen,  daß  der  Zeichenunterricht  dem  geistigen  Standpunkte  des 
Kindes  anzupassen  sei,  daß  er  individuell  gehandhabt  werden  müsse. 
Die  IJnterrichtsbehörde  ließ  Erhebungen  anstellen  und  ernannte  Eevisoren 
des  Zeichenunterrichts.  Der  Eevisionsbefund ,  im  Dezember  1900  ver- 
öffentlicht, war  ganz  vom  Hauche  des  neuen  Geistes  durchweht.  Im 
Februar  1901  erschienen  die  neuen  Lehrpläne  und  am  3.  Aprü  1902  die 
dazu  gehörigen  „Ausführungsbestimmungen " .  Die  leitenden  Grundsätze 
sind  für  Volksschule  und  höhere  Lehranstalt  die  gleichen.  Ihr  Ziel  ist: 
Die  Schüler  sollen  befähigt  werden,  die  Xatur  und  Gegenstände  ihrer 
Umgebung  nach  Form  und  Farbe  zu  betrachten  und  das  Resultat  ihrer  Be- 
obachtungen einfach  und  klar  darzustellen.  Damit  ist  eine  Xeugestaltung 
des  Zeichenunterrichts  von  Grund  auf  eingeleitet.  Das  früher  vorherr- 
schende abstrakte  Element  ist  endgültig  verbannt,  und  die  dem  Kinde 
näher  stehende  „farbige"  Natur  zum  Gegenstande  der  Betrachtung 
geworden.  Auch  das  Lehrverfahren  paßt  sich  der  psychischen  Veran- 
lagung des  Kindes  an:  es  wird  vom  Ganzen  ausgegangen,  ein  analy- 
sierendes Sehen  verlangt,  klare  Vorstellungen  sollen  gebildet  mid  mit 
einfachen  Strichen  dargestellt  werden.  Hinzu  tritt  Zeichnen  und 
Skizzieren  vor  der  Katur.  Es  gehört  nicht  in  den  Rahmen  dieser  ein- 
leitenden Übersicht,  die  Vorteile  der  neuen  Zeichenmethode  darzulegen. 
Als  Hauptzug  tritt  in  allen  Bestimmungen  hervor :  Entwickelung  des 
Formen-  und  Farbensinnes  in  einer  der  kindlichen  Xatur  entsprechenden 
Weise.  Dadurch  wird  der  Zeichenunterricht  seiner  untergeordneten 
Stellung  entrückt  und  tritt  in  die  Reihe  der  allgemein  bilden- 
den Fächer. 

Läßt  nun  auch  die  Behörde  es  sich,  angelegen  sein,  durch  Informa- 
tionskurse, Lehrmittel  etc.  die  Grundsätze  der  neuen  Methode  zu  ver- 
breiten, sind  femer  die  großen  Gesichtspunkte  des  neuen  Lehrverfahrens 
festgelegt,  so  müssen  doch,  zwecks  Ausbauung  und  Ergänzung  desselben, 
Einzelforschungen  über  die  Elemente  des  Vorganges  beim  Zeichnen  unter- 
stützend hinzutreten.  Als  ein  in  dieser  Richtung  sich  vollziehender 
Versuch  mögen  die  folgenden  Untersuchungen  betrachtet  werden. 

School  of  Industrial  Art  Philadelphia  Xew-York,  N.  Y.,  Orange  Jndd  Company  London, 
Sampson  Low,  Marston  &  Co.     1899. 

Die  Übersetzung  ist  nicht  wörtlich,  sie  kürzt  und  faßt  zusammen.  Die  Be- 
arbeitung ist  auf  deutsche  Verhältnisse  zugeschnitten. 


—    140    — 

Ziel  nnd  Methode  der  Torliegenden  Unter snchnn gen. 

Begründung  der  Methode.  Um  in  die  psychologische  Analyse 
des  zeichnerischen  Aktes  einzudringen,  stellten  sich  die  vorliegenden 
Versuche  zunächst  ein  Ausgangsproblem,  durch  dessen  Behandlung  einige 
der  wichtigsten  Partialvorgänge  des  Zeichnens  mit  Bezug  auf  ihren  An- 
teil an  dem  Zustandekommen  des  zeichnerischen  Aktes  geprüft  werden 
sollten.  Um  dies  klar  zu  machen,  mögen  einige  allgemeine  Überlegungen 
über  die  beim  Zeichnen  beteiligten  psychischen  Partialprozesse  voraus- 
geschickt werden.  Sie  sollen  uns  zugleich  zur  Begründung  unsrer  experi- 
mentellen Methode  dienen.  Zugleich  sei  bemerkt,  daß  diese  hier  voraus- 
geschickte Analyse  des  zeichnerischen  Aktes  sich  zum  Teil  erst  aus  den 
folgenden  Versuchen  selbst  ergab. 

Das  Zeichnen  setzt  sich  —  wenn  es  Nachzeichnen,  nicht  G-edächtnis- 
zeichnen  ist  —  aus  zwei  ganz  verschiedenen  Teilprozessen  zusammen, 
die  beide  wieder  sehr  kompliziert  sind;  es  besteht  aus  einem  optisch- 
wahrnehmenden Teil  und  der  eigentlichen  graphischen  Wiedergabe  des 
aufgefaßten  und  innerlich  verarbeiteten  optischen  Bildes.  Das  „optische 
Bild"  kann  auch  kinästhetische  Elemente  enthalten,  wenn  der  Zeichner 
beim  Sehen  die  Vorlage  oder  das  Objekt  in  Gedanken  umfahren,  nach- 
gezeichnet oder  geradezu  mit  Augenbewegungen  verfolgt  hat.  Wir 
wollen  von  diesen  kinästhetischen  Empfindungs-  und  Vorstellungs- 
elementen (Bewegungsempfindungen,  Muskel-,  Sehnen-  und  Gelenk- 
empfindungen und  ihren  Vorstellungen)  aber  vorläufig  einmal  absehen, 
weil  sie  bei  den  meisten  Individuen  hinter  die  optischen  Elemente  zurück- 
treten nnd  bei  unseren  Versuchen  künstlich  ausgeschlossen  wurden.  Be- 
trachten wir  also  zunächst  den  optisch  wahrnehmenden,  dann  den 
„graphischen"  Teilprozeß  der  zeichnerischen  Tätigkeit.  Die  optische 
Wahrnehmung  setzt  sich  aus  Elementen  zusammen,  welche  durch  äußere 
Reize  erzeugt  sind.  Wenn  sie  im  Bewußtsein  apperzipiert  wird,  tritt 
sie  in  Beziehung  zu  dort  enthaltenen  Vorstellungen  und  zwar  zu  solchen, 
die  mit  ihr  in  associativer  Verbindung  stehen  (Ziehen).  So  enthält  die 
Wahrnehmung  ein  objektives  Moment  (Empfindungen  und  räumlich- 
zeitliche Eindrücke,  die  von  äußern  Reizen  ausgehen)  und  ein  subjek- 
tives Moment  (Vorstellungen  aus  den  früher  erworbenen  Erfahrungen). 
Diese  simultane  einzige  Wahrnehmung  nennt  Wundt  eine  Assimilation. 
Durch  diese  wird  nun  von  dem  motorischen  Zentrum  aus  die  Hand 
in  Bewegung  gesetzt,  um  die  im  Bewußtsein  vorgestellte  Wahrnehmung 
zu  graphischer  Darstellung  gelangen  zu  lassen.  Je  mehr  nun  bei  dieser 
das  subjektive  Moment  (Assoziation  bekannter  Vorstellungen)  vorherrscht, 
desto  mehr  wird  die  objektive  Empfindung  beeinflußt.    Schon  diese  erste 


—     141     — 

psychologische  Überlegung  zeigt,  daß  das  Zeichnen  ein  sehr  komplizierter 
psTchophysischer  Akt  ist.  Seine  beiden  Seiten,  der  optisch  -  auffassende 
und  der  motorisch  -  graphische  Prozeß  lassen  sich  aber  noch  weiter  in 
eine  Anzahl  Partialvorgänge  zerlegen,  die  beim  Zeichnen  stets  zusammen- 
wirken, nämlich:  1.  in  einen  rein  optischen  Prozeß,  die  Tätigkeit 
des  Auges  (der  Augen),  der  sich  wieder  zusammensetzt  aus  dem  diop- 
trischen  Prozeß:  der  Abbildung  des  gesehenen  Objektes  auf  der  Netz- 
haut, und  dem  motorischen  Prozeß  der  Einstellung  der  Augen  auf  den 
jeweils  gewählten  Fixationspunkt  und  die  Augenbewegungen,  die  zum 
Auffassen  eines  Objektes  nötig  sind  mittelst  der  Augenmuskeln.  2.  An 
diesen  optischen  Prozeß  schließt  sich  der  passiv  aufnehmende  Emp- 
findungsprozeß, durch  den  uns  die  räumlich  (und  zeitlich)  ge- 
ordneten Empfindungen  an  Helligkeiten,  Farben,  linearer  oder  flächen- 
hafter  Ausbreitung,  das  Neben-  und  Hintereinander  der  Objekte  zum 
Bewußtsein  kommen,  und  der  durch  Bewegungsempfindungen  des  Auges, 
unter  Umständen  auch  durch  Bewegungsempfindungen  der  nachzeichnen- 
den Handbewegungen  begleitet  sein  kann.  3.  Die  Empfindungen  machen 
die  Vor  Stellungsdispositionen  früher  erworbener  optischer  und 
kinästhetischer  Vorstellungen,  die  ihnen  ähnlich  oder  mit  ihnen  assoziiert 
sind,  aktuell,  auf  Grund  dessen  bringt  das  wahrnehmende  Individuum 
Elemente  früher  erworbener  Gresichts-  und  Bewegungsvorstellungen  zu 
den  objektiv  gegebenen  Eindrücken  hinzu,  mittelst  deren  das  objektiv 
Gegebene  erst  „aufgefaßt",  wiedererkannt,  identifiziert  und  interpretiert 
wird.  Eine  gesehene  Form  oder  Farbe  fassen  wir  auf  Grund  dieser 
reproduzierten  Vorstellungen  früher  bekannter  Formen  und  Farben  als 
diese  bestimmte  einzelne  Form  und  Farbe  auf.  4.  Diese  „hinzuwahr- 
genommenen" oder  apperzipierten  Vorstellungen  ( apperzipieren  heißt 
hinzuwahrnehmen )  assimilieren  sich  unmittelbar  mit  den  passiv 
aufgenommenen  Eindrücken,  die  damit  eigentlich  zu  aktiv  aufgenommenen 
werden;  sie  verschmelzen  mit  ihnen  zu  einem  für  unser  Bewußtsein 
völlig  einheitlichen  Ganzen  (Wundts  Assimüationsprozeß),  wodurch  erst 
unsre  Vorstellung  oder  Auffassung  von  dem  gesehenen  Objekt  konsti- 
tuiert wird.  5.  Hierzu  können  in  zweiter  Linie  sekundäre  Re- 
produktionen von  früher  erworbenen  Vorstellungen  (ja  sogar  Ur- 
teile und  Beurteilungen)  kommen,  die  in  entfernteren  assoziativen 
Beziehungen  zu  dem  aufgefaßten  Objekt  stehen,  und  mit  denen  unsre 
Vorstellungstätigkeit  in  freier  Weise  mehr  oder  weniger  von  dem 
Objekt  abschweift  und  es  in  Beziehungen  zu  anderen  Wahrnehmungen 
und  Vorstellungen  bringen  kann.  6.  In  allen  diesen  Vorgängen  ist  zu- 
gleich unsre  Aufmerksamkeit  in  eigenartiger  Weise  tätig,  haupt- 
sächlich  in    der   Form,    daß    sie    sich   auf  die   gegebenen   Eindrücke 


—     142    — 

oder  einem  Teil  derselben  richtet.  Hierdurch  werden  diese  „beachtet, 
für  unser  Bewußtsein  bevorzugt,  während  die  nicht  beachteten  gehemmt 
werden.  Die  beachteten  Eindrücke  bestimmen  zugleich,  welche  Assi- 
milationsvorstellungen jeweils  im  Bewußtsein  vorherrschen.  Es  sind 
immer  die,  welche  durch  die  beachteten  Partialeindrücke  reproduziert 
werden.  7.  Es  ist  nun  besonders  zu  beachten,  daß  mit  diesen  ersten 
sechs  Bestimmungen  nur  die  allgemeinen  Teilprozesse  der  Wahrnehmung 
ihrer  Art  nach  angegeben  sind,  was  uns  damit  noch  vollständig  fehlt, 
ist  der  Einblick  in  die  Art  und  Weise,  wie  diese  Prozesse  zusammen- 
wirken müssen  um  im  Dienste  einer  vollständigen  und  genauen 
Beobachtung  des  Objektes  zu  arbeiten.  Die  psychologische 
Analyse  der  Wahrnehmung  begnügt  sich  zumeist  mit  der  allgemeinen 
Angabe  ihrer  Partialvorgänge,  sie  beachtet  dagegen  die  Frage  nicht, 
wie  unsre  Wahrnehmung  im  Dienste  eines  bestimmten  Zweckes 
arbeitet,  z.  B.  des  Zweckes  einer  vollständigen  und  genauen  Beobachtung 
eines  Objektes  und  seiner  zeichnerischen  Wiedergabe  oder  Darstellung. 
Eben  dies  ist  die  Aufgabe  einer  psychologischen  Analyse  des  Zeich- 
nens, denn  beim  Zeichnen  arbeitet  unsre  Wahrnehmung  im  Dienste 
des  uns  vorschwebenden  Zweckes:  das  Objekt  so  vollständig  und  so 
genau  zu  erfassen,  daß  es  in  allen  seinen  Teilen  graphisch  dargestellt 
werden  kann.  Es  ist  daher  zunächst  notwendig  sich  darüber  klar  zu 
werden,  wie  die  bisher  genannten  Teilvorgänge  der  Wahrnehmung  zu- 
sammen arbeiten  müssen  und  was  zu  ihnen  etwa  noch  hinzukommen 
muß ,  damit  die  Wahrnehmung  zu  einer  vollständigen  und  genauen 
Beobachtung  des  Objektes  wird,  die  das  Objekt  so  analysiert,  daß  es 
gezeichnet  werden  kann.  Betrachten  wir  deshalb  den  Vorgang  einer 
planmäßigen  analysierenden  Beobachtung  eines  Objektes,  und  sehen 
wir  zu,  wie  dabei  die  genannten  Partialvorgänge  der  Wahrnehmung 
arbeiten. 

Bei  plänmäßiger  zielbewußter  analysierender  Wahrnehmung  oder 
Beobachtung,  wie  sie  beim  Zeichnen  stattzufinden  hat,  tritt  der 
Wahrnehmende  sogleich  mit  einer  bestimmten  Absicht  oder  einem 
vorgefaßten  Ziel  der  Beobachtung  an  das  Objekt  heran  (die  „Absichts- 
oder Zielvorstellung"  der  Beobachtung).  Bei  dieser  wirkt  ein  eigen- 
tümliches Willensmoment  mit,  die  „Einstellung"  auf  Beobachtung.  Wir 
haben  z.  B,  die  Absicht,  die  Konturen,  oder  den  Wölbungsschatten  oder 
die  Farben  der  Schatten  zu  beobachten  usw.  Schon  durch  diese  vor- 
gefaßte Absicht  wird  der  ganze  Wahrnehmungsprozeß  in  eine  bestimmte 
Bahn  geleitet,  indem  unter  den  zahllosen  möglichen  Elementen  der 
Auffassung,  die  uns  zum  Bewußtsein  kommen,  eine  bestimmte,  dieser 
Absicht  entsprechende  Auswahl  getroffen  wird.     Die  Aufmerksamkeit 


—    143    — 

richtet  sich  in  erster  Linie  auf  das  von  dem  Objekt,  was  im  Sinne 
dieser  Absicht  ist,  entweder  auf  Konturen  oder  auf  Farben,  oder  auf 
Modellierung  des  Objektes  u.  s.  f.  Damit  wird  auch  sogleich  der  plan- 
mäßige Charakter  der  ganzen  Wahrnehmung  eingeleitet.  Indem  nun  die 
Aufmerksamkeit  sich  —  entsprechend  der  Absicht  oder  dem  Ziel  der 
Beobachtung  —  auf  einen  bestimmten  Teil  der  gegebenen  Eindrücke 
richtet,  werden  nun  auch  die  Reproduktions-  und  Assimilationsprozesse 
bestimmt;  diejenigen  Vorstellungen  tauchen  auf  und  assimilieren  sich 
mit  den  Eindrücken,  welche  teils  den  Eindrücken  selbst,  teils  dem  Be- 
obachtungsziel entsprechen.  Hierdurch  wird  wieder  nur  ein  Teil  der 
Eindrücke  zur  Auffassung  kommen,  während  andere  unbeachtet  oder 
gehemmt  bleiben,  z.  B.  nur  Konturen  oder  nur  Farben  u.  s.  f.  In  allen 
diesen  FäUen  besteht  nun  die  Möglichkeit,  daß  die  „assoziativen  Faktoren", 
d.  h.  die  von  uns  zu  den  gegebenen  Eindrücken  hinzugebrachten  und  sich 
mit  ihnen  assimilierenden  Vorstellungen  über  die  Eindrücke  überwiegen, 
oder  auch,  daß  die  Eindrücke  über  die  Vorstellungen  überwiegen.  Im 
ersten  Falle  nimmt  die  Wahrnehmung  einen  mehr  subjektiven,  im  zweiten 
einen  mehr  objektiven  Charakter  an. 

Nunmehr  läßt  sich  klar  machen,  worauf  es  beruht,  daß  der  Wahr- 
nehmnngsprozeß  (die  Beobachtung)  mehr  oder  weniger  vollständig 
und  mehr  oder  weniger  genau  sein  kann.  Er  ist  um  so  voll- 
ständiger, je  mehr  einzelne  Schritte  die  sukzessiv  die 
einzelnen  Teile  oder  Eigenschaften  des  beobachteten  Objektes  fixierende 
Aufmerksamkeit  und  die  sich  an  sie  anschließende  assimilierende  Vor- 
stellungstätigkeit tut.  Fixiert  meine  Aufmerksamkeit  nur  den  Gesamt- 
eindruck der  Form,  so  reproduziere  und  assimiliere  ich  auch  nur  Form- 
gesamtvorstellungen und  gewinne  nicht  mehr  in  meiner  Auffassung  als 
eine  unbestimmte  Gresamtvorstellung  des  Objektes,  der  zahlreiche  Einzel- 
heiten fehlen  werden.  Wandert  hingegen  meine  Aufmerksamkeit  und 
das  assimilierende  Vorstellen  in  einer  Reihe  sukzessiver  Auffassungs- 
akte, Schritt  für  Schritt  auf  alle  Einzelheiten  der  Form  des  Objektes, 
so  kommen  mir  auch  sukzessiv  alle  Details  seiner  Form  zum  Bewußtsein. 
Dieser  Teil  der  Wahrnehmung  ist  das  eigentlich  analysierende  Sehen. 
Es  besteht  also  darin,  daß  ich  die  fixierende  Aufmerksamkeit  und  die 
ihr  folgende  assimilierende  und  auffassende  Tätigkeit  möglichst 
viele  einzelne  Schritte  tun  lasse,  um  mir  alles  an  dem 
Objekt  bemerkenswerte  nacheinander  zum  Bewußtsein  zu  bringen.  Hier- 
zu muß  man  aber  weiter  beachten,  daß  auch  die  fixierende  Aufmerksam- 
keit bei  ihrem  sukzessiven  Durchwandern  des  Objektes  beständiger 
Leitung  und  fortwährender  Antriebe  bedarf,  um  wirklich  alle  der 
direkten  Beobachtung  zugängliche  Eigenschaften  desselben  zu  erfassen. 


—     144    — 

Woher  stammen  diese  Antriebe?  Sie  stammen  zum  Teil  ans  den 
Absichts Vorstellungen  des  Beobachtenden,  d.  h.  wir  können  jederzeit 
bemerken,  daß  ein  Mensch  um  so  vollständiger  beobachtet,  je  mehr 
Gesichtspunkte,  je  mehr  Kenntnisse  und  Wissen  er  schon  hat,  wodurch 
er  seine  Beobachtung  leiten  lassen  kann.  Daraus  folgt,  daß  wir  Indivi- 
duen, denen  es  noch  an  Beobachtungs  zielen  mangelt,  diese  mit- 
teilen müssen.  Hierin  besteht  das  Eingreifen  des  Erziehers  in  die 
Beobachtung,  er  kann  dem  beobachtenden  Individuum  die  Gesichtspunkte 
der  Beobachtung  angeben  und  dadurch  dessen  Beobachtung  voll- 
ständiger und  reicher  machen.  Der  Antrieb  zu  sukzessiv  weiter- 
schreitender Beobachtung  stammt  aber  zum  Teil  aus  dem  loßen  all- 
gemeinen Entschluß,  der  „Einstellung"  auf  vollständige  Beobachtung. 
Wenn  nun  diese  allgemeine  Einstellung  keine  Gesichtspunkte  zur  Be- 
obachtung dem  vorhandenen  Wissen  entlehnen  kann,  so  kann  sie  sich 
auch  durch  das  Objekt  selbst  leiten  lassen.  Der  Wille  zur  Beobachtung 
erzeugt  dann  z.  B.  ein  Absuchen  des  Objektes  mit  den  Augen,  ein  Ab- 
tasten mit  der  Hand  und  wir  können  auf  diese  Weise  zur  Kenntnis  von 
Eigenschaften  des  Objektes  gelangen,  die  weit  über  unser  früheres  Wissen 
von  ihm  hinausgehen.  Es  ist  daher  pädagogisch  besonders  wichtig,  das 
Beobachten  nicht  nur  durch  Mitteilung  von  Gesichtspunkten  zur  Be- 
obachtung anzuregen,  sondern  auch  durch  Aufrechterhaltung  des  Willens 
zur  Beobachtung  und  das  eigentliche  Absuchen  des  Objektes. 

Hiermit  haben  wir  aber  erst  festgestellt,  wovon  die  Vollständig- 
keit der  Beobachtung  abhängt.  Von  dieser  unterschieden  wir  ihre 
Genauigkeit,  ihre  Treue  oder  „Objektivität".  Diese  letztere 
hängt  nun  auch  wieder,  zum  Teil  wenigstens,  von  der  Vollständigkeit 
ab,  denn  je  lückenloser  wir  ein  Objekt  analysierend  beobachten,  desto 
mehr  besteht  die  Möglichkeit,  daß  die  Beobachtung  treu  werde, 
oder  es  genau  erfasse.  Aber  die  Genauigkeit  der  Beobachtung  hängt 
nicht  allein  von  ihrer  Vollständigkeit  ab,  sondern  mehr  noch  von  dem 
Verhältnis,  in  welches  die  as  similierenden  Vor  Stellungen 
und  die  objektiv  gegebenen  Eindrücke  zueinander  treten. 
Überwuchern  die  assimilierenden  Vorstellungen  die  gegebenen  Eindrücke, 
so  nimmt  die  Wahrnehmung  einen  subjektiven  und  ungetreuen  Charakter 
an;  der  Wahrnehmende  bringt  sich  in  diesem  Falle  nicht  genau  zum 
Bewußtsein,  was  die  Natur  der  gegebenen  Eindrücke  ist,  oder  er  scheidet 
nicht  streng  genug  zwischen  subjektiven  Zutaten  und  Eindrücken,  oder 
er  überläßt  sich  zu  sehr  den  durch  die  Eindrücke  angeregten  sekundären 
Assoziationen  und  Reflexionen,  er  deutet,  interpretiert,  reflektiert  und 
urteilt  ohne  vorher  genau  gesehen  zu  haben.  Wenn  der  Wahrnehmende 
dagegen   seine  Vorstellungen  mehr   durch   die   objektiven  Eindrücke  be- 


—    145    - 

stimmen  läßt,  und  die  hinzugebrachten  Vorstellnngen  nur  verwendet,  um 
die  Eindrücke  richtig  aufzufassen,  so  nimmt  die  Wahrnehmung  objektiven 
Charakter  an  und  wird  „treu"  und  „genau".  Keine  der  beiden  Ver- 
haltungsweisen stellt  in  ihrem  Extrem  den  idealen  Fall  der  Beobachtung 
dar:  weder  das  absolute  Überwiegen  der  hinzugebrachten  Vorstellungen 
noch  die  vollkommen  passive  Hingabe  an  die  Eindrücke.  Denn  die 
erstere  ist  benachteiligt  durch  Ungenauigkeit,  die  letztere  dadurch,  daß 
die  Eindrücke  nicht  genug  in  Beziehung  gesetzt  werden  zu  den  übrigen 
Vorstellungen  und  Erkenntnissen  des  wahrnehmenden  Individuums.  Die 
Wahrnehmung  gewinnt  dann  den  Charakter  des  .beziehungslosen", 
nüchternen,  ideenarmen  Stehenbleibens  bei  dem  was  objektiv  gegeben 
ist.  Gerade  von  dem  Zeichner  verlangen  wir  aber,  daß  er  nicht  b  1  o  s 
sieht  was  da  ist  —  das  kann  nur  für  die  erste  Grundlegung  der 
zeichnerischen  Fähigkeiten  und  für  das  rein  technische  Zeichnen  genügen. 
SoD.  sich  das  künstlerische  Zeichnen  entwickeln,  so  muß  der  Zeichner 
ebensowohl  imstande  sein,  lückenlos  und  genau  zu  beobachten,  als 
sich  eine  eigene  Auffassung  von  den  Formen,  Farben,  den  Dingen, 
ihrer  räumlichen  Anordnung,  ihren  Stimmungswert,  ihrer  symbolischen 
Bedeutung  u.  a.  m.  zu  bilden,  d.  h.  psychologisch  gesprochen,  zu  dem 
analysierenden  Sehen  muß  eine  lebhafte  beziehende  und  kombinierende 
Tätigkeit  seiner  Phantasie  hinzutreten. 

Es  ist  wichtig  zu  bemerken,  daß  bei  der  Sinneswahrnehmung  alle 
die  bisher  genannten  Tätigkeiten  in  beständiger  Wechselwirkung 
zueinander  stehen.  So  ist  z.  B.  das  Schritt  für  Schritt  ein  Objekt 
analysierende  Sehen  stets  von  der  rein  optischen  Fixation  der  einzelnen 
Punkte  des  Objektes  begleitet:  hier  wirken  also  der  optische  and  analy- 
sierende Teil  des  Sehens  zusammen ;  und  ferner  muß  bei  jedem  einzelnen 
Schritt  der  fixierenden  Aufmerksamkeit  immer  wieder  ein  assimilierender 
und  auffassender  Prozeß  eintreten.  Von  der  Genauigkeit  der  optischen 
Fixation  hängt  die  Genauigkeit  der  sich  anschließenden  ideellen  Prozesse 
ab;  durch  die  einzelnen  Schritte  der  Aufmerksamkeit  werden  die  ein- 
zelnen Vorstellungen  des  Assimilationsprozesses  angereiht  und  je  mehr 
assimilierende  Vorstellungen  bei  dem  wahrnehmenden  Individuxmi  an- 
geregt werden,  desto  vollständiger  wird  wieder  die  Auffassung  dessen 
was  objektiv  gegeben  ist. 

Endlich  ist  noch  besonders  zu  beachten,  welche  Rolle  die  zu  den 
Eindrücken  hinzugebrachten  VorsteUangen  spielen.  Ein  Teü  derselben 
verschmilzt  unmittelbar  mit  den  gegebenen  Eindrücken,  assimiliert  sich 
ihnen  total  zu  einem  eiaheitlichen  Ganzen,  vermittelt  ihre  Auffassung 
und  macht  für  uns  „das  wahrgenommene  Objekt"  aus.  Ein  Teü  der 
apperzipierten  Vorstellungen  kann  aber  auch  in   ein  freieres  Verhältnis 


—    146    — 

zu  den  Eindrücken  treten.  Diese  können  wieder  eine  zweifache  Be- 
deutung haben.  Einerseits  bringen  uns  solche  Vorstellungen,  die  mit 
ähnlichen  Dingen  wie  dem  jetzt  beobachteten  assoziiert  sind,  ganz 
besonders  die  Verschiedenheit  des  gegenwärtigen  Objektes  von 
früher  gesehenen  zum  Bewußtsein  oder  Verschiedenheiten  des  gegen- 
wärtig gesehenen  Objektes  von  dem  Anblick,  den  es  uns  gewöhnlich 
bietet,  sie  assimilieren  sich  dann  dem  Objekt,  und  zugleich  treten  sie 
in  Gegensatz  zu  ihm.  Wir  haben  z.  B.  bisher  das  Wasser  eines  uns  be- 
kannten Flusses  stets  in  klarer  blaugrüner  Färbung  gesehen,  erblicken 
wir  ihn  dann  einmal  in  schmutzig  -  gelber  Färbung,  so  assimilieren  wir 
zwar  auch  diese  gelbe  Farbe  mit  dem  gegebenen  Eindruck,  zugleich  aber 
tritt  die  Vorstellung  des  Gelb  für  uns  in  Gegensatz  zu  dem  gewohnten 
Anblick,  es  stellt  sich  eine  Hemmung  der  Assimilation  ein  und  die  Vor- 
stellung wird  für  unser  Bewußtsein  betont,  sie  macht  uns  damit 
zugleich  auf  das  Neue  und  Eigenartige  an  dem  gegenwärtigen  Anblick 
aufmerksam.  Endlich  schließen  sich  —  wie  schon  erwähnt  wurde  — 
an  die  unmittelbar  mit  dem  Objekt  assimilierten  Vorstellungen  sekundäre 
Assoziationen  an,  durch  deren  Vermittelung  das  Objekt  von  uns  in 
Beziehung  zu  der  ganzen  Fülle  früher  erworbener  Vorstellungen  und 
Erkenntnisse  treten  kann.  Wir  deuten,  interpretieren  das  Objekt,  geben 
ihm  eine  „eigene  Auffassung".  Dieses  Spiel  der  sekundären  Assoziationen 
können  wir  als  eine  zu  dem  Assimilationsprozeß  hinzutretende  Tätigkeit 
unsrer  Phantasie  und  unsrer  Reflexion  bezeichnen.  Sie  vermittelt 
uns  zugleich  in  höherem  Sinne  das  ^Verständnis"  des  Objektes. 

8.  Dieser  ganze  einheitKche  und  doch  in  seiner  Zusammensetzung 
sehr  komplizierte  Prozeß  geht  beim  Zeichnen  in  mehr  oder  weniger 
großer  „Vollständigkeit"  der  graphischen  Ausführung  voraus.  Er  kann 
in  seiner  Zusammensetzung,  seinen  Bestandteilen  und  deren  Bedeutung 
für  den  ganzen  Prozeß  individuell  variieren.  Bei  dem  einen 
Individuum  bleibt  z.  B.  das  analysierende  Sehen  unvollständig  und  un- 
genau, bei  einem  anderen  wird  es  vollständig  und  genau;  ein  anderes 
beachtet  wenig,  aber  das  wenige  genau;  ein  Individuum  überläßt  sich 
voreilig  dem  Spiel  der  sekundären  Assoziationen  oder  seiner  Reflexion 
während  ein  anderes  mehr  bei  den  gegebenen  Eindrücken  stehen  bleibt, 
sich  aber  keine  eigene  Auffassung  der  Dinge  bildet. 

Je  nach  diesem  individuellen  Verhalten  des  wahrnehmenden  Teils 
des  zeichnerischen  Aktes  sind  auch  die  ideellen  Mächte,  welche  die 
Führung  der  Hand  übernehmen,  individuell  verschieden.  Bei  dem  einen 
Zeichner  läßt  sich  die  Hand  von  dem  treu  und  genau  erfaßten  Gesichts  - 
bild leiten,  bei  dem  andern  mehr  von  Phantasiezutaten  oder  Reflexion. 
Bei  dem  einen  Individuum  folgt  die  Hand  Punkt  für  Punkt  dem  genau 


—    147    — 

das  Objekt  analysierenden  Sehen,  bei  einem  andern  treten  assimilierende 
Vorstellungen  von  früber  gesehenen  ähnlichen  Objekten  oder  ein  erlerntes 
Schema  für  das  analysierende  Sehen  ein.  Endlich  kann  auch  bei  sehr 
motorisch  veranlagten  Individuen  die  Bewegungsvorstellung  den  nach- 
zeichnenden Bewegungen  oder  Augenbewegungen  dem  Gesichtsbild  gleich- 
wertig werden,  vielleicht  sogar  bisweilen  über  dieses  vorherrschen.  So 
ließen  sich  leicht  die  möglichen  individuellen  Unterschiede  der  zeichne- 
rischen Begabung  zum  Teil  schon  aus  dieser  allgemeinen  Analyse  der 
Partialvorgänge  des  Zeichnens  ableiten.  Aber  mit  dem  bloßen  Schema 
möglicher  Begabungsdifferenzen  können  wir  zwar  Licht  bringen  in 
das  Verständnis  der  wirklich  vorkommenden  zeichnerischen  Begabungs- 
typen, aber  wir  können  uns  den  Nachweis  der  vorkommenden  Typen 
nicht  ersparen.  Diesen  kann  uns  allerdings  die  experimentelle  Analyse 
bringen. 

9.  Zu  dem,  was  wir  soeben  als  die  Führung  der  Hand  durch  irgend 
einen  der  dominierenden  Teilvorgänge  des  ideellen  Teils  des  zeichne- 
rischen Aktes  nannten,  kommt  nun  ferner  bei  der  graphischen  Darstellung 
der  Objekte  die  beständige  innere  Kontrolle  über  die  ausführenden  Arm-, 
Hand-  und  Fingerbewegungen.  Wir  überwachen  die  ausführenden  Be- 
wegungen einerseits  mit  dem  Auge,  indem  wir  die  resultierende  Zeichnung 
und  ihre  Übereinstimmung  mit  dem  uns  vorschwebenden  Original  als 
Maßstab  für  die  Korrektheit  der  Bewegungen  benutzen  (ähnlich  wie 
uns  beim  Singen  der  hervorgebrachte  Ton  über  die  korrekte  Funktion 
der  Stimmbänder  orientiert);  zugleich  kontrollieren  wir  die  zeichnenden 
Bewegungen  mit  den  kinästhetischen  Empfindungen  (Muskel-,  Sehnen- 
und  Grelenkempfindungen). 

Diese  allgemeinen  Überlegungen  über  die  Analyse  des  Zeichnens, 
die  sich  schon  auf  die  im  Folgenden  zu  entwickelnde  experimentelle 
Analyse  stützen,  zeigen  jedenfalls,  daß  sowohl  die  Korrektheit  und  Origi- 
nalität der  Ausführung  der  Zeichnung  im  Allgemeinen,  wie  die  Art  der 
individuellen  zeichnerischen  Begabung  von  außerordentlich  verschiedenen 
Faktoren  abhängen  kann.  Nur  die  experimentelle  Analyse  vermag  uns 
nun  genauer  den  relativen  Anteil  dieser  einzelnen  Faktoren  oder 
Teiltätigkeiten  an  dem  Zustandekommen  einer  Zeichnung  und  an  den 
Begabungstypen  klar  zu  machen. 

In  den  folgenden  Versuchen  soll  zuerst  einmal  der  Anteil  einiger 
dieser  Partialphänomene  an  dem  Zustandekommen  des  Zeichnens  sowohl 
wie  an  der  individuellen  zeichnerischen  Begabung  experimentell  geprüft 
werden.  Der  Weg.  der  dazu  führen  kann,  ist  die  künstliche  Aus- 
scheidung eines  oder  des  andern  mitwirkenden  Phänomens.  Ich  ver- 
suchte  zunächst    eine    solche    Peirtialtätigkeit    auszuschalten,    die    auch 


-     148    — 

didaktisch  wichtig  ist,  nämlich  das  analysierende  Sehen  und  die 
mit  diesem  verbundene  analysierende  und  konstruierende  Auffassung 
des  gegebenen  Objektes.  Das  heißt  ich  versuchte  zuerst  einmal  fest- 
zustellen, wie  sich  der  Zeichner  verhält,  wenn  er  an  der  Analyse  ein- 
facher zu  zeichnender  Formen  gehindert  wird  und  sich  rein  auf  das 
optische  Gesichtsbild  als  solches  verlassen  muß.  Zu  diesem  Zwecke 
mußte  der  Zeichner  in  eine  Lage  gebracht  werden,  in  der  er  die  Vor- 
lage nicht  mit  Auge,  Hand  und  innerer  Analyse  erfassen  kann.  Um 
das  zu  ermöglichen,  mußte  alles  äußere  und  innere  Nachzeichnen 
nnterdrückt  werden,  zugleich  aber  mußte  es  ausgeschlossen  werden,  daß 
sich  der  Zeichner  auf  Analogien  mit  bekannten  Figuren  stützen  kann, 
denn  sonst  kann  die  Erinnerung  an  früher  gesehene  Figuren  als  Ersatz- 
mittel für  die  mangelnde  Analyse  der  gegenwärtig  gesehenen  Figur 
eintreten. 

Hierdurch  mußte  zugleich  klar  werden,  welche  Bedeutung  das 
Verstehen  einer  Form  für  die  Möglichkeit  ihrer  zeichnerischen 
"Wiedergabe  hat,  denn  das  Formenverständnis  ist  an  das  analysierende. 
Sehen  gebunden.  Ferner  war  zu  erwarten,  daß  dabei  die  individuellen 
Begabungen  sich  unter  dem  Gesichtspunkte  scheiden  würden,  was  das 
optische  Bild  für  sie  zu  bedeuten  hat.  Das  optische  Bild  ist  näm- 
lich —  wie  die  folgenden  Versuche  beweisen  werden  —  stets  zugleich 
ein  innerlich  verarbeitetes  Bild,  mit  der  Behinderung  des  analysierenden 
Sehens  behindert  man  daher  zugleich  die  Entstehung  des  optischen 
Bildes.  Wenn  das  zutrifft,  so  müssen  durch  jene  Behinderung  gerade 
die  Zeichner  am  meisten  in  Verlegenheit  geraten,  die  sich  beim  Zeichnen 
auf  ein  durch  analysierendes  Sehen  gewonnenes  Bild  verlassen,  der 
Zeichner  dagegen,  der  sich  mehr  auf  Phantasie  und  Reflexion  verläßt, 
wird  nicht  in  gleichem  Maße  behindert.  So  konnte  die  Unterdrückung 
des  analysierenden  Sehens  zugleich  zu  einer  Scheidung  der  sehenden 
und  der  mehr  reflektierenden  Zeichner  führen  (vgl.  Punkt  8  der  obigen 
allgemeinen  Analyse  des  Zeichnens). 

Wenn  nun  unsere  Vorlagen  dem  Zeichner  nicht  erlauben  sollten, 
sich  auf  die  Erinnerungen  ihm  von  früher  her  bekannter  Figuren  zu 
stützen,  so  mußten  wir  von  Figuren  ausgehen,  die  dem  Kanon  der 
bekannten  Formenelemente  nicht  angehören  oder  sich  von  ihm  nach 
Möglichkeit  entfernen.  Es  war  zugleich  lehrreich  die  Figuren  abzu- 
stufen, sodaß  sie  sich  schrittweise  bekannten  Formen  annäherten, 
denn  hiermit  konnte  der  Einfluß  der  Bekanntheit  der  Figuren  und  damit 
die  Unterstützung  des  Zeichners  durch  Erinnerungs -Analogien  besonders 
dargestellt  werden.^) 

1)  Daß   bei   einzelnen  Kindern   mit   besonders   reger  Phantasie   doch  Beziehungen 


—    149    — 

Es  wurden  deshalb 

1.  Zeichnungen  als  Vorlagen  gewählt,  bei  welchen  die  Anlehnung 
des  Gedächtnisses  und  der  Auffassung  an  bekannte  Figuren 
auf  ein  Mindestmaß  beschränkt  werden  konnte. 

"Wenn  wir  uns  den  zeichnerischen  Akt  etwa  so  vorstellen: 


Rdz- 


^mpünd. 


(assocüertßji^     ___--^ cmtn 

graphr. 

Darstelhmg    ^  "         m^nC. 

daß  mithin  der  Kreis  durch  Deckung  der  graphischen  Darstellung  mit 
dem  äußern  Reiz  gleichsam  geschlossen  ist,  so  ergibt  die  Erfahrung,  daß 
das  Bewußtsein  nicht  nur  in  der  Pfeilrichtung  funktioniert,  sondern, 
sobald  der  Reiz  in  Wirksamkeit  tritt,  auch  ein  entgegengesetztes  "Wirken 
der  ausgelösten  Kräfte  stattfindet.  Die  Hand,  als  Ausführende  des 
motorischen  Zentrums  macht,  während  der  Reiz  wirkt,  die  Be- 
wegungen mit;  dieser  Akt  geschieht  durch  automatische  Zuordnung. 
Von  51  Schülern  der  Quinta,  mit  denen  ich  hierauf  bezügliche  Versuche 
vermittelst  "Wandtafelzeichnungen  anstellte,  reagierten  sichtbar  mit  zeich- 
nenden Handbewegungen,  die  sich  unwillkürlich  einzustellen  schienen, 
29  Kinder,  also  über  50  ^o.  An  mir  selbst  mache  ich  die  Erfahrung, 
daß  mich  bei  Beobachtung  einer  komplizierten  Zeichnung  ein  Gefühl  in 
der  Hand  auffordert,  die  Linien  nachzuziehen,  welche  das  Auge  abtastet. 
Um  den  Eindruck  möglichst  objektiv  zu  gestalten,  mußten 

2.  durch  die  Methode  der  Störungen  die  konstruierende  Tätigkeit 
des  Auges  und  der  Hand  und  die  konstruierende  Auffassung 
(Apperception)  ausgeschlossen  werden. 

3.  Den  oben  angeführten  komplexen  Tatbestand  in  seine  Elemente 
zu  zerlegen  bediente  ich  mich  folgender  Mttel: 

a)  Ich  verwandte  Zeichnungen  von  schematischen  Figuren,  die  dem 
optischen  Bilde  nach  relativ  einfach  und  wenige  Details  enthaltend 
dabei  konstruktiv  schwierig  sind  (s.  Beilagen  I,  la,  11  und  III). 

zwischen  vorgelegten  Zeichnungen  und  im  Bewußtsein  schlummernden  Vorstellungen  ge- 
funden wurden,  zeigen  einige  weiter  unten  angefiihrte  Beispiele. 

1)  Lichtheim  nimmt  ein  besonderes  (auch  räumlich  verschiedenes)  Begriffszentrum 
an,  andere  Physiologen  legen  dasselbe  mit  dem  Wahmehmungszentrum  zusammen  mit 
besonderer  funktioneller  Bedeutung.  Diese  Unterscheidung  ist  aber  rein  theoretisch  und 
modifiziert  die  Tatsachen  praktisch  nicht  (z.  verg.  Dr.  Weber,  Abbild,  aus  Bastian: 
Über  Aphasie,  Engelmann,  Leipzig.    S.  92). 

Meumann,    Exper.  Pädagogik.    V.Band.  H 


—    150    — 

Nr.  I  stellt  schematisch  einen  Teil  des  Nervengeflechts  des  Sym- 
pathikus dar  und  ist  aus  Gegenbaurs  Anatomie  entnommen. 

Die  Zeichnung  an  sich  ist  aus  einfachen  Strichen  zusammengesetzt, 
die  Schwierigkeit  der  Ausführung  besteht  in  der  eigentümlichen  Ver- 
schlingung der  Linien.  Dies  wurde  auch  in  der  Tat  von  den  meisten 
Vpn.  als  Grund  angegeben,  wenn  die  Zeichnung  mißlang.  Jedoch  es 
könnte  ja  gegen  Benutzung  obiger  Vorlage  eingewendet  werden ,  daß 
sie,  zu  lang  gestreckt,  aus  dem  Bildfelde  des  Fixierenden  herausfalle. 
Daher  wurde  mit  einer  andern  Zeichnung  (I  a) ,  die  statt  drei  nur  zwei 
Schlingen  enthielt,  ein  Kontrollversuch  angestellt:  auch  hier  ergab  sich 
ein  ähnliches  Resultat  (Tafel  11).^)  Ebenfalls  ließen  Umfragen  bei  den 
Vpn.  darauf  schließen,  daß  das  eventuelle  negative  Ergebnis  aus  der 
Vorlage  nicht  resultiere.  Nr.  II  ist  relativ  einfacher  und  sollte  neben 
dem  Hauptzwecke  noch  zur  Kontrolle  für  etwaige  assoziative  Vor- 
stellangen  dienen.  Und  in  der  Tat  fanden  mehrere  Vpn.  mit  leicht  be- 
weglicher Phantasie  Beziehungen  zu  verschiedenen  assoziativen  Ver- 
bindungen. Nr.  m  ist  der  Schwierigkeit  nach  zwischen  I  und  II  ein- . 
zureihen. 

b)  Ein  Schwanken  des  Blickes  und  eine  Bewegung  des  Auges  entlang 
den  Linien  wurde  durch  starre  Fixation  eines  Punktes,  das  unwillkür- 
liche Nachzeichnen  mit  der  Hand  durch  rythmische  Bewegungen  der- 
selben ausgeschaltet.  Es  entsteht  nämlich  (siehe  oben)  während  der 
Fixation  unter  Mitwirkung  der  Aufmerksamkeit  ein  Inbewegungsetzen 
des  motorischen  Apparates  (Arm  und  Hand),  welches  sich  dadurch  ver- 
meiden läßt,  daß  die  Hand  in  gleichmäßigem  Tempo  hin  und  her  bewegt 
wird.  Übrigens  ließ  sich  ein  Erfolg  dieser  Methode  nicht  durchgängig 
konstatieren :  einige  der  Schüler  mußten  beide  Hände  fest  auf  den  Tisch 
legen  und  so  die  Zeichnung  fixieren. 

c)  Die  Methode  zur  Ausschaltung  des  Willens  gelangte  zur  An- 
wendung, d.  h.  es  wurde  den  Vpn.  eingeschärft,  bei  der  Fixation  der 
Zeichnung  jede  bewußte  Willensregung  zum  Nachzeichnen  zu  unter- 
drücken. Jedes  Kind  erhielt  die  genaue  Anweisung:  Denke  nicht  daran, 
daß  du  die  Vorlage  später  nachzeichnen  sollst,  sondern  fasse  sie  starr 
und  fest  ins  Auge.  Freilich  muß  hierbei  bemerkt  werden,  daß  die 
Kontrolle  keineswegs  einwandsfrei  ist,  da  man  bei  ihr  einzig  und  allein 
auf  den  guten  Willen  der  betreffenden  Vp.  angewiesen  ist. 


1)  Die  Figuren  wurden  bei  der  Betrachtung  in  solche  Entfernung  vom  Auge  der 
Versuchspersonen  gebracht,  daß  ein  wesentlicher  Anteil  des  indirekten  Sehens  an  der 
Auffassung  nicht  statt  fand. 


—    151    — 

Die  Versuche. 

Instrnktion.  Die  Versuclie  wurden  mit  den  Schülern  einzeln  in 
meiner  "Wohnimg  angestellt.  Die  ersten  leitete  mein  verehrter  Lehrer, 
Herr  Prof.  M. ,  die  folgenden  wurden  dann  nach  den  erhaltenen  Direk- 
tiven im  Zeitraum  von  ca.  acht  Wochen  vorgenommen,  wobei  ich  täglich 
etwa  zwei  bis  vier  Schüler  einer  Prüfung  unterzog.  Diese  be- 
anspruchte bei  jedem  Kinde  durchschnittlich  eine  halbe  Stunde,  indem 
ich  zur  Ausfrage  der  jüngeren  Knaben  einer  etwas  kürzeren,  der  älteren, 
um  eingehendere  Resultate  zu  erzielen,  einer  etwas  längeren  Zeit  be- 
nötigte, ohne  daß  jedoch  als  Höchstmaß  eine  volle  Stunde  überschritten 
wurde.  Denn  trotzdem  zwischen  den  einzelnen  Versuchen  bei  derselben 
Vp.  Pausen  eingeschaltet  wurden  ,  lag  doch  die  Gefahr  nahe ,  daß  bei 
eintretender  Ermüdung  die  Versuche  ein  ungenaues  und  anfechtbares 
Resultat  ergeben  könnten.  Auch  erhielt  eine  mehrfach  vorgenommene 
Abwechslung  die  Kinder  bei  vollem  Interesse.  Vor  Beginn  des  Versuches 
wurde  ihnen  genau  erklärt ,  worauf  es  ankomme.  Bei  besonders  leb- 
haften Schülern  wurden  außerdem  vorher  noch  einige  Übungen  vorge- 
nommen, die  darin  bestanden,  einen  Punkt  genau  zu  fixieren.  Dies  gelang 
bereits  nach  einiger  Übung.  Besondere  Vorsicht  war  bei  den  Schülern 
in  Bezug  auf  das  Sehvermögen  geboten.  Durch  einige  Fragen  bezw. 
Leseproben  überzeugte  ich  mich,  daß  die  Sehweite  richtig  genommen 
wurde.  Wie  wichtig  eine  hierauf  bezügliche  Untersuchung  war,  davon 
überzeugte  ich  mich  bei  einem  Schüler  (Nr.  31.  Rudolf  K.) ,  der  auf 
einem  Auge  weitsichtig,  auf  dem  andern  kurzsichtig,  erst  in  einer  be- 
stimmten Entfernung  mit  beiden  Augen  gleich  scharf  zu  sehen  vermochte. 
Den  Vpn.  wurde  eingeschärft,  ihre  Aufmerksamkeit  starr  auf  den  be- 
zeichneten Punkt  zu  richten,  der  durch  ein  rotes  Sternchen  markiert 
war  (s.  Beilage  I — III),  und  zwar  bei  I  links  von  dem  Linienzuge  (ihn 
in  die  Schlingen  zu  bringen,  fehlte  es  an  Raum);  bei  II  in  der  rechten 
Hälfte  und  bei  III  in  der  Mitte.  Ein  Unterschied  bei  der  Fixation 
ließ  sich  durch  diese  verschiedenen  Stellungen  nicht  konstatieren.  Alle 
Vpn.  erklärten,  daß  die  ganze  Zeichnung  in  das  Gesichtsfeld  falle.  — 
Eine  besondere  Einrichtung  mußte  getroiFen  werden,  um  zu  ermöglichen, 
daß  für  den  Schüler  die  zu  fixierende  Zeichnung  eine  bestimmte  Zeit 
(in  diesem  Falle  10  Sekunden)  frei  lag.  Zu  diesem  Zwecke  wurde  aus 
zwei  Kartonstücken  eine  Art  Verschluß  konstruiert:  Das  eine  erhielt 
einen  parabelförmigen  Ausschnitt  und  wurde  mit  dem  andern  so  auf 
die  Zeichnung  gelegt,  daß  nur  das  Sternchen  frei  lag,  auf  welches  nun 
die  Vp.    das    Auge    einstellte.      Durch    seitliches    Hinwegziehen   beider 

11* 


—    152    — 

Kartonstücke  wurde  die  Zeichnung  frei  gelegt  und  dann  durch  schnelles 
Zudecken  wieder  dem  Auge  entzogen. 


< 

""1 

vor  derFuuäoTi 


wahrend  depFücatioTi 


Verfahren  in  den  Hauptstadien, 
a.    Zeichnen  nach  fixierendem  Sehen. 

Bei  diesen  Versuchen  liegt  die  Gefahr  besonders  nahe ,  daß  das 
Auge  den  Fixationspunkt  verläßt  und  auf  Momente  über  die  Zeichnung 
gleitet.  Dadurch  wird  natürlich  das  Resultat  illusorisch.  Und  in  der 
Tat  mußte  auf  einigen  wenigen  Versuchsblättern  notiert  werden:  Nicht 
strenge  fixiert.  Besonders  trat  dieses  unwillkürliche  Abschweifen  bei 
Vpn.  mit  fluktuierendem  Aufmerksamkeitstypus  hervor.  Jedes  Kind 
wurde  vorher  besonders  darauf  hingewiesen,  daß  die  Aufmerksamkeit 
ganz  auf  das  Sternchen  zu  konzentrieren,  jedes  Wegirren  von  diesem 
zu  vermeiden  sei.  Im  Verlaufe  der  Untersuchung  machte  ich  die  Er- 
fahrung, daß  schon  ein  geringstes  Abweichen  des  Auges  vom  Fixätions- 
punkte  zu  bemerken  war.  Wenn  ich  nämlich  den  Standpunkt  zum  Kinde 
ein  wenig  tiefer  nahm,  so  daß  ich  das  Auge  von  unten  herauf  sehen 
konnte,  war  jedes  Schwanken  und  Unsicherwerden  des  Blickes  zu  be- 
obachten. Hierauf  bezügliche  Nachfragen  bestätigten  diese  Wahrnehmung. 
Auf  diese  Weise  erreichte  ich  ein  einwandfreies  Fixieren.  Als  Ver- 
suchszeit galten  in  der  Regel  zehn  Sekunden,  die  von  einer  Hilfsperson 
nach  der  Sekundenuhr  festgestellt  wurden.  Um  in  einzelnen  Fällen  zu 
bestimmteren  Resultaten  zu  gelangen,  wurde  die  Zeit  des  Fixierens  auf 
zwanzig  Sekunden  erhöht.  (Die  Zeit  ist  auf  den  betreflFenden  Tafeln 
vermerkt).  Als  Regel  galten  zwei  nach  einander  vorgenommene  Ver- 
suche; wo  Hinweise  auf  ein  noch  zu  vervollständigendes  Resultat  vor- 
lagen, oder  wo  die  Kinder  selbst  es  wünschten,  in  der  Meinung,  es 
besser  machen  zu  können,  wurden  drei  bis  vier  Versuche  veranstaltet. 
Nach  jedem  derselben  wurden  folgende  Fragen  gestellt: 


-     153    — 

Hältst  du  die  Zeichnung  für  richtig? 
Erfolgte  eine  verneinende  Antwort,  so  wurde  weiter  gefragt: 

Kannst  du  sagen,  was  falsch  ist? 

"Wo  fehlt  etwas? 

Woran  liegt  es  wohl,  daß  du  nicht  genau  siehst  und  genau 
zeichnen  kannst? 
Die  Antworten  wurden  protokolliert  und  die  obigen  Fragen  in  jedem 
speziellen  Falle  ergänzt  und  erweitert,  um  den  jeweiligen  Tatbestand 
möglichst  klar  festzulegen.  Besonders  interessant  und  lehrreich  war 
die  Art  und  Weise,  wie  die  Vpn.  nach  der  Fixation  an  das  Zeichnen  gingen. 
Aus  dem  Spiele  der  Gebärden  ließen  sich  oft  Schlüsse  auf  den  psy- 
chischen Zustand  machen,  die  für  die  Analyse  der  zeichnerischen  Tätig- 
keit von  Wichtigkeit  waren  und  bei  den  einzelnen  Versuchen  besprochen 
werden. 

b.   Zeichnen  nach  der  Vorstellung  aus  dem  Gedächtnis. 

(Hier  kurz  Gedächtniszeichnen  (Gdz.)  benannt). 

Die  Vp.  durfte  die  Zeichnung  so  lange  betrachten,  bis  sie  glaubte, 
dieselbe  aus  dem  Gedächtnis  zeichnen  zu  können.  Die  Zeit  wurde  ver- 
merkt; ebenfalls  wurde  festgestellt,  welche  Dauer  die  Ausführung  be- 
anspruchte. Nach  Lösung  der  gestellten  Aufgabe  richtete  ich  an  den 
Schüler  folgende  Fragen: 

Ist  die  Zeichnung  schwierig? 

Warum  wohl?  oder 

Woran  liegt  das? 

Worauf  verläßt  du  dich  beim  Gedächtniszeichnen? 
Die  Fragen  mußten  dem  Intelligenzgrade  des  Betreffenden  oft  in 
anderer  Form  angepaßt,  mitunter  auch  erweitert  werden;  denn  fallt  es 
schon  dem  Erwachsenen  schwer,  auf  Fragen,  welche  die  Selbstbeobachtung 
betreffen,  Antwort  zu  geben,  wie  viel  mehr  Mühe  hat  das  Kind, 
sich  über  das  Gefragte  klar  zn  werden  und  einer  befriedigenden  Antwort 
Ausdruck  zu  verleihen.  Um  so  wichtiger  waren  hier  die  Rückschlüsse 
aus  dem  physischen  auf  den  psychischen  Zustand. 

c.    Abzeichnen  der  Vorlage. 

Jede  Zeichnung  wurde  zxmi  Schlüsse  abgezeichnet  und  die  Zeit 
notiert. 

Die  Versuchspersonen. 
Die  Vpn.  sind  einer  hiesigen  Realschule  entnonmien,  und  zwar  den 
Llassen  Sexta  bis  Untersekunda. 


—    154    — 

Dem  Alter  nach  ordnen  sie  sich: 

Sexta  9 — 10  Jahre, 

Quinta  11 — 12  Jahre, 

Quarta  13 — 14  Jahre, 

Tertia  15 — 16  Jahre, 

Untersekunda  17 — 18  Jahre. 
Die  Sextaner  haben  noch  keine  Zeichenstunden.  Alle  andern  er- 
halten wöchentlich  je  2  Stunden  Unterricht  im  Freihandzeichnen.  Die 
Tendenz  der  Auswahl  war,  aus  jeder  Klasse  möglichst  gute,  mittelmäßige 
und  schlechte  Zeichner  und  Schüler  mit  guter,  mittelmäßiger  und 
schlechter  Intelligenz  herauszusuchen.  Weil  ich  in  allen  oben  genannten 
Klassen  den  Zeichenunterricht  habe,  die  Klassen  30  (obere  Klassen)  bis 
50  (untere  Klassen)  Schüler  zählen ,  außerdem  Doppelklassen  bestehen, 
fiel  dies  besonders  leicht.     Ich  wählte  aus  jeder  Klasse 

2  gute, 

2  mittelmäßige, 

2  schlechte  Zeichner. 

Ihrer  allgemeinen  Intelligenz  nach  wurde  von  den  zweien  einer  mit 
guter  und  einer  mit  schlechter  Intelligenz  gewählt.  Natürlich  wurde 
das  Schema  nicht  genau  nach  der  Klassenliste  festgestellt,  sondern  ich 
traf  meine  Wahl  nach  persönlichen  Erfahrungen.  Wo  die  Verhältnisse 
es  erforderten,  wurden  zur  Kontrolle  noch  einige  weitere  Schüler  her- 
zugezogen und  untersucht.  So  stellte  sich  die  Zahl  der  Vpn.  auf  fünf- 
undvierzig, welche  sich  folgendermaßen  verteilten. 


Gruppe  I. 

9—10  Jah 

re. 

1.  Paul  T. 

9  Jahre 

^49. 

2.  Walter  Seh 

.  10 

n 

"/49. 

3.  Kurt  W. 

9 

n 

^2/49. 

4.  Alfred  Z. 

10 

» 

2V49. 

5.  Fritz  ß. 

9 

n 

'^/49. 

6.  Franz  Gr. 

9 

J7 

^>. 

7.  Erich  K. 

9 

r 

»°/49. 

8.  Paul  E. 

10 

» 

*%9. 

9.  Paul  V. 

10 

r 

3«/41 

als  KontroUver 
Suchsperson. 

Gruppe  IL  11—12  Jahre. 

10.  Walter  B.  11  Jahre     V^u 

11.  Franz  K.  11      „           «Ai. 

12.  Paul  E.  11      „         ^'hi. 


155 


13.  Kurt  P. 

11      . 

"/«. 

14.  Fritz  Z. 

11      r 

^=»41. 

15.  Erich  K. 

11        n 

"*1. 

16.  Alfred  M. 

11  « 

*«/47. 

17.  Heinrich  H.j 

11       r, 

*"/«.      als  Kontrollver 

18.  Fritz  B.     J 

12     « 

*/4i.        Suchspersonen. 

Gruppe  III. 

13-14  Ja 

thre. 

19.    Alfred  L. 

13  Jahr 

e    ^47. 

20.     Ernst  Z. 

14  V2 

35 

V21. 

21.     Walter  Gr. 

13 

n 

^'/50. 

22.    Ernst  K. 

13 

j) 

23/47. 

23.     Bruno  W. 

13 

T 

^V*7. 

24.     Willy  0. 

13 

n 

2750. 

25.     Ernst  E. 

13 

V 

37«. 

26.     Georg  St. 

13 

7) 

^V/47. 

27.    WiUy  Seh. 

13 

» 

*750. 

28.    Emil  T. 

13 

n 

*V47. 

Gruppe  IV. 

15—16  Jahre. 

29.    Karl  Seh. 

15  Jahre    V48. 

30.    Kurt  L 

15 

» 

3/42. 

31.     Rudolf  K. 

15 

» 

'In. 

32.    Willy  H. 

15 

7» 

»Vse. 

33.     Erich  G. 

15 

» 

»736. 

34.     Benno  G. 

15 

7> 

"/26. 

35.     Heinrich  F 

.      15 

» 

3743. 

36.     Wilhelm  J 

.     16 

JJ 

»743. 

37.     Paul  St. 

15 

J> 

"/43. 

Gruppe  V.    17—18  Jahre. 


38. 

Wilhelm  K. 

18 

» 

V26. 

39. 

Kurt  H. 

17 

» 

»/28. 

40. 

Paul  B. 

17 

n 

726. 

41. 

Heinrich  R. 

18 

» 

"/36. 

42. 

Reinhold  L. 

17 

» 

"/3I. 

43. 

Kurt  S. 

17 

» 

"/3I. 

44. 

Alfred  K. 

17 

» 

"/28. 

45. 

Otto  G. 

17 

» 

2«/28. 

—    156    — 

Da  sich  bei  den  Kindern  ein  reges  Interesse  für  die  Versuche,  welche 
ihnen  teilweise  großes  Vergnügen  bereiteten,  konstatieren  ließ,  wobei  sit 
scheinbar  unter  Aufbietung  aller  psychischen  Kräfte  ihr  Bestes  gaben, 
sind  die  Ergebnisse  umso  weniger  anfechtbar. 

(Schluß,  sowie  Bilderatlas  zu  der  Arbeit  folgen  in  dem  nächsten  Hefte.) 


Die  Ideale  der  Kinder. 

Von  Henry  Herbert  Goddard,   Ph.   D.  Professor  der  Psychologie  und  Pädagogik, 
State  Normal  Sthool  West  ehester,  Pennsylvania. 

Ein  erzieherisches  System  kann  man  nach  den  Idealen  beurteilen, 
die  es  den  Kindern  giebt,  auf  die  es  einwirkt.  Der  Brunnen  kann  nicht 
höher  steigen  als  seine  Quelle.  Ein  Kind  kann  nie  besser  werden  als 
sein  Ideal.  Grieb  ihm  weite  und  edle  Ideale  und  es  wird  Sorge  tragen, 
sich  nach  ihnen  zu  richten,  gieb  ihm  enge  und  gewöhnliche  und  es  wird 
von  Anfang  an  beschränkt  werden.  Seine  Ideale  stammen  häufiger  aus 
dem  Schulleben  als  irgend  wo  anders  her.  Giebt  ihm  die  Schule  nicht 
die  großen  Ideale,  so  wird  es  sie  wahrscheinlich  nie  bekommen. 

Es  ist  eine  häufig  beobachtete  Tatsache,  daß  die  Ideale  sich  ändern 
sowie  des  Kindes  Persönlichkeit  sich  mit  den  fortschreitenden  Jahren 
entwickelt.  Das  Ideal  des  sehr  jungen  Kindes  ist  Vater,  Mutter,  Onkel, 
Tante  oder  irgendwelche  Bekannte.  Allmählich  ändert  sich  das  und 
macht  großen  Männern  der  Geschichte,  oder  großen  bekannten  Persön- 
lichkeiten —  (öffentlichen  Charakteren)  der  Gegenwart  —  Platz.  Das 
ist  recht;  denn  so  ausgezeichnet  die  Eltern  sein  mögen,  das  Kind  muß 
sich  doch  ein  anderes  Ideal  bilden,  oder  wir  erleben,  was  man  in  China 
sieht,  wo  die  Kinder  ihren  Eltern  und  Vorfahren  göttliche  Ehrungen  er- 
zeigten und  ein  stagnierendes,  um  nicht  zu  sagen,  entartetes  Geschlecht 
aus  ihnen  geworden  ist.  — 

Ein  Josef,  (Bibel) ,  ein  Bismarck ,  der  Kaiser ,  Jesus ,  eine  Königin 
Luise,  eine  Ruth,  sollten  die  Stellen  derjenigen  einnehmen,  denen  Knaben 
oder  Mädchen  gleichen  möchten  und  sie  tun  es  auch. 

Dies  alles  ist  bekannt  und  man  hat  solche  Arbeiten  wie  diese  für 
nutzlos  gehalten;  weil  sie  uns  nur  sagen,  was  wir  schon  wissen.  Aber 
sie  tun  mehr.  Sie  bestätigen  die  oben  erwähnten  Tatsachen,  aber  sie 
tragen  auch  zur  Beantwortung  viel  größerer  Fragen  bei,  z.  B. :  „Wie 
schnell  sollte  diese  Entwickelung  der  Persönlichkeit  vor  sich  gehen?"  Es 
giebt  dafür  einen  richtigen  und  einen  falschen  Maßstab.  „Wenn  die 
Entwickelung  der  Persönlichkeit  zu  schnell  vor  sich  geht ,  so  wird  das 
zu  einer  Unvollständigkeit  (Halbheit)   des  Charakters  und  zu  sorglosem 


—     157    — 

Leben  füliren.  Wenn  sie  andrerseits  zu  langsam  fortschreitet,  so  haben 
wir  einen  Stillstand  in  der  Entwickelxmg,  welcher  nahrhaften  Boden  für 
Dummheit,  Rohheit  und  Trunkenheit  giebt,  die  eigentlichen  Früchte 
eines  trägen,  sich  selbst  genügenden  Geistes."  (Earl  Barnes  in  Pedago- 
gical  Seminary.  Vol.  VII,  No.  I,  p.  11). 

Da,  wie  schon  bemerkt,  die  Schule  in  hohem  Maße  verantwortlich 
für  die  kindlichen  Ideale  ist,  so  ist  es  eine  pädagogische  Frage  von 
nicht  geringer  Wichtigkeit  geworden,  zu  erfahren,  welches  der  richtige 
Maßstab  für  die  Schnelligkeit  der  Entwickelung  ist? 

Um  das  richtige  Maß  für  die  Entwickelung  der  Persönlichkeit  fest- 
zustellen und  um  eine  endgültige  Norm  darüber  aufstellen  zu  können, 
sind  in  England  und  Amerika  mehrere  Arbeiten  an  verschiedenen  Gruppen 
von  Kindern,  unter  verschiedenen  Bedingungen  gemacht  worden. 

Solche  Arbeiten  müssen  an  verschiedenen  Gruppen  von  Kindern  oft 
wiederholt  werden,  ehe  man  weitere  Allgemein-Bestimmungen  aufstellen 
kann.  —  „Die  Botanik  hat  sich  nicht  auf  das  Studium  der  Flora  eines 
einzigen  Landes  aufgebaut,  sondern  dasselbe  Studium  mußte  in  allen 
Weltteilen  wiederholt  werden.  Erst  nachdem  man  solche  Studien  oft 
wiederholt  hatte,  wurde  es  möglich  weitgehende  Verallgemeinerungen 
über  die  geographische  Verteilung  der  Pflanzen  und  den  Einfluß  des 
Klimas,  des  Bodens  und  der  Feuchtigkeit  auf  ihre  Entwickelung  festzu- 
stellen. Bei  dem  Studium  des  Kindes  wird  jedes  gute,  sorgfältig  wieder- 
holte Experiment  dazu  beitragen  Tatsachen  für  gesunde  Allgemeinbe- 
stimmungen aufzubauen,  welche  die  Einwirkung  von  Rassen,  Einrich- 
tungen, Anschauungen  und  erzieherischer  Arbeit  festlegen  können.  (Barnes 
in  „studies  in  Education,  Vol.  11  pag.  40).  Diese  besondere  Arbeit  sollte 
tausendmal  wiederholt  werden  in  Stadt  und  Land,  bei  Reich  und  Arm, 
in  verschiedenen  Nationen,  mit  verschiedenem  Verfahren,  mit  verschie- 
denen Lehrern"  (Ibid  p.  320). 

Als  ein  Beitrag  mehr  zu  diesen  Arbeiten  ist  die  vorliegende  gemacht 
worden  an  einer  Gruppe  von  Kindern  in  einer  der  kleineren  Städte 
Preußens.  Das  gewöhnliche  Verfahren,  Kinder  in  dieser  Sache  zu  prüfen, 
ist  das.  ihnen  als  Aufsatzübung  die  schriftliche  Beantwortung  folgender 
Fragen  aufzugeben:  „Welcher  Person,  unter  denen  die  du  gesehen,  oder 
von  denen  du  etwas  gehört  oder  gelesen  hast,  möchtest  dn  am  liebsten 
ähnlich  sein?    Warum? 

Die  folgenden  Anweisungen  wurden  gegeben: 

„An  den  Lehrer  oder  die  Lehrerin".  Schreiben  Sie,  bitte,  die 
Fragen  auf  die  Wandtafel,  und  lassen  Sie  die  Kinder  ihre  Antworten 
aufs  Papier  schreiben.  Um  das  Resultat  zu  erreichen  muß  alles  ruhig 
zugehen.    Keine  Fragen  oder  Erklärungen  dürfen   den  Kindern  gestellt 


—    158    — 

werden.  Es  genügt,  wenn  sie  geheißen  sind  die  Antworten  aufzuschreiben. 
Stil  und  Orthographie  sind  Nebensachen.  Wir  möchten  nur  die  eigenen 
Gedanken  der  Kinder  haben.  Ein  Papier  ohne  Antwort  ist  ebenso  gut 
wie  eins  mit  voller  Antwort,  d.  h.  wenn  das  betr.  Kind  keine  Antwort  hat 
abgeben  können.  Aber  Name  (event.  „Knabe"  oder  „Mädchen")  und 
Alter,  oben  auf  das  Papier  geschrieben,  wird  von  jedem  verlangt. 

Man  hat  dieser  Art  des  Experiments  vorgeworfen,  daß  eine  Beant- 
wortung der  Fragen  reine  Lanne,  Nachahmung,  zufällige  Wahl  oder 
unüberlegte  Antwort  ohne  Bedeutung  sein  wird.  Daß  einige  derartige 
Antworten  vorkommen  ist  sicherlich  wahr.  Daß  deren  aber  nur  wenige 
sind,  ist  mehr  als  bewiesen  durch  die  Tabellen  imd  Kurven  die  in  diesen 
und  ähnlichen  Arbeiten  eingereicht  worden  sind.  Die  allgemeine  Über- 
einstimmung der  Kurven  bei  verschiedenen  Gruppen,  von  verschiedenen 
Beobachtern  gemacht,  zeigt  entschieden,  daß  wir  vor  einem  Gesetz  oder 
vor  Gesetzen  in  der  kindlichen  Entwicklung  stehen. 

Verschiedene  geringe  Schwierigkeiten  kommen  dem  vor ,  der  die 
Methode  kritisch  prüft,  welche,  wenn  sie  sachlich  wären  die  Resultate 
mehr  oder  weniger  zerstören  würden.  Die  Erfahrung  hat  indessen  ge- 
zeigt, daß  sie  nicht  ernst  zu  nehmen  sind. 

Ein  Tadel  ernsthafterer  Art  muß  in  Betracht  gezogen  werden.  Es 
ist  geltend  gemacht  worden,  daß  diese  Arbeiten  uns  nicht  sagen,  was 
wir  tun  sollen.  Ich  führe  die  Antwort  von  Earl  Barnes  an :  „Hier  sind 
die  Kritiker  wieder  im  Unrecht.  Es  ist  die  einzige  Art  und  Weise  auf 
die  wir  sagen  können  was  sein  sollte.  Wenn  solch  eine  Arbeit  in  hun- 
dert Orten  wiederholt  werden  könnte,  so  würde  eine  Übereinstimmung 
darüber  erreicbt,  wann  die  Eönder  unter  den  vernünftigsten  und  und 
gesündesten  Bedingungen  leben.  Viele  Erwägungen ,  geschichtlicher 
soziologischer ,  ökonomischer ,  politischer  und  auf  die  Basse  bezüg- 
licher Art,  müssen  in  solch  einem  Urteil  zusammentreffen.  Und  auf 
solchem  Boden  könnten  wir  eine  Richtschnur  aufstellen,  nach  der  sich 
andere  Bodenbeschaffenheit  richten  sollte.  Was  wir  auf  diesem  Felde 
sowohl,  wie  auf  dem  der  Botanik  bedürfen,  ist  nicht  die  Ausbeutung  eines 
malerischen  Feldes  hier  oder  dort,  sondern  die  Flora  eines  jeden  Ortes, 
wie  gewöhnlich  sie  auch  sei,  muß  durchgearbeitet  werden,  sodaß  wir 
im  Verständnis  der  großen  Gesetze  wachsen,  welche  die  Entwickelung 
der  Kindheit  regieren".     (Pedagogical    Seminary  Vol.  VII  No.  1  p.  12). 

Wir  wenden  uns  nun  ohne  weitere  Einleitung  zu  den  Tatsachen. 

Die  oben  angeführten  Fragen  und  Anweisungen  wurden  im  Januar 
1904  von  dem  Verfasser  an  die  Lehrer  einer  Stadt  in  Preußen  verteilt, 
die  für  ihre  ausgezeichneten  Schulen  wohlbekannt  ist. 

Die  Lehrer  machten  ihre  Sache  mit  der  Klugheit,  Treue  und  Sorg- 


—    159    — 

falt,  durch  welclie  der  deutsche  Lehrer  berühmt  geworden  ist.  Als 
Resultat  wurden  mir  nach  wenigen  Tagen  die  Antworten  von  1590 
Kindern  übergeben.  Die  Kinder  waren  alle  aus  den  Volks-  und  Mittel- 
schulen.    749  waren  von  Mädchen,  841  von  Knaben  geschrieben. 

Diese  Antworten  wurden  alle  sorgfältig  gelesen,  in  Gruppen  ein- 
geteilt und  gezählt.  Die  beifolgende  Tabelle  gibt  die  Gruppen  und 
Untergruppen  in  welche  sie  eingeteilt  wurden  und  den  jedesmaligen 
Altersprozentsatz  derjenigen,  welche  die  in  die  Gruppen  gehörenden 
Personen  gewählt  hatten. 

Prüfen  wir  nun  diese  Zahlen.  Das  erste  was  von  Interesse  ist 
wird  vielleicht  der  Geschlechtsunterschied  sein. 

Wenn  wir  die  erste  Rubrik  „Bekannte'^  vornehmen,  bemerken  wir, 
daß  in  demselben  Prozentsatz  Knaben  und  Mädchen  irgendwelche  Be- 
kannte zu  ihrem  Ideal  gewählt  haben.  In  allen  früheren  Arbeiten  hatten 
mehr  Mädchen  als  Knaben  „Bekannte"  gewählt. 

Wir  müssen  uns  beständig  daran  erinnern,  daß  wir  mit  einer  ganz 
andern  Gruppe  zu  tun  haben,  als  wir  je  vorher  studierten.  Die  deutsche 
Schule  sowohl  als  die  deutsche  Gesellschaft  ist  in  verschiedene  Klassen 
geteilt.  Diese  Kinder  hier  stammen  alle  aus  einer  Klasse.  Solch  eine 
scharf  begrenzte  Gruppe  würde  in  Amerika  oder  der  Schweiz,  wo  die 
Bürgermeisterstochter  in  der  Schule  neben  der  Tochter  des  Mannes  der 
selbst  seinen  Stall  versorgt  oder  die  Straße  kehrt,  sitzt,  unmöglich  zu 
haben  sein.  Nun  geben  uns  die  amerikanischen  Arbeiten  die  Beschajffen- 
heit  des  amerikanischen  Durchschnittkindes,  während  uns  diese  deutschen 
die  Beschaffenheit  des  Durchschnittkindes  einer  scharf  festgelegten  so- 
zialen Gruppe  geben  —  der  Bauern  und  Arbeiterklasse. 

Es  ist  schwierig,  den  Grund  für  die  Verschiedenheit  zwischen 
dieser  Gruppe  und  andern  zu  bezeichnen.  An  und  für  sich  bedeuten  die 
Zahlen  zunächst  natürlich  nur,  daß  es  keine  schnellere  Entwickelung  von 
Knaben  oder  Mädchen  giebt.  Ist  das  nicht  vielleicht  charakteristisch  für 
die  Erwachsenen  dieser  Gruppe?  Die  Bauerfrau  ist  genau  so  tätig,  so 
lebhaft,  so  gewandt  als  ihr  Mann.  Er  sieht  nicht  weiter  als  sie,  hat  kein 
größeres  Interesse  an  öffentlichen  Persönlichkeiten,  keine  Verwendung 
für  Politik,  keine  größere  Verantwortung. 

Die  Wahl  der  öffentlichen  Charaktere  scheint  dem  zunächst  zu 
widersprechen.  Sie  weist  12  °/o  mehr  Knaben  als  Mädchen  auf.  Dies 
kommt  indessen  daher,  daß  die  Mädchen  Charaktere  aus  der  Dichtung 
und  der  Bibel,  welche  Gruppen  nicht  in  der  Liste,  „öffentliche  Cha- 
raktere'' mit  eingeschlossen  sind,  wählten. 

Zweimal  so  viel  Mädchen  und  Knaben  wählten  biblische  Personen 
(einschließlich  der  Gottheiten).    Bietet  dies  nicht  eine  wesentliche  Unter- 


—    160    — 


Stützung  der  Ansicht,  daß  Frauen  religiöser  veranlagt  sind  als  Männer ; 
und  daß  der  Unterschied  fundamental  ist,  da  er  sich  schon  so  augen- 
scheinlich in  früher  Kindheit  zeigt? 

Die  Mädchen  wählten  häufiger  männliche  Ideale ,  als  die  Knaben 
weibliche.     Dies  werden  wir  später  behandeln. 

Ebenso  viel  Knaben  als  Mädchen  konnten  die  Fragen  nicht  beant- 
worten; sie  sagten  einfach:  „Ich  weiß  es  nicht". 

Tabelle  I. 

Einteilung  von  Antworten   mit  dem  Altersprozentsatz  der  betrefPenden 
Klassen.     Obere  Linie:  Knaben,  untere  Mädchen. 


Alter : 
Anzahl  der  Papiere 
„Bekannte" 
Vater  oder  Mutter 
Andere  Verwandte 
Andere  Bekannte 
Öffentliche  Personen 
Kaiser  oder  Kaiserin 
Fremde 

Aus  der  Dichtung 
Aus  der  Bibel 
Gott 
Jesus 

Biblische  Personen 
Das  andere  Geschlecht 
Keine  Antwort 
Bekannte  Deutsche 


6. 


10.      11.       12.      13.      14.     Total 


K. 
M. 

23 

120 

38 

99 
76 

131 
135 

124 

84 

103 
122 

97 
101 

103 
108 

64 
62 

841 
749 

K. 
M. 

61 

70 
58 

62 
75 

59 
61 

46 

48 

37 
29 

27 
36 

21 
42 

37 
33 

47 

47 

K. 
M. 

35 

58 
29 

34 
33 

36 
17 

22 
16 

12 
12 

10 

15 

4 
17 

14 
10 

25 
18 

K. 
M. 

17 

6 
11 

15 
13 

23 

18 

12 
9 

11 
7,5 

10 
9 

9 
6 

21 
12 

13 
10 

K. 
M. 

9 

6 

18 

13 
29 

8 
26 

12 
23 

14 
9,5 

7 
12 

8 
19 

2 
11 

9 

19 

K. 
M. 

0 

2 
14 

19 
11 

23 
14 

39 
27 

46 
24 

57 
32 

62 
35 

53 
29 

35 
23,5 

K. 
M. 

0 

2 
3 

17 
10 

16 
9 

20 
12 

16 
10 

12 

7 

7 
9 

3 
3 

12 
9 

K. 
M. 

0 

0 
0 

0 
0 

0 
0 

1 
4 

1 
3 

7 
3 

8 
3 

9 
3 

3 
2 

K. 
M. 

0 
0 

2 
0 

4 
3 

6 
9 

6 

8 

7 
14 

6 

7 

8 
27 

4 

8 

K. 
M. 

22 

3 
26 

14 

8 

8 
9 

6 
16 

8 
26 

4 
13 

8 
16 

3 
14 

7 
15 

K. 
M. 

9 

1 
11 

1 
0 

0 
1,5 

0 
0 

1 

1 

2 
0 

2 
0 

0 
0 

1 
1 

K. 
M. 

13 

2 
15 

9 

8 

5 
5 

2 
13 

3 

8 

2 

4 

6 
3 

3 
5 

4 

7 

K. 
M. 

0 

0 
0 

4 
0 

2 

2,5 

4 
2 

4 
17 

0 
9 

0 
13 

0 
9 

2 

7 

K. 
M. 

35 

33 

58 

13 
26 

16 
27 

11 
14 

9 
31 

6 

38 

1 
23 

1 
33 

12 
33 

K. 
M. 

17 

31 
2 

3 
6 

0 
13 

3 
0 

4 
13 

5 
5 

3 
0 

0 
0 

6 
14 

K. 
M. 

0 

0 
11 

2 

1 

7 
5 

19 
11 

28 
11 

37 
22 

47 
23 

42 
23 

21 
12,5 

Indem  wir  nun  zu  der  Frage  kommen,    die  uns  hauptsächlich  inter- 
essiert :  Wie  schnell  entwachsen  die  Kinder  ihrem  ausschließlich  lokalen 


—    161    — 

Bekanntschaftsideal ,  in  das  weitere  der  öffentlichen  oder  historischen 
Persönlichkeit?  finden  wir,  wenn  wir  den  Prozentsatz  prüfen,  daß  das 
lokale  Ideal  eine  langsame  Abnahme  mit  dem  zunehmenden  Alter  zeigt 
(Siehe  Tafel  1,  Rubrik:  Bekannte'')  und  der  öffentliche  Charakter  zeigt 
eine*  entsprechende  Zunahme.  (Vergleiche  in  der  Zeichnung  die  obere 
Linie  in  Figur  1  und  die  tiefere  in  Figur  2). 


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SO 

70 
60 
SO 

30 
20 
10 


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10 


11 


12 


13 


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1.  Preicss 

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2.  Xem  Ji 

3.  Lomdo 

Tsar 

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Fig.  1. 

Mit  andern  Worten :  es  giebt  eine  allmähliche  aber  sehr  regelmäßige 
Zunahme,  von  dem  engeren  zum  weiteren  Ideal  —  die  allgemeine  Be- 
wegung ist  klar  und  stimmt  vollständig  mit  dem  überein,  was  wir  er- 
warten und  wissen,  daß  es  praktisch  der  Fall  ist.  Aber  was  können 
wir  über  die  Schnelligkeit  der  Erweiterung  der  Ideale  sagen?  Ist  sie 
schnell  genug  oder  ist  sie  zu  schnell?  Wir  haben  bis  jetzt  noch  nicht 
genug  Arbeiten,  um  imstande  zu  sein,  diese  Frage  entscheidend  zu  be- 
antworten. Wir  können  aber  einige  Merkmale  entdecken,  die  sehr  auf 
die  Richtung  in  der  die  Antwort  liegt,  hinweisen. 

In  Fig.  1  und  2  haben  wir  die  Kurven  für  diese  und  vier  andere 
Gruppen  von  Kindern  entworfen,  3  amerikanische  und  1  englische.  Man 
wird  sehen,  daß  im  Vergleich  mit  den  übrigen  die  Gruppe,  welche  wir 
jetzt  studieren,  sich  viel  langsamer  und  unvollständiger  entwickelt.  Die 
Kurve  „Bekannte"  senkt  sich  stark  im  Alter  von  9—11  Jahren,  während 
sie  sonst  fast  eben  bleibt.  Die  Kurve  „öffentliche  Charaktere''  steigt 
nirgend  höher  als  bis  zu  dem  Punkt  der  von  den  amerikanischen  Kindern 
vor  dem  Alter  von  10  Jahren  erreicht  worden  ist.  — 


—    162    — 

Diese  Verschiedenheit  ist  sehr  bedeutsam.  Im  Alter  von  14  Jahren 
haben  weniger  als  die  Hälfte  der  Bauernkinder  irgendwelche  Kenntnis 
der  großen  Männer  aus  Vergangenheit  und  Gegenwart,  welche  sie  an- 
spornen könnten,  ihnen  ähnlich  zu  werden. 


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13 

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1.  Xew 

Casäe,F(i. 

Vereinigte 

Staaten- 

2.  Mim 

3.  Fem 

<£SOta  1£.  i 

Jerse/f,  ^ 

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Vereinigte 
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3.  Freii 

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Fig.  2 

Es  lohnt  sich  die  Mühe  zu  sehen,  welche  Personen  ihnen  zusagen. 

Die  folgende  Liste  enthält  die  Namen  derjenigen,  welche  von  beiden, 
Knaben  und  Mädchen,  gewählt  worden  sind.  Die  Nummer  giebt  die 
Anzahl,  nicht  den  Prozentsatz.     1.  Spalte:  Knaben,  2.:  Mädchen. 


Der  Kaiser 

100  Knaben 

20  Mädchen 

Wühelm  I 

23 

n 

5 

» 

Luther 

20 

» 

17 

» 

Friedrich  der  Grroße 

17 

n 

3 

7) 

Bismarck 

12 

» 

2 

n 

Grroßer  Kurfürst 

3 

r) 

2 

n 

Sokrates 

2 

n 

1 

n 

Goethe 

2 

7J 

1 

n 

Gustav  Adolf 

2 

j? 

2 

n 

Ludwig  Richter 

1 

» 

4 

» 

Diogenes 

1 

j) 

2 

V 

Friedrich  HI 

1 

» 

1 

» 

Die  folgenden  sind  nur  von  Knaben  gewählt : 


—    163    — 

Siegfried  12 

Blücher  12 

Armin  8 

Friedrich  "Wilhelm  8 

Karl  der  Grroße  7 

Schul  6 

Piquart  5 

SchiUer  4 

Andreas  Hofer  4 

Prinz  Heinrich  4 

Ziethen  3 

De  Wet  3 

TiUy  2 

Teil  2 

Sabusky  2 

Roland  2 

Theodor  Kömer  2 

Friedrich  II  2 

Ludwig  Wetzel  2 

Francke  2 

Wallenstein  2 

König  von  Sachsen  1 

Reuter  1 

Pabst  1 

Kaiser  Ludwig  1 

Kronprinz  1 

Falb  1 

Friedrich  LEI  1 

Tacitus  1 

Prinz  Eugen  1 

Botha  1 

Bonifazius  1 

Alexander  der  Große  1 

Alarich  1 

Nansen  (Entdecker)  1 

Die  folgenden  wurden  nur  von  Mädchen  gewählt 

Kaiserin  Augusta  38 
Königin  Luise  43 
Hanibal  4 
Goethe  und  Schiller  2 


—     164    — 

Werner  von  Kiburg  2 
Jungfrau  von  Orleans  2 
Friedrich  Barbarossa  1 
Königin  Elisabeth  1 
Friedrich  der  Weise  1 
Königin  Henriette  1 
Herzog  von  Schwaben  1 
Pestalozzi  1. 

Die  Wahl  des  Kaisers  beträgt  12  "/o  der  Knaben  und  3  "/„  der  Mäd- 
chen. In  einer  amerikanischen  Arbeit  wählten  34  7o  der  Knaben  und 
24  %  der  Mädchen  George  Washington.  Mc.  Kinley,  der  damals  Präsi- 
dent war,  erhielt  7  7o  der  Knaben  und  6^2  der  Mädchen.  Ob  diese 
Kinder  Fremde  weniger  lieben  oder  „Bekannte"  mehr,  das  zeigt  sich  darin, 
daß  sie  Vater  und  Mutter  2  bis  4  mal  so  oit  wählten  als  es  Kinder  aus 
New  Jersey  im  gleichen  Alter  tun. 

So  weit  diese  Gruppe  von  Kindern  in  Betracht  kommt  ist  es  klar, 
daß  ihre  Persönlichkeit  nicht  in  höherem  Maße  entwickelt  ist.  Wenn 
das  nicht  wünschenswert  ist,  dann  ist  dies  ein  klarer  Hinweis  darauf, 
daß  eine  Änderung  in  der  Pflege  der  Ideale  erstrebt  werden  muß.  Ob 
es  wünschenswert  ist,  ist  nicht  die  Sache  des  Verfassers  zu- diskutieren. 

Solch  ein  Zustand  wäre  für  Amerika ,  nicht  zu  wünschen ,  wo 
jeder  Bürger  eine  Stimme  in  der  Regierung  hat.  Dort  muß  ein  jeder 
Knabe  sein  Ideal  bis  zur  höchsten  Höhe  ausbilden.  Weder  am  Kinde 
noch  am  Staate,  dessen  Bürger  das  Kind  sein  wird,  hat  eine  Schule 
ihre  Pflicht  getan,  wenn  sie  nicht  jedes  Kind  mit  den  größten  Seelen 
die  unter  den  Menschen  gelebt  haben ,  in  Berührung  gebracht  hat. 
Nicht  jedes  Kind  wird  durch  solche  Berührung  angefeuert  werden,  aber 
so  lange  wir  nicht  voraussagen  können,  welches  Kind  sich  dadurch  an- 
spornen läßt,  ist  es  ebenso  weise  wie  gerecht,  jedem  Gelegenheit  zu 
geben  zur  Bildung  seiner  Ideale. 

'    Religion. 

Die  Wahl  biblischer  Personen ,  einschließlich  der  Gottheiten ,  ist 
recht  groß.  Durchschnittlich  15  °/o.  Alle  amerikanischen  Arbeiten  wiesen 
etwa  3%  auf,  aber  die  Bibel  wird  nicht  in  den  öffentlichen  amerikani- 
schen Schulen  gelehrt. 

Es  folgt  eine  Liste  der  biblischen  Personen,  welche  die  Kinder  in 
unserer  Arbeit  gewählt  haben.  Die  Zahlen  bezeichnen  die  Anzahl,  nicht 
den  Prozentsatz: 


—    165    — 


Knaben : 

Mädchen : 

David  6 

Ruth  21 

Abraham  4 

Jonathan  16 

Petrus  2 

David  8 

Johannes  1 

Maria  3 

Josef  1 

Hannah  3 

Jakob  1 

Moses  1 

Samuel  1 

Petrus  1 

Samuel  1 

Man  sieht,  daß  die  Zahl  nicht  groß  und  die  Liste  nicht  lang  ist. 
Sie  ist  jedenfalls  nicht  so  lang  wie  sie  sein  sollte,  wenn  man  die  Zeit 
bedenkt,  welche  die  Kinder  auf  das  Studium  der  Bibel  in  der  Schule 
anwenden. 

Wahl  des  anderen  Geschlechts. 

Professor  Barnes  hat  die  Aufmerksamkeit  darauf  gelenkt,  daß  die 
Mädchen  ihr  Ideal  oft  unter  den  Männern  wählten  und  er  fragt  ob  eine 
Erziehung  richtig  ist,  welche  Mädchen  lieber  Männern  als  Frauen  glei- 
chen lassen  möchte.  Es  ist  wahr,  unsere  Literatur-  weist  mehr  große 
Männer  als  Frauen  auf,  aber  es  hat  viele  große  Frauen  gegeben,  nur 
ist  nicht  so  viel  über  sie  geschrieben  worden. 

Diese  preußischen  Kinder  zeigen  dieselbe  Neigung;  doch  nicht  so 
ausgedehnt.     Fig.  3  zeigt  die  Kurven  der  verschiedenen  Gruppen.     Die 


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90 
80 
70 
60 
50 
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30 
20 
10 


Meumann,  Exper.  Pädagogik.    V.  Band. 


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12 


13 


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1.  Mmnes  ita  u.  Coli 

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2.  Fem  Ca^Oe,  Pa. 

3.  New  Je^ey 

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5.  London, 

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12 


—    166    — 

preußische  Kurve  ist  die  niedrigste,  ausgenommen  England.  Es  ist 
etwas  schwierig  dies  zu  erklären.  Diese  Kinder  hören  zwar  viel  von 
Königinnen  und  Kaiserinnen  und  anderen  gekrönten  Häuptern ;  aber  die 
Frauen  sind  längst  nicht  so  vorherrschend  im  öffentlichen  Leben,  wie 
in  Amerika.  Die  Liste  derjenigen,  welche  die  preußischen  Kinder 
wählten  zerfällt  in  3  Gruppen: 


Geschichte 


Bibel       Mythologie  oder  Dichtung 


Königin  Luise  43 

Ruth  21 

Gudrun  2 

Die  Kaiserin  38 

Maria  3 

Königin  Griselda  1 

Königin  Elisabeth  1 

Hannah  1 

Kriemhilde  1 

Königin  Henriette  1 

Prinzessin  Goldhaar  1 

Jungfrau  von  Orleans  1 

Waschfrau  1 

Mittelschulen  versus  Volksschulen. 

Die  Resultate  dieser  beiden  Schulen  sind  getrennt  gehalten  und  in 
Tabellen  gebracht  um  die  Verschiedenheiten  zwischen  den  beiden  Gruppen 
zu  zeigen.  So  getrennt  wird  die  Zahl  für  jedes  Alter  zu  klein,  um 
ganz  genügende  Resultate  zu  ergeben.  Es  bleibt  aber  die  Möglichkeit 
Vermutungen  auszusprechen  und  wir  geben  die  Tabellen. 

Eins  der  bemerkenswertesten  Dinge  beim  Vergleich  dieser  Tabellen 
ist  der  hohe  Prozentsatz  der  Volksschüler,  welche  den  Kaiser  wählten: 
19  >  Knaben  und  18  %  Mädchen,  gegen  6  "/o  und  2  "/o  der  Mittelschule. 
Der  Kaiser  ist  diesen  Kindern  in  der  Hauptsache  ein  Mann,  der  mit 
großem  Gefolge  reist  und  äußeren  Glanz  und  äußere  Macht  entfaltet. 
Der  Geist  jüngerer  Kinder  wird  durch  solche  Dinge  angezogen. 

In  den  Mittelschulen  werden  mehr  „Bekannte^  gewählt  als  in  den 
Volksschulen ;  im  Verhältnis  von  53  %  bis  41  °/o.  Dieser  Widerspruch 
zu  dem,  was  man  erwartet,  kommt  unzweifelhaft  durch  die  häufige 
Wahl  des  Kaisers  ;  der,  während  er  als  öffentlicher  Charakter  zählt,  so 
zu  sagen  beides  ist,  „öffentlicher  Charakter"  und  „Bekannter". 

In  der  Mittelschule  wurden  „fremde  Personen"  5  mal  mehr  gewählt 
als  in  der  Volksschule.    Die   höchste  Gruppe  hat  den   weitesten  Blick. 

Was  die  Dichtung  angeht,  so  wählten  die  Knaben  in  beiden  Schulen 
gleich ;  aber  die  Mädchen  der  Mittelschulen  wählten  3  mal  so  viel  Ideale 
aus  der  Dichtung  als  die  andern. 

Man  kann  eine  merkwürdige  Einteilung  der  religiösen  Wahl  beob- 
achten. Die  Volksschulen  wählten  biblische  Personen  (14 : 1).  Die 
Mittelschulen  nennen  Jesus  (12:2). 


167    — 


Die  Volksschule  miterläßt  die  Antwort  ebenso  oft   wie  die   Mittel- 
schule. 

Tafel  n. 

Einteilung   von  Antworten  mit  jedesmaligem  Altersprozentsatz  in    den 
betr.    Klassen.      Obere   Linie:    Mittelschule,   untere    Linie  Volks- 
schule.    Geschlecht  der  antwortenden  Schüler :  Knaben. 


Alter 
Anzahl  der  Papiere 
Bekannte 

Vater  oder  Mutter 
Andere  Verwandte 
Andere  Bekannte 
Öffentliche  Personen 
Kaiser  oder  Kaiserin 
Deutsche  Geschichte 
Fremde  Geschichte 
Dichtung 

Religiöse  Personen 
Gott 
Jesus 

Biblische  Personen 
Keine  Antwort 
Das  andere  Geschlecht 


9      10     11      12      13     14    Total 


M. 

60 

42 

80 

72 

43 

45 

64 

38 

444 

V. 

60 

57 

51 

52 

60 

52 

39 

26 

397 

M. 

83 

80 

74 

54 

33 

35 

22 

30 

53 

V. 

58 

51 

58 

36 

40 

18 

22 

42 

41 

M. 

65 

32 

41 

25 

9 

11 

5 

8 

26 

V. 

50 

37 

26 

19 

13 

10 

3 

23 

23 

M. 

7 

27 

28 

17 

14 

18 

11 

22 

18 

V. 

5 

8 

14 

4 

10 

4 

5 

20 

8 

M. 

11 

21 

5 

12 

10 

6 

6 

0 

8 

V. 

3 

6 

18 

13 

17 

4 

12 

0 

10 

M. 

0 

12 

17 

30 

42 

53 

65 

65 

34 

V. 

3 

26 

32 

51 

46 

62 

55 

35 

36 

M. 

0 

10 

8 

8 

12 

5 

3 

5 

6 

V. 

3 

24 

30 

37 

20 

18 

12 

0 

19 

M. 

0 

2 

10 

22 

28 

37 

53 

45 

23 

V. 

0 

2 

2 

12 

28 

40 

38 

35 

16 

M. 

0 

0 

0 

0 

2 

11 

9 

15 

4 

V. 

0 

0 

0 

2 

0 

4 

5 

0 

1 

M. 

0 

5 

4 

8 

9 

5 

2 

2 

5 

V. 

0 

0 

4 

2 

3 

8 

12 

16 

5 

M. 

2 

7 

5 

4 

9 

2 

7 

2 

5 

V. 

5 

19 

12 

8 

7 

6 

10 

4 

9 

M. 

2 

2 

0 

0 

2 

2 

2 

0 

1 

V. 

0 

0 

0 

0 

0 

2 

3 

0 

1,2 

M. 

2 

2 

3 

1 

2 

0 

5 

2 

2 

V. 

0 

14 

10 

2 

3 

4 

7 

4 

6 

M. 

0 

2 

3 

3 

5 

0 

0 

0 

2 

V. 

0 

5 

2 

6 

3 

0 

0 

0 

2 

M. 

17 

0 

0 

3 

57 

0 

0 

0 

4 

V. 

32 

4 

0 

3 

4 

6 

0 

3 

10 

M. 

30 

20 

17 

13 

7 

11 

2 

2 

12 

V. 

38 

8 

14 

10 

10 

2 

0 

0 

12 

Gründe. 
Die  Gründe  die  für  die  Wahl  angegeben  werden ,    werfen   oft   viel 
Licht  auf  die  Situation.    Die   folgende  Tabelle    giebt   die   Rubriken   in 
welche  die  Gründe  eingeteilt  sind  und  den  Prozentsatz  für  jedes  Alter. 
(Siehe  Tabelle  IV). 

Auf  dieser  Tabelle  ist  die  Linie  „Keine  Antwort  aus  Tabelle  I, 

12* 


—    168    — 

während  „Kein  Grrund"  diese    nnd  auch   diejenigen    einschließt,    welche 
die  Frage  beantworten,  aber  keinen  Grund  angeben. 

Kinder  nehmen  eine  allgemeine  und  unbestimmte  Grüte  in  ihrem 
Ideal  wahr,  welche  sie  mit  „gut  und  fromm"  bezeichnen.  Dieser  Aus- 
druck verschwindet  stufenweise  mit  den  Jahren,  wo  sie  anfangen  eine 
besondere  Tugend  zu  unterscheiden  und  zu  würdigen, 

Tafel  ni. 

Einteilung   von  Antworten   mit    dem  jedesmaligen  Altersprozentsatz  in 

der  betreffenden  Klasse.     Obere  Linie:   Mittelschule,   untere  Linie: 

Volksschule.     Geschlecht  der  Schüler :  Mädchen. 


Alter 

6 

7 

8 

9 

10 

11 

12 

13 

14 

Total 

Anzahl  der  Papiere 

j 

M. 
V. 

23 

38 

49 
27 

53 

82 

55 
29 

46 
76 

47 
54 

44 
64 

42 
20 

397 
352 

Bekannte 

M. 
V. 

61 

58 

75 
74 

87 
45 

50 
45 

22 
33 

38 
33 

64 
30 

33 

30 

54 
39 

Vater  oder  Mutter 

i 

M. 
V. 

35 

29 

35 
30 

19 
16 

15 
17 

4 
17 

13 
25 

14 
19 

5 
20 

17 
19 

Andere  Verwandte 

'.' 

M. 
V. 

17 

11 

14 
11 

8 
25 

6 
17 

4 
9 

2 

6 

5 
6 

12 
10 

8 
12,5 

Andere  Bekannte 

M. 
V. 

9 

18 

26 
33 

60 
4 

29 
11 

14 

7 

23 

2 

45 
5 

19 
0 

29 

7,5 

Öffentliche  Personen 

:: 

M. 
V. 

0 

14 

4 
26 

6 
20 

18 
46 

20 
26 

21 
41 

22 
43 

23 
45 

14 
33 

Kaiser  oder  Kaiserin 

i 

M. 
V. 

0 

3 

2 
26 

4 
12 

2 
31 

2 

14 

2 
11 

0 
15 

0 
10 

2 
16 

Deutsche  Geschichte 

M. 
V. 

0 

11 

2 
0 

2 

8 

10 
15 

9 
12 

13 
30 

20 
25 

17 
35 

9 

164 

Fremde  Geschichte 

M. 
V. 

0 

0 

0 
0 

0 
0 

6 
0 

9 
0 

6 
0 

2 
3 

5 
0 

3 
0,5 

M. 

0 

0 

0 

2 

13 

14 

25 

11 

38 

12 

Dichtung 

V. 

0 

4 

4 

4 

4 

3 

5 

3,5 

M. 

22 

26 

13 

6 

22 

26 

9 

7 

10 

14 

Religiöse  Personen 

V. 

0 

11 

4 

26 

17 

22 

20 

164 

M. 

9 

11 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

1 

Gott 

V. 

0 

3 

0 

1 

0 

0 

0 

1 

M. 

13 

15 

13 

6 

20 

22 

6 

5 

0 

12 

Jesus 

V 

0 

5 

0 

0 

2 

2 

8 

2 

M. 

0 

0 

0 

0 

2 

4 

2 

2 

2 

1 

Bibel 

V. 

0 

3 

4 

25 

15 

20 

20 

14 

M. 

35 

58 

29 

17 

50 

41 

23 

23 

88 

35 

Das  andere  Geschlecht 

V. 

22 

33 

35 

25 

40 

24 

20 

30 

M. 

17 

2 

8 

0 

0 

18 

7 

0 

0 

5 

Keine  Antwort 

V. 

0 

20 

1 

11 

5 

2 

0 

9 

Wiederum  mutet  materieller  Besitz  stark  das  unreife  Gemüt  an 
und  wird  stufenweise  weniger  wichtig,  wenn  die  Persönlichkeit  sich 
entwickelt    und    die   wahrhaft   menschlichen   "Werte   geschätzt    werden. 


169 


Unsere  Gruppe  ergiebt  einen  ungewöhnlicli  hohen  Prozentsatz  für  ma- 
teriellen Besitz :  14  "/o  Knaben  und  5  7o  Mädchen.  Barnes  findet  7  ^jo 
und  2  0/o,  während  Chambers  6°/o  Knaben  und  Mädchen  zusammen  an- 
nimmt. Dieser  große  Unterschied  ist  unzweifelhaft  durch  die  Tatsache 
zu  erklären,  daß  unsere  Kinder  alle  aus  den  ärmeren  Ständen  sind  und 
viele  Entbehrungen  kennen,  welche  aus  der  Armut  stammen.  Barnes 
Londoner  Arbeit  bestärkt  uns  darin. 

Tabelle  IV. 

Einteilung  der  Gründe  mit  dem  jedesmaligen  Altersprozentsatz   in   der 
betreffenden  Klasse.     Obere  Linie:  Knaben,  untere:  Mädchen. 


Alter 
Keine  Antwort 

Keinen  Grund 
Gut,  gütig 
Materieller  Besitz 

Charaktereigenschaften 

Äußere  Bedingung  oder 
Erscheinung 

Intellektuelle  od.  künst- 
lerische 

Macht  haben  Dinge  zu 
tun 


6 

K. 

M.    17 
K. 

M.    52 
K. 

M.    17 
K. 
M.     5 

K. 
M. 
K. 
M. 

K.    — 
M.     0 


0 


0 


K.    — 
M.     9 


7 

31 

2 

43 

30 
16 
37 
4 
9 
4 
9 
2 
0 
0 
0 

0 
13 


10     11      12      13     14      Total 


3 
6 

16 

15 


0 

13 

9 

1 


34  31 
54  44 
22      26 


3 
0 
8 
4 

30 


4 
13 
5 
0 
16 
29  23 
14      13 


12 
16 

7 

6 
5 
4 
1 

0 
0 


7 

17 
22 

9 

12 

1 

3 

3 
0 


5 
5 
8 
2 
13 
17 

7 
5 


3 
0 
3 
5 
6 
17 
11 
0 


32      34      40      43 
44     57      66     63 


8 

16 

2 

3 


12 
3 

3 
2 


5      11 
0       0 


12      12 
0        0 


0 
0 
3 
0 

9 
12 

6 
1 

60 
74 

8 
9 
5 
3 

9 
0 


6 
6 

17 

15 

20 

28 

14 

5 

30 

43 

7 

7 

2 

2 

6 
1 


Der  Grund  welcher  eine  aufsteigende  Linie  zeigt  ist:  „Charakter- 
eigenschaften" ;  bei  Mädchen  im  Alter  von  14  Jahren  eine  Höhe  von 
74  °/o  erreichend.  Dies  ist  hauptsächlich  durch  „Tapferkeit"  verursacht, 
was  wieder  beweist ,  daß  ein  unreifer  Geist  sich  durch  primitive  Tu- 
genden am  meisten  angezogen  fühlt.  Ganz  mit  dem  letzten  Punkte 
übereinstimmend  ist  die  große  Inanspruchnahme  der  „äußeren  Erschei- 
nung". Diese  wird  etwa  2  bis  3  mal  öfter  erwähnt  als  in  jeder  andern 
Arbeit. 

„Mächtige  Dinge  zu  tun"  („oder  die  Macht  haben  Dinge  zu  tun") 
wurde  als  Grund  von  17  ^lo  und  12  °/o  der  New-Jersey  Kinder  angegeben 
von  unsem  6  %  und  1  %. 

Hauptsächlich  „intellektuelle  und  künstlerische  Eigenschaften"  sind 
angegeben  wie  folgt :  N.  J.  7  %,  New  Castle,  Pa.  5  °/o.    Die  Unsrigen  2 ''/o. 

Die  Gründe  bestätigen  auf  diese  Weise  die  richtigen  Antworten.  — 


—     170    — 

Da  wir  nun  wissen,  daß  wir -mit  einer  G-ruppe  zu  tun  haben,  die  auf 
einer  niedrigen  sozialen  Stufe  steht,  durch  Armut  und  enge  Umgebung 
eingeschränkt  und  begrenzt,  haben  wir  da  nicht  das  Recht,  diese  Kurven 
als  die  niedrigste  Grrenze  für  die  kindliche  Entwickelung  anzusehen? 
Wir  möchten  nicht  noch  tiefer  herunter  gehen.  Eine  Arbeit  an  Kin- 
dern von  Gymnasien  und  Töchterschulen  würde  uns  wohl  die  höchste 
Stufe  angeben.  Im  letzteren  Falle  dürften  die  Kurven  wohl  so  hoch 
über  den  amerikanischen  sein,    als    die  der  Volksschulen   darunter  sind. 

Ein  Vergleich  von  Gymnasium  und  Realgymnasium  würde  wahr- 
scheinlich einige  interessante  Punkte  ergeben. 

Die  folgenden  Details  der  Studie  über  die  Gründe  „öffentliche  Cha- 
raktere" zu  wählen,  dürfte  von  Interesse  sein.  Die  Zahlen  bedeuten 
die   wirkliche  Anzahl  und  nicht  den  Prozentsatz. 


Gründe  der  Knab 
Tapfer  48 
Fromm  38 
Gut  31 

vollbrachten  Dinge : 
militärische  23 
religiöse  9 
andere  Taten  12 
taten  Gutes  9 
materieller  Besitz  19 
Patriotisch  15 
äußere  Erscheinung  9 
geistig  u.  künstlerische  15 
altruistische  12 
der  Höchste  13 
treu  1 
kühn  2 

äußerliche  Erscheinung  2 
demütig  2 
lebte  einfach  2 
beliebt  2 

liebte  sein  Volk  2 
sonst  2 

guter  Charakter  1 
so  könnte  ich  reiten  1 


en  für  ihre  Wahl, 
ist  mächtig  8 
ist  der  Herrscher  17 
mutig  9 
stark  12 

edler  Charakter  2 
weit  gereist  2 
energisch  2 
ein  Held  6 
geduldig  2 
wohlerzogen  2 
ist  ein  Ritter  1 
kann  schießen  1 
kann  predigen  1 
stolz  1 

gehorchte  den  Eltern  2* 
tötete  Goliath  1 
lebte  einfach  5 
giebt  uns  Brot  1 
kämpfte  für  seinen  Glauben  2 
stahl  von  den  Reichen  um  den  Ar- 
men zu  geben  3 
wünschte  frei  zu  sein  1 
brauchte  nicht  zu  arbeiten  1 


—    171    — 


Grründe  der  Mädchen. 
Fromin  8  edel  1 

menschenfreimdlicli  21 
Freundschaft  14 
intellektuelle  u.  künstlerische  7 
tapfer  6 

starker  Glaube  3 
große  Taten  3 
gut  5 


fleißig  2 

patriotische  3 

leutselig  3 

wahr  2 

tugendhaft  1 

so  furchtbar  Rache  nimmt  1 


Gründe  der  Knaben  den  Kaiser  zu  wählen. 
Gut  und  freundlich  18 
SteUung,  Ehre,  Ruhm  21 
Macht  7 

Ich  habe  ihn  gern  2 
Materieller  Besitz  18 
äußere  Erscheinung  8 
menschenfreundlich  5 
moralische  Eigenschaften  3 
Er  herrscht  7 
militärische  Eigenschaften  1 


Gründe  der  Mädchen  für  die  Wahl  der  Kaiserin. 


Gut  7 

die  Höchste  8 
angenehm  3 
wohltätig  1 
menschenfreundlich  3 
stolz  1 
tugendhaft  1 
gütig  1 


schön  3 

ist  Königin  2 

fromm  4 

mitleidig  2 

reich  4 

sanft  2 

edler  Charakter  1 


Gründe  für  die  Wahl  Martin  Luthers. 


Knaben : 
guter  Mann: 
streng  erzogen  2 
übersetzte  die  Bibel  3 
mutig  2 
fromm  8 
klug  1 


Mädchen : 
Bibelübersetzer  3 
fromm  7 
klug  1 

führte  die  Reformation  2 
machte  uns  lutherisch  1 
berühmt  1 


—    172    — 

führte  die  Reformation  2  große  Taten  1 

war  ein  Dichter  1  liebte  seine  Eltern  l 

Grründe  der  Mädchen  für  die  "Wahl  der  Königin  Luise. 

Tat  so  viel  für  die  Armen  17   tugendhaft  2 

Promm  11  gütig  2 

mitleidig  7  gerecht  1 

sanft  7  geduldig  2 

edler  Charakter  4  zufrieden  1 

gut  7  eine  fromme  Frau  2 

angenehm  1 

Gründe  der  Mädchen  für  die  Wahl  von  Ruth, 
selbstlose  Hingabe  an  Naemi  13 
bescheiden  2 
fromm  5 
mitleidig  3 
gut  2 
sanft  1 
fleißig  4 
gehorsam  1 

Gründe  für  die  Wahl  von  Jesus. 
Knaben : 
gut  und  fromm  19 
hat  uns  Gutes  getan  3 
gehorchte  den  Eltern  2 
giebt  uns  Brot  1 
mächtig  1 
starb  für  uns  2 
half  den  Armen  1 

Mädchen : 
Gut  und  fronmi  18 
errettet  uns  von  Sünde  5 
er  ist  ohne  Sünde  7 
starb  für  uns  4 
liebte  uns  3 
kann  Tote  erwecken  3 
hat  so  Vieles  getan 


—    173    — 

lehrte  2 

ist  Gottes  Sohn  2 

litt  für  uns  1 

gut  zu  Kranken  u.  Armen 

geduldig  2 

tat  Wunder  1 

hilfreich  1 

predigte  das  Evangelium  1 

beschützt  mich  1 

kann  alle  Dinge  machen  1 

gottesfürchtig  1. 


Bibliographie. 

A.    Die  wichtigsten  Zeitschriften. 

1.  A  study  of  children's  ideals ;  by  Estelle  M.  Darrah,  Populär  Science  Monthly  Vol.  53. 

p.p.  88—98. 

2.  Children's  ideals;  by  Earl  Barnes.    Pedagogical  Seminary  Vol.  VII  p.p.  3—12. 

3.  School  children's  ideals;    by  Catherine  J.  Dodd.   national  review   (London)  vol.  24. 

p.p.  875—889. 

4.  Children's  Ideals ;    by  Adelaide   E.  WycoflF.    Pedagogical  Seminary  vol.  VIII   p.  p. 

482—494. 

5.  A  Type  study   on  Ideals  by  Earl  Barnes.     Studies   in  education  vol.  11  publ.  bythe 

author. 

6.  Die  Ideale  der  Kinder.    Johann  Friedrich.    Zeit,  für  Ped.  Psy.  vol.  III  p.  p.  38 — 64. 

7.  The  Evolution  of  Ideals :  by  Will  6.  Chambers  ;  Ped.  Seminary  VoL  X  p.  p.  101—143. 

B.    Verwandte  Zeitschriften. 

8.  The  Development  of  Children's  Political  Ideas ;  by  Earl  Barnes  Studies  in  Education 

Vol.  2.  p.  p    5—24. 

9.  Political  Ideas  of  Amerikan  Children;   by  Earl  Barnes  Studies  in  Education  Vol.  2. 

p.p.  25-30. 

10.  Children's  Hopes  ;  by  J.  P.  Taylor,  New- York  School  Report  1895—96. 

11.  Children's  Ambitions  by  Haltie   Mason  Willard,    Studies    in   Education  Vol.  I  p.p. 

243—253. 

12.  A.  Study  in  Children's  Social  Enviconment;    by    Sarah    A.   Young.     Barnes    Studies 

in  Education  Vol.  II  p.p.  134—140. 

13.  Children's   Ideals   of  Lady  and  Gentleman  by  Anna  Barnes  Studies   in  Education 

Vol.  2  p.  p.  243  -  258. 

14.  Children's   Attitudes  Toward  Future  Occupations;  by  Earl  Barnes  Studies  in  Edu- 

cation Vol.  2.  p.  p.  243—258. 

15.  School  Girls'  Ideas  of  Women's  Occupation ;  by  Sarah  Young  studies  in  Education 

Vol.  2.  pp.  259-270. 

16.  Vocation  al  Interests  of  Children;  by  Will  S.  Monroe  Education.    Jan.  1898. 

17.  Negation  Ideals  by  Henrj-  H.  Goddard  Studies  in  Education,    Vol.  2.  p.  p.  392—898 


—    174    — 

Bericht   über    den   Kongress   für  Kinderforschung  und   Jugendfür- 
sorge zu  Berlin. 

Von  Dr.  Alfons  Engelsperger,  München. 

Der  Kongreß  für  Kinderforschung  und  Jugendfürsorge  fand  in  der 
Zeit  vom  1 — 4.  Okt.  1906  in  den  Räumen  der  kgl.  Universität  zu  Berlin 
statt  und  war  zunächst  für  Angehörige  des  deutschen  Sprachgebietes 
bestimmt.  Alle  jene,  welche  auf  dem  Grebiete  der  an  "Weite  und  Tiefe 
der  Probleme  stetig  wachsenden  jungen  Wissenschaft  der  Kinderfor- 
schung oder  an  der  sich  immer  nötiger  erweisenden  Jugendfürsorge 
arbeiten,  haben  den  Zusammenschluß  freudig  begrüßt  und  danken  denen, 
welche  den  Kongreß  anregten  und  mit  vieler  Mühe  vorbereiteten.  Wohl 
an  Tausend  mögen  der  Einladung  gefolgt  sein :  Vertreter  von  Wissen- 
schaft und  Praxis,  Pädagogen,  Psychologen,  Soziologen,  Arzte,  Juristen ; 
hervorgehoben  sei  die  große  Beteiligung  von  Frauen.  Eine  Reihe  zu- 
ständiger Ministerien  und  anderer  hoher  Behörden,  auch  viele  deutsche 
und  außerdeutsche  Städteverwaltungen  hatten  Vertreter  gesandt. 

Zu  Vorsitzenden  des  Kongresses  wurden  Prof.  Dr.  W.  Münch  (Berlin), 
Direktor  J.  Trüper  (Jena)  und  Dr.  Wilh.  Ament  (Würzburg)  gewählt, 
die  mit  anderen  Männern  des  vorbereitenden  Ausschusses  sich  um  das 
Zustandekommen  des  Kongresses  außerordentlich  verdient  machten. 

Prof.  Dr.  W.  Münch  wies  nach  kurzer  Begrüßung  auf  die  Bedeu- 
tung des  Kongresses  hin,  der  Theorie  und  Praxis  umfassen  soll  und 
eigentlich  nur  Proben  von  dem  großen  Vorrat  an  Problemen  auf  dem 
Gebiete  der  Kinderforschung  und  Jugendfürsorge  zu  geben  vermöge. 

Von  der  großen  Zahl  der  Vorträge  war  der  kleinere  Teil  für  den 
Gesamtkongreß  bestimmt,  der  größere  für  die  Verhandlungen  in  den 
einzelnen  Sektionen.  Da  es  sich  um  den  ersten  Kongreß  dieser  Art 
handelt,  dürfte  es  gerechtfertigt  erscheinen,  besonders  in  der  vorlie- 
genden Zeitschrift  auf  die  einzelnen  Vorträge  näher  einzugehen,  als  bei 
Berichterstattungen  sonst  üblich  ist.  Ich  will  mich  dabei  an  die  offiz. 
Vortr. -Ordnung  halten  ^). 

Montag  G.  K.  sprach  Prof.  Dr.  Baginsky  (Berlin)  über:  Die 
Impressionab  ilität  der  Kinder  unter  dem  Einfluß  des 
Milieu. 

Der  Vortragende  betonte  zunächst,  daß  sich  in  den  letzten  Jahr- 
zehnten infolge  der  Richtung  der  modernen  Philosophie  eine  Annäherung 


1)  G.  K.  Vorträge  für  den  Gesamtkongreß,  S.A.  für  die  anthropologisch  -  psycholo- 
gische, S.  B.  psycholog.-pädagogische,  S.  C.  philantrop.-soziale  Sektion. 


—    175    — 

zwischen  dieser  und  den  Naturwissenschaften  vollzogen  habe;  gemein- 
same Arbeit  sei  besonders  auf  dem  Gebiet  der  Entwicklung  der  Psyche 
des  menschlichen  Kindes  nötig.  Hier  könne  der  Arzt  aus  persönlichen 
Erfahrungen  heraus  manche  Ergebnisse  mitteilen. 

Unter  „Impressionabilität"  (vielleicht  Eindrucksfähigkeit)  will  B. 
die  Fähigkeit  verstehen,  sich  unter  dem  Einfluß  des  Greschehens  in  seinem 
Wesen  zu  wandeln,  unter  „Milieu"  (das  ebenfalls  schwer  zu  verdeutschen 
sei)  die  Umgebung,  die  G-esamtheit  von  Einrichtungen,  Lebensgewohn- 
heiten und  dergl.,  die  auf  ein  Individuum  unter  bestimmten  Verhält- 
nissen einwirken.  Bei  leichteren  Erkrankungen  begegne  der  Arzt  immer 
wieder  der  Erscheinung,  daß  vielfach  von  außen  kommende  Eindrücke 
das  Krankheitsbild  verändern.  Bei  demselben  Kind  und  sonst  unver- 
änderten Krankheit s Vorgängen  bringe  der  Wechsel  der  Umgebung  auch 
einen  Wechsel  der  Krankheitserscheinung  zu  stände.  So  machte  ein 
sehr  verwöhntes  5  jähriges  Kind  die  Nacht  zum  Tage,  wollte  nachts 
spielen,  essen  — ,  es  hatte  den  Eltern  seinen  Willen  vollständig  aufge- 
drängt. Unter  dem  Einfluß  der  letzteren  konnte  von  einer  Heilung 
keine  Rede  sein.  In  ein  Sanatorium  verbracht,  war  es  in  14  Tagen 
durch  Einwirkung  der  neuen  Umgebung,  Hausordnung  etc.  ohne  medi- 
zinische Mittel  zu  einem  willigen  Kind  geworden.  Nach  einer  Reihe 
weiterer  Beispiele  ging  ß.  auf  die  psychologische  Seite  dieser  Er- 
scheinungen über.  Die  kindlichen  Vorstellungen  seien  nicht  gefestigt, 
die  Assoziationen  leicht  lösbar,  und  darum  sei  die  kindliche  Psyche  so 
außerordentlich  leicht  beeinflußbar  durch  neue  Wahrnehmungen. 

Typisch  sei  für  das  Kind  die  Einschätzung  der  Vorstellung  als 
Wirklichkeit,  und  darin  seien  die  Quellen  der  Phantasie,  der  Autosug- 
gestion, der  Furcht  und  Lüge  zu  suchen.  Auf  die  praktische  Bedeu- 
tung dieser  Verhältnisse  übergehend  hob  B.  hervor,  daß  viele  unter  dem 
Einfluß  eines  ungesunden  Milieus  entstandenen  schlechten  Gewohnheiten 
und  dergl.  bei  besserer  Gestaltung  desselben  verschwinden.  Besondere 
Bedeutung  komme  den  Kinderlügen  zu.  Kinderaussagen  vor  Gericht 
seien  nichtig,  um  so  mehr,  je  öfter  das  Kind  seine  Aussage  wiederholen 
müsse.  Deutsche  Gerichte  seien  davon  noch  nicht  überzeugt;  Schweden 
besitze  ein  Gesetz,  nach  welchem  Kinder  unter  15  Jahren  nicht  als 
Zeugen  vernommen  werden  dürfen. 

Zum  Schlüsse  empfiehlt  der  Redner  den  Wechsel  des  Milieus  gege- 
benenfalls   in  der  Medizin  als  Heilfaktor  zn  benützen. 

Prof.  Dr.  M  e  u  m  a  n  n  (Königsberg)  referierte  dann  über  die  wissen- 
schaftliche Untersuchung  der  Begabungsunterschiede  der  Kinder  und 
ihre  praktische  Bedeutung: 

Erst  die    gegenwärtige  Psychologie   ermöglicht  durch   ihre  Verbin- 


—    176    — 

düng  von  Beobachtung  und  Experiment  einige  sichere  Angaben  über  die 
Begabung.  Bezüglich  des  Begriffes  der  Begabung  ist  der  Sprachgebrauch 
nicht  ganz  feststehend.  Im  weiteren  Sinne  versteht  man  unter  Bega- 
bung die  intellektuelle  Befähigung  des  Menschen  überhaupt,  im  spezi- 
elleren einen  höheren  Grad  von  Begabung.  Nach  weiteren  etymolo- 
gischen Betrachtungen  ging  M.  auf  die  Besprechung  der  theoretischen 
Aufgaben  der  wissenschaftlichen  Begabungslehre  über ;  solche  wären : 

1.  das  "Wesen  der  Begabung  im  engeren  Sinne,  d.  h.  die  Wirksam- 
keit des  angeborenen  Momentes  im  Intellekt  festzulegen, 

2.  das  der  Begabung  im  weitern  Sinne,  d.  h.  soweit  sie  den  ange- 
bornen  und  erworbenen  Faktor  umfaßt ; 

3.  die  Entwicklung  der  kindl.  Begabung  durch  die  einzelnen  Jahre 
der  Schulzeit  hin  zu  verfolgen ,  das  Charakteristische  und  die  individu- 
ellen Differenzen  der  kindl.  Begabung  festzustellen. 

Mit  dieser  qualitativen  Seite  des  Problems  sind  auch  wichtige  An- 
haltspunkte bezügl.  der  quantitativen  Seite  gewonnen ,  d.  h.  bezügl.  des 
Grrades  der  Begabung.  Aufgabe  der  Intelligenzmessungen  wäre  es ,  die 
Durschnittsbegabung  für  jedes  Entwicklungsjahr  festzustellen  und  die 
vorkommenden  Abweichungen  davon.  (Hervorragende  Begabung,  das 
schwache  Kind). 

Die  praktische  Aufgabe  der  Begabungslehre  wäre  nun,  die  theo- 
retischen Ergebnisse  auf  Erziehung  und  Unterricht  anzuwenden.  Dabei 
stoßen  wir  zunächst  auf  den  Begriff  der  Schulbegabung.  Wer  in  Schul- 
fächern viel  leistet,  erscheint  begabt,  wer  nicht,  unbegabt  u.  dgl.  Gre- 
rade  die  fundamentale  Seite  der  geistigen  Arbeit  komme  in  manchen 
Schulfächern  nicht  zum  Ausdruck.  Aus  diesen  und  anderen  Gründen 
müsse  der  Begriff  „Schulbegabung"    einer  Revision   unterzogen    werden. 

In  praktischer  Hinsicht  sei  die  Frage  nach  der  Bildungsfähigkeit 
der  kindl.  Begabung  von  außerordentlicher  Bedeutung :  z.  B.  wie  weit 
lassen    sich  Mängel    der  Begabung    durch    geeignete  Übung  ausgleichen. 

(Beispiele).  Eine  letzte  Gruppe  von  praktischen  Problemen  wäre  die 
Frage  nach  der  Trennung  der  Schüler  nach  ihrer  Leistungsfähigkeit. 
Auch  hierzu  müsse  die  wissenschaftliche  Begabungslehre  Stellung  nehmen. 
An  einem  Beispiele  zeigt  M.,  welche  Bedeutung  die  experiment.  Analyse 
der  Begabung  haben  könne.  Erst  die  genaue  Analyse  z.  B.  der  zeichne- 
rischen Tätigkeit  ermögliche  die  Auffindung  der  Mängel  und  die  An- 
wendung geeigneter  Mittel  zu  deren  Beseitigung. 

Hierauf  ging  M.  auf  die  einschlägigen  Methoden  ein,  welche  bereits 
ausgebildet  wurden  und  deren  Wert  sehr  verschieden  sei. 

Hierbei  seien  jene  auszuscheiden,  welche  nur  den  Charakter  von 
Ergänzungen  der  wissenschaftl.  Forschungen  beanspruchen  können  z.  B. 


—    177    — 

biographische  Xotizen,  die  Fragebogen-Methode,  u.  dergl.  Bezüglich  der 
wissenschaftl.  Methoden  wurde  erwähnt,  daß  jedes  Hauptproblem  seiner 
besonderen  Untersuchungsmethoden  bedürfe.  Zu  den  schwierigsten  Fragen 
zähle  die  nach  dem  angeborenen  Moment  der  Begabung.  Ohne  die  An- 
nahme eines  solchen  können  wir  nicht  auskommen.  Wir  müssen  dieselbe 
von  dem  Erziehungsmoment  zu  trennen  suchen.  Wir  besitzen  Anhalts- 
punkte, z.  B. :  je  mehr  Übung  nötig  sei  zu  einer  bestimmten  Leistung, 
desto  geringer  sei  die  Anlage  und  umgekehrt.  Noch  eine  Reihe  anderer 
Gresichtspunkte  sei  möglich. 

(Hier  wurde  der  Vortrag  abgebrochen). 

Als  Dritter  sprach 

Rektor  Ufer  (Elberfeld)  über  das  Verhältnis  von  Kinder- 
forschung und  Pädagogik.  Redner  warnt  vor  einer  Überschätzung 
der  Kinderforschung  in  pädagogischer  Hinsicht.  Am  meisten  sei  bis 
jetzt  das  Seelenleben  von  der  Geburt  bis  zum  6.  oder  7.  Lebensjahr  er- 
forscht worden,  und  der  Ertrag  sei  wertvoll  für  Haus  und  Kindergarten. 
Betreffs  des  schulpflichtigen  Alters  wären  die  Ergebnisse  in  entwicklungs- 
geschichtl.  Hinsicht  dürftig  und  unvollständig  und  werden  es  vielleicht 
bleiben .  sei  es ,  weil  sich  die  Schwierigkeiten  zu  sehr  mehren ,  sei  es, 
weU  möglicherweise,  natürlich  von  dem  Einfluß  der  Pubertät  abgesehen, 
eine  eigentl.  Entwicklung  in  dem  frühern  Sinne  nicht  mehr  stattfinde, 
sondern  mehr  eine  Erstarkung. 

Die  Pädagogik  werde  daher  wohltun,  das  von  der  Vergangenheit 
ererbte  Gut  nicht  achtlos  bei  Seite  zu  werfen,  zumal  in  ihm  doch 
auch  Ergebnisse  der  Kinderbeobachtung  verwertet  wären ,  dabei  aber 
Neues,  falls  es  wirklich  neu  sei,  zu  benutzen.  Eine  weit  größere  Be- 
deutung komme  der  Kinderforschung  in  pädagog.  Hinsicht  zu,  wenn  es 
sich  um  das  Gebiet  der  unterschied!.  Beanlagung  handle.  Was  die 
Kinderforschung  bezüglich  der  Psychologie  der  Geschlechter  beigebracht 
habe,  mahne  die  eifrigen  Reformer  entschieden  zur  Vorsicht. 

Einen  sehr  wichtigen  Beitrag  könne  die  Kinderforschung  liefern 
wenn  es  sich  um  Kenntnis  der  Individualität  handle  und  besonders  dann, 
wenn  Psychopathisches  in  Frage  komme.  — 

In  der  sich  an  beide  Vorträge  anschließenden  Diskussion  kam  in 
deutKcher  Weise  die  entgegengesetzte  Stellungnahme  zum  Ausdruck. 
(M.  war  am  Erscheinen  verhindert). 

Zunächst  betonte  K  e  m  s  i  e  s  ,  daß  der  Lehrer  sehr  wohl  die  Bega- 
bung des  Kindes  erkennen  könne.  Schon  in  den  ersten  Assoziations- 
und Kombinationsübungen  trete  oft  die  Veranlagung  hervor.  Man  soll 
das  Individuum  immer  als  Ganzes  betrachten  und  nicht  zu  sehr  auf  das 


—    178    — 

Einzelne  eingehen.  Zwischen  der  Wissenschaft  der  Kinderforschang 
und  der  praktischen  Pädagogik  bestehe  nur  ein  gradueller  Unterschied; 
die  fortwährende  Beobachtung  sei  auch  eine  Art  von  Experiment  und 
könne  stets  als  Experiment  fortgesetzt  werden.  Darum  sollen  die  Er- 
fahrungen der  alten  Pädagogen  nicht  so  ohne  weiteres  über  den  Haufen 
geworfen  werden. 

Sickinger  führte  aus,  daß  die  verschiedenen  Testmethoden  große 
Unterschiede  hinsichtlich  der  geistigen  Leistungsfähigkeit  der  Kinder 
nachgewiesen  hätten,  ebenso  Kerschensteiners  Buch  hinsichtlich  der 
zeichnerischen  Begabung.  Die  Zusammenfassung  der  Individuen  in  ent- 
sprechende Gruppen  erweise  sich  als  notwendig.  Selbst  wenn  die 
wissenschaftl.  Methoden  einen  hohen  Grad  von  Zuverlässigkeit  erreichen, 
so  erlangen  sie  nicht  denjenigen  der  Beobachtungen ,  die  wir  im  Lauf 
des  Jahres  machen. 

Dr.  Stern  (Breslau)  vertrat  den  Standpunkt  des  Psychologen  und 
bedauerte,  daß  man  das  trennende  Moment  zu  sehr  hervorgehoben  habe. 
Man  habe  geglaubt ,  das  Experiment  des  psych.  Laboratoriums  gleich 
auf  die  Praxis  übertragen  zu  können.  Die  Vertreter  der  Wissenschaft 
wollen  durchaus  nicht  wie  viele  andere  eine  Umwälzung  der  gesamten 
Pädagogik.  Besonders  Meumann  arbeite  auf  eine  Fühlungnahme  zwischen 
Theorie  und  Praxis  hin.  Die  Pädagogik  müsse  uns  die  Probleme  geben ; 
wir  suchen  diese  mit  exakten  Hilfsmitteln  zu  lösen;  es  sei  ein  Geben 
und  Nehmen,  nicht  ein  gegenseitiges  Bekämpfen.  Wenn  man  kritisch 
in  der  Anwendung  der  psychol.  Ergebnisse  verfahre,  dann  dürfe  man 
mehr  von  der  Zukunft  erwarten,  als  Kemsies  und  Sickinger   annehmen. 

Man  solle  nicht  davon  reden,  daß  durch  die  Experimente  bloß  Selbst- 
verständlichkeiten nachgewiesen  würden;  es  sei  schon  ein  Verdienst, 
etwas  bewiesen  zu  sehen,  was  man  bisher  nur  unklar  wußte.  Beispiele 
erläuterten  dies. 

Dr.  Brahn  hob  hervor,  daß  die  experimentelle  Pädagogik  noch 
keine  10  Jahre  alt  sei.  Er  habe  an  200  Schulkindern  die  Verschieden- 
heit der  Begabung  festgestellt,  ehe  Sickinger  seine  praktischen  Ver- 
suche ausführte.  Die  Autosuggestion,  die  beim  Experiment  in  Frage 
komme,  verhalte  sich  zu  jener  bei  der  pädagogischen  Beobachtung  wie 
eins  zur  Million.  Die  wissenschaftl.  Beobachtung  könne  jeder  nach- 
prüfen; nirgends  hersche  so  viel  Phrase  wie  in  der  Pädagogik.  Einen 
ausgesetzten  Preis  für  Nachweis  einer  pädagogischen  Tatsache  könne 
niemand  verdienen. 

Ufer  will  keinen  Gegensatz  zwischen  Pädagogik  und  Psychologie 
und  wünscht  den  experimentellen  Untersuchungen  den  besten  Erfolg. 
Münsterberg  gegenüber  verlange  er,  daß  jeder  Lehrer  Psychologie  treibe. 


—    179    — 

Psychologie  und  Pädagogik  sollten  einander  gegenüber  Bescheidenbeit 
üben  ^). 

Dr.  W.  Ament  (Würzburg)  berichtete  über  eine  erste  Blütezeit 
der  Kindersee lenknnde  um  die  Wende  des  18.  Jahrhundert.  Er  führte 
im  allgemeinen  folgendes  aus :  Die  moderne ,  um  das  Kind  entstandene 
Bewegung  ist  nicht  die  erste.  Die  Beobachtungen  von  Tiedemann  1786 
sind  nämlich  nicht  die  einzigen  ihrer  Art  im  18.  Jahrb.  gewesen.  Die 
Kinderforschung  erlebte  vielmehr  damals  schon  als  Folgeerscheinung 
des  durch  Rousseaus  Emil  1762  angeregten  Aufschwungs  der  Pädagogik 
im  Philantropinismus  einerseits  und  des  durch  den  philos.  Empirismus 
(Locke  1690)  angeregten  Aufschwungs  der  Erfahrungsseelenkunde  ander- 
seits eine  erste  Blütezeit,  die  aber  bis  auf  wenige  Spuren  wieder 
in  Vergessenheit  geriet.  Nach  einigen  zerstreuten  Vorläufern  setzte 
sie  etwa  unter  Basedow  und  Campe  wieder  ein  und  erstreckte  sich  in 
langer  Entwicklungskette  bis  etwa  nach  1830.  Tiedemann  erscheint  mit 
großer  Wahrscheinlichkeit  abhängig  von  Rousseau  und  den  Philantropen. 
Ganz  wie  die  moderne  Bewegung  begann  die  damalige  zuerst  mit  Kinder- 
beobachtungen und  sogar  Kindertagebüchem,  (Pestalozzi,  Dillenius,  Jean 
Paul  u.  a.)  und  führte  über  vergleichende  Lebensgeschichten  schließlich 
zu  systematischen  Gesamtdarstellungen.  Hinsichtlich  der  Methode  hatte 
sich  die  Kinderforschung  jener  Tage  in  diesen  Werken  bald  erschöpft 
und  nicht  die  Kraft ,  sich  gegen  den  Ansturm  der  nach  Kant  wieder 
neu  auflebenden  spekulativen  Systeme,  besonders  jenes  Herbarts,  zu 
halten.  Mit  der  Erfahrungsseelenkunde  wurde  von  diesen  auch  ihr 
Sprößling  hinweggefegt. 

Der  Vortrag  wurde  durch  eine  Ausstellung  der  Literatur  der 
Kinderseelenkuude  von  Locke  1690  bis  Preyer  1882  in  Erstlingsaus- 
gaben ergänzt.  Schade,  daß  diese  Znsammenstellung  nach  wenigen  Tagen 
wieder  auseinanderging. 

Nachmittags  begannen  die  Verhandlungen  der  Sektionen. 

S.  A.  Dr.  W.  Stern  (Breslau)  sprach  über  Grundfragen  der 
Psychogenesis.  Die  wissenschaftl.  Erforschung  der  seelischen  Ent- 
wicklung hat  noch  viele  Mängel  der  Anföngerschaft  an  sich  und  bedarf 
einer  Selbstbesinnung  auf  prinzipielle  Gesichtspunkte ,  die  in  das  Chaos 
seelischer  Entwicklungstatsachen  und  Entwicklungsbedingungen  Ordnung 
zu  bringen  geeignet  sind. 

Von  Bedeutung  sind  die  Grundfragen  der  Psychogenesis 


1)  Dr.  Elsenhans  (Heidelberg)  sprach  in  einer  S.  Sitztmg  über  die  Anlagen  des  Kindes. 
Leider  konnte  ich  diesen  Vortrag,  sowie  die  sieb  daran  knüpfende  Debatte  nicht  hören. 


—     180    — 

1.  für  die  Kinderpsychologie,  der  die  Erforschung  des  geistigen 
"Werdeprozesses  Selbstzweck  ist, 

2.  für  die  Pädagogik,  die  das  Ideal  „entwicklungstrea"  zu  sein  nur 
dann  erfüllen  kann,  wenn  sie  die  Grundlinien  der  Seelenentwicklung 
kennt, 

3.  aber  auch  für  die  Kulturwissenschaft;  denn  geistige  Entwick- 
lung gibt  es  nicht  nur  ontogenetisch  im  Einzelindividuum,  sondern  auch 
phylogenetisch  in  Gattung,  Menschheit,  Volk ;  und  ob  zwischen  beiden 
Parallelen  bestehen,  ist  eine  der  wichtigsten  Fragen   der  Psychogenesis. 

Die  seelische  Entwicklung  im  Kinde  kann  entweder  biographisch 
behandelt  werden  als  Entwicklungsgeschichte  einer  heranreifenden  Per- 
sönlichkeit durch  eine  Reihe  von  Stadien  hindurch,  oder  monographisch 
als  Entwicklungsgeschichte  einer  Funktion  z.  B.  der  Sprache. 

Stern  behandelte  dann  1.  die  Tatsachen,  2.  die  Ursachen  der  Psy- 
chogenesis, 3.  den  genetischen  Parallelismus. 

1.  Was  die  Tatsachen  der  Psychogenesis  betrifft,  so  kann  es  sich 
nur  um  die  Nachweisung  einiger  allgemein  gültiger  Grundzüge  handeln : 

a.  Alle  Entwicklung,  auch  die  psychische,  ist,  quantitativ  betrachtet, 
Steigerung  oder  "Wachstum, 

b.  qualitativ  genommen  ist  Entwicklung  nicht  Proportionalwachstum, 
sondern  eine  Folge  von  Metamorphosen  mit  fortwährenden  Verschie- 
bungen der  Verhältnisse.  Das  6  jährige  Kind  ist  weder  körperlich  noch 
geistig  nur  ein  Säugling  in  größeren  Dimensionen,  sondern  etwas  quali- 
tativ andersartiges.  Über  die  Phasenfolge  der  seelischen  Entwick- 
lung besteht  eine  bedauerliche  Unkenntnis.  Durch  fortschreitende  ver- 
gleichende Erforschung  vieler  Entwicklungsprozesse  kann  die  in  diesen 
liegende  feste  Ordnung  in  der  Reihenfolge  der  Funktionen  enthüllt 
werden. 

c.  Zeitlich  betrachtet  ist  alle  seelische  Entwicklung  rhythmisiert. 
Die  Psychogenesis  ist  nicht  ein  im  gleichmäßigem  Tempo  dahinfließender 
Fortschrittsprozeß,  sondern  verläuft  in  Wellenform.  Dies  gut  ebenso 
für  die  Entwicklung  eines  Individuums  als  eines  Ganzen,  wie  für  die 
Entwicklung  einer  einzelnen  Funktion. 

2.  Hinsichtlich  der  Ursachen  der  Psychogenesis  führte  St.  aus, 
daß  Inhalt  und  Eigenart  der  seelischen  Entwicklung  durch  innere  und 
äußere  Verursachung  zu  erklären  sei. 

Äußere  Faktoren  seien :  Nahrung,  Klima,  Erziehung,  Unterricht,  un- 
absichtliche Einflüsse  des  Milieus  u.  s.  f. 

Innere  Faktoren  seien :  Vererbung,  Geschlechtsmerkmale,  individuelle 
Besonderheiten,  die  nicht  aus  Geschlecht  und  Vererbung  abzuleiten  sind. 
(Nativismus,  Empirismus).    Das  Ineinandergreifen  des  innern  und  äußern 


—    181    — 

Faktors  ist  gar  nicht  innig  genug  zu  denken.  Am  leichtesten  sind  noch 
in  den  1.  Lebensjahren  des  Kindes  die  Umwelteinflüsse  einigermaßen  zu 
kontrollieren. 

3.  Die  Frage  nach  dem  psychogenetischen  Parallelismus  oder  der 
Frage,  ob  zwischen  der  gattungsmäßigen  oder  individuellen  Entwick- 
lung Parallelen  bestehen,  tritt  schon  bei  Lessing  und  insbesondere  in 
der  Kulturstufentheorie  der  Herbartianer  auf.  Eine  wissenschaftl.  Be- 
antwortung kann  die  Frage  erst  auf  grund  der  modernen  Kinderpsy- 
chologie finden.  Zur  Zeit  stehen  sich  hier  noch  ziemlich  schroff  zwei 
Standpunkte  gegenüber.  Die  einen  behaupten  die  Gültigkeit  des  Paral- 
lelismus zwischen  Ontogenesis  und  Phylogenesis  in  weitestem  Umfang 
auch  für  die  seelische  Entwicklung ;  die  anderen  weisen  auf  die  vielen 
Abweichungen  hin.  Auch  hier  müssen  wir  eine  Vermittlung  suchen. 
Die  doppelte  Ursächlichkeit  aller  seelischen  Entwickelung  ermöglicht 
beiden  Momenten  gerecht  zu  werden. 

Dr.  med.  W.  Fürstenheim  (Berlin)  sprach  über  Reaktions- 
zeit im  Kindesalter.  Er  berichtet  über  das  Ergebnis  von  über 
30  000  Reaktionszeitmessungen  an  7 — 10  jährigen  Volksschulkindern.  Es 
handle  sich  um  die  ersten  derartigen  Messungen  an  normalen  Kindern, 
welche  die  Übung ,  die  Richtung  der  Aufmerksamkeit  während  der  Re- 
aktion u.  s.  w.  systematisch  berücksichtigen. 

Die  durchschnittl.  Werte  der  akust.  neutral.  Reaktionszeit  betragen 
mit  großer  Übereinstimmung  bei  den  Knaben  0,14  bis  0,16  Sek.,  bei  den 
Mädchen  0.16  bis  0,18  Sek.;  charakteristische  individ.  Verschiedenheiten 
der  Kinder  erhält  man  durch  eine  Anordnung  der  Werte  in  zeitl.  Reihen- 
folge:  neben  ruhigen,  stetigen  Kindern  mit  gleichmäßigem  Übungsfort- 
schritt finden  sich  unstete,  bei  denen  der  Übungsfortschritt  durch  perio- 
dische Rückschritte  verzögert  oder  ganz  verhindert  wird.  Sehr 
interessant  ist  nun,  daß  die  hier  aufgedeckten  Verschiedenheiten  der 
Kinder  sich  nicht  auf  die  Reaktionsleistung  beschränken,  sondern  durch- 
greifende sind;  bei  jeder  psychischen  Betätigung,  (Intellekt  wie  Cha- 
rakter) lassen  sie  sich  teils  durch  freie  Beobachtung,  teils  durch  das 
Verhalten  der  Kinder  bei  der  pädag.-psychol.  Untersuchung  mit  sog. 
,.Test.-Methoden"  nachweisen.  Durch  diese  Methode  können  organisato- 
rische Verschiedenheiten  der  Kinder,  die  unabhängig  von  Milieu,  Er- 
ziehung und  Unterricht  in  der  ersten  Anlage  des  Kindes  begründet  sind, 
aufgedeckt,  gemessen  und  die  Grenzen  ihrer  Veränderlichkeit  durch 
Übung  und  äußere  Beeinflussung  dargestellt  werden. 

Ferner  referierte  Prof.  Dr.  med.  K.  Schäfer  (Berlin)  über  Farbe  n- 
beobachtungenbeiKindern. 

Ausgehend  von   der   Erfahrung,    daß  keine  Anhaltspunkte  für  eine 

Meumann.  Exper.  Pädagogik.    V.  Band.  13 


—    182    — 

bestimmte  Reihenfolge  in  der  Entwicklung  der  einzelnen  Farbenempfin- 
dungen  existieren,  teilte  der  Vortragende  die  Ergebnisse  der  an  seinem 
2\  2  jährigen  Sohn  gemachten  Beobachtungen  mit.  Dieselben  ergaben,  daß 
das  Kind  bereits  vollkommen  die  Hauptfarben  unterscheidet,  ehe  es  die 
richtige  Verwendung  des  Farbennamens  auch  nur  annähernd  beherrscht. 
Redner  kommt  schließlichi  zu  dem  Resultat,  daß  das  Farbenwahrneh- 
mungs-  und  Unterscheidungsvermögen  überhaupt  nicht  eigentlich  ent- 
wickelbar, sondern  angeboren  sei  in  dem  Sinne,  daß  es  in  die  Erschei- 
nung trete,  sobald  das  Auge,  die  Hirnrinde  nnd  die  beide  verbindende 
nervöse  Sehleitung  gebrauchsfähig  entwickelt  seien. 

In  Sektion  ß  berichtete  Fräulein  Hanna  Mecke  (Kassel)  über 
Fröbelsche  Pädagogik  und  Kinderforschung. 

Rednerin  sucht  nachzuweisen,  daß  Fröbel  intuitiv  erkannte,  was  auf 
langsamem  Wege  der  Beobachtung  und  Erforschung  die  Wissenschaft 
logisch  begründete.  Fröbel  entdeckte  den  Spieltrieb  als  die  elementare 
schaffende  Kraft  im  Menschen,  aus  der  sich  die  Arbeit  entwickelt  hat. 
Fröbels  Mission  scheiterte  an  äußeren  Verhältnissen.  In  Deutschland, 
gingen  Fröbels  Ideen  fast  verloren,  bis  von  Amerika  wieder  neue  An- 
triebe kamen. 

Im  2,  Teil  ging  Fräul.  Mecke  näher  darauf  ein,  inwiefern  die 
Fröbelsche  Pädagogik  die  wissenschaftl.  Forderungen  der  Kinderseelen- 
kunde  praktisch  erfülle.  Der  echte  Kindergarten  werde  ein  Vorbild 
für  die  Schule  der  Zukunft  werden. 

Dr.  phil.  A.  Engelsperger  (München)  brachte  Beiträge  zur 
Kenntnis  der  physischen  und  psychischen  Natur  der 
6jährigen,   in    die  Schule    eintretenden  Münchner   Kinder. 

Die  gemeinsam  mit  Herrn  Dr.  phil.  0.  Ziegler  an  circa  500  sechs- 
jährigen Münchner  Kindern  vorgenommenen  Untersuchungen  gliedern 
sich  in  einen  anthropol.  und  psychol.  Teil.  Aus  dem  ersteren  wurden 
nur  kurz  die  (unter  anderen)  erhaltenen  Längen-  und  Grewichtsmaße  an- 
gegeben und  darauf  hingewiesen,  daß  die  durchgeführte  Scheidung  nach 
den  sozialen  Lebensverhältnissen  für  die  Kinder  schlechter  situierter 
Stände  kleinere  Maße  ergab.  Ferner  zeigte  es  sich,  daß  die  noch  nicht 
6  Jahre  alten  Kinder  beträcktlich  geringere  Werte  als  ihre  älteren 
Kameraden  aufwiesen.  Somit  fanden  die  aus  der  Praxis  des  Schullebens 
heraus  mit  Rücksicht  auf  den  physischen  und  psychischen  Entwicklungs- 
stand häufig  geltend  gemachten  Bedenken  gegen  eine  Aufnahme  noch 
nicht  6  Jahre  alter  Kinder  hinsichtlich  Körperlänge  und  Gewicht  zahlen- 
mäßige Belege.  Weitere  Untersuchungen  über  die  G-ewichts Verhältnisse 
nach  achtwöchentlichem  Schulbesuch  veranlaßte  der  Wunsch 
zu  erfahren,   ob   der  eine  so  große  Änderung  in  der  bisherigen  Lebens- 


—    183    — 

weise  des  Kindes  vemrsachende  erste  Schulimterriclit  einen  merklichen 
Ausdruck  im  Gewicht  fände.  Etwa  85%  sowohl  der  Knaben  als  der 
Mädchen  wiesen  Gewichtszunahmen  bis  1,5  kg.  auf.  Der  nicht  unbe- 
deutende Rest  zeigte  Gewichts  abnähme  bis  zu  1  kg.  Diese  auch  ander- 
weitig gefundene  Tatsache  verdient  alle  Beachtung. 

Auf  die  Ursachen  dieser  Erscheinung  übergehend,  wurde  darauf 
hingewiesen,  wie  die  Eltern  in  nicht  unbeträchtlicher  Weise  zur  Er- 
höhung der  physischen-  u.  psychischen  Leistungsfähigkeit  ihres  Kindes,  zur 
Förderung  der  Schulreife  desselben  beitragen  könnten.  Weiter  wurde 
ausgeführt,  inwiefern  Staat  und  Gemeinde  die  Schädlichkeiten  von  den 
Schulanfängern  nach  Möglichkeit  fern  zu  halten  vermögen.  Besonders 
aber  müsse  es  eine  Hauptsorge  der  Schulverwaltungen  sein ,  im  Schul- 
betrieb selbst  der  körperlich  und  geistig  geringen  Widerstandskraft  der 
Kindesnatur  Rechnung  zu  tragen.  Endlich  vermöge  ein  nervenstarker, 
heiter  gestimmter  Lehrer  durch  verständnisvolles  Eingehen  auf  das 
kindliche  Seelenleben  auch  manche  Schädigung  physischer  Natur  zu  ver- 
meiden oder  doch  zu  verringern. 

Im  psychologischen  TeU  der  Ausführung  wurde  hervorgehoben,  daß 
es  für  Kinderpsychologie  wie  Pädagogik  eine  ebenso  dringende,  als 
schwierige  Aufgabe  sei,  unsere  Kenntnisse  von  den  psych.  Anlagen  und 
Fähigkeiten  des  Schulanfängers  zu  vermehren.  Eine  hierher  gehörige 
Gruppe  von  Arbeiten  habe  sich  mit  der  Feststellung  des  Vorstellungs- 
kreises des  Kindes  beim  Eintritt  in  die  Schule  beschäftigt.  Die  kritische 
Betrachtung  dieser  Arbeiten  zeige  aber ,  daß  diesen  Untersuchungen 
Mängel  in  stofflicher  und  methodologischer  Hinsicht  anhaften.  Deshalb 
konnten  sich  auch  die  an  diese  Analysen  geknüpften  zu  großen  Hoff- 
nungen praktisch  pädagogischer  Art  nur  teilweise  erfüllen.  Des  wei- 
teren wurde  kurz  angedeutet,  wie  solche  Arbeiten  fruchtbringender  zu 
gestalten  seien. 

Direktor  Deutsch  (Plauen)  sprach  über  die  individuellen 
Hemmungen  der  Aufmerksamkeit  im  Schulalter. 

Die  Unaufmerksamkeit  halte  man  schlechthin  für  einen  moralischen 
Defekt,  mit  Unrecht.  Es  sei  eine  Tat  pädagog.  Gerechtigkeit  und  Für- 
sorge, die  individuellen  Aufmerksamkeitshemmungen  zu  studieren.  Hier 
soll  nur  von  den  psycho-pathol.  Zuständen  die  Rede  sein,  die  als  Folge 
körperlicher  Krankheiten  aufgefaßt  werden  müssen: 

Wir  haben  es  zunächst  1.  mit  somatischen  Hemmungen  der  Auf- 
merksamkeit zu  tun.  Hierher  zählen  die  mehr  oder  minder  klar  be- 
wußten Krankheitsempfindungen,  die  dem  Schüler  als  Schmerz,  Druck, 
Fieberwärme  etc.  lästig  fallen  oder  als  Gemeinempfindungen  seine  Stim- 
mung gefangen  nehmen  und  herabdrücken.     Wenn  eine  Krankheit  unser 

13* 


—    184    — 

Kind  an  das  Bett  fesselt,  so  wird  niemand  Aufmerksamkeit  verlangen, 
wohl  aber  vom  kränkelnden  Kind  im  Unterricht.  Und  wie  wenig  Schüler 
sind  völlig  gesund  I  Zu  den  häufigsten  unter  Kindern  anzutreiffenden 
Aufmerksamkeitshemmungen  dieser  Art  zählen :  Kopfweh,  Zahnschmerzen, 
Ubelsein,  Magen-  und  Darmbeschwerden  u.  s.  w. 

Neben  den  somatischen  kommen  2.  sensorielle  Aufmerksamkeits- 
hemmungen in  betracht.  Hierher  zählen  Akkomodationsstörungen,  Kurz- 
und  Weitsichtigkeit,  Farbenblindheit  und  dergl.,  ferner  die  große  Zahl 
von  Ohrenerkrankungen,  Störungen  des  Muskelsinnes  u.  s.  f. 

Der  Vortragende  berührte  3.  die  rein  cerebralen,  die  assoziativen 
Aufmerksamkeitshemmungen  im  Schulleben.  Es  gebe  keine  Krankheit, 
keine  Schwäche  der  Großhirnrinde,  welche  die  assoziative  Aufmerksam- 
keit ungestört  ließe.  Oft  sei  die  Unaufmerksamkeit  ein  Krankheits- 
syrnptom,  ein  Warnungssignal,  das  leider  vielfach  unverstanden  bleibe. 
Dem  Lehrer  sei  in  erster  Linie  die  Möglichkeit  gegeben ,  den  indivi- 
duellen Aufmerksamkeitshemmungen  nachzugehen,  sie  unter  Mithilfe  der 
Eltern  und  des  Schularztes  diagnostisch  zu  erfassen  und  pädagogisch  zu 
berücksichtigen. 

Redakteur  und  Lehrer  F.  Weigl  (München)  sprach  über  Bil- 
dungsanstalten des  Staates,  der  Provinzen  bezw.  Kreise 
und  der  Kommunen  für  Schwachsinnige  im  deutschen 
Reiche.     Er  führte  ungefähr  folgendes  aus: 

Deutschland  hat  gegenwärtig  an  Bildungsanstalten  für  Schwach- 
sinnige 81  geschlossene  Anstalten  (darunter  8  staatliche,  5  provinzielle 
und  2  städtische  Anstalten),  162  Hilfsschulen  mit  14073  Kindern  und 
22  Städte  mit  Sonderklassen  nach  dem  Mannheimer  System.  Der  größte 
Teil  der  Arbeit  verbleibt  somit  privater  Wohltätigkeit. 

Trotzdem  z.  B.  Bayern  allein  17  Anstalten  für  schwachsinnige 
Kinder  besitzt,  mußten  doch  in  einem  einzigen  der  8  Kreise  Bayerns 
1902  über  200  solcher  Unglücklicher  unversorgt  bleiben.  Ahnlich  wie 
bei  Taubstummen  und  Blinden  müssen  daher  auch  hier  Staat  und  Pro- 
vinzen, bezw.  Kreise  eintreten.  Die  Städte  sind  zum  weiterem  Ausbau 
des  Hilfsschulwesens  verpflichtet.  600  deutsche  Städte  könnten  an  die 
Einrichtung  von  Hilfsschulen  gehen,  erst  162  haben  solche.  Kleine 
Städte,  selbst  größere  Landgemeinden  sollten  als  Ersatz  der  Hilfs- 
schulen und  Sonderklassen  Nachhilfestunden  durch  geeignete  Lehrkräfte 
einrichten  lassen. 

Dr.  H.  Gutzmann  (Berlin)  berichtete  über  soziale  Fürsorge 
für  sprachgestörte  Kinder.  Die  Gesamtzahl  der  stotternden 
Schulkinder  im  deutschen  Reich  wird  auf  nahezu  100  000  d.  i.  1  ^/o  aller 
Schulkinder  berechnet,  ein   Resultat,    das  sich  auch  in  anderen  Ländern 


—    185    - 

durch  statistische  Erhebungen  ergeben  hat.  In  Deutschland  wurden  zuerst 
besondere  Einrichtungen,  Schulkurse  geschaffen;  in  anderen  Staaten  ist 
aber  eine  einheitlichere  Organisation  der  Fürsorge  für  sprachgestörte 
Kinder  getroffen,  besonders  in  Dänemark  und  Ungarn.  Der  Vortra- 
gende hält  die  einheitliche  Leitung  der  gesamten  Fürsorgeeinrichtungen 
für  sprachgestörte  Kinder  auch  fiir  Deutschland  oder  wenigstens  für  die 
einzelnen  Bundesstaaten  für  erstrebenswert.  Femer  soll  eine  syste- 
matische Bekämpfung  besonders  des  Stotterns,  aber  auch  der  Aussprache- 
fehler  bereits  in  den  Kindergärten  eintreten,  damit  das  Kind  mit  einer 
normalen  Sprache  zur  Schule  komme.  Alle  zukünftigen  Volksschul- 
lehrer sollten  auf  dem  Seminar  bereits  Vorträge  über  Sprachstörungen, 
ihre  Entstehung,  Verhütung  und  schulgemäße  Bekämpfung  hören  müssen. 
Die  Seminarlehrer  sollten  für  ihre  Vorträge  in  einem  längeren  Kursus 
vorbereitet  werden;  ebenso  sollten  auch  die  Lehrer  der  höheren  Schulen 
auf  der  Universität  diesen  Teil  der  pädagogischen  Pathologie  kenne 
lernen.  Auch  dem  Arzt  müsse  während  und  nach  seiner  Studienzeit 
Gelegenheit  geboten  werden,  sich  hierin  ausführlich  zu  unterrichten, 
ganz  besonders  aber  dem  zukünftigen  Schularzt. 

Die  sprachgestörten  Kinder  sollten  ferner  in  Rücksicht  auf  die 
meist  neuropathische  Basis  ihres  Übels,  besonders  bei  der  Auswahl  zu 
den  Ferienkolonien  berücksichtigt  werden.  Äußerst  wichtig  wäre  endlich 
die  Durchführung  einer  allgemeinen  Statistik  der  Sprachstörungen, 
wenigstens  für  Schulkinder:  erst  dadurch  werde  auch  eine  allgemeine 
Fürsorge  ermöglicht. 

Taubstummen  -  Lehrer  G.  Riemann  (Berlin)  sprach  über  Taub- 
stumm-Blinde. 

Zunächst  wurde  erwähnt,  daß  durch  die  Schrift  von  Helen  Keller 
das  gebildete  Publikum  mit  der  Möglichkeit  der  Ausbildung  Dreisinniger 
bekannt  geworden  sei.  Nach  der  vorletzten  Zählung  waren  in  Preußen 
215  Taub -Blinde  vorhanden.  3  Kategorien  dieser  Unglücklichen  seien 
zu  unterscheiden: 

1.  Taub-Blinde  von  Geburt. 

2.  Taub-Blinde,  die  bei  Eintritt  der  Katastrophe  schon  Sprache 
hatten,  diese  aber  wieder  verloren  und  auf  künstlichem  Wege  neu  ge- 
winnen mußten. 

3.  Taub-Blinde,  denen  die  Sprache  erhalten  blieb. 

Die  bei  solchen  Kindern  anzuwendende  Methode  wurde  an  den  vor- 
geführten Schülerinnen  kurz  erläutert.  Die  jüngste  Schülerin,  die  im 
Alter  von  4  Jahren  nach  Genickstarre  ertaubte  und  erblindete  und  ca.  1 
Jahr  Unterricht  hat,  konnte  schon  kleine  Sätzchen  am  Finger- Alphabet 
sprachen,  auch  in  der  Lautsprache  Laute,  Silben  und  AVörter  usf.    Nach 


—    186    — 

einem  kurzen  Überblick  über  die  pädagog.  Behandlung  wurde  die  Not- 
wendigkeit von  Spezialanstalten  für  derartige  Kinder  betont  und  ange- 
führt, daß  im  laufenden  Jahr  in  Nowawes  eine  solche  bereits  errichtet 
worden  sei. 

G.  K.  Greh.  Admiralit.  -  Rat  Dr.  Felisch  (Berlin)  eröffnete  am 
2.  Tag  die  Vorträge  mit  seinem  Thema  über  die  Fürsorge  für  die 
schulentlassene  Jugend. 

Hierbei  komme  die  erwerbstätige  Jugend  vom  14.  (13.)  bis  18.  Le- 
bensjahr in  Betracht.  Es  handle  sich  in  obiger  Frage  um  verschiedene 
Probleme : 

Die  Umbildung  der  Stände  nach  Auflösung  des  Dreistände  -  Staates 
ist  noch  nicht  derartig  vollzogen,  daß  die  neuen  Verhältnisse  vollständig 
gefestigt  wären.  Hand  in  Hand  mit  der  politischen  und  wirtschaftlichen 
Umgestaltung  ging  die  Auflösung   der   alten   patriarchalischen  Ordnung. 

In  zu  jungen  Jahren  ist  die  Jugend  schon  oft  sich  selbst  überlassen, 
Versuchungen  ausgesetzt  in  Grroßstädten  und  auf  dem  platten  Lande. 
Die  alten  Erziehungsfaktoren,  darunter  auch  die  religiöse  Überzeugung 
haben  den  Einfluß  verloren  und  neue  Kräfte  müssen  an  Stelle  der 
schwindenden  gesetzt  werden. 

Festzuhalten  ist,  daß  die  Erziehung  nicht  mit  der  Schule  endigt, 
sondern  durch  die  bürgerliche  Gesellschaft  selbst  weitergeführt  werden 
muß. 

Für  die  Jugendfürsorge  fordern  wir  die  Grundsätze  der  Interkon- 
fessionalität  und  die  Ausschaltung  aller  Partei-  und  Berufsunterschiede. 

Die  Fürsorgetätigkeit  umfaßt  das  geistige ,  sittliche ,  leibliche  und 
wirtschaftliche  Moment ;  darin  ist  eingeschlossen  die  rechtliche  Fürsorge. 

Die  Jugendfürsorge  ist  den  Einzelbedürfnis sen  anzupassen,  je  nach- 
dem sie  sich  auf  Waisen,  Verführte,  körperlich  oder  geistig  Geschwächte 
u.  dgl.  erstrecken  soll. 

Das  Patronagesystem  ist  nicht  die  geeignete  Art  der  Fürsorge- 
tätigkeit, denn  es  ist  ein  Almosensystem;  das  alte  deutsche  Pfleger- 
system hat  sich  am  besten  bewährt.  Dasselbe  muß  nur  den  Bedürf- 
nissen entsprechend  ausgestaltet  werden. 

In  der  Debatte  wurde  auf  den  Deutschen  Zentral-Verein  für  Jugend- 
fürsorge, ferner  auf  die  Tätigkeit  des  Guttemplerordens  hingewiesen. 
Frl  Mecke  erinnerte  an  die  vorschulpflichtige  Jugend,  die  sich  selbst 
am  wenigsten  helfen  könne  und  von  welcher  Tausende  alljährlich  kör- 
perlich und  geistig  verkommen. 

Geh.  Mediz.-Rat  Prof.  Dr.  Heubner  (Berlin)  sprach  über 
das  Vorkommen  der  Idiotie  in  der  Praxis  des  Kinder- 
arztes. 


—    187    — 

Die  Frage  nach  den  geistigen  Schwächezuständen  i^  Kindesalter 
sei  von  außerordentlicher  Bedeutung.  Unter  mehr  als  9200  Kindern 
fanden  sich  307  Idioten  und  92  Epilektiker.  Ein  ansehnlicher  Teil  der 
ersteren  Fälle  war  nicht  durch  Gehimleiden,  sondern  durch  Drüsener- 
krankungen bedingt.  An  ungefähr  138  Fällen  wurde  schwere  Idiotie 
festgestellt. 

Diese  Fälle  sind  nicht  immer  so  trostlos ,  wie  es  oft  in  den  ersten 
Lebensjahren  den  Anschein  hat. 

Unter  113  Fällen  von  Idiotie  leichteren  Grrades  waren  etwa  71 
schwachsinnige  Kinder.  Die  einen  derselben  waren  in  der  allgemeinen 
Entwicklung,  besonders  in  der  Sprache  zurückgeblieben;  aber  es  war 
immer  eine  leichte  Progression  zu  bemerken. 

Diese  Fälle  sind  prognostisch  leichter  oder  günstiger  als  jene,  bei 
denen  nach  einer  anfänglichen  regelmäßigen  Entwicklung  ein  plötzlicher 
Stillstand  eintritt;  oft  dürfen  hereditäre  Erkrankungen  angenommen 
werden. 

Im  Gegensatz  zu  den  Schwachsinnigen  stehen  die  Schwachmütigen. 
Hier  treten  weniger  Intelligenzdefekte  als  vielmehr  Mangel  an  Willens- 
impulsen auf.  Hierzu  zählt  auch  die  Gruppe  der  mit  moral  insanity 
Behafteten.  Heubner  berichtet  auch  über  verschiedene  Fälle  schwerer 
Zerstreutheit ,  die  einen  eigenen  Unterricht  erforderten  und  keine 
schlechte  Aussicht  auf  Besserung  böten. 

Ernster  seien  die  neurasthenischen  Kinder  zu  nehmen. 

Zum  Schluß  richtete  Hb.  einen  Appell  an  die  Praxis.  Die  HäKte 
aller  Fälle  biete  Aussicht  auf  Heilung;  freilich  sei  dieselbe  bedingt 
durch  Spezialerziehung ,  die  von  einem  pädagog.  geschulten  Arzte  oder 
einem  Heilpädagogen  geleitet  werden  müßte. 

Dr.  med.  Sonnenb  erger  (Worms)  gibt  einen  Überblick  über 
die  geschichtliche  Entwicklung  und  den  gegenwärtigen 
Stand  der  Ferienkolonien  und  verwandter  Bestrebungen. 

Schon  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  wurde  auf  die  Notwendigkeit  von 
Heilstätten  für  Kinder  hingewiesen. 

Das  Geburtsjahr  der  modernen  Ferienkolonien  sei  1876.  Pfarrer 
Bion  V.  Zürich  brachte  zuerst  Kinder  zur  Erholung  in  die  Appenzeller- 
Berge.  Was  ehedem  als  Utopie  bezeichnet  wurde,  ist  heute  eine  unent- 
behrliche Einrichtung  geworden,  die  von  Jahr  zu  Jahr  an  Umfang  ge- 
winnt. Die  günstige  physische  Beeinflussung  ist  in  den  meisten  Fällen 
eine  dauernde;  nicht  zu  übersehen  ist  auch  die  sittliche  Kräftigung. 

Bis  jetzt  wurde  hauptsächlich  an  Kinder  ärmerer  Eltern  gedacht, 
aber   auch   für  Kinder    des  Mittelstandes    ist   ein   dringendes  Bedürfnis 


—    188    — 

vorhanden.  In  den  Ferienkolonien  ist  ein  Schutzmittel  gegen  Tuberku- 
lose gegeben;  denn  diese  steigt  während  der  Schulzeit.  Staat  und  Ge- 
meinde haben  die  Pflicht,  solche  Anstalten  unter  Beihilfe  von  Versiche- 
rungs- Gesellschaften  zu  bauen,  der  Betrieb  soll  Vereinen  überlassen 
werden. 

S.  B.  Dr.  Friedr.  Schmidt  (Würzburg)  sprach  über  Haus- 
und  Prüfungsaufsatz. 

Die  Anschauungen  praktischer  Schulmänner  über  die  quantitative 
und  namentlich  qualitative  Seite  des  Aufsatzes  als  Haus-,  Klassen-  und 
Prüfungsarbeit  gehen  heute  noch  weit  auseinander.  Die  freie  "Wahl 
der  häuslichen  Arbeitszeit  und  das  gemütliche  häusliche  Arbeitstempo 
wirkten  besser  als  die  vorgeschriebene  Prüfungszeit  mit  ihrer  beschleu- 
nigten Arbeitsweise.  Der  Prüfungszustand  mache  seinen  negativen  Ein- 
fluß in  einer  Reihe  von  Begleiterscheinungen  geltend. 

Es  ergaben  sich  typische  Arbeitsweisen  für  Mädchen  und  Knaben. 
Jene  waren  bestrebt ,  umfangreichere  und  formell  hübschere  Prüfungs- 
arbeiten zu  liefern,  auf  Kosten  stilistischer  Güte.  Diese  kleideten  in 
kürzere  und  nicht  durch  den  Glanz  der  Form  bestechende  Aufsätze 
einen  vorzüglicheren  Stil;  die  Mädchen  überschritten  kaum  das  Gebiet 
von  Wahrnehmungen,  während  die  Knaben  mittels  assoziativer  Ver- 
schmelzungen mehr  einen  Persönlichkeitsstil  prägten.  Referent  zeigte, 
wie  die  zu  weit  gefaßten  Aufsatzthemata  die  produktiven  Kräfte  des 
Schulkindes  an  ihrer  Entfaltung  hindern,  wie  die  Auff'assungstypen  sich 
in  den  schriftlichen  Leistungen  äußern,  welchen  Schaden  die  Vernach- 
lässigung des  lauten  Vortrages  für  den  Stil  hervorbringe  u.  s.  w. 

Durch  vorliegende  Arbeit  sei  zum  ersten  Mal  bewiesen  worden,  daß 
eine  Klasse  mit  Volksschulreife  zu  Hause  einen  besseren  Stil  geschrieben 
habe,  als  bei  der  Abgangsprüfung.  Diese  Tatsache  mahne  zur  Vorsicht 
bei  Qualifikationen. 

In  der  sich  anschließenden  Erörterung  empfahl  Seminardirektor  Dr. 
Andreae  das  Studium  solcher  Arbeiten  Seminaristen  und  jungen  Lehrern 
an  Stelle  des   üblichen  Auswendiglernens   gedruckter  Schulpsychologien. 

S.  C.  Lehrer  Friedr.  Lorenz  (Weißensee)  berichtete  über 
die  Beziehungen  der  Sozialhygiene  zu  den  Problemen 
sozialer  Erziehung. 

Die  frühere  Schulerziehung  mit  ihren  zumeist  nur  auf  Ausbildung 
des  Geistes  gerichteten  Bestrebungen  vernachlässigte  darüber  das  leib- 
liche Wohlergehen  der  Kinder.  Auch  die  heute  mehr  betonte  Schul- 
hygiene beachte  hauptsächlich  das  normale  Individuum.  Die  Sozial- 
hygiene ziehe  die  Berücksichtigung  der  auf  den  Schüler  einwirkenden 
gesellschaftlichen  Gebilde  in  den  Bereich  ihrer  Untersuchungen. 


—    189    — 

Die  soziale  Erziehung  finde  in  ihr  eine  segensreiche  Mithelferin. 
Die  Sozialhj^giene  soll  „auf  freiem  Willen  beruhend  eine  Hygiene  aus 
dem  Volk  heraus  werden".  (Breitung).  Die  Schulhygiene  liefert  hierzu 
den  breiten  Grundstein.  Wenn  wir  in  der  Erziehung  den  Zögling  dahin 
führen,  die  gegebenen  fremden  Xormen  der  Sozialhygiene  zur  Grund- 
lage seines  Handelns  zu  machen,  legen  wir  den  besten  Grund  für  seine 
Sittlichkeit. 

Angesichts  der  Tatsache  des  Verfalls  der  Familie  fordere  die  Sozial- 
pädagogik die  Gründung  von  Familienverbänden,  in  denen  die  Arbeiter 
und  Arbeiterinnen  zur  verständigen  körperlichen  und  geistigen  Erzie- 
hung der  Kinder  angeleitet  werden. 

Die  S.  H.  sei  bestimmt,  die  Frauen  von  der  gesundheitsschädigenden 
Arbeit  in  den  Fabriken  auszuschließen  und  sie  ihrem  Haushalt  und  ihrer 
Familie  wieder  zuzuführen.  Eine  wichtige  soziale  Hauptaufgabe  sei  bei 
der  Berufswahl  der  Schüler  zu  erfüllen.  Weiter  gehören  in  die  Fort- 
bildungsschule sexual  -  pädagogische  Belehrungen  von  Seite  des  Schul- 
arztes. Betreff  der  Geistigschwachen  erweise  sich  die  Mannheimer 
Schulreform  als  eine  bedeutsame  sozial-hygienische  Institution.  Die  von 
der  sozialen  Pädagogik  geforderte  Nationalschule  sei  am  vorteilhaftesten 
zur  Bildung  einer  Gemeinschaft  und  zur  Bewahrung  der  Gesundheit 
jugendlicher  Individuen  geeignet. 

Zum  Schluß  wurde  hervorgehoben,  daß  durch  Sozialpädagogik  in 
Gemeinschaft  mit  der  S.  H.  der  Geist  der  Solidarität  in  die  Glieder 
der  Menschheit  hinein  gepflanzt  werde. 

Dr.  Bernhard,  Schularzt  (Berlin)  sprach  über  den  Schlaf  der 
Berliner  Gemeindeschüler. 

Zunächst  wurde  die  Wichtigkeit  ausreichenden  Schlafes  für  das 
kindliche  Alter  erörtert. 

Unzureichender  Schlaf  schädige  ganz  besonders  das  Gedeihen  des 
Kindes.  Die  große  Zahl  von  blassen  und  nervösen  Kindern,  welche  der 
Vortragende  in  seiner  schulärztlichen  Tätigkeit  beobachtete,  veranlaßte 
ihn  zur  Untersuchung  der  Schlafverhältnisse  von  circa  6500  Berliner 
Kindern. 

Es  ergab  sich,  daß  die  Schlafzeit  für  alle  Altersklassen  der  Kinder 
ganz  erheblich  hinter  der  als  nötig  erkannten  zurückbleibt.  Die  Unter- 
schiede betragen  für  den  einzelnen  Tag  bis  zu  1  Stunde  40  Minuten 
d.  h.  ein  Teil  der  Kinder  schläft  603  Stunden  im  Jahr  zu  wenig. 

Die  Ursachen  der  zu  geringen  Schlafdauer  lägen  weniger  in  Über- 
bürdung mit  Schularbeiten  oder  krankhafter  Schlaflosigkeit  der  Kinder, 
als.  in  dem  Unverstand  vieler  Eltern  einerseits  (Unterhaltungen  p.  p.)  Un^ 


—     190    — 

anderseits  in  den  mißlichen  sozialen  Verhältnissen  (Heimarbeit,  Straßen- 
handel u.  dgl.). 

Was  die  Schlafräume  und  Lagerstätten  der  Kinder  beträfe,  so 
schlafen  bis  zu  9  Personen  in  einem  Zimmer  und  bis  zu  4  in  einem  Bett. 
Zur  Besserung  der  Verhältnisse  bedürfe  es  der  aufklärenden  Tätigkeit 
der  Presse  und  der  Regelung  der  Wohnungsfrage  durch  Staat  und  Ge- 
meinde. 

Für  die  Unterstufe  der  Volksschule  verlangt  der  Vortragende  Fest- 
setzung des  Schulbeginns  im  Sommer  nicht  vor  8  Uhr  und  im  Winter 
nicht  vor  9  Uhr. 

S.  B.  Institutslehrer  Landmann  (Jena)  referierte  über  die 
Möglichkeit  der  Beeinflussung  abnormer  Ideenassozia- 
tion durch  Erziehung  und  Unterricht. 

Der  Vortrag  brachte  Beiträge  über  folgende  Fragen: 

1.  Welche  abnormen  Ideenassoziationsrichtungen  kommen  bei  minder- 
wertigen Kindern  häufig  vor? 

2.  Durch  welche  Mittel  erscheint  die  Beeinflussung   einer  charakte- 
ristischen Assoziationsanomalie  geboten  und  möglich? 

3.  Wo  liegt  die  Grenze  der  Beeinflussung  in  jedem  Falle? 
Hinsichtlich  des  sachlichen  Untergrundes  der  Ideenassoziationen  hat 

das  normale  Geistesleben  zwei  wesentliche  Merkmale: 

1.  Die  verbundenen  Wortvorstellungen  haben  sachlichen  Inhalt. 

2.  Der  Sachinhalt  wirkt  bestimmend  ein  auf  die  Auswahl  und 
Reihenverbindung  der  Vorstellungen. 

Der  Vortragende  zeigte  nun  an  einer  Reihe  von  Beispielen,  wi§ 
der  abnorme  Geist  dagegen  verstoße,  und  zwar  besprach  er  zunächst 
verbal  gerichtete  Ideenassoziationen,  dann  die  Ideenflucht,  weiter  Fälle, 
in  denen  Zeit  und  Zahlvorstellungen  die  Ideenassoziationen  beherrschen, 
ferner  Beispiele  von  wertbegriffsermangelnden  Ideenassoziationen  oder 
solche,  in  denen  eine  überwertige  gefühlsbetonte  Vorstellung  die  Um- 
setzung der  Assoziationen  in  die  Handlung  hindere  oder  auch  das  ganze 
geistige  Leben  von  2  Gefühlstönen  beeinflußt  werde. 

Seminardirektor  Dr.  Pabst  (Leipzig)  sprach  über  die  psy- 
chologische und  pädagogische  B  edeutung  des  praktischen 
Unterrichtes. 

Aus  der  modernen  Psychologie  läßt  sich  die  Notwendigkeit  des 
praktischen  Unterrichts  als  eines  Erziehungsmittels  begründen.  Die 
sensiblen  und  ebenso  die  motorischen  Zentren  des  Gehirns  entwickeln 
sich  durch  Übung  und  bleiben  unentwickelt ,  wenn  diese  Übung  fehlt. 
Deswegen  sind  körperliche  Bewegungen,   Spiel,  Turnen  und  Handarbeit 


—    191    - 

nötig  zur  Entwicklung  des  Gehirns,  sie  sind  ein  Mittel  znr  G-ewinnung 
der  motorischen  Begriffe,  die  den  Menschen  zum  Handeln  führen  und 
das  "Wesen  seines  Charakters  begründen. 

Die  Handgeschicklichkeit  hat  ihren  Sitz  nicht  eigentlich  in  der 
Hand,  sondern  im  Kopf  und  Gehirn.  Außer  dem  Gehirn  kommt  für  die 
motorischen  Bewegungen  noch  das  Rückenmark  in  Frage,  von  dem  aus 
die  unbewußten  Reflexbewegungen  dirigiert  werden.  Die  erziehliche 
Einwirkung  auf  beide  Organe  aber  kann  nur  im  jugendlichen  Alter  statt- 
finden, und  deshalb  ist  die  Einführung  geeigneter  Handbetätigung  in 
das  System  der  Jugenderziehung  zu  fordern.  Die  Notwendigkeit  der- 
selben läßt  sich  auch  auf  pädagogischem  Wege  nachweisen.  Die  Er- 
fahrung lehrt,  und  alle  großen  Erzieher  haben  es  erkannt,  daß  die  kör- 
perliche Erziehung  mit  der  geistigen  Hand  in  Hand  gehen  müsse  und 
daß  die  körperliche  Betätigung  eine  Vorbedingung  für  die  geistige  Ent- 
wicklung sei. 

Der  praktische  Unterricht  erscheint  in  seinen  verschiedenen  Formen 
geeignet,  die  Mängel  unseres  gegenwärtigen  Er ziehungs Systems  auszu- 
gleichen. 

G.  K.  Prof.  Dr.  E.  Martinak  (Graz)  berichtete  über  Wesen 
und  Aufgabe  einer  Schülerkunde. 

Die  Schülerkunde  habe  die  Aufgabe,  das  gesamte  körperliche  und 
geistige  Leben  des  Schülers  zu  erforschen  mit  besonderer  Betonung  aller 
Erscheinungen,  die  mit  dem  Schulleben  als  solchem  in  irgend  welchem 
kausalen  Zusammenhang  stehen. 

Die  zeitliche  Abgrenzung  sei  durch  Beginn  der  Schulpflicht  gegeben 
und  soll  sich  bis  zur  Beendigung  der  höheren  Schulpflicht  erstrecken. 

Der  Lehrer  könne  nie  genug  den  Schüler  kennen;  diese  eingehende 
Beachtung  des  Schülers  wird  auch  eine  segensvolle  Einwirkung  auf  den 
Erzieher  haben.  Auch  dem  Psychologen  leiste  die  Schülerkunde  wesent- 
liche Dienste.  Nach  einigen  historischen  Bemerkungen  ging  M.  auf 
seinen  Arbeitsplan  näher    ein,    der   besonders    für  höhere  Schulen  gelte. 

Li  erster  Linie  seien  die  Lehrer  dazu  berufen,  besonders  wenn  sie 
psychologisch  geschult  seien.  Dann  aber  auch  die  Eltern,  wenn  sie  ge- 
nügend unbefangen  seien,  endlich  auch  die  Kinder  selbst,  indem  sie 
direkt  oder  indirekt  Beobachtungsmaterial  liefern  u.  s.  w. 

Ferner  soll  eine  systematische  Statistik  der  Lebensschicksale  der 
Schüler  angestrebt  werden,  auch  müssen  Individualitätslisten  gefordert 
werden. 

Dann  berichtet  Redner  ausführlich  über  sein  System  einer  Schüler- 
kunde, die  sich  zu  erstrecken  habe  auf: 
1.    Schüler  und  tägliches  Leben, 


—    192    — 

2.  Schüler  im  Verhältnis  zur  Familie. 

3.  Schüler  und  Schule. 

4.  Schüler  im  Verhältnis  zur  Natur. 

5.  Schüler  im  Verhältnis  zur  Kunst. 

6.  Schüler  im  Verhältnis  zur  Religion  und  zu  religiösen  Fragen. 

7.  Schüler  im  Verhältnis  zu  den  Nebenmenschen. 

8.  Schüler  im  Verhältnis  zum  andern  Geschlecht. 

9.  Schüler  im  Verhältnis  zu  sich  selbst. 

Damit  sei  die  Beobachtungsreihe  noch  lange  nicht  abgeschlossen. 
Vieles  bleibe  noch  zu  tun  übrig,  damit  wir  mit  mehr  Klarheit  und 
Sicherheit  über  einschlägige  Fragen  urteilen  lernen. 

Landgerichtsrat Kulemann  (Bremen)  sprach  über  forensische 
Behandlung  der  Jugendlichen. 

An  der  Hand  von  9  Leitsätzen  entwickelte  der  Referent  seine  Stel- 
lung zu  obigem  Thema: 

I.  Die  Abgrenzung  der  Klasse  der  Jugendlichen  in  der  heutigen 
Strafgesetzgebung  sei  zunächst  insoferne  verfehlt,  als  ihr  das  rein  in- 
tellektuelle Moment  der  Einsichtsfähigkeit  in  die  Strafbarkeit  der  be- 
gangenen Handlung  zu  Grrunde  liege  und  der  Willensfaktor  unberück- 
sichtigt geblieben  sei.  An  Stelle  dieser  Einsichtsfähigkeit  müsse  die 
allgemeine  geistige  Entwicklung  gesetzt  werden. 

U.  Aber  noch  richtiger  wäre  es,  diesen  Ausgangspunkt  überhaupt 
zu  verlassen  und  die  bisherige  anthropologische  durch  die  pädagogische 
Grundlage  zu  ersetzen. 

III.  Als  staatliche  Reaktionen  kommen  in  Betracht:  Erziehung, 
Bestrafung  und  Unschädlichmachung.  Die  letztere  sei  lediglich  bestimmt 
für  geistig  Anormale,  welche  aus  der  vorliegenden  Erörterung  fallen. 

IV.  Kinder  unterlägen  ausschließlich  der  Erziehung,  Erwachsene 
ausschließlich  der  Bestrafung;  jugendliche  Personen  bilden  eine  Mittel- 
klasse ,  bei  der  durch  den  Richter  im  Einzelfall  entschieden  werden 
könne,  ob  und  in  welchem  Umfang  Erziehung  oder  Bestrafung  am 
Platze  sei. 

V.  Die  Grenze  zwischen  Kindern  und  Jugendlichen  soll  auf  das 
14.  Jahr  festgesetzt  werden,  die  zwischen  Jugendlichen  und  Erwachsenen 
auf  das  21.  Jahr. 

VI.  Gegen  Jugendliche  sollen  im  Falle  einer  Verletzung  der  Straf- 
gesetze folgende  Maßregeln  zulässig  sein: 

a.  Erzieherische:  1.  Überwachung  und  Beeinflussung  der  Erziehung 
bei  den  bisherigen  Erziehern.  2.  Unterbringung  bei  fremden 
Erziehern.     3.  Aufnahme  in  eine  Erziehungsanstalt. 


—    193    — 

b.    Strafrechtliche:    1.    Verweis.     2.    aeldstrafe.     3.    Haft.     4.  Ge- 
fängnis (Einzelhaft). 

VII.  Die  Verhängang  dieser  Maßregeln  |sei  besonderen  Behörden 
zu  übertragen :  Vormnndschaftsrichter ,  unter  den  Beisitzern  stets  ein 
Arzt  und  Lehrer  als  gleichberechtigte  Schöffen. 

VIII.  Das  Verfahren  sei  nach  dem  Vorbild  des  schöff'engericht- 
lichen  zu  gestalten.  Das  Urteil  könne  bestimmen,  daß  die  erkannte  Strafe 
nicht  vollzogen  werden  soll,  wenn  der  Verurteilte  innerhalb  einer  ge- 
Avissen  Frist  sich  eines  weiteren  Verstoßes  gegen  das  Strafgesetz  nicht 
schuldig  mache. 

IX.  Gegen  die  Entscheidung  des  Gerichtes  und  des  Vorsitzenden 
fänden  dieselben  Rechtsmittel  statt  wie  im  schöff'engerichtlichen  Verfahren. 

In  der  Diskussion  betonte  Vormundschaftsrichter  Köhne ,  daß 
die  Verzögerung  in  der  Reform  des  Strafrechtes  nicht  an  den  Richtern 
liege,  sondern  durch  die  verschiedene  Stellungnahme  zu  Determinismus 
und  Indeterminismus  bedingt  sei. 

Von  allen  werde  anerkannt,  daß  bei  Kindern,  wenn  sie  auch  älter 
als  12  Jahre  wären,  von  Vergeltung  keine  Rede  sein  könne. 

In  den  weiteren  Sektions  Verhandlungen  sprach  zunächst  Direktor 
Dr.  Theod.  Heller  (Wien)  über  psychasthenische  Kinder. 

Der  Vortragende  beschreibt  eine  Reihe  solcher  Kinder,  bei  denen 
jede  längere  oder  schwierigere  Arbeitsleistung  auf  körperlichem  oder 
geistigem  Gebiet  schwere  Unlustgefühle  auslöse,  die  nicht  überwunden 
werden  können  und  sich  unter  Umständen  als  psychische  Hemmungen 
geltend  machten.  Hierher  gehören  jene  Kinder ,  die  mit  keiner  Arbeit 
fertig  werden  und  bei  denen  sich  eine  eigenartige  Erwartungsneurose 
(Prüfungsangst)  einstellt.  Das  pathol.  Unlustgefühl  wächst  oft  dermaßen 
an,  daß  es  bis  zu  „psychasthenischen"  Krisen  kommt,  in  denen  die  Kinder 
planlos  umherirren,  Eigentumsdelikte  begehen,  sogar  Selbstmorde  ver- 
üben. Die  falsche  Beurteilung  der  Psychasthenie  als  moral  insanity 
führt  zu  schweren  pädagogischen  IVIißgriff'en.  Ebenso  ist  die  Psy- 
chasthenie von  der  Debilität,  Hysterie  und  Hebephrenie  zu  unterscheiden. 
Psychastheniker ,  die  nicht  rechtzeitig  einer  heilpädagogischen  Behand- 
lung unterworfen  worden  sind,  stellen  das  Hauptkontingent  zu  den 
problematischen  Naturen  und  schiff'brüchigen  Existenzen.  Der  Vortra- 
gende spricht  sich  für  eine  planmäßige  Beschäftigungstherapie  bei  voll- 
ständiger Änderung  des  IVIilieus  aus,  die  in  leiditen  Fällen  am  besten 
in  einem  Landerziehungsheim,  in  schwereren  in  einer  Heilerziehungsan- 
stalt stattzufinden  hätte. 

S.  B.  Dr.  H.  Schmidkunz  (Haiensee)  referierte  über  die 
oberen  Stufen  des  Jugendalters. 


—    194    — 

Seine  Ausführungen  beziehen  sich  hauptsächlich  auf  die  ersten  Jahre 
des  dritten  Lebensjahrzehntes  d.  h.  bis  zum  vollendeten  Wachstum  (unge- 
fähr 24.  Jahr). 

Es  kommen  hier  hauptsächlich  jene  Teile  der  Psychologie  in  Be- 
tracht, welche  die  entwickelteren  Inhalte  des  psychischen  Lebens  be- 
handeln. 

Nach  einer  Beschreibung  des  Jugendalters  weist  der  Vortragende 
auf  die  etwa  auftretenden  abnormen  Erscheinungen  insbesondere  aber 
auf  die  Talentfrage  hin.  Mit  einem  kurzen  historischen  Überblick  über 
die  vorliegenden  Arbeiten  und  einem  Appell,  den  oberen  Stufen  des  Ju- 
gendalters mehr  Aufmerksamkeit  zu  schenken,  schließt  der  Vortrag. 

Lehrer  W.  Dix  (Meißen)  berichtete  über  hysterische  Epi- 
demien in  deutschen  Schulen. 

Der  Vortragende  berichtete  zunächst  über  die  Meißener  Zitterepi- 
demie. Oktober  1905  erkrankte  ein  13  jähriges  Mädchen  an  hysterischem 
Zittern;  sehr  bald  folgten  andere  nach.  Trotz  der  Ferien  mußten  21 
Klassen  geschlossen  werden  und  die  Zahl  der  Erkrankten  stieg  auf  237. 
Am  17.  Mai  erlosch  die  Epidemie.  Die  Anfälle  stellten  sich  regelmäßig 
in  der  Schule  ein,  wenn  sie  zu  Hause  auch  ausgesetzt  hatten.  Als  Ur- 
sachen sind  zu  nennen:  Anblick  einer  zitternden  Mitschülerin,  Angst, 
Anstrengung  im  Turnen  u.  s.f.  Das  Zittern  befiel  Kinder  aus  allen  Le- 
benskreisen, starke  und  schwächliche  vom  7. — 14.  Lebensjahr,  vorwiegend 
Mädchen.  Referent  berichtete  dann  über  die  gleichen  und  ähnlichen 
Epidemien,  wie  sie  in  Basel,  Braunschweig,  Biberach,  ja  selbst  in  Dorf- 
schulen auftraten.     Alle  Erkrankungen  seien  hysterischer  Natur. 

Nachdem  eingehend  die  verschiedenen  Ursachen  besprochen  worden 
waren,  ging  der  Vortragende  auf  die  Behandlung  obiger  Erscheinungen 
über.    Dabei  kommen  für  die  Pädagogen  in  Betracht : 

1.  Isolierung  der  erkrankten  Kinder. 

2.  Große  Schonung  im  Turnen,  Schreiben,  in  den  Handarbeiten  u.  dgl. 

3.  Leichte  Freiübungen  zu  Anfang  der  Stunde. 

4.  Psychische  Einwirkung  auf  die  Kinder. 

5.  Meidung  übertriebener  Teilnahme. 

6.  Strafen  verschlimmern  den  Zustand. 

7.  Stärkung  des  Körpers,  Bewegung  in  frischer  Luft. 

Nötig  ist,  daß  der  Erzieher  die  nervösen  Störungen  rasch  und  sicher 
erkenne,  die  Kinder  beruhige  und  vor  Affekten  bewahre;  Erziehung 
zur  Selbstbeherrschung. 

S.  C.  Dr.  vonRhoden,  Gefängnisgeistlicher  (Düsseldorf -Der en- 
dorf)  sprach  über  jugendliche  Verbrecher. 

Über    die   großen   Schädlichkeiten   des    strafrechtlichen    Verfahrens 


—    195    — 

gegen  Jugendliebe  seien  alle  Sachverständigen  einig.  Kinder  sollten  anch 
bei  ibren  Übeltaten  nicbt  als  Erwachsene  bebandelt,  sondern  bevormundet 
und  erzogen  werden.  (Nicbt  ricbterlicbe  Strafe,  sondern  Erziehung,  nicht 
der  Straf-,  sondern  der  Vormimdschaftsrichter).  Die  Geschichte  des  obigen 
Problems  in  den  letzten  Jahrzehnten  sei  die  Greschicbte  des  Ringens 
dieser  beiden  Maximen  der  Bestrafung  und  Erziehung  miteinander. 
Redner  sucht  nun  die  Widersprüche  des  R.  Str.  Ges.  B.  nachzuweisen, 
die  auch  nicht  durch  das  neue  Fürsorge-Erziehungsgesetz  beseitigt  worden 
seien.  Auch  hier  finde  sich  noch  die  Verquickung  von  Erziehung  und 
Strafe.  Der  Haupteinschnitt  sei  beim  16.  Lebensjahr  zu  machen.  Für 
die  Strafanmündigen  bis  zum  16.  Lebensjahr  Behandlung  durch  den 
Vormundschaftsrichter  in  Verbindung  mit  dem  etwa  auf  Grund  der 
Fürsorgeorganisation  auszugestaltenden  Erziehungsamt  und  Erziehung 
der  Straffälligen  und  Gefährdeten  in  Familien  oder  familiär  geleiteten 
offenen  privaten  Erziehungsanstalten.  Für  die  Strafunmündigen  vom 
16. — 20.  Lebensjahr  nach  Ermessen  des  Starfrichters  nicht  zu  kurze 
Freiheitsstrafen  oder  Unterbringung  in  geschlossenen  staatlichen  Zwangs- 
anstalten. 

In  der  psychiatrischen  Abteilung  der  C h a r i t e  sprach  Prof.  Dr. 
Th.  Ziehen  (Berlin)  über  die  normale  und  pathologische 
Ideenass  ozation  des  Kindes. 

Die  rasche  Entwicklung  der  Kinderpsychologie  sei  mit  Gefahren 
verbunden;  man  habe  häufig  vergessen,  zuerst  die  einfachen  Vorgänge 
zu  studieren  und  dann  erst  auf  die  komplizierteren  überzugehen.  Zu 
den  letzteren  zähle  das  Problem  der  Ideenassoziation  des  Kindes.  Auch 
hier  hätten  sich  Lehrer  und  Lehrerinnen  zu  früh  unmittelbare  Ergeb- 
nisse für  die  Praxis  erhofft.  Der  Vortragende  ging  nun  von  den  ein- 
fachsten Erscheinungen  des  Seelenlebens,  von  den  Empfindungen  aus. 
Schon  hier  müsse  man  sich  vom  Wort  unabhängig  zu  machen  suchen; 
denn  das  Wort  spiele  beim  Kind  eine  andere  Rolle  wie  beim  Erwach- 
senen. Ferner  dürfe  man  sich  nicht  auf  die  Untersuchung  einer  einzigen 
Seite  des  Seelenlebens  beschränken,  sondern  müsse  alle  Vorgänge,  welche 
von  Einfluß  seien,  mit  berücksichtigen.  Weiter  sei  eine  Untersuchung 
des  kindlichen  Vor  Stellungsmaterials  nötig ,  das  anders  als  bei  Erwach- 
senen beschaffen  sei.  Bei  Kindern  seien  femer  die  Erinnerungen  in 
höherem  Maße  gefühlsbetont  als  bei  uns  und  dementsprechend  sei  auch 
die  auswählende  T  ätigkeit  des  Gedächtnisses  zwischen  Erwachsenen  und 
Kindern  verschieden.  Eine  ganze  Reihe  solcher  Verschiedenheiten  wäre 
noch  aufzufinden.  Bei  Untersuchung  der  kindlichen  Ideenassoziation  sei 
eine  künstliche  Vereinfachung  nötig,  z.  B.  Schallreiz,  Reaktion  darauf. 
Dies  lasse  sich  schon  bei  3 — 4  jährigen  Kindern  gut   vornehmen.     Dann 


-    196    - 

könne  man  zu   komplizierteren   Vorgängen   übergehen   z.  ß.   Wahlreak- 
tionen, die  erst  von  einem  bestimmten  Alter  an  gelingen. 

Von  besonderem  Interesse  seien  die  rückläufigen  Assoziationen,  die 
bei  schwachsinnigen  Kindern  sehr  verspätet  auftreten. 

Der  Vortragende  ging  nun  auf  verschiedene  Formen  der  Verbalasso- 
ziationen ein,  bei  denen  sich  merkwürdige  Unterschiede  zwischen  Er- 
wachsenen und  Kindern  zeigen. 

Im  Vorstehenden  ist  die  größere  Zahl  der  Vorträge  inhaltlich  kurz 
angeführt ;  die  übrigen  Referate  seien  wenigstens  dem  Namen  nach 
erwähnt. 

G.  K.  Pastor  Dr.  Hennig:  Freiwilliger  Liebesdienst  und  staat- 
liche Ordnung  in  der  Arbeit  der  gefährdeten  Jugend;  ein  Rückblick 
und  Ausblick. 

S.  A.     Dr.  Elsenhäns  (Heidelberg):  Die  Anlagen  des  Kindes. 

Direktor  Dr.  F.  Kemsies  (Weißensee):  Zur  Frage  der  Kinder- 
lügen. (Siehe  Zeitschrift  für  pädagogische  Psychologie,  Pathologie  und 
Hygiene :  Beiträge  zur  Psychologie  und  Pädagogik  der  Kinderlügen 
und  Kinderaussagen). 

S.  B.  Direktor  Archenhold  (Sternwarte  Treptow):  Die  Be- 
deutung des  Unterrichts  im  Freien,  in  Mathematik  und  Naturwissen- 
schaft. 

S.  C.    Erziehungsdirektor  Plaß  (Zehlendorf):  Über  Arbeitserziehung. 

Schriftsteller  A.  Damaschke  (Berlin):  Wohnungsnot  und  Kinder- 
■elend. 

Am  Ende  der  Tagung  fand  eine  Schlußsitzung  in  der  Aula  der 
Universität  statt,  in  der  Prof.  Dr.  W.  Münch  in  zusammenfassender 
Weise  auf  die  Tätigkeit  des  Kongresses  einging  und  die  Bildung  von 
Kommissionen  vorschlug,  die  die  Geschäfte  abzuschließen,  bezw.  auf 
Grund  der  gewonnenen  Erfahrungen  den  nächsten  Kongreß  vorzube- 
reiten hätten.  Mit  letzterer  Aufgabe  wurden  Prof.  Rein,  Direktor  Trüper 
(Jena)  und  Prof.  Meumann  (Königsberg)  betraut.  Nach  herzlichen 
Dankesworten  an  den  verdienten  Leiter  des  Kongresses,  Prof.  Münch, 
ging  die  Versammlung  auseinander. 

Wie  allgemein  üblich,  hatte  auch  dieser  Kongreß  den  Teilnehmern 
■eine  Reihe  von  Besichtigungen  ermöglicht,  so  von  Schulhäusem,  Er- 
ziehungsanstalten, Krankenhäusern,  der  psychiatrischen  Klinik  von  Prof. 
Dr.  Ziehen,  des  psychologischen  Laboratoriums  von  Prof.  Stumpf,  u.  s.  w., 
Gelegenheiten,  die  viel  des  Sehenswerten  für  Jedermann  boten,  be- 
sonders aber  für  Fachleute.  Nicht  zu  vergessen  ist,  daß  auch  der 
Frauenklub  „Lyceum"    die  Kongreßteilnehmer  zu  einem  Besuche  einlud. 

Meine  Berichterstattung  wäre  unvollständig,  gedächte  ich  nicht  der 


—    197    — 

mit  dem  Kongreß  verbundenen  Ausstellung  (Bau,  Leben  und  Hygiene 
des  gesunden  und  kranken  Kindes,  Kind  und  Kunst,  Kinderzeiehnungen, 
gesammelt  besonders  von  Dr.  Stern,  wissenschaftliche  Lesebibliothek, 
Lehr-  und  Lernmittel,  Schulbau  und  Schuleinrichtungen),  die  E.  Fischer 
mit  vieler  Mühe  zusammengestellt  hat. 

Da  und  dort  hat  man  schon  reichhaltigere  Sammlungen  sehen  können. 
Die  Bedeutung  der  vorstehenden  aber  lag  hauptsächlich  darin,  daß  sie 
den  Grundstock  des  so  lange  schon  erstrebten  „Deutschen  Museums  für 
das  gesamte  Unterrichts-  und  Erziehungswesen"  darstellte.  Lisofeme 
wird  wohl  jeder  das  Gebotene  begrüßt  und  eine  glückliche  Entwicklung 
für  die  Zukunft  gewünscht  haben. 

Am  Schluß  der  Verhandlungen  kam  bei  einem  gemeinsamen  Mahle 
auch  die  Geselligkeit  zu  ihrem  Rechte.  In  Orten  wie  Berlin  wird  es 
immer  nur  in  gewissem  Grade  möglich  werden,  die  Kongreßteilnehmer 
auch  persönlich!  einander  näher  zu  bringen,  und  doch  liegt  gerade  in 
der  Knüpfung  persönlicher  Beziehungen  und  dem  Austausch  von  Er- 
fahrungen eine  nicht  unwichtige  Aufgabe  der  Kongresse  überhaupt. 

Damit  sei  es  mir  noch  erlaubt  auf  einige  Punkte  hinzuweisen,  die 
für  die  Kongreßleitung  keinen  Vorwurf  bedeuten  sollen,  als  Erfahrunga- 
material  aber  für  die  Zukunft  vielleicht  zu  erwägen  wären. 

Der  Kongreß  litt,  wie  wohl  alle  fühlten  und  auch  teilweise  zum 
Ausdruck  brachten,  an  dem  ^Zuviel".  So  vielfach  die  Beziehungen 
zwischen  Kinderforschung  und  Jugendfürsorge  auch  sind  und  deshalb 
eine  Trennung  manche  Nachteile  mit  sich  bringen  würde,  so  dürfte  sich 
eine  solche  doch  aus  Zweckmäßigkeitsgründen  empfehlen.  Vielleicht 
wären  dann  weniger  Teilnehmer  zu  erwarten,  sicher  aber  eine  frucht- 
bringendere Arbeit.  Dann  könnte  auch  mehr,  und  das  erachte  ich  als 
besonders  nötig,  die  Diskussion  gepflegt  werden.  Ferner  wäre  es  auch 
möglich,  die  meisten  Arbeiten  in  Gesamtsitzungen  zu  erledigen  und 
die  Zersplitterung  in  Sektions  Verhandlungen  zu  vermeiden. 

Wenn  wir  uns  zum  Schlüsse  fragen,  ob  der  1.  Kongreß  für  Kinder- 
forschung und  Jugendfürsorge  die  Erwartungen  befriedigt  habe,  so  kann 
man  gewiß  bejahen. 

Der  Kongreß  wird  bei  geeigneter  Organisation  und  sorgfältiger 
Auswahl  der  Vorträge  zu  einer  dauernden,  Einrichtung  werden,  zu 
einem  Sammelpunkt  für  alle  an  der  Erforschung  des  Kindes  und  an 
seinem  Wohle  Arbeitenden  und  wird  sich  zu  den  vielen  Freunden 
eine  große  Zahl  neuer  hinzuerwerben.  Vielleicht  werden  wir  auch  auf 
dem  nächsten  Kongreß  der  Frau,  deren  Mitarbeit  auf  obigem  Gebiet  wir 
weder  entbehren  können  noch  wollen,  häufiger  als  einer  schaffenden 
Kraft  besreonQen. 


'«3^0' 


Meumann,   Exper.  Pädagogik.    V.  Band.  14 


—    198    — 

Die  Entwicklung  des  Interesses  des  Kindes. 

Von  Ladislaus  Nagy  (Budapest). 

Die  Hauptresultate  der  Forschungen  über  das 
Interesse  des  Kindes. 

Man  kann  in  zweierlei  Richtungen  Forschungen  über  die  Ent- 
wicklung des  Interesses  anstellen.  Man  kann  beobachten,  wie  sich  das 
Interesse  beim  Kinde  in  den  verschiedenen  Entwicklungs-Stadien  den 
Gegenständen  gegenüber  äußert.  Aus  diesen  Forschungen  kann  man  die 
reale  Entwicklung  des  Interesses  bestimmen.  Man  kann  femer  beobachten, 
mit  welchen  Gefühls-  und  intellektuellen  Äußerungen  sich  das  Interesse 
des  Kindes  in  den  verschiedenen  Lebensstufen  verbindet.  Die  Zusammen- 
fassung dieser  Forschungen  ergiebt  die  formale  Entwicklung  des  In- 
teresses. Obwohl  die  Forschungen  der  realen  und  der  formalen  Entwicklung 
des  Interesses  zwei  verschiedene  Ausgangspunkte  bezeichnen,  so  stehen 
doch  diese  beiden  Richtungen,  wie  es  die  bisherigen  Forschungen  beweisen, 
in  engster  Verbindung.  Mit  der  Veränderung  des  Gegenstandes  des 
Interesses  verändert  sich  auch  dessen  Form.  IJnd  wir  können  auch  be- 
merken: wenn  das  Interesse  durch  geistig  höhere  Funktionen  erweckt 
wird,  so  ändert  sich  auch  dessen  Gegenstand.  Die  in  der  Literatur 
bis  jetzt  veröffentlichen  Forschungen  behandeln  im  allgemeinen  die  Gegen- 
stände des  kindlichen  Interesses.  Hingegen  meine  Forschungen  sind  ge- 
eignet die  formalen  Stufen  des  Interesses  zu  beleuchten.  Nach 
diesen  Bemerkungen  betrachten  wir  die  in  der  Literatur  erschienenen 
wichtigten  Resultate  der  Forschungen  über   das  Interesse   des  Kindes. 

Daten  über  das  Interesse  im  ersten  Lebensalter  finden  wir  schon 
in  Preyers  Werk').  Preyer  unterscheidet  nicht  die  Lustgefühle  des 
Kindes  von  dem  Interesse,  aber  er  bezeichnet  jene  Lustgefühle  besonders, 
welche  als  nichts  anderes  als  organische  Gefühle  betrachtet  werden 
können,  und  solche  Lustgefühle,  die  schon  durch  Aufmerksamkeit  be- 
gleitet werden.  Mit  dem  Erwachen  des  Interesses  beim  Kinde  in  den 
ersten  drei  Jahren  befaßt  sich  eingehend  Shinn.  Ihre  Betrachtungen 
werden  wir  noch  später  eingehend  besprechen. 

Mit  dem  Interesse  der  mehr  erwachsenen  Kinder  befaßten  sich 
größtenteils  die  amerikanischen  Kinderforscher. 

Mit  der  zusammenfassenden  Beschreibung  der  hierauf  bezüglichen 
Forschungen  werden  wir  in  Viktor  Löwin skys  Artikelcyclus  bekannt. 


1)  W.  Preyer:  Die  Seele  des  Kindes.   Leipzig.   Th.  Griebens  Verlag.    1890.   UI.  Auf 
läge  S.  110.     Lustgefühle. 


—    199    — 

welcher  im  YI.  Jahrgang  der  Zeitschrift  für  Pädagogische  Psychologie 
erschien:  „Neuere  amerikanische  Arbeiten  auf  dem  Gebiete  der  Kinder- 
psychologie^  betitelt  (Siehe  Seite  1—33  und  222—254).  Unter  den  ver- 
öffentlichten Studien  sind  die  Forschungen  von  E.  Burk^)  die  wichtigsten. 
Er  hat  nach  der  Fragebogen  -  Methode  den  Sammelinstinkt  von 
607  Knaben  und  den  von  ebenso  vielen  Mädchen  beobachtet,  die  6 — 17 
Jahre  alt  waren.  Eurk  unterscheidet  in  der  Entwicklung  des  Sammel- 
sinnes drei  Stufen. 

In  den  Sammlungen  der  3 — 8  jährigen  Kinder  leuchtet  reiner  Sammel- 
sinn vor.  Die  Hauptsache  ist  hier  das  Gütererwerben,  also  vorzugsweise 
die  Freude  der  Tätigkeit. 

Bei  Kindern  im  Alter  von  8 — 12  Jahren  erstreckt  sich  die  Sammler- 
freude meistens  auf  Spielzeuge  und  Naturgegenstände.  Am  Ende  dieser 
Stufe  geht  der  reine  Tätigkeitsinstinkt  in  Erwerbstrieb  über. 

Im  Alter  von  12 — 18  Jahren  schwindet  das  Interesse  des  Kindes 
für  die  Natur;  aber  es  wächst  sein  Interesse  für  soziale  Verhältnisse. 
Freundschaft  und  andere  Beziehungen  entscheiden  die  Gegenstände  des 
Sammeins.  Das  Interesse  für  Literatur  und  Kunst  sind  oft  Quellen  des 
Sammeins,  gering  ist  in  diesem  Zeitalter  noch  das  Interesse  für  "Wissen- 
schaft. 

Wertvolle  Angaben  über  die  Entwicklung  des  kindlichen  Interesses 
bieten  jene  Forschungen,  welche  T.  R.  Croswellin  Worcester  anstellte: 
Die  Vergnügungen  der  Schulkinder  in  Worcester  ^).  Er  beobachtete  die 
Vergnügungen  von  4000  Kindern.  Seine  Beobachtungen  erstreckten  sich 
von  der  Volksschule  bis  zur  Hochschule  auf  Kinder  verschiedenen  Alters. 
Die  Resultate  dieser  Forschungen  stimmen  oft  mit  denjenigen  von  Burk 
überein.  Da  er  aber  die  Frage  weitläufiger  untersucht,  so  erleuchten  die 
Resultate  die  Frage  von  mehr  Standpunkten,  als  die  Forschungen  Burks. 

Im  Alter  von  6 — 9  Jahren  stehen  bestimmte  Gegenstände  im  Mittel- 
punkte des  kindlichen  Interesses. 

Im  Alter  von  9 — 13  Jahren  befassen  sich  Kinder  mit  solchen  Spielen 
gerne,  die  den  ganzen  Körper  in  kräftige  Bewegung  setzen. 

Vom  Alter  von  14  Jahren  an  erhebt  sich  der  schöpferische  Trieb 
über  das  körperliche  Leben  und  es  konmien  immer  häufiger  gemeinsame 
Handlungen  vor,  zum  Erreichen  gemeinsamer  Ziele. 

Er  hat  deu  formalen  Wert  der  Spiele  untersucht  und  fand,  daß  die 
Kinderspiele  im  Alter  von  6—10  Jahren  nur  einen  symbolistischen  Wert 

1)  E.  Burk.  Der  Sammelsinn  des  Kindes  im  Vn.  Jahrgang  der  Pedagogical  Seminary, 
S.  179. 

2)  T.  R.  Croswell:  Die  Vergnügungen  der  Kinder.  Worcester.  The  Pedagogical 
Seminary  VII.  314. 

14* 


—    200    — 

haben,  aber  in  den  späteren  Zeitabschnitten  wird  immer  mehr  das  be- 
woßte  Nachahmen  wirklicher  Verhältnisse  der  Mittelpunkt  des  Spieles. 
Im  Alter  von  11 — 16  Jahren  haben  die  beliebten  Spiele  meistens  den  Cha- 
rakter des  Wettbewerbes. 

Daß  soziale  Verhältnisse  den  Mittelpunkt  des  kindlichen  Interesses 
erst  in  der  Zeit  der  Pubertät,  oder  der  Zeit  unmittelbar  vorher  bilden, 
hat  außer  Croswell  u.  Burk  auch  noch  Barnes  beobachtet.  Er  hat 
zum  Feststellen  der  kindlichen  Ideale  2100  Londoner  Kinder  beobachtet, 
die  schriftlich  auf  folgende  Fragen  antworteten:  "Wem  möchtest  du 
ähnlich  sein  und  warum  ^)?  Er  fand,  daß  Kinder  im  Alter  bis  zum 
achten  Jahre  ihre  Ideale  aus  ihrer  unmittelbaren  Umgebung,  aus  ihrem 
Heim,  aus  der  Schule  oder  aus  der  Nachbarschaft  nehmen.  Mit  der 
Zeit  wählen  sie  ihre  Ideale  aus  der  großen  Gesellschaft,  aus  der  Ge- 
schichte, oder  Gestalten  aus  dem  politischen  Leben. 

Die  Behauptung  Croswells,  daß  das  kindliche  Interesse  im  jüngeren 
Alter  von  den  körperlichen  Funktionen  dirigiert  wird,  und  erst  im 
Jünglingsalter  diese  von  den  geistigen  Kräften  überwältigt  werden, 
haben  auch  die  Resultate  deutscher  Forscher  bekräftigt.  M.  Lobsien 
hat  die  Ideale  der  Kinder  beobachtet  an  500  Volksschülem  einer 
Großstadt,  nach  der  Methode  des  amerikanischen  Fragebogensystems. 
Kinder  wurden  außer  den  biblischen  Idealen,  Lieblingspielen,  Leetüren  etc. 
noch  über  ihren  Lieblingsgegenstand  in  der  Schule  befragt.  Es  stellte 
sich  heraus,  daß  bei  Knaben  der  Lieblingsgegenstand  in  allen  vier  Klassen 
Turnen  und  in  den  drei  unteren  Klassen  Zeichnen,  bei  den  Mädchen 
aber  in  allen  vier  Klassen  Handarbeit  war^). 

Über  das  kindliche  Ideal  in  Bezug  auf  die  Lehrgegenstände  hat 
auch  William  Stern,  Privat-Dozent  an  der  Univ.  zu  Breslau,  ein- 
gehende Forschungen  angestellt ;  er  erstreckte  seine  Beobachtungen  nicht 
nur  auf  Elementar-Schüler,  sondern  auch  auf  die  Zöglinge  einer  Höheren 
Töchterschule  und  einer  Lehrerinnenbildungsanstalt,  das  heißt  auf  er- 
wachsene Schüler;  die  Elementar-Schüler  waren  aus  großstädtischen-, 
kleinstädtischen-  und  Dorf-Schulen.  Die  Frage,  welche  die  Kinder  zu  be- 
antworten hatten,  war  eine  doppelte.  Sie  lautete:  „Welches  Fach  hast 
du  am  liebsten?"  (Positiver  Wert.)  Die  zweite  lautete:  „Welches  Fach 
ist  dir  am  wenigsten  lieb  ?"  (Negativer  Wert).  Die  Resultate  von  Sterns 
Beobachtungen  stimmen  mit  denjenigen  von  Lobsien  überein. 

Der  Lieblings-Gegenstand  der  Knaben-Volksschule  war :  das  Turnen 

1)  K.  barnes:  „Die  Ideale  des  Kindes".  The  Pedagogical  Seminary.  VII.  Jahrgang 
1.  Heft. 

2)  M.  Lobsien :  Kinderideale.  „Zeitschrift  für  Pädagogische  Psychologie",  V.Jahrgang. 
323,  Berlin,  H.  Walther. 


—    201    — 

(28  "/o  der  Kinder),  das  Zeichnen  (23°;  o),  weit  geringer,  aber  unter  den 
theoretischen  Gegenständen  war  der  erste  die  Geschichte  (14.5  7o)« 
Der  erste  lichrgegenstand  unter  den  nicht  geliebten  war  die  deutsche 
Sprache  (Lesen  und  Gramatik  26°/o)  und  die  Chemie  (25  °/o). 

Der  Lieblingsgegenstand  der  Mädchen-Schule  war  die  Handarbeit 
(32%),  mit  dieser  konnte  kein  anderer  Gegenstand  konkurrieren,  und  nach 
ihr  kam  in  weiter  Ferne  das  Zeichnen  (10  "/o)  und  das  Schreiben  (7.257o) ; 
der  wenigst  beliebte  Gegenstand  war  die  deutsche  Sprachlehre  (31%), 
dann  kam  mit  weit  günstigerem  Resultat  die  Geometrie  (12.25%).  Der 
Lieblingsgegenstand  der  Höheren  Töchter  -  Schulen  war  die  deutsche 
Literatur  (26  "/o),  weit  zurück  stand  das  Turnen  (14.5  "/o),  der  am  we- 
nigsten beliebte  Gegenstand  war  die  Physik  (27°/o). 

Die  bevorzugten  Gegenstände  der  Schülerinnen  aus  der  Lehrerinnen- 
bildungsanstalt waren:  Erziehungslehre  (30 "o)  neben  der  deutschen 
Literatur  (28.5  "/a);  hingegen  minder  beliebte  Gegenstände  waren: 
Geometrie  (10.5  %),  Handarbeit  (9  %)  und  Zeichnen  (9  %) ;  letzteres  liebte 
keine  einzige  Schülerin. 

Diese  Daten  beweisen  zweifellos,  daß  in  jüngerem  Alter  körperliche 
Beschäftigungen  das  Interesse  des  Kindes  fesseln,  aber  in  späterem 
Alter  verringert  sich  deren  Wert  bedeutend,  und  die  Beweggründe 
geistiger  Funktionen  erwecken  die  Aufmerksamkeit  des  Kindes. 

Zusammenfassung.  Infolge  der  angeführten  Beobachtungen  hat 
das  sachliche  Interesse  des  Kindes  folgende  Stufen: 

1.  Das  Intesse  für  Spielsachen. 

2.  „  „  „     Naturgegenstände. 

3.  „         „  „     Erscheinungen  des  gesellschaftlichen  Lebens. 

In  der  formalen  Entwicklung  des  Interesses  können  wir  auf  Grund 
der  erwähnten  Forschungen  zwei  Hauptstufen    unterscheiden  und  zwar: 

1.  Die  erste  Stufe,  wo  der  Mittelpunkt  des  Literesses  körper- 
liche Tätigkeiten  und  deren  Gegenstände  sind. 

2.  Die  zweite  Stufe:  hier  beeinflussen  das  Interesse  geistige 
Tätigkeiten  und  die  sich  an  diese  knüpfenden  Gegenstände. 

Diese  Resultate  bestätigen  auch  meine  Untersuchungen,  die  in 
folgenden  Kapiteln  mitgeteüt  werden. 

Die  Stufen  der  Entwicklung  des  Interesses. 

Obwohl  die  in  dem  vorigen  Capitel  besprochenen  Entwicklungsphasen: 
körperliche  Tätigkeit,  geistige  Tätigkeit,  schon  die  beiden  Haupt- 
abschnitte der  Entwicklung  des  Interesses  bestinmaen,  so  geben  diese 
Stufen  doch  keine  eingehende  Erklärung  über  die  Stufen  der  Ent- 
wicklung und  besonders  über  deren  Faktoren.     Diese  Resultate  können 


—     202     — 

nur  die  Grundlage  zu  weiteren  Forschungen  bilden,  aber  sie  machen 
diese  nicht  überflüssig:  sie  bedürfen  mehr  der  Ergänzung  und  Ver- 
besserung. 

Ich  versuche  in  folgendem  die  Entwicklung  des  Interesses  und  be- 
sonders dessen  formelle  Stufen  zusammen  zu  stellen.  Die  Grundlage 
dieser  Zusammenfassung  bilden  meine  eigenen  Forschungen,  ausgenommen 
die  erste  Stufe  (das  sinnliche  Interesse),  für  welche  ich  die  Tatsachen 
aus  Shinns  "Werke  ^)  zusammenstellte. 

Die  Grundlage  dießer  Zusammenstellung  bildeten  jene  Beobachtungen, 
die  ich  an  einem  Knaben  (meinem  Neffen)  von  dessen  6^/2  Jahre  bis  zu 
seinem  10^2  Jahre  anstellte  und  dessen  Schwester,  die  ich  von  ihrem 
3V2  Jahre  bis  zu  ihren  8^/2  Jahre  in  Gödöllö  (ein  Marktflecken  in  Ungarn) 
vom  Jahre  1902 — 1906  beobachtete.  Diese  beiden  Kinder  beobachtete 
ich  in  jeder  Richtung.  Zur  Beobachtung,  wie  sich  sein  Interesse  ent- 
wickelte, nahm  ich  den  Knaben  von  seinem  5^/2  Lebensjahre,  jährlich  in 
eine  Schmiede  mit,  wo  wir  3-mal  waren,  (wegen  Familienunglück  und 
meiner  Abreise  sind  diese  Besuche  in  zwei  Jahren  ausgeblieben),  ferner 
gingen  wir  auf  dieselbe  Tenne  4-mal,  zur  Nußernte  jedes  Jahr,  zur 
Getreide-Ernte  2-mal.  Es  sei  bemerkt,  daß  die  Kinder  diese  Sehens- 
würdigkeiten nur  in  meiner  Gesellschaft  besichtigten.  Das  Mädchen 
nahm  ich  nur  in  den  drei  letzten  Jahren  mit.  Manchesmal,  nämlich  im 
ersten  und  in  den  letzten  zwei  Jahren  gesellten  sich  noch  ein  oder  zwei 
Spielgenossen  bei,  die  beiläufig  in  demselben  Alter  waren. 

Die  Haltung  der  Kinder  habe  ich  besonders  in  zwei  Richtungen 
beobachtet : 

Das  Erwachen  ihrer  Aufmerksamkeit  (ihr  passives  Interesse),  ihre 
körperliche  Tätigkeit  (ihr  aktives  Interesse). 

Meine  Beobachtungen  habe  ich  jedesmal  pünktlich  notiert. 

Meine  hierauf  bezüglichen  Wahrnehmungen  habe  ich  noch  mit  der 
fortwährenden  Beobachtung  dieser  zwei  Kinder,  und  mit  der  Beobachtung 
von  drei  andern  Kindern  und  mit  vielen  anderen  zufälligen  Beobachtungen 
verglichen  und  habe  über  die  Entwicklung  des  Interesses  die  folgenden 
Stufen  zusammengestellt : 

1.  Das  sinnliche  Interesse, 

2.  Das  subjektive  Interesse, 

3.  Das  objektive  Interesse, 

4.  Das  beständige  Interesse, 

5.  Das  logische  Interesse. 


1)  Shinn-Glabbach-Weber :      Köperliche    und    geistige    Entwicklung    eines    Kindes, 
Langensalza,  1905.    T.  G.  L.  Greßler. 


—    203     — 

Das  sinnliche  Interesse^). 

Schon  in  den  ersten  Monaten  des  Lebens  erwacht  das  Gefühl  des 
Interesses  beim  Kinde.  In  den  ersten  zwei  Jahren  fesseln  seine  Auf- 
merksamkeit hauptsächlich  sinnliche  Eindrücke,  solche,  welche  seine 
Sinne  in  lebhafter,  und  angenehmer  Weise  beschäftigen.  Mit  der  Zeit 
tritt  auch  das  Interesse  für  die  Gregenstände  auf,  aber  unter  diesen  ge- 
fallen nur  solche,  welche  vermöge  einer  ihrer  Eigenschaften  seine  Sinne 
in  gesteigertem  Maße  irritieren. 

Beim  Säugling  charakterisiert  die  Entwicklung  des  Interesses 
hauptsächlich  das  Gesicht.  Die  Aufmerksamkeit  zeigte  sich  schon 
am  25.  Tage.  Die  Aufmerksamkeit  begleitet  —  in  den  ersten  drei 
Monaten :  Lächeln,  Lallen,  rasches  Athemholen  und  Bewegung  der 
Hände.  Im  5.  Monat  sieht  das  Kind  umher,  dreht  sein  Köpfchen, 
beim  Eintritt  heftigerer  Emotionen,  oder  beim  Ausdruck  des  Erstaunens. 
Im  6.  Monat  greift  es  nach  den  Gegenständen,  im  7.  trachtet  es  die 
Gegenstände  zu  erfassen.  Im  zweiten  Jahre  tritt  die  Neugierde 
auf,  das  Kind  untersucht  die  Gegenstände,  und  fängt  an,  sich  mit  diesen 
selbständig  zu  befassen. 

Was  den  Gegenstand  des  Interesses  anbelangt,  so  erwecken  das- 
selbe ursprünglich  das  Licht,  das  Sonnenlicht,  der  Glanz  der  Gegen- 
stände und  lebhafte  Farben.  Erst  im  5.  Monate  interessiert  sich 
das  Kind  für  Gegenstände  und  besonders  für  solche,  die  sich  bewegen. 
Im  zweiten  Halbjahre  erwuchs  das  Interesse  für  Tiere,  später  dasjenige 
für  Naturerscheinungen,  für  das  bewegte  Laub  der  Bäume,  die  be- 
leuchteten Wipfel  der  Bäume,  die  Wogen  des  Meeres. 

Das  Gehör.  Das  Interesse  für  Töne  tritt  weit  später  auf,  als 
dasjenige  für  Lichteindrücke.  Das  Kind  achtete  erst  im  7.  Monat  auf 
plötzliches  Geräusch.  Unzweifelhaft  zeigte  sich  erst  im  6.  Monat  das 
Interesse  für  Töne,  wenn  das  Kind  zum  Lallen  anfängt.  Da  interes- 
sierte es  seine  eigene  Stimme  und  alle  jene  Töne,  welche  es  hervor- 
brachte z.  B.  Läuten,  Tellerklirren,  Trompeten.  Erst  im  zweiten  Jahre 
interessierte  sich  das  Kind  für  die  Laute  anderer,  für  Husten,  Niesen; 
im  dritten  Jahre  für  gereimte  Wörter  und  Melodien. 

EormeU  äußert  sich  das  Interesse  im  4.  Monat  als  Aufmerk- 
samkeit,  im   5.   als   Staunen.     Im   zweiten  Halbjahre   beruhigte 


1)  Das  schon  öfter  erwähnte  Werk  Schinns  befaßt  sich  unter  den  folgenden 
Kapiteln  mit  dem  Interesse  des  Kindes.  Das  Interesse  am  Sehen:  Seite  119  und  152. 
Das  Interesse  für  Bilder:  Seite  150.  Das  Interesse  am  Hören:  S.  191.  Das  Interesse 
des  Gefühls:  Seite  211.  Das  Interesse  des  Schmerzes :  Seite  225.  Das  Interesse  für  den 
Geschmack:    Seite  251.    Das   Interesse   des  Geruchs:    Seite  266. 


—     204    — 

sich  das  Kind  auf  Trommeln,  auf  das  Ticken  und  auf  die  Schläge 
der  Uhr. 

Das  Grefühl  (richtiger:  die  Tasteindrücke).  Das  Interesse  für  das 
Gefühl  erwacht  erst  spät  im  Kinde.  Im  5.  Monat  betastet  es  neugierig 
seinen  eigenen  Kopf,  Ohren,  Nase;  im  8.  Monat  entdeckt  es  seine  Haare, 
aber  besonders  interessierte  es  sich  für  die  Haare  und  Bart  seines  Vaters 
und  seines  Onkels.  Im  10.  Monat  fand  es  viel  Vergnügen  daran  seine 
Stiefeln  am  Teppich  zu  wischen.  Der  Schmerz  hat  seine  Aufmerksamkeit 
nur  auf  Minuten  in  Anspruch  genommen.  Doch  jeden  Schmerz  heilte 
ein  Kuß. 

Der  Greschmack.  Das  Kind  interessierte  sich  erst  mit  20.  Monat 
für  Eßwaren,  besonders  für  Süssigkeiten. 

Das  Interesse  für  Geruch  entwickelte  sich  unter  allen  Eindrücken 
am  spätesten.  Erst  im  dritten  Jahre  wurde  bemerkt,  daß  das  Kind 
mit  Genuß  an  Blumen  roch. 

Shinn  zog  aus  ihren  Beobachtungen  den  Schluß,  daß  beim  Kinde 
vom  Anfange  an  die  höheren  Sinne  (Gefühl  und  Gehör)  die  Hauptrolle 
spielen.  Das  Gefühl  des  Hungers  ausgenommen,  hatte  kein  niedriges 
Gefühl   einen    solch'  ständigen  Eindruck   erweckt,    als  bei  Erwachsenen. 

Die   Stufe   des   subjektiven  Interesses. 

Beim  Kinde  vermindert  sich  das  Gefühl  für  rein  sinnlich  e  Eindrücke 
im  Alter  von  über  zwei  Jahren  und  das  Kind  interessiert  sich  später 
mehr  für  die  Gegenstände  selbst.  Aber  es  charakterisiert  sein 
Interesse  für  Gegenstände  bis  zu  einem  gewissen  Alter,  daß  sich  das 
Kind  für  die  Dinge  nicht  wegen  ihrer  objektiven  Merkmale,  sondern 
wegen  ihrer  Verhältnisse  zu  seinem  eigenen  Bewußtsein  interessiert.  Wir 
können  schon  bei  einem  neunmonatigen  Kinde  bemerken,  daß  ihm  seine 
Peitsche  nicht  darum  gefällt,  weil  es  mit  ihr  schlagen  kann,  sondern 
darum,  weil  es  sie  im  Mund  nehmen  und  saugen  kann.  Später  wenn 
schon  die  geistigen  Motive  des  Kindes  funktionieren,  interessiert  es  das 
Stück  Holz  nicht  darum,  weil  man  damit  heizen  kann,  sondern  darum, 
weil  es  damit,  wie  mit  einer  Puppe  oder  einem  Schweine  spielt;  es  hat 
kein  Interesse  für  die  Naturbestimmung  der  Fäden  des  Mais,  sondern 
es  spielt  damit  und  macht  seiner  Puppe  Haare  daraus.  Diese  subjektive 
Richtung  dauert  beiläufig  bis  zum  Alter  von  7  Jahren. 

In  Folge  dieser  Subjektivität  haben  Gegenstände  in  den  ersten 
Jahren  des  Kindes  nur  in  dem  Verhältnis  Wert,  inwiefern  dieselben 
seinem  Selbstätigkeitstriebe  genügen. 

Als  ich  mit  meinem  6V2  jährigen  kleinen  Neffen  zuerst  in  der 
Schmiede  war,  interessierte  ihn  nichts  als  ein  Hammer,   mit  (Jem  er  die 


-     205    — 

heramliegenden  Eisenabfälle  schlug  und  so  Proben  seiner  Körperkraft 
lieferte;  in  der  Werkstätte  wurde  jedocli  der  Reif  eines  Rades  hergestellt, 
was  doch  weit  interessanter  war,  als  seine  Beschäftigung.  Auf  der 
Tenne,  wo  drei  Pferde  das  Getreide  droschen,  war  ihm  ein  Strohhaufen 
viel  wichtiger,  wo  er  Purzelbäume  schlug.  Bei  der  Besichtigung  der 
Erntearbeiten  interessierte  ihm  im  ganzen  eine  Fasanenfeder,  welche 
den  Hut  eines  Schnitters  schmückte,  dessen  Grund  war,  daß  er  im 
Walde  leidenschaftlich  Federn  sammelte. 

Auf  dem  Bahnhofe  in  einer  kleinen  Stadt,  wo  aus  Anlaß  einer 
patriotischen  Feier  eine  große  Volksmenge  den  ankommenden  Zug  er- 
wartete, interessierten  einen  kleinen  Ejiaben  mit  ungefähr  2  7*  Jahren 
nur  die  Eisenbahnschienen,  weil  er  sich  auf  denselben  im  Springen  übte. 
Auch  bemerken  wir  bei  Kindern,  daß  sie  der  Fußschemel  und  die  Stiege 
nur  darum  interessiert,  weil  sie  von  demselben  herunter  springen 
können;  die  TJmzäumung  und  der  Baum  aber  darum,  weil  sie  auf  dem- 
selben klettern  können. 

In  der  Zeit,  wo  beim  Kinde  die  Fantasie  mächtig  zu  wirken  beginnt 
schätzt  es  die  Gegenstände  je  nachdem  dieselbe  seine  Fantasie  be- 
schäftigen. Die  Fantasie  als  innere  Tätigkeit  hat  einen  höheren  Wert, 
aber  sie  ist  ein  eben  so  mächtiger  Faktor  des  Interesses,  als  die  äußeren 
Handlungen.  Die  Spiele  des  Kindes  zeigen  uns  viele  Beweise.  Die 
Sessel  sind  dem  Kinde  nicht  darum  wert,  weil  man  sich  darauf  setzen 
kann,  sondern  weil  man  daraus  Eisenbahnzüge  zusammenstellen  kann. 
Der  auf  dem  Hofe  liegende  Sandhaufen  dient  zu  Bauzwecken,  doch 
darum  kümmert  das  Kind  sich  wenig;  ihm  dient  der  Sand  zum  Spielen. 
Die  von  der  Fantasie  ausgeführten  Tätigkeiten  sind  dem  Kinde  ebenso 
wertvoll,  wie  seine  wirklichen  Handlungen.  Das  Kind  kann  sich 
während  des  Essens  dadurch  unterhalten,  daß  es  mit  den  Fingern  am 
Tischtuch  zupft,  seine  Finger  an  den  Mund  legt,  als  ob  es  essen  würde, 
wie  das  meine  5  V2  jährige  Nichte  tat.  Dasselbe  kleine  Mädchen  spielte, 
als  es  7^2  Jahre  alt  war,  so  daß  es  sein  Tüchelchen  in  den  Sand  legte, 
so  als  ob  sie  es  in  das  Wasser  tauchte  und  rieb  damit  die  Gartenbänke 
ab,  wie  wenn  sie  scheuern  würde.  Unterdessen  sprach  sie  zu  sich  selbst : 
„Stubenmädchen,  das  Zimmer  soll  schön  werden!"  Diese  Illusion  be- 
reitete ihr  großes  Vergnügen.  Die  durch  innere  Impulse  hervor- 
gerufenen äußeren  Handlungen  erwecken  im  Kinde  so  lebhafte  Gefühle, 
daß  diese  Handlungen  ohne  praktische  Resultate  die  Aufmerksamkeit 
ganz  fesseln. 

In  dieser  Zeit  hat  das  Interesse  des  Kindes  auch  für  die  Objekte 
und  Erscheinungen  der  Natur  ganz  subjektive  Beziehungen.  Es  beruht 
ganz    auf   organischen    Instinkten    das    intensive    Interesse    des    Kindes 


—    206     — 

für  Speisen  oder  die  Abneigung  gegen  dieselben.  Dieses  Interesse 
fängt  im  2.  Ijebensjahr  an  und  dauert  das  ganze  Kindesalter  hindurch. 
Unzähligemale  erwacht  im  Kinde  die  Frage  bei  einem  Gegenstande,  ob 
er  wohlschmeckt,  oder  nicht. 

Bei  solchen  Natur-Gregenständen,  wo  diese  Frage  nicht  in  Betracht 
kommen  kann,  zeigt  das  Kind  nur  dann  Interesse,  wenn  es  diese  seiner 
Gefühlswelt  anpassen  kann.  Je  mehr  Beziehungen  das  Kind 
zwischen  der  äußerlichen  Situation  und  seiner  Gefühlswelt  entdecken 
kann,  umso  lebhafter  ist  sein  Interesse  und  ist  dann  ein  vollkommenes, 
wenn  die  Projektion  seiner  Gefühle  auf  die  äußeren  Erscheinungen  zu 
Stande  kommt.  Doch  dann  ist  die  Fantasie  auch  schon  notwendig. 
Meine  kleine  4^/2  jährige  Nichte  sah  abends  6  Uhr  die  im  Garten 
arbeitenden  Ameisen,  sie  bückte  sich  zu  ihren  herab  und  verfolgte  jede 
ihrer  Bewegungen  mit  großer  Aufmerksamkeit,  unterdessen  sprach  sie : 
„Es  ist  Abend,  sie  bleiben  nicht  draussen.  Die  Armen  fliehen  nachhause. 
Der  Wolf  könnte  sie  fressen !  Diese  ist  noch  klein,  sie  kann  nicht  die 
Stiege  hinunter  gehn"  !  Dann  wollte  sie  mit  ihrem  Fingerchen  das 
Ameisen-Haufen-Loch  vergrößern,  verstopfte  aber  dessen  Öffnung  ganz ; 
von  einer  sich  unter  eine  Scholle  verkriechenden  Ameise  glaubte  sie 
diese  wolle  mit  ihr  Verstecken  spielen.  Sie  wollte  sie  um  jeden  Preis 
hervorstöbern,  dabei  sprach  sie:  „Spitzbube,  Spitzbube".  Das  kleine 
Kind  hatte  seine  subjektiven  Vorstellungen  und  Gefühle  auf  die  Ameisen 
übertragen,  dadurch  entstand  eine  lebhafte  Sympathie  und  Interesse. 
Dasselbe  kleine  Mädchen  hatte  gerade  ein  Jahr  später  am  selben  Orte 
die  Ameisen  erblickt,  aber  sie  hatte  für  dieselben  nicht  mehr  die  früheren 
Sympathien.  Sie  fing  sie  an  zu  zertreten  und  rief:  „Ich  töte  sie,  ich 
töte  sie"!  „Warum?"  „Weil  sie  zwicken".  Ihr  Interesse  verfolgte 
schon  neuere  Richtungen,  zu  welchen  sich  schon  objektive  Erfahrungen 
gesellten. 

Die  Ursachen  verschiedener  Erscheinungen  faßt  das  Kind  auch 
ganz  subjektiv  auf.  Die  Begründungen  der  Erscheinungen  beruhen  bei 
einem  3 — 4  jährigem  Kinde  auf  keiner  realen  Basis;  sie  bezeichnen  meist 
die  subjektiven  Gefühle  des  Kindes.  Ein  Vater  konnte  seinem  5  jährigen 
Söhnchen  absolut  nicht  beibringen,  warum  der  Bär  auf  vier  Füßen 
geht?  Als  der  Vater,  nachdem  er  vier  annehmbare  Gründe  hierfür  an- 
geführt hatte,  jede  weitere  Erklärung  versagte,  löste  das  Kind  das 
Problem  in  folgender  Weise  selbst :  „Weil  er  böse  war,  wurde  er  be- 
straft". Es  ist  eine  bekannte  Sache,  daß  Kinder  auch  die  Ursachen 
personifizieren.  Einem  dreijährigen  Kinde  konnte  seine  Mutter  nicht 
genug  plausibel  erklären:  „Warum  ist  in  der  Donau  Wasser?"  Das 
Kind  erklärte  es  folgend:     „Jemand  hat  sie  angefüllt."     Ein  4 jähriges, 


—     207    — 

kleines  Mädchen  fragte  seine  Mama:  „Nicht  wahr,  das  lebende  Zünd- 
hölzchen stirbt  wenn  es  ins  Wasser  fällt."  Die  bekannte  Neugierde 
der  kleinen  Kinder  ist  bei  weitem  kein  Wissensdrang,  wie  das  Viele 
meinen,  sondern  die  Offenbarnng  der  causalen  Instinkte. 

Es  war  davon  die  Rede,  daß  den  Säugling  blos  sinnliche  Ein- 
drücke interessieren.  Das  Interesse  an  rein  sinnlichen  Eindrücken 
kommt  oft  auch  noch  später  (2 — 6  Jahre)  vor,  aber  auf  ganz  subjektiver 
Grundlage.  Die  Eindiücke  interessieren  das  Kind  infolge  solcher  Zu- 
sammensetzungen, deren  Elemente  den  Begriff  des  Schönen  bilden. 
Besonders  interessiert  sich  das  Kind  für  die  rythmischen  Abwechslungen 
der  sinnlichen  Eindrücke,  für  den  Rythmus  der  Töne,  der  Muskel- 
bewegungen und  der  Tastgefühle,  später  für  proportionierte  Gestalten, 
für  regelmäßige  Abwechslung  der  Höhe  der  Töne,  für  ihr  Steigen  und 
Fallen,  für  die  Zusammensetzungen  der  Melodien  und  der  Farben. 
Hieraus  sehen  wir,  daß  nicht  der  sachliche  Inhalt,  sondern  der  aus  den 
Gefühls-Beziehungen  entstandene  intellektuelle  Eindruck  das  Interesse 
erweckt.     Gegenstände  gefallen  ihm,  weü  sie  schön  sind. 

Das  Interesse  des  Kindes  äußert  sich  in  diesem  Alter  mit  heftigen 
Gefühlen  verbunden,  welche  sehr  mannigfaltig  sein  können  und  zwar: 
Freude,  Genuß,  Sympathie,  als  Gefühle  des  positiven  Interesses,  oder 
deren  Gegenteil:  Schmerz,  Angst,  Abneigung,  Ekel,  als  Gefühle  des 
negativen  Interesses.  Das  Interesse  begleitet  lebhafte  Tätigkeit,  aus- 
drucksvolle Bewegungen  sowie:  Gesten,  Weinen,  Laufen,  Springen.  Es 
ist  noch  eine  Eigentümlichkeit  in  diesem  Alter  des  Kindes:  die  Ab- 
wechslung. Mit  dem  Wechsel  der  inneren  Anregung  wechselten  auch 
die  Richtungen  des  Interesses.  Die  Aufmerksamkeit  einer  spielenden 
Kinder-Gruppe  wird  plötzlich  dnrch  einen  dahinhüpfenden  Frosch  auf 
ganz  andere  Bahnen  gelenkt,  und  die  ganze  Schar  Kinder  wird  sich 
mit  dem  Frosch  befassen,  ihn  verfolgen.  Auch  wenn  der  äußere  Gegen- 
stand imverändert  bleibt,  kann  oft  ohne  Übergang  eine  Veränderung  in 
der  Phantasie  vorgehen.  Z.  B.  ein  Briefbeschwerer,  welcher  die  Form 
der  Eisenbahn-Schienen  darstellte,  befaßte  die  Phantasie  eines  6jährigen 
Kindes  in  manigfaltiger  Weise,  es  sah  in  demselben  eine  Puppenkanone, 
bald  einen  Tunnel,  und  zuletzt  den  Sockel  eines  Monumentes. 

Die  Stufe  des   objektiven  Interesses. 

Die  Zeit  des  objektiven  Interesses  fällt  auf  das  7.  bis  zum  10.  Jahre. 

In  der  Zeit  des  subjektiven  Interesses  üben  die  äußeren  Eindrücke 
jenachdem  und  in  solchem  Maße  Interesse,  in  welchem  sie  fähig  waren 
im  Kinde  äußere  und  innere  Tätigkeit  hervorzurufen:  der  Gegenstand 
des   Interesses    ist    also    nicht   der   Zweck    der   Tätigkeit,    sondern    die 


—     208     — 

Handlung  an   und   für   sich  bildet  denselben.     Vom  6.  bis  zum  7.  Jahre 
bestimmt  den  "Wert  der  Tätigkeit  mehr    der  sachliche  Inhalt. 

Das  Interesse  wird  also  nicht  von  subjektiven  Eindrücken  hervor- 
gerufen, sondern  von  ihrem  sachlichen  Wert.  Der  Idealismus  des  Kindes 
schwindet  und  es  beginnt  die  Zeit  der  realenTätigkeit.  Die  Glegen- 
stände  verlieren  ihren  symbolis  chen  Wert  und  wirken  durch  ihren  realen 
Wert  auf  das  Kind.  Das  Kind  begnügt  sich  nicht  mit  dem  Nachahmen 
der  Tätigkeiten  und  symbolischer  Darstellung,  sondern  es  knüpft  prak- 
tische Zwecke  an  dieselben.  Es  begnügt  sich  nicht  mit  dem  Spiele, 
sondern  es  will  wirklich  handeln.  Es  findet  mehr  Ereude  an  dem  wirk- 
lichen Fahren  und  Kutschieren,  als  an  dem  Spielfahren.  Es  klettert 
nicht  darum  auf  den  ßaum  um  seine  Kraft  zu  erproben,  oder  die  Er- 
wachsenen nachzuahmen,  sondern,  daß  es  Erdbeeren  esse,  Nüsse  herunter- 
schlage, oder  Nester  ausnehme.  Es  begnügt  sich  nicht  mit  einem  Spiel- 
gewehre, sondern  es  wünscht  einen  Pfeil,  eine  Schleuder,  oder  gar  ein 
Flobertgewehr,  mit  welchem  es  Hunde,  Katzen,  Hühner  oder  Vögel 
schießen  kann.  In  der  Zeit  schätzt  das  Kind  die  Gegenstände  nach 
ihrem  praktischen  Wert. 

In  dieser  Zeit  fangen  schon  die  sozialen  Beziehungen  seiner  Hand- 
lungen an.  Das  Kind  sucht  und  findet  auch  in  dieser  Zeit  schon  oft 
selbst  bei  einer  gemeinsamen  Handlung  den  Gregenstand,  wo  es  in  der 
Gemeinsamkeit,  nach  den  Prinzipien  der  Arbeitseinteilung  mitwirken  kann. 
Ich  erzählte,  daß  mein  kleiner  Neffe,  als  wir  das  erste  Mal  die  Schmiede 
besuchten,  (als  er  6  ^/2  Jahre  war)  sich  um  die  dort  verrichtete  Arbeit 
gamicht  kümmerte  und  weiter  spielte ;  ebenso  verhielt  er  sich  gegen  die 
Schnitter  bei  der  Ernte.  Als  er  9  Jahre  war,  kam  er  schon  selbst 
darauf,  dem  Schmiede  den  Blasbalg  zu  treten  und  so  zu  helfen.  Auf 
dem  Felde  drehte  er  die  Hand-Reiter,  und  half  bei  der  Ernte  das  Ge- 
treide binden  und  legen ;  er  interessierte  sich  für  die  Werkzeuge,  mit 
denen  er  an  der  gemeinsamen  Arbeit  teilgenommen  hat. 

Wir  können  also  die  Hauptmerkmale  des  objektiven  Interesses  so 
bestimmen:  den  Mittelpunkt  des  kindlichen  Interesses  bilden  jene  Gegen- 
stände, welche  im  Dienste  seiner  persönlichen,  gesellschaft- 
lichen,  praktischen    Tätigkeiten    stehen. 

Mit  der  praktischen  Tätigkeit  entwickelt  sich  beim  Kinde  die  Ab- 
sicht, die  wirkliche  Welt  kennen  zu  lernen.  Ein  Charakterzng  des 
kindlichen  Realismus  ist  die  Begierde  objektive  Erfahrungen  zu 
sammeln.  Der  Beginn  des  Kampfes  mit  der  Wirklichkeit,  zwingt 
es  dazu.  Der  mächtige  Trieb  dieses  Kampfes  bewegt  den  Wissens- 
trieb. Das  Kind  wiU  alles  Neue  kennen  lernen,  alles  was  seinen 
Augen  begegnet. 


—    209    — 

Der  "Wissensdrang  des  Kindes  ist  in  dieser  Zeit  ein  nur  empiri- 
scher. Wenigstens  bemerkte  ich  nie,  daß  ein  Kind  in  dieser  Zeit,  ja 
auch  später  bis  zum  Jünglingsalter  den  inneren  Zusammenhang  der 
äußeren  Erscheinungen  gesucht  hätte.  Die  beobachteten  Kinder  haben 
jedes  Jahr,  bei  jedem  einzelnen  Besuche  in  der  Schmiede,,  auf  dem  Felde 
und  anderwärts  immer  nur  das  beobachtet,  was  die  Maschinen  arbeiten 
und  wie  die  Menschen  oder  die  Tiere  gewisse  Arbeiten  verrichten,  z.  B. 
wie  die  Hufe  gemacht  und  aufgeschlagen  werden,  wie  die  Garben  ge- 
bunden werden,  wie  die  Ochsen  das  Getreide  ziehen;  sie  beobachteten 
die  Konstruktion  der  Maschinen  insofern,  als  diese  mit  ihrer  Funktion 
im  Zusammenhange  stand. 

Die  Entwicklung  der  Betrachtung  zeigte  zwei  Eichtungen.  Die 
eine  Bestrebung  war,  die  Beobachtungen  zu  differenzieren  (Analysis), 
die  zweite  Richtung  der  intellektualen  Entwicklung  war,  daß  die  Kinder 
stufenweise  einen  weiten  Kreis  der  Beobachtungen  zusammenfaßten 
(Synthesisj.  Besonders  in  dieser  synthetischen  Tätigkeit  war  die 
successive  Entwicklung  bemerkbar.  Als  ich  meinen  kleinen  Neffen  zum 
ersten  Male  mit  6  ^/a  Jahren  in  die  Schmiede  führte,  beachtete  er  nur 
das  Hämmern  und  ahmte  dasselbe  nach;  drei  Jahre  später  beobachtete 
er  ausdauernd,  aus  eigenem  Antrieb,  das  Bohren  und  Aufnageln  eines 
Eadreifes.  im  vierten  Jahre  beobachtete  er  außer  dem  schon  erwähnten 
die  Herstellung  und  Befestigung  des  ganzen  Reifes,  im  letzten  (im  5.)  Jahre 
hatte  er  außerdem  noch  ununterbrochen  die  Herstellung  und  das  Auf- 
schlagen eines  Hufeisens  betrachtet. 

Im  Gegensatz  zur  Synthese  entwickelt  sich  die  Analyse  der  Wahr- 
nehmungen nicht  so  entschieden.  Die  analytischen  Beobachtungen  des 
Kindes  können  ziemlich  eingehend  sein,  wenn  sich  seine  Anschauungen 
nur  auf  kleine  Kreise  beziehen.  Bei  der  Beobachtung  von  weiteren 
Kreisen  erstreckt  sich  die  praecise  Detaillierung  nicht  gleichmäßig  auf 
das  Ganze,  sondern  nur  auf  einzelne  Teile  desselben.  Daß  das  Kind 
schon  frühzeitig  der  kleinsten  Beobachtungen  fähig  ist,  hat  seinen  Grund 
in  dem  Streben,  mit  den  gesehenen  Gegenständen  etwas  zu  machen,  oder 
Handlungen  nachahmen  zu  wollen,  was  das  Kind  nötigt,  eingehende, 
detaillierte  Beobachtungen  zu  machen.  Was  aber  den  Inhalt  der  An- 
schauungen betrifft,  so  können  wir  hier  schon  einige  Veränderungen 
wahrnehmen.  Nach  meiner  Erfahrung  richtet  sich  die  Aufmerksamkeit 
des  Kjndes  zuerst  auf  den  Zweck  und  Ursprung,  erst  in  zweiter 
Reihe  auf  das  Material  des  Gegenstandes. 

Man  sieht  auch  eine  fortschreitende  Entwicklung  in  der  Form  des 
Anschauungs  -  Vermögens ,  da  die  impulsive  Anschauungswahl  der 
Dinge    stufenweise    in    bewußte    Betrachtung   übergeht.      Diese   Ent- 


-    210    — 

Wicklung  ist  in  enger  Verbindung  mit  der  Umwandlung  des  Gedächt- 
nisses und  mit  der  Entwicklung  der  Aufmerksamkeit. 

Was  die  Entwicklung  des  Gedächtnisses  betrifft,  so  tritt  eine  eigen- 
tümliche instinktmäßige  Form  dieser  Geistesfunktion  am  Ende  des 
subjektiven  Interesses  auf,  daß  heißt  im  Alter  von  5 — 7  Jahren.  Das 
besteht  darin,  daß  das  Kind  spielt  mit  seinem  Gedächtnisse,  besonders 
übt  es  oft  ganz  zwecklos  das  Wortgedächtnis.  Das  5 — 6  jährige  Kind 
lernt  leidenschaftlich  gerne  Verse,  oft  lernt  es  auch  ganz  sinnlose 
Assoziationen.  Ich  kannte  einen  6  jährigen  Knaben,  der  den  ganzen 
Kalender  auswendig  lernte.  Meinem  7  jährigen  Neffen  bereitete  es  Spaß 
den  Eisenbahn- Cur ier  auswendig  zu  lernen.  Diese  eigentümliche  Übung 
des  Erinnerungsvermögens  schwindet  mit  der  Zeit  und  macht  der  prak- 
tischen Erinnerung  Platz.  Diese  Veränderung  tritt  dann  ein,  wenn  die 
Lebensfunktionen  des  Kindes  eine  reale  Richtung  einschlagen,  also  in 
der  Zeit  des  objektiven  Interesses.  Die  Erinnerung  ist  aber  anfangs 
ganz  impulsiv,  d.h.  sinnlicher  Natur.  Das  Kind  kann  längere  Er- 
fahrungen nur  dann  reproduzieren,  wenn  es  dieselben  wieder  zu  seinen 
Sinnen  bekommt.  Meinen  kleinen  Neffen  fragte  ich  vor  unserem  dritten 
Besuch  in  der  Schmiede,  an  was  er  sich  von  den  zwei  ersten  Besuchen 
erinnere?  Die  Antwort  war :  „An  nichts."  Als  wir  aber  in  die  Schmiede 
eintraten,  war  er  ganz  orientiert  und  war  ganz  zu  Hause.  Vor  dem 
vierten  Ausflug  begann  er  Verschiedenes  zu  erzählen,  so  erwähnte  er: 
das  Glühendmachen  und  Abkühlen  des  Eisens.  Das  Kind  war  da  schon 
fähig,  ohne  sinnliche  Eindrücke  einige  Bilder  in  seiner  Erinnerung 
wieder  wachzurufen.  Ahnliches  bemerkte  ich  bei  allen  jenen  Ausflügen, 
die  sich  jährlich  wiederholten.  Denn  wenn  das  Kind  seine  sinnlichen 
Eindrücke  schon  abstrakt  wieder  erwecken  kann,  entwickelt  sich  in 
demselben  die  Stufe  der  verständigen  Erinnerung.  Diese  ver- 
ständige Erinnerung  befähigte  das  Kind,  daß  es  seine  Aufmerksamkeit 
schon  in  vorhinein  auf  gewisse  Dinge  richtet  und  seine  Betrachtungen 
zielbewußt  vollstreckt. 

Was  die  Aufmerksamkeit  betrifft,  so  hat  diese  anfangs  beim 
Kinde  keinen  passiven  Charakter.  Das  Interesse  der  Kinder  äußert 
sich  besonders  auf  der  Stufe  des  subjektiven  Interesses  in  äußeren 
Handlungen.  Aber  am  Ende  dieser  Stufe  tritt  eine  eigentümliche  Er- 
scheinung ein,  oft  stufenweise,  oft  spontan  ohne  Übergang,  wie  das  bei 
meinem  Neffen  mit  5  Va  Jahren  geschah.  Der  Knabe  fing  an  sich  un- 
gemein für  Naturgegenstände  und  Naturerscheinungen  zu  interessieren. 
Wenn  er  eine  neue  Blume,  Obst,  Schwamm,  Moos,  Käfer  oder  ein  Vogel- 
nest erblickte,  rief  er  voll  Entzücken:  „Oh,  wie  interessant!"  Das 
Interesse  dauerte  aber  nur   solange,    als   er   den  Gegenstand  beschaute 


—    211     — 

oder  in  der  Tasche  hatte,  wenn  letzteres  der  Fall  war,  so  suchte  sein 
Interesse  einen  neuen  Gegenstand.  Das  ist  das  herumschweifende 
Interesse,  die  erste  instinktmäßige  Äußerung  des  objektiven  Interesses. 
Dieses  Symptom  dauert  nur  eine  gewisse  Zeit,  und  die  passive  Auf- 
merksamkeit entwickelte  sich  nicht  aus  diesem  Interesse,  sondern  aus 
der  praktischen  Handhabung  der  Gegenstände.  Das  Kind  wird  durch 
die  praktische  Tätigkeit  mit  den  Gegenständen  gezwungen,  dieselben 
genau  kennen  zu  lernen,  nur  so  kann  es  sich  mit  denselben  beschäftigen. 
Daraus  entspringt  beim  Kinde  das  Streben,  daß  es  sich  mit  den  Gegen- 
ständen auch  passiv  beschäftige.  Dieses  passive  Interesse  ist  aber  in 
engster  Verbindung  mit  der  Aktivität  des  Kindes.  Es  geht  der  Tat 
voran  und  bereitet  dieselbe  vor.  Mein  kleiner  Neffe  hat,  als  er  9  Jahre 
alt  war,  erst  den  Heuschober  beobachtet,  bevor  er  darauf  spielte;  er 
besah  sich  die  Handreuter  von  allen  Seiten,  er  betrachtete  den  Schleif- 
stein bevor  er  damit  spielte.  Das  war  die  Zeit  der  impulsiven 
Aufmerksamkeit. 

Später  folgte  die  Stufe  des  passiven  Interesses,  als  das  Kind  un- 
abhängig von  äußeren  Tätigkeiten  föhig  war  seine  objektive 
Aufmerksamkeit  auf  die  Gegenstände  zu  lenken.  Dies  beobachtete  ich 
bei  dem  letzten  Ausflug  in  die  Schmiede,  als  der  Knabe  die  dort  vor- 
gehenden Arbeiten  2  Stunden  lang  mit  großem  Interesse  verfolgte,  ohne 
daß  er,  ausgenommen  vom  Treiben  des  Blasbalges,  äußere  Tätigkeit, 
Arbeit  oder  Spiel  verrichtet  hätte;  auch  die  Spiele  seiner  Kameraden 
und  seiner  Schwester  konnten  seine  Aufmerksamkeit  nicht  von  der 
Besichtigung  ablenken.  Diese  Äußerung  des  objektiven  Interesses  ist 
schon  eine  höhere  Stufe  der  Entwicklung,  welche,  da  sie  durch  die 
Willenskraft  unterstützt  wird,  als  selbstbewußte  Aufmerksam- 
keit bezeichnet  werden  kann. 

Die  Ausbildung  des  Gedächtnisses  und  die  der  Aufmerksamkeit  zeigt 
aber  ähnliche  Züge.  Nach  den  nur  instinktmäßig  hervorgebrachten  Tätig- 
keiten entwickelt  sich  eine  Form  der  Tätigkeit  des  Gedächtnisses  und 
der  Aufmerksamkeit,  welche  durch  äußere  Eindrücke  hervorgerufen 
wird  und  aus  diesen  entwickelt  sich  jenes  Gedächtnis  und  jene 
Aufmerksamkeit,  welche  schon  durch  innere,  geistige  Motive  genährt 
werden.  So  kommt  das  Kind  auf  die  Stufe  des  bewußten  Be- 
trachtens. 

Die   Stufen  des   ständigen   Interesses. 

Das  Kind  kann  sich  ständig  für  einen  Gegenstand  oder  Tätigkeits- 
kreis interessieren.  Obwohl  das  Wesentliche  des  ständigen  Interesses 
das    objektive    Interesse    selbst    ist    und    das   Zeitalter    des    ständigen 


—    212    — 

Interesses  mit  dem  des  objektiven  Interesses  beinahe  zusammen  fällt; 
so  müssen  wir  doch  dieses  Interesse,  welches  inhaltlich  und  formell  eine 
mehr  entwickelte  Stufe  bezeichnet,  von  dem  rein  objektiven  Interesse 
unterscheiden,  um  so  mehr,  weil  das  ständige  Interesse  mit  der  Aus- 
bildung des  individuellen  Charakters  in  engem  Zusammenhange  steht. 

Das  ständige  Interesse  zeigt  sich  mehr  oder  weniger  bei  jedem 
Kinde  im  Alter  von  10 — 15  Jahren.  Von  jenen  fünf  zu  verschiedenen 
Familien  gehörenden  Kindern,  welche  ich  Gelegenheit  hatte  längere 
Zeit  zu  beobachten,  sah  ich  bei  einem  10  jährigen  Knaben  großes  Inte- 
resse für  die  Jagd,  bei  zwei  10  jährigen  Knaben  für  Marken  sammeln, 
bei  einem  12  jährigen  für  Glashandel,  bei  einem  11jährigen  zeigte  sich 
ständiges  Interesse  für  Zeichnen  und  Malen  (im  kleineren  Maße),  bei 
einem  8  jährigen  Mädchen  konnte  ich  ein  solch  ständiges  Interesse  nicht 
bemerken. 

Das  ständige  Interesse  äußert  sich  meistens  in  der  ständigen 
Tätigkeit  des  Kindes.  Für  was  sich  das  Kind  ständig  interessiert, 
damit  befaßt  es  sich  auch.  Je  mehr  und  je  vielseitiger  das  Kind  sich 
mit  einem  Gegenstand  befaßt,  desto  intensiver  ist  sein  ständiges  Interesse. 
Unter  dieser  ständigen  Beschäftigung  sind  äußere  Handlungen  zu  ver- 
stehen, welche  aber  lebhafte,  innere  Handlungen  und  Aufmeiksamkeit 
hegleiten.  Diese  Aufmerksamkeit  bezieht  sich  teils  auf  die  eingehende 
Erkenntnis  der  äußeren  Gegenstände,  sie  wirkt  also  nach  außen,  teils 
aber  bezweckt  sie,  daß  das  Kind  durch  die  in  der  Vergangenheit  ge- 
sammelten Erfahrungen  seine  Handlungen  regelt.  Das  ist  die  nach 
Innen  wirkende  Tätigkeit  des  Interesses,  die  das  Kind  dazu  treibt, 
daß  es  über  den  Wert  seiner  eigenen  Handlungen  urteilt,  es  wählt 
zwischen  den  Bewegungen  und  Mitteln,  und  vollbringt  nur  jene  Hand- 
lungen, die  es  zum  Ziele  führen.  Mit  einem  Worte :  die  aus  dem  ständigen 
Interesse  sprießenden  Handlungen  führen  das  Kind  zum  Selbstbewußtsein 
und  zur  Stufe  der  Selbstzucht. 

Mein  kleiner  Neffe  betrieb  schon  mit  8  Jahren  mit  großer  Vorliebe 
und  Erfolg  den  Krebsenfang.  Er  selbst  wählte  den  Ort,  wo  er  seine 
Krebsnetze  legte  und  vollbrachte  mit  disziplinierter  Präzisität  seine 
bald  vorsichtig  langsamen,  bald  blitzschnellen  Bewegungen.  Mit  10  Jahren 
iatte  er  schon  große  Übung  in  der  Jagd.  Er  nahm  an  der  Treibjagd 
teil,  pürschte  im  Garten  und  Wald  und  näherte  sich  mit  großer  Vorsicht 
dem  Wilde,  er  konnte  seine  sämtlichen  Muskeln  und  seine  ganze  Seelen- 
kraft auf  ein  Ziel  konzentrieren  und  seine  Handlungen  zu  rechter  Zeit 
vollbringen.  Der  sonst  sehr  lebhafte  Knabe  war  im  Stande  sich  bei 
dergleichen  Sport   so   zu  mäßigen,    daß   er   nie  die  Jagdregeln  übertrat. 


—    213    — 

Die  Richtung  und  formale  Entwicklung  der  geistigen  Funktionen 
bleiben  beim  Kinde  dieselben  wie  auf  der  Stufe  des  objektiven  Interesses. 
Die  geistigen  Funktionen  behalten  auf  weiteres  ihren  empirischen 
Charakter.  Aber  der  Empirismus  kann  innerhalb  der  Tätigkeiten  des 
ständigen  Interesses  eine  hohe  Stufe  erreichen.  Der  Geist  des  Kindes 
zeigt  besonders  in  seinem  synthetischen  Wirken  eine  bedeutende  Ent- 
wicklung. Einerseits  bewegen  das  Kind  seine  Erfolge,  anderseits  seine 
Mißerfolge,  daß  es  immer  mehr  und  mehr  Tätigkeiten  unter  einem 
konkreten  Ziele  zusammenfaßt.  Das  Kind  lernt  nicht  nur,  daß  es  im 
Dienste  eines  einzigen  Zweckes  seinen  Gang,  seine  Handbewegungen, 
seine  Haltung,  den  Gebrauch  seiner  Sinne  und  seine  Ideen-Assoziation 
einheitlich  koordiniere,  sondern  es  werden  inmier  neue  Tätigkeiten  mit 
der  Haupthandlung  verbunden.  So  entstanden  bei  meinem  kleinen  Neffen 
in  Verbindung  mit  seiner  Vorliebe  für  die  Jagd  folgende  neue  Be- 
tätigungen: das  Herstellen  der  Patronen,  das  Auseinandernehmen  und 
Zusammenstellen  des  Ge-^ehres,  das  Zeichnen  von  Jagdszenen,  auch  be- 
schrieb er  solche,  führte  ein  Jagd-Tagebuch  und  las  Jagd-Beschreibungen, 
biologische  und  überhaupt  naturwissenschaftliche  Bücher.  Mit  einem 
Worte:  es  entstehen  aus  der  Synthese  der  äußeren  und  inneren  Hand- 
lungen weitere  und  umfangreichere  zentralisierende  Tätigkeiten.  Aber 
der  Kreis  der  Handlungen  erweitert  sich  nicht  nur  extensiv,  sondern 
auch  intensiv.  Durch  das  bewußte  Weglassen  oder  Üben  einzelner  Be- 
wegungen werden  die  Handlungen  selbst  immer  vollkommener.  Die 
Beobachtungen  und  Distinktionen  erstrecken  sich  immer  auf  feinere 
Details;  das  Erinnerungsvermögen  wird  klarer  und  das  Kind  bekommt 
einen,  vom  konkreten  Standpunkte  betrachtet,  gut  ausgearbeiteten,  zu 
funktionieren  immer  bereiten  Kenntniskreis.  Infolge  der  Konzentration 
der  analytischen  und  s^Tithetischen  Tätigkeiten  erhebt  sich  das  empirische 
Wissen  und  Können  des  Kindes  in  den  konkreten  Kreisen  gewisser  Tätig- 
keiten bis  zu  einer  Höhe  der  Fachbildung.  Die  beiden  10jährigen 
Kinder,  deren  Leidenschaft  für  Markensammeln  ich  beobachtete,  kennen 
sämtliche  Staaten,  deren  geographische  Lage,  sie  kannten  die  verschie- 
denen Geldwerte  und  sie  wußten  die  Kennzeichen  der  verschiedenen 
Briefmarken. 

Das  ständige  Interesse  kann  beim  Kinde  auch  mehrere  Mittelpunkte 
haben,  die  von  einander  ganz  unabhängig  wirken.  Mein  kleiner  Neffe 
hatte  vorigen  Sommer  folgende  ständige  Beschäftigungen:  jagen,  Krebse 
fangen,  Schmetterlinge  sammeln,  Marken  sammeln  und  Schwimmen.  Das 
ständige  Interesse  der  Kinder  bindet  den  Willen  nicht  in  so  entschie- 
dener Weise,  wie  die  Leidenschaften  der  Erwachsenen. 

Meumann,  Exper.  Pädagogik.    V.  Band.  15 


—    214    — 

Die  Stufen  des  logischen  Interesses. 

Es  entwickelt  sich  im  Jünglingsalter  und  besteht  darin,  daß  sich 
der  Betreffende  für  den  geistigen  Inhalt  der  Personen,  Sachen  oder  Er- 
scheinungen interessiert ;  seine  Aufmerksamkeit  erregt  der  innere  Zusam- 
menhang der  Erfahrungen.  Diese  Art  des  Interesses  ist,  weil  es  sich 
auf  den  Ideen-Inhalt  der  Dinge  bezieht,  als  ein  höher  stehendes  zu  be- 
trachten, da  es  sich  in  Patriotismus,  ästhetischem,  religiösem  Gefühl  und 
in  Vorliebe  für  Wissenschaft  äußert. 

Die  primitiven  Stadien  zeigen  sich  in  Form  von  Instinkten 
schon  in  früheren  Zeiten.  Das  Kind  beurteilt  nämlich  die  äußeren  Ur- 
sachen dieser  höheren  Gefühle  ganz  objektiv,  nur  vom  Standpunkte  aus, 
ob  diese  äußeren  Eindrücke  es  angenehm,  oder  unangenehm  berühren 
und  diese  individuelle  "Wirkung  der  Gefühle  auf  das  Interesse  beruht 
ganz  auf  der  Stärke  dieser  angenehmen  oder  unangenehmen  Gefühle. 
Aber  auch  im  Jünglingsalter  treten  diese  höheren  objektiven  Gefühle 
nicht  sogleich  auf.  Das  Fassungsvermögen  wird  zwar  infolge  der  Ent- 
wicklung des  abstrakten  Denkens  fähig  zur  Auffassung  der  Gedanken; 
aber  der  infolge  der  Pubertät  mit  großer  Vehemenz  auftretende  Ge- 
schlechtstrieb, und  der  Einfluß  der  großen  Gesellschaft  bewirkt  ein  in 
heftigen  Extremen  schwankendes,  tiefes  Gefühlsleben.  Dieses  lebhafte 
Gefühlsleben  bewirkt  zum  Gegensatze  der  Objektivität  des  schwindenden 
Kindesalters  ein  neues  subjektives  Leben,  welches  gewaltig  auf  die 
Phantasie  wirkt. 

Hieraus  folgt  jene  Eigenschaft  der  Seele  der  Jugend,  daß  den  Grad 
des  Interesses  für  äußere  Gegenstände  jene  Wirkungen  bestimmen,  welche 
diese  Gegenstände  auf  ihr  Gefühlsleben  ausüben ;  welche  also  ihr  Gemüt 
in  Emotion  zu  bringen  vermögen.  Der  Jüngling  ist  also  schon  fähig 
den  geistigen  Wert  der  gesellschaftlichen  Erscheinungen  aufzunehmen 
und  sich  für  dieselben  zu  interessieren,  aber  er  ergänzt  diese  Ideen  mit 
den  Gebilden  seiner  Phantasie,  gibt  ihnen  einen  subjektiven  Charakter 
und  personifiziert  sie.  Das  Interesse  des  Jünglings  wendet  sich  an  ein- 
zelne hervorragende,  ideale,  geschichtliche  Personen,  oder  auch  lebende 
Menschen  in  Form  von  schwärmender  Begeisterung. 

Später  führt  den  Jüngling  die  selbstbewußte  Stimmung,  in  der  Ge- 
sellschaft selbständig  zu  leben,  immer  mehr  zum  praktischen  Leben,  sein 
ideales  Interesse  ändert  sich  in  diesem  Sinne.  Es  bestimmen  seine  Ideale 
die  praktischen  Umstände  des  Lebens.  Statt  des  abstrakten  Idealismus 
wird  der  Mittelpunkt  seines  Interesses  das  Praktische  und  Nützliche. 
Ks  entfaltet  sich  eine  gewisse  Objektivität  in  der  Beurteilung  der 
Dinge,  welche  ihn  zu  den  Ideen  der  Wahrheit  führt,  welche  fortan  sein 
Interesse  lenkt. 


—    215     — 

Formell  erreichen  wir  die  höchste  Stufe  des  logischen  Interesses, 
wenn  wir  unter  dem  Einfluß  einer  gesellschaftlichen  Klasse,  oder  unter 
der  "Wiederholung  einer  Idee,  oder  durch  die  innere  Kraft  unseres  eigenes 
Ichs,  zum  Mittelpunkte  unseres  ganzen  zeitigen  Lebens,  eine  gewisse 
Idee  erheben,  welche  unsere  sämtlichen  körperlichen  und  geistigen  Kräfte 
beberrscht  und  unseren  Schaffensdrang  zu  Schöpfungen  anspornt.  Das 
ist  die  stabile  Stufe  des  logischen  Interesses. 

Pädagogische  Beziehungen. 

Mein  Thema  hat  solche  Natur,  welche  zu  pädagogischen  Folgerungen 
spornt.  Bevor  ich  aber  aus  meinen  Erörterungen  pädagogische  Bezie- 
hungen hervorhebe ,  will  ich  noch  meine  Ansicht  erwähnen ,  daß  ich 
alle  neuen  Resultate  der  Forschungen  nur  dann  für  pädagogisch  an- 
wendbar halte,  wenn  diese  Resultate  auch  von  anderen  Forschungen  be- 
stätigt werden.  Nachdem  aber  meine  Forschungen  mit  den  in  der  Ein- 
leitung mitgeteilten  Resultaten  übereinstimmen,  so  fühle  ich  mich  doch 
berechtigt,  einige  pädagogiscbe  Schlüsse  vorzutragen,  denen  ich  aber 
nur  persönlichen  Wert  zuspreche. 

Ich  gehe  von  dem  Grunde  aus,  daß  die  Erziehung  nur  dazu  dient 
um  mit  künstlichen  Mitteln  das  Kind  gewissen  gesellschaftlichen  Ideen 
zuzuführen.  Wenn  wir  jetzt  das  Ziel,  welches  ausser  den  Bereich  meiner 
Forschungen  fällt,  außer  Betracht  lassen,  so  folgt  aus  dem  obigen  Satze 
zweierlei : 

1.  Wir  müssen  die  Stadien  der  Entwicklung  des  Kindes  beobachten, 
und  nach  diesen  Stadien  bestimmen  wir  die  Maßregeln  der  einzelnen 
pädagogischen  Tätigkeiten. 

2.  Wir  müssen  die  natürlichen  Einflüsse,  welche  die  Entwicklung 
des  Kindes  bestimmen,  beobachten  und  nur  innerhalb  dieser  können  wir 
erst  unser  pädagogisches  Einwirken  zur  Geltung  bringen. 

Wir  sehen,  daß  das  Kind  auf  jeder  Entwicklungsstufe  etwas  Cha- 
rakteristisches hat,  jede  Stufe  stützt  sich  auf  die  ihr  vorangehende  und 
jede  folgende  Stufe  wirkt  umso  kräftiger,  je  intensiver  die  Entwicklung 
auf  der  früheren  Stufe  war.  Im  Interesse  der  Entwicklung  hat  jede 
Stufe  ihre  Berechtigung,  und  wenn  wir  eine  der  andern  aufopfern  oder 
vorziehen  wollten,  wäre  das  unvernünftig  und  ungerecht.  Daraus  folgt, 
daß  jede  Stufe  besondere  pädagogische  Maßregeln  fordert.  Die  Erschei- 
nungen einer  jeden  Stufe  brauchen  andere  pädagogische  Förderungsmittel, 
wir  müssen  die  günstigen  Wirkungen  fördern  und  die  hemmenden  Ein- 
drücke fernhalten.  Das  ist  die  natürliche  Aufgabe  der  Erziehung.  Wenn 
wir  unseren  Gegenstand  bei  dieser  Beleuchtung  betrachten,  wird  die 
vernünftige  Erziehung    des    Interesses   darin   bestehen,    daß   wir   die 

15* 


—    216    — 

natürlichen    Stufen    der    Entwicklung    mit    zur    rechten 
Zeit   angewendeten    künstlichen   Einwirkungen   fördern. 

Die  Stufe  des  sinnlichen  Interesses. 
Nachdem  die  Bedeutung  der  ersten  Stufe  der  Entwicklung  darin 
besteht,  daß  die  Sinne  in  Grebrauch  gestellt  werden,  und  mit  der 
äußeren  "Welt  in  Beziehung  gebracht  werden,  dürfen  deshalb  wir 
das  Kind  den  Eindrücken  der  äußeren  Welt  nicht  entziehen,  wir  müssen 
sozusagen  die  Berührung  mit  der  äußeren  Welt  fördern  und  müssen 
dem  Interesse  des  Kindes,  insofern  es  seiner  Gresundheit  nicht  schadet, 
freien  Spielraum  gewähren.  Bringen  wir  das  Kind  mit  den  Gegenständen, 
für  die  es  sich  interessiert,  in  Berührung. 

Die  Stufe   des    subjektiven  Interesses. 

Die  großen  Emotionen  und  deren  unstätes  Hin-und-her-flackern  auf 
dieser  Stufe  ist  nichts  anderes,  als  die  mehr  oder  weniger  unbewußte  Äuße- 
rung der  ursprünglichen  Neigungen.  Bei  jedem  Moment  des  Abwechseins 
des  Interesses  kommt  ein  neuer  Trieb  in  Bewegung,  z.  B. :  der  Trieb 
des  Anpassens,  des  Angriffes,  der  Verteidigung  und  anderer  Lebenstätig- 
keiten. Die  aufgeweckten  Triebe  halten  wiederum  die  Kräfte  der 
inneren  und  äußern  Organe  in  fortwährender  Bewegung  nach  dieser  oder 
anderer  Richtung.  Der  Wert  der  Entwicklung  des  subjektiven  Inter- 
esses besteht  darin,  daß  das  Kind  seine  Triebe  nacheinander,  oder  neben- 
einander fürs  Leben  entwickelt;  schwache  Triebe  werden  gekräftigt, 
schlummernde  erwachen.  Mit  einem  Wort:  das  subjektive  Interesse  be- 
wirkt es,  daß  alle  originellen  Veranlagungen  zur  Geltung  kommen.  Des- 
halb ist  die  Aufgabe  der  Erziehung  auf  der  Stufe  des  subjektiven  Inter- 
esses, die  Aufmerksamkeit  des  Kindes  in  solche  Richtung 
zu  lenken,  daß  alle  seine  Triebe  zur  Geltung  kommen. 

In  dieser  Zeit  darf  man  das  Kind  nicht  in  seinen  Spielen  verhin- 
dern; wir  müssen  im  Gegenteil  trachten,  daß  wir  das  Kind  beim  Spiele 
vielseitig  beschäftigen.  Geben  wir  dem  Kinde  Gelegenheit,  die 
verschiedensten  Spiele   mit  dem  mannigfaltigsten  Spielzeug  zu  genießen. 

Die  Stufe  des  objektiven  Interesses, 
Der  siegreiche  Kampf  der  Menschen  gegen  die  Natur  gewinnt  zuerst 
auf  der  Stufe  des  objektiven  Interesses  seine  entsprechende,  ernste  Ge- 
staltung. Das  Kind  strebt  schon  zielbewußt  nach  den  entsprechenden 
konkreten  Zwecken.  Diese  Stufe  bedeutet  nicht  im  Vergleiche  mit  der 
vorigen  ein  verlorenes  Paradies,  sondern  sie  ist  der  Eintritt  in  eine  höhere 
Lebenssphäre.     Die    Aufgabe    der  Erziehung   auf  dieser  Stufe  ist:   die 


—    217    — 

Annäherung  des  Kindes  zur  Natur  und  den  Eintritt  in 
dieselbe  zu  fördern.  Das  ist  die  Zeit  der  biologischen  Erziehung. 
Da  die  realistischen  Triebe  und  Handlungen  im  geistigen  Leben 
des  Kindes  zu  empiristischen  Wahrnehmungen  führen:  so  ist  hier  die 
Hauptaufgabe  des  Erziehens  der  Unterricht.  Doch  wird  der  Unter- 
richt erst  dann  natürlich  und  erfolgreich  sein,  wenn  er  auf  der  passiven 
und  aktiven  Berührung  mit  der  äußeren  Natur  beruht,  deutlicher  gesagt, 
wenn  er  auf  unmittelbarer  Anschauung  und  manueller 
Tätigkeit  beruht.  Der  Unterricht  wird  nur  dann  richtig  sein, 
wenn  er  wenigstens  im  Anfange  dieser  Stufe  nicht  intensiv,  sondern 
extensiv  ist  und  wenn  er  mehr  durch  passende  Gelegenheit, 
als  durch  logische,  systematische  Einteilung  und  Ordnung  bestimmt  wird. 

Das  ständige  objektive  Interesse. 

Wenn  das  Interesse  des  Kindes  sich  ständig  mit  einem  Handlungs- 
oder Sachkreis  befaßt,  so  werden  die  verschiedenen  Interessen  und  Er- 
fahrungen neuerdings  gruppiert  und  es  entsteht  eine  Centralisation  um 
einen  gewissen  Mittelpunkt.  Das  Gleichgewicht  der  Interessen  und  Er- 
fahrungskreise kann  aber  ohne  die  persönlichen  Veranlagungen  und 
ohne  das  Einwirken  der  eigenen  Umgebung  nicht  zu  Stande  kommen. 
Das  Wählen  in  den  Taten  erzeugt  das  individuelle  Selbstbewußt- 
sein. Mit  einem  Worte,  es  ruft  das  ständige  Interesse  die  Entwicklung 
der  individuellen  Persönlichkeit  des  Kindes  hervor,  die  aber  später  in 
der  Zeit  des  bewegten  Gemütslebens  des  Jünglingsalters  unter  dem  Ein- 
wirken der  Gesellschaft  wesentliche  Veränderungen  erleidet.  Daraus 
folgt,  daß  wir  die  im  Kindesalter  sich  zeigenden  persönlichen  Veranlagungen 
nicht  übergehen,  oder  gar  unterdrücken  dürfen,  auch  dann  nicht,  wenn 
sie  uns  von  unserm  Standpunkt  aus  wertlos  dünken.  Wir  müssen  also 
trachten,  daß  die  individuellen  Kräfte   zur  Geltung  kommen. 

Auch  beim  Unterrichte  müssen  wir  das  ständige  Interesse  des  Kindes 
berücksichtigen,  wir  können  dasselbe  trefflich  zum  Aneignen  intensiver 
Kenntnisse  gebrauchen ;  der  Unterricht  wird  alsdann  die  Kenntnisse 
organisch  ergänzen  und  vervollständigen.  Nur  in  dieser  Zeit  tritt 
die  Konzentration  auf,  als  ein  Grundsatz  der  Unterrichtsmethode. 

Da  sich  das  Kind  in  der  Zeit  des  ständigen  Interesses  noch  nicht 
für  den  geistigen  Inhalt  der  Handlungen,  sondern  für  deren  konkrete 
Ausführung  und  deren  Zweck  interessiert,  so  muß  der  Konkre- 
tismus den  Grundzug  unseres  Unterrichtes  bilden.  Wir  sollen  unseren 
Unterricht  nach  den  konkreten  Tätigkeiten  des  persönlichen  und  Sozial- 
lebens einrichten,  z.B.  wir  sollen  die  Ordnung  des  Volksschulunterrichts 
auf  der  Basis  der  landwirtschaftlichen  Beschäftigungen,  den  Mittelschul- 


—    218    — 

Unterricht  auf  dem  Grunde  der  Gewerbe-  und  Handelstätigkeiten  auf- 
bauen. Die  Hauptsache  ist ,  daß  wir  die  Kinder  nicht  mit  abstrakten 
Kenntnissen  und  wissenschaftlichen  Systemen  überanstrengen.  Abstrak- 
tionen sind  auf  dieser  Stufe  noch  nicht  zulässig. 

Die  Stufe  des  logischen  Interesses. 

Der  Wert  dieses  Interesses  liegt  darin,  daß  es  den  Menschen  zu 
einem  Gliede  der  Gesellschaft  bildet.  Wir  müssen  also  das 
gesellschaftliche  Interesse  des  Jünglings  dazu  benützen,  daß  wir  ihn  zum 
selbstbewußten,  gesellschaftlichen  Leben  befähigen.  Da 
aber  dieses  Leben  ein  Resultat  von  eingehendem  Studium  und  un- 
mittelbaren Erfahrungen  ist,  so  ist  unsere  Aufgabe,  den  Jüngling 
jenem  Studium  zuzuführen,  welches  im  gesellschaftlichen  Leben  not- 
wendig ist;  wir  müssen  den  Jüngling  auch  zur  gesellschaftlichen 
Selbstbildung  aneifern.  Obwohl  unser  gesellschaftlicher  Unterricht 
einen  allgemeinen  Charakter  hat,  so  müssen  wir  doch  die  Ausbildung 
des  individuellen  gesellschaftlichen  Selbstbewußtseins  dem  Jünglinge 
selbst  überlassen. 


Neulandstrecken  für  das  pädagogische  Experiment. 

Von  Paul  Lang,  Würzburg. 

In  der  experimentellen  Pädagogik  wiederholt  sich  eine  Erscheinung, 
der  man  auch  sonst  begegnen  kann :  erst  so  gut  wie  unbekannt,  tritt 
sie  eines  Tages  ins  Leben  und  erweist  sich  bald  als  eine  Neuerung, 
deren  Wirksamkeit  innerhalb  erstaunlich  weiter  Grenzen  der  frucht- 
barsten Einflüsse  auf  ein  bedeutsames  Kulturgebiet  fähig  ist,  als  eine 
Betätigung  von  solcher  Selbstverständlichkeit  und  Notwendigkeit,  daß 
man  nur  das  eine  nicht  ohne  weiteres  begreifen  kann,  wie  eine  so  nahe 
liegende  Methode  zur  sicheren  Fundamentierung  unterrichtlicher  und  er- 
ziehlicher Maßnahmen  Jahrhunderten  lebhafter  Kultivierung  des  Erzie- 
hungsgebietes völlig  unbekannt  bleiben  konnte. 

Zwar:  experimentiert  hat  man  immer  und  jederzeit.  Es  mag  kaum 
einen  Pädagogen  gegeben  haben,  der  nicht  Versuche  in  dieser  oder  jener 
Richtung  unternahm,  um  sich  Klarheit  über  gewisse  zweifelhafte  Er- 
scheinungen oder  Gewissensruhe  hinsichtlich  seiner  didaktischen  und 
sonstigen  beruflichen  Gepflogenheiten  zu  verschaffen.  Derartigen  Ver- 
suchen hafteten  aber  regelmäßig  so  schwer  wiegende  Mängel  an,  daß  sie 
zu  verlässigen  Resultaten  nicht  führen  und  darum  auch  nicht  von  Be- 
deutung für  die  allgemeine  Pädagogik  werden  konnten.     Sie  waren  nicht 


—    219    — 

Glieder  planmäßiger  Uutersuchnngsreihen,  sondern  Kinder  des  Zufalls, 
der  augenblicklichen  Eingebung,  des  momentanen  Bedürfnisses.  Sie  ge- 
schahen nicht  nach  wohldurchdachten  Methoden,  deren  Fähigkeit,  eindeu- 
tige Ergebnisse  zu  Kefern ,  geprüft  und  erprobt  war ;  die  Methoden 
trugen ,  wie  die  Versuche  selbst ,  wohl  regelmäßig  den  Charakter  des 
Zufälligen,  Rohen,  Unwissenschaftlichen.  Die  Versuche  geschahen  auch 
nie  in  genügender  Zahl  und  nie  mit  jener  Peinlichkeit  in  Beachtung 
gleicher  Bedingungen,  durch  die  allein  allgemein  gültige  Schlüsse  ge- 
rechtfertigt erscheinen  können. 

Wenn  sich  das  behaupten  läßt,  so  ist  auch  die  Ursache  der  geschil- 
derten Verhältnisse  offenliegend  genug,  um  eine  ungerechte  Einschätzxmg 
der  vergangenen  erziehungsgeschichtlichen  Epochen  zu  verhindern.  Man 
mußte  sich  früher  ausschließlich  auf  die  groben  Erfahrungstatsachen  bei 
der  Postulierung  von  Erziehungs-  und  Unterrichtsgrundsätzen  stützen, 
weil  bessere  Methoden  mangels  einer  exakt  arbeitenden  Psychologie 
unmöglich  waren.  Wenn  unsere  Zeit  die  Entwicklung  einer  experimen- 
tellen Pädagogik  möglich  machte,  so  gelang  es  ihr  nur  auf  dem  Boden, 
den  die  experimentelle  Psychologie  bereitete  und  noch  unentwegt  weiter 
bearbeitet.  Da  die  experimentelle  Psychologie  noch  ziemlich  in  den  An- 
fängen steht,  kann  es  nicht  wundernehmen,  daß  auch  die  experimentelle 
Pädagogik  über  die  ersten  Schritte  noch  nicht  hinaus  ist.  Das  aber  läßt 
sich  jetzt  schon  sagen :  Das  Feld,  das  sie  abzuschreiten  hat,  ist  ein  ge- 
räumiges, stark  bevölkertes  und  reich  bebautes,  auf  dem  es  ihr  an  Ar- 
beit durch  Menschenalter  nicht  fehlen  wird.  Was  ihr  hier  zu  tun  ob- 
liegt, ist  vor  allem  eine  wissenschaftliche  Untersuchung  der  Fragen,  ob 
der  Boden,  auf  den  sich  die  Pädagogik  angewiesen  sieht,  wirklich  von 
der  Beschaffenheit  ist,  wie  er  sich  der  Erfahrung  gewöhnlich  darstellt; 
ob  die  Art,  wie  ihn  die  Pädagogik  bisher  zu  bearbeiten  pflegte,  eine 
naturgemäße  und  zweckentsprechende  ist;  ob  das  Saatgut  in  jeder  Be- 
ziehung den  Qualitäten  des  Bodens  entspricht;  ob  die  Erfolge  im  rich- 
tigen Verhältnis  zur  aufgewandten  Mühe  und  zur  Leistungsfähigkeit 
des  Bodens  stehen  oder  ob  vielleicht  durch  die  gebräuchlichen  Maßnahmen 
der  mögliche  volle  Ertrag  vereitelt  wird  u.  s.  w. 

Nachdem  die  bisherige  Methodik  allenthalben  mehr  oder  weniger  auf 
vielleicht  zahlreiche  aber  doch  in  der  Hauptsache  zufällige  Beobach- 
tungen und  Erfahrungen  aufgebaut  hat ,  bleibt  der  experimentellen 
Pädagogik  nicht  viel  weniger  zu  unternehmen  übrig,  als  der  exakte  Nach- 
weis der  Zulänglichkeit  oder  Unzulänglichkeit  für  alle  in  Übung  stehenden 
pädagogischen  Gepflogenheiten.  Vielen  der  dabei  auftauchenden  Fragen 
mag  mit  den  bis  jetzt  ausgebildeten  Untersuchungsmethoden  vielleicht 
noch   nicht  beizukommen   sein;    sie  werden  ihre  Sprödigkeit  erst  gegen- 


—    220    — 

über  feineren  Methoden  verlieren.  Die  bisherigen  Leistungen  der  expe- 
rimentellen Pädagogik  berechtigen  aber  zu  der  Hoffnung,  daß  die  expe- 
rimentelle Pädagogik  mit  der  Zeit  auch  in  die  jetzt  noch  unzugänglich 
scheinenden  Abteilungen  des  weitläufigen  Gebäudes  der  Pädagogik  wird 
Licht  tragen  können. 

Vielen  pädagogischen  Fragen  kann  die  experimentelle  Pädagogik 
jetzt  schon  beikommen,  wie  die  Ergebnisse  beweisen,  die  sie  bereits  zu 
verzeichnen  hat.  Auf  einige  weitere  Strecken  aufmerksam  zu  machen, 
deren  Bearbeitung  sehr  wünschenswert  ist,  bezwecken  diese  Zeilen. 

Gelegentlich  einer  Untersuchung  über  die  Tendenz  in  der  dichteri- 
schen Jugendschrift  bin  ich  zu  der  Überzeugung  gekommen,  daß  der 
Einfluß  der  privaten  Schülerlektüre  in  ganz  falscher  Schätzung  steht. 
Die  gelegentliche  Äußerung  Herders,  daß  schon  mancher  Mensch  durch 
ein  Buch  auf  seine  ganze  Lebenszeit  gebildet  oder  verdorben  wurde, 
wird  seit  Jahrzehnten  mit  der  Skrupellosigkeit  naiven  Kinderglaubens 
von  der  gesamten  Pädagogik  nachgebetet  und  zur  Grundlage  pädagogi- 
scher Bestimmungen  genommen,  die  häufig  tief  genug  in  das  kindliche 
Leben  einschneiden,  so  daß  eine  wissenschaftliche  Untersuchung  ihrer 
Zulässigkeit  als  notwendig  erscheint.  Eine  ganze  Literatur  —  die  spe- 
zifische Jugendliteratur  —  ist  durch  die  Meinung  veranlaßt  worden,  man 
könne  moralische,  religiöse,  patriotische  u.  a.  Grundsätze  eintrichtern 
wie  Mixtur.  Tausende  von  eigens  präparierten  Jugendbüchern  sind  nach 
einem  Schema  gefertigt,  das  auf  der  Ansicht  fußt,  die  Geschichtenfiguren 
seien  von  starkem  Einfluß  auf  den  jugendlichen  Leser,  indem  sie  sich 
als  Beispiele  an  seinen  Nachahmungstrieb  wendeten,  und  es  sei  darum  ganz 
in  die  Hand  des  Erziehers  —  hier  des  Jugendschriftstellers  —  gegeben 
die  gewünschten  Wirkungen  durch  die  entsprechende  Zurichtung  der 
Geschichten  und  einen  in  der  Richtung  der  beabsichtigten  Wirkungen 
gelegenen  Aufputz  der  in  den  Geschichten  vorkommenden  Personen  zu 
erzielen.  Daß  solche  Pseudodichtungen ,  die  nicht  aus  dichterischem 
Drang,  sondern  aus  pädagogischen  und  anderen  Spekulationen  entstehen, 
Wirkungen  besagter  Art  fähig  seien,  ist  in  der  Pädagogik  allgemeiner 
Glaube.  Die  Festigkeit  und  Allgemeinheit  dieses  Glaubens  scheint  für 
die  Unerschütterlichkeit  seiner  Grundlagen  zu  zeugen ;  diese  aber  werden 
schon  von  der  einfachen  Überlegung  gestürzt,  daß  das  Beispiel  der  Ge- 
schichtenmenschen die  ihm  zugeschriebene  gewaltige,  absolute  Wirkung 
unmöglich  haben  kann,  indem  eine  solche  Wirkung  ja  nicht  einmal  von 
den  konkreten  Beispielen  der  Wirklichkeit  geübt  wird.  Welche  Fülle 
von  guten  und  schlechten  Beispielen  begegnet  tagtäglich  unserer  Jugend 
ohne  den  geringsten  nachweisbaren  Einfluß  zu  hinterlassen! 

Diese  Pseudodichtungen  erfahren  denn  auch   heftige  Befehdung,    be- 


—    221    — 

sonders  deshalb,  weil  sie  sich  zur  Erreichung  ihrer  unkünstlerischen 
Zwecke  künstlerischer  Mittel  bedienen,  also  in  der  Form  dichterischer 
Kunstwerke  erscheinen  und  dadurch  den  literarischen  Geschmack  der 
Jugend  irreleiten  und  verderben.  Daß  sie  letzteres  tun,  ist  zwar  außer- 
ordentlich wahrscheinlich,  ja  bis  zu  einem  gewissen  Grrade  unbestreitbar; 
wenn  es  aber  behauptet  wird,  so  geschieht  es  wieder  nicht  auf  grnnd 
der  Ergebnisse  exakter  Forschung,  sondern  hauptsächlich  auf  konstruk- 
tivem Wege  unter  Benützung  zufälliger  Erfahrungen.  Wenn  hier  die 
experimentelle  Pädagogik  etwas  Licht  verbreiten  könnte,  wenn  es  ihr  fest- 
zustellen gelänge,  die  Stärke  des  Einflusses  privater  Lektüre  im  allge- 
meinen, der  guten  und  schlechten  im  besondern,  so  würde  sie  eine  Umwälzung 
in  der  Jugendliteratur,  in  der  Schullektüre  und  im  Bibliothekwesen  un- 
serer Schulen  hervorrufen,  die  an  reinigender  Gewalt  geschichtlichen 
Kevolutionen  nicht  nachstehen  würde. 

Die  künstlerische  Bewegung,  die  seit  einem  Jahrzehnt  die  pädago- 
gischen Kreise  in  Atem  hält,  hat  neben  anderen  erfreulichen  Wirkungen 
auch  die  Lesebuchfrage  wieder  lebhaft  in  Fluß  gebracht.  Nicht  so  sehr 
zum  Lehrbuch  wünscht  die  neuere  pädagogische  Richtung  das  Lesebuch 
gestaltet  als  vielmehr  zum  Musterbuch  literarischer  Schätze,  aus  dem  die 
ästhetische  Anlage  des  Kindes  Nahrung  saugen  kann.  Als  die  schwächste 
Seite  unserer  Lesebücher  muß  man  die  Auswahl  der  poetischen  Stücke 
bezeichnen.  Fast  alle  Lesebücher  enthalten  pädagogischen  Rücksichten 
zuliebe  mehr  oder  minder  wertlose  Reimereien  und  wo  doch  zu  wirk- 
lichen Dichtern  gegriffen  ist,  sind  oft  Stücke  entschieden  zweiter  Güte 
gewählt. 

Fehlt  es  hier  an  der  richtigen  Zwecksetzung  für  das  Lesebuch  oder 
an  dem  feinen  ästhetischen  Empfinden  der  Lesebuchverfasser,  so  sind  auch 
Mißgriffe  möglich,  wo  beide  Mängel  nicht  vorliegen.  „Die  Auswahl  des 
Besten  ist  nicht  immer  die  beste  Auswahl"  hat  Heinrich  Hart  auf  dem 
zweiten  Kunsterziehungstage  in  Weimar  gesagt  und  mit  diesem  Paradoxon 
treffend  auf  eine  Arbeitsmöglichkeit  für  die  experimentelle  Pädagogik 
hingewiesen.  Die  Art,  wie  Kinder  anschauen  und  denken,  die  Stoffe,  von 
denen  sie  besonders  lebhaft  ergriffen  werden,  die  Darstellungsformen,  die 
das  kindliche  Literesse  in  besonderem  Grade  fesseln,  sind,  wie  schon 
eine  aufmerksame  Beobachtung  lehrt,  durchaus  nicht  in  voller  Überein- 
stimmung mit  den  entsprechenden  Verhältnissen  bei  Erwachsenen.  Darum 
wird  eine  Auswahl,  die  nach  rein  literarischen  Gesichtspunkten  erfolgt, 
nicht  von  vornherein  als  die  den  Kindern  zusagendste  bezeichnet  werden 
können.  Hier  muß  das  Experiment  eingreifen,  wenn  für  die  Lesebücher 
ein  Kanon  von  Dichtungen  festgestellt  werden  soll,  der  wirklich  auch 
das  Beste  für  die  Jugend  bedeutet.     Ich    dächte   mir  die  Sache  so:    Zu- 


—     222     — 

erst  wird  nach  rein  künstlerischen  Prinzipien  und  dabei  auch  schon  unter 
Berücksichtigung  des  Umstandes,  daß  die  Auswahl  für  Kinder  bestimmt 
ist,  von  den  Experimentatoren  ein  Schatz  deutscher  Dichtungen  zusam- 
mengestellt, die  dann  von  den  Eandern  selbst  durch  eine  geeignete  Me- 
thode nach  dem  Grade  der  Gefälligkeit  geordnet  werden.  Jene  Gedichte, 
welche  von  einer  genügenden  Mehrheit  in  erster  Linie  mit  Gefälligkeits- 
urteilen  belegt  werden,  dürften  —  vielleicht  nach  einer  weiteren  Über- 
prüfung —  als  poetischer  Grundstock  der  Lesebücher  bezeichnet  werden 
können.  Ich  habe  vor  einiger  Zeit  mit  einer  sechsten  Knabenklasse 
(11 — 12  jährige  Jungen)  während  des  Schuljahres  eine  Anzahl  Gedichte, 
die  in  angegebener  Weise  von  mir  ausgewählt  worden  waren,  behandelt 
und  mit  der  ganzen  Klasse  memoriert.  Am  Ende  des  Schuljahres  be- 
nützten wir  eine  Stunde  dazu,  die  sämtlichen  Gedichte  noch  einmal  zum 
Vortrag  zu  bringen.  Ich  gab  hierauf  jedem  Schüler  ein  Blatt  Papier, 
ließ  die  Titel  der  Gedichte  in  der  Reihenfolge ,  wie  die  Stücke  zur 
Durchnahme  gekommen  waren,  aufschreiben  und  forderte  dann  meine 
Schüler  auf,  sich  darauf  zu  besinnen,  welches  von  den  Gedichten  jedem 
das  liebste  sei,  und  das  mit  Nr.  1  zu  bezeichnen.  Hierauf  mußte  sich 
jeder  Schüler  darauf  besinnen,  welches  von  den  übrigen  Gedichten  ihm 
das  liebste  sei,  und  das  mit  Nr.  2  versehen  u.  s.  w.  Die  Zusammen- 
stellung, die  ich  daraufhin  machte,  brachte  mir  manche  Überraschung. 
Ein  Gedicht,  das  mir  persönlich  sehr  gut  gefällt,  war  von  keinem  Schüler 
in  erster  Linie  genannt  worden.  Dagegen  hatte  ein  Gedicht,  das  mich 
nicht  in  übermäßiger  Weise  anspricht,  einem  Drittel  aller  Schüler  am 
besten  gefallen. 

Der  Grund  dieser  Erscheinung  ist  in  den  schon  angedeuteten  Ver- 
schiedenheiten der  Lebensalter  zu  suchen.  Man  hat  gelegentlich  die  Be- 
sonderheiten von  Dichtungen,  wodurch  das  kindliche  Interesse  be- 
sonders angeregt  wird,  „das  Kindertümliche"  genannt.  Worin  dieses 
besteht,  ist  auf  spekulativem  Wege  schon  festzustellen  versucht  worden. 
Das  aber  kann  als  genügend  nicht  angesehen  werden.  Nur  das  Experi- 
ment wird  hier  befriedigende  Erklärungen  schaffen  können.  Je  früher 
das  geschieht,  desto  besser  für  die  Pädagogik.  Aber  nicht  nur  der  poe- 
tische Teil  der  Lesebücher  muß  auf  diese  Weise  durch  die  experimentelle 
Pädagogik  auf  einen  idealen  Stand  geführt  werden:  auch  der  prosaische 
Inhalt  wird  künftig  mehr  unter  Berücksichtigung  des  Kindestümlichen 
ausgewählt  werden  müssen.  Dazu  ist  die  Mitwirkung  des  Kindes,  die 
Dienstbarmachung  des  Experiments  unentbehrlich.  Je  mehr  Pädagogen 
hier  zugreifen,  desto  rascher  und  sicherer  können  die  notwendigen  Auf- 
klärungen gewonnen  werden.  Möge  darum  Hand  anlegen,  wem  die  Mög- 
lichkeit geboten  ist! 


—     223    — 

Weitere  Untersuchungen  über  die  Beziehungen 
zwischen  Schädelumfang  und  Intelligenz  im  schulpflichtigen  Alter  ^). 

Von  Dr.  med.  Bayerthal,  Nervenarzt  in  Worms. 

Die  Erforschung  der  Beziehungen  zwischen  Schädelumfang  und  In- 
telligenz haben  wir  im  verflossenen  Schuljahre  (06/07)  fortgesetzt.  "Wir 
sind  auch  bei  diesen  Untersuchungen  wieder  zu  Resultaten  gelangt,  die 
für  die  schulärztliche  Tätigkeit  von  großer  Bedeutung  zu  werden  ver- 
sprechen. Daß  zunächst  die  Körperlänge  nur  von  unwesentlichem  Ein- 
fluß auf  die  Kopfgröße  ist,  wie  man  das  auf  Grrund  der  bei  Erwachsenen 
erhaltenen  Resultate  auch  bei  Schulkindern  anzunehmen  berechtigt  war  -), 
wird  durch  die  Tabellen  A  und  B  bestätigt.  Kleine  und  große  Köpfe 
finden  sich  bei  jeder  Körpergröße,  soweit  letztere  nicht  durch  eine  allzu 
kleine  Anzahl  von  Kindern  vertreten  ist.  Dagegen  besteht  auch  für 
sämtliche  im  Alter  von  9^/2 — lO^/z  Jahren  befindlichen  Schulkinder, 
welche  das  Ziel  der  Klassen  V  nach  4  jährigem  Schulbesuch  erreichten, 
die  Gesetzmäßigkeit  zwischen  Schädelumfang  und  Intelligenz,  wie  wir 
sie  für  die  vorausgehenden  Altersstufen  und  Klassen  bei  früheren 
Untersuchungen  erhoben  hatten.  Man  kann  sogar  sagen,  daß  dieser 
Zusanmienhang  noch  deutlicher  geworden  ist,  insofern  sich  an  der  Hand 
der  für  das  IV.  Schuljahr  bestimmten  Lehrgegenstände  dem  Lehrer 
mehr  Gelegenheit  bietet,  die  Intelligenz  seiner  Schüler  zu  prüfen.  Denn 
der  Lehrstoff*  der  Klasse  V  stellt  höhere  Anforderungen  an  das  Denk- 
vermögen (Fähigkeit  des  Vergleichs,  der  Kritik)  gegenüber  dem  Unter- 
richtsmaterial der  vorhergegangenen  Schuljahre,  zu  dessen  Bewältigung 
im  wesentlichen  Gedächtnis  und  mechanische  Fertigkeit  genügten  und 
daher  für  die  Beurteilung  der  kindlichen  Intelligenz  in  der  Regel  von 
ausschlaggebender  Bedeutung  waren.  So  ist  es  wohl  zu  erklären,  daß 
in  der  gemischten  Klasse  V  zum  ersten  Mal  die  Geschlechtsunterschiede 
in   der   geistigen   Begabung  ^),    auf  die   wir    seit   Beginn    dieser  Unter- 

1)  Vergl.  diese  Zeitschrift  B.  n  p.  247.    B.  HI  p.  238. 

2)  S.  diese  Zeitschrift  B.  III  p.  242. 

3)  Dieselben  können  durchaus  nicht  zu  Ungunsten  der  modernen  Frauenbewegung, 
deren  berechtigte  Ziele  im  Gegenteil  durch  psycho-physiologische  Tatsachen  nur  ge- 
fördert werden  können,  gedeutet  werden.  Denn  ein  hervorragend  gut  beanlagtes  "Weib 
wird  einem  Mann  mit  Durchschnittsbegabung,  und  ein  Weib  von  durchschnittlicher  Be- 
gabung einem  intellektuell  unter  dem  Durchschnitt  stehenden  Mann  auf  geistigem  Gebiete 
überlegen  sein,  soweit  nicht  körperliche  Einflüsse  anderer  Art  im  einzelnen  Falle  die 
Leistungsfähigkeit  des  Weibes  zeitweise  oder  dauernd  einschränken.  Aber  man  darf  nicht 
außer  acht  lassen,  daß  die  durchschnittliche  geistige  Beanlagung  des  Mannes  seinem 
durchschnittlich  größeren  Kopfumfang  entsprechend  über  der  des  Weibes 
steht;  nur  ist  es  kein  Kennzeichen  einer  höheren  Intelligenz,  wenn  man  aus  dieser  Tat- 


—     224     — 

suchungen  unser  Augenmerk  richteten,  zu  Tage  traten.  Nach  den  über- 
einstimmenden Aussagen  der  beiden  Lehrer,  die  in  diesen  Klassen  Unter- 
richt erteilen,  übertreffen  durchschnittlich  die  Mädchen  die  Knaben  in 
den  Fächern,  die  hauptsächlich  Anforderungen  an  das  Gredächtnis  stellen, 
stehen  jedoch  hinter  den  Knaben  in  Bezug  auf  Leistungen  zurück,  bei 
denen  im  wesentlichen  das  Urteilsvermögen,  wie  bei  manchen  Rechen- 
aufgaben, in  Betracht  kommt  ^). 

Von  besonderem  Interesse  waren  ferner  2  Mädchen,  die  trotz 
mittelgroßen  bezw.  sehr  kleinen  Kopfes  (50  cm  und  46  cm)  in  den  Klassen 
VI  vor  Ostern  1906  ihrer  intellektuellen  Veranlagung  nach  als  „sehr 
gute"  bezw.  „gute*  Schülerinnen  von  ihren  Lehrerinnen  bezeichnet  worden 
waren.  Während  die  „sehr  gute"  Schülerin  in  Bezug  auf  ihre  intellek- 
tuelle Veranlagung  von  ihrem  Lehrer  in  Klasse  V  nur  die  Note  4  er- 
hielt, zeichnete  sich  das  andere  Mädchen  in  Klasse  V  (gegenwärtiger 
Schädelumfang  46^2  cm,  Körperlänge  120  cm)  nicht  mehr  durch  gute 
Leistungen  aus,  wenn  auch  eine  definitive  Beurteilung  seines  Denk- 
vermögens vorläufig  noch  nicht  möglich  ist.  Wohlverstanden  handelt 
es  sich  in  beiden  Fällen  nicht  um  Kinder,  deren  intellektuelle  Leistungs- 
fähigkeit durch  körperliche  Erkrankung  oder  andere  äußere  Ursachen 
beeinträchtigt  worden  war. 

Da  das  Schädelwachstum,  wie  unsere  diesjährigen  Messungen  in  den 
Klassen  V  lehrten,  ein  weniger  intensives  war,  —  die  Vergrößerung 
des  Schädelumfanges  im  Laufe  des  verflossenen  Schuljahres  schwankte 
zwischen  einer  kaum  nachweisbaren  Zunahme  und  einem  ^k  cm  —  so 
haben  wir  in  den  Tabellen  A  und  B  nur  3  Altersstufen  berücksichtigt. 
Die  Tabellen  C  und  D  geben  Aufschluß  über  die  Beziehungen  zwischen 


Sache   eine  geistige   Minderwertigkeit   des   Weibes   ableitet,   wie    wenn    der    Wert   eines 
Menschen  bloß  in  seinen  intellektuellen  Leistungen  bestände. 

1)  Das  Rechnen  darf  allerdings  nur  mit  einer  gewissen  Vorsicht  als  Maßstab  für 
die  Beurteilung  des  Denkvermögens  benutzt  werden.  Die  Kinder  sind  nicht  selten,  bei 
denen  die  Fähigkeit  zu  rechnen  nicht  den  übrigen  intellektuellen  Leistungen  entspricht. 
In  der  Klasse  V  des  Herrn  Vonalt  fanden  sich  z.  B.  2  Schüler  mit  der  intellektuellen 
Beanlagung  „im  ganzen  gut",  von  denen  der  eine  im  Rechnen  die  Zensur  „ungenügend", 
der  andere  die  Zensur  „teilweise  genügend"  hatte.  Dagegen  hatte  ein  anderer  Schüler 
in  der  gleichen  Klasse,  dessen  intellektuelle  Veranlagung  gerade  noch  zur  Erreichung 
des  Klassenzieles  genügte,  im  Rechnen  die  Note  1.  Man  wird  diese  Verhältnisse  auch 
schon  im  ersten  Schuljahr  berücksichtigen  müssen,  wenn  man  in  Bezug  auf  die  Be- 
urteilung der  intellektuellen  Veranlagung  in  den  späteren  Klassen  keine  Enttäuschung 
erleben  will.  Vom  erwachsenen  Menschen  ist  ja  bekannt,  daß  z.  ß.  die  sogenannten 
Rechenkünstler  nicht  immer  intelligent  zu  sein  brauchen.  Und  auf  pathologischem  Ge- 
biete kann  durch  Krankheit  bedingte  intellektuelle  Schwäche  mit  auffallend  guten 
Leistungen  im  Rechnen  verbunden  sein. 


—    225    — 

Schädelmnfang  und  intellektueller  Veranlagung  der  im  Alter  von  9^2 
bis  107-2  Jahren  befindlichen  Knaben  und  Mädchen,  welche  im  Schuljahre 
1906/07  die  Klassen  V  zum  ersten  Male  besuchten. 

Als  neue  Erfahrungstatsache  hat  sich  bei  unseren 
Untersuchungen  herausgestellt,  daß  in  dem  genannten 
Alter  bei  Knaben  mindestens  ein  Schädelumfang  von  52 
cm,  bei  Mädchen  (mit  einer  Ausnahme)  ein  solcher  von 
51  cm  erforderlich  war.  um  hervorragend  gute  Schul- 
leistungen aufzuweisen.  Dagegen  kann  sich,  wie  dies  bereits  in 
früheren  Jahresberichten  dargelegt  wurde  und  auch  aus  obigen  Tabellen 
hervorgeht,  bei  Schulkindern,  die  den  Anforderungen  der  Normalklasse 
nicht  genügen,  sich  also  der  Leistungsfähigkeit  der  Hilfsschulinsassen 
mehr  oder  weniger  nähern^),  jeder  Schädelumfang  von  der  maximalen 
Kopfgröße  geistig  sehr  gut  beanlagter  Schüler  bis  zum  kleinsten  im 
betreffenden  Alter  überhaupt  vorkommenden  Maße  vorfinden.  Wie  groß 
der  Schädel  eines  10jährigen  Schulkindes  mindestens  sein  muß,  um  den 
Anforderungen  der  Klasse  V  zu  genügen,  das  vermag  ich  zur  Zeit  noch 
nicht  mit  Sicherheit  zu  sagen.  Sicher  scheint  mir  zu  sein  —  auf  Grund 
von  ca.  2000  Schädelmessungen,  die  von  mir  an  6  bis  10jährigen  Schul- 
kindern in  den  letzten  3  Jahren  vorgenommen  worden  sind  — ,  daß  ein 
Schädelumfang  von  46^2  cm  bei  einer  10jährigen  den  Anforderungen 
der  Xormalklasse  V  genügenden  Schülerin,  von  der  oben  pag.  224  die 
Eede  war,  eine  enorm  seltene  Ausnahme  bildet;  bei  normal  veranlagten 
Knaben  scheint  diese  minimale  Kopfgröße  im  schulpflichtigen  Alter  (viel- 
leicht vom  ersten  Schuljahr  abgesehen)  '^)  überhaupt  nicht  vorzukommen. 
Die  Tabelle  pag.  226  gibt  über  Alter,  Klasse  und  intellektuelle  Leistungs- 
fähigkeit derjenigen  Mädchen  Auskunft,  die  nach  den  bisherigen  Unter- 
suchungen einen  Schädelumfang  von  46^2  cm  und  weniger  aufzuweisen 
hatten.  Es  handelt  sich  im  Granzen  um  10  Schülerinnen,  von  denen  nur 
2  das  Ziel  der  Normalklasse  nach  einmaligem  Besuche  erreichten.  Es 
ist  daher  gestattet,  anzunehmen,  daß  6  bis  7  jährige  Mädchen  mit  einem 
Schädelumfang  von  46  cm  und  weniger  in  der  großen  Mehrzahl  der 
Fälle  den  Anforderungen  der  untersten  Stufe  nicht  genügen,  in  keinem 
Falle  sehr  gute  Leistungen  aufweisen  werden.  Auch  nach  anderer  Rich- 
tung hin  ergaben  unsere  nach  Beginn  des  Schuljahres  1906/07  an  sämt- 


1)  Die  verschiedenen  Formen  verminderter  Intelligenz  von  der  schwachen  Begabung 
in  physiologischer  Breite  angefangen  bis  zur  ausgesprochenen  Idiotie  fließen  allmählich 
ineinander. 

2)  Nur  bei  1  Knaben  im  Älter  von  G»',  Jahren  (Klasse  VlII)  und  der  Zensur  2 
fand  ich  einen  Umfang  von  46  cm  bei  hohem  Schädel.  Über  die  Bedeutxmg  des  letz- 
teren vgl.  diese  Zeitschrift  B.  II  pag.  249. 


—    226    — 

liehen  Schulrekruten  vorgenommene  Schädelmessungen  interessante  An- 
haltspunkte zur  Beurteilung  der  geistigen  Fähigkeiten.  (Vergl.  nach- 
stehende Tabelle.) 


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Intellektuelle  Veranlagung  5\  2 — 6  jäh- 
riger  Knaben  mit   einem   Schädelum- 
fang von  50  cm  und  weniger. 

Intellektuelle  Veranlagung  5\,— 6  jäh- 
riger Mädchen  mit  einem  Schädelum- 
fang von  49\'2  cm  und  weniger. 

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Ich  hoffe  sogar,  daß  es  in  absehbarer  Zeit  möglich  sein  wird,  sich 
schon  zu  Beginn  des  Schulbesuches  an  der  Hand  des  Schädelumfanges 
und   einer  kurzen  Beobachtung  über  die  voraussichtliche   intellektuelle 


—    227    — 

Leistungsfähigkeit  eines  Kindes  in  vielen  Fällen  mit  einem  gewissen 
Grad  von  Wahrscheinlichkeit  auszusprechen.  Schon  jetzt  glaube  ich 
die  Tatsache  als  gesichert  betrachten  zu  dürfen,  daß  öjährigeSchul- 
kinder,  welche  einen  Schädelumfang  unter  50cm  (Knaben) 
und  unter  49cm  (Mädchen)  aufzuweisen  haben,  nur  selten 
„sehr  gute"  Leistungen  im  Laufe  des  Schuljahres  zeigen 
werden.  Die  Hauptschwierigkeiten  ^)  in  der  Vorhersage  zu  Begirin 
des  Schuljahres  bereiten  zur  Zeit  noch  die  Schulrekruten  mit  großem 
Kopfe.  Hier  kann  eine  pathologische  Vermehrung  des  Hirnvolumens 
vorliegen,  die  —  wie  nochmals  wiederholt  sein  mag  —  sich  häufig  mit 
den  verschiedenen  Graden  der  angeborenen  Geistesschwäche  zu  verge- 
sellschaften pflegt.  Aber  auch  in  diesen  Fällen  darf  man  von  den 
schulärztlichen  Untersuchungen  der  Zukunft  für  den  Lehrer  den  Vorteü 


1)  Trotz  der  Vorsicht,  mit  der  ich  bei  den  Schlußfolgerungen  aus  den  Schädel- 
messungen zu  Werke  gehe,  begegne  ich  immer  noch  Urteilen,  (nicht  aus  Lehrerkreisen !), 
welche  durch  Sachkenntnis  nicht  getrübt  sind.  Berichterstatter  weiß  nicht,  ob  er  sich 
bei  der  Kritik  fremder  Leistungen  immer  von  diesem  Fehler  frei  gehalten  hat.  Jeden- 
falls war  er  stets  dankbar,  wenn  man  ihm  das  Material  zur  Gewinnung  eines  objektiven 
Urteils  zur  Verfügung  stellte.  Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  sei  der  Leser,  der  sich 
eingehend  über  die  in  Betracht  kommenden  Fragen  zu  unterrichten  wünscht,  auf  ein  im 
vergangenen  Jahre  erschienenes  "NVerk  Buschans  „Gehirn  und  Kultur"  aufmerksam 
gemacht.  —  Die  vorstehenden  Zeilen  waren  bereits  niedergeschrieben,  als  mich  Herr 
Schulinspektor  Schmeel ,  dem  ich  dafür  bestens  danke,  auf  einen  in  der  AUgemeinen 
Deutschen  Lehrerzeitung  1907  Nr.  13  und  14  erschienenen  Aufsatz  von  Franke  über 
„Kopfkunde  und  Erziehungslehre"  aufmerksam  machte,  der  erfreulicherweise  zeigt,  wie 
allmählich  auch  in  Lehrerkreisen  das  Interesse  für  die  pädagogische  Bedeutung  der 
Schädelmessungen  erwacht.  Der  Verfasser  des  betreffenden  Aufsatzes,  dem  die  an  den 
Wormser  Volksschulen  seit  2  Jahren  üblichen  Schädelmessungen  noch  unbekannt  sind, 
schreibt  u.  a. ;  „Wenn  man  erst  die  Kopfmessungen  in  den  Schulen  eingeführt  haben 
wird,  wenn  man  sich  auf  sie  als  unzweifelhaft  vorliegende  Tatsachen  stützen  wird,  wenn 
man  die  Schulärzte  zu  solchen  kopfkundlichen  Messungen  heranziehen  und  ihnen  so  ein 
geeignetes  Feld  ihrer  Betätigung  zuweisen  oder  einzelne  Lehrer  für  diese  unbedingt  not- 
wendigen Einzeluntersuchungen  ausbilden  wird,  dann  wird  man  nicht  mehr  so  im  Dunkeln 
tappen,  auch  die  Eltern  leichter  von  der  Abstufung  ihrer  Kinder  überzeugen  und  im 
allgemeinen  ärgerliche  Zwischenfälle  vermeiden  können.  Wird  jetzt  nicht  manches  Kind 
für  Trägheit  gestraft,  obwohl  Kieinköpfigkeit  vorliegt !  Wird  nicht  mancher  Lehrer  scheel 
angesehen  wegen  anscheinend  mangelhafter  Leistungen,  obwohl  seine  Klasse  vielleicht 
stark  an  Kieinköpfigkeit  krankt!"  Man  kann  diesen  Betrachtungen  Frankes  mit  Aus- 
nahme der  2  letzten  Sätze  vollständig  beistimmen.  Die  Schlußsätze  zeigen  nämlich,  wie 
übrigens  der  ganze  Aufsatz ,  daß  der  Verfasser  gleich  seinem  ärztlichen  Gewährsmann 
Rose  sowohl  die  Schwierigkeiten  der  Abgrenzung  vom  pathologischen  Gebiete,  als  auch 
die  weiten  Grenzen,  innerhalb  deren  die  Schädelmaße  bei  allen  nicht  „sehr  guten" 
Leistungen  schwanken,  nicht  kennt  und  daher  die  Bedeutung  der  „Kopfkunde"  für  die 
Erziehungslehre  überschätzt. 


—    228    — 

erhoifen,  daß  er  in  Berücksichtigung  der  Kopfgröße  frühzeitig  diejenigen 
Kinder  zu  erkennen  vermag,  deren  von  vorn  herein  auffallende  intel- 
lektuelle Minderwertigkeit  trotz  größten  pädagogischen  Eifers  eine 
dauernde  bleiben  wird.  Was  das  heißt,  wird  allerdings  nur  der  Schul- 
arzt im  vollen  Umfang  erfassen,  den  es  mit  Mitleid  erfüllt,  wenn  er 
sieht,  wie  Lehrer  und  Lehrerinnen  sich  abmühen,  derartige  Schulkinder 
dem  Ziele  der  Normalklasse  entsprechend  vorwärts  zu  bringen.  Und 
schließlich  darf  man  sich  mit  zunehmender  Erfahrung  von  der  Bestim- 
mung der  Kopfgröße  noch  einen  weiteren  Vorteil  versprechen,  wenn 
man  als  Schularzt  in  Übereinstimmung  mit  dem  von  manchen  Pädagogen 
vertretenen  Grundsatz,  alle  Kinder  vor  dem  vollendeten  6.  Lebensjahre, 
„die  nicht  geradezu  in  vorzüglicher  Weise  über  ihr  Alter  hinaus  ent- 
wickelt" sind,  bei  der  Aufnahme  zurückweisen  will  ^).  Eine  rein  päda- 
gogische Untersuchung  genügt  zu  dieser  Auslese  nicht.  Denn  von  244 
Kindern  (118  Knaben  126  Mädchen),  die  vor  dem  vollendeten  sechsten 
Lebensjahre  Ostern  1906  in  die  Wormser  Volksschulen  neu  aufgenommen 
wurden,  erreichten  19  Knaben  und  14  Mädchen  das  Ziel  der  Klasse 
VIII  nicht.  Aus  der  Tabelle  pag.  226  ergeben  sich  weitere  Anhaltspunkte 
zur  Erkennung  derjenigen  Kinder ,  welche  in  dem  in  Rede  stehenden 
Alter  wahrscheinlich  in  der  Regel  geistig  nicht  hervorragend  beanlagt 
sind.  Bei  Benutzung  dieser  Tabelle,  über  deren  Zuverlässigkeit  weitere 
Untersuchungen  entscheiden  müssen,  würden  von  den  genannten  33 
Kindern  5  Knaben  und  7  Mädchen  wegen  unzureichenden  Schädelum- 
fangs  keine  Aufnahme  gefunden  haben.  Ausdrücklich  sei  aber  bemerkt, 
daß  vor  allem  deshalb  noch  große  Vorsicht  in  der  Prognose  der  geistigen 
Leistungsfähigkeit  auf  Grrund  der  zu  Beginn  des  ersten  Schuljahres 
festgestellten  Schädelmaße  am  Platze  ist,  weil  man  noch  nicht  weiß,  in 
welchem  Prozentsatz  der  Fälle  mit  relativ  kleinem  Kopf  ein  starkes 
Hirnwachstum  im  Laufe  der  ersten  Schuljahre  zu  einer  auffallenden 
Vergrößerung  des  Schädelumfanges  führt  und  weit  bessere  intel- 
lektuelle Leistungen  ermöglicht,  als  man  anfangs  zu  erwarten  be- 
rechtigt war. 


1)  Vgl.  „Über  den  Beginn   der    Schulpflicht"   von   Stadtschulinspektor  H.  Schmeel- 
Worms.    Allgemeine  Deutsche  Lehrerzeitung  1907  Nr.  8. 


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Meumann,  Exper.  Pädagogik.    V.  Band. 


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Größter  Schädelumfang 


Kleinster  Schädelumfang 


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Literatur  berichte. 


Ein  neues  pädagogisches  Volksbuch.    (Unsre  Lieblinge  in  Haus 
und  Schule.)     Besprochen  von  Ernst  Meumann^)- 

Die  pädagogische  Literatur  besitzt  nur  wenige  echte  Volksbücher ,  d.  h.  Bücher, 
die  sieh  an  die  weitesten  Kreise  wenden,  um  ihr  Interesse  und  ihr  Verständnis  für  Er- 
ziehungsfragen zu  beleben  und  die  unerläßliche  Gemeinschaft  zwischen  den  Erziehern  in 
der  Schule  und  dem  Eiterhause  zu  fördern.  Pestalozzis  Lienhard  und  Gertrud  war  ein 
solches,  echtes,  kerniges  Volksbuch ,  aber  Pestalozzis  Gedanken  bewegen  sich  in  seinem 
pädagogischen  Volksroman  auf  sozalp  ädagogischem  Gebiete,  sie  behandeln  nicht  die 
Detailfragen  der  Anleitung  zum  Erziehen  und  der  Hebung  des  Verständnisses  der  Kindes- 
seele. Grade  diese  Aufgabe,  die  äußere  Arbeit  der  täglichen  Erziehungsfragen  im  Hause  im 
engsten  Anschluß  an  die  Schultätigkeit  des  Kindes  zu  fördern,  den  Eltern  Rat  zu  erteilen, 
wie  sie  die  kleinen  Leiden  ihrer  die  Schule  besuchenden  Kinder  verstehen  lernen  können, 
wo  und  wie  sie  helfend  eingreifen  können,  aber  auch  ihnen  zu  zeigen,  welche  Art  ihrer 
Mitarbeit  an  der  Schulerziehung  nicht  erwünscht  ist  —  das  ist  ein  besonders  schwie- 
riges Problem  für  den  Pädagogen ,  und  wir  besitzen  sozusagen  nichts  von  brauchbarer, 
völUg  den  Bedürfnissen  der  Gegenwart  angepaßter  Literatur  auf  diesem  Gebiete.  Rousseaus 
Emil  wollte  ein  Erziehungsbuch  für  Eltern  sein ,  aber  es  verfehlte  diesen  Zweck  von 
vornherein,  indem  es  den  Zögling  aus  der  Familie  herausnimmt  und  mit  dem  „Haus- 
lehrer" aufs  Land  schickt.  Salzmanns  Konrad  Kiefer,  sein  Krebs-  und  Ameisenbüchlein 
passen  nicht  mehr  auf  die  Verhältnisse  unsrer  Zeit,  Jean  Pauls  Levana  enthält  eine 
Fülle  feiner  Beobachtungen  über  die  sich  entwickelnde  und  arbeitende  Kindesseele ,  aber 
der  Verfasser  kennt  nicht  die  Nöte  und  Leiden  der  Schularbeit.  So  könnte  man  alle 
Schriften  unsrer  großen  und  kleinen  Pädagogen  durchgehen :  wir  vermissen  ein  Buch  für 
Eltern,  das  sie  in  allgemeinverständlicher  Weise  grade  mit  der  Schularbeit  des 
Kindes  bekannt  macht.  Ganz  besonders  mit  der  Schularbeit  der  vermeintlich  Schwach- 
begabten, der  Sorgenkinder.  Mit  Recht  betont  der  Verfasser  des  Buches  „Unsere  Lieb- 
linge", daß  in  den  neueren  Schriften,  die  ähnliche  Fragen  behandeln  (z.  B.  Ad.  Matthias, 
Wie  erziehen  wir  unsern  Sohn  Benjamin  ? ;  Laura  Frost ,  Aus  unseren  vier  Wänden ; 
Oppel,  Das  Buch  der  Eltern),  einerseits  zu  sehr  das  Durchschnittskind  behandelt  worden 
ist,  anderseits  das  Verhältnis  von  Haus  und  Schule  nur  gestreift  wird.  Sie  sind  nach 
der  Ansicht  des  Verf.  ferner  zu  teuer,  „um  Gemeingut  des  Volkes  zu  werden".  Grade 
diese  Lücken  will  Kankeleit  ausfüllen  und  es  ist  ihm  in  vortrefflicher  Weise  gelungen. 
Möge  es  dieser  Besprechung  gelingen,  zu  seiner  Verbreitung  in  den  Kreisen  der  Päda- 
gogen beizutragen,  möchten  die  Pädagogen  es  in  die  weitesten  Kreise  des  Volkes  hinein- 
tragen ! 


1)  Vgl.  A.  Kankeleit,  Unsere  Lieblinge  in  Haus  und  Schule.  Ein  Handbuch  für 
Eltern,  die  ihren  Kindern  bei  der  Schularbeit  helfen  wollen.  1.  bis  3.  Tausend.  Gum- 
binnen,  Verlag  von  C.  Sterzeis  Buchhandlung  (Gebrüder  Reimer)  1907.  Preis  Mk.  1. 
172  Seiten. 

16* 


—    232    — 

Das  Vorwort  „Was  dieses  Buch  will"  beginnt  mit  einem  Erlebnis  des  Verfassers, 
das  uns  in  lebendiger  Form  mit  dem  Anlaß  und  Zweck  des  Buches  bekannt  macht.  „Es 
ist  schon  eine  Reihe  von  Jahren  her  und  immer  noch  steht  mir  das  Bild  lebhaft  vor 
Augen.  Mein  Weg  führte  mich  durch  ein  entlegenes  Walddörfchen.  In  dem  Flur  einer 
Instmannswohnung  half  eine  arme  Frau  ihrem  kleinen  Töchterchen,  das  eben  den  Schul- 
besuch begonnen  hatte,  bei  den  Schularbeiten.  Welch  anziehendes  Bild!  Ich  blieb  un- 
bemerkt stehen  und  wurde  so  Zeuge  der  rührenden  Fürsorge  eines  treuen  Mutterherzens. 
Aber  als  die  Kleine  zur  Fibel  griff,  da  war  die  Mutter  mit  ihrer  Hilfe  am  Ende.  Das 
Mädchen  nannte  die  Laute,  die  Mutter  die  Buchstabennamen.  „So  haben  wir  es  doch 
aber  in  der  Schule  nicht  gelernt" ,  wandte  die  Kleine  ein ;  die  Mutter  kannte  es  aber 
nicht  anders,  und  —  beide  weinten  schließlich  in  ihrer  Hilflosigkeit. 

Mit  freundlichem  Gruß  trat  ich  nun  hinzu,  erkundigte  mich  nach  der  Ursache  der 
Tränen,  entschied  den  kleinen  Streit  zu  Gunsten  des  Kindes,  zeigte  der  Mutter,  worauf 
es  bei  der  Hilfe  der  Eltern  ankäme ,  und  wahrlich ,  eine  größere  Dankbarkeit  habe  ich 
wohl  nie  erfahren,  eine  glücklichere  Mutter  kaum  je  gesehen".  Dieses  Erlebnis  prägte 
sich  dem  Verf.  tief  ein.  „Wie  oft  mußte  ich  an  jene  Frau  denken,  wenn  die  Kleinen 
zur  Schule  kamen  und  ich  die  Arbeit  des  vorigen  Tages  von  den  eifrigen  Müttern  zer- 
stört fand.  Was  hätte  ich  darum  gegeben,  jeder  Mutter  sagen  zu  dürfen:  „so  mußt  Du 
es  machen,  wenn  Du  Deinem  Kinde  helfen  willst". 

Aber  ist  denn  die  Mitarbeit  des  Elternhauses  an  der  Schularbeit  der  Kinder  über- 
haupt wünschenswert?  Der  Verf.  beantwortet  diese  Frage  unbedingt  mit  Ja!  „So- 
lange wir  noch  die  überfüllten  Klass  en  haben,  können  wir  die  Mit- 
arbeit des  Elternhauses  nicht  entbehren. 

Und  noch  ein  anderer  Umstand  fällt  dabei  schwer  ins  Gewicht:  Solange  wir  in 
diesen  überfüllten  Klassen  auch  noch  Kinder  haben,  die  uns  besondere  Mühe  und 
Arbeit  bereiten,  werden  wir  immer  genötigt  sein,  das  Elternhaus  dringend  um  seine 
Mitarbeit  zu  ersuchen. 

Wer  sind  nun  aber  diese  Kinder,  und  wie  bezeichnet  man  sie? 

Oft  nennt  man  sie  die  „Schwachbegabten";  doch  trifft  diese  Bezeich- 
nung bei  vielen  gar  nicht  zu.  Wer  sich  viel  mit  solchen  Kindern  beschäftigt  hat, 
der  wird  auch  zu  der  Erkenntnis  gekommen  sein,  daß  bei  sehr  vielen,  die  man  unter 
dieser  Rubrik  führt,  von  einer  schwachen  Begabung  nicht  die  Rede  sein  kann.  Verhältnisse, 
auf  die  ich  hier  noch  näher  eingehen  werde,  haben  das  Kind  scheinbar  dazu  gestempelt. 

An  anderer  Stelle  nannte  ich  selbst  diese  Kinder  „Die  Schwachen".  Dort 
mußte  ich  es  tun,  weil  ich  von  den  wirklich  Schwachen  im  deutschen  Unterricht  geredet 
habe.  Wie  oft  werden  aber  gerade  diese  später  recht  stark,  wenn  man  sie  nur  richtig 
laufen  lehrt. 

Sehr  oft  begegnet  man  dem  Ausdruck  „Sorgenkinder".  Es  ist  ja  richtig,  daß 
uns  diese  Kinder  viel  Sorge  und  Mühe  machen;  aber  richtig  ist  es  auch,  daß  wir  gerade 
an  diesen  Kindern   oft  die  größte  Freude  erleben,   hier  unser  dankbarstes  Feld  finden". 

Das  will  auch  der  Ausdruck  des  Titels  „Unsere  Lieblinge"  sagen.  Die  Lieblinge 
der  rechten  Mutter  sind  gerade  ihre  „Sorgenkinder",  die  ihr  am  meisten  Mühe  und 
Arbeit  machen,  die  von  anderen  zurückgesetzt  werden,  die  sich  unglücklich  fühlen.  Und 
das  will  des  Verf.  Buch:  „Es  will  die  Ursachen  der  Kinder-  und  Muttertränen  ergründen 
und  Mittel  zur  Abhilfe  angeben",  und  in  erster  Linie  will  es  den  Schwachen,  den  Ver- 
kannten, den  Vernachlässigten  unter  den  Kindern  helfen.  Dabei  hält  sich  der  Verfasser 
völlig  fern  von  allem  falschen  Verallgemeinern.  „Jedes  Kind  verlangt  eine  andere  Be- 
handlung; aber  er  versteht  es  den  BUck  der  Erzieher  für  die  kindlichen  Individualitäten 


—    233    — 

zu  schärfen  und  er  greift  die  typischen  unter  den  schwierigen  Fällen  heraus,  die 
immer  wiederkehrende  Züge  zeigen. 

Es  mag  mir  gestattet  sein,  nunmehr  einen  Üherblick  über  den  Inhalt  des  Buches 
zu  geben ;  indem  ich  diesen  etwas  ausführlich  halte ,  möchte  ich  bitten ,  die  Lektüre  des 
Originals  nicht  zu  versäumen,  denn  gerade  in  dem  Detail  der  Ausführung,  in  der  Art, 
wie  der  Verfasser  sachlich  und  sprachlich  seine  Aufgabe  durchführt,  liegt  die  starke 
Seite  des  Buches,  und  kein  Referat  kann  das  wiedergeben. 

Der  erste  Abschnitt  ist  betitelt:  „Ein  trauriges  Kapitel  aus  dem  Seelenleben  der 
Kinder" ;  es  gibt  einen  —  wie  mir  scheint  etwas  zu  kurz  gehaltenen  —  Blick  in  die 
Leiden  der  Kinder,  die  aus  irgend  einer  Ursache  in  der  Schule  nicht  fortkommen  und 
tadelt  das  falsche,  verständnislose  Verhalten  der  Eltern  gegen  solche  Schüler,  insbeson- 
dere das  unsinnige  Strafen,  anstatt  daß  den  Kindern  geholfen  wird.  Wie  am  Schlüsse 
jedes  Abschnittes,  so  wird  auch  hier  die  wichtigste  Literatur  angegeben.  Sollte  hier 
nicht  Straus'  Freund  Hein  auch  am  Platze  gewesen  sein? 

Der  zweite  Abschnitt  behandelt  die  ernste  Frage  „Wann  dürfen  wir  ein  Kind  auf- 
geben?" In  der  Erzählung  eines  eigenen  Erlebnisses  schildert  der  Verf.  das  taktlose 
Verhalten  eines  Vaters,  der,  vor  zahlreichen  Zeugen,  in  Gegenwart  seines  Sohnes  dem 
Lehrer  über  diesen  sagt:  „wir  haben  ihn  aufgegeben".  Ein  solcher  Vater  verdiente  — 
nach  meiner  Ansicht  —  eine  harte  Strafe  —  leider  kennen  wir  keine  „Elternstrafen". 
Der  Verf.  beantwortet  dann  seine  Frage  selbst  mit  einem  entschienenen  „Niemals" ! 
„Wir  Lehrer  geben  keinen  auf*.  „Vom  erzieherischen  Standpunkt  aufgefaßt,  ist  kein 
Kind,  auch  das  von  Grund  aus  verdorbene,  gänzlich  und  für  immer  verloren,  solange  nur 
überhaupt  noch  ein  kleiner  Grad  von  geistiger  Gesundheit  d.  i.  Büdungsfähigkeit  übrig 
geblieben  ist". 

Der  dritte  Abschnitt :  „Eltern,  so  könnt  ihr  ein  schwaches  Kind  stützen",  behandelt 
eine  Kernfrage  aller  Erziehung:  Vertrauen  und  Mißtrauen,  Aufmunterung  und  Entmuti- 
gung. „Unser  ganzes,  großes  Erziehungsgeheimnis  liegt  in  einem  Wort,  das  heißt:  Auf- 
munterung!" „Und  unsere  Erziehungsmittel  sind:  „Liebe  und  Geduld".  Es  folgt 
eine  Anleitung  für  Eltern,  die  Kinder  in  der  rechten  Weise  aufzumuntern  und 
hierauf  wird  die  Frage  behandelt,  wie  festgestellt  werden  kann,  „worin  der  Grund  der 
Abneigung  gegen  die  Schularbeiten  zu  suchen  sei".  Bei  jedem  schwachen  Kinde  sollte 
man  zunächst  die  wenigen  Punkte,  in  denen  es  etwas  leistet,  hervorsuchen  und  an  sie 
anknüpfen.  „Schafft  Eurem  Kinde  Stützpunkte,  die  wie  Inseln  in  dem  weiten  öden 
Meere  seiner  Unwissenheit  hervorragen.  Hier  wird  es  sich  anklammem,  hier  wird  es 
ausruhen  und  neue  Kraft  gewinnen".  „Haben  wir  zu  dem  goldenen  Herzen  des  Kindes 
erst  ein  wenig  Zutritt  gefunden  .  .  .  dann  geschieht  das  Wunderbare:  Es  kommt  uns 
entgegen,  macht  nicht  nur  einen  Schritt,  nein,  gleich  mehrere".  Und  besonders  zu  be- 
achten ist  die  wichtige  pädagogische  Wahrheit:  „Gerade  unsere  Schwachen  haben  ein 
unbewußtes  Bedürfnis  nach  gründlicher  Aneignung,  sofern  nur  das,  was  man  ihnen  gibt» 
mit  ihrem  Entwicklungsstadium  übereinstimmt". 

An  vierter  Stelle  wird  „die  Mutter  als  Hilfe  der  Schule"  behandelt*).  Die  Mutter 
ist  die  beste  Hilfskraft  der  Schule  im  Hause.  Aber  K.  warnt  vor  vorschneller  Hilfe- 
leistung der  Mutter.  Viel  wichtiger  als  ein  voreiliges  Eingreifen  in  die  Schularbeiten 
selbst  ist  es,  daß  die  Mutter  zunächst  einmal  dem  Kinde  die  denkbar  günstigste  Arbeits- 
gelegenheit verschafft  und  sich  so  verhält,  daß  das  Kind  sie  jederzeit  fragen  kann,  wenn 
es  selbst  wül.     Und  was  das  Kind  mit  sichtbarer  Mühe   erarbeitet   hat,    darf  nie  von 


1)  Hierbei  gibt  K.  die  Ansichten  einer  Mutter,  Frau  L.  Frost  wieder. 


—     234     — 

der  Mutter  getadelt  werden,  „sie  sah  doch,  wie  das  Kind  sich  mühte".  „Ein 
Kind,  das  sich  hemüht,  kommt  schon  zum  Ziel,  ihre"  (der  Mutter)  „Aufgabe  ist  in 
diesem  Falle  nur  „ihm  die  Lust  zu  diesem  Bemühen  zu  erhalten".  Eine  be- 
stimmte Stunde  für  die  Arbeitszeit  anzusetzen,  empfiehlt  K.  unbedingt;  ebenso  auch 
durchschnittlich  eine  bestimmte  Dauer  der  Arbeitszeit. 

Es  folgt  fünftens  „der  Anteil  des  Vaters  an  den  Schularbeiten  der  Kinder".  Wäh- 
rend der  Mutter  die  regelmäßige  Beaufsichtigung  der  Schularbeiten  zufällt,  kann  dem 
Vater  in  den  meisten  Ständen  schon  wegen  seiner  Beschäftigung  diese  Rolle  nicht  zuge- 
wiesen werden.  K.  denkt  sich  die  Tätigkeit  des  Vaters  als  die  einer  „obersten  Instanz", 
er  soll  die  allgemeine,  von  Zeit  zu  Zeit  kontrollierende  Aufsicht  übernehmen.  Auch 
dem  Vater  wird  ans  Herz  gelegt,  sich  vor  falschem  Tadel  zu  hüten,  „man  sollte  gar 
nicht  glauben,  wie  schwer  es  vielen  Menschen  wird,  selbst  bei  ganz  Kleinen  etwas  anzu- 
erkennen". 

„Die  Stellvertreterinnen  der  Mutter"  (sechster  Abschnitt).  Hier  gibt  der  Verf. 
vielbeschäftigten  Eltern  den  Rat:  „Laßt  Eure  Töchter,  wenn  sie  die  Schule  verlassen 
haben  .  .  helfend  eintreten"  bei  der  Erziehung  der  jüngeren  Kinder.  Im  Anschluß  daran 
werden  die  modernen  Bestrebungen  zur  Anleitung  der  zukünftigen  Mutter  zur  Erziehung 
und  der  Nachhilfeunterricht  des  Vereins  „Frauenwohl"  erwähnt. 

„Im  siebenten  Abschnitt  wird  der  frühzeitige  Schulanfang  „eine  Ursache  vieler 
Kinderleiden"  erörtert.  Es  ist  Tatsache,  daß  für  zahlreiche  schwache  Individuen  das 
sechste  Lebensjahr  einen  zu  frühen  Schulanfang  bedeutet.  In  diesen  Ausführungen  — 
wie  in  den  folgenden  Abschnitten  noch  oft  —  begegnen  sich  des  Verfassers  Erfahrungen 
mit  den  Ergebnissen  der  anthropometrischen  und  experimentellen  Untersuchung  der 
Kinder.  Sehr  gut  ist  es,  daß  K.  die  Eltern  mit  dem  §  44  des  Allgemeinen  Landrechts 
bekannt  macht,  und  mit  anderen  Verfügungen  der  Behörden,  die  einen  späteren  Schul- 
eintritt für  schwächliche  Kinder  vorgesehen  haben.  Sodann  wird  der  Entwicklungsgang 
eines  zu  früh  eintretenden  Kindes  verfolgt.  —  Hier  wäre  vielleicht  ein  Hinweis  auf  die 
zahlreichen  Fälle  von  dementia  praecox  (jugendlichem  Irresein)  angebracht  gewesen,  die 
wahrscheinlich  zum  größten  Teil  auf  vorzeitige  Erschöpfung  der  Nervenkraft  in  der 
Schulzeit  zurückgeführt  werden  können. 

Es  folgen  Ausführungen  nach  Laura  Frost,  Kehr  (Vorbereitung  auf  die  Schule) 
und  wertvolle  Winke  für  die  Mutter ,  das  noch  nicht  schulpflichtige  Kind  sehen ,  beob- 
achten und  sprechen  zu  lehren  (unter  Benutzung  von  Mason,  Erziehung  im  Hause,  Verlag 
von  G.  Braun,  Karlsruhe). 

„Mit  dem  neunten  Abschnitt:  „Ein  Blick  in  die  heutige  Schule"  wendet  sich  der 
Verfasser  didaktischen  Fragen  zu.  Zunächst  wird  die  Überfüllung  der  Schulklassen 
besprochen.  „Keine  Schulklasse  mehr  als  dreißig  Schüler",  so  forderte  kürzlich  ein 
gegenwärtiger  Pädagoge.  (Zum  Vergleich  mag  erwähnt  sein,  daß  noch  Basedow  für  die 
Volksschule  einen  seminaristisch  gebildeten  Lehrer  pro  Schule  für  ausreichend  hielt!). 
Die  Eltern,  so  betont  K.,  haben  in  vielen  Gegenden  Einfluß  auf  die  Besetzung  der  Schul- 
klassen; ein  lehrreiches  Beispiel  dafür  wird  mitgeteilt.  Hierauf  wird  der  Unterricht  in 
verschieden  großen  Klassen  besprochen,  und  sodann  die  Frage  erörtert:  „Wie  wir  es 
versuchen,  unsere  Schüler  selbständig  zu  machen".  „Kein  schöneres  Kapital  können  wir 
unseren  Kindern  mitgeben,  als  wenn  wir  sie  anleiten,  selbst  zu  beobachten,  selbst  zu 
forschen,  selbst  zu  denken,  selbst  zu  arbeiten,  selbst  zu  finden".  Diese  Forderung 
ist  nicht  neu,  wir  finden  sie  seit  Rousseau  bei  allen  großen  Pädagogen  der  Neuzeit. 
Aber  wie  sie  durchführen?  Der  Verfasser  hat  das  große  Verdienst,  sie  an  didaktischen 
Beispielen  ausgeführt  zu  haben.    Sie  wird  erläutert   durch  „eine  Rechenstunde",    ferner 


—    235     - 

am  deutschen  Unterricht,  am  Diktat,  an  der  Geographie,  an  den  Sammlungen  der  Kinder. 
Beim  deutschen  Unterricht  wird  das  dem  Lesen  vorgehende  Besprechen  und  das  Zeichnen 
der  behandelten  Geschichten  empfohlen,  und  mit  Recht  betont,  daß  dieses  Zeichnen  keinen 
zeichnerischen  Wert  haben  soll,  sondern  „das  Denken  bilden,  die  Phantasie  anregen" 
will.  Dann  erst  folge  das  Lesen.  ^Erst  im  vierten  Schuljahr  etwa  geben  wir  in 
der  Schule  versuchsweise  auch  ein  unbekanntes  Stück  zum  Durchlesen  auf".  Beim  Diktat 
(als  Orthographieübung)  wird  vor  allem  auf  Selbstkontrolle  der  Kinder  Wert  gelegt 
und  Anleitung  zu  ihrer  Durchführung  gegeben.  In  der  Geographie  wird  bemerkt:  „es 
gehört  wirklich  zu  den  Unmöglichkeiten,  unsern  Kindern  die  Kenntnisse  dieses  Faches 
unverlierbar  mitzugeben",  wir  sehen  bei  den  Erwachsenen,  wie  wenig  von  diesen 
Kenntnissen  hängen  bleibt.  Also  muß  aller  Nachdruck  darauf  liegen,  daß  sie  die  Karte 
verstehen  und  anwenden  lernen,  denn  dann  wissen  sie  sich  im  späteren  Leben  (mit  der 
Karte)  selbst  zu  helfen.  Deshalb  „lehren  wir  sie  heute  vor  allen  Dingen  lesen  und  zwar 
1)  lesen  im  großen  Heimatsbuche  und  2)  auf  der  Karte".  Ist  den  Kindern  der  Gebrauch 
„einer  Karte  erst  geläufig  gemacht,  dann  werden  sie  sich  später  schon  zu  helfen  wissen". 
Auch  die  Sammlungen  des  Schulschrankes  sollen  die  Kinder  selbst  mit  anlegen  und  er- 
weitern helfen. 

An  zehnter  Stelle  werden  die  Fragen  aufgeworfen :  „ W  i  e  soUen  die  Schüler  ar- 
beiten? Wie  sollen  die  Eltern  helfen?  Diese  Fragen  werden  zuerst  an  den  schrift- 
lichen Arbeiten  der  Kinder  erläutert.  Die  zahlreichen  kleinen  technischen  Vor- 
schläge, die  der  Verfasser  hierbei  gibt,  dürften  auch  noch  für  manchen  erfahrenen  Lehrer 
von  Nutzen  sein.  Hierbei  ist  mir  die  staatliche  und  unentgeltliche  Lieferung  der  Lehr- 
mittel ganz  besonders  wünschenswert  erschienen :  wie  leicht  wären  die  Forderungen ,  die 
K.  für  Heft ,  Feder  und  Halter  aufstellt ,  auf  diese  Weise  durchzuführen  I  Beim  Ab- 
schreiben wird  empfohlen,  das  Kind  anzuhalten,  daß  es  nicht  zu  oft  ins  Heft  sieht,  es 
muß  sich  möglichst  das  ganze  Wort  (und  später  mehrere  Wörter)  einprägen.  Hier  be- 
gegnen sich  wieder  des  Verfassers  Vorschläge  mit  experimentellen  Erfahrungen:  wir 
wissen,  daß  intelligente  Kinder  von  selbst  darauf  verfallen,  seltener  hinzusehen,  um- 
gekehrt verhalten  sich  die  unintelligenten.  2.  Wie  kann  eine  Mutter  ihrem  Kinde  beim 
Lesen  helfen?  Sehr  nachdrücklich  warnt  hier  K.  vor  falscher  Vorarbeit  der  Eltern 
ehe  das  Kind  in  die  Schule  kommt:  „Wer  es  nicht  glauben  und  einsehen  will,  dem  möchte 
ich  raten  zur  Probe  sich  selbst  etwas  falsches  und  unrichtiges  beibringen  zu  lassen  und 
dann  zu  versuchen ,  in  richtiger  Weise  zu  lernen".  Für  das  richtige  Lesenlernen  wird 
nun  eine  Anzahl  wichtiger  technischer  und  pädagogischer  Vorschriften  aufgestellt  — 
wobei  der  Verfasser  die  synthetische  Lesemethode  voraussetzt.  Wir  erwähnen  davon: 
„Jedes  Mitlesen  eines  andern  ist  schädlich  und  durchaus  zu  verwerfen".  Der  Schüler 
hört  dabei  auf  den  Mitleser,  anstatt  zu  sehen  und  wird  unselbständig.  „Ein  Helfen 
durch  Vor-  und  Nachsagen  der  Wörter  ...  ist  ganz  und  gar  verwerflich".  Ein  genaues 
Zeigen  der  Buchstaben  wird  empfohlen  (mit  dem  Lesestift,  nicht  mit  dem  Finger). 
Psychologisch  ist  das  sehr  interessant,  es  zeigt  uns  aus  den  Erfahrungen  eines  beob- 
achtenden Praktikers ,  wie  wichtig  beim  Lesen  das  Zusammenarbeiten  der  beiden 
Funktionen  ist:  Selbst  sprechen  und  analysierendes  Sehen!  Um  die  Kinder  bei  den 
ersten  Lesestücken  vor  der  verwirrenden  FüUe  der  Eindrücke  zu  schützen ,  hat  K.  ein 
ebenso  einfaches  wie  sinnreiches  technisches  Mittel  eingeführt:  „In  einem  kleinen  Karton 
ist  ein  Ausschnitt ,  durch  den  nur  eine  Zeile  gelesen  werden  kann ,  dieser  wird  beim 
Lesen  verschoben.  Hier  hat  die  Praxis  gefunden,  was  die  Psychologie  des  Lesens  fordern 
muß!  Wir  wissen,  daß  sich  beim  Lesen  das  indirekte  (seitliche)  Sehen  beteiligt  und 
zwar  hat   es   gerade  die  Aufgabe ,    das  Auge   über  die  Zeile   zu  führen.     Andererseits 


—    236    — 

•wissen  wir  aus  der  psychologischen  Optik,  daß  alle  im  Gesichtsfelde  auftauchenden  Reize 
als  Fixationsreize  für  das  Auge  wirken.  Daher  müssen  die  Augen  des  Kindes,  das  zum 
ersten  mal  an  ein  ganzes  Lesestück  herantritt,  beständig  abgelenkt  werden  durch  die 
große  Zahl  der  unter  und  über  der  Lesezeile  liegenden  Eindrücke.  So  wird  durch  den 
Lesekarton  von  Kankeleit  zweierlei  erreicht,  nämlich  1)  wird  das  indirekte  Sehen  in  der 
Führung  des  Auges  über  die  Zeile  geübt,  2)  werden  die  überflüssigen  und  schädlichen 
Fixationsreize  abgeschnitten.  Zugleich  kann  das  Kind  durch  Weiterziehen  des  Kartons 
durch  den  Lehrer,  im  Voraussehen  geübt  werden.  Was  K.  sodann  über  das  ortho- 
graphische Schreiben  sagt,  ist  mehr  wert,  als  manche  neuere  Experimente  über 
Orthographie.  Mit  Recht  dringt  er  darauf,  jeder  einzelnen  Art  der  Übung  ihre  rechte 
Stelle  anzuweisen.  Es  ist  z.  B.  ein  didaktisch  falscher  Schluß,  wenn  man  aus  den 
Experimenten  folgert,  daß  das  Diktat  zu  verwerfen  sei!  Man  soll  es  nur  an  rechter 
Stelle  verwenden:  als  Kontrollübung  für  das  durch  Lesen  und  Abschreiben  vorher 
angezeigte  Wortbild ;  als  solche  aber  ist  es  unentbehrlich.  Wichtig  sind  die  Forderungen : 
nicht  mehr  als  10  Wörter  täglich  üben;  individuelle  Übungen,  indem  die  Wörter  fest- 
gestellt werden,  die  dem  einzelnen  Kinde  besondere  Schwierigkeiten  machen.  Psycholo- 
gisch wichtig  ist  auch  die  weitgehende  Benutzung  des  Gedächtnisbildes  beim  Diktat, 
doch  müßte  hierbei  mehr  auf  individuelle  Unterschiede  des  Sinnengedächtnisses  Rücksicht 
genommen  werden,  4.  „Wie  Fritz  als  Rechenmeister  in  die  Schule  eintrat  und  als 
schlechter  Rechner  die  Schule  verließ" ,  behandelt  wieder  das  Kapitel  von  der  vor- 
eiligen und  falschen  elterlichen  Hülfe;  dann  werden  Vorschriften  für  die  brauch- 
bare Vorarbeit  und  ergänzendes  Eingreifen  der  Eltern  im  Rechnen  gegeben.  Bei  den 
Rechentabellen,  namentlich  der  (Seite  107)  von  Cabjolsky  würde  ich  eine  andere  Gruppie- 
rung für  wünschenswert  halten.  Es  folgt  eine  wichtige  Ausführung  „vom  Auswendig- 
lernen", in  der  der  Verfasser  vor  allen  Dingen  dem  unsinnigen  Anhäufen  der  Memorier- 
stoffe in  der  Volksschule  entgegentritt,  und  die  Erfahrungen  der  experimentellen  Päda- 
gogik für  die  Schulpraxis  verwertet.  Hierbei  hat  es  mich  besonders  interessiert,  daß 
der  Verfasser  großen  Nachdruck  auf  das  erstmalige  langsame  Lesen  legt.  Dies 
entspricht  gerade  meinen  experimentellen  Resultaten,  nach  denen  ich  es  für  einen 
großen  Fehler  halten  muß,  wenn  man  (mit  G.  E.  Müller)  bei  den  Gedächtnisexperimenten 
sogleich  mit  der  größten  Lesegeschwindigkeit  einzusetzen  pflegt. 

Von  größter  Bedeutung  für  die  Weckung  und  Pflege  des  Willens  der  Kinder  ist 
sodann  der  elfte  Abschnitt :  „Hemmungen".  Hier  hat  der  Verfasser  ein  ganz  neues 
Beobachtungsgebiet  der  Pädagogik  angebahnt,  auf  dem  Beobachtung  der  Praxis  und 
wissenschaftliche  Erforschung  des  Willens-  und  Gemütslebens  der  Kinder  sich  die~ 
Hände  reichen  sollten  zu  einer  unermeßlich  wichtigen  Arbeit!  Es  folgen  Ausführungen 
über  „körperliche  Leiden  als  Ursachen  der  Hemmungen"  und  über  die  Behandlung  der 
Sprachfehler  der  Kinder. 

An  vierzehnter  Stelle  wird  die  erziehliche  Praxis  gegenüber  den  verkrüppelten 
Kindern  besprochen,  und  Lehrern  und  Müttern  eine  Anzahl  praktischer  Winke  (auch  für 
die  Unterbringung  der  lünder)  erteilt.  Sodann  wird  über  die  Nachhilfestunden 
ein  beherzigenswertes  Wort  gesprochen  (XV).  Mit  Ausführungen  über  das  Heim  der 
Kinder,  über  Pflege  der  Liebe  zu  Menschen  und  Tieren  als  des  Fundamentes  für  das 
Glücklichwerden  der  Kinder  schließt  das  Buch.  Wir  wünschen  —  mit  dem  Verfasser  — 
daß  es  sich  in  weiten  Kreisen  der  Eltern  verbreiten  möge.  Wenn  für  die  folgenden 
Auflagen  ein  weiterer  Wunsch  am  Platze  ist,  sei  es  der,  daß  der  Verf.  in  ihnen  Manches 
noch  mehr  ausführe.  So  namentlich  die  Kapitel  I  bis  IV,  die  Betrachtung  über  die 
Hemmungen  und  ihre  körperlichen  Ursachen  (behinderte  Nasenatmung,  allgemeines  Zurück- 


—     237     — 

bleiben  der  körperlichen  Entwicklung  u.  a.  m.).  Dabei  könnten  die  anthropometrischen 
und  pathologischen  Untersuchungen  über  die  kindliche  Entwicklung  in  populärer  "Weise 
verwendet  werden.  Der  Verfasser  wird  ^^elleicht  einwenden,  daß  die  kernige  Hervor- 
hebung der  Hauptgedanken  des  Buches  darunter  leiden  könnte.  Ich  glaube  das 
nicht.  Das  Volk  liebt  bei  seiner  Lektüre  eine  gewisse  Breite  und  allseitige  Beleuchtung 
einer  Frage,  es  will  lange  und  gründlich  bei  den  Hauptgedanken  festgehalten  werden. 
Es  seien  an  dieser  Stelle  noch  die  früheren  Schriften  desselben  Verfassers  erwähnt. 

1)  Orthographieblätter  für  die  Hand  der  Schüler  (geh.  15  Pfg.),  in  325000 
Exemplaren  gedruckt. 

2)  Grammatikblätter  für  die  Hand  der  Schüler  (seit  1902  in  120000  Exem- 
plaren vervielfältigt.     (Geh.  15  Pfg.) 

3)  Lehrerheft  zum  Gebrauch  der  Orthographie-  und  Grammatikblätter.  4.  Aufl- 
(Kartonniert  50  Pfg.) 

4)  Billige  Badereisen  für  alt  und  jung;  ein  Wegweiser  für  Kranke  und 
Volksfreunde.     M.  1. 

5)  Fürs  Leben.  (Inhalt:  Berufswahl.  Suche  dir  Kenntnisse  zu  erwerben.  Vom 
Briefschreiben.  Gesundheitslehre.  Änstandslehre.  Was  jeder  aus  der  Staatskunde  wissen 
muß.     Gesetzeskunde.     Volkswirtschaftslehre.    Für  Herz  und  Gemüt.     Preis  50  Pfg. 

Sämtliche  Bücher  sind  bei  Gebr.  Reimer  in  Gumbinnen  erschienen. 


Elementares  Zeichnen. 

C.  Führer,  Das  Zeichnen  nach  Gegenständen  und  der  Xatur.  St.  Gallen  1907. 
Fehr'sche  Buchhandlung. 

Ein  Lehrer  der  städtischen  Mädchenoberschule  St.  Gallen  legt  in  diesem  Lehrgang 
durch  die  methodisch  geordneten  Zeichnungen  seiner  Schüler  seine  psjchologischen  Er- 
fahrungen dar.  Es  möge  deshalb  der  Versuch  gestattet  sein,  die  psychologische  Ent- 
wickelung  dieses  Lehrganges  zu  besprechen. 

Derselbe  stellt  den  ersten  systematischen  Zeichenunterricht  im  4. — 6.  Schuljahre 
dar,  wie  er,  die  Vorschläge  der  „Reform"  prüfend  und  teilweise  verwertend,  vom  Her- 
ausgeber seit  mehr  als  10  Jahren  in  der  Schule  durchgearbeitet  wurde.  Die  60  Blätter 
sollen  zeigen,  wie  von  den  Schülern  gezeichnet  worden  ist.  Die  Schülerzeichnungen 
sind  nämlich  mit  ihren  Unsicherheiten  auf  den  Stein  übertragen.  Allerdings  wurden  dazu 
die  bessern  Blätter  ausgewählt.  Doch  mußte  der  Lehrgang  von  allen  Schülern  durchge- 
arbeitet werden. 

Als  Vorbilder  dienen  KartonmodeUe,  Gegenstände  und  von  den  Schülern  ge- 
sammelte Pflanzenblätter. 

Jede  Grundform  wurde  in  folgenden  methodischen  Stufen  vorgewiesen  und 
mit  den  Schülern  durchgearbeitet. 

1.  Beim  Vorweisen  des  Gegenstandes  wird  dessen  Grundform  benannt. 

2.  An  der  Grundform  weist  man  die  Hauptlinien  an  und  beurteilt  deren  Lagen- 
verhältnisse, Größenbeziehungen  und  Krümmungen. 

3.  Besprechen  des  Zeichenvorganges. 

4.  Vorzeichnen  der  Grundform  durch  den  Lehrer,  dann  durch  einen  Schüler 
unter  beständiger  Prüfung  durch  die  Klasse. 

5.  Nachdem  die  Vorzeichnung  ausgelöscht  worden,  zeichnet  jeder  Schüler  die  Grund- 
form nach  dem  Gedächtnis  auf  sein  Zeichenblatt  (ca.  30; 40 cm).     An  der  Wandtafel 


-     238    — 

hängt,  allen  Schülern  gut  sichtbar  das  Kartonmodell  oder  der  Gegenstand,   Kleinere  Ge- 
genstände des  tä^^lichen  Gebrauches  schaffen  die  Schüler  selbst  herbei. 

6.  Vorweisen  des  Schülerentwurfes  beim  Lehrer.  Dieser  bezeichnet  die 
fehlerhaften  Stellen  mit  Bleistiftstrichen  und  hält  den  Schüler  zur  Selb  stprüfung 
seines  Entwurfes  an.  (Warum  ist  die  angestrichene  Stelle  unrichtig?  Wie  muß  der 
Fehler  verbessert  werden?) 

7.  Verbesserung  seiner  Zeichnung  durch  den  Schüler.  Das  Falsche  richtig 
zeichnen,  bevor  man  die  unrichtigen  Striche  auslöscht. 

8.  Wiederholtes  Vorweisen  der  Schülerzeichnung  und  Berichtigung  je  nach 
der  Fassungskraft  des  Schülers. 

9.  Auslöschen  des  Entwurfes  bis  auf  eine  Spur  der  Grundform,  überwacht 
vom  Lehrer. 

10.  Ausziehen  der  Zeichnung  mit  Blei-  oder  larbstift  in  deutlichen  Linien, 
doch  mit  schmiegsamer  Handführung,  überwacht  vom  Lehrer  und  mit  Vorweisung  von 
Musterblättern. 

11.  Anlegen  der  Farben  mit  Pinsel  oder  Farbstift.  Die  Schüler  wählen  die 
Farben  selbst  unter  Leitung  des  Lehrers  und  nach  Anweisung  von  Muster  blättern. 

12.  Einüben  der  Grundformen  durch  reihen- und  gruppenweise  Wiederholung ; 
Anwendung  beim  Skizzieren  ähnlicher  Gegenstände  in  Heften  oder  auf  den  Zeichenblät- 
tern. Zur  Einübung  können  bekannte  Grundformen  ohne  Vorzeichnung  sofort  mit  über- 
legten Pinselstrichen  flächenhaft  angedeutet  werden,  wodurch  die  Handführung  an 
Frische  und  Leichtigkeit  gewinnt. 

Die  Grundformen  des  Zeichnens  baut  der  Lehrgang  in  folgenden  Übung  sstufen  auf: 

1.  Gerade.  Farbige  Schnüre  oder  Stäbe  hält  der  Lehrer  in  beliebig  schiefer 
Richtung  vor  die  Klasse  und  läßt  die  Schüler  mit  dem  Zeigefinger  eines  gestreckten 
Armes  diese  Richtung  in  der  Luft  beschreiben,  indem  sie  zuerst  dem  Gegenstande  nach- 
fahren, hernach  die  Bewegung  frei  ausführen.  Auch  vor  Übertragung  der  Linie  auf  das 
Zeichenblatt  soll  deren  Richtung  in  freiem  Luftzuge  angedeutet  werden,  damit  die  Be- 
wegungsempfindungen triebartige  Erinnerungen  vorbereiten,  welche  die  Blickbewegung 
leiten  und  damit  auch  die  Tastbewegung  der  Hand  sichern. 

Die  Linien  werden  gezogen:  1)  ohne  vorherige  Festlegung  des  Anfangs-  und  End- 
punktes ;  2)  von  gegebenem  Anfangspunkt  aus  in  vorgewiesener  Richtung ;  3.  vom  An- 
fangspunkt nach  unten,  oben,  rechts,  links. 

Zur  Prüfung,  ob  die  Linie  gerade  sei,  hat  der  Schüler  das  Blatt  in  Augenhöhe  zu 
halten  und  mit  einem  Auge  die  Richtung  der  Linie  zu  verfolgen. 

2.  Parallele  Gerade.  Nach  Stäben  und  Eisenhahnschienen.  Die  Richtung  ist 
durch  Anfangs-  und  Endpunkt  einer  Geraden  vorgezeichnet.  Die  gleichlaufende  wird 
nach  dem  Augenmaß  in  willkürlicher  Entfernung  von  der  gegebenen  Geraden  gezogen. 
Die  gleiche  Entfernung  der  beiderseitigen  Endpunkte  ist  mit  dem  Augenmaß  zu  prüfen. 
Einschalten  von  Zwischenlinien. 

3.  Senkrechte  Gerade.  Vom  festgesetzten  Anfangspunkt  wird  die  senkrechte 
Lage  durch  Versuche  und  Vergleiche  mit  der  Richtung  des  hängenden  Stiftes  ermittelt, 
um  die  Fehler  der  angeborenen  Blick-  und  Handführung  zu  berichtigen. 

4.  Wagrechte  Gerade.  Es  wird  empfohlen  eine  fingerlange  Versuchsstrecke 
zu  ziehen  und  diese  bei  senkrechtem  Zeichenblatte  auf  ihre  wagrechte  Lage  zu  prüfen. 
Dabei  fehlt  aber  die  Vergleichung  mit  einer  wirklichen  wagrechten  Kante.  Diese  ver- 
mittelt der  Stift,  den  man  mit  einer  Tischkante  und  der  Versuchsstrecke  zur  scheinbaren 
Deckung  bringt. 


—    239    — 

5.  Leiter  in  wagrechter  und  senkrechter  Stellung.  Die  Abstände  der  Sprossen 
sind  gleich  dem  Abstände  der  parallelen  Holme.  Die  Holzdicke  wird  nach  dem  Augen- 
maß angenommen. 

6.  Rechte  Winkel  veranschaulicht  man  an  rechteckigen  Flächenumrissen  von 
Gegenständen,  in  schiefen  Stellungen  an  Kartonblättem.  Zur  Prüfung  dienen  recht- 
winklig beschnittene  Papierblätter  oder  Hefte,  welche  man  vergleichsweise  mit  den  ver- 
schiedenen Stellungen  der  Versuche  zur  scheinbaren  Deckung  bringt.  Die  Flächenauf- 
fassung wird  durch  Anlegen  mit  Pinsel  oder  Farbstift  angebahnt. 

7.  Rechteckige  Flach  formen,  deren  Längen-  und  Breitenverhältnisse  die 
Schüler  nach  dem  Augenmaß  zu  bestimmen  versuchen.  Flächenausdehnung  durch  Farben- 
töne hervorgehoben. 

8.  Quadrat.  Mit  Benützung  der  rechten  Winkel  an  den  Grenzpunkten  der  oberen 
wagrechten  oder  schiefen  Seite.  Die  Prüfung  der  anderen  Schenkel  der  Rechtwinkel  auf 
ihre  Gleichheit  mit  der  gegebenen  Seite  kann  tastend  mit  dem  Stifte,  nach  dem  Augen- 
maße durch  Drehen  des  Zeichenblattes  geschehen^  weil  dann  die  Seitenlängen  unter  an- 
derem Winkel  geschätzt  werden. 

Geht  man  von  der  rechtwinkligen  Kreuzung  zweier  gleicher  Mittellinien  oder  Dia- 
gonalen in  ihrem  gemeinsamen  Mittelpunkte  aus,  so  prüft  man  die  Gleichheit  der  4  Ab- 
stände vom  Mittelpunkte  mit  dem  Stifte  und  zieht  durch  die  Grenzpunkte  der  Mittel- 
linien Parallelen  zu  diesen  oder  verbindet  die  Grenzpunkte  der  Diagonalen.  Letzteres 
Verfahren  empfielt  sich  besonders  bei  schiefer  Lage  der  Quadratseiten. 

9.  Quadratische  Flachformen  werden  nach  dem  Augenmaß  in  Felder 
geteilt,  entweder  nach  Vergleichung  mit  dem  Vorbild  oder  nach  Angabe  bestimmter  Teil- 
zahlen. Beim  Quadratnetz  mit  16,64  Feldern  dienen  die  Diagonalen  zur  Prüfung  der 
gleichmäßigen  Teilung  der  Seitenpare. 

10.  R  e  i  h  u  n  g  von  Quadraten  zu  Bändern  in  gleichen  oder  wechselnden  Stellungen 
dient  zur  Einprägung  dieser  grundlegenden  Zeichenform  und  zur  taktmäßigen  Einübung 
der  Zeichenverfahren.  Die  Schüler  werden  auf  das  Vorkommen  solcher  Reihungen  an 
Gegenständen  zu  deren  Schmucke  hingewiesen,  aufgefordert  3 — 5  Quadrate  aus  farbigem 
Papier  auszuschneiden  und  zu  einer  Reihe  zusammenzustellen.  Ist  eine  solche  Reihung 
vom  Lehrer  gebilligt,  so  soll  sie  aufgezeichnet  werden.  Auf  die  wagrechte  Mittellinie 
des  Zeichenblattes  wird  das  erste  Quadrat  entweder  am  linkseitigen  Ende  oder  in  deren 
Mitte  eingezeichnet,  nach  der  Anzahl  der  Quadrate,  deren  Seiten-  oder  Diagonalenlänge 
die  Entfernungen  zwischen  den  Grenzpunkten  benachbarter  Formen  ermittelt  und  dar- 
nach die  folgenden  Quadrate  einseitig  oder  sj-mmetrisch  angereiht.  Zusammenstimmen 
von  Gelb,  Rot,  Blau. 

11.  Gruppierung  von  Quadraten  nach  2  Richtungen.  Die  Kreuzform  wird  zu- 
erst durch  Reibung  von  5  Quadraten,  dann  mittelst  Einteilung  einer  Grundform  herge- 
stellt.    Linienteilung  in  3,  6,  9  und  12  Strecken. 

12.  Zentrische  Anordnung  von  Quadraten  auf  dem  Zeichenblatte.  Die  Mitte 
desselben  wird  durch  die  Kreuzung  seiner  beiden  Mittelliuien  bezeichnet  und  durch  zwei- 
maliges Falten  geprüft.  Auf  diesen  Mittellinien  bezeichnet  man  die  Seitenmitten  von  3 
ineinander  beschriebenen  Quadraten. 

13.  Flächengliederung  auf  Grund  des  Quadratnetzes.  Die  Seiten  eines  Grund- 
quadrates werden  zunächst  in  4  gleiche  TeUe  zerlegt  und  daraus  ein  Quadratnetz 
abgeleitet.  Durch  verschieden  geregelte  Verbindungen  der  Kreuzungspunkte  entstehen 
Quadrat-  und  Sternformen,  welche  durch  verschiedene  Farbentöne  sich  voneinander  ab- 
heben und  dadurch  die  Flächenausdehnung  verzierend  beleben.    Man  regt  die  Einbil- 


—    240    — 

dungstätigkeit  der  Schüler  an  auf  Netzpapier  selbst  solche  Verbindungen  zu  entwerfen 
und  hernach  auf  dem  Zeichenblatt  vergrößert  auszuführen.  Durch  solche  selbständig  ge- 
regelte Flächengliederung  werden  Maßverhältnisse  der  Flächenauffassung  erkannt  und 
durch  Reihung  der  einzelnen  Motive  dem  Gedächtnis  angeeignet. 

14.  Rechtecke  nach  gegebenen  Maßverhältnissen.  Die  Maßverhältnisse 
sollen  von  den  Schülern  am  Modell  oder  Gegenstand  durch  eigenes  Schätzen  erkannt 
werden. 

15.  Anwendung  des  Schätzens  von  Maßverhältnissen  zur  Aufnahme  der  Flächen- 
gliederung an  Gegenständen.  Die  Zeichnung  soll  in  die  Mitte  des  Blattes  gestellt 
werden. 

II.   Schuljahr  des  systematischen  Zeichnens. 

16.  Quadratfüllungen  mit  Verwendung  von  Rechteckformen.  Im  Netz  ent- 
worfen und  auf  dem  Zeichenblatt  vergrößert  ausgeführt. 

17.  Flächenmuster.  Eintragen  von  Motiven  der  rechteckigen  Flächengliederung 
in  ein  mit  Meßwerkzeugen  vorgezeichnetes  Quadratnetz  in  regelmäßig  geordneten  Gruppen. 

18.  Achteck,  rechtwinkliges,  gleichschenkliches,  gleichseitiges  Dreieck  mit  wag- 
rechter und  schiefer  Stellung  der  Grundlinie,  Sechseck.  Alle  mit  Anwendungen  und 
Aufnahmen  von  Gegenständen. 

19.  Ein  Kreisumriß  kann  nach  dem  Augenmaß  mit  freiem  Schwünge  der  Hand 
gezeichnet  werden,  wenn  die  Triebe  der  Handführung  übereinstimmend  mit  den  Schätzungen 
des  Auges  geregelt  sind.  Das  gelingt  nach  unmittelbaren  Versuchen  bei  kleinem  Durch- 
messer, solange  bei  der  Führung  des  Fahrstiftes  zugleich  der  Überblick  über  die  be- 
grenzte Kreisfläche  gewahrt  bleibt.  Nach  der  vorliegenden  Schülerzeichnung  ist  ein 
Kreisumriß  von  8  cm  Durchmesser  noch  ohne  Hülfslinien  zu  zeichnen.  Bei  größerem 
Durchmesser  können  anfänglich  8  Strahlen,  vom  Mittelpunkt  aus  in  gleicher  Länge  be- 
grenzt, die  Führung  des  Blickes  und  des  Stiftes  bestimmen.  Nach  vermehrter  Übung  im 
Schwingen  der  Viertel-  und  Halbkreise  genügt  auch  die  Feststellung  von  2  rechtwinkligen 
Durchmessern.     Endlich  gelingt  es  mehrere  konzentrische  Kreise  ineinander  zu  zeichnen. 

Die  Halb-  und  Viertelkreise  übt  man  bei  verschiedenen  Stellungen  der  gegebenen 
Durch-  und  Halbmesser  nebst   den  Anwendungen  auf  Zier-  und  Sachformen  ein. 

III.  Schuljahr. 

20.  Das  Zwei-  undEineck  leiten  zum  Zeichnen  von  P  flan  zenblättern  über, 
welche  gleichfalls  in  reihenweiser  und  zentrischer  Anordnung  eingeübt  werden. 

21.  Die  vierteilige  Repsblüte  verwendet  man  in  mannigfaltigen  Gruppierungen  zu 
Flächenmustern,  wobei  einfache  Bogen  oder  Windungen  als  lineare  Verbindungen  der 
Blütenumrisse  dienen. 

22.  Durch  Schild-,  Wappen-  und  Glockenformen  mit  ihren  Anwendungen 
als  Zierrat  und  als  Sachform  gelangt  man  zur: 

23.  Ellipse  und  Eifer m.  Auch  diese  Flächenumrisse  sollten  mit  freiem 
Schwünge  der  Hand  unter  Leitung  der  Blickbewegung  bei  wagrechter,  senkrechter  und 
schiefer  Stellung  der  Hauptrichtung  gezeichnet  werden  können.  Dazu  kann  man  anfäng- 
lich nur  die  Grenzpunkte  der  beiden  zu  einander  rechtwinkligen  Hauptaxen  festsetzen 
und  die  Bogen  wiederholt  in  zwangloser  Bewegung  durch  diese  Punkte  zu  ziehen  ver- 
suchen. Dabei  werden  sich  an  den  Enden  der  großen  Axe  Spitzen  bilden,  während  an 
den  Enden  der  kleinen  Axe  der  Bogen  sich  umsomehr  verflacht,  je  kleiner  dieselbe  im 
Verhältnis  zur  großen  Axe  ist.  Dann  geht  der  Bogen  an  den  Enden  der  kleinen  Axe 
in  die  zu  deren  Richtung  rechtwinklige  Tangente  über.     Je  besser  man   bei  den  wei- 


—    241    — 

tem  VersQchen  seine  Aufmerksamkeit  auf  den  Wechsel  der  Zugrichtung,  der  Tangente, 
richten  und  die  Taktgefühle  der  Handführung  dem  stetigen  Wechsel  der  Zugrichtung, 
den  Drehungen  der  Tangente  anpassen  lernt,  desto  sicherer  stellt  sich  unter  den  ver- 
schiedenen Zwischenbogen  der  ersten  Versuche  derjenige  ein,  den  die  Blickbewegung, 
die  Handführung  und  das  Augenmaß  für  die  Symmetrie  übereinstimmend  als  den  zwei- 
fellos richtigen  Bogen  zwischen  den  Endpunkten  der  gegebenen  Hauptaxen  erkennen 
und  ausführen. 

Die  Prüfung  kann  mit  den  Tastwerkzeugen  und  den  Tastbewegungen  des  messenden 
Zeichnens  dadurch  geschehen,  daß  man  die  halbe  Diagonale  (MJ  eines  Quadrates  über 
einer  der  Hauptaxen  vom  Mittelpunkt  aus  auf  diese  nach  beiden  Seiten  überträgt  (12) 
und  durch  die  so  bezeichneten  Grenzpunkte  Parallele  (23)  zu  den  Sehnen  zwischen  den 
Endpunkten  (a,  b)  der  beiden  Hauptaxen  zieht.  Man  erhält  dann  diejenige  Zwischentan- 
gente, welche  der  45**  Tangente  eines  Kreises  entspricht,  der  über  der  betreffenden  Haupt- 
axe  beschrieben  ist  und  als  dessen  Projektion  die  gesuchte  Ellipse  gelten  kann.  Die 
Diagonale  des  Quadrates  über  der  Hauptaxe  kann  nach  den  vorausgegangenen  Zeichen- 
Übungen  auch  mit  dem  Augenmaß  ermittelt  und  auf  die  Hauptaxe  übertragen  werden. 
Ebenso  kann  man  sich  jene  Parallelen  zu  den  Sehnen  nach  dem  Augenmaß  gezogen  vor- 
stellen. Die  Prüfung  mittelst  Tastwerkzeugen  beschränkt  sich  dann  auf  Sicherung  der 
Diagonalrichtung,  der  Übertragung  auf  die  Hauptaxe  und  der  Parallelen.  Sind  die 
Zwischentangenten  ermittelt,  so  läßt  sich  der  EUipsenbogen  leicht  genau  ziehen  und  bis 
zu  mathematischer  Sicherheit  einüben. 

Dieses  Beispiel  zeigt  die  Beziehungen  zwischen  prüfenden  Tastbewegungen  des 
messenden  und  den  durch  Einübung  geregelten  Verrichtungen  der  Handfuhrung  und  des 
Augenmaßes  beim  freien  Zeichnen.  Wenn  wir  nämlich  die  Übereinstimmung  erleben  ^) 
zwischen  den  Erzeugnissen  der  Handführung,  den  Schätzungen  des  Augenmaßes  und  den 
Prüfungen  mittelst  der  Tastwerkzeuge,  so  gewinnen  wir  die  Bestätigung  für  die  Wahr- 
heit unserer  Erkenntnis  der  Zeichenformen  und  für  die  sichere  Verwirklichung  unserer 
räumlichen  Vorstellungen,  Diese  Bestätigung  liegt  aber  beim  Zeichnen,  wie  bei  allen 
Erzeugnissen  der  Technik,  nicht  vor  in  der  Form  eines  wörtlich  gefaßten  Urteils,  son- 
dern als  tatsächlich  vorhandenes  Werk,  das  die  Prüfung  durch  Versuche  bestanden  hat. 
Die  Prüfung  also  bestätigt  die  Wahrheit  der  Erkenntnis  und  die  Verwirklichung  der 
Vorstellungen. 

24.  Aufnehmen  von  Sachformen,  zu  welchen  die  Schüler  die  Gegen- 
stände nach  eigener  Wahl  beibringen  oder  im  Freien  antreffen.  Die  Andeutungen  des 
Lehrers  beschränken  sich  dann  auf  die  Art  der  Darstellung,  die  Maßverhältnisse  und  die 
Verwendung  der  Farben. 

Psychologische  Entwickelnng  des  freien  Zeichnens. 

Wir  überblicken  im  Vorstehenden  eine  Reihe  von  Vorgängen  des  Unter- 
richtens und  eine  solche  von  Übungsstufen. 

Die  erste  Reihe  erzählt,  daß  der  Lehrer  Gegenstände  vorweist,  deren  räumliche 
Grundform  benennt  und  vorzeichnet,  die  Zeichenversuche  der  Schüler  prüft,  durch  diese 
berichtigen,  reinzeichnen  und  einüben  läßt. 

Welches  diese  Grundformen  sind  und  in  welcher  Folge  sie  eingeübt  werden,  zeigt 
uns  die  zweite  Reibe. 


1)  Lipps,  Leitf.  d.  Psychig.  Leipzig  1906  W.  Engelmann  S.  224. 


—     242     - 

Um  eine  Gesamtvorstellung  von  der  psj'chologischen  Entwicke- 
1  u  n  g  des  vorliegenden  Lehrganges  und  des  freien  Zeichnens  zu  gewinnen,  wollen  wir 
an  Hand  des  oben  berührten  „Leitfadens"  von  L  i  p  p  s  jene  Unterrichtsvorgänge  und 
diese  Übungsstufen  zusammen  psychologisch  ordnen. 

Aus  der  Anschauung  von  Gegenständen  werden  deren  räumliche  Grundformen 
hervorgehoben  durch  nachahmende  Tast-  und  Blickbewegung,  Benennen,  Vorzeichnen  an 
der  Wandtafel  und  Aufzeichnen  auf  dem  Zeichenblatt  nach  der  Erinnerung. 

Die  erste  Grundform  ist  die  G  e  r  a  d  e  ,  veranschaulicht  an  Stäben,  Schnüren  und 
Kanten.  Stäbe  können  in  schiefer  Richtung  gehalten  werden,  Schnüre  hängen  in 
senkrechter  Richtung,  Tischkanten  zeigen  die  wagrechte  Richtung  an.  Die  Gerade  be- 
zeichnet  jedesmal  die  Richtung  und  dieses  Zeichen  wird  durch  Vergleichung 
mit  einer  wirklichen  Sache  (Stab,  Schnur,  Kante)  in  Hinsicht  seiner  Lage  geprüft. 
Ergibt  solche  Vergleichung  die  Übereinstimmung  zwischen  der  Sache  und  dem  Zeichen, 
so  bestätigt  die  Prüfung  die  richtige  Lage  der  Geraden. 

Die  Holme  einer  Leiter  haben  gleiche  Richtung  und  die  Sprossen  bilden  mit 
diesen  rechte  Winkel.  Die  Sprossen  sind  also  gleichfalls  unter  sich  parallel  und 
ihr  Abstand  voneinander  kann  gleich  dem  Abstände  der  Holme  angenommen  und  ge- 
zeichnet werden.  Dadurch  wird  der  Zwischenraum  zwischen  den  Holmen  in  eine  Reihe 
von  Quadraten  gegliedert. 

Die  Flächenausdehnung  zwischen  den  Schenkeln  eines  rechten  Winkels, 
den  Seiten  eines  Rechteckes  oder  Quadrates  wird  durch  farbige  Kartonblätter  veran- 
schaulicht. Jede  dieser  Grundformen  zeichnet  man  bei  wagrechter,  senkrechter  und 
schiefer  Stellung  eines  angenommenen  Schenkels,  einer  angenommenen  Seite.  Die  rechten 
Winkel  prüft  man  durch  Vergleichung  mit  dem  darüber  gehaltenen  Kartonblatt,  die 
Länge  der  Seiten  mittelst  des  tastenden  Stiftes  oder  durch  Drehen  des  Zeichenblattes. 
Die  Prüfung  mit  Sachformen  (Kartonblatt,  Stift)  muß  nach  und  nach  ersetzt  werden 
durch  Prüfung  mit  dem  Augenmaß,  indem  man  zuerst  das  Augenmaß,  hernach  das 
Tastmaß  entscheiden  läßt.  Das  Augenmaß  soll  mit  den  Tastempfindungen  der  Zeichen- 
bewegung verbunden  werden,  damit  allmählich  die  Sehwahrnehmungen  und  die  Be- 
wegungstriebe der  Handführung  einander  wechselseitig  prüfen  und  berichtigen. 

Die  anordnende  und  die  prüfende  (befragende)  Aneignung  (Appercep- 
tion)i)  der  Quadratform  betätigen  sich  nun  weiter  durch  verknüpfende  Reihung 
und  Netzteilung  der  Quadratfläche,  durch  verwebendes  Nebeneinander-Gruppieren 
und  konzentrisches  Ineinanderfügen  von  Quadraten,  durch  Flächengliederung  und  Flächen- 
musterung. 

Durch  Ineinanderfügen  von  Quadraten  entsteht  das  regelmäßige  Achteck,  von 
gleichseitigen  Dreiecken  das  Sechseck. 

Bei  allen  diesen  Übungen  kann  und  soll  das  messende  Zeichnen  teils  prüfend,  teils 
grundlegend  mitwirken.  Denn  ihr  Endzweck  ist  nicht  blos  Verzierung  einer  vorge- 
zeichneten Fläche,  sondern  vielmehr  sichere  Aneignung  der  Größenbeziehungen 
bei  Reihungen  und  Teilungen,  der  M  a  ß  v  e  r  h  ä  1 1  n  i  s  s  e  ■^)  von  Gruppen  und  Fügungen. 
Vermöge  der  Größenbeziehungen  verknüpfen  sich  die  Grundformen  beim  technischen  Ge- 
stalten miteinander,  nach  Maßverhältnissen  erscheinen  sie  mit  den  technischen  Werken 
verwoben.  Solche  Verbindung  des  messenden  mit  dem  freien  Zeichnen  fordert  nicht  nur 
die   heutige  Technik,   sondern  die  Übereinstimmung   des   Denkens  mit  der  Wirklichkeit 


1)  Lipps,  a.  a;0.  S.  117  und  152. 

2)  Lipps,  a.  a.  0.  S.  125/7. 


—    243    — 

überhaupt,  ohne  welche  die  "Wertungen  des  Gefühles  sich  in  momentane  Empfindungen 
auflösen,  die  keine  Anerkennung  bei  Anderen  finden.  Indessen  fördern  das  sichere 
Augenmaß  und  der  geregelte  Takt  der  freien  Handführung  den  technischen  Zeichenver- 
kehr nicht  weniger  als  das  kunstsinnige  Schafl'en.  Und  wie  die  fließende  Rede  bei  Ver- 
handlungen jeder  Art  durch  gründliche  Sachkenntnisse  ihre  volle  Bedeutung  erlangt,  so 
können  auch  erst  genaue,  technisch  begründete  Maßverhältnisse  den  vollen  Wert  von 
Gestalten  der  Bildkunst  sichern. 

Das  freie  und  das  messende  Zeichnen  ergänzen  einander  auch  zur  Auffassung  und 
Darstellung  von  Bogen.  Mit  dem  Zirkel  erzeugt  man  den  Kreisumriß  durch  Tastbe- 
wegung, indem  man  die  Spitze  des  einen  Fußes  in  einem  Punkt  der  Zeichenebene  einsetzt 
und  den  Fuß  mit  dem  Fahrstift  um  den  festen  Fuß  herumdreht.  Von  zwei  Kreisbogen 
aus  gleichem  Mittelpunkt  ist  bei  gleicher  Drehung  des  Halbmessers  der  Weg  des  Fahr- 
stiftes mit  dem  größeren  Abstand  länger  als  der  Weg  des  Stiftes  mit  kurzem  Halbmesser. 
Die  Bewegungsrichtungen  ändern  sich  auf  jenem  weiteren  Bogen  langsamer  als  auf 
diesem  engeren.  Der  Letztere  ist  stärker  gekrümmt  als  der  Erstere.  Der  Kreisumriß 
veranschaulicht  Bogen  von  gleicher  Krümmung  bei  allen  Richtungen  des  Halbmessers. 

Der  Bau  des  Armes  und  die  Tätigkeit  der  Muskeln  bedingen  aber  für  die  freie, 
von  keiner  vorgemessenen  Ausdehnung  abhängige  Führung  der  Hand  besser  eine  Bewe- 
gung auf  ovaler  Bahn,  welche  verschiedene  Krümmungen  zeigt.  Auch  in  den  Bahnen 
der  Doppelschleife  0))  und  der  S-Form  kann  sich  die  Hand  zwanglos  und  stetig  be- 
wegen. Man  glaubte  deshalb  durch  Einüben  solcher  Bogen  zunächst  die  Hand  an  freie 
Führung  des  Stiftes  gewöhnen  zu  sollen.  Zweifellos  können  solche  Übungen,  zeitweise 
zwischen  die  strenger  geregelten  Zeichenversuche  eingeschaltet,  dem  Spiele  der  Hand 
Frische  und  Schwung  verleihen.  Doch  fordern  schon  Naturformen  die  Führung  von 
Blick  und  Hand  an  Bogen  von  gleicher  Krümmung  zu  gewöhnen. 

Überdies  besteht  das  Ziel  der  Zeichenübungen  darin :  räumliche  Ausdehnungen 
genau  zu  erkennen  und  räumliche  Maßverhältnisse  sicher  darzustellen. 
Die  Grundform  der  Ausdehnungen  und  das  Grundelement  des  Messens  bleibt  doch  die 
Richtung,  ihr  Sinnbild  ist  die  Gerade.  Darum  führt  das  messende  Zeichnen  den  stetigen 
Bogen  auf  eine  stetige  Folge  von  Geraden  zurück,  welche  den  Bogen  je  in  einem  Punkte 
berühren,  in  ihrem  Zusammenhang  denselben  einhüllen,  die  Tangenten. 

Es  ist  oben  an  der  Ellipse  gezeigt  worden,  wie  das  Einschalten  der  Zwischentan- 
gente zwischen  den  rechtwinkligen  Tangenten  an  den  Grenzpunkten  der  Hauptaxen  das 
Einzeichnen  des  Ellipsenbogens  erleichtert,  weil  diese  Zwischentangente  die  Ausdehnung 
des  Zeichenfeldes  genauer  beschränkt  als  Zwischenpunkte  und  zugleich  die  äußerste  Zug- 
richtung sicher  andeutet.  Das  Einzeichnen  eines  Bogens  zwischen  eine  Scheitel-  und 
zwei  Grenztangenten  erleichtert  namentlich  das  Auffassen  des  Beweguugstaktes 
einer  Wellenlinie,  welche  der  Herausgeber  der  vorliegenden  Sammlung  zu  stief- 
mütterlich behandelt.  Sind  nämlich  auf  der  Mittellinie  des  Bandes  die  3 — 5  Bogensehnen 
durch  ihre  Grenzpunkte,  die  obere  und  untere  Ausladung  durch  die  zur  Mittellinie  pa- 
rallelen Scheiteltangenten,  endlich  die  Neigungen  der  Wendetangenten  in  den  Grenz- 
punkten vorgezeichnet,  so  veranschaulichen  diese  Tangenten  den  Takt  der  Wellenbewe- 
gung, an  welchen  der  Linienzug  sich  anschmiegen  kann.  Die  wiederholte  Einübung  sol- 
cher Taktbewegungen  unter  wechselnden  Annahmen  erleichtert  die  Einfühlung  in 
den  Takt  der  Hand-  und  Blickführung  umso  mehr,  je  stetiger  die  Linie  in  einem  Zuge 
beschrieben  wird. 

Wenn  man  nämlich  eine  Wellenlinie  wiederholt  mit  der  Hand  und  dem  Blicke 
durchläuft,   so  gewöhnen  sich  Hand-  und  Blickführung  an  die  zeitliche  Folge  der 


—    244    — 

Kichtungswechsel,  an  den  Takt  der  Wellenbewegung.  Daraus  erwächst  einerseits  eine 
taktmäßig  (rhythmisch)  gegliederte  Vorstellung  von  der  Form  der  sichtbaren  Linie,  wäh- 
rend anderseits  die  Bewegung  „Tätigkeitsgefühle"  ')  begleiten,  welche  je  nach  dem  Takt 
der  Bewegung  spannend  oder  lösend  gestimmt  sind. 

Nun  ist  der  Takt  der  Hand-  und  Blickführung  zunächst  durch  die  maßgebenden 
Scheitel-  und  Wendetangenten  der  Wellenlinie  bedingt.  Diese  maßgebenden  Tangenten 
hängen  ihrerseits  wieder  von  vorgeschriebenen  Kaumverhältnissen  ab,  z.  B.  von  Länge 
und  Breite  des  Bandes,  mittelbar  von  Länge  und  Höhe  der  zu  schmückenden  Wand  u.  s.  w. 
So  ist  jede  Zierlinie,  die  einem  technischen  Zwecke  dienen  soll,  auch  von  technischen 
Maßverhältnissen  abhängig.  Diese  seilt  das  messende  Zeichnen  sichtbar  fest.  Auch 
solche  Maßverhältnisse  und  Größenbeziehungen  eignet  man  der  Vorstellung  und  dem 
Taktgefühl  an,  welche  die  Verrichtungen  auf  dem  Zeichenplan  und  an  den  Werkstücken 
regeln.  Die  Maßformen  des  planimetrischen  und  projektiven,  die  Werkformen  des  tech- 
nischen Zeichnens  haben  ihre  volle  Bedeutung,  wenn  das  technische  Denken  und  Ge- 
stalten beim  Lesen  und  Entwerfen  der  Pläne  mit  sicherem  Takt  über  dieselben  verfügt. 
Je  sicherer  man  alle  räumlichen :  Vorstellungen  und  Taktgefühle  beherrscht,  umso  besser 
ist  man  vermöge  der  Einsicht  in  die  tatsächlichen  Bedingungen  und  der 
Einfühlung  in  den  Takt  der  zweckmäßigen  Bewegungen  zum  freien  Zeichnen 
und  Gestalten  befähigt. 

Zürich,  Juli  1907.  F.  Graberg. 

M.  W.  Shinn.  Körperliche  und;  geistige  Entwicklung  eines  Kindes  in  bio- 
graphischer Darstellung.  Deutsch  von  Prof.  W.  Glabbach  und  G.  Weber,  Langensalza. 
F.  G.  L.  Greßler  1905. 

Das  Buch  von  Miss  'Shinn  ist  zahlreichen  deutschen  Lesern  schon  aus  der  englischen 
Ausgabe  bekannt.  Dennoch  ist  es  ein  dankenswertes  Unternehmen  der  Übersetzer,  das 
Buch  einem  weiten  deutschen  Leserkreise  zugänglich  gemacht  zu  haben.  (Den  Über- 
setzern scheint  nach  der  Vorrede  zu  schließen  nicht  bekannt  zu  sein,  daß  es  keineswegs 
bloß  in  Nordamerika  und  Frankreich,  sondern  auch  in  Deutschland  Monats-  und  Zeit- 
schriften für  Kinderstudien  gibt).  Die  Verfasserin  behandelt  in  ihrem  ,  Buche  die 
körperliche  und  geistige  Entwicklung  ihrer  Nichte  während  der  ersten  3  Lebensjahre. 
Sie  führte  über  deren  Entwicklung  ein  Tagebuch,  wobei  sie  sich  von  der  Mutter  des 
Kindes  aushelfen  ließ.  Sie  ist  bekannt  mit  der  wichtigsten  Litteratur  über  die  ersten 
Lebensjahre  des  Kindes  und  es  macht  ihre  Aufzeichnungen  besonders  wertvoll,  daß  sie 
die  Beobachtungen  anderer  Autoren  beständig  zum  Vergleich  heranzieht  und  Unterschiede 
oder  Übereinstimmung  ihrer  eigenen  Beobachtung  mit  denen  jener  feststellt.  Die  Auf- 
yeichnungen  der  Verfasserin  lesen  sich  weniger  trocken  als  die  von  Preyer,  die  oft  allzu 
«inseitig  statistischen  Charakter  tragen,  sie  geht  mehr  der  Erklärung  der  einzelnen  Er- 
scheinungen nach.  Vor  allem  besitzt  sie  korrektere  psychologische  Begriffe  und  zeigt 
«ine  größere  kritische  Vorsicht  in  der  Deutung  und  Verwertung  ihrer  Beobachtungen 
als  Preyer.  Die  Beobachtungen  von  Fräulein  Shinn  waren  ferner  viel  umfassender  und 
nicht  so  einseitig  psychologisch  wie  die  von  manchen  ihrer  Vorläufer.  Fräulein  Shinn 
vertritt  die  einzig  berechtigte  Auffassung  der  Entwickelung  des  Kindes,  nämlich  die,  daß 
wir  versuchen  müssen,  das  Kind  als  eine  körperliche  und  geistige  Einheit  verstehen 
zu  lernen  und  die  Beziehungen  zwischen  der  körperlichen  und  geistigen  Seite  seiner  Ent- 
wicklung nachzuweisen.     Daher   verbindet  sie   mit   den  psychologischen  Beobachtungen 


1)  Lipps  a.  a.  0.  S.  25. 


—    245    — 

auch  ausgiebige  Körpermessungen  und  die  Untersuchung  physiologischer  Funktionen  des 
Kindes  z.  B.  der  Entwickehmg  seiner  Muskeltätigkeit,  seiner  Bewegungsgeschicklichkeit 
u.  a.  m. 

Für  die  englische  Ausgabe  des  "Werkes  hat  Josef  Le  Conte  eine  Vorrede  geschrieben, 
die  in  der  deutschen  Übersetzung  wiedergegeben  wird.  Die  Herausgeber  und  Übersetzer 
haben  die  deutsche  Ausgabe  noch  durch  Anmerkungen  bereichert,  in  welchen  sie 
wichtigere   paralelle  Stellen  aus  anderen   kinderpsychologischen  Werken  hinzufügen. 

E.  M. 

Paul  Ranschburg.  Vergleichende  Untersuchungen  an  normalen  und  schwach- 
befähigten Kindern.     (Zeitschr.  für  Kinderforschung  Okt.  1905). 

R.  teilt  die  Ergebnisse  einer  interessanten  Untersuchung  aus  dem  psychologischen 
Laboratorium  an  den  ungarischen  heüpädagogischen  Instituten  zu  Budapest  mit.  Der 
Zweck  der  Abhandlung  ist  in  erster  Linie  der,  einige  charakteristische  Begabungs- 
unterschiede von  normalen  und  schwachbefähigten  Schulkindern  vermittels  einer  genauen 
Kontrolle  ihrer  Leistungen  im  schriftlichen  Rechnen  zu  gewinnen.  Zu  diesem  Zwecke 
mußte  der  Verfasser  eine  zahlenmäßige  Bestimmung  der  Fähigkeit  der  Kinder  im  Rechnen 
zu  geben  versuchen.  Das  erreichte  er  auf  die  Weise,  daß  er  die  Zeit  maß,  welche  die 
Kinder  zu  den  einfachsten  Rechenoperationen  gehrauchen.  Die  Zeitmessung  wurde  mit 
einer  verbesserten  ^  5  Sekunden  Uhr  von  Jaquet  ausgeführt.  Zunächst  wurden  50  ele- 
mentare Additionen  zusammengestellt,  deren  Resultat  nicht  über  11  hinausgeht.  Dann 
wurde  die  Additionszeit  gemessen  bei  15  Schülern  der  ersten  Hilfsschulklasse  am  Ende 
des  Schuljahres  und  zum  Vergleich  bei  15  guten  und  mittelmäßigen  Schülern  der  Volks- 
schule in  7.  bis  8.  Monat  des  ersten  Schuljahres.  Berechnet  wurde  bei  den  Schülern  der 
Umfang  der  Rechenfähigkeit,  der  gewonnen  wird  durch  die  Zahl  der  richtig  aus- 
geführten Rechenoperationen  ohne  Rücksicht  darauf,  ob  die  Lösung  der  Aufgabe  sofort 
oder  erst  nach  einer  Korrektur  richtig  war ;  sodann  wurde  die  Dauer  der  Rechen- 
leistung aus  dem  wahrscheinlichen  Mittel  der  einzelnen  Zeitwerte  berechnet.  Endlich  die 
objektive  Sicherheit  der  geistigen  Leistung,  die  aus  der  Zahl  der  Korrekturen  be- 
urteilt wird. 

Die  Resultate  der  Versuche  sind  die  folgenden :  Zunächst  sieht  man,  daß  der 
Umfang  der  Rechenleistungen  bei  den  geprüften  Schülern  der  Volksschule  der  gleiche  ist, 
die  Kinder  rechnen  lOO*"  0  der  gestellten  Aufgaben  richtig.  Vergleicht  man  aber  die 
Zeiten,  welche  die  einzelnen  Kinder  zur  Lösung  der  gleichen  Aufgabe  gebrauchen,  so 
sind  diese  außerordentlich  verschieden,  daraus  schließt  R, :  „Der  Umfang  einer  geistigen 
Leistung,  d.  h.  die  Zahl  der  richtig  durchgeführten  Operationen  ist  an  und  für  sich  kein 
genügendes  Maß  für  die  Güte  der  Leistung;  auch  unter  normal  befähigten  Schulkindern 
die  der  Lehrer  als  ungefähr  gleich  begabt  bezeichnet  und  bei  denen  der  Umfang  der 
Leistung  ganz  gleichwertig  ist,  zeigen  sich  bedeutende  individuelle  Schwankungen  der 
Fertigkeit,  wenn  man  die  Dauer  der  geistigen  Funktionen  in  Betracht  zieht. 

Vergleicht  man  die  Zahlenwerte  der  normalen  mit  denen  der  schwachbefähigten 
Schüler,  so  sieht  man,  daß  die  Leistungen  der  letzteren  sowohl  hinsichtlich  des  Umfangs 
wie  auch  der  Zeit  des  Rechnens  beträchtlich  geringer  sind  als  die  der  normalen.  Sehr 
wichtig  ist  der  Versuch  des  Verfassers  nach  diesen  Gesichtspunkten  Gruppen  der 
Schüler  von  verschiedener  Fähigkeit  im  Rechnen  aufzustellen.  Ordnet  man  die  Normal- 
und  die  Schwachbefähigten  in  diese  Gruppen  ein,  so  ergibt  sich,  daß  man  die  Leistungen 
und  die  Fortschritte  der  Schulkinder  danach  noch  ganz  gut  taxieren  kann.  Interessant 
ist  ferner,  daß  der  Umfang  und  die  Dauer  der  Leistung  in  keinem  konstanten  Ver- 
Meumann,  Exper.  Pädagogik.    V.  Band.  17 


—    246    — 

hältnis  zu  einander  stehen.  Wir  sehen  hieraus  wieder  das  für  die  Intelligenzprüfungen 
wichtige  Faktum,  daß  die  psychologische  Zeitmessung  allein,  (das  sogenannte  psychische 
Tempo)  gar  kein  Maßstab  für  die  Intelligenz  der  Kinder  gibt. 

Die  schwachsinnigen  Kinder  zeigen  noch  die  Eigentümlichkeit,  daß  bei  vielen,  auch 
wenn  sie  plötzlich  relativ  leichte  Aufgaben  zu  lösen  haben,  Stockungen  und  Schwankungen 
der  Aufmerksamkeit  eintreten,  sodaß  die  Lösung  nicht  gefunden  wird.  Sodann  macht 
R.  auf  einige  interessante  Gesetzmäßigkeiten  aufmerksam,  die  in  den  Versuchen 
hervortreten.  Berechnet  man  die  mittlere  Zeitdauer  welche  die  Klasse  zur  Lösung  einer 
Aufgabe  nötig  hat,  so  findet  man  eine  erstaunliche  Regelmäßigkeit  in  der  Zunahme  der 
Zeit  des  Rechnens,  wenn  die  Arbeit  nur  im  geringsten  schwieriger  wird.  So  wird  z.  B. 
gerechnet  4  +  1  in  der  mittleren  Zeitdauer  von  1,4  Sekunden.  4  -}-  2  in  der  Zeit  von 
1,77  Sekunden.  4  -}-  3  in  der  Zeitdauer  von  2,16  Sekunden.  4  +  5  in  der  Zeitdauer 
von  3,63  Sekunden  u.  s.  w.,  d.  h.  also :  selbst  innerhalb  dieses  kleinen  Zahlenkreises  ver- 
längert die  Zunahme  um  bloß  eine  einzige  Einheit  die  Dauer  der  geistigen  Arbeit  in 
nachweisbarer  Weise  „wobei  die  absolute  Größe  des  ersten  Addenden  ganz  oder  nahezu 
ohne  Belang  zu  sein  scheint  und  nur  das  Anwachsen  des  zweiten  Addenden  von  Bedeutung 
zu  sein  scheint.  So  unterscheiden  sich  4  und  1,  5  +  1>  u.  s.  w.  bis  8  +  1  in  der  Dauer 
nur  unwesentlich  von  einander  dagegen  wird  4:  -{-  5  in  anderer  Zeit  addiert  als  5  -f  4 
u.  s.  f.  Merkwürdig  ist  noch,  daß  die  Addition  immer  besonders  kurz  dauert,  wenn  beide 
Summanden  einander  gleich  sind,  dies  macht  den  Eindruck,  als  ob  die  Kinder  das 
Rechnen  nicht  als  Addition  sondern  als  Multiplikation  ausführten.  Ebenso  merkwürdig 
ist,  daß  die  Addition  der  Zahlen  leichter  von  statten  geht,  wenn  die  kleinere  Zahl  zur 
größeren  hinzugefügt  wird,  als  umgekehrt.  Der  Verfasser  schließt,  daß  das  Kind  bei  der 
Addition  einstelliger  Zahlen  entsprechende  assoziative  Reihen  durchlaufen  muß,  wenn 
dieselbe  auch  nicht  bewußt  reproduziert  werden".  Man  sieht  ferner  aus  den  Tabellen,  daß 
die  Multiplikationen  die  gleichmäßigsten,  raschesten  und  sichersten  Resultate  liefern, 
darauf  folgen  die  Divisionen  und  endlich  die  Subtraktionen. 

Auch  bei  Schwachbefähigten  stehen  die  Multiplikationen  an  erster  und  die  Sub- 
traktionen an  letzter  Stelle.  Als  Charakteristik  der  Schwachbefähigten  führt  R.  an:  Bei 
bedeutend  geringerer  Zahl  der  gelungenen  Leistungen  bedeutend  verlängerte  Dauer  und 
geringere  Sicherheit  in  der  sofortigen  Richtigkeit  der  Reaktion.  E.  M. 

E.  Egger.  Beobachtungen  und  Betrachtungen  über  die  Entwickelung  der  Intelli- 
genz und  der  Sprache  bei  Kindern.  Nach  der  fünften  Auflage  des  Originals  übersetzt 
von  Hildegard  Gaßner.  Mit  einer  Einleitung  von  Dr.  W.  Ament,  Leipzig,  Verlag  von 
E.  Wunderlich,  Mk,  1,20,  73  Seiten. 

Auf  Veranlassung  von  Ament  hat  Fräulein  Gaßner  das  vorliegende  Werk  ins  Deutsche 
übersetzt.  Es  enthält  die  Beobachtungen  und  Reflexionen  eines  hervorragenden 
französischen  Philologen,  der  wohl  ursprünglich  von  sprachwissenschaftlichem  Interesse 
aus  die  Entwicklung  der  kindlichen  Spache  und  ihrer  Beziehungen  zu  der  allgemeinen 
Intelligenz  des  Kindes  zu  beobachten  unternahm.  Das  Werk  erschien  zum  ersten  Male 
schon  1879  in  Paris.  Seine  Methode  ist^  die  biographische,  indem  der  Verfasser  „sich 
nicht  bloß  mit  der  seelischen  Entwickelung  eines  einzigen  Kindes  beschäftigt,  sondern 
durch  Vergleich  mit  der  seelischen  Entwickelung  vieler  Kinder  die  durchschnittliche  Ent- 
wickelung des  Kindes  im  Allgemeinen  zu  bestimmen  sucht".  Der  eigenartige  Wert  des 
Buches  besteht  gerade  darin,  daß  es  von  einem  Sprachforscher  verfaßt  ist,  dadurch 
werden  viele  Eigentümlichkeiten  der  Kindersprache  hervorgehoben,  die  dem  Psychologen 
und  Pädagogen  leicht  entgehen  können,  so  namentlichfdie  Lautveränderungen,  welche  die 


—     247    — 

Kinder  mit  der  Sprache  des  erwachsenen  Menschen  vornehmen.  Insbesondere  ist  der 
Sprachforscher  allein  imstande  das  Material  zu  sichten  und  er  hat  die  kritische  Übersicht, 
um  Parallellen  zwischen  der  sprachlichen  Entwickelung  des  Kindes  und  der  der  Völker 
ziehen  zu  können.  Besonders  beachtenswert  sind  auch  Eggers  Beobachtungen  über  die 
Intelligenz  der  Kinder  (Vergl.  den  2.  und  4.  Teil  des  Werkes).  Wenn  man  auch  der 
Deutung  der  Beobachtungen  des  Verfassers  nicht  immer  beistimmen  kann,  so  sind  doch 
die  Beobachtungen  an  sich  recht  wertvoll ;  sie  zeigen  unter  anderem,  in  welch  hohem 
Maße  das  Kind  bei  einer  schematischen  Verwendung  innerer  Beobachtungen  stehen  bleibt, 
ohne  die  inneren  Beziehungen  und  die  Kausalverhältnisse  der  Erscheinungen  zu  erfassen. 
Als  Beispiel  dafür  möge  mitgeteilt  werden,  welche  Erklärung  ein  Kind  von  dem  Begriffe 
Andacht  gab :  „Man  geht  in  die  KapeUe,  verhält  sich  ganz  ruhig  und  denkt  an  nichts". 
Das  Kind  hat  hierbei  nur  das  äußere  Verhalten  des  Menschen  richtig  beobachtet,  es  fehlt 
ihm  dagegen  die  Deutung  desselben  auf  das  Innenleben  der  andächtigen  Menschen.  Die 
Übersetzung  der  Verfasserin  vereinigt  einfache  und  klare  Sprache  mit  treuer  Wieder- 
gabe der  Gedanken  des  Originals.  Sie  hatte  dabei  nicht  geringe  Schwierigkeiten  zu 
überwinden,  weil  die  Terminologie  des  Verfassers  unserer  deutschen  wissenschaftlichen 
Ausdrucksweise  nicht  immer  entspricht.  E.  M. 

Handbücher  der  Psychologie,  die  auf  dem  Boden  der  physiologischen  und 
experimentell  -  psychologischen  Forschung  stehen ,  sind  in  englischer  Sprache  in 
größerer  Zahl  erschienen  als  in  Deutschland.  Wir  übersetzen  so  viel  minderwertige  aus- 
ländische Literatur,  daß  darüber  die  eigene  oft  zum  Schaden  kommt,  hier  aber  könnte 
unsere  psychologische  Literatur  sich  durch  wertvolle  Schöpfungen  bereichem,  die  auch 
schon  darum  ins  Deutsche  übersetzt  zu  werden  verdienen,  weil  die  Psychologen  der  Ver- 
einigten Staaten  die  psychologischen  Probleme  oft  unter  wesentlich  anderen  Gesichts- 
punkten behandeln ,  als  es  in  Deutschland  üblich  ist.  So  hätten  William  James ,  Prin- 
ciples  of  psychology  und  sein  kleinerer  Grundriß  der  Psychologie  längst  ins  Deutsche 
übersetzt  werden  müssen.  Heute  wollen  wir  die  Aufmerksamkeit  unsrer  Leser  auf  einige 
neue  Erscheinungen  lenken,  von  denen  allerdings  die  an  erster  Stelle  genannten  schon 
vor  einiger  Zeit  erschienen,  aber  viel  zu  wenig  beachtet  worden  sind. 

1.  Edw.  Bradford  Titchener,  An  Outline  of  Psychology.  New  York,  MacmUlan 
1896.    3.  Auflage. 

2.  Derselbe  Verf. :  A  Primer  of  Psychology.     3.  Auflage. 

3.  Derselbe  Verf. :  Experimental  Psychology ,  a  manual  of  laboratory  practice. 
Der  erste  Band  dieses  Handbuchs  enthält  eine  Behandlung  „qualitativer  Experimente"; 
dessen  erster  Teil  ist  ein  Handbuch  für  die  Studierenden  (Students  manual),  der 
zweite  Teil  ein  Handbuch  für  den  Dozenten  (Instructors  manual).  Der  zweite  Band 
bringt  die  „quantitativen  Experimente"  und  ist  wieder  in  zwei  Teile  zerlegt,  ein  Hand- 
buch für  den  Studierenden  und  für  den  Lehrer. 

Inhaltlich  ergänzen  sich  die  Werke  gegenseitig.  Das  erste,  der  „Umriß  der  Psy- 
chologie" ist  eine  kurze  Gesamtdarstellung  unsrer  heutigen  psychologischen  Forschung, 
nach  Methoden  und  Resultaten,  wie  sie  hervorgegangen  ist  aus  den  Vorlesungen  des  Verf. 
an  der  Comell  Universität  zu  Ithaca  (New  York).  Das  zweite  Buch  gibt  eine  erste  Ein- 
führung in  die  Psychologie  in  allgemeinverständlicher  Darstellung.  Das  vierteilige  Haupt- 
werk ist  eine  spezielle  Einführung  in  die  experimentelle  Forschung  selbst,  es  will  dem 
Dozenten  Anleitung  zu  Vorträgen  und  Kursen  in  der  experimentellen  Psychologie  geben, 
und  dem  Studierenden  gibt  es  Gelegenheit  auf  historischer  Basis,  in  Anknüpfung  an  die 
grundlegenden  Versuche  und  Versuchsmethoden   von  Weber ,  Fechner  u.  a.    sich  mit  der 


—     248     — 

psychophysischen  Methodik  und  ihrer  mathematischen  Begründung  mit  den  Reaktions- 
methoden u.  a.  m.  bekannt  zu  machen. 

Soeben  erschien  wiederum  eine  sehr  handliche  Gesamtdarstellung  der  Physiologischen 
Psychologie  von  dem  Leiter  des  Psychologischen  Laboratoriums  der  Yale  üniversity, 
New  Haven  (Conn.): 

4.  Charles  Hubbard  Judd,  Psychology,  general  introduction ;  mit  dem  Unter- 
titel: Bestimmt  zur  Einführung  des  Studierenden  in  die  Methoden  und  Prinzipien  der 
wissenschaftlichen  Psychologie.     New  York,    Charles  Scribner's  Sons.    1907.     389  Seiten. 

Dieses  mit  Illustrationen  vortrefflich  ausgestattete  Handbuch  behandelt  zunächst  in 
der  Einleitung  allgemeine  Fragen  zur  Grundlegung  der  Psychologie,  gibt  dann  eine  Be- 
handlung der  anatomisch-physiologischen  Grundlagen  des  Bewußtseins :  „die  Entwicklung 
des  Nervensystems"  und  „das  menschliche  Nervensystem".  Es  folgt  eine  „allgemeine 
Analyse  des  Bewußtseins",  in  der  insbesondere  die  Klassifikation  der  Bewußtseinsphäno- 
mene behandelt  wird.  Darauf  folgt  die  Lehre  von  den  Empfindungen ,  von  den  funk- 
tionellen Beziehungen  der  Empfindungen  (Raum,  Verschmelzungsphänomene  und  Zeit), 
dann  die  Untersuchung  des  Ausdrucks  (des  motorischen),  der  Bewußtseinsvorgänge, 
Instinkt  und  Gewöhnung,  Gedächtnis  und  Vorstellungen,  Sprache,  Phantasie  und  Begriffs- 
bildung, Ichbegriff,  Wille  und  Wahlhandlung,  Dissoziationsphänomene  und  Anwendung 
der  Psychologie. 

Die  Einrichtung  des  Buches  ist  eine  sehr  praktische.  Randnoten  geben  den  Inhalt 
der  einzelnen  Abschnitte  an  und  erleichtern  das  Nachschlagen.  Die  56  Abbildungen  ver- 
anschaulichen namentlich  die  anatomischen  Verhältnisse  des  Nervensystems  und  nehmen 
Rücksicht  auf  die  neusten  Forschungsresultate.  Abbildungen  von  den  optischen  Täu- 
schungen, die  Augenbewegungen,  Diagramme  und  Kurven  dienen  weiter  zur  Erläuterung 
des  Textes.  Ein  ausführliches  Register  ist  beigegeben.  Wir  begnügen  uns  vorläufig  mit 
dieser  kurzen  Anzeige  und  lassen  eine  ausführliche  Besprechung  des  Inhalts  folgen. 

Ernst  Moritz  Arndts  Fragmente  über  Menschenbildung ;  nach  der  Original- 
ausgabe neu  herausgegeben  von  Dr.  Wilh.  Münch  und  Dr.  Heinr.  Meißner. 
Langensalza,  Herm.  Beyer  u.  Söhne  1904.    (Bibliothek  pädag.  Klassiker  Bd.  42.) 

Es  ist  ein  sehr  verdienstvolles  Unternehmen  der  Herausgeber  und  der  Verlagsbuch- 
handlung, daß  sie  E.  M.  Arndts  „Fragmente"  der  Vergessenheit  entrissen  haben.  Das 
W^erk  ist  „seit  seinem  ersten  Erscheinen  nicht  wieder  aufgelegt,  die  einzige  Ausgabe 
längst  vergriffen  und  nur  in  spärlichen  Exemplaren  noch  anzutreffen".  „Darüber  ist  das 
Buch  auch  so  ziemlich  vergessen  worden,  wie  es  ihm  denn  von  Anfang  an  ungünstig  ge- 
wesen ist,  daß  es  in  einer  Periode  europäischer  Unruhe  .  .  .  erschien,  wo  des  Verfassers 
Name  nur  wenig  bekannt  war.  Und  doch  ist  es  ein  Werk  von  mächtiger  Eigenart,  von 
origineller  Beredsamkeit  mit  tiefen  Einblicken,  fortreißenden  Ausführungen,  bald  von 
edelstem  Aufschwung,  bald  von  härtestem  Trotz,  bald  wuchtig  angreifend,  bald  grimmig 
verurteilend,  bald  auch  milde  beleuchtend,  innig  beschauend"  —  so  kennzeichnet  Münch 
in  der  Einleitung  die  Schrift.  Arndt  war  bei  der  Herausgabe  dieser  „Fragmente"  (abge- 
sehen von  dem  13  Jahre  später  erschienenen  dritten  Teil)  noch  nicht  in  seine  patriotische 
Periode  eingetreten.  Er  hatte  Rousseaus  Emile  gelesen,  ebenso  die  Schriften  Salzmann's 
kennen  gelernt.  Von  beiden  empfing  er  zahlreiche  Anweisungen,  manche  Ideen  Rosseau's 
vertritt  er  mit  Leidenschaft,  aber  die  Grundanschauungen,  aus  denen  heraus  der  fran- 
zösisch-schweizerische und  der  deutsche  Pädagoge  die  gleichen  Ziele  erstrebten,  waren 
durchaus  verschieden.  Die  „Einleitung"  führt  uns  in  die  Entstehung  und  die  Haupt- 
gedanken der  Fragmente  ein.     Der  Inhalt  verteilt   sich  auf  25  Abschnitte,   in  denen  die 


—    249    — 

Menschenbildung  im  Allgemeinen  und  die  Erziehung  des  Knaben  und  Jünglings  behandelt 
wird.  Im  25.  Abschnitt  spricht  Arndt  über  „Liebe,  Natur  des  Weibes;  weibliche  Bildung". 
Den  Schluß  des  Werkes  machen  die  „Briefe  an  Psychidion,  oder^über  weibliche  Erzie- 
hung". Die  Schrift  sei  allen,  die  sich  für  Arndt  und  für  eine  originelle,  ideenreiche 
Erziehungslehre  aus  den  Tagen  unsrer  Väter  interessieren,  auf  das  Beste  empfohlen. 

Schilling,  Johannes:  Künstlerische  Sehstudien.  1906.  R.  Voigtländers  Verlag 
in  Leipzig.     3  Mk. 

In  diesem  Buche  hat  ein  Meister  der  Kunst  ein  Bekenntnis  niedergelegt  über  seine 
Art  „die  Welt  zu  sehen".  Es  ist  kein  streng  wissenschaftliches  Werk  und  soll  es  auch 
nicht  sein;  es  teilt  die  Ergebnisse  aufmerksamer  Beobachtung  und  liebeii ollen  Nachden- 
kens über  das  Wesen  und  die  Bedeutung  des  rechten  Sehens  in  mehr  zwangloser  Weise 
mit  und  wird  seinen  Eindruck  auf  künstlerisch  gerichtete  Leser  ganz  gewiß  nicht  ver- 
fehlen. 

Der  Verfasser  sagt  aber  auch  dem  Pädagogen  viel  Cberlegenswertes,  wenn  er 
sich  auch  nicht  direkt  an  Erzieher  wendet  und  seinem  Werk  auch  nicht  die  Fassung 
eines  pädagogischen  Kompendiums  über  das  Sehen  gab.  Die  enorme  Wichtigkeit  des 
richtigen  Sehens  für  unsere  Vorstellungswelt,  für  die  Zuverlässigkeit  unserer  Erfahrungen, 
für  die  richtige  Deutung  der  Erscheinungen  in  der  Welt,  für  die  Möglichkeit,  die  Werke 
der  Natur  und  Kunst  ästhetisch  zu  genießen,  deutet  Schilling  nur  gelegentlich  an;  aber 
der  aufmerksame  pädagogische  Leser  wird  sich  dem  Zwang  nicht  entziehen  können,  die 
pädagogischen  Ausstrahlungen  der  Schillingschen  Gedanken  weiter  zu  spinnen  und  auf 
die  breitere  Basis  ausgesprochener  pädagogischer  Theorie  zu  rücken.  Damit  aber  ge- 
winnt das  Buch  für  den  Lehrer  stark  an  Bedeutung.  Es  enthält  einen  vernehmbaren 
Appell  an  die  pädagogischen  Kreise,  sich  darauf  zu  besinnen,  ob  sie  in  ihren  beruflichen 
Maßnahmen  dem  richtigen  Sehen  die  ihm  gebührende  Aufmerksamkeit  schenken.  Ich 
glaube,  daß  die  Offenbarungen  Schillings  über  das  richtige  Sehen  den  Schlüssel  zu  man- 
chen pädagogischen  Mißerfolgen  zu  geben  geeignet  sind  und  wünsche  darum  dem  inter- 
essanten Werke  zahlreiche  Leser. 

Würzburg.  Paul  Lang. 

Romeo  Lovera,  Italienischer  Sprachführer  („In  Italia"),  mit  deutscher  Über- 
setzung, einem  grammatischen  Anhang  und  einem  phonetischen  Wörterverzeichnis.  Leipzig 
1904,  E.  Haberland.     Preis  M.  2. 

Der  vorliegende  Sprachführer  geht  hauptsächlich  darauf  aus,  „in  neuer  anregender 
Form  die  Kenntnis  der  modernen  italienischen  Umgangssprache"  zu  vermitteln.  In  erster 
Linie  hat  der  Verfasser  wohl  den  Italien-Reisenden  im  Auge,  der  sich  durch  Selbstunter- 
richt für  eine  Reise  nach  Italien  vorbereiten  will.  Die  Wahl  der  Worte  und  Redewen- 
dungen entspricht  in  bester  Weise  diesem  Zweck.  Das  Werk  enthält  drei  Teile.  1.  Auf 
der  Reise ;  dieser  Teil  enthält  in  brieflich-dialogischer  Form  die  Beschreibung  einer  Reise 
von  München  nach  Rom.  Wir  unterhalten  uns  über  die  Reise,  passieren  die  Zollstation, 
kommen  in  Venedig  an,  wandern  durch  Venedig  u.  s-  w.  Der  zweite  Teil,  „meine  rö- 
mischen Tagebücher"  gibt  in  Form  von  Tagebuchnotizen  die  Aufzeichnungen  über  einen 
längeren  Aufenthalt  in  Rom.  Der  dritte  Teil  „kleine  Konversationsbilder"  ergänzt  die 
beiden  ersten  durch  Gespräche  über  zahlreiche  Bedürfnisse  und  Besonderheiten  des  All- 
tagslebens. Die  Einrichtung  dieser  Teile  ist  so  getroffen,  daß  links  das  Italienische,  rechts 
die  deutsche  Übersetzung  steht.  Der  Text  verbreitet  sich  auch  über  charakteristische 
Seiten  des  italienischen  Volkes,   seines  Kultur-   und  Geisteslebens  und  bietet  auf  diese 


—    250    — 

Weise  weit  mehr  als  eine  blos  sprachliche  Orientierung.  Ein  grammatischer  Anhang 
ermöglicht  dem  Lernenden,  das  durch  die  Sprechmethode  erlernte  grammatisch  zu  ver- 
tiefen, und  ein  phonetisches  Wörterbuch  gibt  die  Betonung  und  Aussprache  derjenigen 
Wörter  an,  die  Abweichungen  von  der  Hanptregel  enthalten.  Wenn  wir  für  zukünftige 
Auflagen  einen  Wunsch  äußern  können,  so  wäre  es  der,  ein  kleines  Wörterbuch  (vielleicht 
in  kleinerem  Druck)  hinzuzufügen.  Der  Anfänger  kann  sich  damit  biswellen  die  vom 
Deutschen  stärker  abweichenden  Redewendungen  des  Italienischen  leichter  aus  ihren  Ele- 
menten verständlich  mcchen.  Im  Übrigen  sei  das  vortreffliche  kleine  Buch  auf  das  beste 
empfohlen !  Zahlreiche  deutsche  Italienreisende  haben  keine  Vorstellung  davon ,  wie  viel 
sie  versäumen  und  wie  viel  Unannehmlichkeiten  sie  sich  ersparen  könnten,  wenn  sie  bei 
ihren  Italienfahrten  der  Landessprache  einigermaßen  mächtig  wären. 

Die  amerikanischen  Hochschulen  und  privaten  Unterrichts-,  Erziehungs-  und  Heil- 
institute veröffentlichen  Jahresberichte  über  ihre  Einrichtungen ,  Lehrmittel ,  Lehrkurse 
u.  a.  m.,  die  oft  sehr  instruktiv  sind  und  an  denen  sich  die  Entwicklung  des  Schul-  und 
Hochschulwesens  insbesondere  in  den  Vereinigten  Staaten  verfolgen  läßt.  Wir  werden 
von  Zeit  zu  Zeit  Übersichten  über  diese  Jahresberichte  bringen.  Jetzt  sei  erwähnt  der 
Bericht  des  Henry  Philipps  Institute  for  the  study,  treatment  and  prevention  ol  tuber- 
culosis.  2.  Jahresbericht.  Febr.  1904  bis  Febr.  1905.  Der  452  Seiten  starke  Bericht 
enthält  viele  hygienisch  und  pathologisch  wichtige  Mitteilungen. 

Einzelbesprechung. 

M.  von  Haken.  1.  Methode  Haken,  Wie  man  den  Unterricht  in  der  Mutter- 
sprache dem  Schüler  lieb  und  interessant  macht  und  zur  Entwickelung  seines  Denk- 
vermögens verwertet.  Leipzig  1906,  Rengersche  Buchhandlung,  Gebhardt  und  Welisch, 
189  S. 

2.   Übungsstoff  zur  Methode  Haken.    Derselbe  Verlag  86  S. 

Verfasserin  bemüht  sich  um  eine  Reform  des  Unterrichtes  im  Deutschen,  speziell 
in  der  Grammatik.  Das  an  erster  Stelle  genannte  Werk  enthält  2  Gruppen  zum  Teil 
vollständig  ausgeführter  Lehrbeispiele,  die  zeigen  sollen,  wie  der  Sprachlehrunterricht 
für  8jährige  Mädchen  und  wie  für  Erwachsene  (hierzu  werden  auch  13  jährige  Mädchen 
schon  gerechnet)  nach  der  neuen  Methode  zu  gestalten  wäre.  Ein  besonderes  Lehrbuch 
wird  den  Schülerinnen  nicht  in  die  Hand  gegeben,  an  seine  Stelle  tritt  der  oben  er- 
wähnte „Übungsstoff",  der  eine  reiche  Auswahl  von  Musterbeispielen  und  Aufgaben 
bietet. 

Das  Neue  der  Methode  besteht  nach  der  Vorrede  darin,  daß  sie  den  Schüler  zu- 
nächst nicht  die  einzelnen  Bestandteile  der  Muttersprache  kennen  lehrt,  sondern  ihm 
zeigt,  „wie  im  Laut  sich  der  Gedanke  selbst  sein  Haus  baut."  Dadurch  soll  der  Schüler 
die  Überzeugung  erhalten,  daß  die  sprachlichen  Formen  nicht  durch  Willkür  geschaffen 
wurden;  seine  lebhafte  Teilnahme  will  geweckt  und  zugleich  der  grammatische  Boden 
für  den  fremdsprachlichen  Unterricht  vorbereitet  werden. 

Der  Unterricht  geht  aus  von  der  Erörterung  psychologischer  und  logischer  Grund- 
lagen des  Denkens  und  der  Sprache.  Belehrungen  über  Denkvermögen  und  Denkstoff, 
über  die  Bedeutung  der  Sinnesorgane  und  der  inneren  Wahrnehmung  für  Denken  und 
Sprache,  über  Bewußtsein,  Aufmerksamkeit,  Wirklichkeits-  und  Erinnerungsvorstellung, 
über  Gedächtnis,  Ideenässoziation  und  Begriffsbildung  gehen  dem  eigentlichen  Grammatik- 
unterrichte voran.    Die  4  „Gesamtbegriffe"  Ding,   Eigenschaft,   Vorgang   und  Beziehung 


—    251    — 

leiten  über  in  das  Gebiet  der  Sprachlehre  und  zwar  zu  den  Haupt-,  Eigenschafts-  und 
Zeitwörtern,  sowie  zur  Formveränderung  derselben.  Die  Umwandlung  der  „zusammen- 
gesetzten Vorstellung"  (z.  B.  das  schlafende  Kind)  in  ein  Urteil  (das  Kind  schläft)  bildet 
den  Übergang  zur  Satzlehre  und  zwar  zur  Einteilung  der  Sätze,  zu  den  Satzgliedern  und 
dem  Verhältnis  derselben  zu  einander.  Dem  weiteren  Ausbau  der  Satzlehre  sind  be- 
sondere Kapitel  gewidmet.  Die  Lehre  von  den  Grundbegriffen  und  vom  einfachen  Satz 
erfährt  eine  doppelte  Darstellung:  Für  Kinder  und  für  Erwachsene.  Im  V.  Kapitel 
(Satzverein  und  Satzkomplex)  fiiUt  diese  doppelte  Darstellung  weg;  die  Anpassung  an 
die  einzelnen  Altersstufen  glaubt  Verfasserin  nach  den  vorausgegangenen  Anleitungen 
dem  Lehrer  selbst  überlassen  zu  können. 

Die  „Methode  Haken"  soll  ganz  besonderen  Verhältnissen  dienen;  sie  ist  zum  Ge- 
brauch im  Privatunterricht  an  „höhere  Töchter"  bestimmt.  Dieses  Umstandes  muß  be- 
sonders da  gedacht  werden,  wo  erhöhte  Anforderungen  an  das  Sprachverständnis  und 
die  Formengewandtheit  des  Schülers  auftreten,  welche  die  Grenzen  des  unter  normalen 
Umständen  im  Schulunterricht  Zulässigen  weit  überschreiten.  Sicherlich  sind  die  hier 
inbetracht  kommenden  Kinder  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  in  ihrer  geistigen  Entwickelung 
denen  weit  voraus,  die  in  weniger  glücklichen  oder  in  ungünstigen  äußeren  Verhältnissen 
aufwachsen.  Jedoch  sind  auch  sie  nur  Kinder  und  teilen  mit  ihren  Altersgenossen  den 
Zug  zum  Sinnenfälligen.  Daher  erscheint  es  mir  nicht  einwandfrei,  wenn  Verf.  in  ihrem 
Sprachunterrichte  schon  von  den  8jährigen  Mädchen  ein  so  großes  Interesse  für  psycho- 
loeische  imd  logische  Belehrungen  erwartet;  denn  abstrakt  sind  und  bleiben  eben  psy- 
chologische und  logische  Unterweisungen  selbst  dann,  wenn  sie  —  wie  es  ja  in  vor- 
liegendem Werke  geschieht  —  oft  durch  außerordentlich  glücklich  gewählte  Vergleiche 
Unterstützung  finden.  (Nur  beüäufig  sei  hier  bemerkt,  daß  Vergleiche  im  Unterricht  an 
Kinder  nur  mit  großer  Vorsicht  sollten  angewendet  werden;  denn  sie  sind  manchmal 
ein  zweischneidiges  Schwert).  Wer  weiß,  wie  schwer  es  hält,  gereifteren  Leuten  — 
auch  solchen  aus  „besseren  Kreisen"  —  ein  Interesse  für  Psychologie  und  Logik  abzu- 
ringen, wird  mir  Recht  geben,  wenn  ich  bezweifle,  daß  8jährige  Kinder  diesen  Dingen 
eine  solche  Teilnahme  entgegenbringen,  die  nötig  ist,  um  mit  ihrer  Hilfe  das  Fundament 
einer  Wissenschaft  aufzurichten;  denn  der  grammatische  Unterricht,  nach  den  Aus- 
führungen der  Verf.  erteilt,  trägt  ein  wissenschaftliches  Gepräge.  Das  beweist  zur  Ge- 
nüge die  oft  bis  ins  Einzelne  vordringende  Systematik,  die  Erwähnung  von  grammatischen 
Feinheiten,  die  manchem  Gebildeten  zeit  seines  Lebens  fremd  bleiben,  ohne  daß  deswegen 
seine  sprachliche  Bildung  mit  dem  Vorwurf  der  Halbheit  könnte  belastet  werden.  Mir 
fiel  bei  der  Lektüre  des  Werkes  unwillkürlich  ein,  daß  Hildebrand  einmal  entsetzt  aus- 
ruft :  „Aber  um  Himmels  willen  nur  keine  philosophische  Grammatik."  Nur  der  Hinweis 
darauf,  daß  der  grammatische  Unterricht  dem  fremdsprachlichen  den  Boden  bereiten 
möge  (siehe  Vorrede  I)  läßt  es  einigermaßen  begreiflich  finden,  wenn  Verf.  auf  die  genaue 
Kenntnis  der  sprachlichen  Formen  und  der  entsprechenden  lateinischen  Kanstausdrücke 
ein  so  hohes  Gewicht  legt.  Ich  sage  ausdrücklich  „einigermaßen" ;  denn  der  moderne 
Betrieb  des  fremdsprachlichen  Unterrichtes  kann  ein  gut  Teil  des  grammatischen  Ballastes 
entraten,  den  Verf.  den  Kindern  aufbürdet. 

Auch  von  dem  formalbildenden  Wert  eines  solchen  Unterrichtes  kann  ich  mir  nicht 
viel  versprechen.  Es  gibt  weit  wertvollere  und  wichtigere  Stoffe  im  Unterricht,  welche 
in  den  Dienst  der  formalen  Bildung  treten,  so  daß  es  nicht  nötig  ist  deswegen  zur 
Sprachlehre,  dem  unwichtigsten  und  trockensten  aller  Gebiete  —  trocken  namentlich 
dann,  wenn  das  Gespenst  System  dahintersteckt  —  zu  greifen. 

Die  heutige  Pädagogik  hat  die  Fordenmg  der  alten  Schule  nach  intensiver  Pflege 


—    252    — 

der  Grammatik  auf  das  rechte  Maß  zurückgeführt.  Man  weiß  längst,  daß  es  kein 
besseres  Mittel  gibt,  den  Kindern  unsere  Sprache  unlieb  und  uninteressant  zu  machen 
als  gerade  den  Grammatikunterricht,  der  sich  nicht  genug  tun  kann  inbezug  auf 
Kenntnis  aller  nur  möglichen  Formen  und  Kunstausdrücke.  Namentlich  sind  mir  die 
letzteren  in  tiefster  Seele  verhaßt.  Gerade  im  Deutschunterrichte,  der  dem  Kinde  doch 
die  Vollkommenheit  und  Schönheit  seiner  Muttersprache  zeigen  und  Liebe  zu  ihr  wecken 
und  pflegen  soll,  muß  man  es  als  recht  eigentümlich  empfinden,  wenn  deutsche  Formen 
ständig  —  wie  dies  Verf.  tut  —  mit  fremden  Namen  bezeichnet  werden.  Muß  sich  dabei 
im  Kinde  nicht  das  Gefühl  ausbilden,  als  sei  die  Muttersprache  zu  arm,  um  sich 
selbst  helfen  und  ihre  Formen  aus  ihrem  eigenen  Sprachschatze  heraus  benennen 
zu  können? 

Nun  weiß  ich  freilich,  daß  man  auch  im  heutigen  Unterrichte  der  Sprachlehre 
nicht  ganz  entraten  kann;  aber  sie  darf  nicht  herrschen,  die  Form  darf  den  Inhalt  nicht 
überwuchern.  Von  den  sprachlichen  Schöpfungen  des  Kindes  —  etwa  im  freien  Aufsatz 
—  von  seinen  stilistischen  ünbeholfenheiten  und  sprachlichen  Verstößen  wollen  wir  aus- 
gehen und  es  so  an  lebensvollem  Inhalt  allmählich  emporführen  zur  einwandfreien  Form. 
Also  nicht  einen  schematischen  Grammatikunterricht,  der  seine  eigenen  Wege  geht,  er- 
streben wir,  sondern  einen  solchen,  der  in  steter  Fühlung  bleibt  mit  dem  übrigen 
Deutschunterricht,  namentlich  mit  den  Stilübungen  und  der  den  letzteren  gegenüber  eine 
untergeordnete  Stellung  einnimmt. 

Gewiß  darf  nicht  vergessen  werden ,  daß  auch  die  Schönheit  der  gegebenen 
Form  einen  hohen  erzieherischen  Wert  besitzt.  Diese  Schönheit  kann  aber  nach  meiner 
Auffassung  im  Grammatikunterricht  am  allerwenigsten  gepflegt  werden.  Wir  kennen  ein 
viel  wirksameres  Mittel:  die  Lektüre  literarischer  Kunstwerke,  die  der  Entwickelungs- 
stufe  des  Kindes  entsprechen.  Dabei  stehe  ich  jedoch  nicht  auf  dem  Standpunkte,  daß 
durch  trockenes  grammatisches  Zerpflücken  dem  Inhalt  seine  Weihe  und  der  schönen 
Form  ihr  Duft  müsse  geraubt  werden.  Für  mich  knüpfen  sich  die  eigentlichen  sprach- 
lichen Übungen  an  den  Aufsatz  an  und  in  die  Lektüre  werden  nur  ganz  gelegent- 
lich Hinweise  auf  sprachliche  Formen  und  Schönheiten  eingestreut.  Wirkliche  Schön- 
heiten der  Sprache  bedürfen  oft  nur  eines  wirkungsvollen  Vortrages  durch  den  Lehrer, 
um  auch  von  dem  Schüler  als  solche  empfunden  und  behalten  zu  werden.  So,  glaube 
ich,  erfüllen  wir  unsere  Mission,  die  jungen  Deutschen  für  ihre  Muttersprache  zu  be- 
geistern und  sie  zur  Gewandtheit  im  sprachlichen  Ausdruck  zu  erziehen  mit  viel  mehr 
Erfolg,  als  wenn  wir  sie  in  die  für  den  Sprachforscher  wohl  interessanten ,  für  die 
Kinder  aber  steifen  und  trockenen  Einzelheiten  des  grammatischen  Baues  einführen. 

Nun  sucht  freilich  auch  die  Verf.  den  sprachlichen  Formen  einen  lebensvollen  In- 
halt zu  geben.  Die  Mustersätze,  zusammengestellt  im  „Übungsstoff",  sind  den  Kindern 
inhaltlich  zumeist  nicht  fremd.  Aber  was  soll  eine  solche  Sammlung  in  der  Hand  des 
Kindes?  Gegen  sie  gilt  alles,  was  man  überhaupt  gegen  solche  und  ähnliche  Muster- 
sammlungen ins  Feld  führen  kann: 

Unser  Streben  im  Unterricht  geht  dahin,  Einheit  in  den  kindl.  Gedankenkreis  zu 
bringen.  Eben  deswegen  wird  sich  der  einsichtsvolle ,  psychologisch  und  methodisch  ge- 
schulte Pädagoge  kaum  entschließen  können,  seine  Beispiele,  welche  als  Grundlage  zu 
sprachlichen  Übungen  dienen  sollen,  inhaltlich  so  von  einander  verschiedenen  Gebieten 
zu  entnehmen ,  wie  dies  in  der  Sammlung  geschieht.  Dazu  kommt  noch,  daß  diese 
Mustersätze  sich  nicht  selten  durch  einen  für  das  kindliche  Interesse  recht  belanglosen 
Inhalt  auszeichnen  und  oft  —  weil  den  kindlichen  Erlebnissen  nicht  entsprungen  — 
innerlich  unwahr  sind.     Einem  Gedankengange  sollen  die  grundlegenden  Beispiele  ent- 


—    253    — 

nommen  sein  und  zwar  einem  solchen,  der  von  yomherein  das  kindliche  Interesse  für 
sich  hat,  damit,  dem  Schüler  onhemerkt,  die  lebhafte  Teilnahme  am  Inhalte  auch  hin- 
überstrahle auf  die  Form.  Wie  schon  bemerkt,  denke  ich  mir  den  Aufsatz  als  einen 
Mittelpunkt.  Gerade  durch  die  Anknüpfung  der  sprachlichen  Übungen  an  die  stilistischen 
Leistungen  bezw.  an  seine  Fehler  erhält  der  Schüler  auch  die  nicht  zu  unterschätzende 
Überzeugung  von  der  Notwendigkeit  gewisser  grammatischer  Belehrungen. 

Auf  einen  Punkt  muß  ich  noch  einmal  zurückgreifen:  Ein  wichtiges  Ziel  des 
Deutschunterrichtes  bleibt  es  doch,  im  Schüler  ein  lebendiges  Gefühl  für  die  Schönheit 
des  sprachlichen  Ausdruckes  entstehen  zu  lassen.  Yerf.  glaubt,  daß  hier  der  Grammatik- 
unterricht Wesentliches  leisten  könne.  Dem  muß  ich  leider  widersprechen.  Der  syste- 
matische Sprachlehrunterricht  —  so  wie  ihn  Verf.  wünscht  —  bringt  nicht  selten  dem 
Einde  Formen  nahe,  die  inbezug  auf  Wohlklang  nichts  weniger  als  Mustergültiges  bieten. 
So  enthält  der  „Übungsstoff"  Beispiele,  die  der  Form  nach  weder  kindlich  sind,  noch  be- 
sonderen Anspruch  auf  ästhetische  Wirkung  erheben  können.  Man  vergleiche  darauf 
hin  die  folgenden  3  Sätze,  die  im  Unterricht  an  8jährige  Mädchen  Verwendung  finden 
soUen:  1.  „Die  das  schreiende  Kind  auf  dem  Arm  haltende  Mutter  setzte  es  auf  den 
Wunsch  des  Vaters  auf  einen  Stuhl."  (S.  19).  2.  „Der  von  der  Reise  heimgekehrte 
Vater  brachte  seinen  zu  Hause  gebliebenen  Bändern  hübsche  Geschenke  mit."  (S.  19). 
3.  „Es  graute  die  von  der  Wärterin  mit  törichten  Gespenstergeschichten  gefütterten 
Kinder  in  dem  dunklen  Zimmer."  (S.  32).  Diese  Beispiele  ließen  sich  leicht  um  viele 
vermehren.  Hier  zeigt  sich  doch  deutlich,  wie  der  bloßen  Form  zuliebe  der  Wohllaut 
der  Sprache  beeinträchtigt  wurde. 

Ich  komme  zum  Schlüsse: 

Die  „Methode  Haken"  ist  fiär  den  Unterricht  an  Kinder  unbrauchbar,  weil  un- 
psychologisch. Sie  verliert  sich  schon  bei  der  Grundlegung  in  höchst  unkindliche  theo- 
retische Erörterungen  über  psychologische  und  logische  Begriffe,  statt  in  den  lebensvollen 
Inhalt  der  Kindersprache  hineinzugreifen.  Gegen  die  Kindesnatur  sowohl  als  auch  gegen 
das  Ziel  des  Deutschtmterrichtes  verstößt  ferner  das  Streben  nach  möglichster  syste- 
matischer Vollständigkeit,  mit  dem  die  moderne  Pädagogik  erfreulicherweise  schon  seit 
geraumer  Zeit  endgültig  gebrochen  hat.  Wie  wenig  überhaupt  die  Erziehung  zur  Sprach- 
gewandtheit mit  der  genauen  Kenntnis  der  grammatischen  Einzelheiten  zu  tun  hat,  dafür 
liefert  Verf.  in  dem  Brief  der  „dummen  Freundin"  (Übungsstoff  S.  80)  einen  schlagenden 
Beweis.  Zeigt  er  doch,  daß  man  eines  ganz  einwandfreien  Stiles  mächtig  sein  kann, 
wenn  auch  „der  Unterschied  von  Satzgefüge  und  Satzverbindung  einerseits  und  Satz- 
gefüge und  Periode  anderseits"  dem  Autor  nicht  geläufig  ist. 

Für  Gereiftere,  deren  Interessen  wesentlich  durch  den  Zweck  ihrer  Studien  be- 
stimmt zu  werden  pflegen,  mag  immerhin  in  vielen  Fällen  die  Beschäftigung  mit  der 
systematischen  Grammatik  nötig  erscheinen.  Ihnen  können  vielleicht  auch  die  psycholo- 
gischen und  logischen  Erörterungen  ein  recht  willkommenes  und  interessantes  Kapitel 
sein.  Für  weit  wichtiger  und  wertvoller  aber  halte  ich  in  solchen  Fällen  die  ausgiebigere 
Hereinbeziehung  der  AVortbildungslehre.  Dr.  Aug.  Mayer,  Würzburg. 


Menmann,  Exper.  Pädagogik.    V.  Band.  18 


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